Metropolregion 2.0: Konsequenzen einer neoliberalen Raumentwicklungspolitik 3515100032, 9783515100038

Auf den ersten Blick scheint mit den Metropolregionen ein erfolgreiches Instrument zur kooperativen Stadt- und Regionale

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German Pages 256 [263] Year 2012

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Table of contents :
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
Einführung
Teil I: Theoriegeleitete DiagnosenTransformation gesellschaftlicher Raumbezüge
Teil II: Theoriegeleitete ForschungskonzeptionGesellschaftliche Raumbezüge in kritischer Perspektive
Teil III (Interludium): Methodologie und TechnikDatenaufnahme- und Datenauswertungsverfahren
Teil IV: Geographische PraktikenKonstruktion metropolregionaler Wirklichkeiten
Teil V: Interpretation geographischer PraktikenParadoxien der (mittel-)deutschen Metropolisierungseuphorie
Ausblick: Metropolregionen als Elemente einerdysfunktionalen Systemreproduktion?
Literatur
Anhang
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Metropolregion 2.0: Konsequenzen einer neoliberalen Raumentwicklungspolitik
 3515100032, 9783515100038

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Tobias Federwisch

Metropolregion 2.0 Konsequenzen einer neoliberalen Raumentwicklungspolitik

Geographie Franz Steiner Verlag

Sozialgeographische Bibliothek – Band 15

Tobias Federwisch Metropolregion 2.0

Sozialgeographische Bibliothek ---------------------------------Herausgegeben von Benno Werlen Wissenschaftlicher Beirat: Matthew Hannah Peter Meusburger Peter Weichhart

Band 15

Tobias Federwisch

Metropolregion 2.0 Konsequenzen einer neoliberalen Raumentwicklungspolitik

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10003-8 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany.

Inhalt

Abbildungsverzeichnis

8

Abkürzungsverzeichnis

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Vorwort

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Einführung

15

Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen Transformation gesellschaftlicher Raumbezüge

23

1

Neuorientierung spätmoderner Staaten 1.1 Restrukturierung der Politischen Ökonomie spätmoderner Staaten 1.2 Netzwerkorientierter Steuerungsmix spätmoderner Staaten 1.3 Neue Maßstabsebenen der Governance 1.4 Regional Governance und die britische „Devolution“

24 25 29 33 36

2

Metropolregionen in Deutschland 2.1 Raumordnungspolitische Verankerung der Metropolregionen 2.2 Raumwissenschaftliche konzeptionelle Vergewisserung 2.3 Zentrale Problemfelder des deutschen Metropolisierungsprozesses 2.4 „Metropolregion 2.0“ – ein (erster) kritischer Befund

42 43 47 52 57

Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption Gesellschaftliche Raumbezüge in kritischer Perspektive 3

Wissenschaftliche Erörterungen von Metropolregionen 3.1 Hauptlinien der GovernanceForschung 3.2 Zentrale Defizite der GovernanceForschung 3.3 Renaissance der Raumwissenschaft 3.4 Zentrale Defizite der Raumwissenschaft

65 66 66 72 76 82

6 4

Inhalt

Wozu Sozialgeographie? 4.1 Geographie nach der sozialwissenschaftlichen Wende 4.2 Sozialgeographie als Raumorientierte Handlungswissenschaft 4.3 Sozialgeographie als Kritische Handlungswissenschaft 4.4 Raum- und zeitbezogene Gesellschaftsdiagnosen

Teil III (Interludium): Methodologie und Technik Datenaufnahme- und Datenauswertungsverfahren

87 88 92 95 101

107

5

Datenaufnahmeverfahren 5.1 Forschungsperspektiven und Triangulation 5.2 Teilnehmende Beobachtung (Ethnographie) 5.3 Experteninterviews und Transkription 5.4 Dokumentensammlung

108 109 112 117 121

6

Datenauswertungsverfahren 6.1 Umgang mit Vorwissen und Konsequenzen für die Forschung 6.2 Strukturierende Inhaltsanalyse der Experteninterviews 6.3 Dokumentenanalyse und Umgang mit Beobachtungsdaten 6.4 Kunst des Interpretierens

124 125 129 132 136

Teil IV: Geographische Praktiken Konstruktion metropolregionaler Wirklichkeiten

139

7

Mitteldeutsche Metropolisierungseuphorie 7.1 Genealogie der Metropolregion Sachsendreieck bis 2005 7.2 Erweiterungsbestrebungen der Metropolregion Sachsendreieck 7.3 Handlungsfeld Namens- und Identitätsfindung 7.4 Politische Organisation und strategische Handlungsfelder

140 141 146 151 157

8

Metropolregion Mitteldeutschland: Eine „Erfolgsgeschichte“? 8.1 „Weiche“ Problemfelder der Metropolregion Mitteldeutschland 8.2 „Harte“ Problemfelder der Metropolregion Mitteldeutschland 8.3 Strategien der Problem- und Konfliktbewältigung 8.4 Metropolregion Mitteldeutschland – quo vadis?

166 167 173 179 182

Teil V: Interpretation geographischer Praktiken Paradoxien der (mittel-)deutschen Metropolisierungseuphorie 9

Wozu Metropolregionen? 9.1 Verheißungen und Ängste der kapitalistischen Spätmoderne 9.2 Metropolregionen als raumbezogene „Coping-Strategie“

187 188 189 193

Inhalt

7

9.3 Metropolregionale Selbstbeschreibungen 9.4 Paradoxie I: Metropolregionaler „Quasi-Protektionismus“?

197 200

10 Metropolregionen zwischen Beschleunigung und Erstarrung 10.1 Metropolregionen im Geflecht der „Geographien der Politik“ 10.2 Metropolregionen als zeitbezogene „Coping Strategie“ 10.3 Degenerierung der Regionalpolitik 10.4 Paradoxie II: Metropolregionen im „Rasenden Stillstand“?

207 208 213 217 220

Ausblick: Metropolregionen als Elemente einer dysfunktionalen Systemreproduktion?

225

Literatur

231

Anhang

251

8

Abbildungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

Argumentativer Aufbau der Dissertation Grobstruktur der Arbeit Kennzeichen der Politischen Ökonomie des KWNS Kennzeichen der Krise des KWNS Kennzeichen der Politischen Ökonomie des SWPR Entstaatlichung politischer Steuerung Steuerungsmix des KWNS und SWPR Erklärungsansätze für den Bedeutungsgewinn von Regionen Regionale Kooperation und erklärende Forschungsansätze Formale und mentale Integrationsbemühungen Erklärungsansätze für den Bedeutungsgewinn von Stadtregionen Verlauf des Leitbildprozesses zwischen 1990 und 2006 Neue Leitbilder der deutschen Raumordnung EMR in Deutschland Definitionsansätze zu Metropolregionen Diskursfragment Steuerung und Symbolpolitik deutscher Metropolregionen MGH Semantik der modernen Sozialphilosophie MCO Semantik der Organisationstheorie MNH Semantik der interdisziplinären GovernanceForschung Ausrichtung der GovernanceForschung Entwicklungslinien der Sozialgeographie Metropol- und Funktions-Indizes der deutschen Metropolräume Methodologische Implikationen der sozialwissenschaftlichen Wende Forschungsperspektiven in der qualitativen Forschung Methoden-Triangulation (Datenerhebungsphase) Beobachterperspektive zweiter Ordnung Motivation zur Teilnehmenden Beobachtung Übersicht der Experteninterviews nach Fokusgruppen Rahmeninformationen zur Transkription (Beispiel) Merkmale quantitativer und qualitativer Methodologie Formen der Strukturierenden Inhaltsanalyse Notwendigkeit der Metropolregion Sachsendreieck Vorschläge zur Erweiterung der Metropolregion Sachsendreieck Siegervorschlag Mitteldeutschlandvarianten a) bis 1945, b) bis 1990, c) nach 1990 Organigramm der Metropolregion Mitteldeutschland Logos als Elemente des Corporate Design Zentrale Etappen im mitteldeutschen Metropolisierungsprozess Finanzierung der Metropolregion Mitteldeutschland Strategien zur Bewältigung spätmoderner sozialer Bedingungen Hauptdimensionen der sinngebenden Selbstbeschreibung Globalisierung als Risiko

19 21 26 27 28 31 32 36 38 40 43 45 46 47 48 57 61 68 69 70 71 79 81 91 110 111 113 115 118 120 126 130 143 149 151 155 158 160 165 176 196 199 202

Abbildungsverzeichnis

44 45 46 47 48

Schutzpolitiken im Vergleich EMR Frankfurt/Rhein-Main Imagekampagne Thüringens Paradoxien politischer Zeit Konsequenzen sozialer Beschleunigung und struktureller Erstarrung

9 203 209 212 215 222

10

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis BBSR BM EMR EU FmS GA GS HBGW IKM IM IP KWNS LA METREX MDD MKRO MLVSA MORO MRK OB RL SD SMI SMUL SWPR TMBLV WfM WIREG

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung Bürgermeister/in Europäische Metropolregion Europäische Union Forum mitteldeutscher Städte Gemeinsamer Ausschuss Geschäftsstelle Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg Initiativkreis Europäische Metropolregionen in Deutschland Initiative Mitteldeutschland Interviewpartner/in Keynesianischer Wohlfahrtsnationalstaat Lenkungsausschuss The Network of European Metropolitan Regions and Areas Mitteldeutschland Ministerkonferenz für Raumordnung Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr Sachsen Anhalt Modellvorhaben der Raumordnung Metropolregionskonferenz Oberbürgermeister/in Referatsleiter/in Sachsendreieck Sächsisches Ministerium des Inneren Sächs. Staatsministerium für Umwelt und Landesentwicklung Schumpeterian Workfare Postnational Regime Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr Wirtschaftsinitiative für Mitteldeutschland Wirtschaftsregion Chemnitz/Zwickau

Vorwort

„Soziologie, so meine ich, entsteht aus dem diffusen, aber vermutlich allgemeinmenschlichen Grundgefühl heraus: ‚Hier stimmt etwas nicht‘“ (ROSA 2009:88).

Mit dem Konzept der Metropolregionen hat die bundesdeutsche Raumordnung ein Instrument geschaffen, mit dessen Hilfe sich die verstädterten Regionen auf den zunehmend härter empfundenen (inter-)nationalen Wettbewerb um die Standortgunst von Unternehmen oder die Gewinnung von Fach- und Führungskräften vorbereiten sollen. Im Verlaufe der letzten fünfzehn Jahre hat die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) elf dieser verstädterten Regionen als Metropolregionen anerkannt, wobei Berlin-Brandenburg, Frankfurt/Rhein-Main, Hamburg, München, Rhein-Ruhr und Stuttgart in einer ersten Runde (1995), das Sachsendreieck/Mitteldeutschland in einer zweiten Runde (1997) sowie BremenOldenburg, Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg, Nürnberg und Rhein-Neckar in einer dritten Runde (2005) ernannt worden sind. Mit Blick auf das Geschaffene wurde das Konzept der Metropolregionen erst kürzlich vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) als eine „Erfolgsgeschichte“ bezeichnet (BBSR 2009a:1). Hierbei bezog man sich auf die deutschlandweit zu beobachtenden Initiativen zur Gründung von Metropolregionen, auf die Erprobung neuer Steuerungsmodalitäten in diesen Regionen, auf die Umsetzung wachstums- und innovationsorientierter Projekte sowie auf die Zusammenarbeit zwischen diesen Regionen im Kontext des 2001 gegründeten Initiativkreises Europäische Metropolregionen in Deutschland (IKM). Interessanterweise haben meine eigenen gegenstandsbezogenen Vorkenntnisse und Arbeiten zur Metropolregion Rhein-Neckar lange Zeit eine affirmative Einstellung zu den Metropolregionen in Deutschland zur Folge gehabt. Die Vorstellung, sich den Metropolregionen einmal kritisch zu nähern, ließen meine empirischen Erfahrungen zunächst nicht zu. So entstammt das gegenstandsbezogene Vorwissen zum einen dem Fachpraktikum beim Institut für Organisationskommunikation (IFOK GmbH; Zeitraum: Juli bis September 2004), bei dem ich erste Erfahrungen hinsichtlich der Konstitution des Rhein-Neckar-Dreiecks unter den Bedingungen einer ressourcenstarken regionalen Governance machen konnte. Es

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Vorwort

entstammt zum zweiten einer an das Fachpraktikum anknüpfenden Qualifikationsarbeit zur Metropolregion Rhein-Neckar (Diplomarbeit; Zeitraum: April bis September 2006), in der meine (Er-)Kenntnisse zum Projekt „Image und Identität“ in der Darstellung einer geographischen (Komplementär-)Praxis der „Raumbezogenen Identitätspolitik“ mündeten (vgl. FEDERWISCH 2008a). Dass ich mich schließlich doch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Metropolregionen in Deutschland entschieden habe, begründet sich mit der Bearbeitung des Hochschulprojektes zur „Namens- und Identitätsfindung Metropolregion Sachsendreieck“ (Auftraggeber: Metropolregion Sachsendreieck; Wintersemester 2008/2009; Bearbeitung durch BENNO WERLEN, TILO FELGENHAUER, TOBIAS FEDERWISCH; unter Mitarbeit von FRIEDERIKE ENKE, SABINE HEURICH, KRISTIAN PHILLER und DAVID RUDOLPH). Schon zu Beginn der Bearbeitung zeigte sich, dass die damalige Metropolregion Sachsendreieck (und heutige Metropolregion Mitteldeutschland) nicht nur einen eigenen Entwicklungspfad, sondern auch eine gänzlich andere Dynamik als die Metropolregion Rhein-Neckar aufzuweisen hatte. Schnell ließen sich zentrale Legitimations-, Integrations-, Effektivitäts- und Effizienzprobleme, raumbezogene Konflikte und argumentative Widersprüche bei der Konstitution der Metropolregion erkennen, die einen Einstellungswandel gegenüber den geographischen Praktiken einforderten. Im Ergebnis führte die unmittelbare Involvierung in die mitteldeutschen Konstitutionsprozesse zur einer kritischen Einstellung gegenüber dieser Metropolregion und zu dem Versuch einer vom Einzelfall abstrahierenden Interpretation. Aus erkenntnistheoretischer Sicht betrachtet hat sich mit dem Einstellungswandel auch meine innere Haltung gegenüber den empirischen Phänomenen verändert. Meine ursprüngliche Überzeugung, die Metropolregionen als eine politisch-planerische Strategie zur Bewältigung spätmoderner Herausforderungen argumentativ zu unterstützen, wich der Suche nach einer kritischen Perspektive auf die Metropolregionen. Der noch zu schildernde Umstand, dass sich die überwiegende Mehrzahl der metropolregionsbezogenen Abhandlungen einer systematischen sozialwissenschaftlichen Kritik verweigert, forderte eine Erweiterung des Blicks in Richtung der Kritischen Wissenschaften. Da weder die steuerungstheoretisch argumentierende GovernanceForschung noch die raumwissenschaftlich orientierte Geographie befriedigendes kritisches Potenzial bereithielten, habe ich mich für die Perspektive der strukturationstheoretischen Sozialgeographie nach BENNO WERLEN entschieden. In diesem Sinne gliedert sich die vorliegende Arbeit in die Reihe kritisch angelegter geographischer Forschungsarbeiten ein, die im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Gesellschaftliche Raumverhältnisse“ am Lehrstuhl für Sozialgeographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter der Leitung von BENNO WERLEN durchgeführt werden konnte. Dieser Schwerpunkt widmet sich ganz allgemein der raumzeitlichen Transformation des gesellschaftlichen Lebens und untersucht deren theoretisch-konzeptionelle Grundlagen, empirische Auswirkungen, die durch sie hervorgebrachten Problemkonstellationen und politischen Gestaltungsspielräume (vgl. DFG-Projekt „Mitteldeutschland“; We 2614/2–2). Daher gilt mein Dank zunächst auch all jenen Kollegen, die an diesem Forschungs-

Vorwort

13

schwerpunkt (un-)mittelbar beteiligt sind/waren und mir mit wertvollen Hinweisen zur Seite gestanden haben: Dies sind neben meinem geduldigen Erstbetreuer BENNO WERLEN insbesondere KARSTEN GÄBLER und ANDREAS GRIMM, die mich in zahllosen Diskussionen stets auf eine anregende und gewinnbringende Weise herausgefordert haben. Dies sind aber auch DANA SPRUNK, ANNEGRET HARENDT und ANTJE SCHNEIDER, die meine Argumentation in einigen „KoKaInns“ (KollegenKaffee-Treffen) auf Herz und Nieren geprüft haben. Ebenso seien MARC REDEPENNING, TILO FELGENHAUER und ROLAND LIPPUNER erwähnt, die mir stets mit offenem Ohr und kollegialer Wärme begegnet sind. NADINE WASSNER hat dankenswerterweise organisatorische Aufgaben übernommen und mir über die buchhalterischen Hürden der Universität geholfen. Ferner danke ich meinem Zweitbetreuer RAINER DANIELZYK, der meine Arbeit zwar aus einiger räumlicher Entfernung, zugleich aber aus inhaltlicher Nähe begutachtet hat. Darüber hinaus möchte ich auch all den Freunden danken, die aus ihrer jeweiligen geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Perspektive maßgeblich zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben: Zu nennen sind HENDRIK EHRHARDT, LARS VOGEL, HELGA FÖRSTER, MATTHIAS HARTUNG und MATTHIAS HEISE, die – ebenfalls als Doktoranden an den Universitäten Jena, Frankfurt am Main, Heidelberg und Dortmund angestellt – nicht zuletzt für viele meiner Sorgen, Ängste und Nöte empfänglich waren. ULRIKE WROBEL hat mich auf zahlreichen Spaziergängen begleitet, wobei sie meine Launenhaftigkeit geschickt abfedern konnte. SYLVANA MEHRWALD konnte mich aufgrund ihrer persönlichen Involvierung in metropolregionale Konstitutionsprozesse regelmäßig in meinem Vorhaben bestätigen. Und schließlich danke ich DOROTHEE HERMANNI und FRANKA LEITERER für eine inspirierende Wohngemeinschaft sowie meiner personell variierenden Kochgruppe für die kulinarische Aufwertung meiner Doktorandenzeit. Mein ganz besonderer Dank gilt aber meiner Familie, die jederzeit an mich geglaubt und in meinem Vorhaben unterstützt hat. Ohne sie sowie SUSANNE KONSCHAK wäre es nicht möglich gewesen, diese Arbeit zu einem versöhnlichen Ende zu bringen. Ich widme diese Arbeit meinen engsten Freunden HENDRIK EHRHARDT, LARS VOGEL, HELGA FÖRSTER, MATTHIAS HARTUNG, MATTHIAS HEISE und ULRIKE WROBEL.

Berlin, im Dezember 2011

Einführung

Im Zuge der Globalisierung der Lebensbedingungen hat sich das Verhältnis von Gesellschaft, Raum und Zeit maßgeblich verändert. Zu den besonderen Kennzeichen dieser Entwicklung gehört ein tief greifender Wandel der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Praktiken, der zu einer globalen Vernetzung von Aktivitäten sowie zu wechselseitigen Abhängigkeiten ungekannten Ausmaßes geführt hat. Im Zuge dieser „raumzeitlichen Komprimierung“ (HARVEY 1990) bzw. „raumzeitlichen Implosion“ (WERLEN 2008a:23) der Lebensbezüge erfahren die vergesellschafteten Subjekte eine beschleunigte Verknüpfung des Globalen mit dem Lokalen, bei der das zuvor weit entfernte in unmittelbare Nähe rückt. Begünstigt werden diese Prozesse der Entankerung (vgl. WERLEN 2007a) und Beschleunigung (vgl. ROSA 2005) unter anderem durch die technischen Innovationen im Transport- und Kommunikationsbereich, durch das Vordringen der Massenmedien in nahezu jeden Winkel des Globus und durch den neoliberalen Staatsaufbau westlicher Nationen (Abbildung 1). Ausgangslage: Folgt man aktuellen Globalisierungsdiagnosen, so geht die Transformation des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht nur mit einer Radikalisierung des modernen Kapitalismus im Allgemeinen (GIDDENS 1995), sondern auch mit einem verschärften Standortwettbewerb urbaner Zentren einher. Mehr noch: Um im internationalen Wettbewerb bestehen und die vielfältigen Herausforderungen der globalisierten Weltwirtschaft bewältigen zu können, scheinen nicht mehr die urbanen Zentren allein, sondern vielmehr die verstädterten Regionen die idealen Raumeinheiten zu sein. Dementsprechend lassen sich in vielen westlichen Ländern (so auch in Deutschland) Verschiebungen von einem national definierten zu einem substaatlich orientierten Gesellschaft-Raum-Verhältnis beobachten (BRENNER & THEODORE 2002; BRENNER ET AL. 2003; BRENNER 2000, 2003, 2004). Die damit korrespondierenden Regionalisierungsprozesse stellen in erster Linie politisch-planerische Versuche dar, eine neue territoriale Klammer der gesellschaftlichen Ordnung zu konstituieren. Mit dem Konzept der Metropolregionen hat auch die bundesdeutsche Raumordnung ein Instrument geschaffen, das die verstädterten Regionen auf den internationalen Wettbewerb um die Standortgunst von Unternehmen, qualifizierte Fach- und Führungskräfte oder Kreativ- und Innovationspotenziale vorbereiten soll. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass dort die Rahmenbedingungen für Wettbewerb, Wachstum und Innovation geschaffen werden sollen, wo sie am

16

Einführung

ehesten vermutet und am aussichtsreichsten gestaltet werden können. So gelten weder die peripheren ländlichen Räume noch die einzelnen Kommunen, sondern vielmehr die Metropolregionen als „Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung“ (ADAM ET AL. 2005). Sie sind es, die aufgrund ihrer funktionalen Ausstattungsmerkmale, intra- und interregionalen Verflechtungen sowie modernen Organisations- und Steuerungsmodalitäten die besten Chancen hätten, um im radikalisierten Wettbewerb der Standorte bestehen zu können.1 Mittlerweile hat die Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) elf verstädterte Regionen als „Europäische Metropolregionen in Deutschland“ anerkannt. Mit Blick auf das Geschaffene hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) erst kürzlich das Konzept der Metropolregionen als eine „Erfolgsgeschichte“ bezeichnet (BBSR 2009a:1).2 Dieser Einschätzung kann man insofern folgen, als dass es der Raumordnung tatsächlich gelungen ist, a) den Planungsdiskurs an den gegenwärtig dominierenden Standortdiskurs anzuschließen sowie b) deutschlandweit Initiativen zur Gründung von Metropolregionen und zur Erprobung neuer Organisations- und Steuerungsansätze im Sinne einer regionalen Governance anzustoßen (vgl. SINZ 2005). Letzteres ist umso erstaunlicher, da mit der Einführung des Konzeptes weder eine neue Verwaltungsebene mit den entsprechenden Befugnissen noch eine neue Förderpolitik mit den entsprechenden finanziellen Anreizmitteln verbunden war. Vielmehr beschränkte sich die Hilfestellung des Bundes von Anfang an auf die Begleitung von so genannten „Policywettbewerben“ (BENZ 2004b; „Regionen der Zukunft“ 1997–2000, „Netzwerk Regionen der Zukunft“ 2001–2003) oder auf den wissenschaftlichen Beirat im Rahmen der MORO-Projektfamilie. 1

2

Interessanterweise wurde in der bundesdeutschen Raumordnung die Bedeutung von Stadtregionen bis vor wenigen Jahren weitgehend ignoriert. Vielmehr interessierte man sich für hierarchisch geordnete Städtesysteme, genauer: die „Zentralen Orte“ unterer, mittlerer und oberer Stufe, mit deren landesweiten Ausbau und Erhalt die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Teilräumen der Bundesrepublik gewährleistet werden sollte (BLOTEVOGEL 2000:162). Erst mit der in den 1990er Jahren einsetzenden Konjunktur des Globalisierungs- und Metropolendiskurses vollzog sich eine Perspektivenverschiebung zugunsten städtischer Zentren. Zwar konnte man im Gegensatz zu anderen Ländern und mit Ausnahme Frankfurts keine dominante World oder Global City ausfindig machen, wohl aber ein über Deutschland verteiltes Netz von verstädterten Regionen (HÄUßERMANN ET AL. 2008:168; vgl. BBR 2005b; SINZ 2006). „Ansatz und Praxis des Konzeptes der Europäischen Metropolregionen in Deutschland sind eine Erfolgsgeschichte. Die von der Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) anerkannten 11 Europäischen Metropolregionen in Deutschland arbeiten seit 2001 im Initiativkreis Europäische Metropolregionen in Deutschland (IKM) zusammen. Sie haben seitdem ihre Governance und Strategien weiter entwickelt. Projekte wurden umgesetzt und auch manche schwierige Debatte zum Verhältnis dieses neuen Politikmodells zu tradierten Akteuren und Konzepten bewältigt. In den elf […] Metropolregionen […] entfaltet sich eine dynamische Entwicklung der intraregionalen Kooperation. Gemeinsame Ziele sind jeweils die Aufstellung als große, wachstums- und innovationsorientierte Region und die Positionierung im europäischen Kontext und dies in enger Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, der Wissenschaft, Kommunen, den Ländern, dem Bund und letztlich auch der EU“ (BBSR 2009a:1).

Einführung

17

Problemstellung: Zugleich scheint es aber angebracht, dem vermeintlichen und sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis konstatierten Erfolg der Metropolregionen skeptisch gegenüber zu treten. Dies begründet sich zum einen damit, dass deren inflationäres und nahezu flächendeckendes Auftauchen keinesfalls für die Qualität des Konzeptes oder für die vorfindbaren Organisations- und Steuerungsstrukturen und Entwicklungsprogramme sprechen muss. Im Gegenteil: Für DIETRICH FÜRST (2005:219f.) stellen die meisten der Metropolregionen in Deutschland kaum mehr als bereits bekannte Formen der Stadt-UmlandKooperationen unter Einbezug der Wirtschaft, der Wissenschaft und/oder der Zivilgesellschaft dar. Insofern gelten für die Metropolregionen in Deutschland genau dieselben Herausforderungen, wie sie auch mit anderen modernen Formen der intersystemischen Organisation und intermediären Steuerung einhergehen – nämlich: Integrations-, Legitimations-, Effizienz- und Effektivitätsprobleme (vgl. HASSE & KRÜCKEN 2005). Zum Zweiten weckt auch die im Zuge der Konstitution von Metropolregionen zu beobachtende Metropolisierungseuphorie (vgl. LEBER & KUNZMANN 2006; DANIELZYK ET AL. 2008; FÜRST 2005) den Verdacht, bei genauerer empirischer Betrachtung auf eine ganze Reihe von Widersprüchen zu stoßen. Und tatsächlich ist mit dem Auftauchen der Metropolregionen eine ganz sonderbare Diskursverschiebung verbunden, welche die Probleme der Städte und Stadtregionen marginalisiert und stattdessen deren vermeintliche Stärken und Potenziale akzentuiert. So wurden innerhalb von nur wenigen Jahren aus gewöhnlichen Städten außergewöhnliche Metropolen und aus herkömmlichen Stadtregionen dynamische Metropolregionen. Es scheint sogar, dass mit den Metropolregionen all die positiven Konnotationen verbunden werden, welche im Zusammenhang mit der World und Global City Hypothese (FRIEDMAN 1986; SASSEN 1991; TAYLOR 1997) stehen und von der New Economic Geography (SCOTT 1988; STORPER & WALKER 1989; PORTER 1990; STORPER & SCOTT 1992; MALECKI 1991; STORPER 1995, 1997; CLARK ET AL 2000; MASKELL & MALMBERG 1999), der raumbezogenen Institutionenökonomie (KRUGMAN 1991; FUJITA ET AL. 1999) oder der Humankapitaltheorie (GRABOW ET AL. 2005; SIMMIE 2001; FLORIDA 2002, 2004) für die großen Agglomerationen dieser Welt identifiziert worden sind. Zielstellung: In Anbetracht dieser ersten Einwände scheint es sich also zu lohnen, das Konzept der Metropolregionen als ein (bedeutendes) Instrument der bundesdeutschen Raumordnung sowie die alltägliche Praxis der Metropolisierung von Städten und Stadtregionen genauer zu beleuchten. Es scheint angebracht, die vermeintliche „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) zu hinterfragen sowie die bislang eher verhalten ausfallende Kritik hinsichtlich der Metropolregionen in Deutschland zu intensivieren. In diesem Sinne wird in dieser Arbeit zunächst der Versuch unternommen, den konzeptionellen „Geburtsfehlern“ sowie den empirisch nachweisbaren Funktionsdefiziten (Integrations-, Legitimations-, Effizienzund Effektivitätsprobleme) auf den Grund zu gehen. Im Zuge dessen wird gezeigt, dass es sich bei der Mehrzahl der Metropolregionen in Deutschland um alles andere als ein bereits gelungenes Projekt, sondern vielmehr um ein (noch) zu gelingendes Vorhaben handelt.

18

Einführung

Wie sehr die Metropolregionen unter dem Imperativ des Gelingens stehen, zeigt das mit der Metropolisierungseuphorie eng verbundene Phänomen der „Metropolregion 2.0“. Dieses Phänomen steht für die neu gestartete – oder besser: die sich revitalisierende Metropolregion, welche in der viel beschworenen raumordnerischen und wissenschaftlichen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) bislang keinen Platz gefunden hat. Der Grund für die Missachtung des Phänomens der „Metropolregion 2.0“ liegt darin, dass die Revitalisierung von Metropolregionen für die unliebsame Seite problematischer Entwicklungspfade steht und eine Reaktion auf die schwierige und zum Teil unmögliche Metropolisierung von Städten und Stadtregionen darstellt. Da der Stillstand oder gar das Scheitern jedoch (noch) nicht in das Bild der auf Wachstum und Wettbewerb ausgerichteten Metropolregionen passt, hat sich deren Revitalisierung als notwendige Maßnahme erwiesen, die entgegen aller Verweise auf die vermeintlich funktionierenden Metropolregionen kein Einzelphänomen darstellt. Fragestellungen und Hypothesen: Vor diesem Hintergrund stellt sich die weiterführende Frage, weshalb eine Neuauflage von Metropolregionen immer wieder nötig und von den Entscheidungs- und Meinungsträgern vorangetrieben wird. Es stellt sich zudem die Frage, wozu die nachweislich so schwer zu etablierenden und zu konsolidierenden Metropolregionen unbedingt in den politischen Dokumenten und auf den Landkarten repräsentiert sein sollen. Die Beantwortung dieser Fragen bringt uns in das Feld der sozialgeographischen (WERLEN 2007a) und soziologischen Gesellschaftsdiagnose (ROSA 2005), die sich für die alltägliche Konstitution und Revitalisierung von Metropolregionen unter entankerten und beschleunigten Bedingungen interessiert. Als kritisch konzipierte Perspektive vermag sie nicht nur auf a) die konzeptionellen „Geburtsfehler“ und b) die Funktionsdefizite (Integrations-, Legitimations-, Effizienz- und Effektivitätsprobleme) einzugehen, sondern auch für c) die Notwendigkeit der Revitalisierung und d) die sich hieraus ergebenden Paradoxien zu sensibilisieren. So steht im Zentrum der sozialgeographisch inspirierten Erörterungen die Behauptung, dass sich das Festhalten an den deutschen Metropolregionen nicht primär aus deren Erfolg, sondern vielmehr aus den vielfältigen Bedenken und Ängsten vor dem radikalisierten Standortwettbewerb heraus begründet. In diesem Sinne können sowohl das Konzept als auch die Praxis der Metropolregionen in Deutschland als eine raumbezogene „Coping-Strategie“ (vgl. REDEPENNING 2006) verstanden werden, mit deren Hilfe auf die zunehmend härter empfundene Globalisierung der Lebensbedingungen reagiert werden soll. Aus Sicht der metropolregionalen Protagonisten mag dies zwar den Prozess der mentalen Wiederverankerung (WERLEN 2009:154) und den damit verbundenen Effekt der gemeinschaftlichen Handlungsorientierung begünstigen (vgl. FEDERWISCH 2008a zur Praxis der „Raumbezogenen Identitätspolitik“ in der Metropolregion RheinNeckar). Auf der anderen Seite geht mit der alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen aber auch die Paradoxie des „QuasiProtektionismus“ einher, welcher eine unzeitgemäße regional-mentale Geschlossenheit unter prinzipiell entankerten Bedingungen der Spätmoderne nach sich zieht (Abbildung 1).

Einführung

19

Demgegenüber widmen sich die soziologisch inspirierten Erörterungen der Behauptung, dass sich das Festhalten an den Metropolregionen auch aus den politischen Hoffnungen und Wünschen nach einer beschleunigten gesellschaftlichen Steuerung heraus begründet. So gesehen können Metropolregionen und ihre Steuerungsgremien als zeitbezogene „Coping-Strategien“ (vgl. REDEPENNING 2006) verstanden werden, mit deren Hilfe auf die politische Langsamkeit des bereits etablierten Ensembles der „Geographien der Politik“ (Stichwort: vertikaler Staatsaufbau) reagiert werden soll. Aus Sicht der metropolregionalen Protagonisten mag damit zwar die gewünschte Re-Synchronisierung (ROSA 2005:414) an die beschleunigten Sphären wie die der Wirtschaft vonstatten gehen und die Politik in ihrer Rolle als Schrittmacher der gesellschaftlichen Entwicklung gestärkt werden. Zugleich begünstigen derartige Beschleunigungsinitiativen aber auch die Paradoxie des „Rasenden Stillstandes“ (ROSA 2005), der eine Steigerung der Anzahl politischer Aktivitäten, Projekte und Maßnahmen bei gleichzeitigem Ausbleiben einer gerichteten politischen Entwicklung zum Ausdruck bringt. Raum

Zeit

Diagnose: Globalisierung der Lebensbedingungen

Entankerung

Beschleunigung

Reaktion auf die Globalisierung der Lebensbedingungen

Wiederverankerung

Resynchronisation

Paradoxien der Metropolisierungseuphorie

„Quasi-Protektionismus“

„Rasender Stillstand“ (ROSA 2005)

Abbildung 1: Argumentativer Aufbau der Dissertation Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Fallbeispiel: Angesichts der vorgesehenen kritischen Betrachtungsweise sollen die Metropolregionen in Deutschland natürlich nicht unter den Generalverdacht des Misserfolges gestellt werden. So lassen sich zweifelsohne auch Beispiele für funktionierende (metropol-)regionale Kooperationen und wirksame Regionalpolitiken – kurz: gelingende Metropolregionen anführen, welche die Ansicht von deren Leistungsfähigkeit untermauern können. Die hier getroffenen kritischen Aussagen zur alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen beziehen sich vordergründig auf die Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland, die seit ihrer Ernennung im Jahre 1997 einen durchaus problematischen Entwicklungspfad zu verzeichnen hat (wobei in dieser Arbeit auch gegenstandsbezogenes Vorwissen aus anderen Metropolregionen reflektiert wird). Basierend auf den empirischen Untersuchungen zu den zentralen Problem- und Konfliktfeldern sowie den politischen Maßnahmen zur Problem- und Konfliktbewältigung soll schließlich der sozialwissenschaftliche Versuch unternommen werden, vom mitteldeutschen Einzelfall zu abstrahieren und eine kritische Interpretation der um sich greifenden Metropolisierungseuphorie anzubieten.

20

Einführung

Vorgehensweise: In dieser Arbeit geht es also darum, die Schwierigkeiten der Metropolisierung Mitteldeutschlands nachzuzeichnen und – hiervon ausgehend – eine gesellschaftsdiagnostisch inspirierte Interpretation vorzunehmen. Zu diesem Zweck wurde die Arbeit in fünf Teile gegliedert (Abbildung 2), wobei sich der erste Teil (Diagnose) zunächst ganz allgemein der Transformation gesellschaftlicher Raumbezüge widmet. Im Zuge dessen werden die Versuche der territorialen Neuorganisation der gesellschaftlichen Ordnung aus dem neoliberalen Staatsaufbau heraus erklärt und auf die zentralen steuerungspraktischen Konsequenzen eingegangen (Abschnitt 1). Darüber hinaus widmet sich der erste Teil den politisch-planerisch intendierten Metropolisierungsprozessen in Deutschland, die mit dem Aufbau regionalisierter GovernanceRegime einhergehen. Da davon ausgegangen wird, dass sich die Erfolgsnachrichten über die Metropolregionen nicht mit deren zahlreichen konzeptionellen „Geburtsfehlern“ sowie Integrations-, Legitimations-, Effektivitäts- und Effizienzproblemen decken, soll schließlich das Phänomen der „Metropolregion 2.0“ als kritischer Befund aktueller regionalisierender Praktiken näher erläutert werden (Abschnitt 2). Vor dem Hintergrund des bis dahin noch vagen kritischen Befundes zum gegenwärtigen Stand der deutschen Metropolregionen widmet sich der zweite Teil der Arbeit (Theorie) der bislang vorgenommenen wissenschaftlichen Erörterung von Metropolregionen. Dabei steht zunächst die Frage im Vordergrund, weshalb sich die Wissenschaft bislang nicht differenziert zur Revitalisierung von Metropolregionen geäußert hat. Bei der Beantwortung dieser Frage werden die steuerungstheoretische und die klassische raumwissenschaftliche Perspektive auf Metropolregionen dargestellt und deren tendenziell noch ausbaufähige kritische Ausrichtung aus ihrem Selbstverständnis heraus begründet (Abschnitt 3). Im Anschluss daran wird der Frage nachgegangen, wozu es sich lohnt, den Metropolisierungsprozess aus der Sicht einer sozialtheoretisch informierten Sozialgeographie zu betrachten. Im Zuge dessen wird gezeigt, dass gerade die handlungs- und strukturationstheoretische Sozialgeographie den Blick für die – sich aus den alltäglich vollzogenen geographischen Praktiken ergebenden – Probleme, raumbezogenen Konflikte und argumentativen Widersprüche schärft (Abschnitt 4). Der dritte Teil der Arbeit (Analyse) stellt das Bindeglied (oder Interludium) zwischen den theoretisch-konzeptionellen Vorannahmen einerseits und den empirisch begründeten Schlussfolgerungen andererseits dar. Er widmet sich den allgemeinen methodologischen und methodischen Konsequenzen der zuvor eingenommenen sozialgeographischen Forschungsperspektive sowie der Darstellung des empirischen Datenmaterials (Abschnitt 5 und 6). Ziel des dritten Teils ist es, die methodologischen Grundprinzipien der Qualitativen Sozialforschung zu erläutern, aus denen die methodische Vorgehensweise für das Forschungsprojekt abgeleitet wurde. Getreu dem Motto: „So viel Methode wie nötig, so wenig wie möglich!“ werden auch die konkreten Datenaufnahme- und Datenauswertungsverfahren dargestellt, mit denen ein (kritischer) Zugang zu den alltäglichen Praktiken der Konstruktion metropolregionaler Wirklichkeiten bzw. zu dem Phänomen der „Metropolregion 2.0“ ermöglicht werden soll.

Einführung Teil I (Diagnose) | Neuorientierung spätmoderner Staaten Rekonstruktion der Neuorientierung spätmoderner Staaten unter Berücksichtigung der Transformation gesellschaftlicher Raumbezüge.

Teil I (Diagnose) | Metropolregionen in Deutschland Welchen Einfluss haben die allgemein zu verzeichnenden Entwicklungen auf die Strategie der bundesdeutschen Raumordnungspolitik?

Teil II (Theorie) | Wissenschaftliche Erörterung von Metropolregionen Systematische Darstellung der steuerungstheoretischen und klassischen raumwissenschaftlichen Forschungslogik und umfassende Kritik an deren Analysepotenzialen.

Wozu lohnt sich eine sozialgeographische Sichtweise und welche Potenziale liegen in der sozialgeographischen und soziologischen Gesellschaftsdiagnose?

Wie können die theoretischkonzeptionellen Vorgaben der sozialgeographischen Perspektive in der Forschungspraxis umgesetzt werden (Operationalisierung)?

Darstellung des Umgangs mit dem Vorwissen und dem empirischen Materialbestand bei gleichzeitiger Akzentuierung einer interpretativen Vorgehensweise.

Teil IV (Empirie) | Metropolregion Mitteldeutschland: Eine „Erfolgsgeschichte“? Welchen Entwicklungspfad hat die gewählte Metropolregion zu verzeichnen? Welche Problemkonstellation lässt sich erkennen und wie wird darauf politisch reagiert?

Analytische Darstellung der zentralen Problem- und Konfliktfelder sowie der politischen Maßnahmen zur Problemund Konfliktbewältigung.

Teil V (Interpretation) | Metropolregionen zwischen Beschleunigung und Erstarrung

Teil V (Interpretation) | Wozu Metropolregionen? Metropolregionen stellen eine raumbezogene „Coping-Strategie“ dar, wobei ihre alltägliche Konstruktion und Revitalisierung „quasiprotektionistische“ Züge aufweist.

Herleitung eines alternativen Forschungskonzeptes für die empirische Praxis und Fruchtbarmachung von Gesellschaftsdiagnosen für die interpretativen Ableitungen.

Teil III (Analyse) | Datenauswertungsverfahren

Teil IV (Empirie) | Mitteldeutsche Metropolisierungseuphorie Chronologische Darstellung des mitteldeutschen Entwicklungspfades und empirischer Nachweis der Revitalisierung der Metropolregion im Sinne der „Metropolregion 2.0“.

Rekonstruktion der Neuorientierung in der bundesdeutschen Regionalpolitik und Problematisierung des Phänomens der „Metropolregion 2.0“.

Teil II (Theorie) | Wozu Sozialgeographie?

Teil III (Analyse) | Datenaufnahmeverfahren Ableitung von methodologischen und methodischen Konsequenzen hinsichtlich der Datenaufnahme sowie Begründung des empirischen Materials.

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Welche Ableitungen lassen sich aus den spezifischen empirischen Befunden für die deutschen Metropolregionen im Allgemeinen machen?

Abbildung 2: Grobstruktur der Arbeit Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Metropolregionen stellen eine zeitbezogene „Coping-Strategie“ dar, wobei ihre alltägliche Konstruktion und Revitalisierung im „Rasenden Stillstand“ (ROSA 2005) münden kann.

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Einführung

Basierend auf diesen Vorarbeiten werden im vierten Teil der Arbeit (Empirie) die Ergebnisse der empirischen Auseinandersetzung mit der Metropolregion Sachsendreieck bzw. Mitteldeutschland dargestellt. Dabei stehen sowohl die geographischen Praktiken als auch die zahlreichen Probleme bei der Konstruktion metropolregionaler Wirklichkeiten im Zentrum der Aufmerksamkeit. Konkret: In einem ersten Schritt geht es um die Aufarbeitung der Maßnahmen zur Konstruktion und Etablierung der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland. In diesem Zusammenhang werden vor allem die sich aus der mitteldeutschen Metropolisierungseuphorie ergebenden Praktiken zur territorialen und funktionalen Erweiterung der Metropolregion erörtert (Abschnitt 7). In einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, ob es sich bei der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland tatsächlich um eine der „Erfolgsgeschichten“ (BBSR 2009a:1) oder nicht doch um ein problembehaftetes, konfliktreiches und zu gelingendes Vorhaben handelt. Im Zuge dessen wird behauptet, dass die Erweiterung der Metropolregion eine Reaktion auf deren drohendes Scheitern darstellt und somit als ein geeignetes Beispiel für das hier diskutierte Phänomen der „Metropolregion 2.0“ herangezogen werden kann (Abschnitt 8). Im fünften Teil der Arbeit wird eine theoretisch-konzeptionell fundierte, methodologisch-technisch reflektierte und empirisch informierte Interpretation aktueller Metropolisierungspraktiken vorgenommen. Dabei geht es nicht um die Entfaltung einer sozialgeographisch begründeten „Wahrheit“ über Metropolregionen, sondern vielmehr um das Verstehen von zwei zentralen Paradoxien des (mittel-)deutschen Metropolisierungsprozesses. So wird mit der Thematisierung des „Quasi-Protektionismus“ auf eine erste Paradoxie eingegangen, die in einem engen Zusammenhang mit den Bestrebungen zur Wiederverankerung unter den globalisierten Lebensbedingungen der Spätmoderne zu sehen ist. Im Zuge dessen wird argumentiert, dass Metropolregionen die Sicherheit regionaler Geschlossenheit suggerieren und somit als Versuche der reaktionären Bewältigung spätmoderner Herausforderungen interpretiert werden können (Abschnitt 9). Demgegenüber bezieht sich die zweite Paradoxie des so genannten „Rasenden Stillstandes“ (ROSA 2005) auf die Erfahrung, dass nichts bleibt, wie es ist, ohne das sich etwas wesentlich verändert. Dabei wird argumentiert, dass sich die landesweit (noch) zu beobachtende Metropolisierungseuphorie in einem politischen Aktionismus erschöpft, der durch ein niedriges politisches Gestaltungsniveau befördert wird, zugleich aber auch eine gerichtete politische Entwicklung vermissen lässt (Abschnitt 10).

Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen Transformation gesellschaftlicher Raumbezüge

In den vergangenen Jahren wurde die nationalstaatlich definierte Ordnung der Nachkriegsperiode grundlegend verändert. Zu den besonderen Kennzeichen dieser Restrukturierung gehören die Entstehung eines globalisierten postfordistischen Akkumulationsregimes (vgl. HARVEY 1990) sowie einer internationalisierten neoliberalen Staatsform (JESSOP 1997). Die in diesem Zusammenhang beobachtbare Transformation gesellschaftlicher Raumbezüge hat (auch) neue Maßstabsebenen der Organisation und Steuerung hervorgebracht. Von ihnen wird erwartet, die Steuerungs- und Problemlösungsdefizite des Staates zu minimieren und dessen Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Die Transformation gesellschaftlicher Raumbezüge ist in vielen westlichen Nationalstaaten beobachtbar. Zu den bekanntesten Beispielen gehört die britische „Devolution“, durch welche die gesamtstaatlichen Kompetenzen dezentralisiert und zugleich die englischen und keltischen Regionen aufgewertet wurden. Aber auch in Deutschland gibt es zahlreiche Regionalisierungsprozesse, mit denen eine neue territoriale Klammer der gesellschaftlichen Ordnung konstruiert werden soll. Hierzu gehört vor allem das raumordnerische Konzept der Metropolregionen, welches dem neoliberalen Grundgedanken der wachstums- und wettbewerbsorientierten Raumordnung und Regionalentwicklung Rechnung trägt. Im Zentrum der diagnostischen Ausführungen steht die politisch-planerisch motivierte Konstruktion von Metropolregionen in Deutschland. Zu diesem Zweck wird das Konzept zunächst in den Kontext der veränderten Staatlichkeit und der damit verbundenen Neuerungen der Steuerungsmodalitäten gestellt. Ziel des ersten Teils ist es, die aktuellen und mit dem Aufbau einer regionalisierten Governance einhergehenden Metropolisierungsprozesse kritisch zu beurteilen. So soll eine systematische Darstellung der zahlreichen Probleme und Konflikte bei der Konstruktion metropolregionaler Wirklichkeiten einen Zugang zum empirischen Phänomen der „Metropolregion 2.0“ ermöglichen.

1 Neuorientierung spätmoderner Staaten

In seinem Buch „The Future of the Capitalist State“ interessiert sich der von der französischen Regulationstheorie stark beeinflusste britische Staatstheoretiker BOB JESSOP für die Frage, wie und warum es kapitalistischen Gesellschaften immer wieder gelingt, die von ihnen selbst erzeugten Instabilitäten, Widersprüche und Konflikte zu bewältigen (JESSOP 2002).3 Er argumentiert, dass moderne kapitalistische Gesellschaften die Fähigkeit zur Restrukturierung ihrer Politischen Ökonomie besäßen und dabei ihre Steuerungsmodalitäten an die entankerten und beschleunigten Bedingungen angepasst hätten. Die in diesem Zusammenhang vollzogene territoriale Neuorganisation hat seiner Ansicht nach nicht nur eine Aufwertung der supranationalen politischen Regime, sondern vor allem der substaatlichen Steuerungsebene zur Folge. BOB JESSOP beobachtet diese territoriale Neuorganisation insbesondere im Zusammenhang mit der britischen Staatsreform, zu deren zentralen Merkmalen die partielle Kompetenzverlagerung auf die regionale Ebene gehört („Devolution“). Nachfolgend wird auf die Transformation der gesellschaftlichen Raumbezüge eingegangen, die a) in der Restrukturierung der Politischen Ökonomie und b) in der Anpassung der Steuerungsmodalitäten ihren Ausgang sowie c) in der territorialen Neuorganisation des Staates ihren Ausdruck gefunden hat. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst eine allgemeine Auseinandersetzung mit der Restrukturierung der Politischen Ökonomie des europäischen Nationalstaates keynesianischer Prägung (Abschnitt 1.1) sowie mit der Anpassung dessen Steuerungsmodalitäten an die spätmodernen gesellschaftlichen Bedingungen (Abschnitt 1.2). Im Anschluss daran wird auf die (in vielen westlichen Ländern zu beobachtenden) Be3

Die Regulationstheorie entwickelte sich im Frankreich der 1970er Jahre (Pariser und Grenobler Schule) und verbindet die Gesellschaftsanalysen des französischen Strukturalismus mit den ökonomischen Gleichgewichtstheorien der neoklassischen Schule (AGLIETTA 2000; BOYER 2004). Zu ihren Grundannahmen gehört, dass sich kapitalistische Gesellschaften in Phasen entwickeln und jede Entwicklungsphase sowohl von relativ stabilen Akkumulationsregimen als auch von typischen Regulationsweisen geprägt ist. Dabei bezeichnet ein länderspezifisches Akkumulationsregime eine raumzeitlich signifikante Ordnung der Produktions-, Arbeits- und Kapitalverhältnisse zur Mehrung des gesellschaftlichen Wohlstandes. Diese Ordnung bedarf wiederum einer passförmigen Regulationsweise („mode de régulation“), welche die marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaften zur Gewährleistung des ökonomischen Wachstumspfades kontinuierlich erbringen müssen.

Neuorientierung spätmoderner Staaten

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strebungen zur territorialen Neuorganisation eingegangen, die mit einer Verlagerung zahlreicher Aufgaben und Kompetenzen in Richtung der substaatlichen Ebene einhergeht (Abschnitt 1.3). Da die Thematisierung der territorialen Neuorganisation lange Zeit vor allem im Zusammenhang mit der britischen Staatsreform und der dabei vorgenommenen Etablierung einer regionalen Governance erfolgt ist, sollen abschließend Aussagen über Regional Governance gemacht und die Entwicklungen im Vereinigten Königreich exemplarisch dargestellt werden (Abschnitt 1.4).

1.1 Restrukturierung der Politischen Ökonomie spätmoderner Staaten Folgt man dem britischen Staatstheoretiker BOB JESSOP (1997, 2002), so ist die Geschichte der modernen Nationalstaaten vor allem die Geschichte einer sich phasenweise vollziehenden Metamorphose ihrer politisch-ökonomischen Regime. Nach seiner Auffassung verbinden sich zu bestimmten Zeiten spezifische Produktionsund Konsumtionsmuster mit ebenso spezifischen Steuerungsmodalitäten zu einer hegemonialen Struktur der gesellschaftlichen Ordnung, die sich in Krisenzeiten nicht einfach in Gänze auflöst, sondern zu einer neuartigen dominanten gesellschaftlichen Ordnung transformiert. Aus (sozial-)geographischer Sicht kann man ergänzen, dass die Konstitution politisch-ökonomischer Regime eine spezifische Modalität der „Weltbindung“ (WERLEN 2009:154) repräsentiert. Sie ist maßgeblich von der Welterfahrung bzw. den geographischen Weltbildern der Mitglieder der Gesellschaft abhängig, weshalb jede Metamorphose eines hegemonialen politisch-ökonomischen Regimes auch Ausdruck eines sich verändernden geographischen Weltbildes darstellt. Akzeptiert man die Behauptung, wonach die Regimebildung in einem wechselseitigen Verhältnis zur Welterfahrung steht, so lassen sich auch Aussagen über das Scheitern der Politischen Ökonomie des europäischen Nationalstaates keynesianischer Prägung machen. Dieser wurde lange Zeit als ein Meilenstein in der strategischen Ausrichtung der kapitalistischen Gesellschaften gefeiert und vor noch nicht allzu langer Zeit vom Altbundeskanzler HELMUT SCHMIDT als die „bisher letzte große kulturelle Errungenschaft der Europäer“ bezeichnet (SCHMIDT 2001). Eines der wichtigsten Merkmale dieses Staatstypus lag in der vertraglich abgesicherten und antizyklisch vorgenommenen Intervention des Staates in die marktwirtschaftliche Selbststeuerung, wodurch die Stabilität der Wirtschaft gewährleistet und ihr kontinuierliches Wachstums gefördert werden sollte (Abbildung 3). Folgt man dem deutschen Wirtschaftshistoriker WERNER ABELSHAUSER (2005), so wurde der Staat mitsamt seinem Interventionsinstrumentarium zum Wahrer volkswirtschaftlicher Interessen und zum Garanten einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung. „Der Staat hatte […] die Verantwortung für den Wirtschaftsablauf übernommen und füllte seine Arsenale mit neuen wirtschaftslenkenden Instrumenten, um sich für den Eingriff in den gesamtwirtschaftlichen (globalen) Kreislauf zu wappnen“ (ABELSHAUSER 2005:410).

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

Ökonomische Basis

Der Nationalstaat verfügte über eine relativ geschlossene und fordistisch operierende Volkswirtschaft, wobei die regionalen und lokalen Ökonomien als territoriale Untereinheiten angesehen wurden (Dominanz nationaler Volkswirtschaften). Dementsprechend bezog sich die Internationale Ökonomie auf Finanz- und Handelsströme zwischen den verschiedenen Volkswirtschaften.

Staatsverständnis

Der liberal-demokratische und korporatistische Nationalstaat wurde als die dominante Organisationsform des menschlichen Zusammenlebens angesehen (Primat des Nationalstaates). Internationale und intergouvernementale Institutionen waren für die Kooperation der Nationalstaaten untereinander verantwortlich und vor allem bei der nachkriegszeitlichen Restrukturierung beteiligt.

Wirtschaftsund Sozialpolitik

Die Politik des Nationalstaates orientierte sich an der einheimischen (nationalen) Bevölkerung, die sich idealtypischerweise aus Haushalten und Staatsbürgern zusammensetzte. Sowohl die Wirtschafts- als auch die Sozialpolitik waren auf die Wohlfahrt der Staatsbürger ausgerichtet, wobei sie mit beachtlichen politischen und sozialen Rechten ausgestattet wurden.

Krisenbewältigung

Grundsätzlich sollten mit wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen (Fiskalpolitik etc.) Schocks antizyklisch aufgefangen und beispielsweise Arbeitslosigkeit bzw. deren Auswirkungen gering gehalten werden. Hierin kam das Prinzip des Keynesianismus zu Geltung, durch den Marktversagen mittels Staatsintervention aufgefangen werden sollte („Globalsteuerung“).

Abbildung 3: Kennzeichen der Politischen Ökonomie des KWNS Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Für BOB JESSOP stellt der europäische Nationalstaat keynesianischer Prägung bis in die 1970er Jahre den dominierenden (also hegemonialen) Staatstypus der Nachkriegsperiode dar. Einer der Hauptgründe für dessen Erfolg mag darin liegen, dass seine Politische Ökonomie auf der Vorstellung von einer räumlich relativ eng „gekammerten Welt“ (vgl. WERLEN 2008a) basiert, in der die Grenzen politischen und ökonomischen Handelns noch mit denen der Nationalstaaten korrespondierten. Bemerkenswert ist, dass dieser Staatstypus gerade in der Zeit zu seiner vollen Blüte gelangte, als sich die nationalen Grenzen zusehends in Auflösung befanden. Unbeeindruckt von der damit einhergehenden strukturellen Krise seiner fordistisch operierenden Ökonomie sowie seiner zunehmenden Unfähigkeit zur antizyklischen Globalsteuerung (vgl. Abschnitt 1.2) blieb er seinem Anspruch, die Wohlfahrt der Bürger zu gewährleisten, weitgehend treu. So zeigen die massiven Ausgaben in die öffentliche Infrastruktur oder in das Netz sozialer Sicherheit (vgl. ABELSHAUSER 2005:439–440 für den Fall Deutschland), wie schwer es dem „Keynesianischen Wohlfahrtsnationalstaat“ (KWNS; JESSOP 1997:55; vgl. SIMONIS 2007:220) fiel, sein soziales Leistungsspektrum an die neuen Bedingungen der sich herausbildenden globalisierten Moderne anzupassen. Zu den zentralen Kennzeichen dieser neuen Bedingungen gehört die „Internationalisierung des Nationalstaates“ (JESSOP 1997:72–74), die sich auf die zunehmende Bedeutung des internationalen Kontextes hinsichtlich der strategischen Ausrichtung und strukturellen Ordnung des Staates bezieht. Angesichts der anachronistischen Haltung vieler europäischer Nationalstaaten gegenüber ihrer „Internationalisierung“ glitt der KWNS spätestens gegen Ende der 1970er Jahre (und in Folge der Ölkrisen sowie des Zusammenbruchs des Bretton Woods Währungssystems) in eine schwere Krise (Abbildung 4). Nach WERNER ABELSHAUSER (2005:439) ging dies mit

Neuorientierung spätmoderner Staaten

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„schmerzhaften Einschränkungen der wirtschaftspolitischen Autonomie im Inneren einher. Wichtige Hebel der Konjunktursteuerung und Wachstumspolitik verloren nach dem Öffnen der außenwirtschaftlichen Flanke ihre Wirksamkeit. Der schöne Traum, mit nationalen Mitteln Wachstum und Stabilität der wirtschaftlichen Entwicklung sowie den kontinuierlichen Ausbau des Sozialstaates zu planen und über die gesamtwirtschaftliche Steuerung des Kreislaufes auch durchzusetzen, war ausgeträumt.“

Die in der Folge der Krise zu beobachtende „Erosion“ (JESSOP 1997:58–61) des europäischen Nationalstaates keynesianischer Prägung bedeutete jedoch nicht, dass der Nationalstaat im Allgemeinen überflüssig oder verdrängt wurde („Ende des Nationalstaates“; vgl. OHMAE 1995). Im Gegenteil: Mit dem KWNS „erodierte“ eine spezifische Form der politisch-ökonomischen Ordnung des Staates, die sich vor dem Hintergrund der globalen Vernetzung von Aktivitäten und einer bis dato unbekannten Intensität wechselseitiger Abhängigkeiten als immer problematischer erwiesen hatte. Die offensichtliche Ohnmacht des KWNS gegenüber den neuen Herausforderungen der globalisierten Moderne veranlasste die politischen und wirtschaftlichen Akteure, nach einer neuen politisch-ökonomischen Ordnung zu suchen. Dabei orientierte man sich vor allem an dem Konzept des Neoliberalismus, das sich in seiner US-amerikanischen Variante („Reaganomics“) bereits in Erprobung befand. Ökonomische Basis

Die zunehmende internationale Vernetzung ökonomischer Aktivitäten und die Erzeugung wirtschaftlicher Abhängigkeiten unterminierten das System nationaler Volkswirtschaften. Ferner konnte die standardisierte Produktpalette des fordistischen Regimes (economies of scale) die wachsende individualisierte Nachfrage nicht mehr befriedigen (Überproduktion und sinkende Gewinne).

Staatsverständnis

Die durch „Big-Government“ (JESSOP 1997:59) hervorgerufenen Funktionsdefizite förderten die Kritik an der nationalstaatlichen Problemlösungs- und Steuerungsfähigkeit. Ferner forderten die Krise der Repräsentationsformen (Parteien, Gewerkschaften etc.) sowie neue soziale und ökologische Bewegungen die etablierten politischen Organisationsformen heraus.

Wirtschaftsund Sozialpolitik

Der Nationalstaat vermochte es immer weniger, zentrale volkswirtschaftliche Ziele wie Vollbeschäftigung, Preisstabilität oder Wachstum einzulösen. Zudem steigerte die Wirtschafts- und Sozialpolitik des KWNS den Kostendruck sozialer Sicherungssysteme, der sich vor dem Hintergrund von Finanzkrisen noch zusätzlich verstärkte.

Krisenbewältigung

In den 1970er Jahren verdichteten sich die Anzeichen auf ein Staatsversagen, das im auflebenden Protektionismus zum Schutz beschäftigungsintensiver Branchen eine finale Form fand. Zugleich zeichnete sich die Restrukturierung der Politischen Ökonomie ab, die markt- und netzwerkorientierten Steuerungsmodalitäten Vorschub leistete.

Abbildung 4: Kennzeichen der Krise des KWNS Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Mit anderen Worten: Mit dem in den 1980er Jahren einsetzenden Verständnis für die neuen Bedingungen der globalisierten Moderne bzw. mit den sich verändernden geographischen Weltbildern begann sich der europäische Nationalstaat keynesianischer Prägung zusehends zu wandeln. Dabei kam es zu einer strategischen Neuorientierung staatlichen Handelns und zur strukturellen Transformation der politisch-ökonomischen Ordnung, die sich an den Grundgedanken des Neoliberalismus sowie den schumpeterianischen Workfare-Maßnahmen orientierte (JESSOP 1997, 2002). So wandten sich viele der ehemals keynesianisch geprägten National-

Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

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staaten zusehends einer Wirtschaftsordnung zu, welche staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zwar nicht ganz ablehnt, aber auf ein Minimum beschränken will. Zugleich wurden im Rahmen von Workfare-Maßnahmen auch die sozialen Sicherungssysteme verschlankt und Sozialleistungen immer häufiger an Auflagen des Staates geknüpft (vgl. KAUFMANN 1997, 2003; LESSENICH 2008). Für BOB JESSOP markiert das Auftauchen des neuartigen Schumpeterian Workfare Postnational Regimes (SWPR) demzufolge auch einen deutlichen Bruch mit dem KWSN, bei dem die „Workfare-Welfare-Mischung“ noch zugunsten der Wohlfahrt ausfiel (Abbildung 5).4 Er konstatiert, dass sich dieses Verhältnis in den vergangenen Jahrzehnten umgekehrt hat und die Sozialpolitik den vermeintlichen Imperativen des internationalen Wettbewerbs untergeordnet wurde (JESSOP 1997:53–54). „Das schumpeterianische Workfare-Regime markiert insbesondere einen deutlichen Bruch mit dem keynesianischen Wohlfahrtsstaat, insofern (a) die inländische Vollbeschäftigung hinter das Streben nach internationaler Wettbewerbsfähigkeit zurücktritt, (b) redistributive wohlfahrtsstaatliche Rechte den zweiten Platz hinter einer produktivistischen Neuordnung der Sozialpolitik einnehmen und (c) die Hauptrolle des Nationalstaates den auf verschiedenen Ebenen wirksamen Mechanismen der Governance nachgeordnet ist“ (JESSOP 1997:73).

In Europa hatte dieser Staatstypus zunächst im britischen „Thatcherism“ seinen Ausdruck gefunden, später aber auch in Kontinentaleuropa Fuß gefasst (Frankreich: „politique de rigueur“ nach FRANCOIS MITTERAND; Deutschland: „Agenda 2010“ nach GERHARD SCHRÖDER). Ökonomische Basis

Die nationalstaatlichen Volkswirtschaften werden zunehmend in Richtung einer internationalisierten Ökonomie unterminiert. Zu ihren zentralen Merkmalen gehört die Dominanz einer modularisiert organisierten Netzwerkökonomie (Cluster) sowie einer postfordistisch produzierenden Individualökonomie (economies of scope).

Staatsverständnis

Der internationale Kontext erlangt bei innenpolitischen Entscheidungen eine zunehmende Bedeutung. Dabei geht die „Internationalisierung des Nationalstaates“ nicht einfach mit dessen Unterminierung oder gar Abschaffung, sondern vielmehr mit seiner strategischen Neuorientierung im Sinne des neoliberalen Staatsaufbaus einher (JESSOP 1997:72–74; vgl. auch GIDDENS 1995:75–101).

Wirtschaftsund Sozialpolitik

Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialpolitik ist nicht mehr vordergründig auf die ausgewogene Binnenregulierung der Nationalökonomie ausrichtet. Im Gegenteil: Sie fördert die Produkt-, Prozess-, Organisations- und Marktinnovation sowie die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, um die nationalen Volkswirtschaften international wettbewerbsfähig zu gestalten (vgl. SENNET 2006).

Krisenbewältigung

Zur Korrektur von Staatsversagen kommen zunehmend marktliche (Deregulierung, Privatisierung) Elemente der Steuerung zum Einsatz. Darüber hinaus haben sich auch heterarchische Elemente der Steuerung (intermediäre Selbstregulierung) etabliert, die vielfach unter der Bezeichnung Governance geführt werden.

Abbildung 5: Kennzeichen der Politischen Ökonomie des SWPR Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung 4

In seinen staatstheoretischen Arbeiten verwendet der Politische Soziologe BOB JESSOP den Namen JOSEPH A. SCHUMPETERS wegen dessen bahnbrechender ökonomischer Innovationstheorie. Hiernach wird die durch den kreativen Unternehmer vorangetriebene schöpferische Zerstörung alter Produktionsverhältnisse zum Antriebsmotor der kapitalistischen Gesellschaften.

Neuorientierung spätmoderner Staaten

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Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der in den letzten Jahren vollzogene Formenwandel der kapitalistischen Gesellschaften die Restrukturierungsfähigkeit eines in die Krise geratenen politisch-ökonomischen Regimes symbolisiert. Dabei betont BOB JESSOP mit Nachdruck, dass es sich auch beim SWPR um eine besondere Variante der kapitalistischen Gesellschaften handelt und dieses daher „als ein spezifisches Moment in der sich verändernden Dynamik der ‚ReproduktionsRegulation‘ verstanden werden“ sollte (JESSOP 1997:57). So tritt an die Stelle eines durch Instabilitäten, Widersprüche und Konflikte gekennzeichneten Regimes eine neue politisch-ökonomische Ordnung, die ihre hegemoniale Stellung lediglich bis zur nächsten Krise einnimmt („spatiotemporal fix“). Aus sozialgeographischer Perspektive ist somit auch das SWPR maßgeblich an die neue Welterfahrung der politischen und ökonomischen Akteure gebunden. Oder besser: Dieses Regime stellt eine Form der politisch-ökonomischen Organisation des Staates dar, welche mit den Erfahrungen der zunehmend entankerten und beschleunigten Moderne (vgl. Abbildung 1) korrespondiert. Interessanterweise erschöpft sich für BOB JESSOP die Beantwortung der Frage nach der Restrukturierung der Politischen Ökonomie des Staates nicht mit dem Verweis auf dessen „Internationalisierung“. Vielmehr zeigt er in einer Art Binnenperspektive, dass mit der Restrukturierung auch eine „Entstaatlichung politischer Regime“ (JESSOP 1997:67–72) einhergeht. So weist für ihn der Formenwandel des Staates auf eine Umstellung von hierarchischen (staatlichen) Steuerungsmodalitäten zu anarchischen (marktlichen) sowie heterarchischen (netzwerkartigen) Formen des Steuerns, Lenkens und Regierens hin. Damit stellt er die Veränderung der Staatlichkeit auch unmittelbar in den Zusammenhang mit der (neo-) institutionalistisch geprägten GovernanceForschung (vgl. Abschnitte 3.1 und 3.2), die für ihn nützliche Konzepte zum Verstehen der Überwindung von Krisen des spätmodernen Kapitalismus bereithält.

1.2 Netzwerkorientierter Steuerungsmix spätmoderner Staaten Mit der Transformation des europäischen Nationalstaates keynesianischer Prägung hat sich dessen Politische Ökonomie in Richtung eines schumpeterianischen Workfare-Regimes verschoben. Aus staatstheoretischer Sicht ist diese Veränderung jedoch nicht nur mit der „Internationalisierung des Nationalstaates“, sondern zudem mit der Anpassung dessen Steuerungsmodalitäten verbunden. Zu den zentralen Kennzeichen dieser Anpassung gehört die „Entstaatlichung politischer Regime“ (JESSOP 1997:67–72), mit der in erster Linie auf die Defizite der keynesianischen Globalsteuerung reagiert wurde. Diese war lange Zeit von einer „Logik des Gestaltungsoptimismus“ geprägt, wonach die Politik mittels ihrer Ministerialbürokratie (Government als Gestaltungssubjekt) scheinbar zielgenau in die einzelnen Felder der Gesellschaft (Funktionale Organisationen als Gestaltungsobjekte) hineinzuwirken vermochte (Abbildung 6a). Spätestens seit den 1970er Jahren zeigte sich jedoch, dass die Vorstellung einer zielgenauen und etatistischen Gestaltung gesellschaftlicher Felder durch eine „von

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

oben“ vollzogene Politik nicht mehr haltbar war. Dieser allgemeine staatstheoretische Befund basierte nicht zuletzt auf den Erfahrungen, die im Rahmen der USamerikanischen und europäischen Implementationsforschung gemacht worden sind. So wiesen beispielsweise PRESSMAN & WILDAVSKY (1973) in ihrem ironischen Artikel „Implementation. How great expectations in Washington are dashed in Oakland, or, why it’s amazing that federal programs work at all.“ darauf hin, dass viele der ambitionierten Politiken des Nationalstaates an den Vor-Ort-Realitäten scheitern können/müssen. Sie begründeten ihre pessimistische Einschätzung damit, dass sich die jeweiligen „Steuerungsobjekte“ nicht passiv den staatlichen „Steuerungssubjekten“ unterordnen, sondern durchaus eigendynamische Steuerungsimpulse ausüben. Vor dem Hintergrund der fundamentalen Kritik an der Implementationsfähigkeit staatlicher Institutionen wurde von staatstheoretischer Seite konstatiert, dass die „Logik der Eigendynamik“ jede vom KWNS beanspruchte Globalsteuerung unterminiert. Und tatsächlich verdichteten sich die Hinweise darauf, dass der Staat „aufgrund inhärenter Schranken seines traditionellen Interventionsinstrumentariums nicht (mehr) in der Lage [war], die von ihm identifizierten ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen und die gesellschaftliche Entwicklung in die gewünschte Richtung zu steuern“ (MAYNTZ 1997:187).

Im Zuge dessen setzte sich während der Hochphase der KWNS-Krise sukzessive die Einsicht durch, dass die Politik des Staates bestenfalls dem Anspruch der Partialsteuerung gerecht werden kann. Problematischerweise war aber auch dieser Anspruch von dem Gedanken der Intervention geleitet, wonach der Staat nun zwar unvollständig, aber durchaus noch immer wirkungsvoll in die einzelnen Politikfelder einzugreifen vermochte (Abbildung 6b). Insofern ließ auch die Kritik an der Partialsteuerung, die das Steuerungsverständnis des in die Krise geratenen europäischen Nationalstaates keynesianischer Prägung repräsentierte, nicht lange auf sich warten. So behaupteten zentrale Vertreter der Systemtheorie, dass „jedes Bemühen einer politischen Steuerung der Gesellschaft illusionär sei, weil alle gesellschaftlichen Teilsysteme geschlossene Operationszusammenhänge bilden, an denen politische Impulse entweder völlig abprallen oder in deren eigensinnigen Bahnen politische Impulse bestenfalls zu gänzlich unvorhersehbaren Effekten führen“ (BENZ ET AL. 2007b:12–13).

Neben dem Soziologen NIKLAS LUHMANN vertrat vor allem der Psychologe DIETRICH DÖRNER die Auffassung, dass selbst der partielle Gestaltungseingriff in die intransparenten und eigendynamischen gesellschaftlichen Teilsysteme unmöglich und somit zum Scheitern verurteilt sei. Für ihn war jeder Eingriff in nichtpolitische Teilsysteme von einer „Logik des Misslingens“ geleitet, wonach sich ein Steuerungsobjekt (beispielsweise das System der Wirtschaft oder das System der Bildung) nicht von einem politisch-administrativen Steuerungssubjekt lenken lässt (DÖRNER 1989).

Neuorientierung spätmoderner Staaten

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Globalsteuerung Hochphase des KWNS

Partialsteuerung Krise des KWNS

Governance Hochphase des SWPR

Logik des Gestaltungsoptimismus

Logik der Intervention

Logik der Interdependenzbewältigung

S

S

O

(a)

O

S

O

(c)

(b)

Implementationsforschung Kritik an Globalsteuerung

Systemtheorie Kritik an Partialsteuerung

GovernanceForschung Kritik am Konsensoptimismus

Logik der Eigendynamik

Logik des Misslingens

Logik des GovernanceFailures

S

O

S

O

S

O

Abbildung 6: Entstaatlichung politischer Steuerung (S = Steuerungssubjekt | O = Steuerungsobjekt) | Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Angesichts der empirisch begründeten sowie theoretisch reflektierten Steuerungsprobleme mussten die steuerungswilligen staatlichen Akteure ihre Steuerungsstrukturen und -prozesse so anpassen, dass sie ihre Absichten auch unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des SWPR weiterhin realisieren konnten. Aus staatstheoretischer Sicht war dies nur mit der grundsätzlichen Veränderung des Steuerungsverständnisses möglich, bei der die Zentralität des „Government“ in Richtung dezentraler Formen des „Governance“ verschoben wurde.5 Für BOB JESSOP (1997:53) bedeutete dies eine zunehmende „Bewegung weg von der zentralen Rolle offizieller Staatsapparate bei der Sicherung staatlich geförderter ökonomischer und sozialer Projekte sowie der politischen Hegemonie hin zur Betonung verschiedener Formen der Partnerschaft zwischen gouvernementalen, paragouvernementalen und nichtgouvernementalen Organisationen, in denen die Staatsapparate bestenfalls als primus inter pares zu betrachten sind“.

Die damit verbundene „Entstaatlichung politischer Regime“ hatte zur Folge, dass die politischen Entscheidungsträger ihren Anspruch als zentrale gesellschaftliche Steuerungsinstanz aufgaben und den Staatsapparat zusehends in Richtung eines „kooperativen Staates“ entwickelten (MAYNTZ 2004; Abbildung 6c). Zu den konkreten Kennzeichen dieser entstaatlichten Politik gehört, dass die einseitig-interventionalistische Politik des (global oder partiell) steuernden Staates immer häufiger durch eine kooperativ-netzwerkartige Zusammenarbeit mit priva5

Der Terminus „Governance“ bezieht sich auf die Realität des „komplexen Regierens“ (BENZ 2004a) und des so genannten „kollektiven Handelns“ in Gesellschaften, in denen sich der keynesianische Steuerungsmix in Richtung eines schumpeterianischen Steuerungsmix verschoben hat. Er verweist auf neue Modi gesellschaftlicher Steuerung und Koordination in verzweigten Akteurskonstellationen und Interorganisationsgefügen. Mit ihm werden vor allem netzwerkartige Strukturen des Zusammenwirkens öffentlicher und privater Akteure bezeichnet und somit ausdrücklich spezifische Steuerungsformen zwischen Staat und Gesellschaft angesprochen.

Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

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ten und zivilgesellschaftlichen Akteuren ersetzt wurde. Demgemäß wurden auch viele der Steuerungs- und Koordinationsprobleme nicht mehr mit hierarchischen (staatlichen), sondern mit anarchischen (marktlichen) und heterarischen (netzwerkartigen) Steuerungsmodalitäten bearbeitet (vgl. JESSOP 2002).6 Ziel einer so verstandenen Steuerung gesellschaftlicher Felder war es, die komplexen und problembehafteten Interdependenzen vor allem durch Handlungsabstimmung zu bewältigen (SCHIMANK 2007a:30). Dies erfolgte durch neue Steuerungsprinzipien und Steuerungsinstrumentarien, wodurch die regulative Politik des Staates mit seinen Geboten, Verboten oder Strafandrohungen immer häufiger durch kommunikative und konsensorientierte Instrumente wie Dialog, Moderation oder Mediation ersetzt wurde (vgl. MEISTER 2004). Diese im Zusammenhang mit dem schumpeterianischen Workfare-Regime zu beobachtende Anpassung der Steuerungsmodalitäten bedeutete natürlich keineswegs, dass die hierarchische (staatliche) Steuerung gänzlich aus dem Steuerungsgeschehen verbannt wurde. Im Gegenteil: Staatliche Akteure spielten nach wie vor eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der von Komplexität und Reibungsverlusten geprägten kooperativ-netzwerkartigen Interdependenzen. So besitzen sie auch unter internationalisierten politischen Bedingungen (vgl. Abschnitt 1.1) wichtige Rechtssetzungs- und Steuerungskompetenzen und können ihre eigenen Richtigkeitskriterien in die Prozesse der Handlungsabstimmung einbringen (Verhandlungen im „Schatten der Hierarchie“; SCHARPF 1991). Für BOB JESSOP bedeutet dies, dass der Staat als primus inter pares stets einen Teil eines spezifischen Steuerungsmix darstellt, der zur hegemonialen Struktur der gesellschaftlichen Ordnung kongruent ist (vgl. Reglermodell von HELMUT WIESENTHAL 2005:253; Abbildung 7). M

N

H



+



+



+

M

N

H



+



+



+

Abbildung 7: Steuerungsmix des KWNS und SWPR (M = Markt | N = Netzwerk | H = Hierarchie) Quelle: Eigene Darstellung (in Anlehnung an das Reglermodell von WIESENTHAL 2005:253) 6

„In der gegenwärtigen Entwicklungsphase scheinen viele Koordinationsprobleme mit heterarchischen Formen von Governance lösbar zu sein. Attraktivität und Funktionalität von Netzwerken mit horizontaler Selbstorganisation interdependenter Akteure gründen sich auf einer Reihe von Faktoren, wie zunehmende funktionale Differenzierung, wachsende Diffusität von Grenzen (Phänomene der Entgrenzung), Maßstabsveränderungen des Raumes, Wandel der Bedeutung der zeitlichen Dimension, Vervielfältigung von Identitätsmustern“ (SIMONIS 2007:230). Die mit diesen Veränderungen verbundene Komplexitätssteigerung gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge lässt sich nicht mehr mit der Top-Down-Strategie des Staates bearbeiten. „This has promoted a shift in the institutional centre of gravity (or institutional attractor) around which policy-makers choose among possible coordination“ (JESSOP 2002:229).

Neuorientierung spätmoderner Staaten

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Die Tatsache, dass ein spezifischer Steuerungsmix Ausdruck einer hegemonialen gesellschaftlichen Ordnung ist, gibt nun einen ersten – und für die hier beabsichtigte kritische Auseinandersetzung mit den deutschen Metropolregionen wichtigen – Hinweis darauf, dass auch mit der Aufwertung einer netzwerkorientierten Governance nicht die Zauberformel der gesellschaftlichen Steuerung gefunden worden ist (vgl. auch Abschnitt 2.3). Obwohl im Zuge der „Entstaatlichung politischer Regime“ tatsächlich Steuerungspotenziale (wieder-)gewonnen worden sind, kann – wie das Beispiel des KWNS-Steuerungsmix eindrucksvoll zeigt – jeder Steuerungsmix grundsätzlich scheitern oder zumindest nicht intendierte und paradoxe Nebeneffekte nach sich ziehen. Dieser Befund trifft auch auf den netzwerkorientierten Steuerungsmix des SWPR zu, dessen reflexiv-prozeduale Rationalität (vgl. SIMONIS 2007:219) besonders voraussetzungs- und anspruchsvoll ist: „Zum einen hebt die Netzwerksteuerung die prinzipiellen Asymmetrien, Machtdivergenzen und Konflikte nicht auf. Sie muss sich zweitens einfügen in ein komplexes Koordinationsund Steuerungssystem mit unterschiedlichen räumlichen, zeitlichen und sachlichen Funktionsbedingungen. Hohe Reibungsverluste im Verhältnis zu anderen Governanceformen und -mechanismen sind jederzeit möglich. Drittens ist Selbstorganisation ein nicht unproblematischer Koordinationsmechanismus, dessen Gelingen unter anderem Vertrauen und Sinn stiftende Kommunikation zwischen sowie Akzeptanz und Folgebereitschaft innerhalb der kollektiven Akteure erfordert. Und schließlich kann auch die Netzwerk-Governance an dem Gegenstand der Steuerung scheitern“ (SIMONIS 2007:223).

Trotz dieses wichtigen kritischen Kommentars kann vorerst festgehalten werden, dass die Anpassung der Steuerungsmodalitäten dazu beigetragen hat, die zentralen Steuerungsprobleme moderner Staaten zu überwinden. Die dabei vollzogene „Entstaatlichung politischer Regime“ hatte eine Verschiebung des Steuerungsmix und eine Aufwertung des heterarchischen Steuerungsmodus zu Folge. Da sich die staatlichen Akteure von der Anpassung der Steuerungsmodalitäten auch Vorteile auf anderen Organisationsebenen versprachen, geht damit auch eine territoriale Neuorganisation des Staates einher. Für BOB JESSOP ist diese von einer „Entnationalisierung des Nationalstaates“ gekennzeichnet, die sich aus der Verlagerung staatlicher Funktionen auf die supranationale und substaatliche Ebene der Steuerung ergibt und mit einem Souveränitätsverlust des Nationalstaates einhergeht.

1.3 Neue Maßstabsebenen der Governance Im Zuge der Restrukturierung der Politischen Ökonomie des Staates („Internationalisierung des Nationalstaates“; vgl. Abschnitt 1.1) und der damit einhergehenden Anpassung der Steuerungsmodalitäten („Entstaatlichung politischer Regime“; vgl. Abschnitt 1.2) wird auch die territoriale Ordnung des Nationalstaates affektiert. Die damit verbundene Veränderung des Gesellschaft-Raum-Verhältnisses stellt einen deutlichen Bruch zur Hochphase des KWNS dar, in dem das nationalstaatliche Territorium als die zentrale Bezugsgröße für alle politischen Steuerungsmaßnahmen zur Sicherung des Wirtschaftswachstums und der sozialen Wohlfahrt galt. So dominierte bis in die 1970er Jahre die Vorstellung von einem

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

starken Interventionsstaat, dessen zentrale Aufgabe darin bestand, mittels einer am nationalstaatlichen Territorium orientierten Wirtschafts-, Sozial- und Infrastrukturpolitik dessen räumliche Disparitäten auszugleichen. Dabei war man vom Gedanken der prinzipiellen Homogenisierbarkeit des Nationalstaates (vgl. HEEG 2001:62) geleitet, welche in Deutschland ihren Ausdruck in der „Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (GA)“ (vgl. Abschnitt 2.1) gefunden hat. Mit der Krise des KWNS sollten sich aber nicht nur die allgemeinen Rahmenbedingungen der politischen Steuerung verändern, sondern auch die Dominanz des nationalstaatlichen Territoriums als Steuerungsebene untergraben werden (vgl. PECK & TICKELL 1994; SWYNGEDOUW 1997). So trugen die Entstehung eines globalisierten postfordistischen Akkumulationsregimes (vgl. HARVEY 1990) und die sich wandelnden geographischen Weltbezüge (vgl. WERLEN 2007a) dazu bei, dass das gesamte keynesianische Steuerungsverständnis mit dem nationalstaatlichen Territorium im Zentrum der Politik zusehends an Plausibilität verlor. Vor dem Hintergrund des nicht mehr aufrecht zu erhaltenden globalen oder auch partiellen Steuerungsanspruches mussten die Kapazitäten des Staates auf anderen Steuerungsebenen reorganisiert werden (JESSOP 1997:62–67). Die damit korrespondierenden Regionalisierungsprozesse stellten in erster Linie politische Versuche dar, den Bedingungen der globalisierten Moderne entsprechende neue territoriale Klammern der gesellschaftlichen Ordnung zu konstituieren. Dieser allgemeine Trend zur territorialen Reorganisation lässt sich in vielen (Welt-)Regionen beobachten. Allen voran sind es die supranationalen Regime, die neuerdings in immer mehr operativen Feldern beheimatet sind und daher auch zunehmend organisatorische Tiefe erlangt haben. Zu den zentralen Aufgaben vieler dieser supranationalen Regime gehört es, die „strukturelle Wettbewerbsfähigkeit“ (JESSOP 1997:63) innerhalb künstlich konstruierter und imaginierter Territorien wie der nordamerikanischen NAFTA, der mittel- und südamerikanischen MERCOSUR oder der asiatischen ASEAN zu steigern. Dabei geht das Interesse an der „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“ zumeist weit über das Management von internationalen Währungs- oder Handelsbeziehungen hinaus. Vielmehr umfassen supranationale Regime ein breites Spektrum an politischen, ökonomischen, zivilgesellschaftlichen und militärischen Aktivitäten. Die Europäische Union (EU) repräsentiert das wohl eindrucksvollste supranationale Regime, das in den vergangenen fünfzig Jahren zahlreiche im einstigen Verantwortungsbereich der europäischen Nationalstaaten liegende Aufgaben übertragen bekommen hat. Von der damit einhergehenden Kompetenzübertragung erwarten die mittlerweile 27 Mitgliedsstaaten vor allem die Sicherung ihrer eigenen „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“.7 Zu diesem Zweck wurden in der 7

Die Maßnahmen der EU zielen nicht nur auf die Wettbewerbsfähigkeit ab, sondern dienen auch der Sicherung des Friedens durch eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, der Sicherung der ökologischen Lebensumstände durch eine nachhaltige Entwicklung, der Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Unionsbürger durch die Unionsbürgerschaft und der Erhaltung der Union als Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts.

Neuorientierung spätmoderner Staaten

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Vergangenheit viele vertragliche Regelwerke verabschiedet (zuletzt der am 01.12.2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon), die das Miteinander der europäischen Nationalstaaten in erster Linie politisch und wirtschaftlich gestalten sollen. Dabei erfolgt die Steuerung nicht alleine über den (für große Teile der europäischen Bevölkerung noch immer weitgehend intransparenten) administrativen Überbau der EU. Vielmehr werden Entscheidungen in Abstimmung mit den Mitgliedsstaaten und den Nationalstaaten untereinander vorgenommen, was zu einer „ineinander verschachtelten“ Governance (GRANDE 2000:14) oder zu einer „Multi-Level-Governance“ (BENZ 2004c) geführt hat. Interessanterweise ist gerade die Übertragung von staatlichen Kompetenzen auf die supranationale Ebene der EU mit dafür verantwortlich, dass die territoriale Neuorganisation der europäischen Nationalstaaten auch auf der substaatlichen Ebene vorangetrieben worden ist. So wurde mit den Maastrichter Verträgen von 1992 schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt die Einbeziehung substaatlicher Institutionen in die Entscheidungs- und Implementationsprozesse gefordert und über die Festschreibung des Subsidiaritätsprinzips sowie die Einrichtung des Ausschusses der Regionen gefördert (vgl. JACHTENFUCHS & KOHLER-KOCH 2003). Vor allem aber hat die in den letzten zehn Jahren vorangetriebene und im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie stehende Europäische Regionalpolitik weiter zur Dezentralisierung und Regionalisierung der europäischen Nationalstaaten beigetragen. Mit einem über verschiedene Strukturfonds und Förderperioden organisierten Gesamtbudget in Höhe von rund 360 Milliarden Euro (Förderperiode 2007–2013) stellt die Regionalpolitik nach der Agrarpolitik immerhin das zweitgrößte Politikfeld der EU dar.8 Mit ihrer Regionalpolitik bestärkt die EU somit einen allgemeinen Trend, der die steigende Bedeutung von substaatlichen (binnenstaatlichen oder grenzüberschreitenden) Regionen zur Kenntnis genommen hat. Egal ob in Wissenschaft oder Praxis: Überall wird eine „Renaissance des Regionalen“ (KRÖCHER 2007) konstatiert, die ein „generelles strukturelles Prinzip spätmoderner Gesellschaften“ (STIENS 2000:I) oder ein Ausdruck der räumlichen Metamorphose kapitalistischer Gesellschaften zu sein scheint. So existieren mittlerweile zahlreiche Erklärungsansätze, die auf das Wechselspiel zwischen den unterschiedlichen Dimensionen der Globalisierung (vgl. BECK 1997) und den alltäglichen Regionalisierungspraktiken hingewiesen haben (vgl. WERLEN 2007a). Sie werden durch Studien ergänzt, welche auf die vielfach zu beobachtende territoriale Neuorganisation der Nationalstaaten (BRENNER & THEODORE 2002; BRENNER ET AL. 2003; BRENNER 2000, 2003; 2004) und auf die vielfältigen Implikationen dieser Neuorganisation verweisen (Abbildung 8).

8

Die Europäische Regionalpolitik gliedert sich in fünf Strukturfonds: Europäischer Fonds für Regionalentwicklung (EFRE), Europäischer Sozialfonds (ESF), Europäischer Ausgleichs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL), Finanzinstrument zur Ausrichtung der Fischerei (FIAF) sowie Kohäsionsfonds (vgl. LANGHAGEN-ROHRBACH 2005:22). Die Strukturfonds werden für eine Förderperiode von je sechs Jahren beschlossen (2000–2006, 2007–2013, 2014–2020).

Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

36 Position

Bedeutungsgewinn der Region/Regionalisierung

Vertreter (Auswahl)

Wirtschaftswissenschaft

Regionale Einbettung der Unternehmen erhält im Zuge der Globalisierung eine strategische Bedeutung

KRUGMAN 1991; STORPER 1997

Politikwissenschaft

Neue politische Handlungs- und Gestaltungsräume zur Rückgewinnung von Steuerungskompetenz

JESSOP 1997, 2002; BRENNER 2004

Planungswissenschaft

Notwendigkeit zur interkommunalen Kooperation in einem regionalen Handlungsraum (Verbundlösungen)

DANIELZYK 1999; BLOTEVOGEL 2000

(Sozial-) Geographie

Kompensatorische „Wirkung“ von Regionen unter entankerten Bedingungen (Wiederverankerung)

WERLEN 2007a; REDEPENNING 2006

Abbildung 8: Erklärungsansätze für den Bedeutungsgewinn von Regionen Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

BOB JESSOP (1997, 2002) gehört zu den kritischen Beobachtern der territorialen Reorganisation der europäischen Nationalstaaten. Für ihn geht dieser Trend mit einer „Aushöhlung“ (JESSOP 1997:52) der nationalstaatlichen Apparate bzw. einer „Entnationalisierung des Nationalstaates“ (JESSOP 1997:62) einher, wonach die europäischen Nationalstaaten aufgrund der Verlagerung staatlicher Funktionen auf andere Organisationsebenen zumindest einen formalrechtlichen Souveränitätsverlust zu verzeichnen haben.9 Paradoxerweise erwarten die europäischen Nationalstaaten von dieser „Entsouveränisierung“ (vgl. HELD ET AL. 1999) bzw. dem freiwilligen Autoritätsverzicht an die substaatlichen Organisationsebenen jedoch gerade eine Verbesserung ihrer Steuerungs- und Problemlösungsfähigkeit sowie eine Förderung ihrer „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“. Aus diesem Grund sind Prozesse der Dezentralisierung und der Regionalisierung (vgl. BENZ ET AL. 1999) längst Teil der Staatsräson vieler europäischer Nationalstaaten geworden.

1.4 Regional Governance und die britische „Devolution“ Welche Ausdrucksformen die Dezentralisierungs- und Regionalisierungsbestrebungen im vereinigten Europa aufweisen können, vollzieht BOB JESSOP vor allem am Beispiel Großbritanniens nach. So führte das Land in der Regierungszeit der 9

„Dieser strukturelle Trend zeigt sich empirisch in der ‚Aushöhlung‘ der nationalstaatlichen Apparate, wobei alte und neue staatliche Kapazitäten territorial und funktional auf subnationalen, nationalen, supranationalen und translokalen Ebenen reorganisiert werden. Ein Aspekt ist dabei in gewissen Bereichen der Verlust der formalrechtlichen Souveränität des Nationalstaates, indem normsetzende und/oder Entscheidungsmacht nach oben auf supranationale Gremien verlagert wird und die daraus resultierenden Regeln und Entscheidungen für die Nationalstaaten bindend werden. […] Allerdings ist er nicht auf eine so genannte ‚Entsouveränisierung’ durch den Verlust von Autorität an supranationale Gremien beschränkt. Er beinhaltet nämlich auch eine Dezentralisierung von Autorität hin zu untergeordneten Ebenen der territorialen Organisation bzw. die Entwicklung einer so genannten ‚intermestischen‘ (bzw. interlokalen, aber transnationalisierten) Politikgestaltung“ (JESSOP 1997:52–53).

Neuorientierung spätmoderner Staaten

37

Labour Party (1997–2010) eine der umfassendsten Verfassungsreformen seiner Geschichte durch, wozu die Dezentralisierung der staatlichen Macht sowie die Regionalisierung der Regionalpolitik gehörten („Politics of Devolution“; vgl. MACLEOD & GOODWIN 1999; MACLEOD & JONES 2000; LARNER & WALTERS 2002; JONES & MACLEOD 1999, 2004). Diese Reform wurde nicht nur im Hinblick auf die politischen Autonomiebestrebungen in Schottland, Wales und Nordirland nötig, in denen sich zum Teil Bürgerkriegszustände entwickelt hatten. Vielmehr verlangten auch die fortschreitende Europäische Integration sowie der Ausbau des Europäischen Struktur- und Kohäsionsfonds (vgl. Abschnitt 1.3) die Etablierung einer funktionierenden Regionsebene. Mit der „Politics of Devolution“ wurde eine Steuerungsebene gestärkt, die in Großbritannien traditionell eher schwach organisiert war. Dabei profitierten vor allem die keltischen Regionen von der systematischen Verschiebung exekutiver und legislativer Gewalt, indem deren neu eingerichtete Parlamente (Schottland) bzw. Nationalversammlungen (Wales, Nordirland) sektoral begrenzte gesetzgeberische Kompetenzen zugesprochen bekamen. Aber auch für die englischen Regionen wurden konkrete Dezentralisierungsmaßnahmen angedacht und eine regionale Governance versucht zu etablieren. Sie sollten den organisatorischen Rahmen für regionale und EU-kompatible Entwicklungsstrategien bereitstellen und somit eine Belebung der regionalen Steuerungsebene herbeiführen (FÜRST 2003; MARSHALL 2003; DANIELZYK & WOOD 2006; HEALEY 2006). Wie die Entwicklungen der vergangenen Jahre zeigen, war die Etablierung einer regionalen Steuerungsebene in England allerdings zum Scheitern verurteilt. So formierte sich beispielsweise im Nordosten des Landes eine Gegnerschaft, die mit Hilfe von umfangreichen Kampagnen („no campaign“) die Einführung einer regionalisierten Governance konsequent behinderte (MARSHALL 2003; DANIELZYK & WOOD 2006; LIDDLE 2006). Im Zentrum der Kritik stand die Einführung so genannter Regional Assemblies (RA), welche den kommunalen Verwaltungsaufbau vereinfachen und die Aktivitäten der bereits eingeführten Regional Development Agencies (RDA) besser kontrollieren sollten. Die Kritiker der Devolution konnten sich die Bedenken vor einem bürokratischen Überbau sowie einer Verschwendung von Steuergeldern geschickt zu Nutze machen und die Einführung einer regionalen Steuerungsebene in England schließlich zum Scheitern bringen. Regional Governance: Trotz der gescheiterten Dezentralisierung Englands bleibt das Thema der regionalen Governance aber ein wichtiger Gegenstand der politischen und akademischen Diskussionen.10 Der entscheidende Grund hierfür 10

Analytisch betrachtet muss der Regional Governance Ansatz vom Konzept des Regional Government unterschieden werden (vgl. FÜRST 2003:441–442). Regional Government bezieht sich auf die staatlichen Institutionen, formalen Regeln und Verfahren, die zur Verwaltung von Gebietskörperschaften zum Einsatz kommen. Demgegenüber verweist der Regional Governance Ansatz auf eine Form der Selbststeuerung, wonach regionsspezifische Problemlagen durch das kooperative Miteinander regional operierender Akteure bearbeitet werden. Dabei werden sowohl öffentliche als auch private Akteure in die pluralistischen Kooperationsbeziehungen einbezogenen. In der Konsequenz ergibt sich ein „Multi-Actor-Level-Play“ (FEDERWISCH 2010a), welches sich nicht mehr auf einzelne Teilsysteme beschränkt.

Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

38

liegt darin, dass Regional Governance als eine allgemeine Reaktion auf die staatlichen Steuerungs- und Problemlösungsdefizite verstanden wird und somit auch in vielen anderen europäischen Nationalstaaten zu beobachten ist (vgl. KLEINFELD ET AL. 2006a, b). So entsteht Regional Governance überall dort, wo die staatlichen Implementationsstrukturen fehlen und regionsspezifische institutionelle Lösungen für die Entwicklungsaufgaben nötig sind. Sie tritt aber auch in Situationen auf, in denen Problemlagen über die lokalen Grenzen hinaus ausgreifen und die herkömmlichen kommunalen Steuerungsverfahren als nicht mehr adäquat empfunden werden. Insofern diagnostiziert der Regional Governance Ansatz ganz allgemein die Verlagerung von Steuerungsverantwortlichkeit auf die regionale Ebene. Er konzentriert sich auf die damit korrespondierenden Formen der „intermediären Selbststeuerung“ (BENZ 2004b), bei der sowohl öffentliche als auch private Akteure in die substaatlichen/regionalen Entscheidungs- und Entwicklungsprozesse einbezogen werden. Damit weist der in Großbritannien entwickelte Regional Governance Ansatz darauf hin, dass regionsspezifische Problemlagen nicht mehr allein durch staatliche Institutionen, sondern durch das kooperative Miteinander regional operierender Akteure bearbeitet werden. Das sich hieraus ergebende „Multi-Actor-Level-Play“ (FEDERWISCH 2010a) verdeutlicht, dass sich Politisches Handeln im Rahmen von Regional Governance nicht mehr auf einzelne gesellschaftliche Teilsysteme beschränken lässt. Kommunen

Planung

Interkommunale Kooperation New Public Management

Kooperative Planung Planungswissenschaften

Public-Private-Partnerships Urban-Regime-Forschung

Public Participatory Partizipationsforschung

Wirtschaft Strategische Allianzen Cluster-, Milieuforschung

Corporate Citizenships CSR-Forschung

Bürgerschaft Bürgerengagement Zivilgesellschaftsforschung

Abbildung 9: Regionale Kooperationsbeziehungen und erklärende Forschungsansätze Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Die Abbildung 9 beschreibt die für Regional Governance typischen Kooperationsbeziehungen zur Förderung der Selbstorganisation einer substaatlichen Region. Neben Formen der intrasystemischen Zusammenarbeit (interkommunale Kooperation, strategische Allianzen, kooperative Planung, bürgerschaftliches Engagement) treten zunehmend intersystemische Kooperationen im Sinne von Public-

Neuorientierung spätmoderner Staaten

39

Private-Partnerships, Corporate Citizenships oder der Public Participatory auf. Zwar werden damit keine gänzlich neuen Phänomene benannt, wohl aber die bereits seit längerem ablaufenden Veränderungen in der Steuerung in einem Gesamtzusammenhang betrachtet – oder besser: auf einen Begriff gebracht. Der Terminus Regional Governance repräsentiert demzufolge die Realität komplexer Interdependenzen in weit verzweigten regionalen Akteurskonstellationen und Interaktionsgefügen. Er verweist auf die vergleichsweise „lockere Kopplung“ freiwillig interagierender Akteure, die ein flexibleres und direkteres Zusammenspiel der so genannten „Stakeholder“ ermöglicht (vgl. BENZ 2004b:12–26; FÜRST 2004:46–56). Der entscheidende Punkt liegt also darin, dass Regional Governance als ein „von unten“ herbeigeführter politischer Prozess zu verstehen ist, bei dem sich Akteure aus einer spezifischen Region in intersystemischer Weise für die Region engagieren. Sie werden – anders als im Fall der weitgehend gescheiterten englischen Dezentralisierungsbestrebungen – nicht von einer zentralen Institution benannt, sondern agieren idealtypischerweise aus einer intrinsischen Motivation heraus. Diesem Grundverständnis zufolge verändern sich auch die Logik, die Prinzipien sowie die Instrumentarien der Steuerung, wobei auch hier der netzwerkartigen und verständigungsorientierten Steuerung eine besondere Rolle zugewiesen wird (vgl. FEDERWISCH 2008a:15).11 Von dieser Veränderung verspricht man sich zahlreiche Steuerungsvorteile, von denen sechs Aspekte herausgestellt werden sollen (FEDERWISCH 2008a:16): x

x

x

Beförderung der Kommunikation: Die öffentlichen Akteure arbeiten eng mit den eigentlichen Adressaten der Politik zusammen. Die privatrechtlichen Akteure haben einen direkten Zugang zu den politischen Entscheidungsstellen (FÜRST 2004:53). Vertrauen durch Verhandlung: Die beteiligten Akteure können regionale Themen informell aushandeln (Face-to-Face). Dabei fördert das verständigungsorientierte Handeln ein vertrauensvolles Kooperationsgeschehen (SARETZKI 1996; STOKAR 1995). Erzeugung von Synergieeffekten: Die Zusammenarbeit der Akteure kann Synergieeffekte erzeugen, da „die verschiedenen Akteure gemeinsam Leistungen erbringen, die das Handlungsvermögen der jeweils Einzelnen übersteigen“ (SELLE 1994:78).

11 Bezogen auf die Steuerungslogik lässt sich vielfach feststellen, dass die einseitiginterventionalistische (hierarchische) „top-down-Strategie“ staatlicher Akteure zugunsten einer kooperativ-netzwerkartigen „bottom-up-Strategie“ regionaler Akteure verschoben wird. Das sich damit verbindende Steuerungsprinzip der „Kooperation“ ergänzt immer häufiger das staatszentrierte Prinzip der „Koordination“, wobei ein auf Verhaltenskontrolle ausgerichtetes Prinzip zugunsten der Zusammenarbeit verschoben wird. In der Konsequenz spielen nun neben regulativen Steuerungsinstrumenten (Raumordnungspläne und Genehmigungsverfahren) auch kommunikative Elemente (Dialog-, Moderations- und Mediationsverfahren) eine wichtige Rolle (FEDERWISCH 2008a).

Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

40 x

x

x

Nutzbarmachung von Selbsthilfekräften: Durch kooperativ-netzwerkartiges Handeln können Selbsthilfekräfte und Eigenverantwortung erzeugt und in den regionalen Entwicklungsstrategien mit berücksichtigt werden (vgl. FÜRST 1996, 2004). Unbürokratische Verfahrensweise: Der weitgehende Verzicht auf formalbürokratische sowie rational-geplante Handlungsabläufe ermöglicht die Bildung problemlösungs- und verständigungsorientierter Strukturen ohne hohe Transaktionskosten. Lernprozesse und Konfliktmanagement: Die Akteure können auf Basis verschiedener Wissensbestände regionalpolitisch relevante Lernprozesse in Gang setzen und Konflikte auf einem hohen Wissensniveau regeln (vgl. FÜRST 1994; MAYNTZ & SCHARPF 1995).

Die Thematisierung von Vorzügen darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit Regional Governance nicht „die Zauberformel für eine moderne gesellschaftliche Steuerung“ gefunden worden ist (FÜRST 2003:447; vgl. Abschnitte 1.2 und 2.3). So ist in der Diskussion um Governance das Phänomen des GovernanceFailures nicht zuletzt durch BOB JESSOP ein vielfach erörtertes Thema geworden (vgl. JESSOP 1998, 2002; STOKER 1998). In vielen Fällen hat sich gezeigt, dass Akteure den netzwerkartigen Verbund gerade in kritischen Situationen wieder verlassen und somit ihre „exit option“ nutzen. Noch problematischer wird es, wenn – wie im Fall der Dezentralisierung (Nord-)Englands – konfrontativ ausgerichtete Akteure die Entscheidungsfindung blockieren oder gar konkurrierende Verbünde initiieren. In solchen Situationen kann ein vertrauensvolles Miteinander auf Jahre hin untergraben werden und zu einer dauerhaften Beschädigung regionaler Zusammenarbeit führen (vgl. Abschnitt 2.3). Da dies als eine Gefährdung der regionalen strukturellen Wettbewerbsfähigkeit interpretiert werden kann, lassen sich vielerorts politische Anstrengungen beobachten, die nicht nur auf die formale, sondern vor allem auf die mentale Konsolidierung regionaler GovernanceRegime ausgerichtet sind (Abbildung 10; FEDERWISCH 2008a, b, 2009b; Abschnitt 2.4). Formale („politisch-normative“) Konsolidierung

Mentale („informativ-signifikative“) Konsolidierung

Maßnahmen

Etablierung von „harten“ Regel- und Ordnungsstrukturen wie beispielsweise einer GmbH oder eines Vereins

Etablierung von „weichen“ Deutungsstrukturen zur persuasiven Steuerung kognitiver Dispositionen (vgl. FEDERWISCH 2008a, b, 2009b)

Intendierter Effekt

Kanalisierung von Interaktionen zur Senkung von Transaktionskosten und zur Erhöhung von Erwartungssicherheiten

Raumbezogene Symbolpolitik zur Begünstigung raumbezogener Identität, Loyalität und Verantwortung (vgl. WEICHHART 1990)

Politikziel

Formale („politisch-normative“; WERLEN 2007a) Konsolidierung zur Etablierung einer „administrativen Infrastruktur“

Mentale („informativ-signifikative“; WERLEN 2007a) Konsolidierung zur Etablierung einer „mentalen Infrastruktur“ (LUUTZ 2001, 2002)

Abbildung 10: Formale und mentale Integrationsbemühungen Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Neuorientierung spätmoderner Staaten

41

Dieser Befund trifft auch auf den exemplarisch geschilderten Fall Großbritanniens zu. So lassen sich trotz der gescheiterten Dezentralisierungsbemühungen auch dort weiterhin formale und mentale Konsolidierungsmaßnahmen beobachten, deren Ziel die nachhaltige Etablierung einer regionalen Steuerungsebene ist. Im Vergleich zu früheren Dezentralisierungsbemühungen hat sich jedoch der Raumbzw. Regionsbezug maßgeblich verändert. Konkret: Wie die landesweit zu beobachtenden Initiativen der „core cities“ oder „city regions“ (DANIELZYK & WOOD 2006) zeigen, geht es den Akteuren nunmehr um die strukturelle Stärkung der englischen Stadtregionen außerhalb Londons. Aus deutscher Sicht nähert sich damit sowohl die politische als auch die wissenschaftliche Diskussion zunehmend der kontinentaleuropäischen Debatte um die territoriale Neuausrichtung kapitalistischer Gesellschaften und die Etablierung regionaler Steuerungsmodalitäten an. Wie die folgenden Ausführungen zeigen, liegt dort seit längerer Zeit der Fokus auf der Entwicklung stadtregionaler – oder besser: metropolregionaler Zusammenhänge, die im Rahmen einer intermediären Akteursvielfalt á la Regional Governance gestaltet werden sollen.

2 Metropolregionen in Deutschland

Mit dem Konzept der Metropolregionen wurde die Transformation gesellschaftlicher Raumbezüge auch in Deutschland maßgeblich vorangetrieben. Die Metropolregionen stehen für den Versuch der territorialen Neuorganisation politischer, planerischer, ökonomischer und bürgerschaftlicher Praxis und werden als eine wichtige Form der „Regionalisierung der Regionalpolitik“ (HAVINGHORST 1998) sowohl von der EU als auch vom Bund und den Ländern konzeptionell unterstützt (vgl. WIECHMANN 2009). Die grundlegende Intention ist es, die Metropolregionen in ihrer gesellschaftlichen Schlüsselstellung zu protegieren, um so die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands und Europas zu erhalten sowie den europäischen Integrationsprozess zu beschleunigen (vgl. ADAM ET AL. 2005). Mit Blick auf die letzten Jahre lässt sich konstatieren, dass sich deutschlandweit eine Vielzahl von Initiativen zur Gründung von Metropolregionen herausgebildet hat und zahlreiche neue Organisations- und Steuerungsansätze erprobt worden sind (vgl. BBSR 2009a). Interessanterweise scheint sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis ein breiter Konsens darüber zu bestehen, dass es sich bei den Metropolregionen in Deutschland um ein gut begründetes Instrument der Raumordnung und ein weitgehend gelungenes Projekt der Regionalentwicklung handelt (erst in jüngster Zeit mehren sich die kritischen Stimmen zum deutschen Metropolisierungsprozess; vgl. SCHMITT 2006, 2007; PETRIN & KNIELING 2009; PASSLIK & PROSSEK 2010). So repräsentiert gerade die in den vergangenen Jahren intensiv geführte Leitbilddiskussion den Versuch der argumentativen Herleitung und konzeptionellen Verankerung der Metropolregionen in Deutschland (Abschnitt 2.1). Darüber hinaus scheinen auch die raumwissenschaftlichen Diskussionen dazu beizutragen, die Metropolregionen als ein notwendiges informelles Instrument der bundesdeutschen Raumordnung zu begründen und als ein erfolgreiches Konzept zu bewerten (Abschnitt 2.2). Problematisch ist jedoch, dass sich die Erfolgsbekundungen aus Wissenschaft und Praxis nur schwer mit den zahlreichen und selten bewältigten Herausforderungen der intersystemischen Organisation und Steuerung – konkret: den Legitimations-, Integrations-, Effektivitäts- und Effizienzproblemen sowie raumbezogenen Konflikten decken (Abschnitt 2.3). Aus diesem Grund widmen sich die nachstehenden Ausführungen einer ersten kritischen Diskussion der Metropolregionen in Deutschland sowie der spezifizierenden Erörterung des Phänomens der „Metropolregion 2.0“ (Abschnitt 2.4).

Metropolregionen in Deutschland

43

2.1 Raumordnungspolitische Verankerung der Metropolregionen Zur Entwicklung der Argumentation bietet es sich zunächst an, sich mit einem der wichtigsten strategischen Begründungsversuche auseinanderzusetzen, welche die Metropolregionen in den letzten Jahren erfahren haben – nämlich: ihrer Verankerung in den Leitbildern der deutschen Raumordnung.12 Diese interessierte sich bis in die 1980er Jahre eher für hierarchisch geordnete Städtesysteme bzw. die Zentralen Orte oberer, mittlerer und unterer Stufe, mit deren landesweitem Ausbau und Erhalt die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in allen Teilräumen der Bundesrepublik gewährleistet werden sollte (BLOTEVOGEL 2000:162). Erst mit der in den 1980er Jahren einsetzenden Konjunktur des Globalisierungs-, Regionalisierungs- und Metropolisierungsdiskurses vollzog sich auch in der Raumordnung eine Perspektivenverschiebung zugunsten stadtregionaler Kontexte (Abbildung 11). Zwar konnte man im Gegensatz zu anderen Ländern keine dominante World/Global City ausfindig machen, wohl aber ein über Deutschland verteiltes Netz von metropolitanen Regionen (HÄUßERMANN ET AL. 2008:168). Position

Bedeutungsgewinn der Stadtregion

Vertreter (Auswahl)

World/Global City Hypothese

Überragende Bedeutung einzelner (Groß-)Städte in politischer, wirtschaftlicher, sozial-kultureller Hinsicht

FRIEDMAN 1986; SASSEN 1991; TAYLOR 1997

New Economic Geography

Unternehmen streben in stadtregionale Räume, da sie von den Agglomerationseffekten profitieren

SCOTT 1988; STORPER 1995, 1997

Neue Institutionenökonomie

Räumliche Nähe zur Minimierung von Transaktionskosten und Ermöglichung von Partnerschaften

AL. 1999

Humankapital- und Kreativitätstheorie

Konzentration hoch qualifizierter (kreativer) Arbeitskräfte als Garant für Wachstum und Entwicklung

SIMMIE 2001; FLORIDA 2002, 2004

KRUGMAN 1991; FUJITA ET

Abbildung 11: Erklärungsansätze für den Bedeutungsgewinn von Stadtregionen Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Schon im ersten gesamtdeutschen Leitbilddokument – dem Raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen (ORA) von 1993 – spricht man von rund zehn bis zwölf metropolitanen Regionen, die mit ihrer großräumigen politischen, wirt12

Im Gegensatz zu den bis in die 1960er Jahre zurückgehenden und im vierjährigen Rhythmus vorgelegten Raumordnungsberichten (LUTTER 2005) handelt es sich bei den Leitbildern der Raumordnung um ein eher jüngeres Phänomen. Sie wurden erstmals im Raumordungspolitischen Orientierungsrahmen (ORA) von 1993 vorgelegt und thematisieren die idealtypische Entwicklung des gesamten Bundesgebietes. So macht der ORA mit den fünf Leitbildern Siedlungsstruktur, Umwelt und Raumnutzung, Verkehr, Europa sowie Ordnung und Entwicklung den Versuch, Perspektiven für eine ausgewogene und nachhaltige Raumentwicklung zu skizzieren. Da die Leitbilder im Verlaufe der 1990er Jahre einen immer größeren Stellenwert für die deutsche Raumordnung einnahmen, wurden sie im Raumordnungspolitischen Handlungsrahmen (HARA) von 1995 mit neuen Akzenten versehen und nach einer vierjährigen Leitbilddiskussion (2003–2006) von der MKRO festgeschrieben (ARING 2006; ARING & SINZ 2006; KAWKA & LUTTER 2006).

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

schaftlichen, sozialen und kulturellen Ausstrahlung dem bereits etablierten System der Zentralen Orte zur Seite gestellt werden sollten (vgl. Abbildung 12). Damit war keineswegs eine Abkehr vom bereits etablierten System der Zentralen Orte intendiert, da die Ober-, Mittel- und Unterzentren durchaus noch wichtige Funktionen der regionalen Daseinsvorsorge zu erfüllen hatten. Allerdings wurde erkannt, dass sich mit der „neuen Geographie Europas“ (BLOTEVOGEL 2007), der intensivierten europäischen Binnenintegration, der verschärften ökonomischen Wettbewerbssituation, der veränderten Staatsaufgaben sowie dem sich abzeichnenden demographischen Wandel auch die Rahmenbedingungen der deutschen Raumordnungspolitik geändert hatten und eine Anpassung des raumordnerischen Zentrensystems nötig machten. Im Zuge dessen wurde der Gedanke der metropolitanen Regionen konzeptionell weiterentwickelt, der auch in anderen europäischen Nationalstaaten immer häufiger zum Tragen kam und von der EU protegiert wurde (vgl. WIECHMANN 2009).13 Nur gut zwei Jahre nach der Verabschiedung des Orientierungsrahmens wurde das Konzept der „Europäischen Metropolregionen“ in Deutschland erstmals vom Aktionsprogramm des Raumordnungspolitischen Handlungsrahmens (HARA) erwähnt (Abbildung 12; vgl. LANGHAGEN-ROHRBACH 2005:35). Gemeinsam definierten Bund und Länder die Metropolregionen als „Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung“ (ADAM ET AL. 2005), mit denen a) der interregionale Wettbewerb stimuliert, b) die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands und Europas erhalten sowie c) der europäische Integrationsprozess beschleunigt werden sollten. In diesem Sinne wurden die nunmehr konzeptionell verankerten Metropolregionen als wachstumsund wettbewerbsorientierte Standorte verstanden, deren Funktionen über die nationalen Grenzen hinweg ausstrahlen und somit im europäischen Zentrensystem eine besondere Rolle einnehmen sollten. In der Planungspraxis sollten die Metropolregionen in den Landesentwicklungsprogrammen und -plänen berücksichtigt sowie durch gezielte Förderung der Organisationsentwicklung konsolidiert werden (vgl. SINZ 2005:1; LUDWIG ET AL. 2008). In der Folgezeit konzentrierte man sich in erster Linie auf die Umsetzung der im ORA und HARA formulierten Aufgaben, wobei sich die Hilfestellung des Bundes vorzugsweise auf die Begleitung von „Policywettbewerben“ (BENZ 2004b; „Regionen der Zukunft“ 1997–2000, „Netzwerk Regionen der Zukunft“ 2001– 2003) oder auf den wissenschaftlichen Beirat im Rahmen der MORO Projektfamilie beschränkte (vgl. SCHMITT 2009:66). Mit den Jahren wuchs jedoch die Not13

Die „Metropolisierung ist nicht Folge einer darauf ausgerichteten Raumentwicklungsstrategie, sondern das Ergebnis wirtschaftlicher Konzentrationsprozesse mit veränderten Strategien, Standortpräferenzen und Produktionsweisen von Unternehmen. Dazu tragen verbesserte Erreichbarkeitsverhältnisse und sinkende Transportkosten ebenso bei wie neue Informations- und Kommunikationstechnologien. Nicht zuletzt sind es aber auch die veränderten Lebensstile und Aktionsradien der Menschen, verbunden mit den auf kulturelle Angebote und attraktive urbane Umgebungen gerichteten Standportpräferenzen der Träger der Wissens- und Informationsgesellschaft, die den Stadtregionen eine neue Bedeutung verleihen“ (SINZ 2006:608).

Metropolregionen in Deutschland

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wendigkeit, die in der ersten Phase entwickelten Leitbilder einer grundlegenden Überprüfung und gegebenenfalls einer Anpassung zu unterziehen. Nicht nur, dass viele der im ORA und im HARA angelegten Aufgaben (wie die Etablierung „weicher“ Planverfahren) weitgehend erfüllt waren und nach neuen Antworten auf die strukturell begründete Wachstumsschwäche Deutschlands, den sich verschärfenden demographischen Wandel sowie die anhaltenden Steuerungs- und Problemlösungsdefizite des Staates gesucht werden musste. Vielmehr bedurfte es einer reflexiveren Haltung gegenüber dem Konzept der Metropolregionen und der sich mit ihm verbindenden Wachstums- und Wettbewerbsstrategie. So wurde beispielsweise von MAIKE RICHTER (2006) moniert, dass die Metropolregionen unsachgemäß als Wachstumsmotor par exellence protegiert wurden und deren Wachstums- und Wettbewerbsorientierung das grundgesetzlich verankerte Gleichwertigkeitsprinzip untergraben würden. Zudem wurden die Metropolregionen in zunehmender Konkurrenz zu Entwicklung des peripheren Ländlichen Raumes gesehen, dem ein eigenes Leitbild fehle und der vom Wegfall der Ausgleichsmaßnamen bedroht sei (vgl. STIENS 2000; KUNZMANN 2002; SINZ 2006:607). 90

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Orientierungsrahmen

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2004

2005

Beschluss zu Metropolregionen Handlungsrahmen

2006

Konferenz in Bonn

Raumwirksamkeitsanalyse d k h

Raumordnungsbericht 2005 Begleitprojekt Neue Leitbilder

Modellvorhaben der Raumordnung „Geburt“ der Leitbilder

Eckpunkte der Leitbilder

Gremien der MKRO

Leitbildbeschluss der MKRO

Abbildung 12: Verlauf des Leitbildprozesses zwischen 1990 und 2006 Quelle: leicht verändert nach ARING & SINZ 2006:49

Die daraufhin einsetzende und in den Jahren 2003–2006 intensiv geführte neue Leitbilddiskussion bekräftigte jedoch noch einmal die in den 1990er Jahren konzipierte Raumentwicklungsstrategie des Bundes. Diese setzt sich aus drei zentralen Leitbildern zusammen, die zwar eine Dominanz der Wachstums- und Wettbewerbsorientierung, aber keine paradigmatische Abkehr von den Ausgleichszielen erkennen lassen (Abbildung 13). Und tatsächlich verfolgt der Bund mit den im Juni 2006 von der MKRO verabschiedeten neuen Leitbildern und Handlungsstrategien der Raumordnung eine gestaffelte Konzentrationspolitik, die sowohl Entwicklungspole der Wachstumsförderung (Instrument: Metropolregionen) als auch Ankerpunkte der Daseinsvorsorge (Instrument: Zentrale Orte) einschließt. Mit

Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

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dieser Doppelstrategie soll es möglich sein, sowohl die „strategische Wettbewerbsfähigkeit“ Deutschlands zu sichern als auch die regionalen Disparitäten zu mindern (ARING 2006; ARING & SINZ 2006).14 Leitbild I: Wachstum und Innovation

Leitbild II: Sicherung der Daseinsvorsorge

Leitbild III: Landschafts- und Ressourcenmanagement

Wachstumspolitik als Beitrag zur Sicherung der strategischen Wettbewerbsfähigkeit

Ausgleichspolitik als Beitrag zur Minimierung der regionalen Disparitäten

Umweltpolitik als Beitrag zur Bewältigung zunehmender Raumnutzungskonflikte

Instrument: Metropolregionen

Instrument: Zentrale Orte

Abbildung 13: Neue Leitbilder der deutschen Raumordnung Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Zugleich wurde im Leitbild „Wachstum und Innovation“ ausdrücklich festgestellt, „dass es auch außerhalb der engen metropolitanen Verflechtungsräume dynamische Wachstumsräume unterschiedlicher Größe gibt, die ein eigenständiges zukunftsfähiges Profil aufweisen und schon heute einen beträchtlichen Teil zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum leisten“ (HEINRICHS 2006:553).

Demgemäß zielt das auf Wachstum und Wettbewerb ausgerichtete Leitbild nicht nur auf die einseitige Begünstigung der Raumkategorie der Metropolregion ab, sondern betont die Relevanz dieses Entwicklungsansatzes auch für die dünn besiedelten, ländlich geprägten und peripher gelegenen Gebiete. Allerdings zeigt sich auch, dass das Leitbild zur Sicherung der Daseinsvorsorge zunehmend vom wachstums- und wettbewerbsorientierten Denken durchdrungen wird und so eine Anpassung an das neoliberale Staatsverständnis erfährt (vgl. Abschnitt 1.1). So werden trotz der als notwendig erachteten Maßnahmen zur Daseinsvorsorge Anpassungsmaßnahmen in Aussicht gestellt, die zu Einschnitten in das bisher gewohnte Maß der Daseinsvorsorge führen (HEINRICHS 2006:655). Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass das Konzept der Metropolregionen auch nach der erneuten Leitbilddiskussion fest in der Raumentwicklungsstrategie der Bundesrepublik verankert ist. Zwar wurde mit ihm weder eine neue Verwaltungsebene eingeführt noch eine Verschiebung der Förderpolitik im Sinne der Umschichtung von strukturschwachen in strukturstarke Regionen vorgenommen 14

Die auf dem ersten Leitbild „Wachstum und Innovation“ gründenden Maßnahmen sollen die von der EU geforderten wirtschaftlichen Wachstumsimpulse vermitteln, Innovationen fördern und die Entwicklung einer Wissensgesellschaft unterstützen. „Das Leitbild soll dazu beitragen, Stärken zu stärken, Kräfte und Potenziale zu bündeln und zu vernetzen und durch die Weiterentwicklung von Partnerschaften zwischen Stadt und Land die gemeinsame solidarische Verantwortung von Regionen zu stärken“ (ARING 2006:618). Demgegenüber reagieren die auf dem zweiten Leitbild „Öffentliche Daseinsvorsorge sichern“ aufbauenden Politiken auf den demographischen Wandel in Deutschland und zielen auf die Gewährleistung einer angemessenen Infrastruktur sowie auf „flexible und mobile Formen der Daseinsvorsorge“ ab (ARING 2006:618).

Metropolregionen in Deutschland

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(vgl. SINZ 2006:605). Mit Hilfe des Konzeptes der Metropolregionen soll es jedoch möglich sein, Entwicklungspotenziale durch das Anstoßen regionaler Initiativen zu erschließen und so einen Beitrag zur Sicherung der „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“ Deutschlands zu leisten (BLOTEVOGEL 2000:163; vgl. Abschnitt 1.2).15 Vor diesem Hintergrund scheint es nunmehr angebracht, auch nach charakteristischen Merkmalen dieses wachstums- und wettbewerbsorientierten Raumkonzeptes zu fragen. Dazu bietet sich in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der raumwissenschaftlichen Diskussion an, die in der Vergangenheit einen wichtigen Beitrag zur konzeptionellen Vergewisserung von Metropolregionen geleistet hat.

2.2 Raumwissenschaftliche konzeptionelle Vergewisserung Wie wir gesehen haben, gehört das Konzept der „Europäischen Metropolregionen“ seit mehr als einer Dekade zum strategischen und informellen Instrumentarium der bundesdeutschen Raumordnungspolitik. Auf dieser Basis hat die MKRO im Verlaufe der letzten fünfzehn Jahre elf verstädterte Regionen als Metropolregionen ernannt (Abbildung 14). Nachdem in der ersten Phase sechs deutsche Großstadtregionen den Kreis der „Europäischen Metropolregionen in Deutschland“ bildeten (Hamburg, BerlinBrandenburg, Rhein-Ruhr, FrankfurtRhein/Main, München und Stuttgart), wurden in den Jahren von 1997 bis 2005 fünf weitere Stadtregionen aufgenommen (Sachsendreieck, Nürnberg, BremenAbbildung 14: EMR in Deutschland Oldenburg, Hannover-BraunschweigQuelle: verändert nach BBSR 2010 Göttingen-Wolfsburg, sowie RheinNeckar). Derzeit bewerben sich weitere Initiativen mit zum Teil breiter regionaler Unterstützung um eine Mitgliedschaft im Kreis der Metropolregionen, wobei die Region Oberrhein mit ihrem organisatorischen Kern der Oberrheinkonferenz zu den prominentesten Anwärtern gehört (BLOTEVOGEL 2007). 15

Aus dem BBSR heißt es hierzu: „Mit dem Konzept der Metropolregionen wird keine neue Förderpolitik im Sinne einer Umschichtung von strukturschwachen (‚ländlichen‘) in strukturstarke (‚großstädtische‘) Regionen verfolgt, sondern die politische, organisatorische und investive Kräftigung solcher Funktionen, die sinnvoller Weise nur in Metropolregionen wahrgenommen und ausgebaut werden können und dann Wachstumsimpulse in die übrigen Räume ausstrahlen“ (SINZ 2006:605).

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Im Zuge der oben dargestellten raumordnungspolitischen Verankerung der Metropolregionen haben sich verschiedene Disziplinen darum bemüht, zu deren konzeptioneller Vergewisserung beizutragen. Dabei nimmt der raumwissenschaftlich ausgerichtete Zweig der Geographie, in dessen Rahmen zahlreiche theoretisch-konzeptionelle Arbeiten und empirische Studien zur Begründung dieses neuen Raumkonzeptes vorgelegt worden sind (Abbildung 15; vgl. Themenhefte des BBR 2002, 2005a; KNIELING & MATERN 2009), eine herausragende Stellung ein. So mehren sich in den letzten Jahren Abhandlungen, welche die Existenz und Qualität deutscher Metropolregionen aus deren Position und Vernetzung im globalen Städtesystem heraus zu erklären versuchen (KUJATH 2001; HOYLER 2005; FISCHER ET AL. 2005; BRÖCKER 2009). Theoretisch und methodisch orientieren sie sich dabei stark an den Forschungen zur World/Global City (FRIEDMAN 1986; SASSEN 1991), wobei hier nicht selten ein von der „Globalization and World City Study Group“ (GaWC) um PETER TAYLOR (1997) entwickelter Ansatz zur Analyse der so genannten „spaces of flows“ zum Tragen kommt (vgl. CASTELLS 1999; ADAM & GÖDDECKE-STELLMANN 2002; ADAM ET AL. 2005).16 EMR als Motoren der gesellsch. Entwicklung

EMR als Standorte im globalen Städtesystem

EMR als Host von Metropolfunktionen

EMR als intermediäre Kooperationsräume

(Politischer Diskurs zur deutschen Leitbilddiskussion)

(Fachdiskurs zur raumwissenschaftlichen

(Fachdiskurs zur Raumordnung und Landesplanung)

(Fachdiskurs zur metropolregionalen GovernanceForschung)

Städtesystemforschung)

Abbildung 15: Definitionsansätze zu Metropolregionen Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung (in Anlehnung an KNIELING & MATERN 2009:325–331)

Zu den zentralen Ergebnissen der Städtesystemforschung gehören eine Vielzahl von quantitativ und qualitativ unterfütterten Rankings, in denen die deutschen Metropolen bzw. Metropolregionen – mit Ausnahme Frankfurt/Rhein-Mains – eher Zentren zweiter und dritter Ordnung darstellen (Hamburg, Rhein-Ruhr, Berlin-Brandenburg und München). Mehr noch: Einige Metropolregionen wie das ehemalige Sachsendreieck und heutige Mitteldeutschland, Bremen-Oldenburg, Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg, Nürnberg oder Rhein-Neckar werden von der Städtesystemforschung nur selten oder gar nicht erfasst. Problematisch ist, dass sich die Mehrzahl dieser Forschungsansätze nur auf einzelne und ausgewählte Indizes – insbesondere bestimmte Unternehmensbranchen – konzentriert und die daraus hervorgehenden Rankings nur bedingte Aussagekraft 16

Ziel der Forschungsgruppe „Globalization and World City Study Group“ (GaWC) um PETER TAYLOR ist es, die Ströme zwischen den Knoten (Städten und Regionen) durch die Verflechtungen zwischen Unternehmensstandorten einzuschätzen. Im Zuge dessen werden die durch unternehmensorientierte Dienstleister konstituierten Netzwerke analysiert. Diese Verflechtungsanalysen geben Auskunft über die Verbindungsintensitäten bzw. Konnektivitäten zwischen den Standorten (city interlock) und die Gesamtkonnektivität einer untersuchten Stadt (interlock connectivity).

Metropolregionen in Deutschland

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über die charakteristischen Merkmale von Metropolregionen haben (SHORT ET AL. 1996; ADAM & GÖDDECKE-STELLMANN 2002). Aus diesem Grund bedurfte es weiterer (alternativer) Erklärungsansätze, welche die deutschen Metropolregionen konzeptionell besser zu begründen vermochten. So bemühte sich eine Reihe weiterer raumwissenschaftlicher Forschungsarbeiten darum, die deutschen Metropolregionen aus deren funktionalen Ausstattungsmerkmalen heraus zu begründen. Hierfür haben sich vor allem die Arbeiten von HANS HEINRICH BLOTEVOGEL (2001, 2002, 2007) als wegweisend erwiesen, der mit seinen Bemühungen um eine konzeptionelle Schärfung des raumordnungspolitischen Begriffs vier grundlegende Dimensionen von „Metropolfunktionen“ identifiziert hat. Zu ihnen gehören a) die Entscheidungs- und Kontrollfunktion, b) die Innovations- und Wettbewerbsfunktion, c) die Gatewayfunktion sowie d) die Symbolfunktion (BLOTEVOGEL (2002:346, 2005:644; vgl. hierzu auch BLOTEVOGEL & DANIELZYK 2009), welche erstens einen Katalog an metropolitanen Merkmalen und zweitens einen analytischen Rahmen zur raumwissenschaftlichen Untersuchung von Metropolregionen vorgeben (vgl. Abschnitt 3.3). Sie wurden erstmals mit dem im Jahr 2005 erschienenen Raumordnungsbericht der deutschen (Fach-) Öffentlichkeit vorgestellt und mit zahlreichen thematischen Karten untermauert (BBR 2005b). Die politisch-planerische Einstufung einer Stadtregion als Metropolregion ist also in erster Linie von deren funktionalen Ausstattungsmerkmalen abhängig. Dabei verweist die Entscheidungs- und Kontrollfunktion darauf, dass Metropolregionen Standorte wichtiger politischer und ökonomischer Steuerungszentralen darstellen und dementsprechend als Machtzentren zu verstehen sind. So werden sowohl in den nationalen Ministerien als auch in den Hauptverwaltungen der „Global Player“ strategische Entscheidungen getroffen, deren Auswirkungen weit über die Regionsgrenzen hinaus – also: im internationalen oder gar globalen Maßstab spürbar sind. Demgegenüber verdeutlicht die Innovations- und Wettbewerbsfunktion, dass Metropolregionen auch Innovationszentren darstellen, deren hohe Dichte an F+E Einrichtungen, Universitäten, wissensintensiven Dienstleistern, Kultureinrichtungen und Orten sozialer Kommunikation unter anderem das Entstehen von innovativen Milieus ermöglichen. „Insofern geht es dabei nicht nur um ökonomische und technische Innovationen; vielmehr werden im Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung der Dienstleistungs- und Wissensökonomie soziale und kulturelle Innovationen immer wichtiger: sowohl im Hinblick auf die produzierenden Dienstleistungen selbst als auch für die Ausbildung eines innovativen Milieus als sozialer und kultureller Kontext der Ökonomie der Metropolregionen“ (BLOTEVOGEL & DANIELZYK 2009:26).

Mit der Gatewayfunktion wird wiederum die Position der Metropolregionen in den weltumspannenden Verkehrs- und Informationsnetzwerken angesprochen, wobei neben dem infrastrukturellen Aspekt auch das Vorhandensein von Bibliotheken, Messen oder Ausstellungen in den Vordergrund rückt. Hiernach ist die Einstufung einer Stadtregion als Metropolregion also nicht nur von deren Verkehrsknotenfunktion abhängig, sondern von einem breiteren Verständnis vom Zugang zu Menschen, Wissen und Märkten. Die Symbolfunktion verweist

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

schließlich auf den Umstand, dass Metropolregionen auch Zentren der symbolischen Produktion repräsentieren. Sie bezieht sich auf das Vorhandensein von Einrichtungen der Medien- und Kulturwirtschaft, der so genannten Hochkultur (Theater, Museen oder Galerien) sowie einer prägnanten (ästhetisch ansprechenden) Stadtgestalt (vgl. BLOTEVOGEL & DANIELZYK 2009). Wenngleich diese – sich aus den funktionalen Ausstattungsmerkmalen herleitende – konzeptionelle Vergewisserung in der deutschsprachigen Fachdiskussion eine prominente Bedeutung erlangt hat, so muss doch einschränkend formuliert werden, dass nicht nur der analytische Befund zu Ausstattungsmerkmalen, Funktionen und Potenzialen ausschlaggebend für die Vergabe des Prädikates der Metropolregion ist.17 So verweist ein dritter Zweig der raumwissenschaftlichen Literatur darauf, dass die MKRO auch die Fähigkeit zur kooperativ-netzwerkartigen Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure berücksichtigt (vgl. Sinz 2005:II). „Die Bildung und Abgrenzung von ‚Metropolregionen‘ ist […] ein Prozess des Aufbaus von Kooperationen zwischen Gemeinden und Akteuren auf der regionalen Ebene. […] Dieser Prozess kann von außen kaum gesteuert werden“ (BBR 2005b:184).

Da die kooperativ-netzwerkartige Zusammenarbeit nach Ansicht der MKRO eine Grundvoraussetzung für die Entfaltung von Entwicklungschancen darstellt, hat sich mittlerweile auch ein Verständnis von Metropolregionen als Kooperationsräume etabliert (KNIELING & MATERN 2009:328). Dabei interessieren sich die stärker sozialtheoretisch ausgerichteten Arbeiten vor allem für die Formierungsprozesse metropolregionaler Akteursnetzwerke und orientieren sich an der wirtschafts-, politik- und verwaltungswissenschaftlichen GovernanceForschung der vergangenen Jahre (vgl. Abschnitte 1.4 und 3.1; vgl. ALTROCK ET AL. 2006; HOHN ET AL. 2006; KNIELING 2006; BLATTER & KNIELING 2009). Mit Blick auf die vergangenen Jahre konstatieren die an den charakteristischen Formen der „Metropolitan Governance“ (BLATTER 2005; BLATTER & KNIELING 2009) interessierten Forschungsarbeiten, dass es der bundesdeutschen Raumordnung ohne zusätzliche Fördermittel oder planerische Instrumente gelungen ist, diejenigen regionalen Akteure zu mobilisieren und zu koordinieren, welche über die relevanten, aber häufig stark zersplitterten Ressourcen zur Regio17

Die empirischen Befunde verdeutlichen, dass die Bundesrepublik trotz einer ausgeprägten Häufung von Metropolfunktionen in den Regionen Rhein-Ruhr, Rhein-Main, Berlin, Hamburg, München und Stuttgart eine polyzentrische Raumstruktur funktionaler Schwerpunkte aufweist. So lässt sich beispielsweise für die Metropolregion Mitteldeutschland zwar ein Mangel an unternehmerischen Kontroll- und Entscheidungsfunktionen erkennen, dafür ist aber ihre Wissenschafts- und Kulturlandschaft überdurchschnittlich stark entwickelt. Und während das Monitoring für die Metropolregion Rhein-Neckar Defizite im Bereich der Symbolfunktion diagnostiziert, kann die Region gerade hinsichtlich ihrer national bedeutsamen infrastrukturellen Ausstattung punkten (vgl. IFOK 2005a:25, 2005b:21–23). Insofern konnten im Verlaufe der Jahre auch solche Regionen in den Kreis der „Europäischen Metropolregionen“ aufgenommen werden, die über große Potenziale zur strukturellen und wirtschaftlichen Entwicklung einzelner funktionaler Bereiche verfügen. Dies betrifft vor allem auch die polyzentrischen Metropolregionen Bremen-Oldenburg und Hannover-Braunschweig-GöttingenWolfsburg.

Metropolregionen in Deutschland

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nalentwicklung verfügen (vgl. SINZ 2005:I).18 In allen Metropolregionen hat sich ein spezifischer Steuerungsmix (vgl. Abschnitte 1.2 und 1.4) aus gewählten Vertretern des politischen Systems sowie aus den Bereichen der kommunalen/regionalen Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Bürgerschaft zu regionalen Interessenbzw. Verantwortungsgemeinschaften zusammengefunden (vgl. LUDWIG ET AL. 2008:15–29). Die Forschungsarbeiten verweisen darauf, dass die intersystemisch operierenden Akteure die Metropolregionen vielfach als eine „Plattform zum Austausch zwischen regionalen Akteuren über gemeinsame Strategien, notwendige Maßnahmen und regionale Projekte“ verstehen und ihre organisatorische, institutionelle und inhaltliche Ausgestaltung zumeist selbst, aber immer im „Schatten der Hierarchie“ (KILPER 1999; vgl. SCHARPF 1991)

übernehmen. Zugleich verweisen die Autoren aber auch auf die damit einhergehenden unterschiedlichen Entwicklungspfade, Entwicklungsstände und Entwicklungsmöglichkeiten, die sich in erster Linie aus den spezifischen organisationalen Rahmenbedingungen, ungleichen Anforderungen und Erwartungen an die regionale Entwicklung sowie die divergierenden „Kooperationskulturen“ (KNIELING & MATERN 2009:328) oder „GovernanceKulturen“ (HOHN ET AL. 2006) ergeben (vgl. BLATTER 2005; BAUMHEIER 2007; MIOSGA & SALLER 2007; LUDWIG ET AL. 2008). Kurzum: Die raumwissenschaftlichen Fachdiskurse zu a) der Städtesystemforschung, b) den funktionalen Ausstattungsmerkmalen sowie c) der metropolregionalen Governance leisten einen wichtigen Beitrag zur konzeptionellen Vergewisserung über Metropolregionen. Bedauerlicherweise können sie jedoch keine eindeutige Definition von Metropolregionen anbieten, sodass das im Kontext der Leitbilddiskussion formulierte Verständnis von den Metropolregionen als „Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung“ (ADAM ET AL. 2005) die gegenwärtig gebräuchlichste Begriffsbestimmung darstellt. Allerdings dürfen weder die raumordnungspolitische Verankerung noch die raumwissenschaftliche Vergewisserung darüber hinwegtäuschen, dass mit den Metropolregionen kein Königsweg zur Sicherung der „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“ gefunden worden ist (Abbildung 15). So lassen die bislang eher verhalten geführten raumwissenschaftlichen Diskussionen um die „Leistungsfähigkeit von Metropolregionen“ (KNIELING 2009; KUJATH 2009) vermuten, dass viele der 18

Der Terminus „Metropolitan Governance“ bezeichnet eine spezifische Form regionaler Governance, die sich im Zuge der Wiederentdeckung des Metropolitanen herausgebildet hat. Für BLATTER & KNIELING (2009:238) treffen zwar viele der für die regionale Steuerung beschriebenen Kriterien auch für „Metropolitan Governance“ zu, sie sind aber in Metropolregionen besonders stark ausgeprägt (vgl. Abschnitt 1.4). So ist die „Akteursvielfalt und Interessen- und Konfliktintensität durch die Ballung von Personen, Institutionen und Interessen um ein Vielfaches größer als in anderen Regionen. Viele Interessen sind hervorragend organisiert und entsprechend artikulationsfähig, sodass sie den Steuerungsanspruch von Staat und Kommunen deutlicher infrage stellen bzw. ihm durch ihr selbstbewusstes Handeln entgegentreten“ (BLATTER & KNIELING 2009:238). Allerdings fördert die internationalisierte (!) metropolregionale Mehrebenenkoordination zusätzlich die Komplexität des Interaktionsgeschehens, sodass „Metropolitan Governance“ über ein deutlich höheres Konfliktniveau verfügt als eine vergleichbare stadtregionale Steuerung ohne internationale Verflechtungen.

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

Metropolregionen noch immer weder den notwendigen Legitimitäts- und Integrationsanforderungen genügen noch den wichtigen Effizienz- und Effektivitätskriterien entsprechen. Aus diesem Grund soll im Folgenden auf zentrale Problemfelder des Metropolisierungsprozesses eingegangen werden, die nicht selten im Zusammenhang mit dem vielfach erörterten Thema des GovernanceFailures diskutiert werden (vgl. JESSOP 1998, 2002; STOKER 1998; vgl. Abschnitt 1.4). Hiermit soll zum einen ein Hinweis auf die problematische Metropolisierung von Städten und Stadtregionen gegeben und zum Zweiten die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der „Metropolregion 2.0“ vorbereitet werden.

2.3 Zentrale Problemfelder des deutschen Metropolisierungsprozesses Betrachtet man die Entwicklungspfade und gegenwärtigen Entwicklungsstände der deutschen Metropolregionen (LUDWIG ET AL. 2008), so lässt sich eine Vielzahl problematischer Aspekte bei der Ausgestaltung dieses wachstums- und wettbewerbsorientierten Raumkonzeptes beobachten (vgl. KNIELING 2003:471–474; BLATTER & KNIELING 2009). Analytisch betrachtet können vier zentrale Problemfelder identifiziert werden: a) das Legitimations- und Demokratiedefizit der deutschen Metropolregionen und ihrer GovernanceRegime, b) die Integration von Akteuren in die metropolregionalen Initiativen, c) der Mangel an Effektivität metropolregionaler Strategien und Maßnahmenpakete sowie d) die fehlende Effizienz des gemeinschaftlichen Handelns (vgl. FEDERWISCH 2008a:16–19, 2009b; HASSE & KRÜCKEN 2005). Dabei scheint vor dem Hintergrund der weiter oben dargestellten raumordnungspolitischen Verankerung (Abschnitt 2.1) und konzeptionellen Vergewisserung (Abschnitt 2.2) gerade das Problemfeld der Legitimation deutscher Metropolregionen und deren GovernanceRegime besonders klärungsbedürftig. Wie wir sehen werden, resultiert es zum einen aus der vergleichsweise diffusen Abgrenzung der Metropolregionen und zum Zweiten aus ihrer komplexen Organisation im Sinne der MehrebenenGovernance. Legitimations- und Demokratiedefizit: Zunächst muss konstatiert werden, dass sowohl in der (raumordnungs-)politischen als auch in der fachwissenschaftlichen Diskussion eine klare territoriale Abgrenzung von Metropolregionen vermieden wird (BLATTER & KNIELING 2009:243). Dem liegt die Ansicht zugrunde, dass zum einen der Verzicht auf containerartige und die Zuwendung zu relationalen Raumgebilden dem Zeitgeist entspricht (CASTELLS 1999; SCHROER 2006) und zum Zweiten jede raumwissenschaftlich begründete Kategorisierung und funktionale Abgrenzung von metropolitanen Räumen hochgradig problematisch ist (WERLEN 2007a). Aus diesem Grund werden die Metropolregionen in Deutschland seit ihrer konzeptionellen Einführung weitgehend diffus ausgelegt (BLATTER & KNIELING 2009:243), was in dem vielfach verwendeten Raumverständnis der „Variablen Geometrie“ zum Ausdruck kommt. Die diffuse Abgrenzung von Metropolregionen wird zusätzlich durch den (neoliberalen) Gedanken der Flexibilisierung befördert, wonach metropolregionale Mitgliedschaften und Kooperationsfelder leichter zugeschnitten und verändert werden können.

Metropolregionen in Deutschland

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„Diffuse Abgrenzungen erleichtern eine funktionale Differenzierung von Kooperationsräumen […] und besitzen Vorteile in Bezug auf die Flexibilität über die Zeit. Mitgliedschaften und Kooperationsfelder können so leichter zugeschnitten und verändert werden. Diffuse Abgrenzungen erscheinen insbesondere auch dann angemessen, wenn es keine eindeutigen Schwellenwerte in Bezug auf den Metropolisierungsgrad eines Ortes oder in Bezug auf die Verflechtungsintensität gibt. Theoretisch werden damit Mitgliedschaften abgestufter Intensität möglich“ (BLATTER & KNIELING 2009:243).

Das sich damit verbindende Problem liegt darin, dass eine – im Vergleich zum strikten vertikalen Staatsaufbau – diffuse Auslegung metropolregionaler Grenzen dem politischen Voluntarismus Tür und Tor öffnen kann (BLATTER & KNIELING 2009:243). Am eindrucksvollsten zeigt sich dies am Beispiel der Metropolregion Berlin-Brandenburg, deren Grenzen sich über die letzten Jahre scheinbar willkürlich bis hinter einige der strukturschwächsten und bevölkerungsärmsten Landkreise der Bundesrepublik verschoben haben (vgl. Abbildung 14). Zwar erweisen sich die damit verbundenen und empirisch nachweisbaren Anerkennungs- und Akzeptanzprobleme als verhältnismäßig „weiche“ Legitimationsdefizite (vgl. auch Abschnitt 8.1), die vor allem durch eine Verständigungsoffensive der politischen Entscheidungsträger entschärft werden könnten. Da die politischen Entscheidungsträger ihre demokratische Legitimation jedoch nicht aus der Solidarität mit den diffus begrenzten Metropolregionen, sondern aus der Loyalität mit den territorial festgelegten Raumkategorien des vertikalen Staatsaufbaus erlangen, können die „weichen“ Legitimationsdefizite zusehends aushärten. Ein zweites Legitimationsproblem ergibt sich aus dem Umstand, dass die metropolregionalen Kooperationen zumeist im Sinne der MehrebenenGovernance organisiert sind (FÜRST 2003:448). So agieren die an der metropolitanen Steuerung beteiligten Akteure nicht selten in Personalunion und somit auf mehreren Organisationsebenen, was nicht nur die Komplexität der Interaktionen steigert und die Entscheidungsfindung komplizierter macht (vgl. DILLER & KNIELING 2003:205). Vielmehr sind die Akteure dazu angehalten, in ihren jeweiligen Heimatinstitutionen ein Verständnis für das Handeln auf metropolregionaler Ebene zu schaffen. Dies betrifft in erster Linie die Akteure aus dem parlamentarischen System, die ihrer wahlkreisgebundenen Klientel gegenüber in der kontinuierlichen Begründungspflicht sind. Dies betrifft jedoch auch die beteiligten Unternehmer, die gegenüber Aufsichtsräten, Gesellschaftern, Betriebsräten oder Beschäftigten die Notwendigkeit ihres regionalen Engagements begründen müssen. Dabei stellt sich allzu oft heraus, dass die an der metropolregionalen Kooperation beteiligten Akteure im so genannten vorparlamentarischen Raum interagieren und ihnen die für gewählte Parlamente übliche formale (demokratische) Legitimation fehlt. Sie müssen sich daher auch gegenüber dem vielfach geäußerten Vorwurf der sich unkontrolliert ausbildenden Macht- und Korruptionsstrukturen rechtfertigen (vgl. FÜRST 2004:59; VOELZKOW 1998; HOLZER 2006:22–28). Integrationsprobleme: Mit Blick auf den Aspekt der Integration wird nicht nur darauf hingewiesen, dass sich die Berücksichtigung einzelner Akteursgruppen (insbesondere der so genannten Zivilgesellschaft) in den metropolregionalen Steuerungsorganisationen als äußerst schwierig erweist (BLATTER & KNIELING

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2009:253–255; vgl. BECKER ET AL. 2010). Vielmehr stellen sich häufig eine Reihe klassischer Kooperationsdilemmata ein, welche unter anderem die Probleme der „Verfolgung heterogener Eigeninteressen“, der „Lock-In Effekte“, der „Trittbrettfahrer“, der „Kooperationsbremser“ oder des „Netzwerkfrustes“ umfassen können. Dabei stellt das Problem der „Verfolgung heterogener Eigeninteressen“ sicher eines der am häufigsten zu beobachtenden Kooperationsdilemmata der kooperativ-netzwerkartigen Regionalentwicklung dar (vgl. LUDWIG ET AL. 2008). Es tritt vor allem dann auf, wenn diejenigen Handlungsfelder verlassen werden, die aufgrund möglicher Win-Win-Situationen ohne Spannungslinien verlaufen und somit vergleichsweise schnell ausgebildet werden sowie zu schnellen Ergebnissen führen (können). Werden im Gegensatz dazu nämlich ressourcenaufwändige Projekte mit einem konkreten Ortsbezug versehen, drohen schwer überwindbare innerregionale Verteilungskonflikte (BLATTER & KNIELING 2009:240) und standortbezogene „Kirchturmpolitiken“ (vgl. IFOK 2005a). Die dadurch evozierten (Vertrauens-)Brüche können nicht nur die bestehenden GovernanceRegime untergraben, sondern konkurrierende Interessensbündnisse und Kooperationen hervorbringen (vgl. Abschnitt 1.4 zur britischen „Devolution“). Auf der anderen Seite besteht das als „Lock-In“ bezeichnete Integrationsproblem darin, dass sich die für kooperativ-netzwerkartige Bündnisse typischen „losen Kopplungen“ (vgl. Abschnitt 1.4) der Akteure auch zu stark verfestigen können (vgl. HELLMER ET AL. 1999). Dabei setzt das, aus der Unternehmensforschung bekannte, Phänomen der übermäßigen Einbettung (vgl. GRANOVETTER 1985) nicht nur machtgeladene Inklusions- und Exklusionsprozesse in Gang, sondern kann auch regionalentwicklungspolitische Innovationen bremsen. Darüber hinaus besteht das Problem des „Lock-In“ vor allem darin, dass zu starke Vertrauensbeziehungen auch in „Vertrauensseeligkeit“ oder „blindem Vertrauen“ münden können (KRUMBEIN 1994). In einem solchen Falle laufen die Protagonisten kooperativ-netzwerkartiger Bündnisse Gefahr, gegenüber so genannten „Trittbrettfahrern“ – also solchen Akteuren, die von den sozialen Netzwerken und der Verbesserung der Standortfaktoren profitieren, ohne selbst einen Beitrag zur Regionalentwicklung zu leisten – blind zu werden. Ein drittes Integrationsproblem ergibt sich dann, wenn die kooperativnetzwerkartige Zusammenarbeit durch bestimmte Individuen oder Gruppen absichtsvoll behindert oder gar heimlich ausgebremst wird. Dies ist immer dann der Fall, wenn bestimmte Protagonisten (bspw. Unternehmer) die Treiberfunktion übernehmen (wollen) und energische Antagonisten die Zusammenarbeit im Sinne eines „haben wir schon – brauchen wir nicht“ konterkarieren. Paradoxerweise erweisen sich nicht selten gerade diejenigen Akteure als „Kooperationsbremser“, die sie eigentlich fördern sollten (Politiker, Verbände). Die Bremser regionaler Kooperationen finden zusätzliche Bestätigung, wenn die intermediären, aber freiwilligen Engagements ohne sichtbare Erfolge oder Mehrwert operieren (IFOK 2005b:17; SCHNEIDER 2008:165). Problematisch ist, dass sich somit gerade bei den engagierten Akteuren ein Motivationsdilemma verstärken oder sogar ein so genannter „Netzwerkfrust“ („FrustregionalGovernance“; FEDERWISCH 2010c) einstellen kann, bei dem die vormals begeisterten Akteure das Interesse an der regio-

Metropolregionen in Deutschland

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nalen Kooperation verlieren (vgl. MANDEL 2008:136). Aufgrund der, auf einer freiwilligen Mitgliedschaft basierenden, Regionalentwicklung können auch die verantwortungsbewussten Akteure ihre „exit option“ nutzen und den netzwerkartigen Verbund ohne weit reichende Sanktionen wieder verlassen (vgl. Abschnitt 1.4; FEDERWISCH 2008a). Effektivitätsprobleme: Dieses dritte Problemfeld rückt die begrenzte Leistungsfähigkeit der netzwerkartigen Kooperationen in der Vordergrund. Auch die im neoliberalen Steuerungsmix bevorzugten Netzwerke weisen spezifische Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit auf, die vor allem die Komplexität des Koordinationsund Steuerungsgeschehens betreffen (vgl. Abschnitt 1.2; SIMONIS 2007:223). Bedauerlicherweise werden diese Aspekte in der wissenschaftlichen Literatur zur kooperativ-netzwerkartigen Organisation von deutschen Metropolregionen noch immer viel zu selten thematisiert. Vielmehr interessieren sich die Forscher für die Vorteile der dichten und räumlich geballten Netzwerke, zu denen neben den eher abstrakten Netzwerkeffekten wie dem Aufbau von Vertrauen und Sozialkapital (vgl. GRANOVETTER 1985; COLEMAN 1988; PUTNAM 1993; BURT 1995; HOLZER 2006) auch die hierdurch ermöglichte Senkung von Transaktionskosten im Bereich des Informations- und Wissensaustausches und die Verbesserung des Konfliktmanagements gehören (vgl. auch Abschnitt 1.4; FEDERWISCH 2008a:16; KUJATH 2009).19 Doch gerade gegenüber der vermeintlichen Senkung von Transaktionskosten kann argumentiert werden, dass die kooperativ-netzwerkartig organisierte Regionalentwicklung auch hohe Reibungsverluste aufzuweisen hat (vgl. KNIELING ET AL. 2001; SIMONIS 2007:223; vgl. Abschnitt 1.2). Dies begründet sich vor allem damit, dass sie sich in ein komplexes und sowohl skalar als auch zeitlich und sachlich differenziertes Koordinations- und Steuerungsgeschehen einfügen muss. Die damit einhergehende Verkomplizierung der institutionellen Rahmenbedingungen, der Akteurskonstellation sowie der (habitualisierten) Handlungsmuster kann langwierige Entscheidungsfindungs- und Einigungsprozesse mit sich bringen sowie in zahlreichen Kompetenz- und Aktivitätsüberschneidungen münden (KNIELING ET AL. 2001). Aus diesem Grund kann die netzwerkartige Kooperation durchaus erhöhte Transaktionskosten verursachen und den Ansprüchen nach schnellen Entscheidungen und raschem Handeln in einer beschleunigten Welt entgegenstehen (vgl. ROSA 2005:391–427; vgl. Abschnitt 4.4). Effizienzprobleme: Doch selbst wenn Organisationen effektiv operieren, heißt dies noch lange nicht, dass sie tatsächlich auch effizient bzw. wirtschaftlich arbeiten. So zeigen zahlreiche theoretische Arbeiten und empirische Studien aus dem 19 Der Transaktionskostenansatz entstammt der neuen Institutionenökonomie OLIVER WILLIAMSONS (1975, 1985) und nimmt die Gesamtheit der Beherrschungs- und Überwachungskosten von formalen Organisationen in den Blick. Nach Auffassung von OLIVER WILLIAMSON entstehen im Leistungstausch vielfältige Kosten für a) die Informationssuche und Informationsbeschaffung, b) Vertragsvereinbarungen und Vertragsabschlüsse, c) die Kontrolle und Sicherung der Qualität sowie d) die Koordination und Steuerung von Transaktionen. Die Höhe der Transaktionskosten ist von der Art des Austausches (bspw. dem Grad der Standardisierung) und der gewählten Organisationsform abhängig.

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

Bereich des organisationstheoretischen und soziologischen Neoinstitutionalismus, dass das Effizienzkriterium nur eine, aber nicht die notwendigerweise wichtigste Determinante bei der Etablierung und Konsolidierung von politischen, wirtschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen darstellt (DIMAGGIO 1989:9).20 So gelingt es den Vertretern von Organisationen zwar vielfach, wichtige Handlungsressourcen – konkret: materielle, finanzielle oder personelle Mittel zu mobilisieren. Leider werden diese jedoch häufig ineffizient und zum Teil sogar verschwenderisch eingesetzt, so dass die formal-rationalen Organisationsstrukturen und Handlungsstrategien nicht der möglichst effizienten Problembearbeitung entsprechen müssen. Im Gegenteil: Bereits MEYER & ROWAN (1977) haben in ihrem Artikel „Institutionalized Organizations: Formal Structures as Myth and Ceremony“ darauf hingewiesen, dass die formal-rationalen Organisationsstrukturen und Handlungsstrategien vor allem auf Selbstrechtfertigung ausgerichtet sind. Ihrer Ansicht nach wissen viele Organisationen um die zumeist viel zu hohen Transaktions- und Entscheidungsfindungskosten und um die zahlreichen Kompetenzüberschneidungen zu anderen Organisationen, so dass sie nach Strategien und Auswegen aus ihrer eigenen Effizienzkrise suchen müssen. Die provokative These der beiden Neoinstitutionalisten lautet, dass dabei moderne und gesellschaftlich verankerte Mythen aufgegriffen, kopiert und zeremoniell zur Geltung gebracht werden, um die Existenz der eigenen Organisation beispielsweise gegenüber den Wählern, Aktionären oder Vereinsmitgliedern zu rechtfertigen. So können selbst dauerhaft scheiternde Organisationen kontinuierlich Ressourcen akquirieren, wenn sie über einen gesellschaftlichen Rückhalt verfügen oder eine vermeintliche Förderungswürdigkeit nachweisen können (HASSE & KRÜCKEN 2005:51). Insofern hilft die Strukturähnlichkeit („Isomorphie“) zwischen den Organisationen und der Gesellschaft auch bei der dauerhaften Etablierung und Konsolidierung von Organisationen im Allgemeinen und von kooperativ-netzwerkartig operierenden Bündnissen im Besonderen. Angesichts dieser zentralen Problemfelder kann hypothetisch festgehalten werden, dass auch das inflationäre und nahezu flächendeckende Auftauchen von Metropolregionen in Deutschland weder für die Qualität dieses Konzeptes noch für die vorfindbaren Steuerungsstrukturen und Entwicklungsprogramme sprechen muss. So gelten für die metropolregionale Steuerung genau dieselben Herausforderungen, die auch mit anderen modernen Formen der intersystemischen Steuerung einhergehen – nämlich: Legitimations-, Integrations-, Effektivitäts- und 20

Im Zentrum des organisationstheoretischen und soziologischen Neoinstitutionalismus steht die Erforschung des Verhältnisses bzw. der gegenseitigen Beeinflussung von Gesellschaft und Organisation. Dabei wird davon ausgegangen, dass die sozial konstruierten institutionellen Regeln zwischen den vergesellschafteten Akteuren und den politischen, wirtschaftlichen oder sozial-kulturellen Organisationen vermitteln. Theoretische Positionen: MEYER & ROWAN 1977; DIMAGGIO & POWELL 1983; ZUCKER 1977; Politik und Verwaltung: MARCH & OLSEN 1989; BRUNSSON 1989; BRUNSSON & OLSEN 1993; DOBBIN 1994; Wirtschaft: MEYER & ZUCKER 1989; FLIGSTEIN 1990, 1991; Übersichten: HASSE & KRÜCKEN 2005; SENGE & HELLMANN 2006; SCHIMANK 2007b.

Metropolregionen in Deutschland

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Effizienzprobleme. Aus diesem Grund lohnt es sich, dem vermeintlichen und sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis konstatierten Erfolg der Metropolregionen skeptischer gegenüberzustehen (vgl. BBSR 2009a). Wie die nachfolgenden Ausführungen zum Phänomen der „Metropolregion 2.0“ zeigen sollen, hat dies nicht nur mit der schwierigen und zum Teil unmöglichen kooperativnetzwerkartigen Steuerung von Stadtregionen zu tun, sondern auch mit den damit einhergehenden signifikativen Konsolidierungsproblemen und unrealistischen „Bildversprechen“ (PETRIN & KNIELING 2009).

2.4 „Metropolregion 2.0“ – ein (erster) kritischer Befund Sowohl in der Planungspraxis als auch in der Raumwissenschaft scheint ein breiter Konsens darüber zu bestehen, dass es sich bei den Metropolregionen in Deutschland nicht nur um ein gut begründetes und konzeptionell fest verankertes Instrument der informellen Regionalentwicklung handelt (vgl. Abschnitte 2.1 und 2.2). Vielmehr suggerieren die in weiten Bereichen der Praxis zu verzeichnende Metropolisierungseuphorie sowie die bislang tendenziell eher verhalten ausfallende wissenschaftliche Kritik an dem Konzept der Metropolregionen in Deutschland, dass es sich bereits um ein weitgehend gelungenes Projekt handelt. In dieser Arbeit wird jedoch darauf hingewiesen, dass der deutsche top-down initiierte Metropolisierungsprozess zahlreiche Problemfelder berührt (vgl. Abschnitt 2.3), die in der Praxis zu nicht vernachlässigbaren netzwerktypischen Steuerungsschwierigkeiten und signifikativen Konsolidierungsproblemen geführt haben. Wie im Verlaufe der weiteren Arbeit gezeigt werden soll, handelt es sich bei den Metropolregionen in Deutschland demnach um alles andere als ein bereits gelungenes Projekt, sondern vielmehr um ein zu gelingendes Vorhaben. Wie sehr die Metropolregionen unter dem Imperativ des Gelingens stehen, zeigt das mit der Metropolisierungseuphorie eng verbundene Phänomen der „Metropolregion 2.0“. Dieses Phänomen steht – wie einleitend bereits formuliert – symptomatisch für die neu gestartete – oder besser: die sich revitalisierende Metropolregion, welche in der viel diskutierten raumordnerischen und wissenschaftlichen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) bisAbbildung 16: Diskursfragment lang keinen Platz gefunden hat (vgl. Quelle: EMR HBGW 2009 Abbildung 16). Der entscheidende Grund für diese Missachtung mag darin liegen, dass die Revitalisierung von Metropolregionen für die unliebsame Seite problematischer Entwicklungspfade steht und den praktischen Umgang mit a) den von zahlreichen Schwierigkeiten betroffenen und b) den vereinzelt sogar vom Zerbrechen bedrohten Metropolregionen darstellt. Da aber weder der Stillstand noch das Scheitern in das (neoliberale) Bild der auf

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

Wachstum und Wettbewerb, Fortschritt und Innovation, Vielfalt und Internationalität ausgerichteten Metropolregionen passt (vgl. KNIELING & MATERN 2009:330), hat sich die Revitalisierung von Metropolregionen als notwendige Maßnahme der Praktiker erwiesen. Entgegen vielfältiger Verweise auf die vermeintlich zahlreich „funktionierenden“ bzw. gut organisierten und somit erfolgreich operierenden Metropolregionen (vgl. LUDWIG ET AL. 2008) stellt sie kein Einzelphänomen dar, sondern muss sogar als Regelfall in der regionalpolitischen Praxis betrachtet werden. Beispiel Metropolregion Rhein-Ruhr: So erweist sich die Metropolregion Rhein-Ruhr als ein erstes geeignetes Beispiel, um die in vielen deutschen Metropolregionen zu verzeichnenden Schwierigkeiten bei der Metropolisierung, die Gefahr des Auseinanderbrechens sowie die Überlegungen zu einem Neustart einer Metropolregion zu illustrieren (GOCH 2001; FICHTER 2002; BLOTEVOGEL 2006; SCHMITT 2006, 2007; DANIELZYK ET AL. 2008; PETZINGER ET AL. 2008). Zugegeben: Die Metropolregion Rhein-Ruhr ist in der Vergangenheit vielfach als ein funktional verflochtener „Lebens- und Aktionsraum“ sowie als ein „arbeitsteiliges System von Kommunen und vielfältigen Funktionsspezialisierungen“ beschrieben worden (vgl. DANIELZYK ET AL. 2008:559). Wie Studien zu den funktionalen Ausstattungsmerkmalen sowie den inner- und außerregionalen Verflechtungen zeigen, nimmt die Metropolregion Rhein-Ruhr sogar eine Spitzenposition in den „Metropol- und Funktions-Indizes der deutschen Metropolräume“ ein (DANIELZYK ET AL. 2008:554; vgl. Abbildung 23). Insofern weisen einige Indizien auf eine erfolgreich operierende Metropolregion hin, die ihre Kraft aus ihren internen und externen Verflechtungen und Vernetzungen bezieht (BLATTER & KNIELING 2009:260). Dieser Befund wird jedoch maßgeblich untergraben, wenn man das (metropol-)regionale Koordinations- und Steuerungsgeschehen einmal genauer betrachtet: So ist die regionale Governance der Metropolregion Rhein-Ruhr auch fünfzehn Jahre nach ihrer offiziellen Ernennung noch immer gering ausgeprägt und kommt bestenfalls im Kontext von Großprojekten oder Großveranstaltungen in Schwung (vgl. Abschnitt 2.2 zur Bedeutung regionaler Governance für Metropolregionen). Demgemäß konstatieren DANIELZYK ET AL. (2008:559), dass die Metropolregion Rhein-Ruhr zwar immer noch in den Leitbildern und Raumordnungsplänen des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen existiert, letztlich aber doch nur auf dem Papier steht. Dabei hat der Verzicht auf eine „harte“ formale Institutionalisierung nicht nur mit dem komplexen Organisationsarrangement im „Ruhrgebiet“ und entlang der „Rheinschiene“ zu tun, sondern begründet sich zudem mit der fehlenden Verankerung des Raumbildes einer „Metropolregion Rhein-Ruhr“ im Bewusstsein der politisch-administrativen, wirtschaftlichen und medialen Entscheidungsträger sowie der Zivilgesellschaft (SCHMITT 2006, 2007; DANIELZYK ET AL. 2008:559; vgl. Abschnitt 1.4, vgl. Abbildung 10). Vor diesem Hintergrund droht die Metropolregion Rhein-Ruhr in eine „metropoleruhr“, einen Teilraum Düsseldorf und eine „Metropolregion Köln-Bonn“ zu zerbrechen – eine als Gefahr wahrgenommene Entwicklung, der man mit der Einführung eines neuen „strategischen Raumbildes“ (REUBER 1999; vgl. IPSEN 1997) bzw. „raumbezogenen Leitbildes“ (vgl. FEDERWISCH 2009b) zu begegnen versucht:

Metropolregionen in Deutschland

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„Es spräche viel dafür, den Metropolraum Rhein-Ruhr insgesamt als Metropolregion zu entwickeln. Ein Weg könnte dabei sein, aufbauend auf der sich derzeit unterschiedlich intensiv entwickelnden Kooperationslandschaft in den Teilräumen Ruhrgebiet, Düsseldorf und Köln/Bonn eine eng miteinander kooperierende „TripelMetropolis Rhein-Ruhr“ zu entwickeln“ (DANIELZYK ET AL. 2008:561).

Schwierige Metropolisierung in Deutschland: Verlässt man die Metropolregion Rhein-Ruhr und wendet sich anderen Metropolregionen zu, so lassen sich auch dort zahlreiche Probleme bei der Bildung von demokratisch legitimierten, weithin anerkannten und akzeptierten sowie leistungsfähigen und effizienten GovernanceRegimen – kurz: Schwierigkeiten bei der Metropolisierung beobachten (Abbildung 17). Dies betrifft nicht nur die wenig metropolitan anmutenden polyzentrischen Metropolregionen wie Bremen-Oldenburg (vgl. BAUMHEIER 2007, 2008) oder Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg (vgl. BAUMHEIER 2007; MARTINSEN 2008), sondern auch die monozentrischen Metropolregionen wie Berlin-Brandenburg (vgl. SEGEBADE & ELSING 2008; WEITH ET AL. 2009), Frankfurt/Rhein-Main (vgl. LANGHAGEN-ROHRBACH 2004; HOYLER ET AL. 2005; KRÜGER-RÖTH 2008), Hamburg (vgl. DILLER & KNIELING 2003; KNIELING 2006; SCHWIEGER 2008), München (vgl. MIOSGA & SALLER 2007; SCHULZ 2008) und Stuttgart (vgl. BECKER 2006; LUDWIG & STEINACHER 2008). Abgesehen davon, dass es sich bei einigen dieser Metropolregionen um kaum mehr als bereits bekannte Formen der Stadt-Umland-Kooperationen unter Einbezug der Wirtschaft handelt (FÜRST 2005:219–200), haben die in Abschnitt 2.3 aufgeführten Schwierigkeiten im Kooperations- und Steuerungsgeschehen nicht selten zu Überlegungen einer Neuausrichtung von Metropolregionen geführt. Am aktuellsten zeigt sich dies an der Metropolregion Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg (EMR HBGW:2009), die sich im Verlaufe des Jahres 2009 sowohl territorial als auch organisatorisch und inhaltlich neu formiert hat. „Der niedersächsische Kernraum ist von der [MKRO] im April 2005 als eine von elf Regionen in Deutschland als Metropolregion von europäischer Bedeutung anerkannt worden. In der Folge entwickelte sich eine Kooperation, die in erster Linie von Kommunen und Hochschulen aus dem Gebiet der Metropolregion getragen wurde. Bis Ende 2006 wurden inhaltliche Grundlagen für die Arbeit der Metropolregion Hannover Braunschweig Göttingen gelegt und einige konkrete Projekte auf den Weg gebracht. Anfang des Jahres 2007 stellten die Beteiligten jedoch fest, dass in der bestehenden Organisationsform die mit der Ausweisung als Metropolregion verbundenen Ziele nicht erreicht werden können. Ausgehend von dieser Einschätzung wurde von Seiten der Oberbürgermeister der Städte Hannover, Braunschweig, Göttingen und Wolfsburg die Initiative für die organisatorische und inhaltliche Neuausrichtung der Metropolregion unternommen“ (EMR HBGW 2009:3).

Einzig die Metropolregionen Nürnberg und Rhein-Neckar erwecken auf den ersten Blick den Eindruck, aufgrund ihrer leistungsfähigen GovernanceRegime zu den „Modellregionen für einen kooperativen Föderalismus“ zu gehören (SCHMITZ 2005). Sie werden infolge der frühzeitigen Unternehmensbeteiligungen (wie der BASF SE im Falle der Metropolregion Rhein-Neckar) oder demokratischen Legitimierung (wie im Falle der Metropolregion Nürnberg durch den Rat der Metropolregion) nicht selten als weitgehend gelungene (metropol-)regionale Kooperati-

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

onen bzw. Verantwortungsgemeinschaften mit hoher Ressourcenausstattung bewertet (vgl. MANDEL 2006, 2008; KÖNIG 2007; KÖNIG 2007; STANDECKER 2008). Doch auch bei diesen beiden Metropolregionen zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sie trotz ihrer scheinbar gut operierenden und ausgestatteten GovernanceRegime mit massiven Anerkennungs- und Akzeptanzproblemen auf Seiten der stark zergliederten Medienlandschaft (vgl. PATSCH 2007 für die EMR RheinNeckar; vgl. EUSTACHI 2011) sowie der ansässigen Bevölkerung zu kämpfen haben. Aus diesem Grund nehmen sie (wie auch andere Metropolregionen in Deutschland) in jüngerer Zeit große symbol- bzw. identitätspolitische Anstrengungen in Kauf, um sich auf signifikativer Ebene eine legitimierende und akteursintegrierende Basis zu geben (vgl. Abbildung 10 im Abschnitt 1.4; Abbildung 17; FEDERWISCH 2008a, b, 2009b; vgl. LUUTZ 2001, 2002; WERLEN 2007a). Signifikative Verständigungs-, Informations-, Beteiligungsoffensive: Insofern verweist das Phänomen der „Metropolregion 2.0“ nicht nur auf Maßnahmen zur Überwindung von Schwierigkeiten im Bereich der komplexen Organisation und Steuerung von Metropolregionen (formale „politisch-normative“ Konsolidierung), sondern bezieht Praktiken zur Bewältigung von signifikativen Konsolidierungsproblemen mit ein (mentale „informativ-signifikative“ Konsolidierung). So zeigen eigene empirische Recherchen, dass in der überwiegenden Zahl der deutschen Metropolregionen anhaltende Reflexionsprozesse über die jeweilige Metropolregion stattfinden und in diesem Zusammenhang zahlreiche „strategische Raumbilder“ (REUBER 1999; vgl. IPSEN 1997) bzw. „raumbezogene Leitbilder“ (vgl. FEDERWISCH 2009b) hervorgebracht werden (Abbildung 17). Davon versprechen sich die jeweiligen Protagonisten nicht nur bessere Profilierungschancen im Bereich des „Regionsmarketings“ (LINDSTAEDT 2006) oder des „Place Brandings“ (STÖBER 2007), sondern in erster Linie legitimations- und integrationsrelevante Solidarisierungs- und Mobilisierungseffekte (vgl. WEICHHART 1990; FELGENHAUER 2007; FEDERWISCH 2008a, b). In diesem Sinne verweist das Phänomen der „Metropolregion 2.0“ – ähnlich wie beim so genannten Web 2.0 – auf eine komplementär zur Organisationsentwicklung stattfindende sowie symbol- bzw. identitätspolitisch untermauerte Verständigungs-, Informations- und Beteiligungsoffensive, die der Einbindung der politisch-administrativen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, medialen und vor allem zivilgesellschaftlichen Akteure zuträglich sein soll (Realisierung qua Informationsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen, Metropolregionskonferenzen, Fokus-Gruppen-Veranstaltungen, Kamingespräche, Medienabende, Internetforen, Zukunftswerkstätten, regionale Wettbewerbe etc.).21 21

Der Begriff „Web 2.0“ bezieht sich auf die grundlegend veränderte Nutzung des Internets und findet in so genannten Blogs, sozialen Netzwerken (STEGBAUER 2008) oder digitalen Kooperationen (STEGBAUER 2009) seinen empirischen Ausdruck. Im Gegensatz zum „Web 1.0“, in dem nur wenige Personen oder große (Medien-)Unternehmen für die Informationen des Internets verantwortlich waren, erstellen die Benutzer nun selbst die Inhalte des Internets in entscheidendem Maße. Mittlerweile ist der Begriff metaphorisch auf andere gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen worden, um unter anderem auf die verschiedenen Beteiligungsmöglichkeiten bzw. die Interaktivität der Nutzer in bestimmten Bereichen aufmerksam zu machen.

Keine explizit „metropolregionalen“ Gremien Überschneidungen zwischen RAG und Kommunalverb. Nieders./Bremen e.V. Fragmentiertes politisch-administratives und planerisches GovernanceRegime Mangelnde Einbindung der Wirtschaft und Verbände; Mehrebenenproblematik Einbindung und Abstimmung der vielfältigen Akteure in die Kooperation Schwieriger Namensfindungsprozess; Kompetenzüberschneidungen zur WfM Sehr schlankes GovernanceRegime; Einbindung der Unternehmen Leistungsfähiges GovernanceRegime mit geringen Steuerungsproblemen Trittbrettfahrerproblematik; zergliederte Medienlandschaft Eigenständigkeit der Städte behindert regionale Entwicklungsmöglichkeiten Nebeneinander zwischen Abfallentsorgung und ÖPNV behindert Steuerung

Gemeinsame Landesplanung; Berlin Partner GmbH, ZAB Brandenburg GmbH

Vorstand und Geschäftsstelle EMR BO; Regionale Arbeitsgemeinschaft (RAG)

Planungsverband Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main; Rat der Region

Lenkungsausschuss, Geschäftsstelle und Regionsrat der EMR Hamburg

Neustart der Metropolregion (5. Juni 2009); Einrichtung einer EMR GmbH

Oberbürgermeister; Wirtschaftsinitiative für Mitteldeutschland (WfM)

Initiative Europäische Metropolregion München (EMM)

GovernanceRegime aus Rat, Steuerungskreis und Fachforen; Marketingverein

Metropolregion Rhein-Neckar Gremien: GmbH; Verein; Verband

Regionalverband Ruhr (RVR); Ruhr 2010 GmbH

Verband Region Stuttgart („organisatorischer Kern“); Koordinierungsausschuss

BerlinBrandenburg

Bremen-Oldenburg

Frankfurt/RheinMain

Hamburg

HBGW

Mitteldeutschland

München

Nürnberg

Rhein-Neckar

Rhein-Ruhr

Stuttgart

Abbildung 17: Steuerung und Symbolpolitik deutscher Metropolregionen Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung (FEDERWISCH 2009b:19; vgl. LUDWIG ET AL. 2008)

Zentrale Steuerungsprobleme

Wichtige Akteure (Auswahl)

Metropolregion

Gemeinsames Binnen- und Außenmarketing; Europabüro in Brüssel

IBA Emscher Park; Kulturhauptstadt Europas 2010; Narration; Messen

Leitbildentwicklung; Marketing; Kommunikationsallianzen; Bürgermonitoring

Kampagnen für regionale Produkte; Anpassung der Berichterstattung

Bis 2009 nur wenig Symbolpolitik; danach vermehrt Aktivitäten

Prozess der Namens- und Identitätsfindung; gemeinsames Marketing

Marketing; Kampagnen für regionale Produkte; Beilage in Tageszeitungen

Gemeinsame Leitbildentwicklung; gemeinsames Marketing

Gemeinsame Leitbildentwicklung; metropolregionales Monitoring

Handlungsfeld: „Identität und Regionalmarketing“; gemeinsames Marketing

Gemeinsame Leitbildentwicklung; gemeinsames Außenmarketing

Symbolpolitik (Auswahl)

Traditionell starke Identifikation mit Region Stuttgart

Schwierige Metropolisierung aufgrund lokaler Identitäten

Etablierung des Namens und der Marke in kurzer Zeit

Wachsende Identifikation der Politik und Wirtschaft

Traditionell starke Identifikation mit Marke München

„Mitteldeutschland“ als bereits etablierter Name

Schwierige Metropolisierung aufgrund starker Identitäten

Starke Fokussierung auf HH erleichtert EMR-Bildung

Fragmentierte Governance behindert Solidarisierung

Schwierige Metropolisierung aufgrund starker Identitäten

Bislang geringes Bewusstsein für die EMR

Stand der Symbolpolitik

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Teil I: Theoriegeleitete Diagnosen

Probleme signifikativer Konsolidierung: Angesichts der geradezu inflationären Produktion von „strategischen Raumbildern“ (REUBER 1999; vgl. IPSEN 1997) bzw. „raumbezogenen Leitbildern“ (vgl. FEDERWISCH 2009b) muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass diese sehr häufig in einem vagen, beschönigenden und daher auch problematischen „Bildversprechen“ (PETRIN & KNIELING 2009) münden. So scheint mit den signifikativen Konsolidierungsprozessen eine ganz sonderbare (neoliberale) Diskursverschiebung verbunden zu sein, bei der die Semantiken der Schattenseiten des städtischen Lebens sukzessive durch die Semantiken der vermeintlichen Stärken, Potenziale und Chancen ersetzt worden sind (vgl. KNIELING & MATERN 2009:330). Hiernach wurden innerhalb von nur wenigen Jahren aus gewöhnlichen Städten außergewöhnliche Metropolen und aus herkömmlichen Stadtregionen dynamische Metropolregionen. Es scheint sogar, dass mit den Metropolregionen all die positiven Konnotationen wie Wohlstand, Wachstum, Fortschritt, Vielfalt und Internationalität verbunden werden, die häufig im Zusammenhang mit der World/Global City Hypothese formuliert wurden und von der New Economic Geography, der raumbezogenen Institutionenökonomie und der Humankapital- bzw. Kreativitätstheorie für die großen Agglomerationen und Wirtschaftsregionen dieser Welt beschrieben worden sind. Mehr noch: Mit dem Konzept der Metropolregion scheint auch dem ländlichen Umland ein progressives „Bildversprechen“ (PETRIN & KNIELING 2009) mit großer Symbolwirkung an die Hand gegeben worden zu sein, das dessen jahrzehntelange Antipathie gegenüber Städten oder Agglomerationen immer weiter untergräbt: „Zum ersten Mal seit langer Zeit erscheint es für viele Umlandgemeinden wieder attraktiv, zu der mit dem Namen der Kernstadt bezeichneten Metropolregion dazuzugehören. Dem Wunsch aus dem Umland nach Anschluss an die Knotenpunkte im globalen Netz der Ströme wird vonseiten der Städte kaum mehr mit der Forderung nach einer Eingemeindung begegnet. Stattdessen erscheint es in vielen Regionen möglich, traditionelle Antipathien zu überwinden und durch eine gleichberechtigte Zusammenarbeit von Akteuren aus den Städten und dem Umland wie auch von öffentlichen und privaten Akteuren zu neuen Kombinationen von Ressourcen und Potenzialen zu kommen, um sich damit im Standortwettbewerb zu profilieren und zu behaupten“ (BLATTER & KNIELING 2009:231).

Das eigentliche Problem daran ist, dass die Mehrzahl der „Bildversprechen“ (PETRIN & KNIELING 2009) aufgrund der zahlreichen Schwierigkeiten im Koordinationsund Steuerungsgeschehen von der (metropol-)regionalen Governance nur schwer erfüllt werden können. Aus diesem Grund fördern die sich mit dem Motto „Hauptsache Metropole – koste es, was es wolle“ (PETRIN & KNIELING 2009: 302) verbindenden regionalentwicklungspolitischen Maßnahmen zusehends die Skepsis vieler (aktueller und potenzieller) Akteure – sowohl auf städtischer als auch auf ländlicher Ebene. Zudem verweisen PETRIN & KNIELING (2009:302) in einem der wenigen kritischen Beiträge zu den Metropolregionen in Deutschland darauf, dass das metropolitane „upgrading“ – also die Anpassung an die Raumsemantiken der Metropole – in einer wenig Erfolg versprechenden Überanpassung der Symbolund Identitätspolitik an die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (FRANCK 1999), die „Ökonomie der Zeichen“ (HELBRECHT 2004) oder die „Ökonomie der Faszinati-

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on“ (SCHMID 2009) resultieren kann. Dabei können die zunehmende „Eventisierung“ der Stadt (BITTNER 2002), die „Festivalisierung der Stadtpolitik“ (HÄUßERMANN ET AL. 2008), das Abzielen auf möglichst gute Positionen im Standortranking oder die Produktion von vermarktbaren Medienbildern (vgl. MEYER ZU SCHWABEDISSEN & MIGGELBRINK 2005) als Indizien für eine eng geführte Symbol- und Identitätspolitik bewertet werden. Argumentativer Anschluss an Teil II: Wie die bisherigen und sich aus empirischen Recherchen begründenden Ausführungen zum Phänomen der „Metropolregion 2.0“ gezeigt haben sollen, bietet sich ein skeptischer Umgang mit den als „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) bezeichneten Metropolregionen in Deutschland an. Damit soll die gut gedachte und nachvollziehbare raumordnerische Konzeption der Metropolregionen zwar nicht unter den Generalverdacht des Misserfolges gestellt, wohl aber einer vertiefenden kritischen Reflexion unterzogen werden. Dabei stellt sich zunächst die Frage, weshalb sich die Wissenschaft zu den Metropolregionen bislang eher bedeckt zur Neuausrichtung bzw. zum Neustart von Metropolregionen im Allgemeinen geäußert hat. Wie kann es sein, dass sich weder die kontinuierlich raumbeobachtende Raumwissenschaft noch die sich mit der intersystemischen Steuerung auseinandersetzende GovernanceForschung dieses Phänomens angenommen haben? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt es sich, nach dem Selbstverständnis und der Ausrichtung dieser beiden Forschungstraditionen zu fragen, welche die Diskussionen um die Metropolregionen in Deutschland gegenwärtig dominieren. Es lohnt sich zudem, nach einer alternativen Forschungskonzeption Ausschau zu halten, die hinsichtlich der aktuellen Metropolisierungsprozesse über mehr kritisches Potenzial verfügt. Demgemäß wird sich der zweite Teil der Arbeit kritisch mit den Forschungsansätzen der GovernanceForschung und der Raumwissenschaft auseinandersetzen. Zudem widmet er sich den Erkenntnismöglichkeiten einer kritisch konzipierten Geographie – genauer: einer Sozialgeographie nach der von BENNO WERLEN herbeigeführten sozialwissenschaftlichen Wende. Im Zuge dessen wird die Frage geklärt, welche Analysevorteile die sozialgeographische Perspektive bietet und welche Erkenntnisse sie hinsichtlich des Phänomens der „Metropolregion 2.0“ verspricht. Hypothetisch wird davon ausgegangen, dass eine sozialgeographische Perspektive nicht nur einen allgemeinen Zugang zur alltäglichen Konstruktion von Metropolregionen ermöglicht. Vielmehr schärft sie den Blick für die Funktionsdefizite (Integrations-, Legitimations-, Effektivitäts- und Effizienzprobleme), die raumbezogenen Konflikte und argumentativen Widersprüche geographischer Praktiken und ist so bei der kritischen Reflexion der Konstruktion metropolregionaler Wirklichkeiten behilflich.

Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption Gesellschaftliche Raumbezüge in kritischer Perspektive

Im Zuge der raumordnungspolitischen Verankerung wurden Metropolregionen vielfach zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen erklärt. Dabei haben sowohl die GovernanceForschung als auch die Raumwissenschaft dazu beigetragen, unser Verständnis über Metropolregionen weiterzuentwickeln. So wurden im Rahmen der GovernanceForschung beispielsweise die Handlungsmöglichkeiten der intersystemischen Steuerung austariert und konkrete Modalitäten der Interdependenzbewältigung untersucht. Demgegenüber haben sich raumwissenschaftliche Studien an der Gewinnung von spezifisch metropolregionalen Daten beteiligt und die Möglichkeiten der Entwicklung von Metropolfunktionen erörtert. Angesichts der zahlreich vorhandenen Arbeiten stellt sich die Frage, weshalb die wissenschaftliche Kritik zum einen an dem Konzept und zum zweiten an der Praxis der Metropolregionen bislang eher verhalten ausfällt. Da sowohl die GovernanceForschung als auch die Raumwissenschaft die Diskussionen um die Metropolregionen dominieren, bedarf es einer Vergewisserung des Selbstverständnisses und der Ausrichtung dieser Forschungstraditionen. Die hier vertretene These lautet, dass beide Disziplinen vorzugsweise an der Erzeugung von „technischem Verfügungswissen“ (BLOTEVOGEL 2003:30) interessiert sind. Damit soll in erster Linie ein Beitrag zum Gelingen von Metropolregionen geleistet werden. Demgegenüber werden in den nachstehenden theoretisch-konzeptionellen Ausführungen auch die Grundlagen für die Bereitstellung von „kritischem Reflexionswissen“ (BLOTEVOGEL 2003:30) erarbeitet. Zu diesem Zweck erfolgt eine Auseinandersetzung mit den Erkenntnismöglichkeiten einer kritisch konzipierten Geographie. Es wird gezeigt, dass eine so verstandene Geographie den Zugang zu den alltäglich vollzogenen geographischen Praktiken sowie den darin eingelagerten Problemen, Konflikten und Widersprüchen ermöglicht. Sie leistet einen Beitrag zur kritischen Untersuchung aktueller Prozesse zur Konstitution metropolregionaler Wirklichkeiten.

3 Wissenschaftliche Erörterungen von Metropolregionen

Betrachtet man die gegenwärtige (fachöffentliche und wissenschaftliche) Literatur zu den „Europäischen Metropolregionen in Deutschland“, so drängt sich der Eindruck einer noch ausbaufähigen kritischen Haltung gegenüber diesem bedeutenden Instrument der bundesdeutschen Raumordnung auf. Gerade die im Kontext der GovernanceForschung und der Raumwissenschaft erarbeiteten Studien weisen gelegentlich sogar affirmative Züge auf, welche die Frage nach den Gründen für diese Grundhaltung nach sich ziehen. Eine erste mögliche Antwort könnte darin liegen, dass die Diskussionen um die deutschen Metropolregionen vorzugsweise dort geführt werden, wo sie in den 1990er Jahren erdacht und um die Jahrtausendwende konzeptionell begründet worden sind. Damit ist das soziale Netzwerk an Wissenschaftlern und akademisch arbeitenden Praktikern gemeint, die im Rahmen diverser universitärer und/oder außeruniversitärer (Forschungs-) Einrichtungen tätig sind oder waren. Neben dieser eher spekulativen, aber vor dem Hintergrund der häufig anzutreffenden Verstrickung von Wissenschaft und Praxis sicher verfolgenswerten Begründung lassen sich noch weitere Gründe für die Vernachlässigung des Phänomens der „Metropolregion 2.0“ anführen. In dieser Arbeit wird behauptet, dass diese Gründe in erster Linie aus dem Selbstverständnis der beiden Forschungsperspektiven resultieren und demzufolge eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit der GovernanceForschung (Abschnitte 3.1 und 3.2) und der Raumwissenschaft (Abschnitte 3.3 und 3.4) nötig machen. Eine Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis dieser beiden Forschungsperspektiven besitzt vor allem den Charme, sich deren Erkenntnispotenzialen und Ausrichtung bewusst zu werden. So sind die Erkenntnismöglichkeiten und wissenschaftlichen Ergebnisse maßgeblich an die intern dominierenden Blickwinkel gebunden, welche die GovernanceForschung und die Raumwissenschaft auf die deutschen Metropolregionen einnehmen (vgl. WERLEN 2008b:14–16).

3.1 Hauptlinien der GovernanceForschung Zur Klärung des Selbstverständnisses (und somit der Erkenntnispotenziale) der GovernanceForschung bietet es sich an, zunächst eine kurze fachhistorische Einbettung vorzunehmen: Folgt man dem Politischen Soziologen UWE SCHIMANK

Wissenschaftliche Erörterungen von Metropolregionen

67

(2007a:32), so findet die GovernanceForschung ihren Ursprung bereits in den klassischen sozialphilosophischen Arbeiten zur sozialen Ordnung und Ordnungsbildung, die häufig nach idealtypischen Strukturmustern der Interaktion Ausschau hielten (Sozialphilosophische Basis). Dies zeigt sich vor allem bei den Vertragstheoretikern wie THOMAS HOBBES, JOHN LOCKE, JEAN-JACQUES ROUSSEAU und IMMANUEL KANT sowie den klassischen Nationalökonomen wie ADAM SMITH, THOMAS ROBERT MALTHUS, DAVID RICARDO und JOHN STUART MILL, die den Versuch unternahmen, die Komplexität sozialer Ordnungen auf möglichst elementare Mechanismen bzw. „simplification mechanisms“ (MILNER 1978:26) zu reduzieren und Aussagen über wünschenswerte Ordnungsmuster abzuleiten. Dabei zeichnete sich schon früh eine Trias von idealtypischen Strukturmustern ab (Markt; Gemeinschaft; Staat; Abbildung 18), die in Zusammenhang mit den modernen gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen in Großbritannien und Kontinentaleuropa gebracht werden kann. Konkret: Mit der sich im 18. und 19. Jahrhundert vollziehenden Ausdifferenzierung des modernen Wirtschaftssystems auf der einen Seite und des modernen politischen Systems auf der anderen Seite gewannen die Fragen nach der sozialen Ordnung und Ordnungsbildung eine gesellschaftspolitische Relevanz. In dieser Zeit etablierte sich das Begriffsdual des Marktes und des Staates, wobei diese beiden Termini zumeist antagonistisch gedacht wurden („Markt vs. Staat“; Abbildung 18). Während die Protagonisten einer „Marktgesellschaft“ das Versagen des Staates hervorhoben und die „invisible hand“ (SMITH 1776) als den geeigneten Koordinationsmodus der Interaktion definierten, warnten die Befürworter eines umfassend steuernden Staates vor dem Phänomen des „Marktversagens“. Geführt wurde diese Debatte vor allem zwischen den beiden ideologischen Lagern der Liberalisten einerseits und der Sozialisten bzw. Sozialdemokraten andererseits. Letztere stellten der vermeintlich gefährlichen und ordnungszerstörenden Anarchie des Marktes die „visible hand“ (CHANDLER 1977) des Staates gegenüber (vgl. SCHIMANK 2007a). Die überwältigende Dominanz der Markt-Staat-Dichotomie darf nach UWE SCHIMANK (2007a:32) jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass man sich parallel dazu mit einem weiteren idealtypischen Strukturmuster der Interaktion beschäftigt hatte. Die Rede ist von der Gemeinschaft als Koordinationsmechanismus, auf die nicht nur die frühen Soziologen FERDINAND TÖNNIES oder EMILE DURKHEIM, sondern vor allem auch das politisch konservative Lager aufmerksam gemacht hatten. Als drittes gesellschaftstragendes Strukturmuster der Interaktion besitzt der Idealtypus der Gemeinschaft jedoch keinen konsistenten sozialwissenschaftlichen Unterbau, wie dies für den Markt (Klassische und Neoklassische Ökonomie) oder den Staat (Marxismus) gilt. Infolgedessen drohte der Koordinationsmechanismus der Gemeinschaft mit der Zeit in Vergessenheit zu geraten (vgl. GLÄSER 2007) – nicht zuletzt deshalb, da mit der Gemeinschaft vielfach ein vormodernes bzw. tradiertes Ordnungsmuster des Zusammenlebens verbunden wurde, welches mit der Moderne bzw. der posttraditionellen Gesellschaft überwunden zu sein schien (SCHIMANK (2007a:32).

Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

68 Strukturmuster

Markt

Gemeinschaft

Hierarchie

Steuerungsprinzip

Anarchie („invisible Hand“)

/

Hierarchie („visible Hand“)

Vertreter (Auswahl)

ADAM SMITH, ROBERT MALTHUS, DAVID RICARDO, JOHN S. MILL

FERDINAND TÖNNIES; EMILE DURKHEIM

KARL MARX, FRIEDRICH ENGELS

Idealtypus (visuell)

Abbildung 18: MGH Semantik der modernen Sozialphilosophie Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Institutionsökonomische Zuspitzung: In den 1930er Jahren wurde die sozialphilosophische Diskussion um die soziale Ordnung bzw. Ordnungsbildung von einigen Ökonomen auf eine Organisationsebene übertragen (Abbildung 19). Den Ausgangspunkt stellt der bahnbrechende und die Transaktionskostenökonomie beeinflussende Artikel „The Nature of the Firm“ dar, in dem der spätere Nobelpreisträger RONALD COASE (1937) darstellt, wie mit Hilfe der rationalen Wahl der Koordinationsform die Transaktionskosten minimiert werden können. Ausgehend von der Frage, weshalb es in der Wirtschaft überhaupt (hierarchisch operierende) Unternehmen und nicht nur (freie) Märkte gibt (neoklassische Argumentation), wurde gezeigt, dass die Ordnungsstruktur des Marktes alleine nicht ausreicht, um wirtschaftliche Transaktionen zu beheben. RONALD COASE begründet seine These mit dem Verweis auf die in Austauschprozessen anfallenden Kosten. Die Entscheidung darüber, welche Transaktionen über den Markt und welche unternehmensintern abgewickelt werden, hängt hiernach von den entstehenden Organisations- und Tauschkosten ab. Die in der Folgezeit vor allem von OLIVER WILLIAMSON (1975, 1985, 1990, 1994) begründete transaktionskostenorientierte Institutionsökonomie überführt die von RONALD COASE aufgeworfene Frage in ein wissenschaftliches Programm. Im Zuge dessen findet auch erstmals der GovernanceBegriff, mit dem der ebenfalls spätere Nobelpreisträger OLIVER WILLIAMSON institutionelle Arrangements zur Verringerung der Transaktionskosten bezeichnet, eine systematische Verwendung. „Mit Governance bezeichnete [OLIVER WILLIAMSON] institutionelle Regelungen in Unternehmen, d.h. die Leitungs- und Verwaltungsstrukturen sowie die vertikalen und horizontalen Interaktionsmuster des Unternehmens, die der Verringerung von Transaktionskosten dienen“ (BENZ 2004b:15).22 22

Allgemein geht OLIVER WILLIAMSON davon aus, dass die Austauschbeziehungen bei geringen Kosten über den Markt und bei hohen Kosten über die Unternehmenshierarchie geregelt werden. Allerdings gibt es auch transaktionsökonomische Situationen, in denen Misch- bzw. Hybridformen zwischen Markt und Hierarchie ins Spiel kommen. Allesamt bieten sie unterschiedlich gute Lösungen für das Koordinations-, Informations- und Motivationsproblem an. Konsequenterweise eignen sich die idealtypischen Strukturmuster der Interaktion mehr oder weniger gut für ganz bestimmte Transaktionsmodalitäten.

Wissenschaftliche Erörterungen von Metropolregionen

69

Im Zentrum der Institutionsökonomie steht demnach ein Leistungsvergleich zwischen verschiedenen Ausprägungen der Organisation (unternehmerische Hierarchie), der für die Minimierung der Transaktionskosten notwendig ist. Die im Kontext der transaktionskostenorientierten Institutionenökonomie entwickelte Managementtheorie von WILLIAM OUCHI nimmt die von OLIVER WILLIAMSON eingeführte Dyade von Märkten und unternehmerischen Hierarchien auf und ergänzt sie um das Strukturmuster der Clans. Diese orientieren sich wiederum an EMILE DURKHEIMS Begriff der organischen Solidarität sowie an FERDINAND TÖNNIES Begriff der Gemeinschaft. Dabei macht WILLIAM OUCHI darauf aufmerksam, dass dem auf Traditionen und Reziprozitätsnormen gründenden Clan eine ähnliche Rolle wie den Organisationen zukommt. Der Clan ist „the obverse of the market relation since it achieves efficiency under the opposite conditions: high performance ambiguity and low opportunism“ (OUCHI 1980:135). Strukturmuster

Markt

Clan

Organisation

Steuerungsprinzip

Anarchie („invisible Hand“)

/

Unternehmerische Hierarchie („visible Hand“)

Vertreter (Auswahl)

RONALD COASE; OLIVER WILLIAMSON

WILLIAM OUCHI

RONALD COASE; OLIVER WILLIAMSON

Idealtypus (visuell)

Abbildung 19: MCO Semantik der Organisationstheorie Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Disziplinäre Ausdifferenzierung: Ausgehend von den genannten philosophischen Grundlagen sowie der institutionsökonomischen Zuspitzung wurde die GovernanceForschung in den vergangenen Jahren auf eine ganze Bandbreite gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge übertragen und um Aspekte der Tätigkeitssteuerung und -koordination sowie der Macht- und Herrschaftsausübung erweitert. Damit wurde die GovernanceForschung nicht nur für die Neue Soziologische Ökonomie (GRANOVETTER 1985; SYDOW 1992) oder die Verwaltungswissenschaft (BLANKE ET AL. 2005; SCHUPPERT & ZÜRN 2008), sondern vor allem für die Politikwissenschaft mit ihren Teilgebieten der Internationalen Beziehungen (ROSENAU & CZEMPIEL 1992), der Policy-Forschung (Kölner Schule: SCHARPF 1991; MAYNTZ 1997, 2005) sowie der Politischen Soziologie (Hagener Schule: WERLE & SCHIMANK 2000; BENZ 2004a; BENZ ET AL. 2007a) anschlussfähig gemacht. Vor diesem Hintergrund mag es auch kaum verwundern, dass es zu einer geradezu unübersichtlichen Ausdifferenzierung der GovernanceForschung gekommen ist (vgl. BENZ 2004a), die selbst von Kennern nur noch schwer überblickt oder systematisiert werden kann. Gemeinsam ist den meisten Ansätzen jedoch, dass sie sich verstärkt mit einer neuen Form der politischen Steuerung und der Koordination auseinandersetzen – nämlich: dem netzwerkartigen Strukturmuster der Interaktion (Abbildung 20; vgl. Abschnitt 1.2; vgl. BENZ ET AL. 2007b).

Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

70 Strukturmuster

Markt

Netzwerk

Hierarchie

Steuerungsprinzip

Anarchie

Heterarchie

Hierarchie (Government)

Vertreter (Auswahl)

OLIVER WILLIAMSON

MARC GRANOVETTER, WALTER W. POWELL, RONALD BURT

OLIVER WILLIAMSON

Idealtypus (visuell)

Abbildung 20: MNH Semantik der interdisziplinären GovernanceForschung Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Mit anderen Worten: Betrachtet man die GovernanceForschung der letzten Jahre, so lässt sich ein frappierender Aufmerksamkeitsschub zugunsten der Netzwerke konstatieren. Damit weist die GovernanceForschung in erster Linie darauf hin, dass Interdependenzen in spätmodernen Gesellschaften zunehmend durch nichthierarchische Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und privaten Akteuren vollzogen werden. Dieses Verständnis zeigt sich beispielsweise bei ADRIENNE WINDHOFF-HÉRITIER, die mit Governance explizit auf Formen der intersystemischen Entscheidungsfindung und Selbstregulierung verweist. „Governance implies that private actors are involved in decision-making in order to provide common goods and that nonhierarchical means of guidance are employed. [...] Where there is governance, private actors may independently engage in self-regulation, or a regulatory task may have been delegated to them by a public authority, or they may be regulating jointly with a public actor. This interaction may occur across levels (vertically) or across arenas (horizontally)” (WINDHOFF-HÉRITIER 2002:3).

Dieses Verständnis finden wir aber auch bei einer Vielzahl von anderen Autoren (wie den Vertretern der Hagener Schule ARTHUR BENZ oder UWE SCHIMANK), wobei der weithin zu beobachtende „Netzwerk-Faible“ (WIESENTHAL 2005:227) der Rede von der „Netzwerkgesellschaft“ MANUEL CASTELLS (2000) oder der weiter oben geschilderten Staatstheorie von BOB JESSOP (1997, 2002) entspricht. Zwischenfazit: Betrachtet man die GovernanceForschung in ihrer historischen Genese, so offenbart sich trotz aller Verschiedenheiten deren besonderes Interesse für die idealtypischen Formen und Mechanismen der Interaktion. Während die klassischen Vertreter der GovernanceForschung der nicht selten ideologisch eingefärbten Frage nach dem idealen sozialen Ordnungsmuster nachgingen (Sozialphilosophische Basis), versuchten die wirtschaftswissenschaftlichen Vertreter eine modellartige Begründung zur Verringerung von Transaktionskosten in und zwischen Unternehmen zu leisten (Institutionsökonomische Zuspitzung). Für die gegenwärtige Phase der GovernanceForschung kann man konstatieren, dass sie sich vordergründig mit neuen idealtypischen Modalitäten zur Bewältigung komplexer Interdependenzen auseinandersetzt. Dabei scheint sich trotz der disziplinären Ausdifferenzierung ein gemeinsames Kerninteresse herauszukristallisieren – nämlich: die analytische Durchdringung und Bewertung des häufig vorfindbaren netzwerkartigen Steuerungsmix (vgl. Abschnitt 1.2; Abbildung 7).

Wissenschaftliche Erörterungen von Metropolregionen

71

Basierend auf diesem grundsätzlichen Forschungsinteresse entwickelt auch die gegenwärtige GovernanceForschung ein wissenschaftliches Forschungsprogramm, das starke Ähnlichkeiten zur politikwissenschaftlichen Forschungspraxis aufweist (BENZ 2004a; BENZ ET AL. 2007a; Abbildung 21). In einem ersten Schritt untersucht die GovernanceForschung die konkreten GovernanceStrukturen (polity), GovernanceProgramme (policy) und GovernanceProzesse (politics) der häufig netzwerkartigen Interaktionen, um die Funktionsweise bzw. die Gestaltungslogiken von GovernanceRegimen besser durchdringen zu können. In einem zweiten Schritt werden die dabei identifizierten Effizienz- und Effektivitätsprobleme als Funktionsdefizite – oder besser: als erhöhte Transaktionskosten gedeutet und dementsprechend Angebote zur optimaleren Steuerung erarbeitet.23 Dabei sind nicht selten normative Kategorien ausschlaggebend, weshalb in der gegenwärtigen Phase der GovernanceForschung auch vielfach nach „guten“ Praktiken des Regierens, Steuerns, Lenkens und Managens geforscht wird („good governance“). So werden beispielsweise in Auseinandersetzung mit den Metropolregionen in Deutschland die demokratische Legitimation und Transparenz der organisatorischen Kerne, die demokratische Verantwortlichkeit der politischen Entscheidungsträger sowie die Unabhängigkeit der Politik und der Verwaltung von spezifischen Interessengruppen in den Blick genommen. GovernanceStrukturen

GovernanceProgramme

GovernanceProzesse

Strukturtypen der Interaktion (Institutionen)

Inhaltliche Dimension der Politik („issue areas“)

Prozesse der Interaktion (Handlungstypen)

POLITY

POLICY

POLITICS

Gestaltungslogiken von GovernanceRegimen

Analyse und Bewertung von Governance in und zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen (Politik, Wirtschaft etc.)

Analyse und Bewertung von Governance auf und zwischen Maßstabsebenen der Steuerung (lokal, regional etc.)

Analyse und Bewertung von raumzeitlich sowie funktional verschiedenen GovernanceRegimen

BindestrichGovernance

(Mehr-)EbenenGovernance

ComparativeGovernance

Abbildung 21: Ausrichtung der GovernanceForschung Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung 23

„Die Governance-Forschung vergleicht zum einen unterschiedliche Formen und Mechanismen der Bewältigung von Problemen kollektiven Handelns, um ein Verständnis ihrer Wirkungsweise zu gewinnen. Zum anderen untersucht sie das Zusammenwirken unterschiedlicher Formen und Mechanismen der Koordination und die daraus resultierenden Folgen. […] In erster Linie interessiert in diesem Zusammenhang die Funktionsweise von Governance. Die Grundfrage der Sozialwissenschaft, wie koordiniertes Handeln möglich ist, wird konkretisiert auf bestimmte Felder organisierter Interaktion. Ziel ist es, die in den jeweiligen Strukturen angelegten Mechanismen des kollektiven Handelns zu entdecken und ihre Funktionsweise zu erklären“ (BENZ ET AL. 2007b:20).

72

Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

Ziel der GovernanceForschung ist es somit nicht nur, die in und zwischen verschiedenen Funktionsbereichen („BindestrichGovernance“: Politik, Verwaltung, Planung, Wirtschaft, Wissenschaft, Bürgerschaft etc.; vgl. Abbildung 9) sowie auf und zwischen verschiedenen Maßstabsebenen („(Mehr-)EbenenGovernance“: lokal, regional, national, supranational) vorzufindenden Interdependenzmuster zu analysieren und zu vergleichen (Komparative GovernanceForschung). Vielmehr ist die – von der Institutions-, Organisations- und Managementtheorie stark beeinflusste – GovernanceForschung auch daran interessiert, bestimmte funktionale Defizite von GovernanceRegimen zu identifizieren, um sie letztlich bewerten und effizienter gestalten zu können. In diesem Sinne trägt die GovernanceForschung wesentlich zur Bereitstellung des bereits eingangs angesprochenen „technischen Verfügungswissens“ (BLOTEVOGEL 2003:30) bei, welches in der Politikberatung gefragt ist und in der Praxis vielfach zur Anwendung kommt. Da ihre Forschungsergebnisse also häufig in politischen Handlungsempfehlungen münden, trägt die gegenwärtige GovernanceForschung nicht selten in affirmativer Weise zum Gelingen von spezifischen GovernanceRegimen bei. Akzeptiert man die bisherigen Ausführungen zu den Hauptlinien und dem Selbstverständnis der GovernanceForschung, so ist ein erster wichtiger Hinweis auf die bislang eher verhalten ausfallende Kritik am Konzept und an der Praxis der Metropolregionen in Deutschland gegeben. Gerade weil die gegenwärtige GovernanceForschung weniger an der gesellschaftskritischen Analyse, sondern vielmehr an der Verbesserung von metropolregionalen GovernanceRegimen interessiert ist, trägt sie nur selten zur Bereitstellung von „kritischem Reflexionswissen“ (BLOTEVOGEL 2003:30) über den deutschen Metropolisierungsprozess bei. Zudem scheinen eine Reihe weiterer und sich aus dem oben skizzierten Forschungsprogramm der GovernanceForschung ergebenden Analysedefizite dafür zu sprechen, diese Forschungsperspektive im Falle einer kritischen Auseinandersetzung mit den Metropolregionen in Deutschland abzulehnen. Um welche Aspekte es sich dabei handelt, soll im nachstehenden Abschnitt zu den zentralen Defiziten der GovernanceForschung erörtert werden.

3.2 Zentrale Defizite der GovernanceForschung Zugegeben: Mit Blick auf das oben skizzierte Forschungsprogramm kann man den Eindruck gewinnen, die gegenwärtige GovernanceForschung verfüge über ein erstaunliches Analyse- und somit auch Erkenntnispotenzial. Und tatsächlich: Wie kaum eine andere Perspektive vermag die GovernanceForschung spezifische Formen, Mechanismen und Wirkungsweisen zur Bewältigung von Interdependenzen in, auf und zwischen gesellschaftlichen Funktionsbereichen sowie Maßstabsebenen zu analysieren und zu bewerten. Gleichwohl dürfen bei all den Analyse- und Erkenntnismöglichkeiten nicht die Schwächen und Grenzen der GovernanceForschung ausgeblendet werden (vgl. VON BLUMENTHAL 2005; BENZ ET AL. 2007b). Hierzu gehört in erster Linie die Förderung einer makrogesellschaftlichen und strukturfunktionalistischen Argumentation, die zum einen aus den theoretischen

Wissenschaftliche Erörterungen von Metropolregionen

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Anleihen und zum zweiten aus der Fokussierung auf die Funktionsweise diverser GovernanceRegime resultiert. Darüber hinaus zeigt sich aber auch, dass die gegenwärtige GovernanceForschung Defizite in der mit ihr verbundenen Betrachtung der Akteursebene, der GovernanceGenese sowie der für Geographen wichtigen Raumfrage aufweist. Makrogesellschaftliche Argumentation: In konkreter Auseinandersetzung mit den zentralen Defiziten der GovernanceForschung ist zunächst festzuhalten, dass es sich hierbei um keine eigenständige Theorie, sondern in erster Linie um eine Forschungsperspektive handelt (BENZ ET AL. 2007b:16). Dem damit verbundenen Anspruch eines theoretischen Unterbaus wird die GovernanceForschung durch die Einbeziehung institutionalistischer (SCHIMANK 2007b), organisationstheoretischer (SCHIMANK 2007c), regimetheoretischer (LIST 2007) und vor allem regulationstheoretischer (SIMONIS 2007; vgl. JESSOP 1997, 2002) Theorieansätze gerecht. Es versteht sich von selbst, dass ein derartiger Theorieimport auch mit zahlreichen Konsequenzen verbunden ist. So hat gerade der Einbezug der regimeund regulationstheoretischen Ansätze zur Folge, dass sich die GovernanceForschung vorzugsweise auf das Feld der makrogesellschaftlichen Erklärungsmuster begibt. Der Aspekt der makrogesellschaftlichen Argumentation wird deutlicher, wenn wir uns noch einmal die von der britischen Staatstheorie BOB JESSOPS stark beeinflusste GovernanceForschung vergegenwärtigen (vgl. Abschnitte 1.1–1.3). Wie wir gesehen haben, konzentriert sich BOB JESSOP vorzugsweise auf die raumzeitlich hegemonialen Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung und versucht, Aussagen über deren Funktionsweise und (Fehl-)Wirkungen zu treffen (Stichwort: „Erosion“ einer spezifischen gesellschaftlichen Ordnung). Damit besitzt sein Ansatz eine besondere Erklärungskraft für makrogesellschaftliche Zusammenhänge, weshalb er zum Zwecke einer diagnostischen Annäherung auch für die vorliegende Arbeit gewählt wurde. Demgegenüber bleiben BOB JESSOPS Arbeiten aber relativ blind hinsichtlich der alltäglichen Praktiken von politischen Akteuren (GovernanceEliten) und tragen somit nicht unmittelbar zum Verstehen von Prozessen auf der mikrogesellschaftlichen Ebene bei. Strukturfunktionalistische Argumentation: Die daran anknüpfende Behauptung, die GovernanceForschung unterliege strukturalistischen Erklärungsmustern, kann mit einem Verweis auf ihr Selbstverständnis untermauert werden. So haben die weiter oben getätigten Ausführungen zum Programm der GovernanceForschung gezeigt, dass sie sich in erster Linie auf die Gestaltungslogiken von GovernanceRegimen konzentriert. Problematisch an dieser Forschungskonzeption ist, dass sie Gefahr läuft, den abstrakten GovernanceRegimen eine konstitutive Rolle bei der Produktion der Gesellschaft beizumessen. Hiernach würden die abstrakten GovernanceRegime quasi „hinter dem Rücken“ der daran beteiligten Akteure operieren und die politischen Handlungen Einzelner tendenziell in den Hintergrund rücken (BENZ ET AL. 2007b:19). Neben dieser tendenziellen „Unterbelichtung der Akteursebene“ (BENZ ET AL. 2007b:19), bei der die Akteure „nicht als das wahre Agens der von ihnen ausgeführten Tätigkeiten betrachtet“ werden (WERLEN 2007a:220), kann auch die funk-

74

Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

tionalistische Argumentation der gegenwärtigen GovernanceForschung moniert werden. Diese Behauptung kann ebenfalls mit einem Verweis auf das Forschungsprogramm begründet werden, in welchem explizit nach dem Funktionieren der diversen GovernanceRegime gefragt wird. Dabei ist nicht nur die Leistung der diversen GovernanceRegime von den Leistungen der einzelnen institutionellen und organisationalen Arrangements abhängig. Vielmehr stehen auch die diversen GovernanceRegime in einem Funktionszusammenhang mit der Gesellschaft und werden so auf ihre Leistungsfähigkeit hin überprüft (beispielsweise die GovernanceRegime einzelner Metropolregionen in Hinblick auf die Sicherung der „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“ Deutschlands). Ausblendung zeitlicher Aspekte: Teilt man die bisherige Einschätzung, wonach die gegenwärtige GovernanceForschung aufgrund ihres Selbstverständnisses und auferlegten Forschungsprogramms tendenziell makrogesellschaftlich und strukturfunktionalistisch argumentiert, so kann man auch deren Fokussierung auf die „geronnenen Strukturen“ der GovernanceRegime kritisieren. Obwohl viele Analysen die Dynamik- und Prozessdimension von GovernanceRegimen berücksichtigen, bleiben sie dennoch weitgehend blind gegenüber deren machtgeladener und häufig konfliktreicher Entstehung. Bedenkt man aber, dass viele GovernanceRegime nicht entstanden sind, „um bestimmte Zwecke und Funktionen zu erbringen, sondern oftmals auch das Ergebnis der Improvisation, des Experimentierens und der stetigen Modifikation durch die beteiligten Akteure“ (BENZ ET AL. 2007b:19) sind, ist die Ausblendung der Genese, Reproduktion oder Transformation von GovernanceRegimen mit zahlreichen Erkenntnisdefiziten verbunden. Mehr noch: Die Analysen werden sogar a-historisch, wenn man die Pfadabhängigkeit und die Politikentwicklung von GovernanceRegimen nicht mit berücksichtigt. Insofern erweist sich die Vernachlässigung zeitlicher Aspekte für die gegenwärtige GovernanceForschung als denkbar kontraproduktiv. Sie vergibt sich die Chance, die spezifischen GovernanceRegime der Gegenwart aus den vielfältigen Interdependenzen und politischen Entscheidungen der Vergangenheit heraus zu verstehen sowie die Handlungsziele und Möglichkeiten der politischen Akteure entlang eines historischen Entwicklungspfades nachzuvollziehen. Die Konzentration auf derartige Sachverhalte wäre vor allem dahingehend interessant, wenn verschiedene Entwicklungspfade möglich („Mehrpfadigkeit“; vgl. BATHELT & GLÜCKLER 2003:199) und so alternative GovernanceRegime denkbar gewesen wären. Würde die GovernanceForschung also getreu dem Motto „alles hätte auch ganz anders kommen können“ analysieren, so könnte sie auch einen wichtigen Beitrag hinsichtlich der Frage nach dem Zustandekommen bestimmter hegemonialer Ordnungsstrukturen leisten. Problematisches Raumverständnis: Interessanterweise steht die gegenwärtige sozialwissenschaftliche GovernanceForschung aber nicht nur in Bezug auf die weitgehende Ausblendung zeitlicher Aspekte in der Kritik. Folgt man den wenigen aktuellen Studien zum „spatial turn“ in der GovernanceForschung, so lässt sie auch Fragen hinsichtlich des für Geographen wichtigen Raumverständnisses offen (FEDERWISCH 2010b; vgl. WISSEN ET AL. 2008). Zwar erweckt die GovernanceFor-

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schung mit ihrer Rede von Local-, Metropolitan-, Regional- oder gar GlobalGovernance auf den ersten Blick den Eindruck, eine raumsensitive Forschungsperspektive einzunehmen. Bei genauerer Betrachtung der Literatur drängt sich jedoch ein Eindruck auf, den viele Geographen auch für andere Disziplinen gewonnen haben (vgl. HARD 2008; REDEPENNING 2008; WERLEN 2008b; LIPPUNER 2008; LOSSAU & LIPPUNER 2004): Dies ist die unnötige Engführung der Analysekategorie des „Raumes“ auf ihre Maßstäblichkeit, durch die wichtiges Erkenntnispotenzial verloren geht. Mit anderen Worten: Der in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen GovernanceForschung vollzogene „spatial turn“ neigt zweifelsohne zur horizontalen und flächigen „Verräumlichung des Gesellschaftlichen“ (vgl. WERLEN 2009). Gemäß dieser Lesart findet Governance „im Raume“ statt bzw. lassen sich GovernanceStrukturen, GovernanceProgramme; GovernanceProzesse und letztlich auch GovernanceRegime auf einer lokalen, (metropol-)regionalen, nationalen oder gar globalen Maßstabsebene beobachten. In der Konsequenz tritt die Idee von der alltäglichen Konstruktion des „Raumes“ hinter die Idee der unhinterfragten Existenz des „Raumes“ zurück. Da diese Interpretation jedoch nicht mehr mit einer aufgeklärten und konstruktivistisch angelegten Geographie einhergeht, kann der GovernanceForschung ein „sorglos-uninformierter“ (DÖRING & THIELMANN 2008:34) Umgang mit der Raumfrage attestiert werden.24 Ausblendung von Weltbildern: Angesichts dieser für viele Geographen unbefriedigenden Beantwortung der Raumfrage ist es nicht verwunderlich, dass die Analyse der Bedeutung und der alltäglichen Formierung von sozial-kulturellen und mentalen „Räumlichkeiten“ von der GovernanceForschung quasi ausgeblendet wird. Da sie sich vorzugsweise auf Formen und Mechanismen der Regelung kollektiver Sachverhalte und auf die Funktionsweise dieser „geronnenen Strukturen“ konzentriert, bleiben Fragen nach der Konstitution und politischen Rolle von Weltbildern bzw. „Geographischen Imaginationen“ (GREGORY 1994) außen vor. Dies scheint jedoch gerade vor dem Hintergrund der Bedeutung raumbezogener Identitäten und Identitätspolitiken (WEICHHART 1990; FEDERWISCH 2008a, b, 2009b) besonders bedenkenswert. Oft genug zeigt sich, dass die politischen Akteure die raumbezogenen Identitäten zu Legitimationszwecken einfordern und somit in die politischen Strategien der GovernanceRegime integrieren (FEDERWISCH 2008a, b, 2010c). Will man also untersuchen, wie sich GovernanceRegime sich selbst und anderen gegenüber rechtfertigen oder weshalb kollektive Regelungsversuche nicht erfolgreich sind bzw. sich gar nicht erst realisieren lassen, so muss man auch die sozial-kulturelle und mentale Dimension von „Raum“ mit in den Blick nehmen. 24

In der Geographie haben sich in den letzten Jahren zwei Metaphern durchgesetzt, die auf die verkürzte Beantwortung der Raumfrage hinsichtlich ihrer Maßstäblichkeit rekurrieren. Dies ist zum einen die Rede von der „territorial trap“ (AGNEW 1994), die sich vor allem in den Bereichen der englischsprachigen Politischen Geographie und Critical Geopolitics durchgesetzt hat. Dies ist zum zweiten die Rede von der „Raumfalle“ (LOSSAU & LIPPUNER 2004), die repräsentativ für die deutschsprachige Kritik am Raumverständnis vieler selbsterklärter „Raumwissenschaften“ ist (vgl. DÖRING & THIELMANN 2008; GÜNZEL 2009).

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Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

Es ist auch für die GovernanceForschung wichtig, Fragen nach der Konstruktion und Abstimmung von identitätsrelevanten Weltbildern, Deutungsmustern und Sinnvorstellungen mit in ihr Forschungsprogramm zu integrieren. Zwar wird von Seiten zentraler Vertreter der deutschsprachigen GovernanceForschung bereits eindrücklich darauf hingewiesen, dass GovernanceRegime nicht nur „aus formalisierten oder informellen Koordinationsmustern zwischen Staat und Gesellschaft [bestehen], sondern […] auch geteilte Deutungsmuster und Sinnvorstellungen und damit eine ideelle Ebene [voraussetzen]“ (BENZ ET AL. 2007b:19).

Jedoch bleiben derartige Aufrufe zumindest für die im Rahmen der GovernanceForschung vorgenommenen Untersuchungen zu den Metropolregionen in Deutschland noch weitgehend ungehört, so dass die Beantwortung der Frage nach der Konstruktion und Abstimmung von Weltbildern und Deutungsmustern weiterhin offen ist. Die sich im direkten Anschluss an die zuletzt erörterten Defizite der GovernanceForschung anknüpfende Frage bringt nunmehr die (deutschsprachige) Geographie auf die Agenda. Konkret heißt das: Welchen Beitrag leistet die Geographie zur Erforschung metropolregionaler Wirklichkeiten und worin liegt der Mehrwert der geographischen Perspektive im Vergleich zu der als problematisch erachteten Konzeption der GovernanceForschung? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass sich nicht die Geographie im Allgemeinen, sondern bislang hauptsächlich der Zweig der raumwissenschaftlichen Geographie an der Diskussion um Metropolregionen beteiligt hat (vgl. Abschnitt 2.2). Ziel der nachstehenden Ausführungen ist es demnach, das Vorgehen der deutschsprachigen Raumwissenschaft zu ergründen und sie hinsichtlich ihres Mehrwertes zur Erforschung der „Europäischen Metropolregionen in Deutschland“ zu befragen.

3.3 Renaissance der Raumwissenschaft Beginnen wir auch hier – ganz ähnlich wie im zuvor geschilderten Fall der GovernanceForschung – mit einer kurzen fachhistorischen Einbettung des raumwissenschaftlichen Zweigs der Geographie. Dieses Vorgehen kann uns nämlich dabei helfen, das Selbstverständnis sowie die damit verbundenen Erkenntnismöglichkeiten dieser wichtigen geographischen Forschungsperspektive zu ergründen. Wie sich zeigen wird, vertrat die in Abgrenzung zur traditionellen Geographie entstandene raumwissenschaftliche Geographie zwischenzeitlich einen paradigmatischen Führungsanspruch, für den sie in der jüngeren Vergangenheit vor allem von Seiten einer sozialtheoretisch aufgeklärten Geographie kritisiert worden ist (vgl. WEICHHART 2008). Doch getreu der alltagsweltlichen Erkenntnis „Totgesagte leben länger“ findet die Raumwissenschaft trotz aller Kritik im Zusammenhang mit dem deutschen Metropolisierungsprozess ein revitalisierendes Tätigkeitsfeld, sodass neuerdings von einer Renaissance der Raumwissenschaft gesprochen werden kann (vgl. FEDERWISCH 2009b).

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Traditionelle Geographie: Disziplingeschichtlich betrachtet formiert sich der raumwissenschaftliche Zweig der Geographie in Opposition zum traditionellen Verständnis der Disziplin: dem landes- und länderkundlichen Schema der geographischen Forschung (WERLEN 2007a, 2008a, 2010a). Dieses in erster Linie von ALFRED HETTNER (1907, 1924) in seinem zweibändigen Werk zu den „Grundzügen der Länderkunde“ entwickelte Verständnis hatte im Kern zum Ziel, den individuellen Charakter einer Landschaft bzw. eines Landes zu beschreiben und mit Hilfe von geographischen Methoden (beispielsweise der Kartographie) möglichst detailgetreu darzustellen. Dabei wurden Landschaften und Länder als einmalige und in sich geschlossene Konfigurationen der natürlichen Geofaktoren (Atmo-, Hydro-, Litho-, Pedosphäre) sowie der anthropogenen Einflüsse (Politik, Wirtschaft etc.) begriffen. Folgt man den Vertretern der traditionellen Geographie, war das Forschungsprogramm durch folgende Sequenz geprägt: Das Erscheinungsbild einer bestimmten Landschaft wird durch ihre natürlichen Grundlagen bestimmt; der menschliche Faktor führt zu unverwechselbaren Kulturlandschaften. Ein Land setzt sich wiederum aus einer Vielzahl von (Kultur-)Landschaften zusammen, die zu einem homogenen Ganzen verschmelzen und von den Geographen als „NaturKultur-Symbiosen“ zu entschlüsseln sind. Dieses geographische Grundverständnis der Erkundung von in sich geschlossenen Landschaften und Ländern hat das disziplininterne, aber auch das politische und wirtschaftliche Denken bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bestimmt. Es vermochte nicht nur – wie es in der klassischen Bildung formuliert wurde – den „gesunden Menschenverstand […] aufzuhellen“ (IMMANUEL KANT), sondern auch zu konkreten Geopolitiken anzustiften (SCHULZ 1980; REUBER & WOLKERSDORFER 2001). Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das landschafts- und länderkundliche Grundverständnis der Geographie sowohl für seinen vorwissenschaftlichen, da beschreibenden Charakter als auch für seine politische, da legitimierende Verwendung in der Geopolitik kritisiert. Im Zuge dessen etablierte sich ab den 1960er Jahren ein neues Verständnis von der Geographie als eine wissenschaftliche Disziplin zur Erforschung des „Raumes“, wobei die distanzabhängigen sozialen und räumlichen Beziehungen im Zentrum des Interesses standen. Geographie als Raumwissenschaft: Mit der Etablierung der Geographie als Raumwissenschaft per exellence (vgl. WERLEN 2009) stand nicht mehr die Beschreibung von Landschaften und Ländern im Vordergrund. Folgt man dem Raumwissenschaftler DIETRICH BARTELS (1968), so galt es nunmehr, die erdoberflächlichen Verbreitungs- und Verknüpfungsmuster zu erforschen sowie Kausalerklärungen des erdräumlichen Gesamtmusters aufzudecken („spatial approach“: Suche nach räumlichen Erklärungen und Ableitung von räumlichen Gesetzmäßigkeiten, Darstellung der räumlichen Ordnung). Die durch neue Mess- und Verarbeitungsmethoden begünstigte Erarbeitung raumbezogener Daten bildete wiederum die Grundvoraussetzung für die sach- und raumbezogene Klassenbildung (SEDLACEK 1978, 1998). Die Aufgabe der raumwissenschaftlichen Geographie bestand somit darin, Erkenntnisse über die gesetzmäßigen sozialen und räumlichen Beziehungsmuster zur Begründung und Konstruktion unterschiedlicher Raumeinheiten zur Verfügung zu stellen (vgl. WERLEN 2008a:183–214).

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Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

Da man terminologisch inzwischen von „Landschaften“ und „Ländern“ zu „Regionen“ übergegangen war, wurde die wissenschaftliche Produktion von Raumeinheiten als „Regionalisierung“ bezeichnet (vgl. Werlen 2007a). In der Folge wurden nun beispielsweise Industrie- und Erholungsregionen, aber auch strukturstarke und strukturschwache Regionen identifiziert und in ihrer prozessualen Dynamik analysiert. Damit konnte die raumwissenschaftliche Geographie einen zunehmend fundierten Beitrag zur deutschen Raumplanung leisten sowie Prognosen zur Raumentwicklung ermöglichen. Sie begann, wichtiges „technisches Verfügungswissen“ (BLOTEVOGEL 2003:30) bereit zu stellen, dessen beständige Generierung nunmehr durch diverse universitäre und/oder außeruniversitäre (Forschungs-)Institute gewährleistet wurde. An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis konnte sich die Geographie als wichtige beratende Disziplin etablieren. Sozialwissenschaftliche Wende: Angesichts des rasanten Bedeutungsgewinns der Geographie für die politische und planerische Praxis entwickelten nicht wenige Geographen zunehmend eine Ablehnung gegenüber der raumwissenschaftlich ausgerichteten Geographie. So wurde zunächst im angelsächsischen und später auch im deutschsprachigen Bereich moniert, dass sich die Raumwissenschaft in eine zunehmende Abhängigkeit von den Auftraggebern ihrer Forschung begeben und demzufolge eher affirmativ denn kritisch argumentieren würde. Untermauert wurde diese Kritik durch den Verweis auf eine fehlende konsistente theoretische Basis sowie den Zweifel an der Aufdeckung räumlicher Gesetzmäßigkeiten als oberstes Erkenntnisziel der Forschung. Nicht zuletzt wurde kritisiert, dass die raumwissenschaftliche Geographie einer nicht mehr zeitgemäßen positivistischempiristischen Methodologie folgte und sich aufgrund der quantifizierenden Forschungsweise von den Erkenntnispotenzialen der Sozialwissenschaften entfernt hatte (vgl. WERLEN 2007a, 2008a).25

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Zu den zentralen Dokumenten einer sozialwissenschaftlich aufgeklärten Geographie gehören die im angelsächsischen Kontext entstandenen Arbeiten der Humanistic Geography (Protagonisten: ANNE BUTTIMER, YI-FU TUAN, DAVID LEY oder NICOLAS ENTRIKIN), der Critical Geography (Protagonisten: DAVID HARVEY, DOREEN MASSEY, EDWARD SOJA, JOHN PICKLES oder THEODORE SCHATZKI) sowie der Critical Human Geography (Protagonisten: DEREK GREGORY, ALAN PRED oder NIGEL THRIFT). Diese Arbeiten eint die Kritik am so genannten „spatial approach“, welcher sich vordergründig mit der Darstellung der räumlichen Ordnung mit Hilfe von statistischen Methoden, der Suche nach räumlichen Erklärungen sowie der Ableitung von räumlichen Gesetzmäßigkeiten beschäftigt. Dabei wird – so die Kritik einer sozialwissenschaftlich gewendeten Geographie – der sozialen Konstruiertheit von „Räumen“ nur eine marginale Bedeutung zugewiesen und die Geographie auf ihre Rolle zur Bereitstellung von Verfahren und Techniken zur Untersuchung von räumlichen Phänomenen reduziert (vgl. WERLEN 2009). Diese Kritik teilen auch die in der Tradition der Critical Geography stehenden Vertreter der Scale-Debatte (Protagonisten: PETER TAYLOR, NEIL SMITH, NEIL BRENNER, ERIC SWYNGEDOUW, GORDON MACLEOD oder MARTIN JONES). In ihren Arbeiten setzen sie sich ebenfalls mit der alltäglichen Konstitution und Veränderung von „Raum“ auseinander und fragen nach dem Gebrauch von „Raum“ zur Durchsetzung bestimmter politischer Absichten (Politics of Scale) (vgl. WISSEN ET AL. 2008).

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Abbildung 22: Entwicklungslinien der Sozialgeographie Quelle: WEICHHART 2008:107

Die in Alternative zur Raumwissenschaft entwickelten Konzepte haben ein vielfältiges Gesicht und lassen sich nicht auf eine einzelne Theorietradition beschränken (Abbildung 22). So beziehen sie ihre theoretische Basis aus marxistischen, strukturations- und handlungstheoretischen etc. Ansätzen der sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Im Vergleich zur Raumwissenschaft ist diesen Ansätzen allerdings gemeinsam, dass sich ihr Erkenntnisinteresse nicht mehr auf kausallogische Erklärungen von erdräumlichen Verteilungs- und Verknüpfungsmustern beschränkt und sie ihre Forschungsergebnisse nicht zwingend in ein politischökonomisches Verwertungsinteresse stellen. Im Gegenteil: Das Hauptaugenmerk der sozialwissenschaftlich aufgeklärten Ansätze liegt vielmehr in der verstehenden (hermeneutischen) Durchdringung alltäglicher Geographien des Menschen, wobei sie in häufig sozial-konstruktivistischer sowie dekonstruktivistisch-ideologiekritischer Manier danach fragen, wie „Räume“ in alltäglicher politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, medialer und/oder religiöser Praxis konstruiert und reproduziert werden (vgl. WERLEN 2008a, 2009). Zwischenfazit: So gesehen könnte die in Kurzform dargestellte Trias der geographischen Forschung die Vermutung nahe legen, dass die zwischenzeitlich als ein zentrales Paradigma der geographischen Forschung gehandelte Raumwissenschaft nun durch sozialwissenschaftliche Ansätze verdrängt worden sei. Sie könnte den Eindruck verstärken, dass sich die Geographie gegenwärtig von ihrer Rolle als beratende Disziplin gelöst hat und sich nunmehr ausschließlich für die Erzeugung von „kritischem Reflexionswissen“ (BLOTEVOGEL 2003:30) interessiert. Bei genauerer Betrachtung scheint jedoch genau das Gegenteil der Fall zu sein: So wird in

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dieser Arbeit behauptet, dass der – durch die sozialwissenschaftlich aufgeklärten Ansätze bestenfalls zwischenzeitlich geschwächte – raumwissenschaftliche Zweig der Geographie derzeit eine bemerkenswerte Renaissance erlebt. Diese Annahme begründet sich nicht zuletzt mit der Einführung des Konzeptes der Metropolregionen, das erstens einer konzeptionellen Vergewisserung (Abschnitt 2.2) und zweitens einer empirischen Untermauerung bedurfte. Konkret: Mit der Einführung des Konzeptes der Metropolregionen wurde in Deutschland zwar eine diffus abgegrenzte (Abschnitt 2.3), aber dennoch raumordnungspolitisch gewollte Maßstabsebene zur strukturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes eingeführt. Vor dem Hintergrund einer nunmehr metropolregionalen Struktur- und Wirtschaftsentwicklung benötigte man eine entsprechende Datenbasis, mit deren Hilfe sich erst klare politische Zielvorstellungen formulieren und konkrete Handlungskonzepte erstellen lassen konnten. Für die meisten Metropolregionen konnte diese Datenbasis jedoch nicht vorausgesetzt werden, handelte es sich doch um neue Raumkonzepte, welche die bestehenden politischen und planerischen Zuständigkeiten vielfach überschritten und demzufolge auch quer zu den amtlichen Statistiken lagen. In der Konsequenz bedurfte es von Beginn an einer kontinuierlichen Produktion fundierter metropolregionaler Daten, wobei der geographische Zweig der Raumwissenschaft a) das begriffliche Instrumentarium (Abschnitt 2.2), b) das methodische Repertoire raumbezogener Analysen sowie c) zahlreiche empirische Befunde bereitgestellt hat (FEDERWISCH 2009a). Demgemäß wurde mit der Einführung des Konzeptes der Metropolregionen nicht der sozialwissenschaftlich aufgeklärte Zweig der Geographie, sondern vielmehr die Raumwissenschaft als Produzent von spezifisch metropolregionalen Daten protegiert. Genauer: Der raumwissenschaftliche Zweig der Geographie nimmt eine herausgehobene Stellung beim Aufdecken, Abbilden und Bewerten von Verteilungs- und Verknüpfungsmustern – oder besser: bei der Quantifizierung, Sichtbarmachung und Evaluierung der funktionalen Ausstattungsmerkmale sowie intraund interregionalen Verflechtungsbeziehungen ein. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Metropolregionen zum Teil über sehr verschiedene funktionale Ausstattungsmerkmale sowie interne und externe Verflechtungsbeziehungen verfügen (vgl. BBR 2005a; BAUMHEIER 2007; MIOSGA & SALLER 2007; IKM 2006, 2007; LUDWIG ET AL. 2008). Damit leistet die Raumwissenschaft einen wichtigen Beitrag, um die aktuellen Entwicklungsstände und -möglichkeiten der deutschen Metropolregionen zu ergründen. Mehr noch: Die Generierung dieser Daten bildet schließlich die Voraussetzung für vergleichende Analysen, mit deren Hilfe die raumwissenschaftliche Forschung auch einen Beitrag zur Bestimmung der regionalen „Metropolität“ (BLOTEVOGEL & SCHULZE 2009:30) zu leisten vermag. Dabei geht es nicht selten um die vergleichende Einschätzung und Bewertung von metropolregionalen Stärken, Schwächen und Potenzialen mittels SWOT-Analysen sowie um eine darauf aufbauende Positionsbestimmung in einem Standort-Ranking (Benchmarking der Metropolregionen). Abbildung 23 repräsentiert ein solches Standort-Ranking, welches vom Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) für die

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Metropolregionen in Deutschland im Allgemeinen und die vom Zerbrechen bedrohte Metropolregion Rhein-Ruhr im Besonderen erarbeitet worden ist (vgl. Abschnitt 2.4). Ein genauerer Blick auf dieses Standort-Ranking verdeutlicht, dass zum einen die Metropolität der einzelnen Metropolregionen in Deutschland bestimmt und zum zweiten die in Teilräume zergliederte Metropolregion RheinRuhr vergleichend eingeordnet wurde. Es versteht sich von selbst, dass mit derartigen Standort-Rankings nicht nur ein rein wissenschaftlicher Erkenntniszweck verbunden sein muss. Vielmehr kann eine solche Darstellung auch für die politische Meinungs- und Entscheidungsbildung herangezogen werden und die Notwendigkeit einer zu revitalisierenden Metropolregion Rhein-Ruhr untermauern. Metropolraum 1. RR 2. RRL 3. TM EKF IWF GF Rhein-Ruhr 15,09 23,86 13,45 13,28 Berlin 12,06 12,06 12,06 11,90 11,74 9,82 München 11,33 11,33 11,33 8,40 12,95 11,39 Köln/Bonn (+Düsseldorf) 10,80 6,75 10,24 (18,11) 5,48 (8,64) 6,35 (9,72) Frankfurt/Rhein-Main 9,88 9,88 9,88 8,77 8,32 11,77 Hamburg 5,97 5,97 5,97 5,03 5,74 6,18 Stuttgart 5,68 5,68 5,68 6,24 8,33 3,16 HBGW 4,99 4,99 4,99 4,91 5,56 4,46 Ruhrgebiet 4,29 4,29 5,33 4,84 3,56 Sachsendreieck 4,19 4,19 4,19 2,82 5,44 3,05 Düsseldorf (nur 3.TM) 4,05 7,87 3,16 3,37 Rhein-Neckar 2,22 2,22 2,22 1,14 3,95 1,39 Nürnberg 1,96 1,96 1,96 1,37 2,46 1,83 Bremen-Oldenburg 1,77 1,77 1,77 1,79 2,04 1,48 Abkürzungen: RR: Rhein-Ruhr | RRL: Ruhrgebiet-Rheinland | TM: TripelMetropolis | EKF: Entscheidungs- und Kontrollfunktion | IWF: Innovations- und Wettbewerbsfunktion | GF: Gatewayfunktion

Abbildung 23: Metropol- und Funktions-Indizes der deutschen Metropolräume Quelle: verändert nach DANIELZYK ET AL. 2008:554

Teilt man die bisherigen Ausführungen zu dem Selbstverständnis der Raumwissenschaft, so ist ein weiterer wichtiger Hinweis auf die bislang eher verhalten ausfallende bzw. noch ausbaufähige Kritik am Konzept und an der Praxis der Metropolregionen in Deutschland gegeben. Gerade weil die vom gegenwärtigen Aufmerksamkeitsschub profitierende Raumwissenschaft weniger an der gesellschaftskritischen Analyse, sondern vielmehr an der datenmäßigen Unterfütterung von Metropolregionen interessiert ist, trägt sie nur selten zur Bereitstellung von „kritischem Reflexionswissen“ (BLOTEVOGEL 2003:30) über den deutschen Metropolisierungsprozess bei (zu den kritischen raumwissenschaftlichen Beobachtern der Metropolregionen gehören insbesondere SCHMITT 2006, 2007; PETRIN & KNIELING 2009; PASSLIK & PROSSEK 2010). Zudem scheinen eine Reihe weiterer und im Kontext der oben skizzierten sozialwissenschaftlich aufgeklärten Geographie erarbeiteten Kritikpunkte dafür zu sprechen, diese Forschungsperspektive im Falle einer kritischen Auseinandersetzung mit den Metropolregionen in Deutschland abzulehnen. Um welche Aspekte es sich dabei handelt, soll im nachstehenden Abschnitt zu den zentralen Defiziten der Raumforschung erörtert werden.

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3.4 Zentrale Defizite der Raumwissenschaft Bevor jedoch auf zentrale Defizite der Raumwissenschaft eingegangen wird, soll im Sinne einer kritischen Würdigung zunächst festgehalten werden, dass die Raumwissenschaft durchaus zu unserem Wissen über Metropolregionen im Allgemeinen und bestimmte Metropolisierungsphänomene im Besonderen beigetragen hat. Betrachtet man nämlich die im Zuge der Einführung der Metropolregionen entstandenen raumwissenschaftlichen Studien, so erhält man zahlreiche Informationen über die vielfältigen strukturellen Aspekte und funktionalen Verflechtungen innerhalb und zwischen den einzelnen planerischen Raumkonzepten. Darüber hinaus ist auch aus der Sicht einer kritisch konzipierten Geographie festzuhalten, dass nicht wenige der gegenüber dem klassischen raumwissenschaftlichen Forschungsprogramm geäußerten Kritiken nicht mehr zwangsläufig für die gegenwärtigen Forschungen zu den Metropolregionen angebracht werden können (vgl. Abschnitt 3.3). So vertritt die raumwissenschaftliche Forschung zu den Metropolregionen beispielsweise nicht mehr den Anspruch, „Kausalerklärungen des erdräumlichen Gesamtmusters einer Gesellschaft“ (WERLEN 2008a:212) aufdecken oder diese gar in einer „umfassenden Raumtheorie“ abbilden zu wollen (WERLEN 2008a:213; vgl. auch WERLEN 2007a: 54–62, 2010a, b). Nichtsdestotrotz kann man auch der gegenwärtigen raumwissenschaftlichen Forschung zu den Metropolregionen in Deutschland einige blinde Flecken attestieren, die erstaunliche Ähnlichkeit mit den Defiziten der weiter oben geschilderten GovernanceForschung aufweisen (vgl. Abschnitt 3.2). Im Zentrum der Kritik steht zum einen ihre Fokussierung auf makrogesellschaftliche Zusammenhänge sowie ihre grundsätzlich raumzentrierte Argumentationsrichtung. Darüber hinaus steht für viele Kritiker der Raumwissenschaft auch die Beantwortung der Raumfrage im Vordergrund, die noch viel zu selten ein sozial-konstruktivistisches Raumverständnis erkennen lässt. Neben diesen zentralen Kritikpunkten werden von den Kritikern zudem methodische Schwierigkeiten bei der raumwissenschaftlichen Erforschung von Metropolregionen genannt, die insbesondere die Quantifizierung der strukturellen und funktionalen Indikatoren betreffen. Da die raumwissenschaftlichen Forschungsergebnisse ungeachtet der damit einhergehenden begrenzten Aussagekraft in der politischen Beratung zum Einsatz kommen, kann in dieser Arbeit auch deren aktuell zu verzeichnendes politökonomisches Verwertungsinteresse kritisch hinterfragt werden. Makrogesellschaftliche Argumentation: Mit Blick auf die raumwissenschaftlich inspirierten empirischen Studien zu den Metropolregionen in Deutschland wird konstatiert, dass diese über eine erstaunlich schwache sozialwissenschaftliche Anbindung verfügen. So drängt sich bei genauerer Betrachtung der Eindruck auf, dass die meisten empirischen Studien mit einem bloßen Verweis auf die Erklärungsansätze für den Bedeutungsgewinn von Stadtregionen auskommen müssen und somit aus sozialwissenschaftlicher Sicht ausbaufähig wären (vgl. Abschnitt 2.1; vgl. BLOTEVOGEL & SCHULZE 2009:33). Dieser rudimentäre Theorieimport hat zur Folge, dass die empirischen Studien nicht selten auf einer makrogesellschaftlichen Diagnoseebene verharren, ohne alternative sozialwissenschaftliche Analyse-

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ansätze ernsthaft in Betracht zu ziehen. Dies betrifft insbesondere mikroanalytische Konzepte, weshalb die raumwissenschaftliche Erforschung von Metropolregionen in Deutschland aufgrund der tendenziellen Ausblendung der Akteursebene (wie zuvor schon die GovernanceForschung; Abschnitt 3.2) wichtiges epistemologisches Potenzial ungenutzt lässt. Der Eindruck von einer makrogesellschaftlichen Argumentationsweise wird zusätzlich verstärkt, wenn man sich das Forschungsprogramm der Raumwissenschaft noch einmal vergegenwärtigt. Wie wir gesehen haben, ist es neben der konzeptionellen Vergewisserung von Metropolregionen (vgl. Abschnitt 2.2) vorzugsweise an deren empirischer Untermauerung durch die Gewinnung raumspezifischer Daten interessiert (vgl. Abschnitt 3.3). Dabei ist jedoch problematisch, dass die Fokussierung auf die funktionalen Ausstattungsmerkmale sowie die intraund interregionalen Verflechtungen ausschließlich Aussagen über allgemeine (räumliche) Strukturdaten ermöglicht. Da die kartographische Aufbereitung dieser überindividuellen gesellschaftlichen Situationen zwar diverse erdräumliche Muster erkennen lässt, aber eine Antwort auf die Frage nach deren Zustandekommen schuldig bleibt, trägt schließlich auch die Visualisierung der raumwissenschaftlichen Forschungsergebnisse lediglich zur makrogesellschaftlichen Argumentationskette bei. Raumzentrierte Argumentation: Angesichts des oben skizzierten raumwissenschaftlichen Forschungsprogramms sowie der damit verbundenen Visualisierungspraktiken kann diese Forschungsperspektive auch für ihren raumzentrierten Ansatz kritisiert werden. So zeigt sich, dass die raumwissenschaftlichen Forschungen zu den deutschen Metropolregionen vordergründig an der Aufdeckung, Visualisierung und Bewertung a) erdräumlicher Verteilungen und Standortmuster politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und infrastruktureller Einrichtungen (Stichwort: Metropolfunktionen wie Entscheidungs- und Kontrollfunktion), b) erdräumlicher Verknüpfungsmuster zur Erklärung von funktionalen Beziehungen innerhalb der und zwischen den Metropolregionen (Stichwort: „spaces of flow“ wie Pendlerverflechtungen oder Informationsflüsse) sowie c) erdräumlicher Veränderungen dieser Verbreitungs- und Verknüpfungsmuster im Zeitverlauf interessiert sind. Forschungspraktisch bedeutet dies, dass die Raumwissenschaft in erster Linie eine Raumbeobachtung bzw. ein räumliches Monitoring betreibt (vgl. IKM 2006, 2007). Um Aussagen über zeitliche Veränderungen gewährleisten zu können, operiert sie häufig im Rahmen eines komplexen und auf Kontinuität ausgerichteten Raumbeobachtungssystems. Vor dem Hintergrund dieser raumzentrierten Forschungsperspektive scheint es jedoch problematisch, dass Fragen jenseits der Aufdeckung, Visualisierung und Bewertung erdräumlicher Verbreitungs- und Verknüpfungsmuster weitgehend unberücksichtigt bleiben. Daran ändert auch die Rede vom „räumlichen Handeln“, „raumbeeinflussenden Handeln“ oder dem „Handeln im Raume“ nicht viel (vgl. WERLEN 2008a), welche die Berücksichtigung der menschlichen Tätigkeiten in den wissenschaftlichen Erklärungen suggerieren. Bei genauer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass die raumwissenschaftliche Forschung zu den Metropolregionen die menschlichen Tätigkeiten als eine Dimension des Raumes behandelt und so-

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mit in einem raumzentrierten Denken verhaftet bleibt. Da die raumwissenschaftliche Forschung noch nicht die von BENNO WERLEN (2008a:279) geforderte Neuausrichtung von einer „Handlungsorientierten Raumwissenschaft“ zu einer „Raumorientierten Handlungswissenschaft“ vollzogen hat, kann sie bislang auch keinen fundierten Beitrag zur Konstitution von „Raum“ sowie zur Analyse der darin eingelagerten Probleme, Konflikte und Widersprüche leisten. Problematisches Raumverständnis: Doch selbst wenn man anerkennt, dass eine kontinuierlich raumbeobachtende Raumwissenschaft qua Definition eine Raumzentrierung vornehmen sollte, so wirkt der auch hier zu verzeichnende „sorglos-uninformierte“ (DÖRING & THIELMANN 2008:34) Umgang mit dem Forschungsgegenstand „Raum“ geradezu verstörend (vgl. Abschnitt 3.2). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich die raumwissenschaftliche Literatur in der Vergangenheit vielfach mit der Ontologie des Raumes auseinandergesetzt und zahlreiche Angebote zur Begriffsklärung von „Raum“ (oder auch „Region“) unterbreitet hat (vgl. HARD 2008; WERLEN 2009). So hat sich im Vergleich zur containerartigen Raumkonzeption der Traditionellen Geographie zwar schon vor Jahrzehnten ein „modernes“ relationales Raumkonzept durchgesetzt, wonach Raum nicht mehr als naturhaft vorgegeben und den menschlichen Handlungen vorausgehend, sondern als eine formale Konzeption verstanden worden ist. Hiernach wurde der Raum nunmehr als eine „Form der Ordnung des Nebeneinanders der Dinge über unterschiedliche Distanzen hinweg und […] als eine Konstellation von Gegebenheiten verstanden, die sich durch bestimmte Anordnungsmuster und eine Vielzahl funktionaler Verknüpfungen bzw. Relationen auszeichnen, die der vorfindlichen (strukturellen) Ordnung zugrunde liegen“ (WERLEN 2009:150).

Da aus Sicht einer sozialtheoretisch aufgeklärten Geographie (vgl. Abschnitt 3.2) jedoch zahlreiche und an anderer Stelle hinreichend ausgeführte disziplinhistorische, sozialontologische und methodologische Gründe dafür sprechen, das relationale Raumverständnis konsequent durch ein sozial-konstruktivistisches Raumverständnis zu ersetzen, muss auch das im Zuge der aktuellen raumwissenschaftlichen Renaissance zu verzeichnende Festhalten am relationalen Raumverständnis skeptisch betrachtet werden (vgl. EISEL 1980; POHL 1986; HARD 2003; WERLEN 1987, 1995, 2007a, 2009, 2010a, b). Wenngleich auch die raumwissenschaftlichen Forschungen zu den Metropolregionen in Deutschland weithin anerkennen, dass (Metropol-)Regionen von Menschen gemachte und durch physisch-materielle, mentale und sozial-kulturelle Aspekte geprägte Räume sind (Kernaussage einer sozial-konstruktivistischen geographischen Perspektive), so beschränkt sich diese Forschung aber weiterhin auf das Aufdecken, Abbilden und Bewerten struktureller und funktionaler Indikatoren der Metropolregionen. In diesem Sinne ist es auch der raumwissenschaftlichen Forschung zu den Metropolregionen ein zentrales Anliegen, gesellschaftliche Sachverhalte an ihren erdräumlichen Ort zu bringen, ihr flächenhaftes Auftreten abzubilden sowie Lagerelationen zu erklären. Damit vergibt sie sich die Chance, die alltägliche Konstitution und Revitalisierung von Metropolregionen aus den geographischen Praktiken der Menschen heraus zu verstehen.

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Methodische Schwierigkeiten: In Anbetracht der eher abstrakten Schwierigkeiten mit der makrogesellschaftlichen und raumzentrierten Argumentationsrichtung sowie der skeptischen Grundhaltung gegenüber dem Festhalten am relationalen Raumverständnis könnte man nun für die raumwissenschaftliche Forschung erwarten, dass sich zumindest auf der konkreten methodischen Umsetzungsebene die Schwierigkeiten in Grenzen hielten. Dies wäre für die raumwissenschaftliche Forschung schon dahingehend wünschenswert, da viele politökonomische Meinungs- und Entscheidungsträger ein wissenschaftlich gesichertes Wissen über die Metropolregionen zur Rechtfertigung ihrer eigenen Handlungen einfordern (vgl. Abschnitt 2.3). Bedauerlicherweise offenbaren sich jedoch auch auf der methodischen Ebene zahlreiche ernstzunehmende Probleme, welche in erster Linie die Quantifizierung struktureller und funktionaler Indikatoren sowie die Bestimmung der „Metropolität“ von Metropolregionen betreffen. Folgt man den raumwissenschaftlich arbeitenden Geographen BLOTEVOGEL & SCHULZE (2009:30–37), so können – ganz im Sinne einer Kritik am eigenen Forschungskonzept – mindestens vier zentrale (messmethodische) Problemkomplexe identifiziert werden:26 x

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Ein erstes Problem ergibt sich aus dem Umstand, dass bis heute kein einheitliches Verständnis von Metropolregionen existiert (semantisches Problem). Dies hat zur Folge, dass es in der raumwissenschaftlichen Forschung zahlreiche Diskussionen darüber gibt, was eigentlich analysiert werden soll (Stadtregion, Metropolregion, Metropole etc.) und was tatsächlich gemessen werden kann (vgl. Abschnitt 2.2). Ein zweites Problem besteht darin, dass bisher keine eindeutige und allseits geteilte territoriale Festlegung von Metropolregionen erfolgt ist (vgl. Abschnitt 2.3). Dies begründet sich mit den verschiedenartigen Abgrenzungsindikatoren (Grenzen der politischen Administration, Pendlerverflechtungen, Clustergrenzen, Kooperationsräume), was fundamentale Auswirkungen auf die Qualität der Aussagen über Metropolregionen besitzt. Ein drittes Problem besteht darin, dass es bislang keine Einigkeit über die Auswahl, Kombination und Messung der metropolregionalen Indikatoren zur Aufdeckung und Visualisierung von Strukturdaten und zur Erstellung von metropolregionalen Bewertungsindizes gibt. Darüber hinaus erweist sich die Gewinnung von Daten der amtlichen Statistik und der Umgang mit diesen Rohdaten als ausgesprochen schwierig.

„Die Popularität des Begriffs ‚Metropolregion’ steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu der Dürftigkeit unseres empirischen Wissens über die tatsächliche Metropolität der großen Städte und Stadtregionen. Während Oberbürgermeister, IHK-Präsidenten und Stadtmarketing-Experten ohne Zögern ihre Städte als ‚Metropolen‘ qualifizieren und Landstriche von der Größe ganzer Bundesländer bedenkenlos als ‚Metropolregionen‘ etikettiert werden, kann die Wissenschaft bisher nicht viel zu der Frage beitragen, was ‚Metropolität‘ ist und wie man die Metropolfunktionen von Städten und Regionen empirisch bestimmen kann“ (BLOTEVOGEL & SCHULZE 2009:30).

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Ein viertes Problem bezieht sich auf die Reliabilität der Messungen – genauer: auf die Zuverlässigkeit und Genauigkeit der Daten. Dieser Aspekt ist insofern beachtenswert, da raumwissenschaftliche Untersuchungen auch mit nichtamtlichen Datenquellen zur Analyse von intra- und interregionalen Verflechtungen und funktionalen Ausstattungsmerkmalen operieren – und diese zur Bewertung von Metropolregionen hinzuziehen.

Politökonomisches Verwertungsinteresse: Vor dem Hintergrund der oben in aller Kürze genannten messmethodischen Probleme sollten die raumwissenschaftlichen Daten zu den Metropolregionen in Deutschland nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern auch aus praktischer Sicht mit Skepsis betrachtet werden. So sollten weder die in Tabellen- oder Kartenform vorliegenden noch die in diversen Rankings (vgl. Abbildung 23) eindrucksvoll präsentierten Resultate der kontinuierlichen Raumbeobachtung dazu verleiten, darin Gewissheiten erkennen zu wollen. Insofern ist es als hochproblematisch anzusehen, dass eben diese Ergebnisse raumwissenschaftlicher Untersuchungen nicht selten von den Protagonisten der Metropolregionen mit voller Überzeugung für die Meinungs- und Entscheidungsbildung in der (Fach-)Öffentlichkeit verwendet werden. Dementsprechend stehen die zum Teil sehr aufwändig produzierten, aber wissenschaftlich hochgradig anzweifelbaren Studien in einem kritikwürdigen politökonomischen Verwertungsinteresse. Mehr noch: Die deutschsprachige Raumwissenschaft ist derzeit bestrebt, sowohl ihr begriffliches Repertoire als auch ihr methodisches Vorgehen dahingehend zu schärfen, dass zukünftige empirische Studien zu den Metropolregionen in Deutschland zum einen aussagekräftiger und zum zweiten vertrauenswürdiger werden (vgl. BLOTEVOGEL & SCHULZE 2009). Sie ist zweifelsohne daran interessiert, auch zukünftig „technisches Verfügungswissen“ (BLOTEVOGEL 2003:30) bereit zu stellen, um einen legitimierenden Beitrag zum Gelingen dieser raumplanerischen Konzeption zu leisten. Aus diesem Grund ist nicht anzunehmen, dass die deutschsprachige Raumwissenschaft eine zunehmend kritische Distanz zu den aktuell verlaufenden Metropolisierungsprozessen einnimmt. Es ist nicht zu erwarten, dass sie Einsichten hinsichtlich des empirisch nachweisbaren Phänomens der „Metropolregion 2.0“ (vgl. Abschnitt 2.4 sowie die Abschnitte 7 und 8) oder bezüglich der weiter unten ausformulierten Paradoxien der (mittel-)deutschen Metropolisierungseuphorie gewährt (vgl. Abschnitt 9 und 10).

4 Wozu Sozialgeographie?

An dieser Stelle wird behauptet, dass es einer sozialtheoretisch informierten und konstruktivistisch angelegten Geographie bedarf, um auf das Phänomen der „Metropolregion 2.0“ oder die paradoxen Erscheinungen der (mittel-)deutschen Metropolisierungseuphorie eingehen zu können. Der entscheidende Grund für diese Annahme liegt darin, dass eine so konzipierte Geographie die Existenz der Metropolregionen als neue Klammer der gesellschaftlichen Ordnung weder unhinterfragt voraussetzt noch in affirmativer Weise zu begründen oder gar zu verbessern versucht. Im Gegenteil: Sie wendet sich zum einen gegen die Vorstellung, wonach Metropolregionen lediglich als Bühne für GovernanceRegime (GovernanceForschung) oder als Container für metropolitane Ausstattungs- und Verflechtungsmerkmale (Raumforschung) interpretiert werden können. Sie interessiert sich zum zweiten für die alltägliche Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen und vermag so a) die geographischen Praktiken, b) die damit verbundenen Problem- und Konfliktkonstellationen sowie c) die Widersprüche der Metropolisierungseuphorie zu durchdringen. In diesem Sinne widmen sich die nachstehenden Ausführungen einer Geographie, die sich in den letzten Jahren den Sozialwissenschaften geöffnet und hierüber eine sozialwissenschaftliche Wende vollzogen hat. Zu diesem Zweck wird in einem ersten Schritt auf die disziplinhistorischen Hintergründe der sozialwissenschaftlichen Wende eingegangen sowie auf deren theoretisch-konzeptionelle, methodologische und methodische Konsequenzen hingewiesen (Abschnitt 4.1). In einem zweiten Schritt wird mit der handlungs- und strukturationstheoretisch ausgerichteten Geographie auf eine spezifische Forschungsperspektive eingegangen, welche das Verständnis für die alltägliche Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen schärfen kann (Abschnitt 4.2). Basierend auf diesen Ausführungen wird anschließend gezeigt, dass eine so konzipierte Geographie zahlreiche der zuvor geschilderten Defizite der GovernanceForschung und Raumwissenschaft überwinden kann und dem hier verfolgten Anspruch einer kritischen Wissenschaft gerecht wird (Abschnitt 4.3). Die abschließende Einbettung dieser kritischen Forschungsperspektive in das Feld der sozialgeographischen (WERLEN 2007a) und soziologischen Gesellschaftsdiagnose (ROSA 2005) hat zum Ziel, die Analyse der alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen für die entankerten und beschleunigten Bedingungen zu sensibilisieren sowie den Ausgangspunkt für die spätere Interpretation vorzustellen (Abschnitt 4.4).

88

Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

4.1 Geographie nach der sozialwissenschaftlichen Wende Setzt man sich zunächst mit der geographischen Forschung nach der sozialwissenschaftlichen Wende auseinander, dann ist eine disziplinhistorische Perspektive auf das sich wandelnde Selbstverständnis der Geographie für ein besseres Verständnis notwendig. So zeigt ein Blick in die Fachgeschichte, dass sich die Geographie lange Zeit als eine Wissenschaft vom „Raume“ verstanden hat und als solche auch von den Sozialwissenschaften wahrgenommen wurde. Neben den oben skizzierten disziplininternen Gründen (vgl. Abschnitt 3.3; Traditionelle Geographie als Wissenschaft der Erdbeschreibung; Raumwissenschaftliche Geographie als Wissenschaft von Raumgesetzen) geht dieses Selbstverständnis nicht zuletzt auf die von MAX WEBER geforderte Arbeitsteilung zwischen der bereits etablierten Anthropogeographie auf der einen und der aufstrebenden Soziologie auf der anderen Seite zurück. Da für MAX WEBER alle „sinnfremden Vorgänge und Gegenstände“ – zu denen ein großer Teil der erdräumlichen Manifestationen zu zählen ist – lediglich zu den Daten gehören, „mit denen zu rechnen ist“ (WEBER 1980:3), sollte der „Raum“ nicht der Gegenstand einer sozialwissenschaftlichen, sondern der geographischen Forschung sein (vgl. WERLEN 2009:142). Diese disziplinpolitisch motivierte Trennung zwischen Anthropogeographie und Soziologie hatte zur Folge, dass die Geographen nunmehr den „Raum“ und die Soziologen die „Gesellschaft“ als Forschungsgegenstände für sich proklamierten. Demgemäß mag es auch kaum verwundern, dass die auf ihren jeweiligen Positionen verharrenden Vertreter beider Disziplinen fortan nur noch spärlich aufeinander Bezug nahmen und sich nur noch selten gegenseitig befruchteten. So operierten die Geographen sowohl in der traditionellen als auch in der raumwissenschaftlichen Phase geradezu „raumversessen“, ohne dabei gesellschaftsdiagnostische oder sozialtheoretische Zusammenhänge systematisch in ihr Forschungsprogramm zu integrieren. Im Gegensatz dazu führte in der Soziologie die durch MAX WEBER legitimierte Entledigung des „Raumes“ zu einer jahrzehntelangen Abstinenz von Raumfragen, weshalb der Soziologie vielfach eine „raumvergessene“ Forschungspraxis unterstellt wurde (vgl. SCHROER 2006, 2008; DÖRING & THIELMANN 2008; WERLEN 2009). Selbstverständlich lässt sich eine solche disziplinpolitische Trennung von „Gesellschaft“ und „Raum“ bestenfalls für erdräumlich gekammerte, aber nicht mehr für globalisierte Lebensbedingungen aufrechterhalten. So beobachteten in den letzten Jahren sowohl Sozialwissenschaftler wie HENRI LEFEBVRE, MICHEL FOUCAULT oder PIERRE BOURDIEU als auch Geographen wie DAVID HARVEY, EDWARD SOJA oder BENNO WERLEN tief greifende Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die mit grundlegenden Wandelungen der raumzeitlichen Bezüge einhergehen. In einer Art „raumzeitlicher Komprimierung“ (HARVEY 1990) oder „raumzeitlicher Implosion“ (WERLEN 2008a:23) erfahren die Subjekte eine beschleunigte Verstrickung des Globalen mit dem Lokalen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die meisten Menschen nach wie vor ihr Alltagsleben in einem lokalen Kontext verbringen, denn: „Globale Prozesse äußern sich im Lokalen und sind gleichzeitig Ausdruck des Lokalen“ (WERLEN 2008a:23).

Wozu Sozialgeographie?

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Die sozialwissenschaftliche Forschung reagierte auf diese Entwicklungen, indem sie ihr Programm systematisch um raumbezogene Fragestellungen erweiterte sowie die Raumkomponente in die zeitgenössische Gesellschaftsdiagnose und Sozialtheorie integrierte. Diese Entwicklung hat den US-amerikanischen Geographen EDWARD SOJA im Jahre 1989 dazu veranlasst, von einem Spatial Turn in den Sozialwissenschaften zu sprechen, was der Geographie als „raumorientierter Wissenschaft per exellence“ (WERLEN 2009:142; vgl. SOJA 2008) zweifelsohne einen Aufmerksamkeitsschub beschert hat.27 Im Gegenzug öffnete sich die Geographie den Sozialwissenschaften und begann, neue theoretisch-konzeptionelle, methodologische und methodische Positionen in ihr Forschungsprogramm zu importieren. Da die hierüber vollzogene (und später im Zusammenhang mit dem Cultural Turn diskutierte; vgl. WERLEN 2010a, b) sozialwissenschaftliche Wende mit zahlreichen Konsequenzen verbunden war, bedarf es eines genaueren Blicks auf das neue Forschungsverständnis der Geographie. Theoretisch-konzeptionelle Neuausrichtung: Zu den zentralen Anliegen einer sozialwissenschaftlich gewendeten Geographie gehört neben der Überwindung der ideologischen Fundierungen, theoretisch-konzeptionellen Schwächen und epistemologischen Defizite der traditionellen und raumwissenschaftlichen Forschung (vgl. Abschnitte 3.3 und 3.4) auch der Anschluss an die theoretischen Konzepte der benachbarten Sozialwissenschaften. Hierzu werden nicht nur die der geographischen Forschung zugrunde liegenden Raumverständnisse einer kritischen Reflexion unterzogen, sondern auch sozialwissenschaftliche Ansätze zur Annäherung an raumbezogene Sachverhalte herangezogen. Hiervon versprechen sich die Fachvertreter die tradierten disziplinpolitischen Grenzen überwinden sowie qualifizierte Aussagen hinsichtlich spezifischer Formen der Existenzbewältigung unter den globalisierten Lebensbedingungen der Spätmoderne treffen zu können (vgl. WERLEN 2003). Dabei baut man insbesondere auf das theoretischkonzeptionelle und begriffliche Gerüst marxistischer, behavioristischer, handlungstheoretischer, strukturationstheoretischer sowie neuerdings auch poststrukturalistischer, systemtheoretischer und pragmatistischer Ansätze auf. 27

In der Literatur zum Spatial Turn wird vielfach auf die „Raumblindheit“ der soziologischen Klassiker hingewiesen. Dabei gibt der Soziologe MARKUS SCHROER (2008:141; vgl. auch SCHROER 2006:17–28) zu bedenken, „dass die marginale Thematisierung des Raumthemas nicht mit einem völligen Fehlen räumlicher Kategorien im sozialwissenschaftlichen Denken zu verwechseln ist.“ So bieten schon die Arbeiten von GEORG SIMMEL, WALTER BENJAMIN, ALFRED SCHÜTZ oder ERVING GOFFMAN genügend Anlass zur Behauptung, dass „allem Reden und Verständnis des Sozialen eine Raum-Vorstellung inhärent“ ist (PRIES 1997:18). MARKUS SCHROER gibt jedoch ebenso zu bedenken, dass auch die genannten Autoren den Raumbegriff eher subkutan behandelten: Einer der Gründe liegt darin, dass sich die Sozialwissenschaften parallel zur Etablierung der modernen Nationalstaaten entwickelten und somit Gesellschaftliches mit Territorialem verhandelt wurde. In der Konsequenz legten die Sozialwissenschaftler ihren Studien nicht selten eine Vorstellung vom „Raum als Container“ zugrunde, der soziale Beziehungen mit Stadt- oder Landesgrenzen zusammenfallen ließ (vgl. SCHROER 2006:19–21, 2008, 2009). Sie waren somit allzu häufig von der Annahme geleitet, „dass soziale mit politischen und ökonomischen Räumen zusammenfallen und an den jeweiligen territorialen Grenzen der Staaten enden“ (SCHROER 2009:141).

90

Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

Vor dem Hintergrund dieser Öffnung in Richtung der sozialwissenschaftlichen Forschung mag es kaum verwundern, dass sich auch die thematischen Grenzen zu den benachbarten Sozialwissenschaften fast gänzlich aufgelöst haben. Dieser Eindruck wird zusätzlich verstärkt, wenn man die Annäherung der Sozialwissenschaften an die raumorientierte Geographie berücksichtigt (vgl. Beiträge im Sammelband von DÖRING & THIELMANN 2008). Aus geographischer Sicht hat dies zwar zur Folge, dass man den Anspruch auf eine genuin geographische Theorieentwicklung (wie sie die Raumwissenschaft vertrat) zurückgestellt hat und sich nunmehr aus einer raumorientierten Perspektive an der sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung beteiligt. Im Gegenzug eröffnet die sozialwissenschaftliche Theorievielfalt jedoch zahlreiche Perspektiven auf soziale Phänomene, Prozesse und Problemlagen, die zu neuen Erkenntnissen hinsichtlich des spätmodernen Verhältnisses von Gesellschaft und Raum geführt haben (vgl. DÖRING & THIELMANN 2008; GÜNZEL 2009). Methodologische Neuausrichtung: Mit der Öffnung der Geographie hinsichtlich der sozialwissenschaftlichen Theorieansätze erfolgte nun auch ihre methodologische Neuausrichtung. Hiervon profitierte in erster Linie der methodologische Strang der Hermeneutik, worunter nach Ansicht der klassischen Vertreter wie WILHELM DILTHEY, HANS-GEORG GADAMER oder JÜRGEN HABERMAS eine Kunst der Auslegung und des Verstehens von sozialen Sinnordnungen und Artefakten verstanden werden kann. Infolgedessen impliziert die sozialwissenschaftliche Wende innerhalb der Geographie auch „eine Hinwendung […] zu interpretativen Methoden der Sinnerschließung, der Re- und Dekonstruktion der Bedeutung von Handlungen, Handlungsartefakten und Texten. […] Diese Verschiebung umfasst eine gewandelte Auffassung von der Seinsweise der Forschungsgegenstände (Ontologie) und von der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung und Beschreibung (Epistemologie): Es geht nicht um die Erfassung der – vom Menschen und speziell vom beobachtenden Wissenschaftler als unabhängig existent angenommenen – Realität, sondern um die Reinterpretation der vom Menschen bereits vorinterpretierten Wirklichkeit(en)“ (BLOTEVOGEL 2003:11–12; Abbildung 24).

Disziplinhistorisch betrachtet heißt dies, dass sich die geographische Forschung nach der sozialwissenschaftlichen Wende zum einen von der Epistemologie der Traditionellen Geographie gelöst und deren Vorstellung eines auf empirischen Beschreibungen basierenden gültigen Wissens über die erdräumlichen Sachverhalte verworfen hat. Sie hat zum zweiten die epistemologische Auffassung der Raumwissenschaft dezentralisiert, wonach sich das Erkenntnisinteresse in den empirisch gesicherten Konstruktionen von Raumtheorien und Raumkategorien erschöpft. Im Gegenzug interessiert sich die sozialwissenschaftlich gewendete Geographie nunmehr für die Prozesse der sinnhaften Konstitution von „gesellschaftlichen Räumlichkeiten“ (WERLEN 2010a, b), die es auf hermeneutische Weise zu entschlüsseln gilt. Es geht der Geographie nach der sozialwissenschaftlichen Wende also in erster Linie um die Erforschung der verschiedenen Formen der Weltkonstitution, wobei die Praktiken der Sinnzuschreibung („signifying practices“), der symbolischen Deutung und der Repräsentation in kollektiven Sinnordnungen von besonderem Interesse sind.

Wozu Sozialgeographie? Ebene

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Ontologie

Epistemologie

Empirische Methoden der Humangeographie

Empirismus (naiver Realismus)

Beobachtete Dinge sind Fakten

Positives Wissen durch Erfahrung (Empirie)

Geländebeobachtung, Kartierung

Logischer Empirismus und Kritischer Rationalismus

Realität existiert unabhängig vom Beobachter, durch Erfahrung zugänglich

Erfahrungswissen durch methodisch kontrollierte Hypothesenprüfung

Zählung, standardisierte Befragung, Kartierung

Hermeneutischinterpretatives Paradigma

(Soziale) Realität ist sozial konstruiert und kulturell vorinterpretiert

(Kritische) Rekonstruktion von Handlungen und Sinnordnungen

Teilnehmende Beobachtung, qualitative Interviews, Diskursanalyse

Ansatz

Abbildung 24: Methodologische Implikationen der sozialwissenschaftlichen Wende Quelle: Eigene Darstellung (Konzeption nach BLOTEVOGEL 2003:12)

Methodische Neuausrichtung: Angesichts der methodologischen Neuausrichtung war es nur allzu konsequent, dass die geographische Forschung nun auch die Forschungsmethodik an die Epistemologie des hermeneutisch-interpretativen Paradigmas angepasst hat (Abbildung 24). Dabei orientiert man sich vor allem an den Methoden der qualitativen Sozialforschung, um einen methodisch kontrollierten Zugang zu den Prozessen der sinnhaften Konstitution von „gesellschaftlichen Räumlichkeiten“ (WERLEN 2010a, b) zu erlangen. Da einige dieser qualitativen Techniken auch für die vorliegende Arbeit zur Anwendung kommen, soll an dieser Stelle ein Verweis auf die konkreten empirischen Methoden der Geographie nach der sozialwissenschaftlichen Wende genügen (vgl. Abschnitte 5 und 6). Während in der traditionellen und raumwissenschaftlichen Phase der geographischen Forschung vor allem Techniken der Geländebeobachtung, Zählung, standardisierten Befragung und Kartierung zur Anwendung kamen, orientiert sich die geographische Forschung nunmehr unter anderem an den Methoden der Ethnographie – wozu beispielsweise die Teilnehmende Beobachtung, Qualitative Interviews oder diskursanalytische Verfahren gehören. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass die sozialwissenschaftliche Aufklärung der Geographie weit reichende Konsequenzen hinsichtlich der Grundannahmen über die Struktur der sozialen Realität nach sich gezogen hat. Mehr noch: Die sozialwissenschaftliche Wende hat bewirkt, dass sich auch die Erkenntnisziele und die Erkenntnismöglichkeiten der geographischen Forschung entscheidend in Richtung einer verstehenden Wissenschaft verschoben haben. Zum Zwecke der Konkretisierung wird im Folgenden auf eine Forschungskonzeption eingegangen, die sich in der Vergangenheit als Wegbereiter der sozialwissenschaftlichen Wende erwiesen sowie als tragfähige theoretische Perspektive etabliert hat. Dabei handelt es sich um die von BENNO WERLEN (1987, 1995, 2007a, 2010a, b) in die Geographie eingeführte handlungs- und strukturationstheoretische Perspektive, die das begriffliche und analytische Instrumentarium bezüglich der Konstitution „gesellschaftlicher Räumlichkeiten“ (WERLEN 2010a, b) im Allgemeinen sowie hinsichtlich des deutschen Metropolisierungsprozesses im Besonderen bereitstellt.

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Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

4.2 Sozialgeographie als Raumorientierte Handlungswissenschaft Im Zentrum des in den 1980er und 1990er Jahren entstandenen, seither vielfach konstruktiv-kritisch diskutierten, zugleich aber auch mehrfach empirisch erprobten Oeuvre von BENNO WERLEN steht der Entwurf der „Handlungszentrierten Sozialgeographie“ (WERLEN 1987, 2010a, b) sowie die damit verbundene „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ (WERLEN 1995, 2007a, b).28 Zu den zentralen theoretischen Impulsen dieser geographischen Forschungskonzeption gehört zum einen die handlungsorientierte phänomenologische Soziologie des Österreichers ALFRED SCHÜTZ, die von BENNO WERLEN in erster Linie im Zusammenhang mit der Grundlegung einer „Handlungszentrierten Sozialgeographie“ erörtert wurde. Darüber hinaus erweist sich die vom britischen Soziologen ANTHONY GIDDENS (1988) entwickelte strukturationstheoretische Perspektive als konstitutiv für BENNO WERLENS Entwurf einer „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“. Da gerade dieser Entwurf auch auf die vorliegende Arbeit einen entscheidenden Einfluss gehabt hat, soll sich zunächst mit den Grundzügen der Strukturationstheorie nach ANTHONY GIDDENS vertraut gemacht werden. Grundzüge der Strukturationstheorie: ANTHONY GIDDENS entwickelt seine Strukturationstheorie in Opposition zu drei der gängigsten soziologischen Denkschulen des 20. Jahrhunderts: den strukturalistischen und funktionalistischen Ansätzen auf der einen sowie den individualistischen Konzepten auf der anderen Seite (vgl. GIDDENS 1979). Für ihn stellen die auf beiden Seiten vorgenommenen Versuche keine befriedigende Lösung zur Klärung der Existenz und des Zustandekommens raumzeitlich spezifischer gesellschaftlicher Wirklichkeiten dar. So moniert er mit Blick auf die strukturalistischen und funktionalistischen Erklärungsmuster, dass diese das Gesellschaftliche (bzw. die sozialen Strukturen) ausdrücklich gegenüber dem Individuellen (bzw. den individuellen Handlungen) hervorheben. Das entscheidende Problem besteht seiner Ansicht nach darin, dass die Erklärungsansätze des Strukturalismus und des Funktionalismus somit keine Antworten auf die Fragen haben, 28

Sowohl die von BENNO WERLEN in den 1980er Jahren konzipierte „Handlungszentrierte Sozialgeographie“ als auch das in den 1990er Jahren entwickelte Forschungsprogramm der „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ wurde in der Vergangenheit national und international breit diskutiert (vgl. JOHNSTON 1997; SANTOS 1997; ARNOLD 1998; BRENNER 1998; PEET 1998; MEUSBURGER 1999a; SCHMID 2002, 2004; MORIKAWA 2000a, b; WEICHHART 2008). Theoretische Erweiterungen finden sich im Beitrag von LIPPUNER (2005), der eine erkenntnistheoretisch orientierte Arbeit zu den Möglichkeiten und Problemen einer praxiszentrierten Sozialgeographie vorstellt. SCHMID (2005) stellt mit seiner Rezeption des Werkes des französischen Philosophen HENRI LEFEBVRE Bausteine zu einer raumbezogenen Theorie sozialer Praxis bereit. Die empirischen Anwendungsmöglichkeiten des Konzeptes sind im Sammelband zur „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ (WERLEN 2007b) und in zwei Bänden der Sozialgeographischen Manuskripte (GÄBLER & WERLEN 2008a, b) dokumentiert. Weitere empirische Anwendung wurden u.a. von PRONK (2005), WEICHHART ET AL. (2006), KECK (2007), SCHLOTTMANN (2005) und FELGENHAUER (2007) geleistet. Die Vielfalt der analysierten Alltagskontexte umfasst die produktiv-konsumtive, die normativ-politische sowie insbesondere auch die informativ-signifikative Ebene alltäglicher Regionalisierungen.

Wozu Sozialgeographie?

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„wie in einer grundlegend sozial konstruierten Welt so etwas wie menschliche Individualität und Subjektivität entstehen kann und wie andererseits durch das Wirken herausragender Einzelpersönlichkeiten gesellschaftliche Gegebenheiten tief greifend verändert werden können“ (WEICHHART 2008:281).

Auf der anderen Seite neigen nach Ansicht von ANTHONY GIDDENS die individualistischen Ansätze dazu, den handelnden Individuen den Vorrang gegenüber der Gesellschaft mit ihren sozialen Strukturen einzuräumen. Das Problem hieran ist wiederum, dass die der individualistischen Sozialphilosophie entstammenden Erklärungsansätze blind gegenüber intersubjektiven/kollektiven gesellschaftlichen Phänomenen sowie funktionalen Strukturen sozialer Systeme sind (vgl. GIDDENS 1979; WERLEN 2007a; WEICHHART 2008). Der erstmals in seinem Buch zur „Konstitution der Gesellschaft“ als Gegenvorschlag entwickelte Entwurf einer „Theorie der Strukturierung“ (GIDDENS 1988) versucht nun ganz im Sinne eines theoretisch-konzeptionellen „Dritten Weges“, die zentralen Probleme der strukturalistischen, funktionalistischen und individualistischen Denkschulen zu überwinden – ohne jedoch ihre Argumentationsstränge in Gänze zu verwerfen. Dabei bildet das Konzept der „Dualität der Struktur“ den Schlüssel zum Verständnis von ANTHONY GIDDENS Strukturationstheorie. Hiernach kommt sowohl den „Strukturen der Lebenswelt“ (SCHÜTZ & LUCKMANN 2003) als auch den individuellen Handlungen eine entscheidende Bedeutung bei der Konstitution – oder besser: der Strukturierung raumzeitlich spezifischer gesellschaftlicher Wirklichkeiten zu. Als zwei Seiten derselben Medaille entsteht die soziale Welt in konkreten Handlungssituationen, wobei den raumzeitlich divergierenden sozialen Strukturen eine handlungsleitende bzw. beeinflussende Rolle zukommt. „Handelnde und Struktur, also individuelle menschliche Akteure und soziale Systeme, dürfen nicht als polare Gegensätze oder als Dualismus verstanden werden. Sie stellen vielmehr Momente ein und derselben soziokulturellen Wirklichkeit dar und stehen in einem dialektischen Vermittlungsprozess. Soziale Strukturen werden nur über konkrete Handlungen existent und können nur im Handlungsvollzug produziert und reproduziert werden. Gesellschaftliche Strukturen werden also durch menschliche Handlungen konstituiert und sind gleichzeitig das Medium dieser Konstituierung“ (WEICHHART 2008:282).

Geographischer Theorieimport: Im Verlaufe der 1990er Jahre überführte BENNO WERLEN die strukturationstheoretische Perspektive von ANTHONY GIDDENS in die deutschsprachige Sozialgeographie, nachdem sie bereits im englischsprachigen Bereich durch die Vertreter der Critical Human Geography wie DEREK GREGORY, ALLAN PRED oder NIGEL THRIFT protegiert worden war (vgl. WERLEN 2008a:67). Dabei war BENNO WERLEN von der Absicht geleitet, die zur damaligen Zeit bereits prominente sozialwissenschaftliche Theorie konsequent mit dem sich abzeichnenden „modernen“ Raumdenken der Geographen in Einklang zu bringen. Genauer: Nachdem sich in der deutschsprachigen Sozialgeographie nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer eigenen handlungstheoretischen Grundlegung (WERLEN 1987) das sozial-konstruktivistische Raumverständnis nach dem Leitspruch „Räume sind nicht, Räume werden gemacht“ durchzusetzen begann, sollte dieses nunmehr auch strukturationstheoretisch untermauert werden. Hiervon versprach

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Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

sich BENNO WERLEN eine fundiertere Analyse der raumkonstitutiven Praktiken, bei der neben den eigentlichen Handlungen der Akteure auch die handlungsleitenden Strukturen der Spätmoderne nicht unberücksichtigt bleiben sollten. In diesem Sinne rückt BENNO WERLEN also die Frage nach der sozialen Konstruktion von „gesellschaftlichen Räumlichkeiten“ (WERLEN 2010a, b) in den Vordergrund der sozialgeographischen Forschung, wobei die Auseinandersetzung mit den Praktiken (Handlungen) des alltäglichen „Geographie-Machens“ nicht ohne die Berücksichtigung der handlungsleitenden physisch-materiellen, sozialkulturellen und subjektiven Bedingungen (Strukturen) vonstatten gehen darf (vgl. WERLEN 2008a:278–282). Damit vollzieht BENNO WERLEN mit seiner handlungstheoretisch fundierten und strukturationstheoretisch erweiterten Sozialgeographie einen radikalen Bruch mit den traditionellen und raumwissenschaftlichen Paradigmen, die im Abschnitt 3.3 skizziert worden sind. So interessiert sich die Sozialgeographie BENNO WERLENS nicht mehr für eine Geographie der Objekte und versucht hierüber beschreibende Aussagen über natur- und kulturlandschaftliche Einheiten oder Länder zu machen (Selbstverständnis der traditionellen Geographie). Ebenso wenig interessiert sie sich für spezifische Raumstrukturen oder geometrische Regelmäßigkeiten, die wissenschaftliche Kausalerklärungen und Klassifizierungsverfahren zulassen (Selbstverständnis der raumwissenschaftlichen Geographie). „Im Sinne einer handlungstheoretischen Sozialgeographie sollen die Handlungen der Menschen im Zentrum stehen, das Räumliche wird als Dimension des Handelns gesehen, nicht umgekehrt. Eine sozialwissenschaftliche Geographie kann den ‚Raum‘ nicht als vorgegeben akzeptieren. Vielmehr hat man nach der Konstitution von ‚Raum‘ zu fragen, nach den unterschiedlichen Formen der gesellschaftlichen Konstruktion von ‚Raum‘. […] Damit ist in methodologischer Hinsicht die Forderung verbunden, den Kategorien des Handelns gegenüber denen des Raumes Vorrang einzuräumen und die kategorielle Ordnung der traditionellen geographischen Forschungslogik auf den Kopf zu stellen. Es geht nicht mehr darum, eine handlungsorientierte Raumwissenschaft betreiben zu wollen. Es geht vielmehr um das Betreiben einer raumorientierten Handlungswissenschaft“ (WERLEN 2008a:279).

Forschungspraktisch bedeutet diese Neuausrichtung der Sozialgeographie, dass zunächst die vor dem Hintergrund einer spezifischen Handlungssituation entwickelten Handlungsentwürfe der Subjekte zu analysieren sind. Dabei sollen im Rahmen der Analysen zur Zielorientierung der Akteure neben den zur Verfügung stehenden Handlungsressourcen auch die handlungsrelevanten physischmateriellen, subjektiven und sozial-kulturellen „Strukturen der Lebenswelt“ (SCHÜTZ & LUCKMANN 2003) berücksichtigt werden. Ferner ist zu analysieren, welche konkreten raumkonstitutiven Handlungen von den Subjekten hervorgehen, wobei hier aber nicht nur die vollzogenen, sondern auch die explizit unterlassenen Handlungen zu beachten sind (zur Bedeutung des so genannten „nondecision-making“ haben sich vor allem die Machttheoretiker BACHRACH & BARATZ 1963 sowie LUKES 1976 geäußert). Nicht zuletzt sind die aus den Handlungsvollzügen hervorgehenden intendierten und nicht-intendierten Handlungsfolgen zu untersuchen, die in jedem Falle als neue Handlungssituationen zu begreifen sind.

Wozu Sozialgeographie?

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Für BENNO WERLEN besitzt diese Sozialgeographie somit das Potenzial, sich der alltäglichen Konstitution von „Raum“ auf eine sozialwissenschaftlich kontrollierte Weise nähern zu können. Sie bietet die Möglichkeit, einerseits die geographischen Praktiken der handelnden Subjekte in den Blick zu nehmen, ohne andererseits die handlungsrelevanten physisch-materiellen, sozial-kulturellen und mentalen Bedingungen zu vernachlässigen. Dabei macht BENNO WERLEN in seinem mittlerweile dreibändigen Werk zur „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ (WERLEN 1995, 2007a, b) den zusätzlichen Vorschlag, diese Konstitutionsprozesse entlang dreier Typen des alltäglichen „Geographie-Machens“ zu untersuchen. So bietet er mit a) den Geographien der Produktion und Konsumtion, b) den Geographien normativer Aneignung und politischer Kontrolle sowie c) den Geographien der Information und symbolischen Aneignung ein thematisches Grundgerüst, an dem sich die Erforschung geographischer Praktiken zur (Re-)Produktion der „gesellschaftlichen Räumlichkeiten“ (WERLEN 2010a, b) orientieren kann. Angesichts der nunmehr fachhistorisch eingebetteten und skizzenhaft dargestellten Sozialgeographie BENNO WERLENS wird behauptet, dass diese Perspektive auch für den hier untersuchten Sachverhalt fruchtbares Analysepotenzial bereithält. Dazu wird im Folgenden gezeigt, dass eine so konzipierte Sozialgeographie zahlreiche der zuvor geschilderten Defizite der GovernanceForschung (Abschnitte 3.1 und 3.2) und der Raumwissenschaft (Abschnitte 3.3 und 3.4) überwinden kann. Da die „Raumorientierte Handlungswissenschaft“ zudem der Frage nachgeht, mit welchen Machtpotenzialen die metropolregionalen Wirklichkeiten entgegen bestimmten Problem- und Konfliktkonstellationen sowie Widersprüchen durchgesetzt werden, fördert sie auch eine kritische Perspektive hinsichtlich des deutschen Metropolisierungsprozesses. Insofern wird im Folgenden auch nachgewiesen, dass die „Raumbezogene Handlungswissenschaft“ dem hier verfolgten Anspruch einer kritischen Wissenschaft gerecht wird.

4.3 Sozialgeographie als Kritische Handlungswissenschaft Vergegenwärtigt man sich noch einmal das Selbstverständnis der steuerungstheoretischen und der raumwissenschaftlichen Forschung zu den Metropolregionen in Deutschland, so kann beiden Herangehensweisen eine noch ausbaufähige kritische Haltung gegenüber dem raumplanerisch intendierten Metropolisierungsprozess attestiert werden (wie wir gesehen haben, gehören zu den kritischen raumwissenschaftlichen Beobachtern der Metropolregionen vor allem SCHMITT 2006, 2007; PETRIN & KNIELING 2009 sowie PASSLIK & PROSSEK 2010). Der Umstand, dass beide Forschungsansätze zudem eine makrogesellschaftliche und/oder strukturfunktionalistische Argumentation sowie ein problematisches Raumverständnis fördern, hat für diese Arbeit die Einnahme einer alternativen Perspektive zur Folge. So soll es mit Hilfe der sozialtheoretisch informierten „Raumorientierten Handlungswissenschaft“ nach BENNO WERLEN zum einen möglich sein, zentrale steuerungstheoretische und raumwissenschaftliche Defizite zu überwinden. Da die

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Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

„Raumorientierte Handlungswissenschaft“ zudem die Konstitutionsleistungen der metropolregionalen Entscheidungs- und Meinungsträger in den Blick nimmt, verspricht sie zum Zweiten eine kritischere Haltung gegenüber der alltäglichen Konstitution metropolregionaler Wirklichkeiten. Überwindung der makrogesellschaftlichen Argumentation: Tatsächlich scheint die hier vertretene sozialgeographische Perspektive zunächst das Problem der makrogesellschaftlichen Argumentation in den steuerungstheoretischen Studien zu überwinden (vgl. Abschnitt 3.2). Dies begründet sich zum einen damit, dass die „Raumorientierte Handlungswissenschaft“ über eine fundierte handlungstheoretische Basis nach ALFRED SCHÜTZ verfügt (vgl. Abschnitt 4.2; WERLEN 1987, 2010a, b). Während die GovernanceForschung aufgrund ihrer institutionalistischen, regimetheoretischen und regulationstheoretischen Verankerung die makrogesellschaftliche Argumentationskette nicht verlassen kann (vgl. Argumentation von BOB JESSOP im Abschnitt 1), vermag die hier verfolgte Perspektive den Blick für Prozesse auf der mikrogesellschaftlichen Ebene zu schärfen. Da ihre Besonderheit aufgrund der strukturationstheoretischen Fundierung (WERLEN 1995, 2007a) zum Zweiten darin besteht, die mikroanalytische mit der makroanalytischen Perspektive zu verbinden (vgl. WEICHHART 2008:247), erweist sie sich auch für die hier beabsichtigte gesellschaftsdiagnostische Interpretation (vgl. Abschnitte 9 und10) als besonders geeignet. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die Sozialgeographie maßgeblich zur theoretischen Fundierung der an dem deutschen Metropolisierungsprozess interessierten geographischen Forschung beitragen kann. So gibt sie sich im Vergleich zu den raumwissenschaftlichen Studien weder mit deren magerer sozialtheoretischer Basis zufrieden noch versucht sie, ihre Forschungen mit dem bloßen Verweis auf makrogesellschaftliche Erklärungsmuster zu legitimieren (vgl. Abschnitt 3.4). Im Gegenteil: Die sozialgeographische Perspektive vertritt den Anspruch, ihre Erkenntnisse über den deutschen Metropolisierungsprozess konsequent aus einer handlungs- und strukturationstheoretischen Position sowie der entsprechenden Methodologie und Technik heraus zu schöpfen. Anstatt das Hauptaugenmerk auf das empiristische Sammeln und Auswerten von metropolregionalen Daten zu funktionalen Ausstattungsmerkmalen oder intra- und interregionalen Verknüpfungsmustern zu reduzieren, konzentriert sie sich zum einen auf die geographischen Praktiken zur Konstitution metropolregionaler Wirklichkeiten und versucht zum Zweiten zu einer sozialwissenschaftlich begründeten gesellschaftsdiagnostischen Aussage über den deutschen Metropolisierungsprozess im Allgemeinen zu gelangen. Überwindung der strukturfunktionalistischen Argumentation: Angesichts der auf mikrosoziologische Prozesse ausgerichteten Forschungskonzeption kann zudem behauptet werden, dass die als „Raumbezogene Handlungswissenschaft“ gedachte Sozialgeographie das steuerungstheoretische Problem einer strukturalistischen Argumentation überwindet. So setzt die Sozialgeographie BENNO WERLENS weder soziale Phänomene wie beispielsweise die abstrakten GovernanceRegime unhinterfragt voraus noch weist sie ihnen eine konstitutive Rolle bei der Herstellung von metropolitanen Raumverhältnissen zu. Da sie ganz im Sinne des „revi-

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dierten methodologischen Individualismus“ (WERLEN 1995) von der Prämisse ausgeht, dass nur Individuen bzw. menschliche Akteure soziale Phänomene erschaffen können, werden auch die abstrakten GovernanceRegime als ein Ergebnis von akteursgebundenen Gestaltungshandlungen begriffen.29 So gesehen leistet sie einen wichtigen Beitrag zur konsequenten Einblendung der Akteursebene in den Forschungsprozess, wonach es keine Regimehandlungen „hinter dem Rücken“ der Akteure geben kann. Überdies hinaus distanziert sich eine handlungs- und strukturationstheoretisch inspirierte Sozialgeographie von dem Denken der funktionalistischen Schule, nach der das Funktionieren der einzelnen GovernanceRegime oder deren Vergleich untereinander im Zentrum der Untersuchung liegt. Konkret: Es geht der handlungs- und strukturationstheoretisch konzipierten Sozialgeographie nach BENNO WERLEN nicht darum, nach den Leistungen der einzelnen institutionellen und organisationalen Arrangements für das Gelingen der diversen metropolregionalen GovernanceRegime zu fragen. Ebenso wenig strebt sie einen Leistungsvergleich zwischen den metropolregionalen GovernanceRegimen an oder hält nach deren Funktion für die Sicherung der „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“ (Jessop 1997:63) Ausschau. Vielmehr interessiert sie sich für das pfadabhängige Zustandekommen metropolregionaler GovernanceRegime, welche als organisatorische Kerne für die Etablierung und Konsolidierung metropolregionaler Raumverhältnisse eine wesentliche Bedeutung haben (vgl. Abschnitt 1.4). Damit blendet sie aber keinesfalls deren Legitimations-, Integrations-, Effektivitäts- und Effizienzprobleme aus, die sich aus dem machtgeladenen Konstitutionsprozess ergeben können. Überwindung der problematischen Raumfrage: Mit der Fokussierung auf die akteursgebundene Konstitution sozialer Sachverhalte ist auch ein wichtiger Hinweis darauf gegeben, dass die als „Raumorientierte Handlungswissenschaft“ konzipierte Sozialgeographie das problematische Raumverständnis steuerungstheoretischer und raumwissenschaftlicher Forschungsansätze zu überwinden versucht. So distanziert sie sich zum einen vom Raumverständnis der GovernanceForschung, welche die Gestaltungslogiken von GovernanceRegimen lediglich auf und 29

Beim revidierten methodologischen Individualismus handelt es sich um eine methodologische Grundannahme BENNO WERLENS, wonach lediglich individuelles Handeln analysierund interpretierbar ist. „Die Basisprämisse des revidierten methodologischen Individualismus geht davon aus, dass soziale Phänomene, insbesondere soziale Institutionen, das Resultat der Entscheidungen, Handlungen, Einstellungen usw. von Akteuren im Sinne von Einzelpersonen sind: Nur Individuen können Akteure sein“ (WERLEN 1995:44). Damit wird jedoch nicht die reine Existenz von Kollektiven wie sozialen Gruppen oder Organisationen, sondern lediglich deren Handlungskompetenz in Frage gestellt. „Gemäß dieser Auffassung des revidierten methodologischen Individualismus ist somit die Existenz von Kollektiven nicht zu leugnen. Hingegen ist damit gemeint, dass die einzig sinnvolle Methodologie der Gesellschaftsforschung darin bestehen kann, die Gesellschaft anhand der Handlungen zu untersuchen. […] ‚Kollektive Handlungen‘ sind in diesem Sinne zu verstehen als das koordinierte Handeln mehrerer Akteure im Hinblick auf eine mehr oder weniger geteilte gemeinsame Vorstellung, wie die soziale Welt sein sollte, aber nicht das Handeln eines Kollektives an sich“ (WERLEN 1995:45–47).

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zwischen bestimmten Maßstabsebenen der politischen Steuerung analysiert (vgl. Abschnitt 3.2; Ausrichtung der Forschung auf Local-, Metropolitan-, Regionaloder Multi-Level-Governance; Abbildung 21). Da hiernach die politisch relevanten Räumlichkeiten als bloße Bühne für die entsprechenden GovernanceRegime angesehen werden, macht sich die „Raumorientierte Handlungswissenschaft“ BENNO WERLENS für die Idee der alltäglichen Konstitution von „Raum“ stark. In diesem Sinne versteht sie Governance auch als eine raumkonstitutive Praxis, über die bestimmte „gesellschaftliche Räumlichkeiten“ (WERLEN 2010a, b) zur Etablierung und Sicherung einer signifikanten sozialen Ordnung produziert und transformiert werden (FEDERWISCH 2010b:58–59). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Sozialgeographie BENNO WERLENS nicht allein die administrativen Grenzziehungen und Territorialisierungen politischen Steuerungshandelns berücksichtigt (Stichwort: „territorial trap“; vgl. AGNEW 1994), sondern ein umfassenderes Spektrum der Geographien des Alltags mit in die Betrachtung einbezieht. Dem liegt die Einsicht der ontologischen Verschiedenheit räumlicher Wirklichkeiten zugrunde (vgl. HARD 2003), wonach in alltäglichen Handlungsvollzügen auch „andere Räume“ wie soziale Netzwerke oder geographische Imaginationen konstituiert werden. Insofern nimmt die strukturations- und handlungstheoretisch konzipierte Sozialgeographie die komplexen Prozesse der Weltbildkonstitution in den Blick, die nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der politischen „Steuerung des eigenen Tuns und der Praxis anderer“ (WERLEN 2009:154) von Bedeutung sind. Da die Analyse dieser raumkonstitutiven Praktiken bislang selten zum Forschungsgegenstand der kontinuierlich raumbeobachtenden Raumwissenschaft gehört, distanziert sich die hier vertretene strukturations- und handlungstheoretische Perspektive zusätzlich von deren Fokussierung auf die erdräumlichen Erscheinungen. Zwischenfazit: Im Vergleich zur aktuellen steuerungstheoretischen und raumwissenschaftlichen Forschungspraxis leistet die handlungs- und strukturationstheoretisch inspirierte Sozialgeographie BENNO WERLENS einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der makrogesellschaftlichen und strukturfunktionalistischen Argumentationsmuster sowie zur Bewältigung der problematischen Raumfrage. Darüber hinaus vermag sie, als „Raumorientierte Handlungswissenschaft“ Aussagen über die alltägliche Konstruktion metropolregionaler Wirklichkeiten zu treffen – ohne dabei die sozialen Bedingungen einer entankerten und beschleunigten Spätmoderne zu vernachlässigen.30 In dieser Arbeit wird nun be30

Damit soll allerdings keineswegs der Eindruck entstehen, dass die hier skizzenhaft vorgestellte und auch für die vorliegende Arbeit zur Anwendung kommende Perspektive frei von Defiziten, Problemen oder Schwachstellen sei. Wie jede wissenschaftliche Perspektive ist auch die „Handlungszentrierte Sozialgeographie“ und die damit verbundene Konzeption einer „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ mit einer Brille zu vergleichen, die je nach Zuständigkeitsbereich „spezifische Sehschärfen, aber auch tote Winkel“ aufweist (WERLEN 2008a:14–16). Zu den zentralen Kritikpunkten gehört zum einen die, aus dem „revidierten methodologischen Individualismus“ (WERLEN 1995:44–54) abgeleitete, Sonderstellung der Subjekte sowie die damit einhergehende Unterbelichtung kollektiver Akteure (vgl. BLOTEVOGEL 1999:22; SAHR 1999:58). Dabei wird von Seiten der Kritiker moniert, dass auf-

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hauptet, dass sie zudem eine kritische Haltung gegenüber den alltäglichen Praktiken zur Konstruktion und Revitalisierung deutscher Metropolregionen begünstigt: So protegiert sie zum einen ein sozial-konstruktivistisches Weltbild, wonach die Existenz von Metropolregionen keine Frage abstrakter GovernanceRegime oder gar des „Raumes“, sondern das Ergebnis verantwortbaren Akteurshandelns ist (WERLEN 2009:143–144). Da sie somit die alltäglichen Praktiken der konkreten (politischen, ökonomischen, medialen etc.) Entscheidungs- und Meinungsträger in den Blick nimmt, ist sie zum Zweiten gegenüber den – in die Konstitutionsprozesse eingelagerten – Machtpotenzialen sensibilisiert. Um derartige machtgeladene Prozesse analysieren zu können, stützt sich die Sozialgeographie auf das begriffliche Instrumentarium der britischen oder französischen Strukturationstheorie. Hiernach ist das Vermögen zur Transformation einer bestehenden gesellschaftlichen Ordnung (wie sie in den Bestrebungen zur Etablierung und Konsolidierung von Metropolregionen zum Ausdruck kommt) maßgeblich von den zur Verfügung stehenden Mitteln der GovernanceEliten abhängig. ANTHONY GIDDENS (1988) hat hierfür den Begriff der Ressourcen geprägt, die er aus analytischen Gründen in allokative und autoritative Ressourcen untergliedert. Während sich die Verfügungsgewalt über allokative Ressourcen auf die Verteilung und Kontrolle von materiellen Phänomenen, Objekten oder Gütern bezieht, verweisen autoritativen Ressourcen auf die Fähigkeit zur Organisation, Überwachung und Kontrolle menschlicher Tätigkeitsabläufe. In den Worten von ANTHONY GIDDENS (1988:86): grund der starken Zentrierung auf einzelne Akteure bestimmte organisationale Emergenzphänomene tendenziell vernachlässigt werden. Dies ist insofern ein Problem, da kollektive Akteure wie Organisationen nicht nur Ergebnisse aus der Summe ihrer beteiligen Akteure, sondern auch Synergien oder „Qualitätssprünge“ (WEICHHART 2008:334) hervorbringen können. „Bei einer Sitzung oder Besprechung kann die Eigendynamik der Gruppeninteraktion dazu führen, dass am Ende ein Ergebnis ‚herauskommt‘, das keines der beteiligten Subjekte intendiert hatte“ (WEICHHART 2008:334). Ein zweiter zentraler Kritikpunkt bezieht sich auf die scheinbare Autonomie und Entscheidungsfähigkeit der handelnden Subjekte. Nach Ansicht einiger Kritiker besitzen die Akteure nicht die Omnipotenz, welche ihnen die strukturations- und handlungstheoretische Sozialgeographie zuweisen würde. Sie seien vielmehr von strukturellen Zwängen wie Aspekten der Sozialisation (MEUSBURGER 1999b:96–97), einer begrenzten Rationalität und äußeren Gegebenheiten (BLOTEVOGEL 1999:20) abhängig, so dass sie die Welt nicht aus eigener Kraft erschaffen könnten. Schließlich bezieht sich ein dritter zentraler Kritikpunkt auf die empirische Erfassbarkeit subjektiver Handlungen, die in vielen Fällen nicht oder zumindest nicht vollständig möglich ist. Dabei bringt PETER MEUSBURGER das Problem der Rekonstruktion subjektiver und kollektiver Entscheidungsfindungen oder Planung folgendermaßen auf den Punkt: „In vielen Fällen ist eine rückwirkende Rekonstruktion der Handlungen von Subjekten gar nicht möglich. Wir können erfahren, wie die Bundesbank, der Vorstand eines Unternehmens, die Berufungskommission einer Fakultät, das Bischofskonzil oder das Zentralkomitee einer kommunistischen Partei entschieden und gehandelt haben, aber die Entscheidungsabläufe und die Handlungen der diversen Institutionen angehörenden Subjekte bleiben uns weitgehend verborgen. […] Auch exakt geführte Protokolle […] können nicht die tatsächlichen Hintergründe und Motive der Entscheidungsabläufe bzw. den Beitrag der einzelnen Subjekte zu den Entscheidungen des Gremiums erfassen“ (MEUSBURGER 1999b:110).

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Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption „Allokative Ressourcen beziehen sich auf die Fähigkeiten – oder genauer auf Formen des Vermögens zur Umgestaltung –, welche Herrschaft über Objekte, Güter oder materielle Phänomene ermöglichen. […] Autoritative Ressourcen beziehen sich auf Typen des Vermögens zur Umgestaltung, die Herrschaft über Personen oder Akteure generieren“.

Ebenso scheint auch das machtsensitive Begriffsinstrumentarium des französischen Strukturationstheoretikers PIERRE BOURDIEU (2003) für eine kritische Perspektive geeignet, für die er den Terminus des Kapitals anbietet. Dabei nimmt er wie ANTHONY GIDDENS für den Begriff der Ressource eine analytische Trennung des Kapitalbegriffs in ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital vor, dessen strategischer Gebrauch in erster Linie hinsichtlich der Kämpfe um bestimmte sozialräumliche Positionen thematisiert wird.31 Aus sozialgeographischer Sicht ist das begriffliche Instrumentarium allerdings auch auf die Frage nach der Durchsetzung einer bestimmten sozialen Ordnung sowie der Etablierung und Konsolidierung metropolregionaler Wirklichkeiten anwendbar. Will man also kritisch reflektieren, wie metropolregionale Wirklichkeiten trotz widriger Umstände deutschlandweit durchgesetzt werden sollen, so kann man die Aktivitäten der regionalen Entscheidungs- und Meinungsträger sowie deren Kapitaleinsatz analysieren. So gesehen ist die Sozialgeographie BENNO WERLENS nicht nur an einer unkritischen Rekonstruktion der alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von metropolregionalen Wirklichkeiten interessiert. Mit der konsequenten Berücksichtigung des strategischen Einsatzes von allokativen und/oder autoritativen Ressourcen bzw. ökonomischen, sozialen, kulturellen und/oder symbolischen Kapitals untermauert sie auch ihre Konzeption als eine machtsensible Perspektive und somit als eine „Kritische Handlungswissenschaft“. Diese Konzeption wird zusätzlich darin bestärkt, dass sie auch die im Konstitutionsprozess zu verzeichnenden Legitimations-, Integrations-, Effektivitäts- und Effizienzprobleme, Ziel- und Handlungskonflikte, Handlungsunsicherheiten und strukturellen Persistenzen mit in den Blick nimmt. Da sie somit die ressourcengebundene Bewältigung dieser Problemlagen mit in die Betrachtung einbezieht, vermag sie Aussagen über die Durchsetzung spezifischer Interessenlagen zu tätigen. Mehr noch: Als „Kritische Handlungswissenschaft“ besitzt BENNO WERLENS Sozialgeographie auch das Potenzial, Aussagen über die Wirkungslosigkeit bestimmter Handlungsvollzüge zu treffen und somit einen Beitrag zur Analyse des 31

So umfasst die ökonomische Dimension des Kapitals nach PIERRE BOURDIEU (2003) all die Sachverhalte, welche im herkömmlichen Sinn unter Kapital verstanden werden können – also: den Besitz von Geld, Produktionsmitteln, Aktien oder sonstigem monetären Eigentum. Demgegenüber weist das soziale Kapital auf die sozialen Beziehungen bzw. das soziale Netzwerk eines Individuums hin, welches bei der Durchsetzung einer bestimmten Interessenlage auf die angebotene Hilfeleistung, Unterstützung und/oder Anerkennung rechnen kann. Die kulturelle Dimension des Kapitals bezieht sich wiederum auf eine Bildungsressource, wozu neben formellen Qualifikationen und Bildungstiteln auch Informations- und Wissensbestände über soziale Sachverhalte gehören. Und schließlich versteht PIERRE BOURDIEU unter symbolischem Kapital die Möglichkeit, die zuvor genannten Kapitalsorten im Rahmen einer feldspezifischen Normen- und Wertelogik auch tatsächlich zur Geltung bringen zu können.

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Scheiterns einer intendierten sozialen Ordnung zu leisten (vgl. JESSOP 1998, 2002). Bezeichnenderweise geht es der vorliegenden Untersuchung um eben solche problembehafteten und konfliktreichen Prozesse der machtgeladenen Etablierung und Konsolidierung metropolregionaler Wirklichkeiten. Wie die weiter oben getroffenen Ausführungen zu dem Phänomen der „Metropolregion 2.0“ zeigen (vgl. Abschnitt 2.4), gestaltet sich dieser Prozess deutschlandweit als ausgesprochen schwierig und droht in vielerlei Hinsicht zum Stillstand zu kommen oder gar zu scheitern. Da die Transformation der bestehenden sozialräumlichen Ordnung in metropolregionale Raumverhältnisse trotz aller widrigen Umstände immer wieder und mit neuem Ressourcen- bzw. Kapitalaufwand vorangetrieben wird, stellen sich wiederholt die folgenden Fragen: Weshalb wird eine Neuauflage von Metropolregionen immer wieder nötig und von den Entscheidungs- und Meinungsträgern vorangetrieben? Wozu müssen die so schwer zu etablierenden und zu konsolidierenden Metropolregionen in den politischen Dokumenten und auf der Landkarte Deutschlands und Europas repräsentiert sein? Die Beantwortung dieser Fragen bringt uns abschließend in das Feld der sozialgegeographischen (WERLEN 2007a) und soziologischen (ROSA 2005) Gesellschaftsdiagnose, die sich für die alltägliche Konstitution und Revitalisierung von Metropolregionen unter den entankerten und beschleunigten Bedingungen der Spätmoderne interessiert. Dabei vermögen die als „Kritische Handlungswissenschaft“ konzipierte Sozialgeographie BENNO WERLENS und die „Soziologische Theorie zur sozialen Beschleunigung“ HARTMUT ROSAS den argumentativen Anstoß für eine Beschäftigung mit den zentralen Paradoxien der (mittel-)deutschen Metropolisierungsprozesse zu leisten und somit den Ausgangspunkt für die spätere Interpretation zu stellen.

4.4 Raum- und zeitbezogene Gesellschaftsdiagnosen Nach der hier vertretenen Ansicht liegt der besondere Charme von BENNO WERLENS Arbeit nicht nur darin, die sozialtheoretischen Grundannahmen der Handlungs- und Strukturationstheorie auf überzeugende Weise in die deutschsprachige Sozialgeographie überführt und hierüber eine sozialwissenschaftlich gewendete (kritische) Forschungskonzeption entwickelt zu haben. Vielmehr gelingt es BENNO WERLEN zudem, die von ANTHONY GIDDENS entworfene Gesellschaftsdiagnose zu den „Konsequenzen der Moderne“ (GIDDENS 1995) für die sozialgeographischen Analysen fruchtbar zu machen. Seine sozialgeographisch gewendete Gesellschaftsdiagnose offenbart krisenhafte Erscheinungen im Gesellschaft-Raum-Verhältnis, die im Zusammenhang mit (politischen) Maßnahmen der Krisenbewältigung zu analysieren und zu interpretieren sind. Will man also verstehen, weshalb und wozu die deutschen Metropolregionen alltäglich konstruiert und – ganz im Sinne des Phänomens der „Metropolregion 2.0“ – kontinuierlich revitalisiert werden, dann bedarf es einer Berücksichtigung der sozialgeographischen (raumbezogenen) Gesellschaftsdiagnose.

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Raumbezogene Gesellschaftsdiagnose: Vergegenwärtigt man sich noch einmal die in Abbildung 1 getroffene Systematik, dann scheint mit dem Globalisierungsprozess eine gewisse Entankerung der Lebensbedingungen einherzugehen. So weist der an raumbezogenen Fragestellungen interessierte BENNO WERLEN darauf hin, dass die Mehrzahl der alltäglichen Handlungsvollzüge nicht mehr unter erdräumlich gekammerten bzw. verankerten Bedingungen stattfindet, sondern vielmehr von Grenzüberschreitungen in den verschiedensten Handlungskontexten gekennzeichnet ist. Wenngleich er durchaus anerkennt, dass die Mehrzahl der Menschen nach wie vor die meiste Zeit ihres Alltagslebens in lokalen Kontexten verbringt, so konstatiert er dennoch deren Durchdringung von globalisierten politischen, ökonomischen oder medialen etc. Prozessen. Insofern bezieht sich BENNO WERLEN mit seiner Rede von der Entankerung in metaphorischer Weise auf die zunehmende Verstrickung des Globalen mit dem Lokalen, wodurch sich globale Prozesse im Lokalen äußern und gleichzeitig Ausdruck lokaler Aktivitäten sind (WERLEN 2008a:22–35). Es versteht sich von selbst, dass die mit der Globalisierung einhergehende Entankerung aus den vertrauten räumlichen Kontexten nicht nur globalisierte Lebensstile im Hochglanzformat hervorbringt, sondern auch mit zahlreichen problematischen Konsequenzen verbunden ist. Diese offenbaren sich beispielsweise in dem sozialen Phänomen des Heimatverlustes, der nach Ansicht von BENNO WERLEN durchaus ernstzunehmende Folgen für die Seinsgewissheit der vergesellschafteten Subjekte nach sich ziehen kann. Für den hier verfolgten Zusammenhang ist jedoch entscheidender, dass die weitgehende Entkopplung der sozialen Aspekte des Lebens von ihren unmittelbaren räumlichen Gegebenheiten auch für die soziale Ordnungsbildung – oder besser: für die politische Regulierung und Steuerung spätmoderner Gesellschaften eine zu beachtende Konsequenz bereithält. Im Vergleich zu den erdräumlich gekammerten Bedingungen vor- und hochmoderner Gesellschaften können „Politik“ und „Raum“ nämlich nicht mehr als kongruent zueinander gedacht werden, weshalb klassische Raumpolitiken ernsthaft hinterfragt werden müssen. Angesichts dieser gesellschaftlichen Entwicklungen scheinen politische Praktiken der sozialen Ordnungsbildung gegenwärtig aus dem tradierten Ensemble politischer Handlungsräume – also: aus der administrativen Gliederung des Staates zu fallen. Die damit einhergehende „Raumkrise des Politischen“ hat zur Folge, dass die politischen Akteure neue Wege zur Bewältigung der anscheinenden „Raumanomalien“ gehen (müssen). So werden ganz im „raumtherapeutischen“ Sinne in vielen westlichen Nationalstaaten neuartige sozialräumliche Phänomene geschaffen, die bei der politischen Regulierung und Steuerung der globalisierten Gesellschaften behilflich sein sollen (vgl. Abschnitt 1.3). Dabei können die Metropolregionen in Deutschland als ein prominentes Beispiel dieser Bestrebungen angesehen werden. Sie sollen als offene und nach dem Prinzip der „Variablen Geometrie“ organisierte politische Handlungsräume einen Beitrag zur Bewältigung spätmoderner Herausforderungen wie dem Wunsch nach a) der Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes oder b) der Sicherung der politischen Selbstbestimmung leisten (vgl. Abschnitt 9 zur weiterführenden Interpretation).

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So gesehen kann die Konstitution von Metropolregionen also als eine Form der politisch motivierten Regionalisierung interpretiert werden, von der sich die politischen Akteure die Rückgewinnung von Handlungs- und Gestaltungspotenzial zur Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes und zur Sicherung der politischen Selbstbestimmung erwarten. Folgt man BENNO WERLENS Konzept der „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“, so ist diese Regionalisierung jedoch nicht nur mit der Anpassung von politischen Organisationsstrukturen oder politischen Programmen, sondern auch mit Maßnahmen auf der symbolischen Ebene verbunden (vgl. Abschnitte 1.4 und 2.4 sowie Abbildung 10). Hiernach ist es nur mit Hilfe von symbolisierenden Regionalisierungspraktiken möglich, die abstrakte Idee variabel konzipierter Metropolregionen mit all ihren intermediären Steuerungsgremien alltagsweltlich anschlussfähig zu machen. Wie bereits im Abschnitt 2.4 angedeutet und in den eigenen Studien zur „Raumbezogenen Identitätspolitik“ ausgeführt, tragen identitätspolitische Maßnahmen entscheidend zur emotional-affektiven Wiederverankerung (vgl. Abbildung 1) bei und sind daher nicht mehr aus der politischen Strategie metropolregionaler Akteure wegzudenken (FEDERWISCH 2008a, b, 2009a, b, 2010a). Zeitbezogene Gesellschaftsdiagnose: Ergänzt man die raumbezogene Entankerungshypothese des Sozialgeographen BENNO WERLEN um die zeitbezogene Gesellschaftsdiagnose des Soziologen HARTMUT ROSA, so erhält man einen erweiterten Einblick in die Reichweite, Geschwindigkeit und Dynamik der aktuellen Gesellschaftsentwicklung. So weist der sich mit den Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne auseinandersetzende HARTMUT ROSA eine zunehmende Beschleunigung der spätmodernen Gesellschaften nach, die in der technologischen Beschleunigung von Transport- und Kommunikationsmodalitäten nur ihre offensichtlichste Gestalt angenommen hat (vgl. Abbildung 1). Wie die Beschleunigung des sozialen Wandels und des individuellen Lebenstempos zeigen, sind spätmoderne Gesellschaften ganz grundsätzlich von gesteigerten Veränderungsraten oder Handlungsepisoden per Zeiteinheit gekennzeichnet. Dabei sind die zunehmenden Berufs-, Parteienpräferenz- oder Vereinswechsel bzw. das so genannte Multitasking, PowerReading oder PowerNapping als ausgewählte empirische Phänomene einer sich beschleunigenden Lebensführung in der Spätmoderne zu verstehen. Mit Blick auf das hier verfolgte Thema ist zu konstatieren, dass neben der Entankerung spätmoderner Gesellschaften auch deren Beschleunigung wichtige Konsequenzen für die soziale Ordnungsbildung bereithält. So geraten in der globalisierten Moderne nicht nur unsere Vorstellungen des Verhältnisses von „Politik und Raum“, sondern auch die von „Politik und Zeit“ zunehmend ins Wanken. Dies begründet sich für HARTMUT ROSA (2005) vor allem damit, dass die Eigenzeit der demokratisch verfassten und deliberativen Politik mit ihren zum Teil sehr zeitaufwändigen Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozessen nicht mehr mit den dynamisierten Zeitstrukturen anderer gesellschaftlicher Sphären wie der Wirtschaft übereinstimmt. In der Folge scheint sich die Politik von anderen gesellschaftlichen Sphären zu desynchronisieren („Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“; ROSA 2005:404) und ihre Stellung als sozialer Schrittmacher mit rasch gelieferten und verbindlichen Entscheidungen zu verlieren.

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Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen scheinen nun auch viele politische Praktiken der sozialen Ordnungsbildung quasi aus der Zeit zu fallen – also: anachronistische Entscheidungen zu begünstigen. Die damit einhergehende „Zeitkrise des Politischen“ hat nach HARTMUT ROSA (2005:403) zur Folge, dass die politischen Akteure neue Wege zur Bewältigung der als „Zeitanomalie“ wahrgenommenen Desynchronisation gehen (müssen).32 Hierzu werden – ganz im „zeittherapeutischen“ Sinne – sowohl von wissenschaftlicher als auch von praktischer Seite regelmäßig drei Strategien angeführt, die in der so genannten „Zwangsentschleunigung“, der „Verschlankung“ und der „Beschleunigung“ ihre terminologische Variation gefunden haben (ROSA 2005:407–410). Dabei sind die politischen Akteure von dem Ziel geleitet, verloren gegangenes Vertrauen in die Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesse zurück zu gewinnen sowie Steuerungspotenzial zur Gestaltung der Gesellschaft wiederzuerlangen. x

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„Zwangsentschleunigung“: Hierunter versteht HARTMUT ROSA (2005:409) eine radikale Form des politisch motivierten Eingriffes in die Entwicklungsautonomie der anderen sozialen Sphären und die bewusste Verlangsamung durch Prozesse der traditionell schleppenden parlamentarischen Demokratie. Wenngleich diese Strategie regelmäßig von Beschleunigungsskeptikern als Lösungsansatz vorgeschlagen wird, so fördert sie das Problem der anachronistischen Entscheidungsfindung und die Verlagerung der Rolle der Politik von einem sozialen Schrittmacher in Richtung eines sozialen Bremsers. „Verschlankung“ der politischen Aufgaben: Hierunter versteht HARTMUT ROSA (2005:409–410) die strategische Minimierung der politischen Regulierungsbereiche, die unter spätmodernen Bedingungen sowohl in der Zahl als auch im Umfang überdurchschnittlich stark gewachsen sind. Die gerade von Der amerikanische Politikwissenschaftler SHELDON WOLIN bringt die „Zeitkrise der Politik“ folgendermaßen auf den Punkt: „Starkly put, political time is out of synch with the temporalities, rhythms, and pace governing economy and culture. Political time […] requires an element of leisure […]. This is owing to the needs of political action to be preceded by deliberation and deliberation, as its ‘deliberate’ part suggests, takes time because, typically, it occurs in a setting of competing or conflicting but legitimate considerations. Political time is conditioned by the presence of differences and the attempt to negotiate them. The results of negotiations, whether successful or not, preserve time […] Thus time is ’taken‘ in deliberations yet ’saved‘“ (WOLIN 1997:2). Insofern benötigt die Politik mit einem zunehmenden Grad der Individualisierung, Differenzierung, Komplexität und Unsicherheit unserer Gesellschaft Zeit, um zu konsensfähigen Problemlösungen zu kommen. Aus diesem Grund ist für HARTMUT ROSA die Eigenzeit der Politik auch relativ beschleunigungsresistent, weshalb der von verschiedenen gesellschaftlichen Sphären geäußerte Anspruch, die Politik beschleunigen zu wollen („Beschleunigungsdruck“), im Rahmen der parlamentarischen Demokratie nicht geleistet werden kann. Ein Beispiel: Die Gleichzeitigkeit kulturell, ethnisch und religiös verschiedener Bevölkerungsgruppen untergräbt den voraussetzbaren Wertekonsens. Daher ist die Willensbildung und Entscheidungsfindung aufgrund der strukturellen Entwicklung (Auflösung stabiler sozialer Milieus, Instabilität sozialer Zugehörigkeiten, Volatilität politischer Präferenzen) unserer Gesellschaft immer schwieriger und daher zeitaufwändiger. In der Folge verliert die Politik jedoch ihre Stellung als sozialer Schrittmacher, da sie dem „Beschleunigungsdruck“ (ROSA 2005:407), verbindliche Entscheidungen rasch zu liefern, nicht nachkommen kann.

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(neo-)liberaler Seite vielfach geforderte Konzentration auf eine überschaubare Zahl an regelungsbedürftigen Sozialbereichen wird gegenwärtig vielfach positiv bewertet, da sie zum einen Formen der gesellschaftlichen Selbstregulierung fördert (vgl. Abschnitt 1.2) und zum zweiten den politisch Verantwortlichen mehr Zeit für ihre jeweiligen Entscheidungen einräumt. „Beschleunigung“: Hierunter versteht HARTMUT ROSA (2005:410) eine strategische Anpassung an das beschleunigte Innovationstempo in anderen sozialen Sphären durch zeitweise und provisorische Lösungen. Da diese an die Stelle der großen Gestaltungsentwürfe der Moderne treten, können sie auch als eine flexiblere „situative Politik“ verstanden werden. Die Gefahr ist jedoch, dass die Politik ihre Rolle als gestaltender Akteur verliert und den Status eines überwiegend reaktiven Mitspielers einnimmt. „An die Stelle geschichtsphilosophischer Konzeptionen oder langfristiger politischer Strategien tritt kurzsichtiges Operieren je nach situativer Lage“ (ROSA 2005:418).

Angesichts der aktuell zu verzeichnenden Etablierung flexibler metropolregionaler Steuerungsebenen kann vermutet werden, dass sich die bundesdeutsche Raumordnungspolitik für eine Variante der zuletzt genannten Strategie der „Beschleunigung“ entschieden hat. Die Vermutung begründet sich nicht zuletzt mit der zu beobachtenden „Verlagerung des Entscheidungsprozesses aus dem Bereich demokratischer Politik in andere, schnellere Arenen der Gesellschaft“ (ROSA 2005:415), zu denen die organisatorischen Kerne metropolregionaler Governance gehören. Damit ist die grundlegende Absicht verbunden, die parlamentarische Demokratie des bereits etablierten Ensembles der „Geographien der Politik“ von langwierigen oder gar uneinlösbaren Deliberations- und Konsensfindungszumutungen zu entlasten und die Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesse zu beschleunigen (vgl. ROSA 2005:414–415). Da ein derartiger strategischer Versuch der Re-Synchronisierung jedoch auch mit einer Degenerierung der (Regional-)Politik einhergeht, soll diese Strategie in dieser Arbeit aus einer kritischen Beobachterperspektive heraus problematisiert werden (vgl. Abschnitt 10 zur weiterführenden Interpretation). Anschluss an Teil III: Abschließend betrachtet weisen sowohl die im Rahmen der Sozialgeographie erarbeitete raumbezogene Gesellschaftsdiagnose als auch die im Kontext der Soziologie entstandene zeitbezogene Gesellschaftsdiagnose darauf hin, dass spätmoderne Gesellschaften durch räumliche Entankerungsprozesse und zeitliche Beschleunigungsprozesse gekennzeichnet sind. Beide Gesellschaftsdiagnosen verdeutlichen zudem, dass die damit einhergehenden Krisenphänomene auch den Bereich der Politik maßgeblich berühren und komplexe Bewältigungsstrategien notwendig machen (können). In dieser Arbeit wird behauptet, dass die alltägliche Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen mit all ihren neuartigen Steuerungsmodalitäten stellvertretend für diese raum- und zeitbezogenen „Coping-Strategien“ (REDEPENNING 2006) stehen. In Anlehnung an BENNO WERLEN stellen sie spätmoderne Formen der Existenzbewältigung dar, wovon man sich „die soziale Beherrschung räumlicher und zeitlicher Bezüge zur Steuerung des eigenen Tuns und der Praxis anderer“ verspricht (WERLEN 2009:154).

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Teil II: Theoriegeleitete Forschungskonzeption

Forschungspraktisch stellt sich nun die Frage, wie zum einen die weiter oben entwickelte sozialgeographische Perspektive BENNO WERLENS in ein Programm zur Erforschung der alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen – genauer: der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland umgesetzt werden kann. Es stellt sich zudem die Frage, wie die hier beabsichtigte Beurteilung des (mittel-)deutschen Metropolisierungsprozesses auf eine intersubjektiv nachvollziehbare Weise vorbereitet werden kann. Zur Beantwortung der Fragen wird im Folgenden die handlungs- und strukturationstheoretische Sozialgeographie operationalisiert, wobei zunächst die hier zu berücksichtigenden methodologischen Konsequenzen der sozialwissenschaftlichen Wende (vgl. Abschnitt 4.1) erörtert werden. Darüber hinaus wird im Rahmen des nachfolgend geschilderten Datenaufnahme- und Datenauswertungsverfahrens (Abschnitte 5 und 6) auch die konkrete methodische Herangehensweise geklärt, die einen Zugang zu den geographischen Praktiken, den Problem- und Konfliktsituationen sowie deren machtgeladener Bewältigung eröffnen soll. Im Zuge dessen wird verdeutlicht, dass eine Triangulation der Teilnehmenden Beobachtung, der Qualitativen Inhaltsanalyse von Experteninterviews und der Dokumentenanalyse den idealen Ansatzpunkt zur sozialgeographischen Annäherung an die Konstruktion und Revitalisierung der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland darstellt. Eine Kombination dieser drei sozialwissenschaftlichen Methoden hilft dabei, die subjektiven Sichtweisen der politischen Akteure wie auch deren Handlungen zur Herstellung metropolregionaler Wirklichkeiten offen zu legen. Es wird zudem gezeigt, dass die vom Einzelfall der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland vorgenommenen und abstrahierenden Ableitungen nur im Rahmen des hermeneutisch-interpretativen Paradigmas zu bewerkstelligen sind. Daher geht es nicht um die Entfaltung einer sozialgeographisch begründeten „Wahrheit“ über Metropolregionen im Allgemeinen, sondern vielmehr um das Verstehen von zwei zentralen Paradoxien des (mittel-)deutschen Metropolisierungsprozesses.

Teil III (Interludium): Methodologie und Technik Datenaufnahme- und Datenauswertungsverfahren

Zu den Kennzeichen der sozialwissenschaftlichen Wende gehört es, dass man sich zunehmend vom szientistisch-positivistischen Wissenschaftsverständnis losgelöst hat. Im Gegenzug finden nunmehr hermeneutisch-interpretative Forschungsansätze, mit denen die soziale Welt von innen heraus verstanden werden soll (vgl. FLICK ET AL. 2007:14), eine stärkere Aufmerksamkeit. Vor diesem Hintergrund mag es kaum verwundern, dass auch im Feld der Empirischen Sozialforschung längst von einer „qualitativen Wende“ (MAYRING 1989) gesprochen wird. Dies lässt den Schluss zu, dass viele Disziplinen ihr methodisches Repertoire an das hermeneutisch-interpretative Wissenschaftsverständnis angepasst haben. Folgt man HANS HEINRICH BLOTEVOGEL (2003:11), so führen die neuen Entwicklungen auch in der Geographie zu „einer zunehmenden Skepsis gegenüber quantitativen Erkenntnismethoden wie standardisierten Befragungen und […] einer Hinwendung zu qualitativen und insbesondere interpretativen Methoden wie der teilnehmenden Beobachtung, nicht oder nur gering vorstrukturierten Interviews sowie der Diskursanalyse“. Dies hat den entscheidenden Vorteil, dass die Humangeographie raumbezogene soziale Phänomene von innen heraus zu verstehen beginnt und sich insgesamt kritischer gegenüber den alltäglichen Praktiken des „Geographie-Machens“ (WERLEN 2009, 2010a, b) positionieren kann. Auch die nachstehenden Ausführungen stehen in der Tradition der qualitativen Wende in der Geographie (vgl. GEBHARDT ET AL. 2003; BACHMANN-MEDICK 2006; WEICHHART 2008). Der sich hieraus ergebenden Anforderung nach methodologischer und methodischer Reflexivität wird auf zweierlei Weise entsprochen: Zum einen werden die methodologischen Grundprinzipien der Qualitativen Sozialforschung erläutert und deren Konsequenzen für das Forschungsprojekt erörtert. Zum Zweiten werden die konkreten Datenaufnahme- und Datenauswertungsverfahren dargestellt, mit denen ein (kritischer) Zugang zu den alltäglichen Praktiken des „Geographie-Machens“ ermöglicht werden soll.

5 Datenaufnahmeverfahren

Die Geographie hat in den letzten Jahren zahlreiche theoretische, methodologische und methodische Konzepte der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften auf gewinnbringende Weise aufgenommen und dadurch ihren Anspruch, als Sozialwissenschaft wahrgenommen zu werden, gestärkt. Dabei sind vor allem die Arbeiten von BENNO WERLEN hervorzuheben, der sich seit Mitte der 1980er Jahre gegen ein traditionelles und raumwissenschaftliches Geographieverständnis gewendet und für eine sozialwissenschaftlich informierte – konkret: handlungs- und strukturationstheoretische Ausrichtung der Sozialgeographie stark gemacht hat (vgl. WERLEN 1987, 1995, 2007a, 2010a, b). Basierend auf seiner theoretisch und methodologisch begründeten Neuorientierung konnte auch das Methodenspektrum der Qualitativen Sozialforschung in die Geographie überführt und in zahlreichen Arbeiten erprobt werden (vgl. REUBER & PFAFFENBACH 2005). Dies zeigt sich insbesondere im Kontext der „Neuen Kulturgeographie“ (GEBHARDT ET AL. 2003; WEICHHART 2008), die ein breites Spektrum qualitativer – genauer: diskursanalytischer Forschungsmethoden integriert hat (MATTISSEK & REUBER 2004; MATTISSEK 2007; GLASZE & MATTISSEK 2009a).33 Ausgehend von diesen (kurzen) disziplinhistorischen Hintergründen stellt sich die Frage, was die Qualitative Sozialforschung tatsächlich leisten kann und weshalb es sinnvoll ist, qualitative Forschung auch in dieser Arbeit zu betreiben. Zur Beantwortung dieser Frage bietet es sich zunächst an, auf die verschiedenen Forschungsperspektiven Qualitativer Sozialforschung einzugehen und das methodologische Grundprinzip der Triangulation zu erläutern. Im Zuge dessen soll ge33

Interessanterweise scheinen die theoretischen, methodologischen und methodischen Perspektiven der „Neuen Kulturgeographie“ gerade auf die junge Forschergeneration besonders viel Anziehungskraft auszuüben, so dass gelegentlich sogar vor einem Paradigmenwechsel in der Humangeographie gesprochen wird (vgl. BLOTEVOGEL 2003). Ein Grund mag darin liegen, dass sich die Forscher die soziale Welt als diskursiv konstituiert vorstellen, wonach Soziales immer nur temporär, sich permanent wandelnd und in sich widersprüchlich existiert. Die für Humangeographen zentrale Analysekategorie des Raumes wird dabei nicht als Konsequenz bestimmter sozialer Strukturen und Prozesse gedacht, sondern als wichtiger Teil der Konstitution einer (instabilen, brüchigen und widersprüchlichen) Gesellschaft (GLASZE & MATTISSEK 2009b:42–43). Da diese Vorstellung mit der einer „sozial“ konstruierten Welt konfligiert, wird in dieser Arbeit keine poststrukturalistisch oder diskurstheoretisch inspirierte, sondern handlungs- und strukturationstheoretisch konzipierte Forschung durchgeführt.

Datenaufnahmeverfahren

109

zeigt werden, welche Zugänge zur sozialen Welt in dieser Arbeit gewählt und welche Methoden zum Verstehen raumbezogener sozialer Phänomene miteinander trianguliert wurden (Abschnitt 5.1). Konsequenterweise widmen sich die daran anschließenden Abschnitte der Darstellung der einzelnen Datenaufnahmeverfahren sowie forschungspraktischen Überlegungen. Begonnen wird mit der Erörterung der Teilnehmenden Beobachtung, die in erster Linie vor dem Hintergrund des Hochschulprojektes zur „Namens- und Identitätsfindung Metropolregion Sachsendreieck“ durchgeführt worden ist (Abschnitt 5.2). Daran anknüpfend wird auf die Experteninterviews nach Fokusgruppen eingegangen und zentrale Besonderheiten deren Dokumentation erläutert (Abschnitt 5.3). Abschließend wird das Datenaufnahmeverfahren der Dokumentensammlung beschrieben und eine Einordnung der Dokumente in den diskursiven Gesamtzusammenhang durchgeführt (Abschnitt 5.4).

5.1 Forschungsperspektiven und Triangulation In den vergangenen Jahren haben zahlreiche Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften eine „qualitative Wende“ (MAYRING 1989) vollzogen und ihr methodisches Repertoire an das hermeneutisch-interpretative Wissenschaftsverständnis angepasst. Damit wurde das quantitative Vorgehen mit seinen standardisierten Instrumenten (wie Tests und Fragebögen) zwar nicht gänzlich durch qualitative Methoden ersetzt (vgl. MAYRING 2002:9; FLICK ET AL. 2007:24–26). Wohl aber wurde die quantitative Forschung als Ideal der Empirischen Sozialforschung dezentralisiert, so dass sich der Strang der Qualitativen Sozialforschung aus seiner historischen Randständigkeit befreien und als paradigmatische „normal science“ (vgl. KUHN 1962) etablieren konnte.34 Nach FLICK ET AL. (2007:14) vertritt die Qualitative Sozialforschung den Anspruch, die soziale Welt (bzw. die Lebenswelten) „von innen heraus“ – also aus Sicht der handelnden Menschen zu verstehen. Dabei ist sie von der Überzeugung geleitet, dass sie hierüber zu einem besseren Verständnis der sozialen Wirklichkeit kommt und auf Strukturmerkmale der Gesellschaft, institutionalisierte Deu34

Betrachtet man die Geschichte der Qualitativen Sozialforschung, so hat sie sich ihre heutige Attraktivität und Aktualität hart und lange erkämpfen müssen. Obwohl schon frühzeitig die Forschergruppe um MARIE JAHODA mit ihren Analysen zu den Arbeitslosen von Marienthal (JAHODA ET AL. 1933), WILLIAM F. WHITE mit seiner Studie zur „Street Corner Society“ (WHITE 1955), ERVING GOFFMAN mit seinen Arbeiten zu Psychiatrischen Kliniken (GOFFMAN 1973) oder HAROLD GARFINKEL mit seinen so genannten Krisenexperimenten (GARFINKEL 1967) auf die Vorzüge einer offeneren und nicht standardisierten Forschungsstrategie hingewiesen hatten, wurde die Qualitative Sozialforschung nicht selten als eine schöngeistige Randerscheinung disqualifiziert (vgl. FLICK ET AL. 2007:14–16). Erst im Gefolge des cultural turns konnte sie ihre forschungsstrategischen Vorzüge bei einer größeren Forschungsgemeinschaft geltend machen. Zu diesen Vorzügen gehören a) ihr Feingefühl für die Deutungen und das Handeln der sozialen Akteure, b) ihr besseres Verständnis für deren Lebenswelten und soziale Wirklichkeiten sowie c) ihre Fähigkeit, das Eigene im Fremden zu suchen und somit als Quelle der Selbsterkenntnis zu nutzen (vgl. FLICK ET AL. 2007:14).

110

Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

tungsmuster sowie soziale Prozesse aufmerksam machen kann. Interessanterweise bleiben diese nämlich den meisten (und in der Selbstverständlichkeit des Alltags verhafteten) Akteuren weitgehend verschlossen bzw. sind ihnen in der Regel nicht bewusst. Die Qualitative Sozialforschung versucht nun, die intransparente soziale Welt mit ihren „dichten“ Beschreibungen transparent zu machen – ohne jedoch die soziale Wirklichkeit objektivierend abzubilden. Zur Erfüllung dieses Auftrages bedient sich die Qualitative Sozialforschung verschiedener Forschungsperspektiven, die sich in ihrer jeweiligen theoretischen Positionierung, ihrem Gegenstandsverständnis und ihrem methodischen Fokus zum Teil stark voneinander unterscheiden. So haben FLICK ET AL. 2007:18–19 drei Forschungsperspektiven identifiziert, die Zugänge a) zu subjektiven Sichtweisen, b) zur Herstellung sozialer Wirklichkeiten und c) zu tiefer liegenden Strukturen ermöglichen sollen (Abbildung 25). Forschungspraktisch betrachtet bedeutet dies jedoch nicht, dass immer nur aus einer der Forschungsperspektiven heraus analysiert werden darf. Im Gegenteil: Je nach Fragestellung ist zu überprüfen, wie die verschiedenen Forschungsperspektiven systematisch miteinander verknüpft und so die Möglichkeiten der (Selbst-)Erkenntnis maximiert werden können. Zugänge zu subjektiven Sichtweisen

Zugänge zur Herstellung sozialer Wirklichkeiten

Hermeneutische Analyse tief liegender Strukturen

Theoretische Positionen

Symbolischer Interaktionalismus | Phänomenologie

Ethnomethodologie | Konstruktivismus

Psychoanalyse | Strukturalismus

Methoden der Datenerhebung

Leitfaden-Interviews | Narrative Interviews

Teilnehmende Beobachtung | Dokumentensammlung

Aufzeichnung von Interaktionen | Fotographie | Filme

Methoden der Interpretation

Theoretisches Codieren | Qualitative Inhaltsanalyse

Konversationsanalyse | Dokumentenanalyse

Objektive Hermeneutik | Tiefenhermeneutik

Abbildung 25: Forschungsperspektiven in der qualitativen Forschung Quelle: Eigene Darstellung (in Anlehnung an FLICK ET AL. 2007:19)

In der Qualitativen Sozialforschung wird die Kombination von verschiedenen Forschungsperspektiven als Triangulation (FLICK 2007a) bezeichnet – ein methodologisches Prinzip, das metaphorisch aus dem Bereich der Landvermessung eingeführt wurde. Der Begriff verweist auf die Kombination mehrerer Datenerhebungsmethoden zur Annäherung an den empirischen Gegenstand bzw. auf die sozialwissenschaftliche „Betrachtung eines Forschungsgegenstandes von (mindestens) zwei Punkten aus“ (FLICK 2007a:309). Mit der Wahl einer Triangulation ist allgemein intendiert, die Erkenntnismöglichkeiten systematisch zu erweitern und Zusammenhänge zwischen den verschiedenen empirischen Materialien sichtbar zu machen. Darüber hinaus kann durch die geschickte Verknüpfung unterschiedlicher Datenerhebungsmethoden das Erkenntnispotenzial zusätzlich abgesichert werden. Nach DENZIN (1978) kann die Triangulation auf viererlei Weise erfolgen: a) über eine Daten-Triangulation (die Daten entstammen verschiedenen Quellen, die zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten oder bei verschiedenen Per-

Datenaufnahmeverfahren

111

sonen erhoben wurden), b) eine Investigator-Triangulation (subjektive Einflüsse werden durch den Einsatz verschiedener Beobachter oder Interviewer ausgeglichen), c) eine Theorien-Triangulation (man nähert sich dem Forschungsgegenstand von verschiedenen Perspektiven und Hypothesen aus) oder d) eine Methoden-Triangulation. Dabei hat die Methoden-Triangulation wohl die größte Beachtung erlangt, da sie zum einen die engere Verbindung zwischen quantitativen und qualitativen Methoden fördert (vgl. ENGLER 1997; FLICK 1999) und zum Zweiten eine engere Verwobenheit qualitativer Methoden untereinander anstrebt. So schlägt MAROTZKI (1995) vor, reaktive Verfahren (wie beispielsweise die Teilnehmende Beobachtung oder Leitfadengestützte Interviews) mit nichtreaktiven Verfahren (wie beispielsweise Dokumentenanalysen) zu kombinieren. Damit werden die Methoden, in denen der Forscher Teil der Untersuchungssituation und der Datenproduktion ist, mit den Methoden gekoppelt, in denen der Forscher unabhängig von der Datenproduktion auftritt. Konzeptionelle Vorgehensweise (Datenerhebungsphase): Auch in dieser Arbeit wird das empirische Material unter Rückgriff auf die MethodenTriangulation erhoben. Dabei werden reaktive mit nichtreaktiven Verfahren gekoppelt (vgl. Abbildung 26). Die Wahl der Datenerhebungsverfahren begründet sich damit, dass a) die Teilnehmende Beobachtung einen Zugang zum institutionellen und strategiebildenden Kontext gewährleistet und zudem den Selbstreflexionsprozess des Forschers als Teil des empirischen Feldes begünstigt, b) die Leitfadengestützten Experteninterviews einen Zugang zu den subjektiven Bedeutungen und individuellen Sinnzuschreibungen ausgewählter und nach Fokusgruppen kategorisierter Akteure ermöglichen sowie c) die Sammlung von (Text-) Dokumenten einen systematischen Zugang zur Herstellung und Kommunikation sozialer Wirklichkeiten zulässt. Forschungspraktisch betrachtet sind die einzelnen Datenerhebungsverfahren nicht zeitlich nacheinander, sondern parallel zueinander in einem Zeitraum von 2007 bis 2010 durchgeführt worden. Leitfadengestützte Experteninterviews

Teilnehmende Beobachtung

Sammlung von Dokumenten

Abbildung 26: Methoden-Triangulation (Datenerhebungsphase) Quelle: Eigene Darstellung

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Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

Insgesamt betrachtet soll es mit Hilfe der Methoden-Triangulation gelingen, das raumbezogene soziale Phänomen der mitteldeutschen Metropolregion von innen heraus – also aus Sicht der befragten Experten und durch unmittelbare Teilnahme am Geschehen zu verstehen. Zudem soll es mit ihrer Hilfe möglich sein, eine kritische Grundhaltung gegenüber den alltäglichen Praktiken des „GeographieMachens“ (WERLEN 2009, 2010a, b) einzunehmen. Da dabei das eigene Hintergrundwissen aus der Teilnehmenden Beobachtung zum Tragen kommt, wird im Folgenden – nicht zuletzt aus Gründen der „Intersubjektiven Nachvollziehbarkeit“ (STEINKE 2007:324) – dieses Datenerhebungsverfahren näher vorgestellt. Die Wahl dieses Verfahrens steht zum einen im direkten Zusammenhang mit der Akquisition des Drittmittelprojektes zur „Namens- und Identitätsfindung Metropolregion Sachsendreieck“ (siehe Abschnitt 6.1) und der dadurch ermöglichten Teilnahme an verschiedenen metropolregionalen Veranstaltungen (Auftraggeber: Metropolregion Sachsendreieck; Zeitraum: WS08/09; Leitung: Prof. Dr. BENNO WERLEN; vgl. FEDERWISCH 2009a). Sie begründet sich zum Zweiten mit den am Lehrstuhl Sozialgeographie der Universität Jena erbrachten Vorarbeiten und Erfahrungen im Rahmen des DFG-Projektes „Mitteldeutschland“ (We2614/2–2; vgl. FELGENHAUER ET AL. 2003, 2005; WERLEN 2007c).

5.2 Teilnehmende Beobachtung (Ethnographie) Die historischen Wurzeln der Teilnehmenden Beobachtung liegen gleichermaßen in der britischen und US-amerikanischen Ethnologie, (Kultur-)Anthropologie und Sozialreformbewegung vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Zu den soziologischen Klassikern dieser Datenerhebungsmethode gehören die Vertreter der Chicago School of Sociology, die sich auf Basis ausführlicher Beobachtungen und Reportagen einen Zugang zu den verteilungs- und migrationsbedingten Konflikten in US-amerikanischen Industriezentren erarbeitet hatten. Fortgesetzt wurde diese Forschungstradition vor allem durch die Untersuchungen zur „Street Corner Society“ von WILLIAM F. WHITE (1955) und zur alltäglichen Selbstdarstellung der Shetland-Bewohner von ERVING GOFFMAN (1959). Auf dieser Grundlage konnte sich die Teilnehmende Beobachtung zumindest im englischsprachigen Raum als eine wichtige Methode zur Beschreibung von „Wirklichkeit“ etablieren (vgl. LÜDERS 2007:385–388). Im Gegensatz zu den USA und Großbritannien führte die Teilnehmende Beobachtung in Deutschland bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eher ein Schattendasein. So wurde sie nur selten als ein zentrales Datenerhebungsverfahren eingesetzt und in erster Linie neben anderen Datenerhebungsverfahren (wie dem Interview, der Gruppendiskussion oder der Dokumentenanalyse) verwendet (vgl. BOHNSACK 1999:146; LÜDERS 2007:388). In der Folge ist die Teilnehmende Beobachtung hierzulande auch kaum methodologisch reflektiert und konzeptionell weiterentwickelt worden. Daher blieben viele Fragen nach dem methodologischen Status, der Formalisierbarkeit, der Standardisierbarkeit und der Methodisierung des Verfahrens für lange Zeit weitgehend ungeklärt (vgl. LÜDERS 2007:388).

Datenaufnahmeverfahren

113

Ethnographie: Erst mit der Etablierung des ethnographischen Forschungsverständnisses wurde die Teilnehmende Beobachtung auch in Deutschland Gegenstand zahlreicher theoretischer, methodologischer und technischer Überlegungen. Theoretisch wurde sie unmittelbar mit der Phänomenologie und dem damit korrespondierenden Konzept der Lebenswelt von EDMUND HUSSERL verknüpft, dessen vordergründiges Ziel die Analyse der in die jeweilige Kultur eingelagerten Wissensbestände und -formen war (vgl. HONER 2007). Im Zentrum steht die Frage, wie und unter welchem Mitteleinsatz soziale Phänomene bzw. soziale Wirklichkeiten erzeugt werden. Anders als die traditionelle Ethnologie und (Kultur-) Anthropologie nimmt die sozialwissenschaftliche Ethnographie dabei jedoch nicht fremde Kulturen, sondern vorrangig die eigene Kultur bzw. die Kulturen in der eigenen Gesellschaft in den Blick (LÜDERS 2007:390).35 Im Zusammenhang mit der theoretischen Verankerung der Teilnehmenden Beobachtung in den phänomenologischen Kontext wurde auch dessen (methodologisches) Beobachtungsverständnis übernommen. So nimmt der Forscher nicht ausschließlich den Blick der Teilnehmer ein, sondern beobachtet vielmehr die Sicht, welche die Teilnehmer auf die soziale Welt haben und wie sie sich selbst und anderen gegenüber soziale Fakten schaffen. In der wissenschaftlichen Literatur ist diese Vorgehensweise oft als „Beobachtung zweiter Ordnung“ beschrieben worden (Abbildung 27). Sie impliziert auch, dass sich der Forscher nicht als neutraler Beobachter verstehen kann, sondern stets sein eigenes Handeln reflektieren muss (beispielsweise Beobachtung von eigenen Emotionen etc.). In diesem Sinne ist die „Fähigkeit, das eigene Vorgehen, die eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen im Feld und die eigenen individuellen, kulturellen, sozialen und existenziellen Voraussetzungen reflexiv durchdringen zu können, [eine] entscheidende Kompetenz“ des teilnehmenden Beobachters (LÜDERS 2007:395). Objekt

Beobachter erster Ordnung

Beobachter zweiter Ordnung

Abbildung 27: Beobachterperspektive zweiter Ordnung (Beobachtung der Beobachtung) Quelle: Eigene Darstellung 35

Phänomenologisches und lebensweltorientiertes Forschungsverständnis nach GOFFMAN (1996:263): „Die Technik besteht meines Erachtens darin, Daten zu erheben, indem man sich selbst, seinen eigenen Körper, seine eigene Persönlichkeit und seine eigene soziale Situation den unvorhersehbaren Einflüssen aussetzt, die sich ergeben, wenn man sich unter eine Reihe von Leuten begibt, ihre Kreise betritt, in denen sie auf ihre soziale Lage, ihre Arbeitssituation, ihre ethische Einstellung oder was auch immer reagieren.“

114

Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

Auf der technischen Seite begann man aufgrund des sehr geringen Grades an einer möglichen Formalisierung, Standardisierung oder Methodisierung des Verfahrens mit einer gewissen Vagheit zu leben (LÜDERS 2007:388–389). Konkret: Die Teilnehmende Beobachtung „impliziert Risiko, Unsicherheit und Ungemütlichkeit […] Nicht nur, dass der Forscher unbekannte Felder zu betreten hat; er geht auch noch ‚unbewaffnet‘, ohne Fragebögen, Interviewleitfäden oder Beobachtungsprotokolle, die ihn vor dem kalten Wind der rauen Realität schützen könnten. Sie stehen mit sich allein. Sie selbst sind ihr erstes Forschungsinstrument, mit dem sie Daten ausfindig machen, identifizieren und sammeln müssen“ (BALL 1990:157).

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Forschungsprozess der Willkür anheim fallen muss/darf. So sollte meines Erachtens im Vorfeld der Untersuchung ein Beobachtungssystem erarbeitet werden, in dem auch die Fragen zur Rolle des Beobachters und seiner Beziehung zum sozialen Feld geklärt werden. Beobachtungssystem: Das Beobachtungssystem bündelt zunächst die forschungsrelevanten Informationen, die zum Zwecke der „Intersubjektiven Nachvollziehbarkeit“ (STEINKE 2007:324) im Vorfeld der Teilnehmenden Beobachtung erhoben und in deren Verlauf aktualisiert werden. Es beinhaltet neben den Hintergrundinformationen zur Wahl der Forschungsmethode auch Rahmeninformationen wie die geplante Dauer (geplanter Zeitraum), Frequenz (kontinuierlich oder sporadisch) und Offenheit (offen oder verdeckt) der Teilnehmenden Beobachtung. Darüber hinaus werden im Beobachtungssystem auch der Zeitpunkt der Kontaktaufnahme und des Feldein- und Feldausstieges sowie die Art und Weise der Etablierung und Aktualisierung der Feldrolle verzeichnet. Zentraler Bestandteil des Beobachtungssystems sind jedoch die Protokolle des Autors, die in aller Regel auf Erinnerungen basieren und (ähnlich einem Tagebucheintrag) ex post entstehen. Dabei ist – ganz im Sinne einer konstruktivistischen Forschungsperspektive (FLICK 2007b) – zu beachten, dass die vom teilnehmenden Beobachter angefertigten Texte ebenfalls selektive Interpretationen umfassen und somit subjektive Wirklichkeitsdeutungen darstellen (LÜDERS 2007:396). Hintergrundinformationen: Die Entscheidung für die Wahl des Datenaufnahmeverfahrens der Teilnehmenden Beobachtung begründet sich in erster Linie mit der Teilnahme am Hochschulwettbewerb zur „Namens- und Identitätsfindung Metropolregion Sachsendreieck“ (Kontaktaufnahme am 01.09.2008). Der Projektauftrag wurde von der Geschäftsstelle der Metropolregion Sachsendreieck unter anderem an den Lehrstuhl Sozialgeographie der Friedrich-SchillerUniversität Jena gegeben (Zusage am 14.10.2008). Die Aufgabe der Wettbewerbsteilnehmer war es, einen möglichst prägnanten und identitätsstiftenden Namen für die Metropolregion sowie ein dazugehöriges Logo und gegebenenfalls innovative Ideen für ein Regional-Marketing zu erarbeiten. Dabei sollte der Name und das Logo auf dem schlüssigen Konzept einer gemeinsamen Identifikation innerhalb der Region beruhen (auf Gemeinsamkeiten der beteiligten Gebietskörperschaften im gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und/oder kulturellen Bereich). Zu den Teilnehmern gehörten neben dem Lehrstuhl Sozialgeographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena:

Datenaufnahmeverfahren

x x x x x x x

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Technische Universität Chemnitz: Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Professur für Marketing und Handelsbetriebslehre, Prof. Dr. Cornelia Zanger Brandenburgische Technische Universität Cottbus: Fakultät 2 für Architektur, Bauingenieurwesen und Stadtplanung, Dr. Thorsten Wiechmann Technische Universität Dresden: Fakultät Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl für Marketing, Prof. Dr. Stefan Müller Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Philosophische Fakultät II, Institut für Medien, Kommunikation und Sport, Prof. Dr. Manfred Kammer Friedrich-Schiller-Universität Jena: Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Prof. Dr. Georg Ruhrmann Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg: Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, Lehrstuhl Betriebswirtschaftslehre, Prof. Dr. Bernd Erichson Bauhaus-Universität Weimar: Bauhaus. Transferzentrum DESIGN, Herr Gregor Sauer

Mit dem Bearbeitungsbeginn (20.10.2008) wurde der Zugang zum Forschungsfeld dauerhaft und über den eigentlichen Abgabetermin des Forschungsberichtes hinaus hergestellt (Abgabe des Berichts am 09.01.2009; FEDERWISCH 2009a). Zwar bestanden aufgrund der Teilnahme an der „Zukunftskonferenz 2007“ (organisiert durch die Wirtschaftsinitiative für Mitteldeutschland) sowie der Vorarbeiten im Rahmen des DFG-Projektes „Mitteldeutschland“ (siehe Exkurs I) schon umfängliche Vorkenntnisse über das Forschungsfeld und zahlreiche Kontakte zu strategischen Akteuren (Abbildung 28). Jedoch konnte erst im Zuge des Drittmittelprojektes ein kontinuierlicher Austausch mit dem Auftraggeber (Geschäftsstelle Metropolregion Sachsendreieck) erfolgen. Zu den zentralen Vorteilen dieser Kooperation gehört, dass hierdurch zahlreiche forschungsrelevante Informationen zirkulieren und neue Kontakte geknüpft werden konnten. Zum Zweiten kamen durch das universitäre Engagement forschungsrelevante Einladungen zu den Metropolregionskonferenzen am 30.01. 2009 und 26.03.2010 zustande, wodurch die Präsenz des teilnehmenden Beobachters mehrfach aktualisiert werden konnte. Zum Dritten hatte die Kooperation mit der Geschäftsstelle zur Folge, dass am 29.05.2009 eine studentische Exkursion durchgeführt werden konnte. Dabei wurde nicht nur die Metropolregion Sachsendreieck aus Sicht der Geschäftsführung vorgestellt, sondern vor allem eine gruppendiskussionsartige Gesprächsatmosphäre mit den Studierenden aufgebaut. Hochschulwettbewerb

Konferenzen

DFG-Projekt

„Namens- und Identitätsfindung Metropolregion Sachsendreieck“ (WS 2008/2009) | Effekte: Systematische Integration ins Feld | Reflexion des eigenen Tuns

Zukunftskonferenz 2007; Metropolregionskonferenz 2009, 2010; Exkursion 2009 | Effekt: Involvierung in den (metropol-)regionalen Meinungsbildungsprozess

DFG-Projekt „Mitteldeutschland“ (We 2614/2–2 | Lehrstuhl Sozialgeographie | Effekt: Systematisierte Vorkenntnisse in Randbereichen des Forschungsfeldes

Abbildung 28: Motivation zur Teilnehmenden Beobachtung Quelle: Eigene Darstellung

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Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

Insgesamt betrachtet stellt die sporadisch über einen Zeitraum vom 20.11.2007 („Zukunftskonferenz 2007“) bis zum 26.03.2010 („Metropolregionskonferenz 2010“) durchgeführte Teilnehmende Beobachtung eine geeignete Methode zur Gewinnung von Daten zur (metropol-)regionalen Alltagspraxis dar. Die Daten wurden in Form von Mitschriften und nachträglich erstellten Protokollen dokumentiert. Die Auswertung der Daten aus der Teilnehmenden Beobachtung wurde in erster Linie zur Explizierung der Interviewdaten vorgenommen (vgl. Abschnitt 8.3). Da letztere im Zentrum der empirischen Erhebung stehen, wird im Folgenden auf das Datenaufnahmeverfahren der Experteninterviews nach Fokusgruppen sowie auf Besonderheiten deren Dokumentation eingegangen. Exkurs I | Im DFG-Projekt „Mitteldeutschland“ wurden anhand der medialen Berichterstattung des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) Praktiken und Prozesse der signifikativen Regionalisierung zur Herstellung territorialer Bezugseinheiten untersucht (FELGENHAUER ET AL. 2003, 2005; WERLEN 2007c). In drei Teilstudien wurde analysiert, wie „Mitteldeutschland“ I) in Sendeinhalten (Text/Bild), II) im Redaktionsprozess und III) in alltäglichen Kommunikationssituationen konstituiert wird. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass Regionen keine selbstevidenten Tatsachen darstellen, sondern als Produkte bestimmter Wiederverankerungspraktiken zu verstehen sind. Die Massenmedien können als Instanzen signifikativer Regionalisierung bzw. als Produzenten symbolischer Geographien betrachtet werden (WERLEN 2008a). Es zeigt sich zudem, dass die Medien auf technisch-struktureller Ebene durchaus als „Entankerungsmechanismen“ verstanden werden können. Auf der Ebene symbolisch verfasster Medieninhalte produzieren sie jedoch traditionelle geographische Weltbilder der „logischen“ Verknüpfung von Raum, Kultur und Gesellschaft (FELGENHAUER & SCHLOTTMANN 2007; SCHLOTTMANN ET AL. 2007). Aus dem Projekt sind mehrere Qualifikationsarbeiten hervorgegangen. So untersucht TILO FELGENHAUER (2007) in seiner Dissertation „Geographie als Argument“ die regionalisierenden Implikationen von alltäglichen Begründungspraktiken (Teilstudie II). Wie „für“ und „mit“ Raum argumentiert wird, zeigt nicht nur einen wichtigen Aspekt kommunikativer Praxis an sich, sondern gibt Aufschluss darüber, wie geographisches Hintergrundwissen alltäglich reproduziert wird. Mithilfe der Argumentationsanalyse werden die Prämissen geographischen Argumentierens systematisch explizierbar. Als ein wichtiges Ergebnis der Studie konnte die Karriere des Begriffes „Mitteldeutschland“ von einem begründungsbedürftigen zu einem begründungsliefernden Toponym rekonstruiert werden. Die Arbeit von MELANIE LENK (2005) widmet sich den Mitteldeutschland-Bezügen in der Alltagskommunikation (Teilstudie III) und zeigt die Diskrepanz zwischen einem medial erlernten Wissensbestand und den vielfältigen persönlichen Vorstellungen der Region und ihrer Abgrenzung. MANDY MIHM wird in Kürze die Ergebnisse der Teilstudie I zur Konstruktion der Region in der TV-Serie „Geschichte Mitteldeutschlands“ vorlegen. Ihre Analyse zielt detailliert auf die sprachlichen und bildlichen Mittel einer gesteuerten Herstellung räumlicher Einheiten und raumbezogener Identität.

Datenaufnahmeverfahren

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5.3 Experteninterviews und Transkription Das Datenerhebungsverfahren der Experteninterviews gehört zu den am weitesten verbreiteten Methoden der Qualitativen Sozialforschung. Es steht in der Tradition a) zur Phänomenologischen Soziologie (HITZLER & EBERLE 2007), b) zur Verstehenden Soziologie (SOEFFNER 2007) sowie c) zum Symbolischen Interaktionismus (DENZIN 2007) und weist somit eine hohe Kompatibilität zur oben geschilderten ethnographischen Forschungsmethode auf. Seine Anwendung macht es möglich, ergänzend zu den eigenen Beobachtungen nun auch die subjektiven Sichtweisen der „Experten“ über das jeweilige Untersuchungsfeld zu erlangen. Dabei geht es idealerweise darum, die Situationsdeutungen, Handlungsmotive, Alltagstheorien und Selbstinterpretationen der befragten Personen/Experten offen zu legen (HOPF 2007:349–350). Während die theoretische Einbettung dieser Interviewtechnik vielfach erläutert worden ist (BOGNER 2009; GLÄSER 2009), sollen an dieser Stelle forschungspraktische Aspekte betrachtet werden. So ist zunächst zu berücksichtigen, dass Experteninterviews in aller Regel Alltagsroutinen stören und somit – wie auch die Teilnehmende Beobachtung – hochgradig konstruierte soziale Situationen darstellen (vgl. ATTESLANDER 2000). Aus diesem Grund ist es wichtig, sich schon im Vorfeld der Datenerhebung um eine möglichst hohe Transparenz der erwartbaren Forschungssituation zu bemühen. Dabei kann – ähnlich wie bei der Teilnehmenden Beobachtung – ein Befragungssystem behilflich sein, welches die folgenden Aspekte zu berücksichtigen hat: x

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Auswahl der Interviewpartner: Im Vorfeld der Untersuchungen ist die Auswahl der Interviewpartner vorzunehmen und intersubjektiv nachvollziehbar zu begründen. Handelt es sich um eine Zufallsstichprobe oder um eine gerichtete und somit stärker theoriegeleitete Auswahl der Personen? Bestimmung von Fokusgruppen: Gerade bei der gerichteten Auswahl von Personen ist zu prüfen, ob sich bestimmte Fokusgruppen bestimmen lassen. Dabei kann eine Einteilung nach Vertretern gesellschaftlicher Teilsysteme behilflich sein, was bei der Erstellung von Fragebögen zu berücksichtigen ist. Leitfaden: Ein Leitfaden (Fragenkatalog) kann das Experteninterview maßgeblich strukturieren – gerade, wenn er vorab kommuniziert wird. Daher ist noch vor dem Interview zu klären, ob der Leitfaden a) an die Fokusgruppen angepasst und b) vorab an die Interviewpartner versendet werden soll. Kommunikationssituation: Der Ort des Geschehens kann die Kommunikationssituation stark beeinflussen. Demgemäß ist vorab zu bestimmen, ob das Gespräch im vertrauten Lebens- und Arbeitskontext des Interviewten oder in einer außeralltäglichen Situation (Restaurant, Kamingespräch) stattfindet. Soziale Rolle: Im Vorfeld der Untersuchung ist zu klären, in welcher (sozialen) Rolle die Interviewperson vordergründig angesprochen werden soll. Ferner ist zu klären, ob ein Rollenwechsel absichtsvoll herbeigeführt wird, um so Widersprüche in den Aussagen aufzudecken (vgl. HERMANNS 2007:363).

118

Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

Wissenschaft

Interessengruppen

Landesplanung

Politik und Verwaltung

In dieser Arbeit erfolgte die Auswahl der Interviewpartner nicht nach dem Prinzip der Stichprobe, sondern nach dem „Schneeballprinzip“ (vgl. SCHINDLER 2006:293). Dabei richteten sich die sondierenden Anfragen zum einen an Dr. ALBRECHT SCHRÖTER, der als Oberbürgermeister der Stadt Jena auch in der Wirtschaftsinitiative für Mitteldeutschland, dem Forum Mitteldeutscher Städte und dem Forum Mitteldeutschland aktiv ist. Zum Zweiten wurde der Geschäftsführer der Metropolregion Mitteldeutschland, URS LUCZAK, als wichtiger „Kontaktgenerator“ gewonnen. Im Ergebnis wurden insgesamt fünfzehn Personen aus vier verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen als Interviewpersonen identifiziert (Abbildung 29). Konkret: In einem ersten Schritt wurden die strategischen und operativen Akteure der Metropolregion Mitteldeutschland als Interviewpartner gewonnen. In einem zweiten Schritt wurden die Vertreter der Landesplanung Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens als Interviewpartner bestimmt. In einem dritten Schritt wurden die Vertreter der wichtigsten wirtschaftlichen Interessengruppen als Experten identifiziert. Und schließlich sollten auch Vertreter wissenschaftlicher Einrichtungen ihre Sichtweise auf die Metropolregionen bzw. die Metropolregion Mitteldeutschland darlegen können (Einschränkung: Prof. Dr. RAINER DANIELZYK wurde nur im Rahmen eines Forschungskolloquiums befragt). Sachsen

Sachsen-Anhalt

Thüringen

11.06.2009 | BURKHARD JUNG (OB) | MARTIN ZUR NEDDEN (BM) | Interview im Rathaus Leipzig

28.05.2009 | DAGMAR SZABADOS (OB) | Interview im Rathaus Halle/Saale

15.12.2008 | Dr. ALBRECHT SCHRÖTER (OB) | Interview im Rathaus Jena

17.06.2009 | BARBARA LUDWIG (OB) | Interview im Rathaus Chemnitz

12.06.2009 | Dr. LUTZ TRÜMPER (OB) | Interview im Rathaus Magdeburg

22.04.2009 | Dr. ALBRECHT SCHRÖTER (OB) | Interview im Rathaus Jena

04.02.2010 | DIRK HILBERT (BM) | Interview im Rathaus Dresden

29.05.2009 | URS LUCZAK (bis 03/2010 Geschäftsführer) | THOMAS MICHALLA (Verbandsrat Stadt Chemnitz) | Interview in der GS der EMR MDD in Chemnitz

Sachsen

Sachsen-Anhalt

Thüringen

04.02.2010 | MARGIT HEGEWALD (RL) | CHRISTIAN GLANTZ (Referent) | Interview im SMI Dresden

18.12.2009 | FRANK THAEGER (Referent) | Interview im MLVSA Magdeburg

18.11.2009 | Dr. JOACHIM KILZ (Referent) | Interview im TMBLV Erfurt

Wirtschaftsinitiative

WIREG Chemnitz-Zwickau

16.04.2009 | KLAUS WURPTS (bis 12/2010 Geschäftsführer) | Interview in der WfM in Leipzig

29.05.2009 | UWE DIETRICH (Sachbearbeiter) | THOMAS MICHALLA (Verbandsrat Stadt Chemnitz) | Interview in der GS der WIREG in Chemnitz

BBSR

Universitäten

28.01.2009 | Dr. RUPERT KAWKA (BBSR Bonn) | Interview an der Universität Jena

02.06.2010 | Prof. Dr. RAINER DANIELZYK (Universität Hannover) | Forschungskolloquium am Lehrstuhl Sozialgeographie der FriedrichSchiller-Universität in Jena

Abbildung 29: Übersicht der Experteninterviews nach Fokusgruppen Quelle: Eigene Darstellung

Datenaufnahmeverfahren

119

Die Interviews wurden über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren durchgeführt (Dezember 2008-Juni 2010), wobei jeder Interviewpartner im Vorfeld einen auf die Fokusgruppe spezifisch ausformulierten Fragenkatalog zugestellt bekommen hat (Ausnahme: Prof. Dr. RAINER DANIELZYK). Dieses Vorgehen begründet sich in erster Linie mit dem Wunsch der Experten aus der (Kommunal-)Politik und Landesplanung, sich auf die Interviews vorbereiten zu können. Mit dieser Entscheidung wurde von vornherein eine teilstrukturierte Befragung (vgl. ATTESLANDER 2000:150–156) herbeigeführt, was den Vorteil eines intensiveren Gesprächs mit sich brachte. Die Intensität wurde zusätzlich begünstigt, da die meisten Interviews am vertrauten Lebens- und Arbeitsort der Interviewpartner durchgeführt worden sind (Ausnahmen wurden in Abbildung 29 kenntlich gemacht). Dabei wurde versucht, jede Interviewperson in ihrer beruflichen Funktion als Oberbürgermeister, Referent oder Wissenschaftler anzusprechen. Problematisch ist, dass trotz der Erstellung eines Befragungssystems grundsätzlich keine umfängliche Kontrolle der sozialen Situation seitens des Interviewers gewährleistet werden kann. So gibt es zahlreiche unvorhersehbare Ereignisse („Störfeuer“ wie Unterbrechungen oder Missverständnisse), welche nicht zuletzt die Interviewbereitschaft der Experten minimieren können. Aus diesem Grund bot es sich auch beim hier verfolgten Forschungsprojekt an, die subjektiven Eindrücke von der Interviewsituation handschriftlich zu protokollieren. Als explikatives Element wurden sie bei der Transkription der Tonbandaufnahmen berücksichtigt, welche die Grundlage einer strukturierenden qualitativen Datenauswertung (vgl. Abschnitt 8.2) darstellt. Transkriptionssystem: Auch im Falle der Transkription ist es notwendig, sich seiner kontinuierlichen Einflussnahme auf die Vertextlichung von „flüchtigen Gesprächen“ bewusst zu sein.36 Dementsprechend verlangt die Transkription geradezu danach, dass auch ein Transkriptionssystem für die Interpretation Dritter erstellt wird (STEINKE 2007:324–331). In einem solchen Transkriptionssystem können die Entscheidungen hinsichtlich der Auswahl der transkribierten Verhaltensmerkmale (verbale, prosodische, parasprachliche und außersprachliche) oder der Notationszeichen (beispielsweise die Notierung der Silbendehnung) schriftlich festgehalten werden. Darüber hinaus ist es für einige Fragestellungen nötig, die räumliche Anordnung bzw. zeitliche Abfolge von Gesprächsbeiträgen (Partiturschreibweise, Zeilenschreibweise) zu berücksichtigen (vgl. KOWAL & O’CONNELL 2007:438). 36

Die Herstellung von Transkripten wurde lange Zeit als ein theoriefernes Unterfangen betrachtet. So wurde davon ausgegangen, dass die Transkription einzig der Sequenz „von den Primärdaten (Originalgespräch) über die Sekundärdaten (Audioaufnahme des Gesprächs) zu den Tertiärdaten (Transkription des Gesprächs)“ folgt (vgl. KOWAL & O’CONNELL 2007:440). Nach heutigem Wissensstand zeigt sich jedoch, dass die Herstellung und Verwendung von Transkripten hochgradig theoriegeladen ist. Hiernach bilden die Transkribierenden nicht einfach das Gespräch papierhaft ab, um dem Leser einen neutralen Zugang zum Gespräch zu ermöglichen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die Transkribierenden konstruktiv (und damit selektiv und interpretativ) in den Prozess der Transkription eingreifen und dadurch deren Analyse und tiefergehende Interpretation maßgeblich beeinflussen.

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Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

In dieser Arbeit wurde eine Transkription nach „Standardorthographie“ gewählt (KOWAL & O’CONNELL 2007:441). Dabei erfolgt die Orientierung an den Normen der geschriebenen Sprache; auf Besonderheiten der Sprache wie Dialekt, Elision (Auslassung einzelner Laute) oder Assimilation (Angleichung aufeinander folgender Laute) wird verzichtet. Auf Verhaltensmerkmale (wie auffälliges Lachen) wird in eckigen Klammern (Beispiel: [lachen]) hingewiesen; von einer Verwendung der Notationszeichen oder einer besonderen Verschriftlichung im Sinne einer Partitur- oder Zeilenschreibweise der Gesprächsbeiträge wird abgesehen. Allerdings wurde eine Sequenzierung der Interviews auf Satzebene durchgeführt und mittels einer farbig unterlegten laufenden Nummer in runden Klammern kenntlich gemacht. Diese Methode wurde gewählt, um eine Rückverfolgung der kategorisierten Aussagen in den Gesamtzusammenhang zu ermöglichen. Darüber hinaus wurden jedem Transkript wichtige Rahmeninformationen in Tabellenform vorangestellt (Abbildung 30). Diese beinhalten neben der genauen Bezeichnung des Interviews auch den Namen der interviewten Person, deren Funktion und Adressinformationen sowie das Datum der Aufzeichnung und der Interviewrunde. Schließlich wird – im Gegensatz zu einer Vielzahl von qualitativen Untersuchungen – noch der Kommunikationszusammenhang der jeweiligen Experteninterviews berücksichtigt (vgl. MAYRING 2008:42). Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass ein Interview immer in einem bestimmten Kontext entstanden ist und somit auch kontextgebunden analysiert und interpretiert werden muss. Bezeichnung

Name

Vorname

Code

SCHRÖTER

ALBRECHT, DR.

Funktion(en)

Adresse/Kontakt

Oberbürgermeister Stadt Jena

Dr. Albrecht Schröter | Am Anger 15 | 07743 Jena

Datum

Interviewrunde

Technik

Text

090422

½

Experteninterview

Transkription

Kommunikationszusammenhang

Das Experteninterview wurde im Büro des OB Jena und unter Beisein von Dr. ALBRECHT SCHRÖTER sowie von TOBIAS FEDERWISCH aufgenommen. Weitere Teilnehmende Personen: Prof. Dr. BENNO WERLEN, Dr. TILO FELGENHAUER. Das Interview entstand im Zusammenhang mit dem Hochschulprojekt „Namens- und Identitätsfindung EMR SDD“, an dem auch die Universität Jena beteiligt war. Die Gesprächssituation war entspannt – es gab keine zeitlichen Beschränkungen.

Abbildung 30: Rahmeninformationen zur Transkription (Beispiel) Quelle: Eigene Darstellung

Interessanterweise ist die Berücksichtigung des Kontextes auch für das letzte zu schildernde Datenaufnahmeverfahren – die Dokumentensammlung – von großer Wichtigkeit. So sollen die nachstehenden Ausführungen – ganz im Sinne einer konstruktivistischen Sichtweise – zeigen, dass Dokumente immer in einer spezifischen Situation entstehen und unter Verfolgung bestimmter Interessen produziert werden. Ähnlich wie für die vorangegangenen Schilderungen der Datenaufnahmeverfahren sollen zudem forschungspraktische Implikationen abgeleitet werden. Den Abschluss bildet die Vorstellung des zu untersuchenden empirischen Materials, das jüngst einen hohen Aufmerksamkeitsschub erfahren hat.

Datenaufnahmeverfahren

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5.4 Dokumentensammlung In (spät-)modernen Gesellschaften kommt den Dokumenten (hier verstanden als weitgehend standardisierte Textartefakte wie Broschüren, Jahresberichte, Verträge, Urteile, Zeugnisse, Tagebücher oder Briefe) eine ausgesprochen große Bedeutung zu. Dies hat seine Ursachen vor allem darin, dass einem Großteil der Gesellschaftsmitglieder die relevante Wirklichkeit vordergründig über die Dokumente zugänglich gemacht wird. Als ein prominentes Beispiel können die, nach dem „Prinzip der Aktenförmigkeit“ hergestellten Dokumente der (spät-)modernen Verwaltung herangezogenen werden (amtliche Dokumente). Sie organisieren nicht nur alle Lebensbereiche und erhöhen die territoriale Reichweite der Kommunikation, sondern tragen auch wesentlich zur Verrechtlichung und somit zur Verbindlichkeit der sozialen Beziehungen bei (WOLFF 2007:502). Obwohl Dokumenten also eine wichtige Rolle in (spät-)modernen Gesellschaften zukommt, erlangten sie erst im Verlaufe der 1960er Jahren wissenschaftliche Aufmerksamkeit. So stammen die ersten Überlegungen zur systematischen Dokumentensammlung und Dokumentenanalyse aus der Geschichtswissenschaft, in der die Quellenkunde vor allem Zugänge zu historischen Ereignissen liefern sollte (vgl. MAYRING 2002:46–50). In der Folgezeit konnte sich die methodologisch und methodisch reflektierte Arbeit mit Dokumenten auch in anderen Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften etablieren. Dabei stand aber nicht mehr die (kritikfreie) Analyse zurückliegender Ereignisse im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern eine kritische Annäherung an die Herkunft und Intendiertheit sowie die äußeren und inneren Merkmale der Dokumente. Zentrale Forschungstraditionen: Zu den Protagonisten dieser kritischen sozialwissenschaftlichen Arbeit mit Dokumenten zählen vor allem die Vertreter des Kritischen Soziologischen Neoinstitutionalismus (vgl. Abschnitt 2.3 zu den zentralen Problemen im metropolregionalen Koordinations- und Steuerungsgeschehen). Für sie stellten die Dokumente institutionalisierte Spuren des bloßen Anscheins von Legitimität, Rationalität und Effizienz dar (vgl. MEYER & ROWAN 1977; HASSE & KRÜCKEN 2005; WOLFF 2007). Ziel dieser Forschungstradition war es demzufolge, Schlussfolgerungen über die eigentlichen Absichten, Erwägungen und Aktivitäten ihrer Verfasser bzw. der von ihnen repräsentierten Organisationen zu treffen. Dabei schwang nicht selten eine „entlarvend-ironische Attitüde“ (WOLFF 2007:505) mit, weshalb die neoinstitutionalistischen Dokumentenanalysen von ihren Kritikern auch als opportunistisch eingestuft wurden. Neben den Vertretern des Kritischen Soziologischen Neoinstitutionalismus hat sich vor allem der Ethnomethodologe HAROLD GARFINKEL (1967) mit der Sammlung und Analyse von Textdokumenten beschäftigt. Seine Erkenntnisse beruhen dabei auf einer Studie zu Patientenkarrieren, bei der die entsprechenden Krankenakten vom Klinikpersonal nur lückenhaft oder ungenau ausgefüllt worden waren. Die Tatsache, dass die fehlenden Daten nur den Forscher, aber nicht das Klinikpersonal störten, ließ HAROLD GARFINKEL auf die typischen Abläufe des Patientenkontakts und auf die Umstände der Eintragungen aufmerksam werden. Im Ergebnis zeigte sich nicht nur, dass die unvollständigen Dokumente einen er-

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Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

wartbaren Leserkreis (das Klinikpersonal) voraussetzten, sondern dass die Lesbarkeit von Dokumenten im Allgemeinen wesentlich von der spezifischen Situation bzw. dem Kontext abhängig ist. Eine dritte Forschungstradition setzt sich aus konversationstheoretischer Perspektive mit den Dokumenten auseinander. Dabei geht sie in erster Linie von der Idee der „aktivierenden Texte“ aus, wonach Dokumente nicht einfach als passive Darstellungen von Wirklichkeit, sondern als handlungsanweisende Artefakte verstanden werden können. Die Sinnhaftigkeit der konversationstheoretischen Denkweise zeigt sich vor allem dann, wenn der Verfasser einer Produktbeschreibung (beispielsweise einer Packungsbeilage) seinen Text rezipientenorientiert zuschneiden möchte. In diesem Falle muss er textspezifische (institutionalisierte) Kategorisierungs- und Schlussfolgerungsregeln einhalten (membership categorization device; SACKS 1972) und fordert somit eine konventionelle Lesart ein. Vor dem Hintergrund dieser drei Forschungstraditionen lassen sich auch für die vorliegende Arbeit einige forschungspraktische Ableitungen machen. Diese beziehen sich vor allem auf die neoinstitutionalistischen und ethnomethodologischen Vorarbeiten (und weniger auf den konversationstheoretischen Ansatz), die mit ihrer kritischen Grundhaltung vor allem auf die Intendiertheit und Kontextgebundenheit von Dokumenten hingewiesen haben: x

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Dokumente als eigenständige Datenebene: Dokumente stellen eine eigenständige Datenebene dar und sollten nicht als bloßer Zusatz zu den Daten der Teilnehmenden Beobachtung sowie der Experteninterviews angesehen werden. Ferner sollte darauf verzichtet werden, sie gegen die Ergebnisse einer anderen Datenanalyse auszuspielen (WOLFF 2007:511). Dokumente als Informationscontainer: Dokumente sollten nicht als reine Informationscontainer verwendet, sondern als „methodisch gestaltete Kommunikationsauszüge“ (WOLFF 2007:511) behandelt werden. Eine auf Paraphrasierung und Reduzierung der Dokumente angelegte Analyse bleibt für die „Eigendynamik“ der Dokumente und deren kommunikative Funktion blind. Order all Points: Dokumente sollten in keinem Falle transkribiert werden, da somit die phänomenale Gestalt des Materials verändert wird. Im Gegenteil: Selbst scheinbar nebensächliche oder gar unwichtige Aspekte wie Layout oder Papierqualität sind selten zufällig gewählt und können somit einen Aufschluss über die Intention deren Produzenten geben (WOLFF 2007:512). Vermeidung von Zusatzinformationen: Da viele Dokumente Defizite in der Verständlichkeit aufweisen und voll von Fehlern sind, werden oft Zusatzinformationen eingeholt. Dies sollte jedoch vermieden werden, damit die Analyse von der „Selbstgenügsamkeit der Texte“ (WOLFF 2007:512) und von einer idealtypischen Emittent-Rezipient-Sequenz ausgehen kann. Kontextorientierte und Kritische Interpretation: Als eigenständige Datenebene sollten Dokumente in den gesellschaftlichen Kontext gestellt und einer kritischen Reflexion unterzogen werden. Dabei kann auf die gesellschaftlichen Hintergründe der Textproduktion sowie auf die „eigentlichen“ Absichten und Erwägungen der Textproduzenten interpretativ eingegangen werden.

Datenaufnahmeverfahren

123

Basierend auf diesen forschungspraktischen Grundannahmen werden in dieser Arbeit insgesamt sieben Dokumente ausgewertet, die im Zeitraum von November 2007 bis Juni 2010 von der oder für die Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland hergestellt worden sind. Hierzu gehören Dokumente, die a) in den Bereich der Erklärungen und Pressemitteilungen fallen (FMS 2007; EMR MDD 2009a, 2010a), b) dem Bereich der Konferenzreporte zuzuordnen sind (EMR SD 2007, 2009) sowie c) im Rahmen der Leitlinien erarbeitet wurden (EMR MDD 2010b, c). Die Auswahl entlang dieser drei Kategorien begründet sich in erster Linie mit der über die letzten Jahre akkumulierten Dokumentenvielfalt, die auf ein operables und logisches Maß „heruntergebrochen“ werden musste (vgl. auch BEHR ET AL. 2008; EMR SD 2008a, b; EMR MMD 2009b; FRANZ & HORNYCH 2009 als Repräsentanten der Dokumentenvielfalt). Das Ziel der Dokumentensammlung ist es nicht nur, entlang der ausgewählten „Diskursfragmente“ die alltägliche Herstellung einer spezifisch mitteldeutschen Wirklichkeit systematisch rekonstruieren zu können. Vielmehr sollen unter Einnahme einer kritischen Grundhaltung auch die Widersprüche zwischen den eigenen Beobachtungen im Feld, den subjektiven Sichtweisen der (insbesondere politischen) Experten sowie der dokumentierten Wirklichkeit aufgedeckt werden.

6 Datenauswertungsverfahren

Die methodologisch und methodisch reflektierte Datenaufnahme stellt nur einen ersten Schritt auf dem Weg zur (Selbst-)Erkenntnis dar. Will man jedoch verstehen, wie alltägliches „Geographie-Machen“ im Allgemeinen und die Konstruktion der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland im Besonderen vonstatten geht, so muss man sich auch über die Auswertung der empirischen Daten bewusst werden. Das heißt, sich der methodologischen Hintergründe und der methodischen Regeln der Datenauswertung zu vergewissern, mit denen man sich Zugänge zu subjektiven Sichtweisen sowie zur Herstellung sozialer Wirklichkeiten verspricht (vgl. Abschnitt 5.1). Will man zudem die Konstruktion metropolregionaler Wirklichkeiten kritisch reflektieren, so bedarf es eines interpretativen Blicks für die Brüche und Widersprüche geographischer Praktiken. Angesichts dieses Forschungsanspruches stehen die folgenden Ausführungen im Zeichen der methodologischen Grundlegung und methodischen Bewältigung der Datenauswertung.37 Sie beginnen zunächst mit der Erörterung des Umgangs mit dem forschungsrelevanten Vorwissen, das nicht einfach ausgeblendet, sondern explizit berücksichtigt werden muss. Der entscheidende Grund hierfür liegt darin, dass das Vorwissen ganz allgemein die Erfassung der sozialen Situation beeinflusst und auch für diese Arbeit eine zu berücksichtigende argumentative Wende bereitgehalten hat (Abschnitt 6.1). In einem zweiten Schritt erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Datenauswertungsverfahren der Strukturierenden Inhaltsanalyse, von dem Zugänge zu den subjektiven Sichtweisen der Experten gewonnen werden sollten. Da die Strukturierende Inhaltsanalyse großer und komplexer Interviewdatenmengen vorzugsweise rechnergestützt stattgefunden hat, wird in diesem Zusammenhang auch die Software MAXQDA vorgestellt (Abschnitt 6.2). Anschließend wird auf das Verfahren der Dokumentenanalyse einge37

Die Darstellung des Datenauswertungsverfahrens gehört (wie auch die des Datenaufnahmeverfahrens) zu den notwendigen Vorbereitungen jeder empirischen Untersuchung. Als (zweiter) Teil der Operationalisierung trägt auch sie dem Gütekriterium der „Intersubjektiven Nachvollziehbarkeit“ (STEINKE 2007:324) Rechnung. So soll es mit Hilfe der Darstellung des Datenauswertungsverfahrens möglich sein, dass auch ein externer Leserkreis die vorgenommene Untersuchung Schritt für Schritt verfolgen und die Ergebnisse bewerten kann. In diesem Sinne sollte der Forscher neben seinem Vorverständnis von der Qualitativen Sozialforschung vor allem die konkreten Erhebungsmethoden und den Erhebungskontext erläutern sowie den Umgang mit den konkreten Daten darlegen (Auswertungsmethoden).

Datenauswertungsverfahren

125

gangen, die ebenfalls nach dem Prinzip der Inhaltsanalyse erfolgt. Im Zuge dessen wird gezeigt, dass das Verschneiden der Ergebnisse der Dokumentenanalyse mit den Daten der Teilnehmenden Beobachtung und den Experteninterviews beim Zugang zur Herstellung sozialer Wirklichkeiten behilflich sein kann (Abschnitt 6.3). Den Abschluss bilden Ausführungen zur Interpretation der ausgewerteten qualitativen Daten – oder besser: der „Kunst des Interpretierens“ (BUDE 2007). Da diese den Blick für die Brüche und Widersprüche im komplexen Datenmaterial sensibilisiert, kann sie auch beim kritischen Umgang mit den geographischen Praktiken behilflich sein (Abschnitt 6.4).

6.1 Umgang mit Vorwissen und Konsequenzen für die Forschung Beginnen wir zunächst mit einer (kurzen) Reflexion des forschungsrelevanten Vorwissens, das aus unserer heutigen Sicht einen wichtigen Bestandteil im Prozess der Datenauswertung darstellt. Das war nicht immer so: Betrachtet man nämlich die klassischen Studien der Qualitativen Sozialforschung (beispielsweise JAHODA ET AL. 1933 oder WHITE 1955), so findet man lange Zeit keine explizite Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Vorwissen der Forscher (MEINEFELD 2007:267). Dies änderte sich erst mit den programmatischen Arbeiten von BARNEY G. GLASER und ANSELM L. STRAUSS, die mit ihrer Konzeption der „Grounded Theory“ (1967) erstmals den Umgang mit Vorwissen methodologisch thematisierten. Dabei ging es ihnen darum, das Vorwissen des Forschers zugunsten einer größtmöglichen Offenheit gegenüber den subjektiven Bedeutungen und individuellen Sinnzuschreibungen der Handelnden zu suspendieren. In diesem Sinne forderten sie, „der Forscher möge sich von allem Vorwissen frei machen und sogar auf die vorgängige Lektüre theoretischer und empirischer Arbeiten zu seinem Themenbereich verzichten, um seinem Forschungsfeld möglichst unvoreingenommen gegenübertreten zu können“ (MEINEFELD 2007:268).38

Die von den Protagonisten der „Grounded Theory“ in Abgrenzung zur Quantitativen Sozialforschung entwickelte qualitative Methodologie erwies sich (auch im deutschsprachigen Bereich) als ausgesprochen erfolgreich (Abbildung 31; vgl. HOFFMANN-RIEM 1980; LAMNEK 1995a, b). Dies hat seine Ursachen vor allem darin, dass man mit der qualitativen Programmatik dem Ideal der unmittelbaren Erfassung sozialer Realitäten näher gekommen zu sein schien. Tatsächlich zeigt sich jedoch, dass weder die methodologisch begründete Suspendierung des Vorwissens noch die hierüber erwünschte Unvoreingenommenheit des Forschers 38

„Die Aufgabe empirischer Sozialforschung sollte demnach nicht (zumindest nicht vorrangig) sein, aus ‚großen‘ (am Schreibtisch entworfenen) Theorien systematisch abgeleitete Hypothesen einer empirischen Überprüfung zu unterziehen, da diese Thesen oft nicht zu den konkret zu untersuchenden Situationen ‚passten‘; empirisch fundierte allgemeine Theorien seien vielmehr nur zu erwarten, wenn der Forscher seine Kategorien aus den Daten selbst gewinne. […] Die Formulierung einer soziologischen Theorie solle also nicht am Beginn, sondern am Ende des Forschungsprozesses stehen“ (MEINEFELD 2007:268).

Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

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erkenntnistheoretisch haltbar ist. So haben zahlreiche sozialwissenschaftliche Autoren wie CHRISTEL HOPF (1983, 1996) oder WERNER MEINEFELD (1995, 2007) darauf hingewiesen, dass auch die Qualitative Sozialforschung niemals unvoreingenommen vonstatten geht und soziale Realitäten nie in ihrer Reinform erfasst werden können. Vielmehr zeigt sich, dass die Wahrnehmung, Auswertung und Interpretation von qualitativen Daten maßgeblich von dem jeweiligen Vorwissen des Forschers abhängig ist. Infolgedessen muss man als Sozialforscher „die grundsätzliche Einschränkung akzeptieren, dass jede Wahrnehmung nur unter Rückbezug auf die je eigenen Deutungsschemata Bedeutung gewinnt, also das Vorwissen unsere Wahrnehmungen unvermeidlich strukturiert und somit als Grundlage jeder Forschung anzusehen ist“ (MEINEFELD 2007:271–272). Quantitative Methodologie (vgl. POPPER 2005)

Qualitative Methodologie (vgl. GLASER & STRAUSS 1967)

versus

Theorie- und Hypothesentest durch Verifizierung und Validierung

Ziel der Forschung

Theorie- und Hypothesengenerierung durch Generalisierung

Einblendung (Reflexion und Kontrollierung des Vorwissens)

Umgang mit Vorwissen

Ausblendung (Suspendierung des Vorwissens zugunsten der Offenheit)

Ex-ante-Hypothesen (unverzichtbares Mittel zu Beginn der Untersuchung)

Status der Hypothesen

Ex-Post-Hypothesen (Formulierung einer wahrscheinlichen Ordnung/Regel

Deduktion (Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen)

Erkenntnistheoretisches Prinzip

Induktion (Schlussfolgerung von den Einzelfällen auf das Allgemeine)

Abbildung 31: Merkmale quantitativer und qualitativer Methodologie Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Vor diesem Hintergrund ist es auch für diese Arbeit notwendig gewesen, sich des eigenen Vorwissens zu vergewissern und nach den Konsequenzen für die Forschung zu fragen.39 So entstammt das Vorwissen zum einen dem Fachpraktikum beim Institut für Organisationskommunikation (IFOK GmbH; Zeitraum: Juli bis September 2004), bei dem erste Erfahrungen hinsichtlich der Konstitution des Rhein-Neckar-Dreiecks unter den Bedingungen einer ressourcenstarken regionalen Governance gemacht wurden. Es entstammt zum Zweiten einer an das Fachpraktikum anknüpfenden Qualifikationsarbeit zur Metropolregion Rhein-Neckar (Diplomarbeit; Zeitraum: April bis September 2006), in der die (Er-)Kenntnisse zum Projekt „Image und Identität“ in der Darstellung einer geographischen 39

MEINEFELD (2007:273) unterscheidet drei unterschiedliche Ausprägungen des Vorwissens: Das alltagsweltliche Vorwissen bezeichnet ein häufig vages und unsicheres Wissen, auf das man in Ermangelung besserer Informationen anfänglich durchaus zurückgreifen muss. Nicht selten kann hierüber eine erste Orientierung im Forschungsfeld vorgenommen werden. Demgegenüber bezieht sich das theoretisch-konzeptionelle Vorwissen auf ein umfänglicheres Wissen über den Forschungsgegenstand. Es kann zur grundlegenden Konstitution des Gegenstandes durch den Forscher beitragen. Und schließlich bezeichnet das gegenstandsbezogene Vorwissen einzelne inhaltliche Aspekte des untersuchten Forschungsgegenstandes. Häufig werden gerade unter Rückgriff auf dieses Vorwissen ex-ante-Hypothesen zu einzelnen Teilbereichen gebildet und unter eine übergreifende Forschungsfrage subsumiert.

Datenauswertungsverfahren

127

(Komplementär-)Praxis der „Raumbezogenen Identitätspolitik“ mündeten (FEDERWISCH 2008a). Im Nachhinein betrachtet, resultierte aus den Erfahrungen und (Er-)Kenntnissen zur Metropolregion Rhein-Neckar eine affirmative Einstellung zu den Metropolregionen im Allgemeinen. Diese wurde zusätzlich durch die Lektüre raumwissenschaftlicher und steuerungstheoretischer Arbeiten (Stichwort: theoretisch-konzeptionelles Vorwissen) befördert, in denen es vorzugsweise um die konzeptionelle Vergewisserung und politische Legitimierung von Metropolregionen sowie die Verbesserung ihrer GovernanceRegime geht (Abschnitte 3.1 bis 3.4). Da aus dieser Perspektive vor allem „technisches Verfügungswissen“ (BLOTEVOGEL 2003:30) generiert wird, stand zu diesem Zeitpunkt eine kritisch motivierte Arbeit zur Konstitution metropolregionaler Wirklichkeiten aus. In dieser Arbeit wird beabsichtigt, die angesprochene Forschungslücke mit Hilfe einer theoretisch-konzeptionell fundierten, methodologisch-technisch reflektierten sowie empirisch informierten Kritik zu schließen. Aus diesem Grund ist es notwendig, dass auch der eigene Einstellungswandel reflektiert wird. Die eigene Einstellung zu den Metropolregionen änderte sich nämlich im Rahmen des Hochschulprojektes zur „Namens- und Identitätsfindung Metropolregion Sachsendreieck“ (Abschnitt 5.2), das im Wintersemester 2008/2009 unter der Federführung des Autors am Lehrstuhl Sozialgeographie der Universität Jena durchgeführt wurde. Schon zu Beginn der Bearbeitung zeigte sich, dass die damalige Metropolregion Sachsendreieck nicht nur einen eigenen Entwicklungspfad, sondern auch eine gänzlich andere Dynamik als die Metropolregion Rhein-Neckar aufzuweisen hatte. Schnell ließen sich zentrale Integrations-, Legitimations-, Effektivitäts- und Effizienzprobleme, raumbezogene Konflikte und argumentative Widersprüche bei der Konstitution der Metropolregion erkennen, die eine kritische Einstellung gegenüber den geographischen Praktiken einforderten (vgl. Abschnitt 2.3 und 2.4). Unterstützt wurde die kritische Perspektive durch erste (sondierende) Experteninterviews, die mit Akteuren der zu untersuchenden Metropolregion sowie Vertretern aus anderen Metropolregionen durchgeführt worden sind (Abschnitt 5.3). Im Ergebnis konnte sich die Absicht einer kritischen Betrachtung der gegenwärtigen Konstitution metropolregionaler Wirklichkeiten am Beispiel der Metropolregion Sachsendreieck festigen. Sie wurde zusätzlich durch die Erfahrungen aus dem DFG-Projekt „Mitteldeutschland“ (vgl. Exkurs I) sowie der Lektüre kritisch argumentierender Autoren des Neoinstitutionalismus, der Politischen Geographie sowie der Kritischen Geographie unterstützt.40 40

Hervorzuheben sind die Arbeiten aus dem Bereich des Neoinstitutionalismus, welche die kritische Sichtweise auf Integrations-, Legitimations-, Effektivitäts- und Effizienzprobleme gefördert sowie Schlussfolgerungen zu den eigentlichen Absichten, Erwägungen und Aktivitäten der politischen Akteure zugelassen haben (vgl. HASSE & KRÜCKEN 2005). Darüber hinaus erwiesen sich einige Arbeiten der Politischen Geographie als erkenntnisreich, in denen Prozesse der Politisierung von Maßstabsebenen („Politics of Scale“) kritisch reflektiert werden (vgl. WISSEN ET AL. 2008). Nicht zuletzt sind auch die neueren Arbeiten der Kritischen (Sozial- und Kultur-)Geographie zu erwähnen, die den Blick für die Widersprüche geographischer Praktiken und die Probleme bei der Konstitution „gesellschaftlicher Raumverhältnisse“ geschärft haben (BELINA 2008; BELINA & MICHEL 2008; WERLEN 2009).

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Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

Die auf dem veränderten Vorverständnis basierende Entscheidung für eine kritische Betrachtung der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland hatte zur Folge, dass sich auch die Fragestellungen maßgeblich verändert haben. Bezogen sie sich vor dem Einstellungswandel noch vorzugsweise auf die Funktionsbedingungen regionaler Governance oder gar auf die metropolregionale GovernanceKultur (vgl. HOHN ET AL. 2006), so sind sie nunmehr a) an politischen Strategien und deren Umsetzung, b) an raumbezogenen Problem- und Konfliktsituationen, c) an deren Bewältigung sowie d) an grundsätzlichen Widersprüchen und deren gesellschaftsdiagnostischer Interpretation interessiert. Die sich hieraus ergebenden Verschiebungen in der Lesart der empirischen Daten betreffen neben den gesammelten Dokumenten insbesondere die transkribierten Experteninterviews (vgl. Abschnitt 5.3). So verändern sich mit dem theoretisch-konzeptionellen und gegenstandsbezogenen Vorwissen auch die Zugänge zu subjektiven Sichtweisen sowie zur Herstellung metropolregionaler Wirklichkeiten und lassen anders gelagerte Auswertungskategorien erwarten. x

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Fragekomplex I: Wozu bedurfte es einer Metropolregion Sachsendreieck und weshalb wurde sie sowohl funktional als auch territorial zu einer mitteldeutschen Metropolregion erweitert? Welche zentralen Akteure sind an der Etablierung und Konsolidierung der Metropolregion Mitteldeutschland beteiligt und vor welchem (funktionalen) Hintergrund operieren sie? Fragekomplex II: Mit welchen Mitteln, Inhalten und Strategien werden die bestehenden „gesellschaftlichen Räumlichkeiten“ (WERLEN 2010a, b) auf den mitteldeutschen Metropolregionsgedanken hin ausgerichtet? Welche Veränderungen lassen sich hinsichtlich der Akteursorientierungen und -handlungen beobachten und wie beeinflussen diese die Wahl der Ressourcen? Fragekomplex III: Welche Probleme, (Erwartungs-)Unsicherheiten und Konflikte ergeben sich aus der Neuordnung der „gesellschaftlichen Räumlichkeiten“ (WERLEN 2010a, b) und wie gehen die Entscheidungsträger mit ihnen um? Wie werden die Konflikte unter den beteiligten Akteuren geregelt und die politisch zur Geltung gebrachten Persistenzen überwunden? Fragekomplex IV: Wie deuten die beteiligten Akteure ihr eigenes Handeln im Kontext der deutschlandweiten Konstitution metropolregionaler Raumverhältnisse? Welche gesellschaftsdiagnostischen Schlussfolgerungen können aus der Konstitution einer mitteldeutschen Metropolregion bzw. der zu verzeichnenden Metropolisierungseuphorie getroffen werden – und: welche Paradoxien ergeben sich?

Basierend auf dieser kurzen Reflexion des Umgangs mit dem subjektiven Vorwissen sowie der Auseinandersetzung mit dessen Konsequenzen für die eigene empirische Untersuchung stellt sich nun die forschungspraktische Frage, wie mit dem Datenmaterial letztlich umgegangen wurde. Zur Beantwortung dieser Frage wird im Folgenden auf das regelgeleitete Datenauswertungsverfahren der Strukturierenden Inhaltsanalyse eingegangen, das zunächst bei der Erfassung der subjektiven Sichtweisen der Experten zur Anwendung gekommen ist. Dabei wurde die

Datenauswertungsverfahren

129

Qualitative Inhaltsanalyse aufgrund großer und komplexer Datenmengen vorzugsweise mit der Software MAXQDA durchgeführt. Aus diesem Grund berücksichtigen die folgenden Ausführungen neben den einzelnen Arbeitsschritten der Qualitativen Inhaltsanalyse auch diese Software.

6.2 Strukturierende Inhaltsanalyse der Experteninterviews Ganz allgemein betrachtet stellt die Qualitative Inhaltsanalyse eine methodisch geleitete Annäherung an große und komplexe Datenmengen dar und ermöglicht sowohl Zugänge zu subjektiven Sichtweisen als auch Zugänge zur Herstellung sozialer Wirklichkeiten.41 In Deutschland wurde sie vor allem von JÜRGEN RITSERT (1964, 1972) entwickelt, der sich hierüber eine regelgeleitete Annäherung an die latenten und ideologischen Sinngehalte der nationalsozialistischen „Landserhefte“ versprach. Darüber hinaus gehört PHILIPP MAYRING mit seinen Studien zur subjektiven Verarbeitung von Arbeitslosigkeit bei Lehrern zu den Protagonisten der Qualitativen Inhaltsanalyse (MAYRING 2002, 2008). Dabei unterscheidet er mit der Zusammenfassenden, Explizierenden und Strukturierenden Inhaltsanalyse drei Formen dieser qualitativen Technik (vgl. MAYRING 2007:471–473). x

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Zusammenfassende Inhaltsanalyse: Ziel der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse ist es, das Material auf einen überschaubaren Kurztext zu reduzieren, ohne dass die wesentlichen Inhalte verloren gehen (Auslassung, Generalisierung, Bündelung von Aussagen). Sie bietet sich immer dann an, wenn man rein inhaltlich orientiert ist und einen überschaubaren Kurztext benötigt. Explizierende Inhaltsanalyse: Ziel der Explizierenden Inhaltsanalyse ist es, fragliche Textteile (Begriffe, Sätze) durch zusätzliches (Explikations-)Material verständlich zu machen. Dabei kann nur das direkte Textumfeld (enge Kontextanalyse) oder auch Zusatzmaterial (weite Kontextanalyse) wie Akten oder Dokumente herangezogen werden (vgl. Abschnitt 8.3). Strukturierende Inhaltsanalyse: Ziel der Strukturierenden Inhaltsanalyse ist es, a) bestimmte Aspekte aus dem Textkorpus herauszuarbeiten, b) unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das empirische Material zu legen oder c) das Material unter bestimmten (normativen) Kriterien einzuschätzen. Je nach Fragestellung lassen sich vier Formen der Strukturierung unterscheiden (Abbildung 32). Die Inhaltsanalyse wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von US-amerikanischen Kommunikationswissenschaftlern entwickelt, da sich viele der Forscher zunehmend mit großen und komplexen Datenmengen konfrontiert sahen, die von den bereits etablierten Massenmedien (Radio, Zeitungen) kommuniziert wurden. Ziel war es daher, mittels einer Inhaltsanalyse das Kommunikationsmaterial systematisch bearbeiten und auswerten zu können. Dabei standen zunächst Quantitative Häufigkeits-, Indikatoren-, Intensitäts- und Kontingenzanalysen im Vordergrund, die jedoch noch zahlreiche Defizite im Bereich der linguistischen Fundierung oder der Berücksichtigung latenter Sinnstrukturen aufwiesen (MAYRING 2007:468–470).

130

Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

Formale Strukturierung

Typisierende Strukturierung

Skalierende Strukturierung

Inhaltliche Strukturierung

Ausarbeitung der inneren formalen Struktur des Materials

Beschreibung einzelner markanter Ausprägungen im empirischen Material

Kategorisierung und Einschätzung des Materials nach Skalenpunkten

Extraktion und Zusammenfassung bestimmter Inhaltsbereiche

Beispiel: Satzbau, Abfolge von Absätzen und Gesprächsanteilen

Beispiel: Aussagen zu Personen (Bundeskanzler, Papst)

Beispiel: Einschätzung, ob Politikeraussagen im politischen Trend liegen

Beispiel: Metropolregionen aus Sicht der 16 Ministerpräsidenten

Abbildung 32: Formen der Strukturierenden Inhaltsanalyse Quelle: Eigene Darstellung

In dieser Arbeit kam eine Strukturierende Inhaltsanalyse nach inhaltlicher Strukturierung zum Einsatz, mit der zunächst Zugänge zu den subjektiven Sichtweisen der Experten ermöglicht werden sollten. Hiernach wurden bestimmte Themen, Inhalte und Aspekte aus dem Interviewmaterial herausgefiltert (Kategorien, Subkategorien) sowie in Form von Paraphrasen theoriegeleitet zusammengefasst. Forschungspraktisch wurde dabei in vier Schritten vorgegangen, welche a) die Bildung von Auswertungskategorien, b) die Bildung eines Codierleitfadens, c) die Codierung des Materials sowie d) die Quantifizierende Materialübersicht beinhalten. Vereinfacht wurde die Auswertung durch die Verwendung der Software MAXQDA, mit deren Hilfe auch die Visualisierung der Quantifizierenden Materialübersicht erleichtert werden konnte.42 Bildung von Auswertungskategorien: Die Bildung von Auswertungskategorien gehört zu den zeitaufwändigsten Arbeitsschritten der Qualitativen Inhaltsanalyse und wird am besten zunächst für ein einzelnes Interviewtranskript vorgenommen. Sie basiert auf dem wiederholten intensiven und genauen Lesen des Interviewtranskriptes, wobei sowohl das theoretische Vorverständnis als auch die Fragestellungen die Aufmerksamkeit beim Lesen lenken. Ziel dieses Arbeitsschrittes ist es, die in dem Interviewtranskript vorkommenden Themen im Zusammenhang mit dem theoretischen Vorverständnis und den Fragestellungen nach dem „Schubladenprinzip“ zu ordnen. Dabei ist es wichtig, „hierfür nicht einfach die Formulierungen aus den gestellten Fragen zu übernehmen, sondern darauf zu achten, ob die Befragten diese Begriffe überhaupt aufgreifen, welche Bedeutung diese Begriffe für sie haben, welche Aspekte sie ergänzen und welche sie weglassen und welche neuen, im Leitfaden nicht bedachten Themen im erhobenen Material auftauchen“ (SCHMIDT 2007:449).

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Die qualitative Text- und Inhaltsanalyse lässt sich heute sehr effektiv mit Unterstützung von Computerprogrammen durchführen (vgl. KELLE 1995; KUCKARTZ 2010). MAXQDA stellt eine solche praktische Software zur qualitativen Text- und Inhaltsanalyse dar. Mit ihr ist es möglich, die Ordnung (Codierung) und Suche (Retrieval), die Entwicklung von Typologien und Theorien sowie die visuelle Aufbereitung der Daten zu optimieren – kurz: die einzelnen Analyseschritte zu unterstützen und zu dokumentieren. Im Gegensatz zu quantitativen Computerinhaltsanalysen leistet die Software MAXQDA jedoch keine automatische Auswertung der Daten.

Datenauswertungsverfahren

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Basierend auf den – an einem Interviewtranskript gebildeten – Auswertungskategorien wird anschließend mit dem vergleichenden Lesen der restlichen Interviews begonnen. Im Zuge dessen werden die noch recht vagen Auswertungskategorien immer weiter ausdifferenziert und neu geordnet, so dass sich ein immer konkreteres und interviewübergreifendes Kategoriensystem entwickelt. Dabei sollte zweierlei bedacht werden: Zum einen befinden sich viele der wichtigen Textpassagen nicht immer im direkten Kontext der gestellten Frage, sondern werden erst im Verlaufe des Interviews und somit innerhalb eines anderen Kontextes ausführlicher dargestellt. Zum Zweiten darf sich die Bildung des Kategoriensystems nicht auf das Aufsuchen von „schönen und passenden“ Textpassagen beschränken, da somit weniger passende Textpassagen übergangen werden und das Problem der „Selbsterfüllenden Prophezeiung“ begünstigt wird (vgl. SCHMIDT 2007:448–451). Bildung eines Codierleitfadens: Die sich zu einem immer konkreteren und interviewübergreifenden Kategoriensystem entwickelnden Auswertungskategorien werden in einem zweiten Arbeitsschritt zu einem Codierleitfaden zusammengestellt (vgl. Anhang 1). In ihm sind ausführliche Beschreibungen (theoretische Bezüge, Ankerbeispiele) zu den einzelnen Kategorien enthalten, die nunmehr auch diverse Ausprägungen bzw. Subkategorien beinhalten. Bevor mit der Codierung des gesamten Interviewmaterials begonnen wird, bietet sich eine letzte stichprobenartige Überprüfung des Codierleitfadens an. Dadurch können die Kategorien und Ausprägungen noch einmal ausdifferenziert und trennschärfer formuliert sowie vereinzelt aus dem Codierleitfaden entfernt werden (vgl. SCHMIDT 2007:451–452). Codierung des Materials: Im dritten Schritt der Analyse wird nun jedes einzelne Interview unter Verwendung des Codierleitfadens eingeschätzt und klassifiziert. Dabei werden die in den vorherigen Schritten aus den Interviewtranskripten heraus gebildeten Auswertungskategorien nun auf das Material angewendet. Forschungspraktisch heißt das, dass die einzelnen Textpassagen zu den Kategorien und Subkategorien des Codierleitfadens zugeordnet bzw. in ihnen verschlüsselt werden. Spätestens hier zeigt sich, ob der Codierleitfaden tatsächlich alle möglichen oder gar überflüssige Auswertungskategorien enthält und ob der Codierleitfaden trennscharf genug ausformuliert worden ist oder überarbeitet werden muss (vgl. SCHMIDT 2007:452–454). Quantifizierte Materialübersicht: Die Codierung des Materials mit Hilfe von MAXQDA macht auch eine quantifizierende Zusammenstellung der Ergebnisse möglich (vgl. Anhang 2). Derartige übersichtliche Darstellungen über die Häufigkeit der Auswertungskategorien bieten nicht nur einen ersten Überblick zu den Verteilungen im Material, sondern können auch auf mögliche Zusammenhänge der einzelnen Auswertungskategorien verweisen. In diesem Sinne handelt es sich bei der quantifizierten Materialübersicht auch nicht um das Ergebnis der Datenanalyse, sondern vor allem um ein zusätzliches Tool zur Interpretation der empirischen Daten. So können mit Hilfe der Datenübersicht einzelne Kategorien ausgewählt und aufeinander bezogen oder auch visualisierte Häufigkeitsdarstellungen zur Präsentation dargestellt werden (vgl. SCHMIDT 2007:454–455).

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Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

Vertiefende Fallanalyse: Die Vertiefende Fallanalyse stellt einen letzten Auswertungsschritt der Strukturierenden Inhaltsanalyse dar, wird aber nur an ausgewählten Stellen im Datenmaterial vorgenommen. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Explizierenden Inhaltsanalyse, weist aber nicht deren methodische Regelgeleitetheit auf (vgl. MAYRING 2008:77–82). Allgemein betrachtet wird das Datenmaterial durch die vertiefende Fallanalyse nicht reduziert, sondern umgekehrt zur Explikation interpretationsbedürftiger Stellen erweitert. Dabei werden unklare Bestandteile des Datenmaterials (wie Begriffe oder alltagsweltliche Theorien) mit Hilfe des unmittelbaren Textumfeldes (enge Kontextanalyse) oder zusätzlichen Materials (weite Kontextanalyse) geklärt. Insgesamt kann festgehalten werden, dass es mit Hilfe der Strukturierenden Inhaltsanalyse der Experteninterviews möglich ist, ergänzend zu dem eigenen gegenstandsbezogenen Vorwissen nun auch die subjektiven Sichtweisen der befragten Personen offen zu legen. Konkret: Mit der regelgeleiteten Arbeit an den Experteninterviews kann ein systematischer Zugang zu den jeweiligen Situationsdeutungen, Handlungsmotiven, Alltagstheorien und Selbstinterpretationen der Interviewpartner gewährleistet werden. Da vor dem Hintergrund der MethodenTriangulation aber auch ein Zugang zur Herstellung sozialer Wirklichkeiten gesucht wird, widmen sich die nachstehenden Ausführungen nunmehr der Dokumentenanalyse. Dabei wird gezeigt, dass diese Methode ebenfalls inhaltsanalytisch operiert und in der Verschneidung mit den Daten der Teilnehmenden Beobachtung vertiefende Erkenntnisse hinsichtlich der alltäglichen Konstruktion von Metropolregionen verspricht.

6.3 Dokumentenanalyse und Umgang mit Beobachtungsdaten Die Dokumentenanalyse stellt eine zentrale Methode der sozialwissenschaftlichen Forschung dar und kommt vor allem im Zusammenhang mit der Analyse sozial konstruierter gesellschaftlicher Wirklichkeiten zum Einsatz. Verstanden als ein nicht-reaktives Verfahren will die Dokumentenanalyse dasjenige Datenmaterial erschließen, welches nicht erst vom Forscher geschaffen werden musste, sondern zur dokumentierten Wirklichkeit gehört (MAYRING 2002:47). Dabei orientiert sich die Dokumentenanalyse ebenfalls sehr stark an der Qualitativen Inhaltsanalyse – genauer: der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach PHILIPP MAYRING (2008: 59–74; vgl. Abschnitt 6.2) sowie an der Linguistischen Textanalyse nach KLAUS BRINKER (2001). Demgemäß ist sie vorzugsweise an der inhaltlichen Dimension der Dokumente interessiert und versucht, die Inhalte auf einen überschaubaren Kurztext zu reduzieren. Forschungspraktisch bedeutet dies, sich zunächst der thematischen Struktur des Textes bewusst zu werden. Hierzu wird das eigentliche Textthema identifiziert, welches entweder in einem bestimmten Textsegment (in der Überschrift oder einem bestimmten Satz) realisiert ist oder interpretativ aus dem Textinhalt mittels einer verkürzenden Paraphrase abstrahiert werden muss. Da neben dem eigentlichen Textthema vielfach auch Nebenthemen vorzufinden sind, muss die

Datenauswertungsverfahren

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im Text vorzufindende Themenhierarchie herausgearbeitet werden. Dabei kann zum Zwecke der Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenthemen auf zwei zentrale Prinzipien zurückgegriffen werden: Erstens auf das „Ableitbarkeitsprinzip“, wobei die Nebenthemen des Textes aus dem Hauptthema des Textes „abgeleitet“ werden. Zweitens auf das „Kompatibilitätsprinzip“, wobei die Nebenthemen eine andere kommunikative Funktion als das Hauptthema aufweisen (vgl. BRINKER 2001). Unabhängig davon, welches Prinzip letztlich zur Bestimmung von Hauptund Nebenthema zum Einsatz kommt, muss die textthematische Analyse weiterführend die gedankliche Ausführung des Textthemas – die thematische Entfaltung – berücksichtigen. Dabei werden in der Sozialphilosophie (vgl. HABERMAS 1976, 1995; KOPPERSCHMIDT 2000) und in der Linguistik (TOULMIN 1996; BRINKER 2001) eine Reihe von Grundformen der Themenentfaltung unterschieden, von denen die deskriptive, die narrative, die explikative und die argumentative Entfaltung sicherlich die bedeutungsvollsten sind. Obwohl diese Grundformen die thematische Struktur der Texte in ganz entscheidendem Maße bestimmen können, wird in dieser Arbeit auf eine sozialphilosophisch und sprachtheoretisch unterfütterte Analyse der thematischen Entfaltung verzichtet (vgl. SCHLOTTMANN 2005, FELGENHAUER 2007 und FEDERWISCH 2008a für eine sozialphilosophisch und sprachtheoretisch unterfütterte Analyse alltäglicher Regionalisierungspraktiken). Dies begründet sich mit rein forschungspragmatischen Überlegungen (Umfang der Analyse), weshalb die Textinhalte der Haupt- und Nebenthemen lediglich in paraphrasierter Form wiedergegeben werden. Die paraphrasierte Wiedergabe der einzelnen Textsegmente schließt jedoch nicht aus, dass sich der Forscher deren kommunikativer Funktion bewusst wird. Dabei kann die Textfunktion ganz allgemein als der Sinn, den ein Text in einem Kommunikationsprozess erhält bzw. als der Zweck, den er im Rahmen einer Kommunikationssituation erfüllt, definiert werden. Vereinfacht ausgedrückt: Der Terminus der Textfunktion bezeichnet die Kommunikationsabsicht des Emittenten, die der Rezipient erkennen soll (vgl. GROßE 1976; BRINKER 2001:83, 95). Sie lässt sich vordergründig aus sprachlichen Formen und Strukturen ableiten, mit denen auf explizite oder implizite Weise ein kommunikativer Kontakt oder eine Einstellung zum Textinhalt signalisiert wird (sprachliche Indikatoren). Darüber hinaus besitzen aber auch die kontextuellen Indikatoren eine fundamentale Bedeutung für die kommunikativ-funktionale Interpretation von Texten. Dies trifft vor allem dann zu, wenn der Text keine expliziten sprachlichen Indikatoren aufweist oder korrigierende sprachliche Indikatoren enthält. Allesamt verweisen sie auf bestimmte Grundfunktionen von Texten – und diese können in Anlehnung an die Sprechakttheorie von SEARLE (2000) in die Kontakt-, Informations-, Appell-, Obligations- und Deklarationsfunktion untergegliedert werden: x

Kontaktfunktion: Hierbei gibt der Emittent dem Rezipienten zu verstehen, dass es ihm um eine personale Beziehung zum Rezipienten geht. Indikatoren sind explizit performierte Formeln der Begrüßung, des Beglückwünschens, des sich Beschwerens oder des Verfluchens.

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Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

Informationsfunktion: Hierbei gibt der Emittent dem Rezipienten zu verstehen, dass er ihm ein bestimmtes Wissen vermitteln und ihn über etwas informieren will. Auch hier kommen explizit performative Formeln zum Einsatz, die in Verbindung mit Verben wie mitteilen, informieren, eröffnen, berichten oder unterrichten stehen. Appellfunktion: Hierbei gibt der Emittent dem Rezipienten zu verstehen, dass er ihn zur Einnahme einer bestimmten Einstellung hinsichtlich eines Gegenstandes bewegen will (normativ geleitet). Dies kann durch explizit performative Formeln mit den Verben müssen, sollen, sein, auffordern, anordnen, bitten, raten etc. signalisiert werden. Darüber hinaus kann die Appellfunktion auch in einer Form vollzogen werden, die an die Informationsfunktion erinnert. Im Gegensatz hierzu intendiert der Emittent jedoch, dass der Rezipient seine Bewertung eines Sachverhaltes übernimmt und entsprechend handelt. Obligationsfunktion: Hierbei gibt der Emittent dem Rezipienten zu verstehen, dass er sich ihm gegenüber zu einer bestimmten Handlung verpflichtet. Derartige Verpflichtungen sind meist explizit gekennzeichnet durch performative Formeln mit den Verben versprechen, schwören oder sich bereit erklären. Deklarationsfunktion: Hierbei gibt der Emittent dem Rezipienten zu verstehen, dass er mit seiner Äußerung (Text) eine neue Realität schafft. Diese Funktion wird fast immer durch direkte und ritualisierte Formeln oder durch Textüberschriften wie Urkunde, Bescheinigung oder Vollmacht ausgedrückt.

Ziel dieser textbezogenen Vorgehensweise ist es, sich auf eine methodisch geleitete Weise der dokumentierten Wirklichkeit über die Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland im Klaren zu werden. Zudem erlaubt dieses Vorgehen auch ein vertieftes Verständnis über die kommunikative Funktion der Dokumente im Kontext der alltäglichen Konstitution und Revitalisierung der untersuchten Metropolregion. Es ist zu vermuten, dass von den Herausgebern und den Produzenten der Texte insbesondere die Deklarations- und Appellfunktion aufgegriffen werden, um den politischen Absichten der Etablierung und Konsolidierung metropolregionaler Wirklichkeiten Nachdruck zu verleihen. Da im Rahmen dieser abstrakten Bestrebungen auch visualisierende Daten zum Einsatz kommen, wird die hier vollzogene Qualitative Dokumentenanalyse auch das verwendete Bild-, Karten- und Grafikmaterial berücksichtigen (vgl. Anhang 3). Konkret: Die Analyse visueller Daten bezieht sich zunächst auf die Gattung des verwendeten Bildmaterials (Fotos, Bildcollagen, Logos etc.) sowie auf die dargestellten Aspekte (Personen, Gruppen, Gegenstände etc.). Aufgrund des Raumbezugs der Politiken wird zudem analysiert, welches Kartenmaterial verwendet wird (historisches Kartenmaterial, Karten der Raumplanung, eigene Karten etc.) und welche Aspekte dargestellt werden (Deutschland, Metropolregionen in Deutschland etc.). Darüber hinaus wird analysiert, welche Grafiken bei der Darstellung komplexer Sachverhalte zum Einsatz kommen (Diagramme, Tabellen etc.) und welche Aussagen mit ihnen getroffen werden sollen (Ranking der Metropolregionen, Stärken-Schwächen-Profile). Für das gesamte Bild-, Karten- und Grafikmaterial gilt, dass dessen Positionierung im Text zu berücksichtigen ist.

Datenauswertungsverfahren

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Neben der inhaltlichen Betrachtung der Text- und Bildebene wird die Dokumentenanalyse zudem die formellen Aspekte der Dokumente berücksichtigen (vgl. MAYRING 2002:46–50). Zu nennen sind insbesondere die Explizierung des Zugangs zum Material (Herkunft des Dokuments) sowie die Explizierung der Gattung des Materials (Art des Dokuments). Darüber hinaus berücksichtigt die Dokumentenanalyse den Zustand und die Qualität des Materials (äußere Merkmale des Dokuments) sowie dessen Aktualität der Produktion und Kommunikation (Gegenstandsnähe des Dokuments). Kombiniert mit den paraphrasierten Kurztexten der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse sowie der Untersuchung des verwendeten Bild-, Karten- und Grafikmaterials lassen sich vertiefte Rückschlüsse auf die dokumentierte Wirklichkeit sowie auf die Absicht der Verfasser ziehen (Intendiertheit des Dokuments). Zwischenfazit: Bezogen auf diese Arbeit erlaubt die Dokumentenanalyse also Aussagen über die dokumentierte und kommunizierte metropolregionale Wirklichkeit (vgl. Abschnitt 5.4). Will man jedoch verstehen, wie alltägliches „Geographie-Machen“ im Allgemeinen und die Konstruktion der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland im Besonderen vonstatten geht, so sollten die Daten aus der Teilnehmenden Beobachtung (Abschnitt 5.2) nicht unberücksichtigt bleiben. So bieten die Beobachtungsdaten wichtiges Hintergrundwissen zur metropolregionalen sozialen Situation, das in Ergänzung zu den Dokumenten herausgearbeitet werden kann. Poststrukturalistisch gesprochen können sie auf eine Vielzahl von Dispositiven verweisen, denen eine wichtige Funktion bei der Konstitution einer metropolregionalen Wirklichkeit zukommt.43 Problematisch ist jedoch, dass es für die Auswertung des ethnographischen Beobachtungsmaterials bislang keine explizite Vorgehensweise gibt (LÜDERS 2007:399–401). Während man sich der (dokumentierten) Herstellung sozialer Wirklichkeiten mittels einer inhaltsanalytisch orientierten Dokumentenanalyse zuwenden kann, muss man im Falle der Teilnehmenden Beobachtung ohne eine tragfähige Auswertungsstrategie auskommen. Der Ausweg aus diesem Dilemma kann meines Erachtens allerdings nicht darin bestehen, auf die Teilnehmende Beobachtung zu verzichten – also eine Art „Methodenhygiene“ zu betreiben. Vielmehr muss man sich zum einen stets der eigenen Vorgehensweise im Feld bewusst sein – denn: „Ethnographie lebt von der Teilnahme und den Berichten über diese Teilnahme“ (LÜDERS 2007:401; vgl. Abschnitt 5.2). Zum Zweiten bietet es sich an, 43

In dieser Arbeit wird auf eine systematische poststrukturalistische und diskurstheoretisch motivierte Analyse verzichtet. Dies schließt jedoch nicht aus, einzelne treffende Begriffe wie den des Dispositives zu verwenden. Der Terminus bezeichnet beobachtbare nicht-sprachliche Praktiken, die bei der Herstellung einer spezifischen (metropolregionalen) Wirklichkeit zu Einsatz kommen. In den Worten von KELLER (2007:63): „Neben ihrer Aktualisierung in sprachlichen Praktiken der Diskursproduktion werden Diskurse über Dispositive stabilisiert. Damit sind institutionalisierte infrastrukturelle Momente und Maßnahmenbündel – wie Zuständigkeitsbereiche, formale Vorgehensweisen, Objekte, Technologien, Sanktionsinstanzen, Ausbildungsgänge usw. – bezeichnet, die einerseits zur (Re-)Produktion eines Diskurses beitragen, und durch die andererseits ein Diskurs in der Welt intervenieren, also Machteffekte realisieren kann.“

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Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

die Beobachtungsdaten mit den Analyseergebnissen – genauer: den Kategorien der Strukturierenden Inhaltsanalyse der Experteninterviews (Abschnitt 6.2) und der Dokumentenanalyse im Sinne der Methoden-Triangulation zu vergleichen (vgl. Abschnitt 5.1). Berücksichtigt man diese „Gütekriterien“ bei der Auswertung der Beobachtungsdaten, so steht der Praxis des verstehenden und deutenden Schlussfolgerns – kurz: der Interpretation nunmehr nichts mehr im Wege. Aus diesem Grund widmen sich die nachstehenden Ausführungen auch der Interpretation der erhobenen und (inhalts-)analytisch aufbereiteten empirischen Daten. Im Zuge dessen wird gezeigt, dass sich die Interpretation nicht durch ihre methodische Geleitetheit, sondern vielmehr durch eine innere Haltung gegenüber den Daten und dem eigenen (Vor-)Wissen auszeichnet (vgl. Abschnitt 6.1). Nicht umsonst spricht BUDE (2007) auch von der „Kunst der Interpretation“, von der er sich Entdeckungen für die Zusammenhänge, aber auch die Brüche und Widersprüche im Datenmaterial erwartet.

6.4 Kunst des Interpretierens Machen wir uns zunächst noch einmal das Ziel der Forschung bewusst: In dieser Arbeit soll am Beispiel der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland die alltägliche Konstruktion und Revitalisierung metropolitaner Wirklichkeiten von innen heraus – also: unter Bezugnahme auf die alltäglichen Praktiken der politischen Akteure verstanden werden. Im Zuge dessen sollen – ganz im Sinne einer „Kritischen Handlungswissenschaft“ (vgl. Abschnitt 4.3) – zentrale Problem- und Konfliktfelder identifiziert sowie Praktiken zu deren Überwindung analysiert werden. Ein zentrales Anliegen der Arbeit ist es, die im diagnostizierenden Abschnitt entwickelte kritische Annäherung an das Phänomen der „Metropolregion 2.0“ am Beispiel der mitteldeutschen Metropolregion argumentativ zu untermauern (vgl. Abschnitt 2.4). Dabei sollen zentrale Paradoxien aufgedeckt werden, wobei vom hier untersuchten Einzelfall abstrahiert und eine kritische Interpretation der um sich greifenden Metropolisierungseuphorie formuliert werden soll (vgl. Abschnitt 9 und 10). Zu diesem Zweck wurden in einem ersten Schritt die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen für eine kritische sozialgeographische Perspektive erarbeitet, die den Blick für die konkreten Tätigkeiten der handelnden Akteure schärft (vgl. Abschnitt 4). In einem zweiten Schritt wurden in den Ausführungen zum Datenaufnahme- und Datenauswertungsverfahren methodologisch reflektierte und methodisch geleitete Zugänge zu den subjektiven Sichtweisen der befragten Experten sowie zur Herstellung sozialer Wirklichkeiten erarbeitet (vgl. Abschnitt 5 und 6). Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, wie mit den erhobenen qualitativen Daten umgegangen werden kann. Die Beantwortung dieser Frage bringt uns noch einmal in das Feld der Wissenschaftstheorie, die sich mit der Praxis des verstehenden und deutenden Schlussfolgerns – oder besser: der „Kunst des Interpretierens“ (BUDE 2007) auseinandergesetzt hat.

Datenauswertungsverfahren

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Bezieht man sich zunächst auf die „Kunst des Interpretierens“ (BUDE 2007), so zeigt sich, dass sich die empirische Forschung auf keinen Fall im Testen oder Verifizieren von Hypothesen erschöpfen muss (vgl. POPPER 2005). Mit der Interpretation ist auch ein empirisches Verfahren des Verstehens und Deutens zum Zwecke des experimentellen Theoretisierens oder gedanklichen Konstruierens beschrieben worden, aus dem sich „Modelle des Verständnisses“ oder „Muster des Spürsinns“ („serendipity pattern“; MERTON 1968) hinsichtlich der alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit ergeben. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht ist zu betonen, dass die im Prozess des Interpretierens entwickelten Modelle keine generellen Theorien mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit, Anwendbarkeit oder Relevanz darstellen. Sie sind vielmehr als kontextspezifisches Verständnis zu bewerten, die „lediglich“ von befristeter Gültigkeit, lokaler Anwendbarkeit und perspektivischer Bedeutung sind (vgl. BUDE 2007:576). In diesem Sinne verlässt man mit der Entscheidung für eine Interpretation den festen Boden der Vorhersage und Prüfung, um ein fremdes oder auch vertrautes Phänomen befristet zu verstehen und eine begrenzte Idee oder Theorie von der sozialen Wirklichkeit einzuführen (vgl. BUDE 2007:571; JOAS & KNÖBL 2004). Dies darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Interpretation der Konstruktion einer beliebigen (sozialen) Ordnung Tür und Tor öffnet. Vielmehr werden die „Modelle des Verständnisses“ idealtypischerweise aus dem Datenmaterial heraus bzw. passend zu den Entdeckungen im Datenmaterial und bei gleichzeitiger Bezugnahme auf das theoretische Vorverständnis entwickelt. Neues ist dann zu erwarten, wenn die Entdeckungen auf unvorhergesehenen, unnormalen oder unspezifischen Daten basieren und das eigene Weltbild sowie das der Anderen maßgeblich und dauerhaft untergraben wird. Widmet man sich in einem zweiten Schritt der „Kunst des Interpretierens“ (BUDE 2007), so wird der Blick auf die innere Haltung des Forschers zu den empirischen Daten und dem eigenen Wissen gelenkt. Da weder die empirischen Daten noch das eigene Wissen die einzig existierende Wahrheit repräsentieren, bezieht sich die Kunst auf den „Umgang mit Mehrdeutigkeiten, das Erfassen von Begrenztheiten und das Mischen von Getrenntem“ (BUDE 2007:570). Insofern gehört es zur Kunst des Interpretierens, auch die Kontingenzen ertragen, vor allem aber auch die Zufälle des Erkennens nutzen zu können (vgl. REICHERTZ 2007).44 „Wer sich von der Wissenschaft nur die Sicherheit von Methoden und die Gewissheit von Begründungen erwartet, bringt sich von vornherein um den Reiz der Forschung, der da beginnt, wo man mit Methodengehorsam und Begründungsidealität nicht mehr weiterkommt. Der Moment der Kunst kommt also durch die Nichtmethodisierbarkeit einer forscherischen Haltung und die Zirkelhaftigkeit des reflexiven Bewusstseins in die Wissenschaft“ (BUDE 2007:571). 44

Für CHARLES SANDERS PIERCE ist der im „Geistesblitz“ ausgedrückte Zufall des Erkennens das Kernelement des abduktiven Schlussfolgerns: „Der abduktive Schluss kommt wie ein Blitz. Es ist ein Akt der Einsicht, obwohl extrem fehlbarer Einsicht. Zwar waren die verschiedenen Elemente der Hypothese schon vorher in unserem Verstande vorhanden; aber erst die Idee, das zusammenzubringen, welches zusammenzubringen wir uns vorher nicht hätten träumen lassen, lässt die neu eingegebene Vermutung vor unserem Auge aufblitzen“ (PIERCE 1970:366).

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Teil III (Interludium): Methodologie und Technik

Anschluss an Teil IV: Bezieht man diese wissenschaftstheoretisch rückgebundenen Aussagen auf das hier formulierte Forschungsinteresse, so lässt sich festhalten, dass weder die sozialgeographische Analyse des Phänomens der „Metropolregion 2.0“ (siehe Abschnitte 7 und 8) noch die interpretative Annäherung an zwei zentrale Paradoxien der (mittel-)deutschen Metropolisierungseuphorie (siehe Abschnitte 9 und 10) den Anspruch einer endgültigen „Wahrheit“ erheben. Sie stellen vielmehr eine theoretisch-konzeptionell fundierte und methodologischtechnisch reflektierte Deutung des Konzeptes der Metropolregionen in Deutschland sowie der darauf aufbauenden Metropolisierungsprozesse dar. Dabei ist sich der Autor bewusst, dass mit der Einnahme einer kritischen Haltung gegenüber dem Konzept der Metropolregionen und den geographischen Praktiken zu deren Konstruktion und Revitalisierung auch der gesamte Forschungsprozess stark beeinflusst wird. So wird hierdurch nicht nur ein bestimmtes theoretischkonzeptionelles und empirisches Vorwissen ein- bzw. ausgeblendet, sondern auch der Prozess der Datenaufnahme und der Datenauswertung mit all seinen Kategorisierungen und Paraphrasierungen maßgeblich an die innere Haltung angepasst (vgl. Anhänge 1, 2 und 3). In den nachfolgenden Abschnitten werden nun die Ergebnisse der Datenanalyse zur Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland vorgestellt. Dabei werden zum einen die konkreten geographischen Praktiken zur Konstruktion und Revitalisierung metropolitaner Wirklichkeiten dargelegt, die im empirischen Feld über die Teilnehmende Beobachtung erfasst, von den Entscheidungs- und Meinungsträgern über die Experteninterviews erfragt sowie aus den vorhandenen Dokumenten systematisch herausgearbeitet worden sind (Abschnitt 7). Darüber hinaus wird es darum gehen, auf zentrale Problem- und Konfliktfelder einzugehen sowie Strategien deren Bewältigung zu betrachten (Abschnitt 8). So gesehen können die folgenden Ausführungen auch als eine exemplarische Beweisführung gesehen werden, welche die empirische Evidenz des Phänomens der „Metropolregion 2.0“ untermauern und die skeptische Grundhaltung gegenüber den scheinbar erfolgreichen Metropolregionen in Deutschland bekräftigen sollen.

Teil IV: Geographische Praktiken Konstruktion metropolregionaler Wirklichkeiten

Die Triangulation verschiedener Datenaufnahme- und Datenauswertungsmethoden erweist sich als ein viel versprechender Weg zur Analyse der alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung deutscher Metropolregionen. Darüber hinaus kann uns der Rückgriff auf die Beobachtungs-, Interview- und Dokumentendaten dabei helfen, die Herstellung der mitteldeutschen Metropolregion auch kritisch zu erörtern. So erlaubt diese Herangehensweise zum einen, die (subjektiven) Sicht- und (konzertierten) Handlungsweisen der Protagonisten in den Blick zu nehmen. Überdies gestattet sie einen Zugang zu dem Denken und Agieren derjenigen Akteure, die dem Metropolisierungsprozess skeptisch gegenüber stehen. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Datenanalyse zur Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland vorgestellt. Im Zuge dessen werden die Entwicklungen der vergangenen Jahre rekonstruiert, welche durch ein drohendes Scheitern der Metropolregion Sachsendreieck und eine revitalisierende Erweiterung in Richtung der mitteldeutschen Metropolregion gekennzeichnet sind. Dabei wird gezeigt, dass mit der Erweiterung nicht nur die politische Organisation und die zentralen Handlungsfelder affektiert wurden. Vielmehr ging hiermit auch eine Veränderung des Verständnisses von der Metropolregion einher, was zu neuen Schwierigkeiten unter den mitteldeutschen Akteuren geführt hat. Insofern wird nachfolgend argumentiert, dass es sich bei der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland nicht um eine der vielfach postulierten „Erfolgsgeschichten“ (BBSR 2009a:1) des deutschen Metropolisierungsprozesses handelt. Im Gegenteil: Die Interview- und Beobachtungsdaten offenbaren einen problembehafteten und konfliktreichen Metropolisierungsprozess, welcher auch mit der Erweiterung nicht endgültig gelöst wurde. Aus diesem Grund wird auch den offiziellen Darstellungen der Metropolregion mit einer wohlwollenden Skepsis begegnet. Diese scheinen nämlich viele der Schwierigkeiten der Metropolisierung auszublenden und ein beschönigendes Bild zu begünstigen.

7 Mitteldeutsche Metropolisierungseuphorie

Mit der Wiedervereinigung hat die Bundesrepublik Deutschland nicht nur fünf neue Bundesländer, sondern auch ein „Mitteldeutschland“ hinzugewonnen. Viele Einrichtungen wie der „Mitteldeutsche Rundfunk“, die „Mitteldeutsche Zeitung“, die „Wirtschaftsinitiative Mitteldeutschland“, die „Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft“ oder die „Mitteldeutsche Energie AG“ belegen das Interesse an einer neuen geographischen Schwerpunktsetzung in Deutschland. Auch die politischadministrative Besetzung der „Mitte“ Deutschlands kommt in den regelmäßigen Diskussionen um die Länderneugliederung zum Ausdruck (vgl. HOFF 2002; ERDMANN 2006; DPA 2009, 2010), bei der die Bundesländer Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen miteinander fusionieren sollen. Da die Transformation der aktuellen „Geographien der Politik“ in Richtung eines gemeinsamen Bundeslandes aus landespolitischer Sicht jedoch bislang (noch) nicht mehrheitsfähig ist, lässt sich ein gesteigertes Verlangen nach einer handlungsfähigen mitteldeutschen Metropolregion beobachten. Die folgenden Ausführungen setzen sich mit der mitteldeutschen Metropolisierungseuphorie auseinander und thematisieren die organisatorische sowie strategische Ausrichtung der Metropolregion Mitteldeutschland. Zu diesem Zweck wird zunächst der historische Entwicklungspfad bis 2005 nachgezeichnet, der in den Dokumenten zur Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland nur zum Teil verankert ist, dafür aber von den interviewten Personen regelmäßig als Diskussionseinstieg angeführt wurde (Abschnitt 7.1). In einem zweiten Schritt werden die territorialen und funktionalen Erweiterungsbestrebungen der Metropolregion Sachsendreieck analysiert, die in den zurückliegenden fünf Jahren insbesondere von Seiten sachsen-anhaltinischer und thüringischer Akteure vorangetrieben worden sind. In diesem Zusammenhang wird nachgewiesen, dass die Erweiterungsdiskussion vor dem Hintergrund eines problematischen Entwicklungsstandes der Metropolregion Sachsendreieck geführt wurde und für neuen Schwung in der vom Scheitern bedrohten Metropolregion sorgen sollte (Abschnitt 7.2). Im Anschluss daran wird mit dem Projekt zur Namens- und Identitätsfindung ein wichtiges Handlungsfeld vorgestellt, welches hinsichtlich der symbolischen Konsolidierungsbestrebungen besonders große Aufmerksamkeit erlangt hat. Im Zuge dessen wird gezeigt, dass gerade die im Kontext der Namensgebung intensiv ausgetragen Diskussionen nicht nur den Selbstfindungsprozess gefördert, sondern als „symbolische Kämpfe“ auch den Fortbestand der Metropolregion

Mitteldeutsche Metropolisierungseuphorie

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maßgeblich gefährdet haben (Abschnitt 7.3). Abschließend wird auf die konkrete Ausgestaltung der mitteldeutschen Metropolregion eingegangen, wobei zum einen die Konstitution des organisatorischen Kerns und zum Zweiten die strategische Ausrichtung dargestellt werden (Abschnitt 7.4).

7.1 Genealogie der Metropolregion Sachsendreieck bis 2005 Die Anfänge der Metropolregion Sachsendreieck lassen sich bis in das Jahr 1994 zurückverfolgen – das Jahr, in dem das Konzept der Metropolregionen in Deutschland auch im Raumordnungspolitischen Handlungsrahmen grundlegend verfasst wurde (vgl. Abschnitt 2.1). Genauer: Mit dem Landesentwicklungsplan von 1994 formulierte der Freistaat Sachsen eine zentrenorientierte Raumordnungspolitik, mit deren Hilfe der tatsächlichen und der sich abzeichnenden räumlichen Entwicklung und Verflechtung in und zwischen den Städten Dresden, Leipzig, Chemnitz und Zwickau Rechnung getragen werden sollte. Hierzu wurden die betreffenden Städte als eine „Europäische Cityregion Sachsendreieck“ deklariert, von der man sich die Stärkung der „Wettbewerbsfähigkeit Sachsens innerhalb Europas“ im Allgemeinen und eine engere Zusammenarbeit in kommunalpolitischen Fragestellungen im Besonderen versprach (SMUL 1994:Z–9, Punkt 1.2). Da diese landesspezifische Auslegung der zentrenorientierten Raumordnungspolitik weitgehend den Vorgaben des Bundes entsprach, wurde die Cityregion auf MKRO-Beschluss noch im gleichen Jahr als eine potenzielle Europäische Metropolregion anerkannt. Gründungsphase: Betrachtet man die weiteren Entwicklungsschritte der sächsischen Cityregion aus Sicht einer Sozialgeographie der politisch-normativen Regionalisierung (vgl. WERLEN 2007:298–343), so ist vor allem ihre Ernennung als „Europäische Metropolregion Sachsendreieck“ unter Einbezug der sachsenanhaltinischen Stadt Halle hervorzuheben. Dieser im Jahr 1997 und von der MKRO im Rahmen einer zweiten Ernennungsrunde vollzogene Schritt wurde in erster Linie durch zwei in dieser Zeit geradezu en vogue erscheinende Argumentationsstränge begründet (Abbildung 33). So wurde die Notwendigkeit einer sächsischen Metropolregion zum einen mit dem Globalisierungsdruck gerechtfertigt, der auch auf sächsischem Gebiet eine größere und schlagkräftigere Raumeinheit zur Sicherung der „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“ (JESSOP 1997:63) auf (inter-) nationaler Ebene einzufordern schien. Darüber hinaus wurde vielfach der Aspekt sich verändernder räumlicher Wirklichkeiten angeführt, wonach eine Metropolregion Sachsendreieck flexibler auf die vorhandenen Realitäten der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen (Demographischer Wandel, Fachkräftemangel etc.) sowie Verflechtungen (Pendlerströme etc.) reagieren könne, als die vergleichsweise starren staatlichen Institutionen (vgl. Abschnitt 1.3). Neben diesen beiden zum Standardrepertoire der offiziellen Dokumentation zählenden Argumentationssträngen offenbaren die Experteninterviews drei weitere (und nicht offiziell dokumentierte) Aspekte, welche für die sächsischen Bestrebungen zur Etablierung einer Metropolregion Sachsendreieck sprechen (Abbil-

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Teil IV: Geographische Praktiken

dung 33). Hier wäre zunächst die prinzipielle Möglichkeit einer sich verändernden europäischen und nationalen Förderkulisse zu nennen, die den Fokus zunehmend in Richtung verstädterter Regionen verschieben würde. Wenngleich eine solche Veränderung der Förderlandschaft auch zur damaligen Zeit weder von Seiten der Landesvertreter noch von Seiten der Kommunalpolitiker ernsthaft erwartet wurde, sollten die sächsischen Zentren dennoch dem Metropolisierungstrend folgen und hinsichtlich einer möglichen Förderungswürdigkeit vorbereitet sein. So wurde aus Sicht der sächsischen Landesplanung bereits die bloße Verzeichnung der sächsischen Zentren in den europäischen und deutschen Dokumenten und regionalpolitischen Landkarten als zwingend notwendig erachtet und unter dem Label „Metropolregion Sachsendreieck“ vorangetrieben (vgl. IP II/01:99–107). Interessanterweise korrespondiert die als notwendig erachtete Verankerung der sächsischen Metropolregion in den (inter-)nationalen Dokumenten und Landkarten mit all jenen (neoliberalen) Ansichten, welche das Leistungs- und Förderungsmismatch zwischen verstädterten und ländlichen Räumen zunehmend kritisch hinterfragten. Auf eine einfache Formel gebracht bezog sich der Missmut auf die ressourcenreichen Förderprogramme der EU (Regionalfonds) und des Bundes (Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur), die sich zwar den strukturschwachen (ländlichen) Regionen zuwenden, zugleich aber die Sicherung und Stärkung der strukturstarken (verstädterten) Regionen vernachlässigen würden. So war nach Ansicht von IP IV/01 mit der formalen Etablierung der Metropolregion Sachsendreieck durchaus die Absicht verbunden, die sächsischen Städte als die eigentlichen „Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung“ (ADAM ET AL. 2005) in der politischen Alltagspraxis des Freistaates zu protegieren. Damit ging die auch heute noch anzutreffende Hoffnung einher, dass die knappen finanziellen Ressourcen vorzugsweise dort eingesetzt werden würden, wo sie auch erwirtschaftet werden (vgl. IP IV/01). Nicht zuletzt begründet sich die Aufnahme der „Europäischen Cityregion Sachsendreieck“ in den Kreis der Europäischen Metropolregionen in Deutschland auch damit, dass bewusst ein „ostdeutsches“ Gegengewicht zu den „westdeutschen“ Metropolregionen hergestellt werden sollte. Wenngleich mit der Metropolregion Berlin-Brandenburg bereits im Jahr 1995 eine genuin „ostdeutsche“ Region als Metropolregion anerkannt worden war, hätte der Verzicht auf die Metropolregion Sachsendreieck eine „raumordnungspolitische Lücke im mitteldeutschen Wirtschaftsraum“ nach sich gezogen (IP II/01:72–75). Insofern kann man die Bemühungen zur Konstruktion der Metropolregion Sachsendreieck auch darauf zurückführen, dass sie als eine Art Lückenfüller auf der regionalpolitischen Landkarte (Ost-)Deutschlands repräsentiert sein sollte. Getreu dem Motto „Um Gottes willen, in Ostdeutschland gibt es keine Metropolregion“ (IP I/04:202) fanden sich auch auf der sächsischen Landesebene einige Protagonisten, die ihre Unterstützung bei der Etablierung der Metropolregion Sachsendreieck angeboten hatten (Zitat des damaligen sächsischen Ministerpräsidenten: „Na, wenn jetzt Bremen schon Metropolregion werden will, dann wollen wir ja erst recht“; zitiert nach IP II/03).

Mitteldeutsche Metropolisierungseuphorie

Reaktion auf den zunehmend härteren Globalisierungsdruck

Reaktion auf neue räumliche Wirklichkeiten des Gesellschaftlichen

Offizielle Dokumentation

Prophylaxe hinsichtlich einer neuen Förderpolitik (EU, Bund)

Reaktion auf Leistungs- und Förderungsmismatch

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Lückenfüller zu den westdeutschen Metropolregionen in Deutschland

Ansicht der befragten Experten (nicht offiziell dokumentiert)

Abbildung 33: Notwendigkeit der Metropolregion Sachsendreieck Quelle: Eigene Erhebung, Konzeption und Darstellung

Zwischenjahre: Vergegenwärtigt man sich nun die Jahre nach der erfolgreichen Ernennung der sächsischen Cityregion zur Europäischen Metropolregion, so erhält man jedoch ein ernüchterndes (aber nicht offiziell dokumentiertes) Bild. In der Zeit von 1997 bis 2004 hat die junge Metropolregion Sachsendreieck nämlich bis auf a) die 2002 unterzeichnete Gründung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zwischen den Städten Chemnitz, Dresden, Halle, Leipzig und Zwickau sowie b) den 2004 vollzogenen Beitritt zum Initiativkreis Europäischer Metropolregionen in Deutschland (IKM) keinerlei Entwicklungen zu verzeichnen. Dies mag vor allem daran gelegen haben, dass das landespolitische Ziel der Verankerung einer sächsischen Metropolregion in den offiziellen Papieren und Landkarten der europäischen und deutschen Raumordnung und Raumentwicklung bereits umgesetzt worden war. Die Metropolregion Sachsendreieck avancierte somit buchstäblich zu einem – von Seiten des Bundes und des Landes „top-down“ initiierten – „Papiertiger“ in den offiziellen Dokumenten. Angesichts dieser und nicht im eigentlichen Sinne des Konzeptes der Metropolregionen stehenden Entwicklungen stellt sich die Frage, ob sich nicht ein „bottom-up“ initiierter Metropolisierungsprozess positiver auf die „Zwischenjahre“ ausgewirkt hätte. So verweisen einige der IP auf ihre Erfahrungen mit den Metropolregionen Rhein-Neckar und Nürnberg, die von Seiten der kommunalen und/oder wirtschaftlichen Entscheidungsträger gegründet wurden und in vergleichbaren Zeiträumen vermeintlich bessere Entwicklungspfade eingeschlagen hätten. Doch für die Metropolregion Sachsendreieck muss man konstatieren, dass auch ein weitgehendes kommunales Desinteresse an gemeinschaftlichen Aktivitäten für die stagnierenden Entwicklungen nach 1997 verantwortlich war. Da „wir unsere eigenen Probleme hatten und diese erst einmal selber lösen mussten“, wurde die Zusammenarbeit von einer Vielzahl der Entscheidungsträger als „nicht erforderlich“ oder gar als „notwendiges Übel“ erachtet (vgl. IP II/01:101–103). Aus heutiger Sicht sind die Jahre zwischen 1997 und 2004 somit als verlorene Jahre für die Metropolregion Sachsendreieck zu bewerten. Nicht nur, dass weder von der landes- noch von der kommunalpolitischen Seite ernsthafte Versuche unternommen worden sind, die Metropolregion Sachsendreieck als zentrales politik- und verwaltungsgetriebenes Netzwerk der gemeinschaftlichen Regionalentwicklung zu etablieren. Vielmehr hatte man auch die temporär bestehende Chan-

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Teil IV: Geographische Praktiken

ce – oder besser: das „window of opportunity“ vertan, wichtige Akteure aus der Wirtschaft mit ihrem ökonomischen und sozialen Kapital in die metropolregionalen Aktivitäten einzubinden. So begannen sich strukturbestimmende Unternehmen mit ihren zum Teil respektablen Beiträgen zunehmend in anderen Initiativen wie der Wirtschaftsinitiative für Mitteldeutschland (WfM) zu engagieren und alternative Strukturen zur Stärkung und Vermarktung der Wirtschaftsregion Mitteldeutschland aufzubauen. Da sich einige dieser Initiativen gerade in dieser Zeit zum einen durch hohen Ressourceneinsatz etablieren konnten und zum Zweiten erfolgreich um die Integration von Kommunen wie Halle oder Leipzig (für den Fall der WfM) bemühten, sollte die Existenz der Metropolregion Sachsendreieck zum ersten Male ernsthaft gefährdet werden. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen sollte es nicht verwundern, dass im Verlaufe des Jahres 2004 ein erster Versuch unternommen wurde, die Metropolregion Sachsendreieck in ihrem Bestand zu sichern. Hierzu wurden die drei zuständigen Landesminister THOMAS DE MAIZIÈRE (Sachsen), KARL-HEINZ DAEHRE (Sachsen-Anhalt) und ANDREAS TRAUTVETTER (Thüringen) zu einer Klausursitzung in das damals von MANFRED STOLPE geleitete Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen eingeladen, um den gegenwärtigen Stand der Entwicklungen und die Perspektiven der Metropolregion zu erörtern. Gemäß IP II/03 wurde während dieser Sitzung konstatiert, dass die bestehende Metropolregion Sachsendreieck in den zurückliegenden Jahren keinerlei nennenswerte Fortschritte in der gemeinschaftlichen Kooperation zu verzeichnen hatte und sich mit Hannover, Nürnberg und Bremen zugleich konkurrierende Stadtregionen um die Aufnahme als Europäische Metropolregion bemühten (IP II/03). Die damit verbundene Drohung im Sinne von „Entweder Ihr macht was oder es wird alles gestrichen“ (IP III/02:6) veranlasste die zuständigen Landesminister dazu, die Entwicklung des Sachsendreiecks mit Unterstützung des Bundesministeriums erneut anzustoßen. Revitalisierende Schritte ab 2005: Die in der Folge unternommenen bundesund landespolitischen Schritte zur Revitalisierung der Metropolregion Sachsendreieck sind symptomatisch für das Phänomen der „Metropolregion 2.0“. So wurde zunächst im Rahmen der MKRO eine gemeinsame Erklärung erarbeitet, wonach das Konzept der Metropolregionen in Deutschland auch für den mitteldeutschen Wirtschaftsraum eine besondere Chance böte, um sich im (inter-)nationalen Wettbewerb zu positionieren (MKRO 2005). Dieser auch von Seiten des damaligen sächsischen Innen- und heutigen bundesdeutschen Verteidigungsministers THOMAS DE MAIZIÈRE vorangetriebene Schritt machte unmissverständlich klar, dass die Metropolregion Sachsendreieck fortan sowohl in territorialer als auch in funktionaler Hinsicht als erweiterungswürdig erachtet wurde. Hiervon versprachen sich die erwähnten politischen Akteure einerseits einen Ruck innerhalb der bestehenden sächsischen Akteurskonstellation und andererseits die verstärkte Einbeziehung der motivierten sachsen-anhaltinischen und thüringischen Akteure (Beteiligungsoffensive hinsichtlich der Kommunen Magdeburg, Dessau-Roßlau, Erfurt, Weimar, Jena, Gera; vgl. Abschnitt 2.4). Darüber hinaus war mit diesem Schritt auch intendiert, die Integration der bestehenden

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Wirtschaftsinitiativen wie der WfM unter dem Dach der Metropolregion voranzutreiben. Hierüber sollten die sich entwickelnden Konkurrenzbeziehungen und Doppelstrukturen aufgelöst werden sowie die finanzielle Basis der Metropolregion Sachsendreieck eine wesentliche Verbesserung erhalten.45 In einem zweiten Schritt wurden das von JÖRG KNIELING und HEIDI SINNING gegründete und in Hannover ansässige Institut zur Kommunikativen Stadt- und Regionalentwicklung (KoRiS; Bearbeitung: JÖRG KNIELING, STEFANIE RAHLF, TANJA FRAHM, KERSTIN HANEBECK), das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH; Bearbeitung: MARTIN ROSENFELD, PETER FRANZ), das Institut für Verkehrsund Strukturplanung der TU Dresden (Bearbeitung: GERD-AXEL AHRENS, CHRISTIAN BARTZ) sowie das Dresdner Leibnitz Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR; Bearbeitung: TORSTEN WIECHMANN) damit beauftragt, ein Handlungskonzept für die bestehende Metropolregion Sachsendreieck zu erarbeiten. Dieses umfasste eine raumwissenschaftliche SWOT-Analyse hinsichtlich der funktionalen Ausstattungsmerkmale der Metropolregion Sachsendreieck, woraus raumbezogene Leitbilder, Handlungsziele, Handlungsfelder, konkrete Projekte, mögliche Namen und Kriterien zur Entwicklung einer neuen Organisationsstruktur abgeleitet wurden (KORIS ET AL. 2005; vgl. Abschnitt 2.2). Wenngleich an dieser Stelle nicht auf die einzelnen Ergebnisse der SWOT-Analyse und die Handlungsempfehlungen eingegangen werden kann, wird dennoch die Bedeutung dieser Studie für die landes- und kommunalpolitische Meinungs- und Entscheidungsfindung bekräftigt. Als Dokument gebündelten „technischen Verfügungswissens“ (BLOTEVOGEL 2003:30) wurde sie in den Folgejahren in veränderter Akteurskonstellation fortgeschrieben (vgl. KORIS ET AL. 2007) und stellt neben einer Fachkräftestudie des Institutes für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena (BEHR ET AL. 2008) und einer Studie zur Politischen Institutionalisierung des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle (FRANZ & HORNYCH 2009) auch heute noch die umfänglichste Beratungsleistung für die Entscheidungsträger dar. Fazit: Abschließend ist festzuhalten, dass sich die Metropolregion Sachsendreieck nach ihrer Gründung im Jahre 1997 nicht nennenswert weiterentwickelt und somit ihre realistische Chance auf eine Führungsrolle im Bereich der kooperativen Regionalentwicklung vertan hat. In Anbetracht des Stillstandes musste sie rund sieben Jahre nach ihrer Ernennung auf erneute Initiative des Bundes und der Länder vor dem Scheitern bewahrt werden. Dies geschah über eine in Aussicht gestellte territoriale und funktionale Erweiterung der Metropolregion sowie eine 45

Aus Sicht von IP II/03, wurde die Erweiterung der bestehenden Metropolregion in den Gesprächen zwischen dem Bundesministerium und den zuständigen Landesministerien 2004 politisch konsensfähig gemacht. „Also: wir können jetzt nicht weitere westdeutsche Metropolregionen aufnehmen und wir haben auf der ostdeutschen Seite gerade einmal Berlin und das Sachsendreieck da unten. Also: lasst uns gemeinsam überlegen, wie wir die weiteren Leistungsträger, die weiteren großen – da war dann schon die Thüringer Städtereihe im Gespräch – dort mit reinbringen können“ (IP II/03:61). Im Zuge dessen mussten auch die an der Metropolregion Sachsendreieck beteiligten Städte die Frage nach ihrem Verbleib in der Metropolregion für sich klären. „Wollen wir oder wollen wir nicht? Und da ging es dann los erstmal mit dieser Erweiterung und allem Drum und Dran“ (IP III/02:10–11).

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hierüber ermöglichte Beteiligung neuer Akteure aus den Bereichen der Kommunalpolitik, Wirtschaft und Wissenschaft. Die nachfolgenden Ausführungen widmen sich diesen Erweiterungsbestrebungen der Metropolregion Sachsendreieck, die in den Jahren 2006/2007 durch die (raum-)wissenschaftliche Beratung von KORIS, des IWH und des IÖR (vgl. KORIS ET AL. 2007) begleitet wurden.

7.2 Erweiterungsbestrebungen der Metropolregion Sachsendreieck Die bundes- und landespolitische Entscheidung, das Scheitern der informellen Kooperation der Städte Chemnitz, Dresden, Halle, Leipzig und Zwickau durch eine Erweiterung der Metropolregion Sachsendreieck abzuwenden, zog auch die Frage nach deren zukünftiger Ausgestaltung nach sich. Dies bedeutete, dass man sich nun auch ausführlichere Gedanken um die a) räumliche Abgrenzung, b) politische Organisation sowie c) Aufgabenverteilung unter den aktuellen und potenziellen Partnern machen musste. Zur Klärung dieser Fragen wurden das Institut zur Kommunikativen Stadt- und Regionalentwicklung (KoRiS), das Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) und das Leibnitz Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) erneut damit beauftragt, eine Studie zur möglichen Entwicklung der Metropolregion Sachsendreieck zu erarbeiten. Im Zuge dessen wurde das Handlungskonzept von 2005 fortgeschrieben und um fünf Szenarien der Kooperation in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ergänzt, die mit „MetroZero“, „Metro Status Quo“, „MetroDuo“, „MetroPlus“ sowie „MetroFlex“ ihre terminologische Variation gefunden haben (Abbildung 34): Szenario I: Dabei repräsentiert das Szenario „MetroZero“ die grundsätzliche Möglichkeit, dass sich die metropolregionale Kooperation trotz der anvisierten Erweiterung nicht dauerhaft verfestigen kann. In einem solchen Falle würde die Metropolregion Sachsendreieck durch die MKRO aufgelöst werden und der sachsen-anhaltinischen Landeshauptstadt Magdeburg eine Mitgliedschaft in der Metropolregion Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg oder Berlin-Brandenburg nahe gelegt (vgl. KORIS ET AL. 2007:55).46 Zudem würden die parallel zur Metropolregion entwickelten Initiativen wie die WfM, die Wirtschaftsregion Chemnitz-Zwickau (WIREG), die Region Dresden oder die Im-PulsRegion Erfurt-Weimar-Jena entsprechend ihrer strategischen Ausrichtung wie gewohnt weiter operieren. Der Vorteil dieses Szenarios läge in der Vermeidung von Transaktionskosten und Koordinationsaufwand als Metropolregion sowie in der Bekräftigung des Wettbewerbs zwischen den verbleibenden Initiativen (KORIS ET AL. 2007:54–55). 46

Tatsächlich hat sich für die Landeshauptstadt Magdeburg die Frage gestellt, in welcher Metropolregion sie sich engagieren möchte. So standen neben der Metropolregion Sachsendreieck auch die Metropolregionen Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg sowie BerlinBrandenburg zur Diskussion. „Wir liegen also in diesem Dreieck mittendrin. Aber am naheliegendsten sind wir – schon von der Genese, von dem Stand, von dem Potenzial, von den Möglichkeiten, von den Problemen her – doch eher bei Erfurt und Dresden und Leipzig und Halle als bei Braunschweig und Wolfsburg“ (verändert nach IP I/06:73–74).

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In Anbetracht der bundes- und landespolitischen Vorgabe, die regionale Kooperation im Sachsendreieck stärken zu wollen, sollte die Entwicklung im Sinne des Szenarios „MetroZero“ aber aus politischer Sicht vermieden werden. Die von KORIS ET AL. (2007) erarbeitete Studie unterstützte die politischen Bestrebungen zum Gelingen der Metropolregion Sachsendreieck darin, indem sie auf die negativen Konsequenzen des Scheiterns hinwies: „Folge wäre, dass gemeinsame zielgerichtete Aktivitäten, um die vorhandenen Stärken und Potenziale im Bereich der Metropolfunktionen zu stärken, ausbleiben bzw. deutlich erschwert würden; Agglomerationsvorteile und Synergieeffekte würden ungenutzt bleiben. […] Zusätzlich bedeutet das Scheitern als Metropolregion einen Imageverlust. Eine Wiederbelebung der metropolitanen Kooperation zu einem späteren Zeitpunkt würde innerhalb und außerhalb der Region als wenig glaubwürdig wahrgenommen“ (KORIS ET AL. 2007:57).

Dementsprechend wurde das Szenario „MetroZero“ zwar als möglicher, aber nicht wünschenswerter (metropol-)regionaler Entwicklungspfad bewertet. Vielmehr sollten andere Szenarien geprüft und je nach politischer Prioritätensetzung umgesetzt werden. Szenario II: Zu diesen alternativen Szenarien gehört die Entwicklungsperspektive im Sinne der „Metro Status Quo“, welche eine vergleichsweise konservative Antwort auf die bundes- und landespolitisch initiierten Wiederbelebungsversuche der Metropolregion Sachsendreieck darstellt. Hiernach würden sowohl die metropolregionale Kooperation als auch die Zusammenarbeit im Rahmen der anderen (Wirtschafts-)Initiativen wie gewohnt bestehen bleiben und die regionalen Entwicklungsprojekte weitgehend unabhängig voneinander umgesetzt werden. Aus metropolregionaler Sicht hätte ein solcher Entwicklungspfad den Charme, die eigene Autonomie gegenüber den konkurrierenden Initiativen zu bekräftigen, ohne gemeinsame Aktivitäten mit ihnen von vornherein auszuschließen. So könnten von Zeit zu Zeit und im Rahmen konkreter Kooperationsvereinbarungen bestimmte Maßnahmen gemeinsam umgesetzt und somit projektbezogen zusammengearbeitet werden (KORIS ET AL. 2007:49–50). Problematisch ist jedoch, dass auch die Entwicklung im Sinne des Szenarios „Metro Status Quo“ nicht der bundes- und landespolitischen Vorgabe entsprochen hätte. So ging es den verantwortlichen Initiatoren nicht nur darum, die bestehende metropolregionale Kooperation gegenüber anderen Initiativen zu protegieren, sondern sowohl territorial operierende Akteure wie die sachsenanhaltinischen und thüringischen Städte als auch funktional operierende Initiativen wie die WfM oder die WIREG in die metropolregionale Kooperation einzugliedern. Die Sinnhaftigkeit des Szenarios „Metro Status Quo“ wurde zusätzlich untergraben, nachdem die Oberbürgermeister einzelner Städte wie Jena oder Magdeburg begannen, ihren bundes- und landespolitisch gedeckten Wunsch nach der Beteiligung in einer erweiterten Metropolregion Sachsendreieck mit Nachdruck zu bekräftigen (vgl. IP I/03, IP I/06 sowie IP I/01). Daher bedurfte es eines weiteren Vorschlages, welcher insbesondere den sachsen-anhaltinischen und thüringischen Städten eine mittelfristige Perspektive zur Eingliederung in die Metropolregion anbot.

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Teil IV: Geographische Praktiken

Szenario III: Mit dem Szenario „MetroDuo“ entwickelten die (raum-) wissenschaftlichen Berater einen alternativen Entwicklungspfad, der erstmals über die bestehende Kooperation in der Metropolregion Sachsendreieck hinausging, sogleich aber auch deren territoriale Abgrenzung infrage stellte. Wie in Abbildung 34 dargestellt, sah der Vorschlag zwei eigenständig agierende Metropolregionen vor, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Interessen, Ziele und Ausrichtungen nur in ausgewählten Fällen miteinander kooperieren sollten. Hierzu sollten sich zum einen die sächsischen Städte Dresden, Chemnitz und Zwickau zu einer Metropolregion Dresden zusammenschließen und gezielt die im Rahmen der INTERREG-Familie als förderungswürdig erachteten Kooperationen mit Breslau und Prag anstreben. Demgegenüber sollte sich die sächsische Metropole Leipzig mit den sachsen-anhaltinischen Städten Magdeburg und Dessau-Roßlau sowie den thüringischen Städten Erfurt, Weimar, Jena und Gera zu einer Metropolregion Mitteldeutschland zusammenschließen und vor allem in den Querschnittsbereichen des Regionsmarketings und Clustermanagements aktiv werden (vgl. KORIS ET AL. 2007:53–54). Im Nachhinein betrachtet sollte sich aber auch die Entwicklungsperspektive „MetroDuo“ als nicht konsensfähig erweisen. So hätte ein solches Szenario das Eingeständnis der prinzipiellen Kooperationsunfähigkeit im Rahmen des Sachsendreiecks mit sich gebracht, was selbstverständlich nicht im Interesse der beteiligten Kommunal- und Landespolitiker sein konnte. Darüber hinaus wurden drei weitere Gründe angeführt, die für die Erarbeitung eines vierten Entwicklungsszenarios sprachen: Dies waren a) das geringe „Gewicht“ an Metropolfunktionen (vgl. Abschnitt 2.2), welche die einzelnen Metropolregionen im Vergleich zu ihrem gemeinsamen Auftreten sowie zu anderen Europäischen Metropolregionen in Deutschland vorzuweisen hätten. Ferner schreckte man von politisch-planerischer Seite vor b) den hohen Transaktionskosten zurück, die durch den Aufbau von zwei unabhängigen Metropolregionen entständen wären (erhöhter Organisationsund Koordinationsaufwand). Und schließlich wurde c) moniert, dass mit der Etablierung von zwei Metropolregionen auch bestehende Vertrauensbeziehungen untergraben würden und erwartbare Synergieeffekte besonders negativ betroffen wären (vgl. KORIS ET AL. 2007:54). Szenario IV: Vor diesem Hintergrund wurde mit dem Szenario „MetroPlus“ eine Entwicklungsperspektive erarbeitet, die nunmehr alle genannten Städte Sachsens (inklusive des Städteverbundes Bautzen, Görlitz und Hoyerswerda), die Thüringer Städtekette sowie die Oberzentren Sachsen-Anhalts in der Metropolregion berücksichtigen sollte. Hiervon versprach man sich ein kommunalpolitisches Pendant zur landespolitischen Initiative für Mitteldeutschland, die im Jahr 2002 (und nicht zuletzt als Reaktion auf die verheerende Flutkatastrophe) von den drei Ministerpräsidenten der Länder Sachsen (GEORG MILBRADT), Sachsen-Anhalt (WOLFGANG BÖHMER) und Thüringen (BERNHARD VOGEL) gegründet worden war. Als zentraler Vorteil dieser insgesamt vierzehn Städte umfassenden Metropolregion wurde die Bündelung der Gesamtheit an Metropolfunktionen erachtet, wodurch eine gute Position im „Metropol- und Funktions-Index“ eingenommen werden könne (vgl. Abschnitt 3.3). Zudem würden die gleichberechtigten Partner

Mitteldeutsche Metropolisierungseuphorie

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in grundsätzlich allen regionalpolitisch relevanten Themenfeldern miteinander kooperieren können und Synergieeffekte konsequent ausgeschöpft werden (vgl. KORIS ET AL. 2007:50–51).47 Doch auch im Falle der Entwicklungsperspektive „MetroPlus“ musste schließlich eingeräumt werden, dass sich diese wohl kaum umsetzen ließe. So wurde vor allem von der Dresdener Seite die erweiterte Metropolregion zum einen als viel zu groß erachtet und die räumliche Distanz zwischen den beteiligten Städten stark kritisiert. Darüber hinaus wären auch in diesem Szenario erhöhte Transaktionskosten zu erwarten gewesen, da die Koordination sich aufgrund der hohen Mitgliederzahl als schwierig und die Entwicklung gemeinsamer Ziele, Strategien, Maßnahmen und Projekte als äußerst kompliziert erwiesen hätte. Insofern wurde der erweiterten Metropolregion „MetroPlus“ prinzipiell ihre Leistungsfähigkeit abgesprochen, was die Erarbeitung eines fünften und schließlich konsensfähigen Szenarios zur Folge hatte (vgl. KORIS ET AL. 2007:51, 56). Szenario II: „Metro Status Quo“ EMR Sachsendreieck

Szenario III: „MetroDuo“ Mitteldeutschland und DD

Szenario IV: „MetroPlus“ Erweiterte Metropolregion Magdeburg

Thüringer Städtekette

EMR Sachsendreieck

Mitteldeutschland

Dresden

Erfurt Görlitz Plauen

Abbildung 34: Vorschläge zur Erweiterung der Metropolregion Sachsendreieck Quelle: verändert nach KORIS ET AL. 2007

Szenario V: Das fünfte Szenario empfiehlt eine Erweiterung der Metropolregion Sachsendreieck im Sinne der so genannten „Variablen Geometrie“ (Abbildung 35; vgl. Abschnitt 2.3). In diesem Szenario wurden sowohl die äußeren Grenzen der Metropolregion als auch die innere Organisation bewusst flexibel gehalten, um 47

Die Initiative für Mitteldeutschland ging von den drei Ministerpräsidenten der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen aus und sollte neue Wachstumsimpulse für den mitteldeutschen Wirtschaftsraum setzen. Hierzu wurde eine Agenda zur engeren Kooperation der Länder in ausgewählten Themenfeldern erstellt (vgl. INITIATIVE MITTELDEUTSCHLAND 2002; STAATSKANZLEI DES LANDES SACHSEN-ANHALT 2003, 2004) und anlässlich der Auftaktkonferenz der Initiative Mitteldeutschland am 29. August 2002 vom damaligen Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, WOLFGANG BÖHMER, vorgestellt: „Diese Agenda wird in den nächsten Jahren die Richtschnur unseres Handelns sein. Ich denke, es ist nicht vermessen zu sagen, dass wir damit ein neues Kapitel der Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern einläuten“ (BÖHMER 2002). Aus heutiger Sicht eines Interviewpartners erwies sich das 18 Punkte umfassende Programm der Initiative Mitteldeutschland jedoch bis auf die Einführung eines gemeinsamen Frauengefängnisses als wirkungslos. Die Initiative Mitteldeutschland gilt heute als eingeschlafen und wird aktuell nur noch vom sachsen-anhaltinischen Finanzminister JENS BULLERJAHN vorangetrieben (vgl. IP I/01:137–144, IP I/02:111–116; vgl. BULLERJAHN 2008).

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Teil IV: Geographische Praktiken

eine engere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen territorial und/oder funktional operierenden Akteuren in verschiedenen regionalpolitisch relevanten Themenfeldern zu ermöglichen. Dennoch bildeten die fünf Städte Chemnitz, Dresden, Leipzig, Halle und Zwickau den engeren Kernraum der Metropolregion, welcher an die bis dato eher mäßige Zusammenarbeit der Städte im Sachsendreieck anknüpfen sollte. Die umliegenden sächsischen, sachsen-anhaltinischen und thüringischen Städte stellten den erweiterten Metropolraum dar, welcher den bereits existierenden Verflechtungen und Kooperationsbeziehungen zwischen den Städten Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens Rechnung tragen sollte (KORIS ET AL. 2007:52). Folgt man den Ausführungen von KORIS ET AL. (2007:53), so wären mit der Erweiterung der Metropolregion im Sinne der Variablen Geometrie zahlreiche Vorteile verbunden: So könne die bestehende metropolregionale Kooperation zwischen den Städten des engeren Kernraumes auf der bereits geschaffenen Vertrauensbasis weiter aufbauen. Zudem bestünde die Möglichkeit, diese Vertrauensbeziehung hinsichtlich der Akteure des erweiterten Metropolraumes sowie der funktional operierenden Akteure schrittweise auszubauen. Darüber hinaus ließen sich auch alle Metropolfunktionen in der so erweiterten Metropolregion verbuchen und somit gute Positionen im „Metropol- und Funktions-Index“ erwarten. Schließlich könnte neben der erwarteten hohen Flexibilität bei der Planung und Umsetzung von Maßnahmen zwischen den beteiligten Partnern auch ein hohes Maß an Synergieeffekten genutzt werden. Als problematisch wurden hingegen die gesteigerten Anforderungen an die Organisationsstruktur sowie die maßgeblichen Veränderungen in den Projektaktivitäten angesehen. Konkret: Mit der wachsenden Polyzentralität im Sinne der Variablen Geometrie wurde ein erhöhter Abstimmungsbedarf zwischen den territorial und funktional operierenden Akteuren erwartet, der die Konsensfindungshürde zusätzlich steigern könnte. Darüber hinaus wurde angenommen, dass sich auch die Entwicklung von gemeinsamen Zielen, Strategien, Maßnahmen und Projekten als schwieriger gestalten könnte, da die vielfältigen Partner mit jeweils unterschiedlichen Ausgangslagen und Interessen auftreten würden (vgl. KORIS ET AL. 2007:53). Nicht zuletzt wurde auch in den Experteninterviews kritisiert, dass eine variabel konzipierte Metropolregion ohne feste territoriale Grenzen weder unter den Fachleuten noch der Öffentlichkeit zu kommunizieren wäre. So erwiese sich eine solche Metropolregion als ein sperriges Konstrukt, welches wiederholt die metropolregionalen Koordinationsprozesse nur „top-down“ anzuregen wüsste (vgl. IP I/03; IP I/08; IP II/02). Erweiterung im Sinne der „Variablen Geometrie“: Nichtsdestotrotz konnten sich die Befürworter des Szenarios der Variablen Geometrie durchsetzen und im Jahr 2007 die Erweiterung der Metropolregion Sachsendreieck beschließen. Hiermit wurde die bisherige Kooperation im engen Kernraum formal bekräftigt, so dass die einzelnen Städte der ehemaligen Metropolregion Sachsendreieck weiterhin als gleichberechtigte Partner und mit gleichem Stimmrecht in allen Gremien vertreten waren (vgl. Abschnitt 7.4 zur politischen Organisation der erweiterten Metropolregion). Demgegenüber erfolgte die Kooperation mit den neuen

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sachsen-anhaltinischen und thüringischen Städten jedoch nur thematisch und projektbezogenen, weshalb die Zusammenarbeit der Städte des engeren Kernraumes mit den Städten Magdeburg der erweiterten Metropolregion als weniger verbindlich angesehen werden konnte. Zwar waren die neuen Akteure von nun an auch in den metJena ropolregionalen Steuerungsgremien repräDresden sentiert (seit dem Jahr 2006 nahm die Stadt Jena Zwickau stellvertretend für die thüringischen Partner an den Ausschusssitzungen der Metropolregion Sachsendreieck teil). Jedoch erhielten im Juli Abbildung 35: Siegervorschlag 2007 vorerst nur die Stadt Jena in Vertretung Quelle: verändert nach KORIS ET AL. für die thüringische Im-PulsRegion sowie die 2007 Stadt Gera das Stimmrecht, wohingegen die Landeshauptstadt Magdeburg ab Herbst 2007 lediglich als Beobachterin an den Beratungen teilnehmen konnte und dabei auch die Interessen der Stadt DessauRoßlau vertrat (vgl. EMR MDD 2010b:4). Abschließend bleibt festzuhalten, dass die mit der Erweiterung im Sinne der „Variablen Geometrie“ vollzogene Integration von Partnern aus dem erweiterten Metropolraum zu einer Revitalisierung der metropolregionalen Kooperation geführt hat. So verweisen zahlreiche IP darauf, dass insbesondere die sachsenanhaltinischen und thüringischen Stadtoberhäupter für neuen Schwung in der Metropolregion Sachsendreieck gesorgt haben. Allerdings ist auch zu erwähnen, dass mit diesem zweifelsohne gelungenen Kooperationsanstoß (vgl. Abbildung 39) nicht nur eine vorläufige Anpassung der politischen Organisationsstrukturen und der zugehörigen struktur- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen verbunden war. Da eine solche Veränderung auch umfängliche Transformationen im (metropol-)regionalen Selbstverständnis erwarten ließ, bedurfte es auch eines neuen Namens für die Metropolregion sowie neuer regionsbezogener Identifikationsmöglichkeiten. Szenario V: „MetroFlex“ Variable Geometrie

7.3 Handlungsfeld Namens- und Identitätsfindung Mit der Einbindung der sachsen-anhaltinischen und thüringischen Städte in die formale Organisation der Metropolregion Sachsendreieck wurde ein wichtiger Schritt in Richtung deren Systemintegration geleistet. Über die Einbindung von weiteren Akteuren der regionalen Planungsverbände, Wirtschaftsverbände, Kultur und Wissenschaft (Hochschulen und Forschungseinrichtungen) in die projektrelevanten Arbeitsgruppen wurde ein zweiter wichtiger Schritt in Richtung der funktionalen Vertiefung vorgenommen. Doch aufgrund der Einbeziehung der benannten territorialen und funktionalen Akteure war nicht nur eine Konkretisierung der formalen Organisationsstrukturen und Projektaktivitäten unerlässlich (vgl. Abschnitt 7.4; Abbildung 37). Mit Blick auf die sich aus der wandelnden

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Geographie ergebenden Veränderungen im regionalen Selbstverständnis wurden auch ein neuer Name und neue konsensfähige Identifikationsangebote nötig.48 Mit anderen Worten: Obwohl sich der Name „Sachsendreieck“ über die Jahre zu einer in bestimmten Kreisen der Regionalentwicklung wahrgenommenen Marke entwickelt hatte, besaß er spätestens mit der Erweiterung der Metropolregion um die sachsen-anhaltinischen und thüringischen Städte keine Zukunftstauglichkeit mehr. So verwies die Mehrzahl der interviewten Personen darauf, dass sich weder die Stadtoberhäupter von Erfurt, Weimar, Jena und Gera noch von Magdeburg und Dessau-Roßlau mit dem Namen Sachsendreieck identifiziert hätten (vgl. Anlage 2). Da davon ausgegangen wurde, dass ein solches Identitätsdefizit die gesamte kooperative Regionalentwicklung erneut schwächen könnte, musste die zu verzeichnende Metropolisierungseuphorie auch für den signifikativen Konsolidierungsprozess genutzt werden. Es galt, einen neuen akteursintegrierenden und markttauglichen Namen zu generieren, um die Akteure hinsichtlich gemeinschaftlicher Maßnahmen zu mobilisieren. Interessanterweise sind aber weder die Konstitution eines neuen Regionsnamens noch die Bereitstellung raumbezogener Imaginationen und Identifikationsangebote einfach zu bewerkstelligende Vorhaben. Sie setzen einen umfassenden Reflexionsprozess über die zu bezeichnende und signifikativ zu konsolidierende Region voraus und gehen mit der Generierung und Bündelung von komplexen regionsspezifischen Informationen einher (vgl. FEDERWISCH 2009a). Dabei zeigt sich, dass dieser Reflexionsprozess vor allem von den Akteuren polyzentrischer Metropolregionen wie dem erweiterten Sachsendreieck vorangetrieben werden muss, da diese im Gegensatz zu den Akteuren monozentrischer Metropolregionen wie Hamburg oder München nicht über ein identitätsstiftendes Zentrum verfügen. So fällt es „polyzentrischen Metropolregionen häufig schwer, eine Bezeichnung zu finden, mit der sich die gesamte Region identifizieren kann und die zugleich von außen positiv wahrgenommen wird. […] Diese Schwäche von polyzentrischen Metropolregionen erschwert […] die Darstellung als eigenständige Region – besonders beim Außenmarketing fällt aufgrund der interregionalen Heterogenität eine konzentrierte Positionierung schwer“ (KORIS ET AL. 2007:37).

Projekt zur Namens- und Identitätsfindung: Angesichts dieser Problematik wurde im Jahr 2008 ein Prozess zur Namens- und Identitätsfindung initiiert, welcher der noch weitgehend unbestimmten und sich „in the making“ (PAASI 2002) befindenden Metropolregion bei der signifikativen Konsolidierung helfen sollte (vgl. 48

Die Konstitution raumbezogener Imaginationen und Identifikationsangebote besitzt für das „Funktionieren von Regionen“ eine große Relevanz. Wie im Abschnitt 2.4 verdeutlicht, scheint die regionsbezogene Identität gerade für die Aktivierung teilsystemischer Funktionseliten bedeutsam und stellt zudem eine wichtige Legitimationsgrundlage für das Handeln auf regionaler Ebene dar (vgl. FEDERWISCH 2008a, b, 2009b, 2010a). Als wertdurchdrungene Auslegung der jeweiligen Metropolregionen bildet sie den emotiven Kitt, welcher den Akteuren die Koordination gemeinsamer Handlungsorientierung zu erleichtern vermag. Sie hilft dabei, Loyalität, Solidarität und Handlungsmotivation zu stärken und noch unschlüssigen Akteuren die Notwendigkeit einer kooperativen Regionalentwicklung näher zu bringen. Konsequenterweise mindert sie die Gefahr des Scheiterns der kooperativen Regionalentwicklung.

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KORIS ET AL. 2007; SCHLOTTMANN 2007). Dieser Namens- und Identitätsfindungsprozess resultierte in einem Hochschulwettbewerb, bei dem verschiedene Akteure aus unterschiedlichen Fachgebieten rund ein Semester lang Zeit hatten, ihre Entscheidung für einen bestimmten Namen und für bestimmte Identitätsanker zu begründen (vgl. Abschnitt 5.2). Mit dieser Vorgehensweise näherte sich der Auftraggeber (Geschäftsstelle der Metropolregion Sachsendreieck) einem mittlerweile üblichen Verfahren an, bei dem die Entscheidung zugunsten eines bestimmten (Marken-)Namens durch die Image- und Referenzanalysen professioneller Berater erleichtert wird. Insofern versuchte man mit dem Hochschulprojekt bewusst die eigenen individuellen Bezüge sowie ganz beliebigen Verknüpfungen hinsichtlich der erweiterten Metropolregion auszublenden und die Deutungen der Experten aus der Wissenschaft einzuholen. Mit Hilfe des Hochschulwettbewerbs „Namens- und Identitätsfindung Metropolregion Sachsendreieck“ versuchten die Initiatoren also, neue markttaugliche und akteursintegrierende Namen zu gewinnen. Aus dem hierdurch ermöglichten Reflexionsprozess über die neu zu bezeichnende Metropolregion sollten möglichst prägnante und identitätsstiftende Namen sowie dazugehörige Logos und gegebenenfalls innovative Ideen für ein Regionsmarketing hervorgehen. Zur Entwicklung eines prägnanten und identitätsstiftenden Namens konnten sich die beteiligten Hochschulen an folgenden Fragen orientieren: Welchen Inhalt transportiert der Name? Sind die Assoziationen direkt und positiv? Ist eine Alleinstellung gegenüber anderen Regionen gegeben? In welchem Maße können sich die beteiligten Städte mit dem Namen identifizieren? Klingt der Name eingängig und ist eine Übersetzung ins Englische prinzipiell möglich (EMR SD 2008c)? Zudem wurden Kriterien formuliert, wonach sich der Name aus der räumlichen Lage und dem Zuschnitt der Region, den gemeinsamen gesellschaftspolitischen, sozioökonomischen und kulturellen Traditionen, der direkten Assoziation mit dem bisherigen und zukünftigen Erfolg der Region sowie der direkten Assoziation mit einem für die Region typischen, positiv besetzten Begriff ableiten lassen sollte (EMR SD 2008c).49 Wie im Abschnitt 5.2 verdeutlicht, beteiligte sich auch ein Team um den Autor der vorliegenden Arbeit an diesem Hochschulwettbewerb. Von diesem Team wurde mit der Studie „Geographien im Wandel. Eine mitteldeutsche Metropolregion?“ der Nachweis erbracht, dass der Begriff „Mitteldeutschland“ bereits in einer Vielzahl von Praxisfeldern etabliert ist und somit große markttaugliche und akteursintegrierende Potenziale in sich birgt (vgl. FEDERWISCH 2009a). Diese Einschätzung wurde auch von zahlreichen IP aus dem Bereich der Kommunalpolitik, den Verbänden sowie der Wissenschaft geteilt, mit denen im Rahmen der Studie 49

Aufgabenstellung der EMR Sachsendreieck: „Entwickelt werden sollen […] mögliche prägnante und identitätsstiftende Namen für die Metropolregion sowie dazugehörige Logos und gegebenenfalls innovative Ideen für ein Regional-Marketing. Dabei sollen Namen und Logos auf dem schlüssigen Konzept einer gemeinsamen Identifikation innerhalb der Region beruhen, sprich auf herauszuarbeitenden Gemeinsamkeiten der beteiligten Gebietskörperschaften, beispielsweise im gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und/oder kulturellen Bereich“ (EMR SD 2008c).

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Teil IV: Geographische Praktiken

Gespräche durchgeführt worden sind (vgl. FEDERWISCH 2009a:81). Im Zuge dessen wurde deutlich, dass „technokr(e)ative“ Namen wie „Oregio“ oder „naturfiktionale“ Konstrukte wie „Metropolregion Saale-Elbe“ nur geringe Konsensfähigkeit hätten und zudem markentechnisch schlecht in die (Fach-)Öffentlichkeit zu kommunizieren wären.50 Konfliktäre Namensgebung: Erstaunlicherweise konnten sich die politischen Entscheidungsträger jedoch nicht auf die von den genannten Seiten befürwortete Umbenennung des Sachsendreiecks in eine „Metropolregion Mitteldeutschland“ einigen. Infolgedessen konnte die auf der zweiten Metropolregionskonferenz am 29.01.2009 geplante Namensänderung zum Erstaunen vieler Kongress- und Wettbewerbsteilnehmer nicht vorgenommen werden. Die daraufhin im Nachgang des Hochschulwettbewerbs sowie in Perspektive auf die vorliegende Arbeit geführten Experteninterviews konnten verdeutlichen, wie zerstritten die Partner der unlängst erweiterten Metropolregion Sachsendreieck hinsichtlich der Namensgebung waren. Entgegen der offiziellen Darstellung bot der Prozess der Namens- und Identitätsfindung anscheinend genügend Konfliktstoff, um die Metropolregion erneut an den Rand des Scheiterns zu bringen (vgl. Abbildung 39). Nach eingehender Analyse der Experteninterviews konnten drei zentrale Gründe identifiziert werden, die den Konflikt maßgeblich geschürt hatten. Zu diesen Gründen gehört zunächst die ablehnende Haltung gegenüber dem Begriff Mitteldeutschland, der historisch betrachtet problematisch belegt sei und somit zum „Konfliktkatalysator“ avancierte (IP I/05:35–37). So war es der Mehrzahl der IP durchaus bewusst, dass ein aus sächsischen, sachsen-anhaltinischen und thüringischen Städten bestehendes „Mitteldeutschland“ auch immer die Frage nach einem „Ostdeutschland“ nach sich zöge. Da die Beantwortung dieser Frage durchaus revanchistische Tendenzen fördern und für Unmut auf der Seite der polnischen und tschechischen Partner sorgen könne, sollte der Name Mitteldeutschland gerade aus Sicht der Städte Dresden und Chemnitz für die erweiterte Metropolregion verhindert werden.

50

Aussagebeispiel 1: „Mitteldeutschland – Central Germany! Da bin ich auch ganz festgelegt. Ich halte nichts von irgendwelchen künstlichen Designernamen, weil wir mit denen einfach auf die Nase fallen. Also: Wenn ich das aus chinesischer oder südafrikanischer Perspektive sehe, dann kommt meines Erachtens kein anderer Name infrage. Unter Deutschland kann sich jeder etwas vorstellen und unter Mitteldeutschland auch. Ich glaube, wir sollten diesen Weg in jedem Falle gehen“ (IP I/01:15–20). | Aussagebeispiel 2: „Ich meine, ein Name muss ja verschiedene Vorteile aufweisen. Er muss kurz und knackig und einprägsam sein, muss Marketing im besten Sinne des Wortes sein. Also: Von der etwas scherzhaften Bezeichnung des ‚Zweistromlandes‘ mal abgesehen, sehe [ich] eigentlich keine wirkliche echte Alternative zum Namen ‚Mitteldeutschland‘. Es sei denn, man versucht einen Designernamen auf den Weg zu bringen, den man irgendwie kreiert. Da sage ich aber auch: Diesen Namen bekannt zu machen wird so viel Geld kosten, das uns in der eigentlichen Arbeit fehlen wird. Deshalb sollten wir mit einem eingeführten Namen operieren. Die Wirtschaftsinitiative für Mitteldeutschland trägt diesen Namen und gibt viel Geld für Marketing aus. Das Regionalforum Mitteldeutschland heißt so, es gibt das Forum Mitteldeutscher Städte, es gibt die Initiative Mitteldeutschland. Kurz gesagt: Das Geld kann man echt für bessere Sachen ausgeben“ (IP I/01:42–50).

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Abbildung 36: Mitteldeutschlandvarianten a) bis 1945, b) bis 1990, c) nach 1990 Quelle: verändert nach SCHLOTTMANN (2007:5)

Wenngleich eine Reihe der befragten Experten die grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Begriff Mitteldeutschland nachvollziehen konnte, so wurde dieser dennoch von Seiten der sachsen-anhaltinischen und thüringischen Mitglieder für die erweiterte Metropolregion als weitgehend unproblematisch erachtet. Dies begründete sich nicht zuletzt mit der variablen und flexiblen Auslegbarkeit der Metropolregion (vgl. Abschnitt 7.2) und der damit verbundenen themen-, projektund akteursbezogenen Deutungsmuster. In der Folge machten sich zunehmend einige kommunal- und verbandspolitische Akteure für den Namen Mitteldeutschland stark und begegneten der Skepsis zum Teil auf resolute Weise. Getreu dem Motto: „Wenn Chemnitz und Dresden glauben, sich mit einen Designernamen durchsetzen zu können, der unbekannt und von anderen nicht akzeptiert ist, dann täuschen sie sich“ (IP I/01:132–133) nahm man auch eine abschließende „Kampfabstimmung“ (IP I/03:66) in dieser emotional ausgesprochen aufgeladenen Sachfrage in Kauf. 51 51

Die Politik und Planung, die Geschichtswissenschaft, aber auch die traditionelle wissenschaftliche Geographie (Landschafts- und Länderkunde; vgl. Abschnitt 4.1) schienen lange Zeit auf der Suche nach einem wahren „Mitteldeutschland“ zu sein. So zeigen der Historiker JÜRGEN JOHN (2001) und die Sozialgeographin ANTJE SCHLOTTMANN (2007) überzeugend, dass sie sich allesamt um die Rekonstruktion der Genese sowie um die Bestimmung, Umgrenzung und Charakterisierung der Region „Mitteldeutschland“ bemüht haben. Zu ihren klassischen Fragen gehörten: Was genau ist und wo liegt Mitteldeutschland? Wann wurde Mitteldeutschland geboren bzw. geschaffen? Was ereignete sich zu welcher Zeit in Mitteldeutschland? Was spielt sich heute darin ab und wie verhält sich Mitteldeutschland zu anderen Räumen? Welche Eigenarten, Strukturen und Entwicklungspotenziale weist der mitteldeutsche Raum auf? Das dabei entstandene „Mitteldeutschland“ ist zumeist ein „eigenartiger Raum“ (SCHLOTTMANN 2007:4). Nicht nur, dass „Mitteldeutschland“ vielfältige Veränderungen in der territorialen Gestalt erfahren hat – und somit je nach historischem und gesellschaftlichem Kontext mal eine breitenparallele (bis 1945) und mal eine das gesamte Staatsgebiet der DDR umfassende Gestalt aufweist (Abbildung 36). Vielmehr verändern sich die mit der Bezeichnung „Mitteldeutschland“ in Verbindung gebrachten Deutungsmuster, die sich je nach Handlungskontext und -orientierung (Politik, Wirtschaft, Kultur, Medizin) verschiedentlich ausdrücken (SCHLOTTMANN 2007).

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Teil IV: Geographische Praktiken

Angesichts des sich abzeichnenden Votums für den Namen Mitteldeutschland gerieten die politischen Entscheidungsträger der Städte Chemnitz und insbesondere Dresden zunehmend in die Defensive. Dies ging nach Auskunft von IP I/08 durchaus so weit, dass die Oberbürgermeisterin der Stadt Dresden, HELMA OROSZ, ernsthafte Überlegungen anstellte, den metropolregionalen Verbund zu verlassen. Geschürt wurden diese Überlegungen durch zwei zusätzliche Bedenken, welche sich auch verstärkend auf den Konflikt um die Namensgebung auswirken sollten. Dies betrifft zum einen die Bedenken vor einer Fusion der Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zu einem Bundesland „Mitteldeutschland“, was zum Zweiten eine langfristige Machtverlagerung in Richtung Leipzig zur Folge gehabt hätte (vgl. IP I/01:34–38). Pragmatische Einigung: Im Nachhinein betrachtet konnten die Bedenken der Städte Chemnitz und Dresden vor allem durch vier zentrale Faktoren entkräftet und somit der Konflikt zwischen den metropolregionalen Akteuren bewältigt werden. Dies waren a) die behutsam ausgeführte und vielfach gelobte Intervention der Geschäftsstelle der Metropolregion Sachsendreieck (IP I/05; IP I/07), die in dem Namensfindungsprozess in erster Linie eine Vermittlungsrolle eingenommen hatte; b) die Beratungsleistung einer im Nachgang des Hochschulwettbewerbs eingesetzten Agentur, die den Begriff Mitteldeutschland noch einmal bestätigt hatte; c) die in Aussicht gestellten Koppelgeschäfte, welche die Führung der Metropolregion durch Dresden und die Verlagerung der Geschäftsstelle in die Elbmetropole zur Folge hatten sowie d) die politische Stellungnahme seitens des zuständigen Sächsischen Innenministeriums, welche die Rolle Dresdens in der Metropolregion bekräftigen konnte. So machte gerade IP II/03 klar, dass Dresden in jedem Falle einer Metropolregion zuzugehören hat: „Eine sächsische Vertretung in einer wie auch immer gearteten Metropolregion, wo zum Beispiel Leipzig drin ist ohne Dresden, das war für uns nie eine Alternative gewesen. Weil wir ansonsten in die Kleinstaaterei zurückfallen würden“ (IP II/03:99–105).

Nicht zuletzt sollte aber auch ein pragmatischer Einstellungswandel die Entscheidung zugunsten des Namens Mitteldeutschland beeinflussen.52 „Ich sag es jetzt mal ganz trivial, ganz pragmatisch: Es ist keinem was Besseres eingefallen, als das zu nehmen, was auch etabliert ist […]“ (IP I/06:58). Infolgedessen konnten die Verantwortlichen der Metropolregion nach rund einjähriger kontroverser Diskussion am 27.05.2009 ihre Einigung auf den Namen Mitteldeutschland verkünden und die „Metropolregion Sachsendreieck“ in eine „Metropolregion Mitteldeutschland“ umbenennen (EMR MDD 2009a). Damit konnte der Prozess der Selbstvergewisserung ein erstes Zwischenergebnis vorweisen und eine wichtige Basis für 52

IP I/07 thematisiert ihren eigenen Bewusstseinswandel und den der Dresdner Oberbürgermeisterin HELMA OROSZ. „Frau Orosz und ich haben dann aber akzeptiert, dass der Name Mitteldeutschland ein eingeführter Begriff ist und offensichtlich nicht zu Missverständnissen führt. Wir haben verstanden, dass dies der Begriff ist, hinter dem sich die meisten gerne versammeln wollen. Und damit war die Diskussion für mich beendet. Ich nehme meine Ressentiments zurück. Und genauso hat es Frau OROSZ gesehen und daher ist es ein Kompromiss, den ich aber durchaus für glücklich halte“ (stark verändert nach IP I/07:105–107).

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die weitere gemeinschaftliche Regionalentwicklung geschaffen werden.53 In Anbetracht dessen widmen sich die folgenden Ausführungen den metropolregionalen Entwicklungen nach der erfolgreichen Namensgebung, welche die vorerst letzten Anpassungen in der politischen Organisation und in der strategischen Ausrichtung der Metropolregion Mitteldeutschland mit sich gebracht hatten.

7.4 Politische Organisation und strategische Handlungsfelder Keine Frage: Mit der Namensgebung konnte die Kooperation im Rahmen der mitteldeutschen Metropolregion ein zweites Mal vor dem Stillstand oder gar dem Scheitern bewahrt werden. Sie hatte bei einer Vielzahl der beteiligten Akteure eine Erleichterung zur Folge und sorgte für neuen Schwung in der gemeinschaftlichen Regionalentwicklung (vgl. IP I/03; IP I/05; IP I/08; IP II/02). So wurde im Verlaufe des Jahres 2009 und im Rahmen von verschiedenen Klausursitzungen sowie Arbeitsgruppentreffen sowohl eine organisatorische als auch eine inhaltliche Präzisierung der Metropolregion Mitteldeutschland erarbeitet. Dabei ging es in erster Linie um a) die Anpassung der politischen Organisation hinsichtlich der Aufnahme neuer Mitgliedsstädte, b) die Definition neuer Visionen, Leitbilder und Handlungsfelder unter Berücksichtigung des neu erarbeiteten Selbstverständnisses sowie c) die Veränderung des Erscheinungsbildes unter dem Namen der Metropolregion Mitteldeutschland. Politische Organisation: Betrachtet man zunächst die Anpassung der politischen Organisation der Metropolregion, so wird man keine Veränderungen in deren Grundkonstellation feststellen können (Abbildung 37). So stellen der Gemeinsame Ausschuss, der Lenkungsausschuss, das System der Arbeitsgruppen und die Geschäftsstelle auch nach der erfolgreichen Namensgebung die zentralen organisatorischen Einheiten der Metropolregion Mitteldeutschland dar (vgl. EMR MDD 2010b:5). Verändert hat sich dagegen die Anzahl der im Gemeinsamen Ausschuss repräsentierten Städte, da zum Jahreswechsel 2010 zwei weitere Städte als Vollmitglieder in die Metropolregion aufgenommen wurden. Zudem wurde auch das System der Arbeitsgruppen angepasst, welches nunmehr über keine AG Brüssel, dafür aber eine AG Familienfreundlichkeit verfügt. Konkret: Der Gemeinsame Ausschuss repräsentiert nach wie vor das Steuerungszentrum der Metropolregion Mitteldeutschland und setzt sich seit der einstimmig beschlossenen Vollmitgliedschaft der Städte Gera und Dessau-Roßlau zum 01.01.2010 aus den Oberbürgermeistern der beteiligten Städte Chemnitz, Dessau-Roßlau, Dresden, Gera, Halle, Jena (vertretend für die Interessen der Städ53

Resümierend stellt IP 1/7 fest: „Wir wussten danach, dass es das scheinbar Einfache ist, was so [besonders ausdrucksvoll gesprochen] schwer zu machen ist. Es doch eigentlich einfach ist, einen Namen zu finden – also mein Gott [besonders ausdrucksvoll gesprochen]“ (IP I/07:115–129). | Für IP I/04 bedeutete die Einigung auf den neuen Namen: „Wir haben jetzt so ein bisschen den kleinen Reset-Knopf gedrückt und können uns in den nächsten Monaten über die Zielsetzungen, Schwerpunktsetzungen und Vorhaben verständigen“ (vgl. IP I/04:231–233).

Teil IV: Geographische Praktiken

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Gemeinsamer Ausschuss

Lenkungsausschuss

AG 1

AG 2

AG 3

AG 4

AG 5

Abbildung 37: Organigramm der Metropolregion Mitteldeutschland | Quelle: verändert nach EMR Mitteldeutschland

Geschäftsstelle

Metropolregionskonferenz

te Erfurt, Weimar), Leipzig, Magdeburg und Zwickau zusammen. Er tagt zweimal im Jahr und trifft Entscheidungen über die strategischen Handlungsfelder, deren Grundfinanzierung sowie die Aufnahme von neuen Mitgliedern in Einstimmigkeit.54 Dabei wird der Gemeinsame Ausschuss von den Vertretern der zuständigen Landesministerien (Sächsisches Innenministerium, Sachsen-Anhaltinisches Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr, Thüringer Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Verkehr) sowie der Geschäftsstelle der Metropolregion beraten. Der Vorsitz wechselt alle zwei Jahre und liegt seit dem Jahr 2010 bei der Oberbürgermeisterin der Stadt Dresden (vgl. Abschnitt 7.3). Der Lenkungsausschuss ist der Nachfolger der 2002 gebildeten Arbeitsgruppe (vgl. Abschnitt 7.1) und setzt sich aus den Vertretern der gebietskörperschaftlichen Verwaltungen (Arbeitsebene), den Vorsitzenden der Arbeitsgruppen, den Vertretern der zuständigen Landesministerien (Amtsleiterebene) sowie der Geschäftsstelle der Metropolregion zusammen. Er tagt im Rhythmus von zwei Monaten und koordiniert die operative Arbeit der Metropolregion. Zudem berät der Lenkungsausschuss den Gemeinsamen Ausschuss in allen strategischen Entscheidungen.

Die Arbeitsgruppen haben sich aus dem Lenkungsausschuss heraus gebildet und bearbeiten schwerpunktmäßig verschiedene Themenbereiche in Form von konkreten Projekten. Sie sind als Schnittstellen zwischen den Akteuren der öffentlichen Verwaltung, der privaten Wirtschaft und der Wissenschaft nach dem Prinzip der freien Mitarbeit organisiert und stehen grundsätzlich allen interessierten Personen offen. In den vergangenen Jahren hatten sich zunächst drei Arbeitsgruppen etabliert (AG Wirtschaft und Wissenschaft, AG Verkehr, AG Kultur und Tourismus), die im Jahr 2008 durch die AG Überregionale Kooperation sowie 2009 durch die AG Familienfreundlichkeit ergänzt wurden. Die AG Brüssel besaß hingegen nur so lange eine Relevanz, wie das Projekt zur Gemeinsamen Präsentation der mitteldeutschen Solarbranche in Brüssel und Straßburg geplant, organisiert und durchgeführt wurde (siehe unten). 54

IP I/06 macht unmissverständlich klar, dass nach der letzten Erweiterungsrunde keine weiteren Städte oder gar Landkreise in die Metropolregion Mitteldeutschland aufgenommen werden sollen: „Wir haben in Chemnitz vereinbart, dass wir erst einmal eine Pause machen und nicht alle halbe Jahre jemanden aufnehmen wollen. Denn wenn Sie Entscheidungen treffen wollen, ist natürlich eine bestimmte Größe der Metropolregion nicht zu überschreiten. Ansonsten bekommt man nämlich nichts mehr geregelt. Man muss ja erst einmal anfangen können mit einer überschaubaren Anzahl von Städten. Weitere Aufnahmen wird es dann erst einmal in ein, zwei Jahren wahrscheinlich nicht geben“ (verändert nach IP I/06:105–107).

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Die Geschäftsstelle repräsentiert wiederum die zentrale Koordinationseinheit der Metropolregion Mitteldeutschland und unterstützt deren einzelne Gremien in operativer Hinsicht. So bereitet die Geschäftsstelle beispielsweise die Sitzungen des Gemeinsamen Ausschusses sowie des Lenkungsausschusses organisatorisch und inhaltlich vor, verantwortet die Finanzierung und Umsetzung aller laufenden Projekte, übernimmt die Öffentlichkeits- und Pressearbeit und plant die jährlich stattfindenden Metropolregionskonferenzen. Personell ist die Geschäftsstelle derzeit mit zwei Vollzeitstellen ausgestattet, welche über eine so genannte Gemeindeumlage der einzelnen Städte finanziert werden (siehe Abschnitt 8.1 zur Finanzierung der Metropolregion Mitteldeutschland). Unabhängig davon wechselt ihr Sitz alle zwei Jahre und ist nach Leipzig (2006/2007) und Chemnitz (2008/2009) nun bei der Landeshauptstadt Dresden angesiedelt (seit 2010). Die Metropolregionskonferenz findet idealtypischerweise einmal jährlich statt und wird von der jeweiligen Mitgliedsstadt mit dem Sitz der Geschäftsstelle ausgetragen. Sie steht in jedem Jahr unter einem spezifischen Thema und soll a) über die Metropolregion informieren und ihr Profil stärken, b) verschiedene Akteure aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenführen und einen Erfahrungsaustausch ermöglichen, c) hierüber einen Impuls zur gegenseitigen Vernetzung und überregionalen Kooperation ausüben sowie d) einen Dialog über die weitere Zusammenarbeit eröffnen. So fand die erste Metropolregionskonferenz der revitalisierten Metropolregion Sachsendreieck am 15.11.2007 unter dem Motto „Auftaktkonferenz“ mit 150 Teilnehmern in Leipzig statt (vgl. EMR SD 2007). Die zweite Metropolregionskonferenz wurde unter dem Motto „Kompetenz durch Netzwerkbildung. Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft als Erfolgsfaktor“ am 30.01.2009 mit rund 200 Teilnehmern in Chemnitz abgehalten (vgl. EMR SD 2009). Die dritte Metropolregionskonferenz fand vor dem Hintergrund der erwähnten Organisationsanpassung, neuer regionalpolitischer Inhalte und eines damit korrespondierenden neuen Erscheinungsbildes am 26.03.2010 ebenfalls mit rund 200 Teilnehmern in Chemnitz statt (EMR MDD 2010a). Eine vierte Metropolregionskonferenz ist für das Jahr 2011 in der Stadt Dresden geplant. Strategische Handlungsfelder: Es versteht sich von selbst, dass mit der Erweiterung im Sinne der „Variablen Geometrie“ sowie der erfolgreichen Namensgebung nicht nur eine Aktualisierung der politischen bzw. formalen Organisation vollzogen werden musste. Es bedurfte zudem einer Anpassung der Visionen (vgl. Exkurs II), Leitbilder (vgl. Exkurs III) und Handlungsfelder unter Berücksichtigung des neu erarbeiteten Selbstverständnisses sowie einer Veränderung des Erscheinungsbildes unter dem Namen der Metropolregion Mitteldeutschland (Corporate Design; Abbildung 38). Dabei wurde versucht, die in den zurückliegenden Jahren entwickelten Themenfelder bei gleichzeitiger Systematisierung und inhaltlicher Ausdifferenzierung fortzuschreiben (vgl. KORIS ET AL. 2005; EMR MDD 2010b). So galt es, die Projekte aus den Handlungsfeldern des Marketing und Lobbying, der Netzwerkentwicklung und des Clustermanagements sowie der Öffentlichkeitsarbeit und Identitätsentwicklung auch unter den neuen Bedingungen fortzuführen und die dabei gesammelten Erfahrungen für die neuen Aufgaben nutzbar zu machen.

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Teil IV: Geographische Praktiken

Abbildung 38: Logos als Elemente des Corporate Design Quelle: EMR Sachsendreieck/Mitteldeutschland

Zu diesen Projekten der Vergangenheit gehört zunächst die gemeinsame Vermarktung der metropolregionalen Mitgliedsstädte auf der Münchner Immobilienmesse EXPOREAL im Oktober 2007. So wurde im Rahmen dieses Projektes erstmals eine Abstimmung und Koordination der einzelnen städtischen Messeaktivitäten vorgenommen (vgl. SCHNEIDER 2008:162–163). Darüber hinaus fand im gleichen Zeitraum eine Präsentation der mitteldeutschen Solarbranche bei den Gremien der EU in Brüssel und Straßburg statt. Diese wurde in Zusammenarbeit mit verschiedenen Solarverbänden konzipiert und stellt somit ein erstes Projekt unter Einbezug funktionaler Akteure dar. Des Weiteren wurden zahlreiche Druckerzeugnisse hergestellt, wozu a) diverse Image- und Tourismusbroschüren (beispielsweise EMR SD 2008a, b), b) die in Zusammenarbeit mit der WfM konzipierten Themenhefte „Mittelpunkt“ sowie c) der von einer Untergruppe der AG Wirtschaft und Wissenschaft erarbeitete Wissenschaftsatlas gehören (vgl. EMR MDD 2009b). Nicht zuletzt wurden im Namen der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland bereits drei Metropolregionskonferenzen organisiert und schließlich auch eine im September 2009 durchgeführte Konferenz zur Kreativwirtschaft in Leipzig unterstützt („Creative Industries: Governance of Metropolitan Regions“). Nach eingehender Sichtung der in den bisherigen Arbeitsgruppen durchgeführten Projekte und nach umfassender Abgleichung mit den neu erarbeiteten Leitbildern haben sich die Oberbürgermeister der Metropolregion Mitteldeutschland auf fünf (aber nur zum Teil neue) Handlungsfelder verständigt. Die hieraus abgeleiteten Arbeitgruppen sollten die herausragenden Interessen der beteiligten Akteure repräsentieren und die besonderen Stärken der Metropolregion Mitteldeutschland in den Bereichen Wirtschaft und Wissenschaft, Kultur und Tourismus sowie Verkehr und Mobilität protegieren. Die darüber hinaus konzipierten Arbeitsgruppen zur Überregionalen Kooperation und zur Familienfreundlichkeit stellen wiederum querschnittsorientierte Handlungsfelder dar. Insgesamt betrachtet soll es diesen Arbeitsgruppen nach wie vor darum gehen, so genannte „WinWin-Situationen“ zu schaffen bzw. Synergieeffekte zwischen den verschiedenen Akteuren herzustellen, die – auf Basis der SWOT-Analysen identifizierten – (metropol-)regionalen Stärken zu stärken sowie die Potenziale aus den festgestellten Gemeinsamkeiten weiter zu entwickeln (vgl. SCHNEIDER 2008:162).

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Exkurs II | Vision (paraphrasiert nach EMR MDD 2010b:15) der Metropolregion Mitteldeutschland als Dynamischer Wirtschaftsstandort: Die Metropolregion ist der führende Wirtschaftsstandort in Ostdeutschland und hat in allen wichtigen Kennziffern zum Westen hin aufgeschlossen. Die Region hat sich zudem zu einem der wichtigsten europäischen Standorte für die Bereiche der Erneuerbaren Energien, der Halbleiter- und Optischen Industrie sowie der Logistikwirtschaft entwickelt. Die Branchen Chemie und Maschinenbau bilden weiterhin die Basis der Region. Führend bei Innovation und Bildung: Die F&E-Kapazitäten haben das Niveau der starken Wissenschaftslandschaft erreicht. Die Metropolregion wird europaweit als Wissensregion wahrgenommen und belegt regelmäßig Spitzenplätze im nationalen Wissenschaftsranking. Gemeinsame Plattform mit hoher Anziehungskraft: Die Metropolregion ist die zentrale Vernetzungsplattform für regionale Akteure und besitzt eine hohe Anziehungskraft bis in die Zivilgesellschaft hinein. Im internationalen Standortwettbewerb wird sie als eine Region mit vielen Stärken und Potenzialen wahrgenommen. Sie ist das Sprachrohr der mitteldeutschen Wirtschaftsregion in Deutschland und wird von den europäischen Nachbarregionen als kompetenter Partner und Innovationstreiber in gemeinsamen Projekten geschätzt. Weltoffen, kreativ und familienfreundlich: Toleranz und interkulturelle Kompetenz gehören zum Selbstverständnis der Bewohner. Es herrscht eine kreative und weltoffene Atmosphäre für die Menschen aus aller Welt. Darüber hinaus sind kinder- und familienfreundliche Strukturen sowie exzellente Ausbildungsmöglichkeiten wichtige Aushängeschilder der Region. Zur Attraktivität tragen Unternehmen sowie pulsierende Städte mit vielfältigem Kulturangebot und naturnaher Erholung bei. Die Arbeitsgruppe Wirtschaft und Wissenschaft versteht die Metropolregion Mitteldeutschland als einen Standort von Wachstumsbranchen wie der Photovoltaik, Mikroelektronik, optischen Industrie, Chemie und des Maschinen- und Fahrzeugbaus sowie als einen Standort hervorragender wissenschaftlicher Einrichtungen (neun Universitäten, 25 Hochschulen und 100 Forschungszentren). Problematischerweise arbeiten Wirtschaft und Wissenschaft aber noch nicht in einem ausreichenden Maße zusammen, weshalb die Arbeitsgemeinschaft die Zusammenarbeit in Kompetenznetzwerken und Clusterprozessen unterstützt. Die AG Wirtschaft und Wissenschaft verfolgt somit das Ziel, die intersystemische Zusammenarbeit zu intensivieren, Exzellenzcluster aufzubauen sowie die gemeinsamen Interessen im Rahmen des Standortmarketings und der Wirtschaftsförderung zu protegieren, um letztlich die Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Zu den ausgewählten Projekten zählen die Erstellung eines Wissenschaftsatlas, die Durchführung einer Roadshow, verschiedene Ausstellungen über den Solarstandort Mitteldeutschland sowie ein gemeinsames Messekonzept (vgl. EMR MDD 2010b:10).

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Teil IV: Geographische Praktiken

Folgt man den Ausführungen der Arbeitsgruppe Kultur und Tourismus, so verfügt die Metropolregion über eine einzigartige Vielfalt und Dichte in der Kulturlandschaft und prägt seit Jahrhunderten die Geistes- und Kulturgeschichte Europas. Problematisch ist, dass zahlreiche UNESCO-Weltkulturerbestätten und authentische Entstehungsorte hinsichtlich der Architektur, Musik, Literatur und Bildenden Kunst in Weimar, Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg etc. noch ungenutzte (Tourismus-)Potenziale in sich bergen. Der Arbeitsgruppe geht es somit in erster Linie um a) die erfolgreiche Vermarktung und Präsentation dieser Stätten, b) die intensivere Vernetzung zwischen den relevanten Akteuren, c) die Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft als einer der wichtigen Wachstumsbranchen sowie d) die Förderung der kulturellen Bildung. Als Projekte sind neben der Erstellung von Imagebroschüren und Kreativwirtschaftsberichten auch die Herstellung eines Kulturwegweisers, eines Online Kulturkalenders sowie Aktivitäten im Bereich der kulturellen Bildung angedacht (vgl. EMR MDD 2010b:11). Die Arbeitsgruppe Verkehr und Mobilität betrachtet den Aspekt der „Mobilität“ als eines der Schlüsselthemen des 21. Jahrhunderts. Dies begründet sich mit den hohen Anforderungen einer effizienten Abwicklung der globalisierten Warenströme, der Bereitstellung von umweltfreundlichen Mobilitätskonzepten sowie der Notwendigkeit eines leistungsfähigen Öffentlichen Personennahverkehrs. Daher haben sich die Vertreter der Arbeitsgruppe zum Ziel gesetzt, die Erreichbarkeit der metropolregionalen Teilräume zu optimieren und den Ausbau der (inter-)nationalen Anbindungen durch die Interessenvertretung bei der Planung von Verkehrsinfrastrukturprojekten auf EU-, Bundes- und Landesebene zu fördern. Zu den wichtigsten Projekten gehören dabei, die Prioritätenliste der Verkehrsvorhaben von Bund und Ländern über Stellungnahmen zu beeinflussen, ein Konzept für ein länderübergreifendes Fernverkehrsnetz der Deutschen Bahn für die Metropolregion Mitteldeutschland vorzulegen, in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn ein Metropolregionsticket zu erarbeiten sowie eine gemeinsame Präsentation auf dem jährlich in Leipzig stattfindenden Weltverkehrsforum (International Transport Forum) zu organisieren (vgl. EMR MDD 2010b:12). Für die querschnittsorientierte Arbeitsgruppe Überregionale Kooperation stellt wiederum die Einbindung der territorialen und funktionalen Akteure eine zentrale Erfolgsbedingung für die Metropolregion Mitteldeutschland dar. Als Teilnehmerregion an einem Modellvorhaben der Raumordnung (MORO) verfolgt sie das Ziel, geeignete GovernanceRegime zu identifizieren und weiterzuentwickeln. Insofern geht es ihr ganz im Sinne der im Abschnitt 3.1 dargestellten Systematik der GovernanceForschung um die Schaffung einer geeigneten Metropolitan Governance, die Integration bestehender Initiativen sowie die intensivere Vernetzung von Wirtschaft und Wissenschaft. Zu den konkreten und im Rahmen der MOROProjektfamilie durchgeführten Projekten gehören das Ausloten der Anforderungen an die Zusammenarbeit, die Vernetzung der vorhandenen Kompetenzen in Wirtschaft und Wissenschaft, die Teilnahme am Initiativkreis der Deutschen Metropolregionen und am Netzwerk der Europäischen Metropolregionen (METREX; Beitritt im Jahre 2008) sowie die Analyse der Bedeutung weicher Standortfaktoren für die Metropolregion (vgl. EMR MDD 2010b:13).

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Exkurs III | Leitbild (paraphrasiert nach EMR MDD 2010b:6–7) der Metropolregion Mitteldeutschland für Wachstum und Innovation: Die Metropolregion zählt zu den dynamischsten Standorten in Deutschland und Europa. Sie zeichnet sich durch die Innovationskraft ihrer Akteure und Institutionen aus. Sie will die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, um eine nachhaltige Stärkung der Region zu gewährleisten. Dabei erweisen sich die Städte als Impulsgeber. Gemeinsame Verantwortung: Die Metropolregion versteht sich aufgrund ihrer Geschichte und polyzentrischen Struktur als eine Partnerschaft der Stadtregionen. Dabei sind die Oberzentren die eigentlichen Wachstumsmotoren und strahlen auf das Umland aus. Gleichzeitig trägt aber auch das ländliche Umland zur Vielfalt und Lebensqualität bei und wird in die Entwicklung einbezogen. Dort, wo Schnittmengen liegen, wird mit anderen Institutionen zusammengearbeitet. Vielfalt als Stärke: Die Polyzentralität geht mit einer Vielzahl an Identitäten und Interessen einher. Dabei werden die Ausdehnung und das Fehlen eines Kerns als eine besondere Herausforderung gesehen. Dies betrifft den effektiven Einsatz und die Steuerung der vorhandenen Ressourcen sowie die Wahrung der Identitäten. Ziel ist es, die vorhandenen starken Potenziale und Identitäten unter dem Dach der Metropolregion zu bündeln. Mehrwerte für Akteure: Die Metropolregion konzentriert sich nach dem Subsidiaritätsprinzip auf Aufgabenbereiche, die auf kommunaler oder teilregionaler Ebene nicht erfüllt werden. Sie versucht somit, Mehrwerte zu schaffen. Damit versteht sie sich nicht als Alternative zu bereits bestehenden Kooperationen. Vielmehr will sie als flexibles „Netzwerk der Netzwerke“ einen Bezugsrahmen für gemeinsame Projekte auf nationaler und europäischer Ebene bilden. Vorbild für Europa: Zu den zentralen Stärken der Metropolregion gehören die Erfahrungen, die im Kontext der Transformation in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Umwelt seit 1989 gemacht worden sind. Ausgehend davon kann die Region neue Wege gehen und Lösungsstrategien aufzeigen. Sie ist zudem eine Region im Ost-West-Gateway, weshalb die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu intensivieren ist. Wissensregion mit Lebensqualität: Die Metropolregion verfügt bereits heute über richtungweisende Angebote und Strukturen im Bereich der schulischen und universitären Ausbildung. Diese Bereiche sollen zukünftig besser vernetzt und mit den F&E-Aktivitäten der Unternehmen kombiniert werden. Darüber hinaus verfügt die Metropolregion über das deutschlandweit dichteste Netz an frühkindlichen Betreuungsmöglichkeiten, weshalb sie sich zum Leitbild der familienfreundlichsten Metropolregion bekennt. Letztlich verfügt die Metropolregion auch über ein herausragendes kulturelles Erbe und eine Vielfalt an einmaligen Naturlandschaften, deren Förderung und Bewahrung eine der wichtigsten Aufgaben der Metropolregion ist.

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Teil IV: Geographische Praktiken

Die Arbeitsgruppe Familienfreundlichkeit geht davon aus, dass gute Bedingungen für Familien einen wichtigen Standortfaktor für die Metropolregion darstellen. Aus diesem Grund ist sie an der Schaffung von familienfreundlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Etablierung einer familienfreundlichen Personalpolitik, der Erstellung von familienbezogenen Informationen, der Einbeziehung familienfreundlicher Aspekte in die kommunalpolitischen Abstimmungsprozesse sowie der Unterstützung lokaler Bündnisse interessiert. Zu den zentralen Projekten zählen die Erstellung von Leitlinien für Familienfreundlichkeit und eine daran anknüpfende Imagebroschüre (vgl. EMR MDD 1010c). Darüber hinaus war sie der Hauptorganisator der Fachkonferenz „Die Metropolregion Mitteldeutschland gewinnt mit Familienfreundlichkeit“, die am 20.09.2010 im neuen Leipziger Rathaus stattfand (vgl. EMR MDD 2010b:14). Fazit: Mit der organisatorischen und inhaltlichen Präzisierung der Metropolregion Mitteldeutschland wurde zweifelsohne eine neue Etappe im mitteldeutschen Metropolisierungsprozess eingeleitet (Abbildung 39). So wurden mit der Anpassung der politischen Organisation, der Definition neuer Visionen, Leitbilder und Handlungsfelder sowie der Veränderung des Corporate Designs durchaus wichtige Voraussetzungen für ein aussichtsreicheres metropolregionales Marketing geschaffen und die Grundbedingungen für ein schlagkräftigeres Lobbying (Kontaktaufbau und -pflege, Agenda Setting) erfüllt. Angesichts dessen sollte es auch möglich sein, positive Effekte auf die Identitätsentwicklung zu erwirken und neue Akteure für die metropolregionalen Aktivitäten zu gewinnen. Damit sollte der verspätete Führungsanspruch der Metropolregion, als „Netzwerk der Netzwerke“ (vgl. EMR SD 2009; EMR MDD 2009a; EMR MDD 2010a, b, c; IP I/05:81–83; IP II/03:139–149), als „Dach“ (vgl. IP I/04:28, 210, 253; IP I/05:81; IP I/08:182; IP III/02:45) oder als „Plattform“ (vgl. IP II/03:130; IP I/04:213, 253) zu operieren, bekräftigt sowie ein politisches Gegengewicht zur den Bundesländern hergestellt werden. Aus diesen neueren Entwicklungen könnte man nun schließen, dass auch die Metropolregion Mitteldeutschland allmählich einen „Motor der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung“ (ADAM ET AL. 2005) darstellt. Man könnte meinen, dass sie sich auf dem Weg zu einem Erfolgsmodell befindet, welches seitens des BBSR für die deutschen Metropolregionen im Allgemeinen konstatiert worden ist (vgl. BBSR 2009a). Im Zentrum der nachstehenden Ausführungen steht jedoch die Behauptung, dass diverse Legitimations-, Integrations-, Effektivitäts- und Effizienzprobleme, raumbezogene Ziel- und Handlungskonflikte sowie Handlungsunsicherheiten für eine skeptische Grundhaltung gegenüber einer solchen Interpretation sprechen. Da die zahlreichen Problemfelder die metropolregionalen Entwicklungen auch weiterhin behindern oder gar gefährden, kann der Metropolregion Mitteldeutschland eine ungewisse Zukunft bescheinigt werden.

Mitteldeutsche Metropolisierungseuphorie

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1994 1997 1998 Gründungsphase

Die Region wird als „Europäische Metropolregion Sachsendreieck“ durch den Beschluss der MKRO anerkannt.

1999 2000 2001 2002 Schwächephase

Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der Städte Chemnitz, Dresden, Halle, Leipzig und Zwickau

2003

Abbildung 39: Zentrale Etappen im mitteldeutschen Metropolisierungsprozess ( Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Ernennung der Oberzentren Chemnitz, Dresden, Halle, Leipzig und Zwickau zur „Europäischen Cityregion Sachsendreieck“ | Einstufung als „Potenzielle Europäische Metropolregion“ durch die MKRO

2004

Aufnahme der Revitalisierungsgespräche zwischen dem Bund und den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen | Beitritt zum IKM

2005 2006 2007 Erweiterungsphase

Verstärkte Aktivitäten |

MKRO-Beschluss zur möglichen Erweiterung der Metropolregion Sachsendreieck um territoriale und funktionale Akteure | Erstellung eines Handlungskonzeptes durch KORIS ET AL. 2005 Fortschreibung des Handlungskonzeptes und Erarbeitung von fünf Szenarien der Erweiterung Erweiterung der Metropolregion Sachsendreieck im Sinne der Variablen Geometrie (Jena erhält das Stimmrecht; Magdeburg erhält den Beobachterstatus) | „Auftaktkonferenz“

2008 2009 2010 Selbstfindungsphase

Kritische Situationen)

Initiierung des Namens- und Identitätsfindungsprozesses u.a. im Rahmen eines Hochschulprojektes | Beitritt zur METREX Umbenennung des Sachsendreiecks in eine „Metropolregion Mitteldeutschland“ (27.05.2009) | Jena und Magdeburg werden als Vollmitglieder aufgenommen | 2. Metropolregionskonferenz Gera und Dessau-Roßlau werden zum Jahreswechsel als Vollmitglieder aufgenommen | Organisatorische und Inhaltliche Präzisierung der Metropolregion | 3. Metropolregionskonferenz

8 Metropolregion Mitteldeutschland: Eine „Erfolgsgeschichte“?

Mit der am 27.05.2009 vollzogenen Namensänderung können die elf Oberbürgermeister der beteiligten Städte Chemnitz, Erfurt, Dessau-Roßlau, Dresden, Gera, Halle, Jena, Leipzig, Magdeburg, Weimar und Zwickau zweifelsohne einen Zwischenerfolg für sich in Anspruch nehmen. Darüber hinaus wecken die strukturellen und inhaltlichen Anpassungen den Eindruck, dass die Metropolregion ihren politischen und symbolischen Konstitutionsprozess weitgehend abgeschlossen hat und auf gutem Wege ist, ihre Aufgaben zur Sicherung der „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“ (Jessop 1997:63) wahrnehmen zu können. Bei näherer empirischer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Erfolge der jüngeren Vergangenheit leider auch den Blick auf die zahlreichen Legitimations-, Integrations-, Effektivitäts- und Effizienzprobleme, raumbezogene Ziel- und Handlungskonflikte sowie Handlungsunsicherheiten verstellen können. Diese wecken die Skepsis gegenüber der mitteldeutschen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) und nähren den Zweifel an der zukünftigen Rolle der Metropolregion Mitteldeutschland. Angesichts dessen widmen sich die folgenden Ausführungen der schwierigen politischen und symbolischen Konsolidierung der Metropolregion Mitteldeutschland. Zu diesem Zweck wird zunächst auf die „weichen“ Legitimations- und Integrationsprobleme eingegangen, die weder mit der Einigung auf den neuen Namen „Mitteldeutschland“ noch mit der organisatorischen und inhaltlichen Präzisierung automatisch aus der Welt geschafft worden sind. Im Gegenteil: Die empirischen Ergebnisse offenbaren zum einen massive Anerkennungs- und Akzeptanzprobleme hinsichtlich der deutschen Metropolregionen im Allgemeinen sowie schwerwiegende Öffentlichkeits- und Identitätsdefizite bezüglich der mitteldeutschen Metropolregion im Besonderen (Abschnitt 8.1). Dieser Eindruck von einer schwierigen Metropolisierung wird zusätzlich verstärkt, wenn im zweiten Schritt die vergleichsweise „harten“ Effektivitäts- und Effizienzprobleme thematisiert werden. Im Zuge dessen wird nachgewiesen, dass die metropolregionale Kooperation durch Konkurrenzsituationen und Interessenkonflikte geprägt und bislang weit von ihrer anvisierten Leistungsfähigkeit entfernt ist (Abschnitt 8.2). Vor diesem Hintergrund werden im Anschluss daran Strategien der Problem- und Konfliktbewältigung thematisiert, die in der jüngeren Vergangenheit vollzogen worden sind (Abschnitt 8.3). Abschließend wird in einer Art Resümee danach gefragt, auf welchem Entwicklungsstand sich die Metropolregion derzeit befindet und welche Impulse in der nächsten Zeit von ihr zu erwarten sind (Abschnitt 8.4).

Metropolregion Mitteldeutschland: Eine „Erfolgsgeschichte“?

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8.1 „Weiche“ Problemfelder der Metropolregion Mitteldeutschland Betrachtet man den Entwicklungspfad und Entwicklungsstand der mitteldeutschen Metropolregion aus Sicht der interviewten Protagonisten, so könnte man ihr durchaus ein respektables Zwischenzeugnis ausstellen. Hierfür sprächen vor allem der weitgehend erfolgreich abgeschlossene Erweiterungs-, Namens- und Identitätsfindungsprozess, der nunmehr mit einem neuen Akteursspektrum, Selbstverständnis, Projektportfolio und Corporate Design korrespondiert (vgl. Abschnitt 7.4). Darüber hinaus könnte auch der Bewusstseinswandel der Antagonisten als ein wichtiger Erfolg auf der Seite der Metropolregion Mitteldeutschland verbucht werden. Der Grund: Die Antagonisten hatten zwischenzeitlich den noch nicht lange zurückliegenden Erweiterungs-, Namens- und Identitätsfindungsprozess als so genannte „Kooperationsbremser“ (vgl. Abschnitt 2.3) stark negativ beeinflusst und das Gesamtprojekt zur Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland maßgeblich gefährdet. Interessanterweise gibt es neben den verschiedenen – und in erster Linie kommunalpolitisch agierenden – Protagonisten sowie den sich zum Teil öffentlich bekennenden Antagonisten auch zahlreiche kritische Beobachter der Metropolregion(en). So konnten im Rahmen der Expertengespräche sechs Akteure identifiziert werden, die sich eher verhalten gegenüber dem Konzept der deutschen Metropolregionen im Allgemeinen und dem aktuellen Entwicklungspfad der mitteldeutschen Metropolregion im Besonderen geäußert haben. Wenngleich die kritischen Beobachter nicht den gesamten deutschen Metropolisierungsprozess infrage stellen, so haben sie doch auf zahlreiche Missstände in der Konzeption der Metropolregionen und alltäglichen Metropolisierungspraxis aufmerksam gemacht. Insgesamt fördern sie die auch hier vertretene Skepsis gegenüber der offiziell kommunizierten (mittel-)deutschen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1). Nach eingehender Analyse der Experteninterviews konnten vier zentrale Kritikpunkte an den deutschen Metropolregionen im Allgemeinen identifiziert werden, die sich auf deren a) nahezu flächendeckende Ausdehnung, b) netzwerkartige Organisation, c) Verlust eines marktfähigen Profils sowie d) scheinbaren Erfolg beziehen. So wird mit Verweis auf die offiziellen raumordnungspolitischen Kartenmaterialien (wie die Abbildung 14 im Abschnitt 2.2) zunächst moniert, dass das Konzept der Metropolregionen mittlerweile nahezu alle Teilräume Deutschlands berührt und mit der Ausdehnung bestehender Metropolregionen sowie der Aufnahme weiterer Regionen in den Kreis der „Europäischen Metropolregionen“ dem politischen Voluntarismus oder der Beliebigkeit anheim zu fallen drohe (vgl. Abschnitt 2.3). In diesem Zusammenhang wird häufig darauf verwiesen, dass die Bundesrepublik Deutschland mit Berlin (aufgrund der Hauptstadtfunktion), Hamburg (aufgrund der Hochseehafenfunktion), Frankfurt (aufgrund der Flughafenfunktion), Rhein-Ruhr (aufgrund des Bevölkerungspotenzials) und München (als wirtschaftlich dominante Kraft) nur fünf vertretbare Metropolregionen besäße. Demgegenüber wären die Existenz und die Ausdehnung der Metropolregionen Bremen-Oldenburg, Hannover-Braunschweig-Göttingen-Wolfsburg, Mitteldeutschland, Nürnberg und Rhein-Neckar stark erklärungsbedürftig – was nach

168

Teil IV: Geographische Praktiken

Ansicht der interviewen Personen selbst bei Fachvertretern ein nicht selten schwer zu bewerkstelligendes Unterfangen sei.55 Ein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die Organisation vieler deutscher Metropolregionen im Sinne einer netzwerkartigen Governance, die häufig als das Nonplusultra der regionalen Prozesssteuerung betrachtet wird. Zu Unrecht, wenn man einigen der kritischen Beobachter netzwerkartiger Kooperationen folgen möchte (vgl. IP I/08; IP II/02). Der entscheidende Grund für die skeptische Betrachtung liegt darin, dass die Integration aller kooperationswilligen Akteure in die metropolregionalen Netzwerke ausgesprochen schwierig sei und konsequenterweise die Exklusion bestimmter Akteursgruppen wie kleinerer Städte, Landkreise oder der Bürgerschaft mit sich bringe. Selbst im Falle einer umfassenden Beteiligung kooperationswilliger Akteure in der netzwerkartigen Kooperation stünde die Frage im Raum, wie die Meinungsbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesse unter all den Partnern organisiert und eine gedeihliche Zusammenarbeit sichergestellt werden können. Drittens wird die weithin akzeptierte Behauptung infrage gestellt, wonach nur noch größere metropolregionale Einheiten die Chance besäßen, im (inter-) nationalen Wettbewerb bestehen zu können. Dem wird entgegengehalten, dass Städte wie Berlin, Hamburg, Frankfurt oder München auch ohne das Label „Metropolregion“ über genügend symbolische Kraft verfügen, um sich im Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit behaupten zu können. Wenngleich durchaus akzeptiert wird, dass dieser Befund nicht notwendigerweise auch für die mitteldeutschen Städte wie Leipzig oder Dresden gelte, so wird doch der Verlust eines marktfähigen Profils dieser Städte unter der „Gleichmacherei“ der Metropolregion befürchtetet. Für einen regionalpolitisch bedeutsamen Akteur geht dies soweit, dass er sein Interesse für die Messestände der Metropolregionen im Allgemeinen verloren hat (vgl. IP I/08): 55

Kritische Aussagebeispiele bezüglich der flächenmäßigen Ausdehnung der Metropolregionen in Deutschland: „Wenn sich das Konzept so weiterentwickelt und immer mehr dazu kommt, sich immer weiter ausdehnt, dann hat man auch mal ganz Deutschland abgedeckt. Und dann ist die Frage: Macht das Konzept noch Sinn. Also: Weil, dann können wir auch alle gemeinsam auftreten – als Bundesländer oder wie auch immer“ (IP I/04:37–39). | „Wenn ich mir mal alle deutschen Metropolregionen zusammen nehme, dann ist die Frage: Bleibt denn von der deutschen Landkarte noch nennenswert etwas übrig“ (IP I/08:19–23)? | „Es steht ja zu befürchten, wenn alle sich in der Metropolregion organisieren, dass man der Beliebigkeit anheim fällt. Und darin besteht eigentlich auch für uns die Gratwanderung, dass wir sagen: Müssen wir denn unbedingt auf der Karte vertreten sein, wenn wir der Beliebigkeit anheim fallen“ (IP II/02:251–253)? | „Das ist Hamburg durch seine Seehafenfunktion, Berlin als Hauptstadt eines der wirtschaftsstärksten Länder der Welt, München als wirtschaftlich absolut dominante Kraft in Deutschland, Rhein-Main mit Frankfurt natürlich mit dem Flughafen als Gateway und dann ist es aufgrund einfach auch des Wirtschaftspotenzials und gerade auch aufgrund des Bevölkerungspotenzials Rhein-Ruhr. Diese Regionen werden auch außerhalb von Deutschland als Metropolregionen wahrgenommen. Rhein-Neckar, Nürnberg, Bremen, Hannover und unsere Region müssen sich da schon deutlich strecken, um als solche wahrgenommen zu werden. Hier muss man sich schon mal die Frage gefallen lassen, wo da bitte im internationalen Maßstab die Metropolregion sein soll“ (IP I/04:206–209).

Metropolregion Mitteldeutschland: Eine „Erfolgsgeschichte“?

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„Früher bin ich meine Kollegen noch besuchen gegangen, heute drehe ich von dem Stand gleich wieder angewidert ab, weil ich mich nicht angezogen fühle, weil die Stadt ja auch gewollt untergeht […]“ (IP I/08:108–111).

Vor dem Hintergrund der angeführten Aspekte wird nicht zuletzt auch der vermeintliche und erst kürzlich vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung konstatierte Erfolg der Europäischen Metropolregionen in Deutschland kritisch hinterfragt (vgl. BBSR 2009a). So sprächen weder die raumordnerischen Bestrebungen zur Untergliederung Deutschlands in Metropolregionen noch die tatsächlich vorfindbare metropolregionale Praxis per se für den Erfolg dieses strategischen Raumordnungskonzeptes. Dass man aus Sicht des BBSR trotzdem zu diesem Ergebnis kommt, liegt für einige der befragten Experten vor allem daran, dass man letztlich die eigenen „Förderprogramme“ evaluieren und positiv begutachten würde.56 Demgemäß bemängelt ein Vertreter der Landesbehörden die Evaluation des BBSR, welches das Konzept und die Praxis der Metropolregionen in Deutschland nach wie vor weitgehend unkritisch reflektieren würde (vgl. IP I/08; IP II/02). Insofern kann als Zwischenfazit festgehalten werden, dass mindestens die vier Aspekte der nahezu flächendeckenden Ausdehnung des Konzeptes, der nicht unproblematischen netzwerkartigen Organisation, der eher mäßigen Profilierungschancen sowie der Evaluationspraxis des zuständigen Bundesinstitutes für eine kritische Betrachtung der deutschen Metropolregionen sprechen. Die grundsätzlichen Zweifel an dem Erfolg der Metropolregionen erhärten sich, wenn man sich nachfolgend die Expertenmeinungen bezüglich der mitteldeutschen Metropolregion vor Augen führt. Folgt man nämlich den oben genannten kritischen Beobachtern, so sprechen ebenfalls vier Gründe für eine skeptische Grundhaltung gegenüber der mitteldeutschen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1). Dies betrifft in erster Linie den geringen Rückhalt der Metropolregion Mitteldeutschland auf der a) landespolitischen und b) kommunalpolitischen Ebene sowie den geringen Zuspruch der Metropolregion auf c) der kommunalen Verwaltungs- und Arbeitsebene und d) innerhalb der metropolregionalen Bevölkerung. Dabei scheint angesichts der weiter oben dargestellten bundes- und landespolitisch initiierten Erweiterungsbestrebungen (vgl. Abschnitt 7.2) vor allem der geringe Rückhalt der Metropolregion auf der Landesebene klärungsbedürftig. Er 56

Ankerbeispiele hinsichtlich der wohlwollenden Evaluation und Bewertung der Metropolregionen in Deutschland: „Naja, wenn man seine eigenen Förderprogramme evaluiert, versucht man natürlich die erst einmal positiv darzustellen“ (IP I/08:19). | „Wenn die Evaluierung so aussieht, wie das von Ihnen vorhin angeführte Heft ‚BBSR Kompakt‘, dann kann ich darauf verzichten. Also: Ich glaube, dass es notwendig ist, Prozesse zu evaluieren, überhaupt gar keine Frage. Aber eine Evaluierung muss auch kritisch erfolgen. Es darf nicht sein, dass sie zu einer Friede-Freude-Eierkuchen-Politik verkommt und man nach außen hin dokumentiert (weil BBSR ist ja das entscheidende Institut auf Bundesebene, das den ganzen Prozess begleitetet): Wir haben uns ausreichend damit beschäftig. Das ist mir zu wenig. Wenn, dann möchte ich eben auch wirklich die ganzen Punkte, die kritisch gelaufen sind. Und die möchte ich dann in solch einem Bericht auch wieder finden. Sonst kann ich darauf verzichten“ (leicht verändert nach IP II/02:216–222).

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Teil IV: Geographische Praktiken

drückt sich in dem bislang eher mäßigen Commitment der Ministerpräsidenten und zuständigen Landesminister gegenüber der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland aus und korrespondiert mit dem von einem wichtigen kommunalpolitischen Akteur konstatierten schlechten Urteil der sächsischen Landesregierung hinsichtlich der metropolregionalen Aktivitäten.57 Ein zentraler Grund hierfür liegt darin, dass die Metropolregion Sachsendreieck nach dem Prinzip „Gebe ich dem einen was, muss ich es dem anderen auch geben“ (IP I/04:201) entstanden und somit das Resultat eines rein politischen Zugeständnisses seitens der MKRO ist (IP I/04:200–201). So war mit der Verankerung der Metropolregion Sachsendreieck in den offiziellen europäischen und bundesdeutschen Dokumenten schon kurz nach deren Gründung das eigentliche landespolitische Ziel erreicht, sodass sie recht schnell wieder aus dem Blickfeld der entsprechenden Akteure geriet (vgl. Abschnitt 7.1 sowie Abbildung 14). An dieser Situation hat sich trotz der bundes- und landespolitisch initiierten Erweiterungsbestrebungen (vgl. Abschnitt 7.2) bis heute nicht viel verändert. Noch immer besteht von landespolitischer Seite ein weitgehendes Desinteresse an der Metropolregion Mitteldeutschland, was unter anderem in der ablehnenden Haltung von Landespolitikern, den nur vereinzelt vorgenommenen Lippenbekenntnissen der Ministerpräsidenten und Landesminister sowie den eher marginalen Ausführungen zur Metropolregion auf den Homepages der zuständigen Landesministerien zum Ausdruck kommt.58 Das Anerkennungs- und Akzeptanzproblem (und somit auch Legitimationsproblem) verschärft sich dadurch, dass die Metropolregion Mitteldeutschland anscheinend selbst unter den beteiligten Oberbürgermeistern nur über einen geringen Rückhalt verfügt. So stellt einer der kritischen Beobachter der mitteldeutschen Metropolregion resignierend fest: „Es geht noch nicht mal bei den Ländern los. Es sind wenige Oberbürgermeister, die die Metropolregion in öffentlichen Äußerungen thematisieren. Sie wird kaum kommuniziert. […] Weder im positiven noch im negativen Sinne. Es gibt wichtigere Dinge als diese Metropolregion“ (verändert nach IP I/04:298–306).

57

58

Ankerbeispiel für den schlechten Stand der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland in der sächsischen Landespolitik: „Beispiel Sachsen: Wir haben mit dem Innenministerium zu tun. Aber ich weiß nicht, wie sich der Innenminister zur Metropolregion positioniert. Ich weiß nicht, wie sich der Ministerpräsident dazu positioniert. Er positioniert sich kaum, weil es kein bedeutendes Thema ist. Das heißt, Metropolregion […] ist im politischen öffentlichen Raum kaum präsent“ (leicht verändert nach IP I/04:180–187). | „Und ich kannte das zum Teil negative Urteil aus der Landesregierung“ (IP I/07:138–141; auf Wunsch des IP stark angepasste Aussage). Teilnehmende Beobachtung zur zweiten Metropolregionskonferenz am 30.01.2009: Wegbegleitung: Nachdem ich den Bahnhof verlassen und einige Meter in Richtung des Veranstaltungsortes zurückgelegt hatte, fiel mir ein Passant auf, der ebenfalls auf der Suche nach dem Veranstaltungsort war. Ich habe diesen Passanten an einer Ampelkreuzung angesprochen und er hat sich mir als ein Landtagsabgeordneter der FDP in Sachsen vorgestellt. Wir sind schnell über die Metropolregion Sachsendreieck ins Gespräch gekommen und mein Begleiter hat sehr schnell seinen Unmut über diese zur Sprache gebracht. Er sei hier bloß als Beobachter der FDP-Fraktion anwesend, halte aber von der Kooperation im Rahmen der Metropolregion Sachsendreieck recht wenig, da sie nicht schlagkräftig genug sei.

Metropolregion Mitteldeutschland: Eine „Erfolgsgeschichte“?

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Angesichts dieses Befundes sollte es nicht verwundern, dass trotz aller Bekundungen und Entscheidungen zur gemeinschaftlichen Zusammenarbeit nicht selten kommunale „Kirchturmpolitiken“ bzw. „knallharte egoistische Einzelinteressen“ protegiert werden (vgl. IP I/04:119, 196–197; Abschnitt 2.3). Hierfür spricht nicht zuletzt, dass die Oberbürgermeister ihre politische Legitimation nicht aus der Solidarität mit der Metropolregion Sachsendreieck oder Mitteldeutschland, sondern aus der Loyalität mit ihrem kommunalen Wahlkreis erhalten. Damit sind sie auch einer tendenziell skeptischen kommunalen Verwaltungs- und Arbeitsebene verpflichtet, welche die metropolregionalen Aktivitäten ihrer Oberbürgermeister überwachen (vgl. IP I/06:38–39). Darüber hinaus muss die Verwendung von finanziellen und/oder personellen Ressourcen zur Finanzierung der Geschäftsstelle sowie zur Durchführung von Projekten der Metropolregion stets durch die Stadträte genehmigt werden und dabei letztlich auch der politische Gegner überzeugt werden (vgl. Abschnitt 8.2 zur Finanzierung der Metropolregion Mitteldeutschland). Überzeugt werden wollen natürlich auch die Bürger der Metropolregion Mitteldeutschland, die nach Ansicht von einigen der politischen Entscheidungsträger viel Gutes von dieser Kooperation zu erwarten hätten (vgl. IP I/01:82; IP I/08:24– 25). So stelle die Metropolregion Mitteldeutschland die ideale Einheit zum Wohle und Wohlstand der gesamten Bevölkerung dar und müsse daher auch in der Bevölkerung weiter „gepusht“ bzw. vorangetrieben und protegiert werden. Da die Metropolregion Mitteldeutschland bislang jedoch nur in einer Elitendiskussion vorgekommen ist, müsse es nun darum gehen, das massive Wahrnehmungs- und Identitätsdefizit auf der bürgerschaftlichen Ebene zu beheben.59 Hierzu bedürfe es einer umfassenden Verständigungsoffensive hinsichtlich der strittigen Ausdehnung und des problematischen Namens der Metropolregion Mitteldeutschland, einer Informationsoffensive hinsichtlich der Visionen, Leitbilder und Handlungsziele sowie einer Beteiligungsoffensive zur Integration der Bürgerschaft in die variabel konzipierte politische Organisation der Metropolregion (vgl. Abschnitt 2.4 zu den identitätspolitischen Maßnahmen metropolregionaler Akteure).60 Wenn es nach einigen kritischen Beobachtern ginge, so benötigte eine solche metropolregionale Verständigungs-, Informations- und Beteiligungsoffensive zudem auch eine Kommunikationsallianz zwischen den verschiedenen Medienan59

60

Ankerbeispiel für die mangelnde Wahrnehmung der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland: „Also: Es ist im politischen öffentlichen Raum auch kaum präsent – außer bei manchen Akteuren. Geschweige denn bei der Bevölkerung – ich meine fragen Sie jemanden. Sie erhalten von mir einen Preis, wenn Sie mir in einer halben Stunde jemanden in Chemnitz finden – außer Sie gehen ins Rathaus und Sie fragen gezielt – der die Metropolregion kennt. Fragen Sie einen Bürger – ich denke, jeder Tausendste kennt sie vielleicht. […] Also: Sie ist nicht da, sie ist nicht vorhanden“ (leicht verändert nach IP I/04:187–192). Für IP I/08 stellt sich schon der Umgriff der Metropolregion als ein Problem dar: „Ich schaue schon dem Umgriff der Metropolregion skeptisch gegenüber. Aus zwei Gründen: […] Entweder ich habe starke Verflechtungswirkungen oder ich [definiere sie] nach dem Mobilitätsprinzip. Für die Metropolregion Mitteldeutschland gilt weder das eine noch das andere“ (IP I/08:58–61).

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Teil IV: Geographische Praktiken

stalten auf dem Gebiet der Metropolregion (mitteldeutsche Radio-, Fernseh- und Zeitungslandschaft) sowie herausragende Persönlichkeiten (charismatische Politiker, Unternehmer, Künstler, Bürgerrechtler) als zentrale Kommunikatoren (vgl. IP I/04; IP IV/01; vgl. FEDERWISCH 2009a:102ff.). Mit deren Hilfe müsse es darum gehen, gezielt über den Nutzen der Metropolregion Mitteldeutschland und die Erfolge der gemeinschaftlichen Kooperation zu berichten.61 Bedauerlicherweise gibt es nach Ansicht eines Experten derzeit aber weder eine solche öffentlichkeitswirksame Kommunikationsallianz noch die entsprechenden charismatischen Persönlichkeiten, welche über die erkennbaren Mehrwerte der Metropolregion berichten könnten (vgl. IP I/04). In der Konsequenz könnten auch das weithin zu verzeichnende Wahrnehmungs- und Identitätsdefizit nicht bewältigt und ein zentrales Legitimationsproblem der Metropolregion Mitteldeutschland aufgrund mangelnder Anerkennung nicht überwunden werden.62 Angesichts des geringen Rückhalts der Metropolregion Mitteldeutschland auf der landes- und kommunalpolitischen Ebene sowie des geringen Zuspruchs auf der kommunalen Verwaltungs- und Arbeitsebene und innerhalb der metropolregionalen Bevölkerung stellt sich nunmehr die Frage, ob sie ihrer Existenz mit Hilfe eines erkennbaren Mehrwertes Nachdruck verleihen könnte. Die Beantwortung der Frage konfrontiert uns jedoch mit den „harten“ Problemfeldern der Metropolregion Mitteldeutschland, welche die Erwartungen auf einen erkennbaren Mehrwert schmälern. So wird in den nachstehenden Ausführungen gezeigt, dass die gemeinschaftliche Kooperation im Sinne der Metropolitan Governance unter schwierigen Konkurrenzbedingungen, zermürbenden Interessenkonflikten, einer minimalen Ressourcenausstattung sowie projektbezogenen Effektivitäts- und Effizienzproblemen operiert. Im Ergebnis kann die Metropolregion Mitteldeutschland trotz des im Abschnitt 7.4 rekonstruierten Entwicklungsstandes bislang nur wenige konkrete Erfolge aufweisen und lässt auch rund fünf Jahre nach ihrer bundes- und landespolitischen Revitalisierung einen wirklich erkennbaren Mehrwert vermissen. 61

62

Ankerbeispiel für eine erhoffte Informationsoffensive: „Wenn man den MDR gewinnen könnte, eine Sendung wie ‚Mitteldeutschland regional‘ jeden Abend gegen 19.00 Uhr auszustrahlen, in der eine halbe Stunde über tolle Dinge der Region berichtet wird, dann wäre das sehr identitätsstiftend. Mit dem Begriff Mitteldeutschland haben wir schon ein gewisses Erklärungsproblem. Mitteldeutschland ist eben nicht so einfach zuzuordnen, wie München oder Berlin. Aber es kann sich trotzdem was entwickeln, weil es den MDR gibt“ (leicht verändert nach IP I/04:183–189; vgl. auch IP I/04:318–320). Ankerbeispiel, in welchem das Fehlen von GovernanceEliten bedauert wird: „Und das ist das, was uns hier fehlt. Hier vertreten wenige diesen Gedanken der Metropolregion. […] Selbst mit einem Minister können wir weniger anfangen als Gesicht. Weil den beispielsweise in Thüringen oder in Sachsen-Anhalt zu wenige kennen. […] Also: Es fällt uns sehr schwer. Wir haben hier keinen großen Konzern, wir haben hier nicht den einen dominanten Oberbürgermeister, wir haben hier eine heterogene Ministerriege, die auch wenige außerhalb kennen. Gerade einmal die Ministerpräsidenten sind bekannt. Wir haben in der Beziehung hier riesengroße Potenziale, die da einfach brach liegen – und daher haben wir hier einfach so ein Startproblem. Es muss irgendwo zu einer Initialzündung kommen. Und da fällt uns das Patentrezept im Augenblick auch nicht ein“ (verändert nach IP I/04:139–152).

Metropolregion Mitteldeutschland: Eine „Erfolgsgeschichte“?

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8.2 „Harte“ Problemfelder der Metropolregion Mitteldeutschland Folgt man den offiziellen Darstellungen der Metropolregion Mitteldeutschland (vgl. EMR MDD 2009a, 2010a, b, c), so könnte man den Anschein einer nunmehr (oberhalb der einzelnen Kommunen und Landkreise sowie unterhalb der Bundesund Landesinstitutionen) fest etablierten und leistungsfähigen metropolregionalen Steuerungsebene erhalten (vgl. Abschnitt 7.4). Wie nicht anders zu erwarten, werden im Kontext der offiziellen Dokumentation vor allem die vermeintlichen Fortschritte beim Aufbau der gemeinschaftlichen Kooperation sowie die Erfolge in den zahlreichen Handlungsfeldern thematisiert. Berücksichtigt man zudem die Eindrücke der Teilnehmenden Beobachtung, so werden die Erfolgsnachrichten nicht zuletzt im Rahmen der Metropolregionskonferenzen zeremoniell zur Geltung gebracht. Gemäß der im Abschnitt 2.3 geschilderten neoinstitutionalistischen Interpretation verspricht man sich hiervon legitimatorische Effekte hinsichtlich der eigenen Organisation sowie gegenüber den Akteuren der Gebietskörperschaften und funktionalen Initiativen. Komplexe Konkurrenzbedingungen und Interessenkonflikte: Problematischerweise werden sowohl in den offiziellen Dokumenten als auch in den metropolregionsbezogenen Veranstaltungen die komplexen Konkurrenzbedingungen weitgehend ausgeblendet sowie die zum Teil handfesten Interessenkonflikte im Sinne der „political correctness“ übergangen. Da diese Konflikte jedoch zu nachweisbaren Handlungsunsicherheiten und sogar zu Frustrations- und Resignationseffekten führen, bedarf es einer genaueren Auseinandersetzung mit diesen Aspekten. Erfreulicherweise kann dabei auf die Expertengespräche als ein weiteres Datenaufnahmeverfahren zurückgegriffen werden, in denen sich vielfach über die verschiedenen Konkurrenz- und Interessensituationen geäußert wurde (vgl. Abschnitt 5.1 zur Triangulation). So lassen sich nach eingehender Analyse der Interviews mindestens vier dieser Situationen identifizieren, welche die Kritik an den deutschen Metropolregionen im Allgemeinen und der Metropolregion Mitteldeutschland im Besonderen nähren können. Dies betrifft zum einen die Konkurrenzsituation auf der Bundesebene, die nach wie vor von einer starken Diskrepanz zwischen der ausgleichsorientierten GA einerseits und der wachstums- und wettbewerbsorientierten Regionalpolitik im Sinne der „Europäischen Metropolregionen“ andererseits gekennzeichnet ist (vgl. Abschnitt 2.1 zur raumordnerischen Leitbildentwicklung). Folgt man einem der Experten, so besitzen die – zwischen dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV), dem Bundesministerium des Inneren (BMI) sowie dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) ausgetragenen – Konflikte für alle deutschen Metropolregionen negative Konsequenzen. So sind das BMELV und das BMI sehr stark auf den regionalen Ausgleich fokussiert, wohingegen das BMVBS die Ausgleichspolitik des Bundes gerade mit den neuen Leitbildern zugunsten einer Wachstumspolitik abzumildern versucht. Die hieraus resultierenden Probleme äußern sich in divergierenden bundespolitischen Zielvorgaben, welche auf der (metropol-)regionalen Entscheiderebene für Handlungsunsicherheiten sorgen (vgl. IP IV/01).

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Teil IV: Geographische Praktiken

Folgt man zwei weiteren kritischen Beobachtern der mitteldeutschen Metropolregion, so besitzen die auf der Bundesländerebene anzutreffenden Interessendivergenzen einen ähnlich zermürbenden Charakter (vgl. IP I/04; IP II/02). Nicht nur, dass die zuständigen sächsischen, sachsen-anhaltinischen und thüringischen Ministerien gegenüber der Metropolregion Mitteldeutschland anscheinend unterschiedliche Positionen einnehmen; vielmehr werden auch zwischen den einzelnen Ministerien innerhalb der jeweiligen Bundesländer verschiedene Ansprüche an die Metropolregion formuliert.63 Einer der in die metropolregionalen Entwicklungsprozesse besonders stark involvierten Experten interpretiert dies als Ausdruck einer mangelhaften Schwerpunktsetzung im Rahmen der einzelnen Bundesländer und einer ungenügenden Abstimmung zwischen ihnen – was im Umkehrschluss mit einer maßgeblichen Schwächung der Metropolregion Mitteldeutschland einhergeht (IP I/04:178, 209–297). Zu dieser Schwächung tragen letztlich auch die von vielen Ländervertretern geäußerten Bedenken vor den revitalisierenden Entwicklungen in der Metropolregion Mitteldeutschland bei, die nicht selten als eine Vorstufe für die weitgehend ungewollte Länderfusion angesehen werden. Darüber hinaus werden von einer Mehrzahl der interviewten Personen auch die komplexen Konkurrenzbedingungen und Interessenkonflikte auf der Ebene der Kommunen angesprochen (vgl. Anlage 2). Sie werden a) mit den historisch überlieferten Spannungen zwischen den einzelnen Städten, b) der unterschiedlichen Mentalität der jeweiligen Bevölkerung sowie c) den aktuellen Verteilungsängsten in Zeiten knapper kommunaler Kassen begründet. Exemplarisch verweisen die meisten der Interviewpartner auf die Konkurrenzsituation zwischen den beiden sächsischen Oberzentren Leipzig und Dresden, die neuerdings vor allem von gegenseitigen Vorbehalten hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit geprägt ist (vgl. Abschnitt 2.3).64 Darüber hinaus bestünden aber auch tradierte Mentalitätskonflikte zwischen den an der Metropolregion Mitteldeutschland beteiligten Kommunen, die nicht zuletzt den Prozess der Namens- und Identitätsfindung negativ beeinflusst hätten (IP I/04:198–202; vgl. Abschnitt 7.3). 63

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Ankerbeispiel für die Interessendivergenzen zwischen den Bundesländern und auf Landesebene: „Wir haben es mit drei Ländern zu tun. Diese drei Länder haben in Form ihrer politischen Konstitution […] unterschiedliche Interessen. Dort haben in den drei Ländern auch die verschiedenen Ministerien unterschiedliche Interessen – will beispielsweise heißen: Innenministerium ungleich Wirtschaftsministerium. Genauso bei den anderen Ländern beispielsweise. Das heißt, wir haben es mit einer Heterogenität an Interessen schon auf der Länderebene zu tun. Gepaart damit […], dass unterschiedliche Ländervertreter unterschiedliche Ansprüche an die Metropolregion haben“ (IP I/04:161–169). Interviewaussagen zur Konkurrenzsituation zwischen den metropolregionalen Kommunen: Die Zusammenarbeit zwischen den Kommunen der Metropolregion ist von einem „Kirchturmdenken“ bzw. einem „Campanile-Denken“ geprägt (vgl. IP II/02:8892). | „In einer Metropolregion wie bei uns ist es fürchterlich“ (IP I/04:279). | „Leipzig und Dresden? Katz und Maus oder Tom und Jerry ist nichts dagegen“ (leicht verändert nach IP III/02:18). | Es gibt Vorbehalte, wer wem was wegnehmen könnte (vgl. IP I/05:52). | „Das sind alles Konflikte, die immanent sind und die das Ganze schwierig gemacht haben und die das Ganze bewirkt haben, dass eben dieser Prozess auch langwierig war“ (IP I/04:198–202).

Metropolregion Mitteldeutschland: Eine „Erfolgsgeschichte“?

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Am deutlichsten thematisieren die Interviewpartner jedoch die Probleme, welche zwischen der Metropolregion Mitteldeutschland und den anderen Initiativen, Clustern oder Netzwerken wie der WfM zu beobachten sind. So scheint es geradezu eine „unheimliche Angst“ (IP I/04:20–28) vor dem Führungsanspruch der Metropolregion Mitteldeutschland zu geben, welche in den bereits oben genannten Begriffen wie „Netzwerk der Netzwerke“, „Dach“ oder „Plattform“ zum Ausdruck kommt (vgl. Abschnitt 7.4). Dabei sei es doch nur allzu verständlich, dass die Metropolregion ein regionales und über die administrativen Grenzen gehendes Netzwerkangebot stellen möchte, das sehr flexibel Interessen zusammenführen, bündeln und in arbeitsteiliger Weise projektbezogen weiterentwickeln könne (vgl. IP I/04: 213). Bedauerlicherweise „erwecken bei vielen lokalen Akteuren diese Kooperationen den Vorbehalt, dass es darum geht, sich in lokale Angelegenheiten einzumischen. […] Diese Angst ist sofort da, wenn man anbietet: Wir können ja Dach für Euch sein. Da denkt jeder sofort: Da werden wir gedeckelt“ (IP I/04:20–28).

Derartige Bedenken zeigen sich nicht zuletzt in den Äußerungen des (ehemaligen) Geschäftsführers der WfM, der sich im Interview verhalten gegenüber der Metropolregion Mitteldeutschland und ihren Projektaktivitäten gezeigt hat. So macht er ohne Umschweife klar, dass weder er noch die von ihm vertretenen Unternehmen eine besondere Sympathie gegenüber der Metropolregion Mitteldeutschland hegen und für die Eigenständigkeit der WfM plädieren. Als zentraler Antagonist kritisiert er in erster Linie den verspäteten Führungsanspruch der Metropolregion und warnt nicht zuletzt vor dem Aufbau von kontraproduktiven Konkurrenzbeziehungen und Doppelstrukturen sowie ins Leere laufenden Projektaktivitäten.65 Darüber hinaus macht er deutlich, dass die beteiligten Unternehmen in der Metropolregion keine Alternative zur Wirtschaftsinitiative sähen und sich somit auch nicht in der Metropolregion Mitteldeutschland engagieren würden.66 65

66

Ankerbeispiel für eine kritische bis antagonistische Haltung: „Wir beobachten das äußerst kritisch – höflich formuliert – was dort passiert. Weil, durch die Institutionalisierung entstehen dort Aktivitäten, die schon x-mal, nicht nur von uns, aber auch von anderen Vereinigungen, Initiativen, Organisationen hier in der Region passiert sind. Und die häufig sehr kontraproduktiv sind“ (IP III/01:26–33; Anmerkung T.F.: Die Aussagen von IP III/01 wurden in der Funktion als Geschäftsführer der WfM am 16. April 2009 getroffen und repräsentieren nicht die Auffassung der WfM zum Zeitpunkt der Veröffentlichung). Ankerbeispiel für Interessenkonflikte: „Also: Die Mitglieder der Wirtschaftsinitiative zahlen jährlich ihre respektablen Beiträge und zeigen dadurch ein sehr hohes Commitment. Ich glaube nicht, dass sie es für eine Metropolregion bei den jetzigen Verhältnissen leisten würden, wenn es gleichzeitig auch eine Wirtschaftsinitiative gibt. Meines Erachtens haben die Unternehmen ein großes Interesse daran, dass sie auch weiterhin das Sagen haben“ (IP III/01:76). | „Ja, Sie müssen immer beachten: Die Metropolregion ist staatsgeführt, staatsgeleitet, ist verwaltungsgetrieben. Wir sind wirtschaftsgetrieben und kein Unternehmen wird das aufgeben. Das ist das Wesen unserer Initiative, da wir von Unternehmen gegründet wurden und getragen werden. Und das […] wird sich die Wirtschaftsinitiative mit Sicherheit nicht nehmen lassen“ (IP III/01:124–129; Anmerkung T.F.: Die Aussagen von IP III/01 wurden in der Funktion als Geschäftsführer der WfM am 16. April 2009 getroffen und repräsentieren nicht die Auffassung der WfM zum Zeitpunkt der Veröffentlichung).

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In Anbetracht dieser (sich mit dem Führungsanspruch der Metropolregion einerseits sowie der bekräftigten Eigenständigkeit der Wirtschaftsinitiative andererseits begründenden) Pattsituation plädieren die Protagonisten der Metropolregion für eine stärkere Verschränkung der beiden Initiativen. Es müsse darum gehen, diese Konkurrenzsituation organisatorisch zu beheben, die verschiedenen Handlungsressourcen zu bündeln und gemeinsame Projekte durchzuführen. Zwar hätte es mit der Einbindung der Wirtschaftsinitiative in die Arbeitsgruppen der Metropolregion, mit der Organisation eines gemeinsamen Ausstellungsstandes zur mitteldeutschen Solarbranche sowie der Erstellung des Informationsheftes „Mittelpunkt“ erste Versuche zur engeren Zusammenarbeit gegeben (vgl. Abschnitt 7.4). Rückblickend betrachtet waren diese Projekte aber von keinem nachhaltigen Erfolg gezeichnet und müssten vor dem Hintergrund einer im Vergleich zur Wirtschaftsinitiative als ungenügend empfundenen Ressourcenausstattung der Metropolregion wieder revitalisiert werden. Damit ist das Stichwort für ein zweites „hartes“ Problemfeld der Metropolregion Mitteldeutschland gegeben, welches deren minimale Ressourcenausstattung berührt. Tatsächlich scheinen die in den offiziellen Papieren dokumentierten Ziele und thematisierten Handlungsfelder sowie der immer wieder bekräftigte Führungsanspruch der Metropolregion Mitteldeutschland keineswegs mit den zur Verfügung gestellten finanziellen Ressourcen zu korrespondieren. So verfügt die gemeinschaftliche Kooperation der Metropolregion über ein Jahresbudget von gerade einmal rund 300.000 Euro (Vergleich zur WfM: rund 1.000.000 Euro), das sich aus a) einem Sockelbetrag in Höhe von 10.000 Euro/Stadt, b) einer Gemeindeumlage in Höhe von 10 Cent/Einwohner der jeweiligen Stadt sowie c) einem symbolischen Beitrag der Bundesländer von insgesamt 60.000 Euro zusammensetzt (Abbildung 40). Bedenkt man, dass hiervon bereits zwei Planstellen der Geschäftsstelle (Geschäftsführer und Assistenz) bezahlt werden müssen, bleibt vom Gesamtbudget der Metropolregion nicht mehr viel für die eigentlichen Handlungsfelder übrig.67 Sockelbetrag

Gemeindeumlage

Länderzuschüsse

10.000 Euro pro Stadt

10 Cent pro Einwohner

Sachsen: 30.000 Euro | SachsenAnhalt / Thüringen: 15.000 Euro

Abbildung 40: Finanzierung der Metropolregion Mitteldeutschland Quelle: Eigene Erhebung und Darstellung

67

Rechenbeispiel: „Die Grundfinanzierung der Metropolregion Mitteldeutschland erfolgt über kombinierte Mitgliedsbeiträge der Stadtregionen. Diese bestehen aus einem Sockelbetrag, das sind 10.000 Euro je Stadtregion, und einer einwohnerbezogenen Umlage. Einwohner werden auf 10.000er Schritte aufgerundet, die Beiträge werden jedes Jahr auf Basis der amtlichen Statistik der Landesämter neu festgelegt“ (IP II/01:108–114). | „Die finanziellen Ressourcen, die uns im Moment binden? Also: Das ist mit Verlaub, das sind Peanuts. Ich finde, wir müssen hier sogar mehr Potenzial zur Verfügung stellen. […] Das müssen wir ernster nehmen“ (verändert nach IP I/03:137–140). | „Das ist wenig – das ist schon dünne“ (IP I/05:139).

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Der Eindruck von der minimalen Ressourcenausstattung verbessert sich nicht, wenn man zudem die Aufwendung von personellen und zeitlichen Ressourcen für die Metropolregion Mitteldeutschland genauer betrachtet. So stellen die verantwortlichen Länder und Kommunen neben den zwei Vollzeitstellen in der Geschäftsstelle keine weiteren Personalstellen für die Metropolregion Mitteldeutschland bereit (vgl. IP I/04). Dies bedeutet, dass die Projekte der Metropolregion Mitteldeutschland auf freiwilliger Basis und neben der eigentlichen Arbeit der Verwaltungsangestellten durchgeführt werden müssen. Insofern werden die Aktivitäten von der bestehenden Arbeitszeit geradezu „abgequetscht“, was nicht nur für die Akteure im operativen Bereich (vgl. IP I/05:137), sondern auch für die politischen Entscheidungsträger gelte (vgl. IP I/06:45–61).68 Vor dem Hintergrund dieser geringen finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcenausstattung sollte es nicht verwundern, dass der Metropolregion Mitteldeutschland von fast allen Gesprächspartnern eine mangelhafte Effektivität und Effizienz bescheinigt wird. So wird das hochproblematische Verhältnis zwischen den definierten Zielvorgaben und den tatsächlich erreichten Zielen – kurz: die mangelnde Leistungsfähigkeit (Effektivität) ebenso wenig infrage gestellt wie die ungenügende Wirtschaftlichkeit (Effizienz) der einzelnen Aktivitäten. Dabei verweisen die Interviewpartner regelmäßig auf den derzeitigen Stand der Projekte, von denen die meisten als Projektabsichten konzipiert worden sind, aber aufgrund der Ressourcenknappheit noch immer keine Realisierung erfahren haben (vgl. Abschnitt 7.4). In der Folge suggerieren die in den offiziellen Dokumenten und Veranstaltungen platzierten Projektabsichten zwar eine gewisse Umtriebigkeit der metropolregionalen Akteure, sind letztlich aber eher Ausdruck von delegitimierendem „talk statt action“ (vgl. IP I/04:109, 135–136).69 Bei genauer Betrachtung drängt sich zudem der Eindruck auf, dass viele der in den offiziellen Darstellungen verzeichneten Projekte auch gänzlich unabhängig und ohne die Beihilfe der Metropolregion Mitteldeutschland stattfinden könnten/würden (vgl. EMR MDD 2010b:10–14; EMR MDD 2010c:4–16). Dies betrifft beispielsweise die Projekte im Rahmen der neuen Arbeitsgemeinschaft für Famili68

69

Ankerbeispiel für Kritik an mangelnder (personeller) Ressourcenausstattung: „Die Projekte laufen neben der eigentlichen Arbeit einher. Die einzigen Personalstellen für die Metropolregion sind zwei Vollstellen innerhalb der Geschäftsstelle. Alles andere läuft über die Stadtverwaltungen und Ministerien, über die Akteure, teilweise auf Freiwilligkeit basierend bzw. Freiwilligkeit der Entscheidungsträger in den Städten“ (IP I/05:137). IP III/02 weist darauf hin, dass es derzeit nicht viele Projekte im Rahmen der Metropolregion Mitteldeutschland gibt: „Es gibt ja eine Projektübersicht. Naja, so viele sind das nicht. Da können wir ganz ehrlich sein. So viele Projekte sind das nicht“ (IP III/02:109–116). | Daher gibt es auch nur wenige Projekterfolge: „Die Metropolregion hat sicherlich noch nicht den großen internationalen Durchbruch geschafft“ (IP I/02:191). | „Wenn ich eine harte und ehrliche Antwort geben soll, würde ich behaupten, so gut wie gar keine [Projekterfolge]“ (IP I/08:87). | „Aber wenn man jetzt mal auf der Habenseite schaut und fragt: Was hat die Metropolregion der Metropolregion bisher gebracht? Oder: Was wäre gewesen, wenn wir die Metropolregion nicht gehabt hätten? Da würde ich mal provokativ behaupten, dass da nicht viel übrig bleiben würde, um nicht zu sagen gar nichts. Und das ist dann die Diskrepanz, über die man diskutieren muss“ (IP I/08:94–96).

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enfreundlichkeit (vgl. Abschnitt 7.4), die mit dem „Familienbüro im Leipziger Rathaus“, der „Spielplatzinitiative“ in Dessau-Roßlau, einem Qualitätssiegel für kinderfreundliche Gastronomie in Halle oder dem Wohnprojekt „Nordlichter“ in Jena kommunale Projekte für die Metropolregion Mitteldeutschland heranziehen. Demgegenüber sind genuin metropolregionale Projekte wie die Imagebroschüre zur Familienfreundlichkeit, der Online-Kulturkalender oder die gemeinsamen Ausstellungsstände auf einem ausgesprochen niedrigen Gestaltungsniveau angesiedelt (vgl. Abschnitt 10.3). Damit lassen all diese Projekte einen umfänglichen politischen Gestaltungswillen vermissen und können somit nur einen Anfang der metropolregionalen Zusammenarbeit darstellen.70 Im Ergebnis fördern die als „harte“ Problemfelder identifizierten schwierigen Konkurrenzbedingungen und zermürbenden Interessenkonflikte, ungenügenden Handlungsressourcen sowie projektbezogenen Effektivitäts- und Effizienzprobleme ein Phänomen, welches im Abschnitt 2.3 als „FrustregionalGovernance“ (vgl. FEDERWISCH 2010c) bezeichnet wurde. Damit werden die mit der metropolregionalen Governance einhergehenden Frustrations- und Resignationseffekte bezeichnet, die vor allem auf der operativen Ebene der beteiligten Verwaltungsangestellten zu beobachten sind.71 Da diese Effekte zusammen mit den „weichen“ Problemfeldern nicht unwesentlich zum bereits geschilderten „GovernanceFailure“ beitragen können (vgl. JESSOP 1998, 2002; vgl. Abschnitte 1.4 und 2.2), bedarf es auch auf mitteldeutscher Ebene einiger Strategien der Problem- und Konfliktbewältigung. Die nachstehenden Ausführungen widmen sich solchen Bewältigungsstrategien, zu denen die raumbezogene Politische Beratung einen wichtigen Beitrag zu leisten hat. 70

71

IP I/04 verweist auf den problematischen Stand der Projekte, welche von der mitteldeutschen Metropolregional angestoßen worden sind: „Zu den Projekten ist ganz deutlich zu sagen, man muss hier nicht um den heißen Brei rumreden, dass zukünftig mehr kommen muss; einerseits, um die Region im Standortwettbewerb voranzubringen und andererseits, um Dritten den Mehrwert einer regionalen Kooperation zu verdeutlichen und sie dadurch dann auch als Mitstreiter zu gewinnen“ (IP I/04:33–38). | Auch IP I/08 kritisiert einzelne Projekte der Metropolregion Mitteldeutschland: „Bei der AG Wirtschaft und Wissenschaft ist so ein Branchenatlas entstanden. Beim nächsten Mal hat man so einen Atlas über die Wissenschaftseinrichtungen entworfen. Das ist nett. Aber ich frag mich immer, wenn ich so eine Publikation in der Hand habe: Wer ist jetzt die Zielgruppe? Wen wollt Ihr damit erreichen? Was ist die Botschaft, die ich mit dieser Thematik aussende?“ (IP I/04:116–119). Ankerbeispiel für Kritik an mangelnder Unterstützung seitens der (landes-)politischen Akteure:„Es gibt eine Projektebene, wo Mitarbeiter der Stadtverwaltung motiviert zusammengearbeitet haben, wo auf verschiedenen Handlungsfeldern eine Fülle von Projekten und Projektplanungen entstanden ist, wo eine Motivation da war und wo ein gutes Arbeiten vonstatten ging. Allerdings hat es die ganze Zeit an einem klaren politischen Statement und einer klaren, einheitlichen Kommunikation von oben gefehlt: Wie heißen wir, was wollen wir? Metropolregion – ja das gibt es und das sind wir. Und in diesem Spannungsfeld hat sich wenig wirklich bewegt, wie mit so einer Handbremse, wie in einer Art Teufelskreis. So gab es politische Entscheider, denen es zu langsam ging und die gesagt haben: In der Metropolregion passiert nichts, es muss Projekte geben. Auf der anderen Seite ist es unheimlich schwer, Projekte zu implementieren, wenn man noch nicht weiß, wie man heißt und heißen wird“ (verändert nach IP I/04:96–104).

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8.3 Strategien der Problem- und Konfliktbewältigung In Auseinandersetzung mit den Strategien zur Bewältigung der oben erwähnten „mitteldeutschen“ Problem- und Konfliktfelder fällt zunächst der besondere Beitrag der raumbezogenen Politischen Beratung auf. Sie kann als wichtiger Teil der verständigungs- und konsensorientierten Problem- und Konfliktregelung angesehen werden, der neben den Mediations- und Moderationsverfahren sowie den Dialogforen seit einigen Jahrzehnten zur politisch-planerischen Alltagspraxis in Deutschland gehört. Dies begründet sich vor allem damit, dass a) die politischplanerischen Prozesse an Komplexität gewonnen haben, b) nunmehr auch Unternehmen, Interessenverbände und Bürgerinitiativen verstärkt an den politischplanerischen Prozessen beteiligt sind und somit c) eine Pluralisierung der Interessenlagen stattgefunden hat. Ziel derartiger Maßnahmen ist es, die Ineffizienz herkömmlicher politisch-planerischer Entscheidungsverfahren auszugleichen und für eine gesellschaftlich verankerte Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung zu sorgen. Im Falle der Metropolregion Mitteldeutschland wird/wurde die Politische Beratung je nach thematischem Zusammenhang beispielsweise von der Technischen Universität in Dresden (TORSTEN WIECHMANN; Themenfeld: Überregionale Zusammenarbeit im Rahmen der MORO-Projektfamilie), dem Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (MARTIN ROSENFELD; Themenfeld: Stadtökonomik) oder dem Leibnitz Institut für Länderkunde (BASTIAN LANGE; Themenfeld: Kreativwirtschaft) erbracht. Dabei werden die Ergebnisse zum einen in Form wissenschaftlicher Studien und zum Zweiten im Rahmen öffentlicher Vorträge einem breiteren Fachpublikum zugänglich gemacht (vgl. EMR SD 2007, 2009). Ein erstes Ziel der zu Beratungszwecken durchgeführten Forschungen ist es, eine Daseinsberechtigung der wachstums- und wettbewerbsorientierten Metropolregion Mitteldeutschland aus raumwissenschaftlicher Sicht zu erarbeiten.72 Zu diesem Zweck wurden in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche SWOT-, Image- und Referenzanalysen zu den Metropolfunktionen durchgeführt und mit diversen Karten zur mitteldeutschen Raumstruktur, verschiedenen Grafiken zu deren Wirtschaftskraft und spezifischen Tabellen zur Metropolität Mitteldeutschlands visuell aufbereitet (vgl. KORIS ET AL. 2007; Abschnitt 2.3). In diesem Zusammenhang kann erwähnt werden, dass sich die raumwissenschaftlichen Studien nicht in dem analytischen Befund zu den spezifischen Verflechtungen, Ausstattungsmerkmalen und Funktionen der Metropolregion Mitteldeutschland erschöpfen müssen. Gelegentlich werden die empirisch rückgekoppelten Daten in eine charakterisierende Erzählung von einem „Mitteldeutsch72

Ankerbeispiel für die Notwendigkeit der Forschungsaktivitäten: „Es gibt viele Zweifler an dem Konzept. Daher glaube ich, dass es Aufgabe der Politik, des BBSR und der Modellregionen ist, zu zeigen, dass das Konzept funktioniert. […] Für mich ist dieser Ansatz eigentlich wichtig, um zu zeigen, dass man eine regionale Ausgleichspolitik mit der Wachstumspolitik doch in Einklang bringen kann“ (IP IV/01:48–60). Dabei richten sich die Forschungen vorzugsweise auf die Metropolfunktionen, die vor allem quantitativ bemessen werden (vgl. IP IV/01:131–134; vgl. Abschnitt 2.2).

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land“ eingebettet, welche historische und sozial-kulturelle Aspekte als wichtige Potenziale der Metropolregion identifiziert (vgl. Abschnitte 2.4 und 9.3; FEDERWISCH 2008a, b, 2009a, b). Die dabei produzierten „geographischen Imaginationen“ (GREGORY 1994) stellen zusammen mit den strukturellen Daten erstens eine wichtige Voraussetzung für ein professionelles regionales Marketing bzw. Branding dar (vgl. STÖBER 2007). Darüber hinaus sollen mit Hilfe raumbezogener Identitätsanker die Entscheidungs- und Meinungsträger des mitteldeutschen (Wirtschafts-)Raumes für die Metropolregion Mitteldeutschland sensibilisiert und hinsichtlich einer Zusammenarbeit unter diesem „Dach“ mobilisiert werden (vgl. FELGENHAUER 2007). Neben den raumwissenschaftlichen Studien wird derzeit vor allem im Rahmen des MORO-Projektes „Überregionale Partnerschaften – Innovative Projekte zur stadtregionalen Kooperation, Vernetzung und gemeinsamen großräumigen Verantwortung“ auch steuerungsrelevantes Verfügungswissen erarbeitet. Dabei werden ganz im Sinne der im Abschnitt 2.1 dargestellten GovernanceForschung die Funktionsweisen der mitteldeutschen GovernanceRegime analysiert sowie in Bezug auf deren bestehende Funktionsdefizite und zukünftigen Herausforderungen hin bewertet. Wenngleich aussagekräftige Ergebnisse für die polyzentrische Metropolregion Mitteldeutschland nach wie vor ausstehen, so wird doch die Notwendigkeit einer arbeitsteiligen Kooperation zwischen territorial und funktional operierenden Akteuren unterstrichen (vgl. BBSR 2009b:12–13; BMVBS 2010:9– 10). Dies bedeutet, dass die metropolregionale Governance ihre internen Kooperationsstrukturen zu den administrativen Einheiten der kleineren Städte und ländlichen Teilräume neu zu definieren und ihr Verhältnis zu den funktionalen Initiativen auszuloten hat. Dies betrifft insbesondere das schwierige Verhältnis zur WfM, welche zwar nicht die einzige, möglicherweise aber die wichtigste der wirtschaftsgetriebenen Kooperationen im mitteldeutschen Wirtschaftsraum darstellt.73 So müssten sich nach Ansicht einiger Experten die beiden Netzwerke im Rahmen einer noch anzustrebenden Kooperationsvereinbarung auf ihre jeweiligen Aufgabenfelder konzentrieren, die im Falle der Metropolregion bei den Fragen der Kommunalpolitik, in73

Ankerbeispiele hinsichtlich des spannungsgeladenen Verhältnisses von Metropolregion und Wirtschaftsinitiative: „Ich meine, die Wirtschaftsinitiative ist auch nur eine Wirtschaftsinitiative. Es ist nicht die Initiative der gesamten Wirtschaft im mitteldeutschen Raum. Es gibt auch andere Initiativen. Es ist sicherlich eine der bedeutendsten, vielleicht auch die bedeutendste“ (IP II/03:77–80). | „Ob dabei die Wirtschaftsinitiative der alleinige Ansprechpartner oder der richtige Ansprechpartner ist, dahinter mache ich noch ein Fragezeichen“ (IP I/08:55). | „Also es gibt ja im mitteldeutschen Raum jede Menge Initiativen bezüglich der Zusammenarbeit und der Netzwerke. Man darf da keine Konkurrenz zu bestehenden Initiativen und Netzwerken aufbauen, sondern muss sich verstehen als Koordinator – dass man dort tätig wird, wo Unterstützung angesagt ist. Also Unterstützung bei der Zusammenführung verschiedener Interessen anbieten. Die Metropolregion ermöglicht zudem eine Außenwirkung, zu der eine einzelne Stadt zum Beispiel aus finanziellen Gründen nicht in der Lage ist. Das werden Sie nicht vermeiden können, dass es verschiedene Initiativen gibt, das ist auch eine gute Sache. Man muss eben bloß dann zusammenarbeiten und nicht hier eine Konkurrenz aufbauen, wie gesagt“ (IP II/01: 50–55).

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terkommunalen Zusammenarbeit und regionalen Planung lägen (IP I/01; IP I/05).74 Demgegenüber müsste sich die Wirtschaftsinitiative vorzugsweise um wirtschaftliche Fragen wie das Marketing kümmern, worauf der (ehemalige) Geschäftsführer der WfM im Interview energisch hinweist: „Wir wünschen uns eine Aufgabentrennung zwischen dem, was die Metropolregion macht, und dem, was die Wirtschaftsinitiative macht. Vor allen Dingen unsere Aufsichtsratsmitglieder, die Oberbürgermeister der Städte, die in beiden Organisationen involviert sind. Aber auch andere Städte wie Dresden zum Beispiel wünschen sich, dass es da eine Aufgabenteilung gibt“ (leicht verändert nach IP III/01:34–36; Anmerkung T.F.: Die Aussagen von IP III/01 wurden in der Funktion als Geschäftsführer der WfM am 16. April 2009 getroffen und repräsentieren nicht die Auffassung der WfM zum Zeitpunkt der Veröffentlichung).

Nicht zuletzt wird von den befragten Interviewpersonen regelmäßig betont, dass es im metropolregionalen Konsolidierungsprozess auch immer um eine diplomatische Offensive gehen müsse. Als strategischer Teilaspekt der deliberativen Politik scheint diese Vorgehensweise besonders geeignet, um die vielfältigen „Bedenken, die den Prozess auf der Entscheiderebene stören“, beseitigen zu können (vgl. IP I/02:228; Hervorhebung T.F.). Angewendet wurde eine solche diplomatische Offensive insbesondere im Rahmen des schwierigen Erweiterungs-, Namensfindungs- und Identitätsfindungsprozesses, in dem das energisch-zielorientierte und zugleich behutsam-vermittelnde Vorgehen einzelner Oberbürgermeister sowie der Geschäftsstelle das Scheitern der Metropolregion Mitteldeutschland verhindern konnte (vgl. Abschnitt 7.3). Dabei musste man – nach Ansicht eines kommunalpolitischen Gesprächspartners – in den Diskussionen mit den konträr eingestellten Parteien sehr genau schauen, wo die Sorgen und Bedenken lagen, wie argumentiert wurde und welche Perspektiven man in Form von so genannten Koppelgeschäften anbieten konnte (vgl. IP I/02:172–178). In Anbetracht dieser drei zentralen Strategien zur Problem- und Konfliktbewältigung stellt sich abschließend die Frage, welche Entwicklungschancen der Metropolregion Mitteldeutschland eingeräumt werden und welche Rolle sie zukünftig einnehmen soll. Zur Beantwortung dieser Frage widmen sich die nachstehenden Ausführungen dem Versuch eines Resümees, das sich unter anderem auf die Beurteilungen einiger interviewten Experten stützt. Dabei wird getreu dem Motto „Quo vadis Mitteldeutschland?“ gezeigt, dass die Protagonisten der Metro74

Ankerbeispiele hinsichtlich der notwendigen und geplanten Kooperationsvereinbarung: „In der Wirtschaftsinitiative gibt es die Bereitschaft zu einer Kooperationsvereinbarung zu kommen. Es gab schon einen ersten Anlauf, einen ersten Entwurf. Der ist nicht zum Ziel gekommen. Wichtig ist für beide Seiten, dass beide auf gleicher Augenhöhe operieren und beide sich nicht in die jeweiligen Felder reinreden. Das ist eine Geschäftsgrundlage, die, glaube ich, trägt. Die Wirtschaftsinitiative kümmert sich stärker um Wirtschaft und Marketing. Wir, die Metropolregion, kümmern uns mehr um Fragen Planung, Zusammenarbeit, politische Fragen, kommunalpolitische Fragen. Und da muss es zu einer Kooperationsvereinbarung kommen, für die ich mich einsetze“ (IP I/02:217–227). | „Wir sind die politische Definition des mitteldeutschen Gedankens, den die Wirtschaftsinitiative wirtschaftlich entwickeln will. Wir sind definiert durch die Papiere der Bundesregierung, in Brüssel, und wir sind gut beraten, diese politische Definition des Raumes jetzt zu koppeln mit den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen in der Region“ (IP I/05:125–126).

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polregion Mitteldeutschland nach wie vor einen hohen politischen Steuerungsanspruch für die Zukunft besitzen und zugleich mit einer ernüchternden Wirklichkeit in der Gegenwart konfrontiert sind. Insofern gesellen sich zu deren Metropolisierungseuphorie (bzw. Metropolisierungslust) nicht selten eine Metropolisierungslethargie (bzw. ein Metropolisierungsfrust), welche die Zweifel an der gegenwärtigen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) der Metropolregion Mitteldeutschland nähren und die Skepsis an deren zukünftiger Rolle fördern kann.

8.4 Metropolregion Mitteldeutschland – quo vadis? Es versteht sich von selbst, dass der Versuch eines Resümees zunächst mit einer wohlwollenden Würdigung der bisherigen Aktivitäten zur Etablierung und Konsolidierung der Metropolregion Mitteldeutschland beginnen sollte. So kann aus Sicht der Protagonisten allein schon der fortwährende Bestand einer Metropolregion auf dem Gebiet der Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen als ein zentraler Erfolg bewertet werden. Ihnen ist es gelungen, die 1997 gegründete und bis 2005 schwächelnde Metropolregion Sachsendreieck mittels eines Erweiterungsprozesses zu revitalisieren und zugleich neue Akteure für die metropolregionale Kooperation zu gewinnen (vgl. Abschnitte 7.1 und 7.2). Zudem konnten sie mit Hilfe eines bis auf weiteres erfolgreich abgeschlossenen Namens- und Identitätsfindungsprozesses einen wichtigen Beitrag zur Selbstfindung leisten (vgl. Abschnitt 7.3), was sich in den im Jahr 2010 verabschiedeten neuen Visionen, Leitbildern und Handlungsfeldern der Metropolregion Mitteldeutschland widerspiegelt (vgl. Abschnitt 7.4). In Anbetracht dieser Entwicklungen muss hervorgehoben werden, dass die Protagonisten der Metropolregion Mitteldeutschland nunmehr auch ihren Gestaltungsanspruch bekräftigt haben (EMR MDD 2010b, c). So soll es mit Hilfe des in fünf thematische Felder gegliederten und von den entsprechenden Arbeitgruppen betreuten Projektportfolios gelingen, die Metropolregion Mitteldeutschland zu einer der „wachstumsstärksten“, „dynamischsten“, „innovativsten“, „kreativsten“, „tolerantesten“, „lebenswertesten“ und „vielfältigsten“ (Wissens-)Regionen Deutschlands und Europas zu entwickeln (vgl. Dokumente der EMR Mitteldeutschland). Damit verbunden lässt sich auch ein Führungs- und Verantwortungsanspruch identifizieren, wonach die metropolregionale Organisation als „Netzwerk der Netzwerke“, „Dach“ oder „Plattform“ für andere Initiativen im mitteldeutschen Wirtschaftsraum fungieren soll. Durch sie soll ein Bezugsrahmen für gemeinsame Projekte auf (inter-)nationaler Ebene etabliert und somit ein Mehrwert für alle Teilregionen geschaffen werden. Bedauerlicherweise kann die in den Leitlinien der Metropolregion Mitteldeutschland verankerte und in den Interviews mit den Protagonisten aktualisierte Metropolisierungseuphorie nur eine Seite der Medaille abdecken. Zugleich sind die metropolregionalen Entscheidungs- und Meinungsträger nämlich auch mit zahlreichen „harten“ und „weichen“ Problemfeldern konfrontiert, welche die Diskrepanz zwischen dem hohen Gestaltungs-, Führungs- und Verantwortungsan-

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spruch einerseits und der ernüchternden Wirklichkeit andererseits zum Ausdruck bringen (Abschnitte 8.1 und 8.2). So dürfen ganz im Sinne einer kritischen Würdigung weder die komplexen Konkurrenzbedingungen und zermürbenden Interessenkonflikte, noch die mangelhafte Ressourcenausstattung, ineffiziente Steuerung oder fragwürdige Projektqualität der Metropolregion Mitteldeutschland aus der Betrachtung ausgeschlossen werden. Allesamt geben sie nämlich einen Hinweis darauf, weshalb die Metropolregion Mitteldeutschland noch immer mit Wahrnehmungs-, Identitäts- und Akzeptanzproblemen auf der Ebene der Länder und Kommunen, der teilregionalen und branchenspezifischen Netzwerke sowie der zivilgesellschaftlichen Akteure zu kämpfen hat und warum sich auf der metropolregionalen Arbeitsebene Frustrations- und Resignationseffekte nachweisen lassen. Insofern sollte es auch nicht verwundern, dass die Metropolregion Mitteldeutschland nach wie vor mit zahlreichen kritischen Beobachtern aus den eigenen Reihen und Zweiflern allen Ortens konfrontiert ist. Daran können auch die aufwändigen raumwissenschaftlichen und steuerungstheoretischen Beratungsleistungen nicht viel ändern, mit deren Hilfe die Existenz der Metropolregion Mitteldeutschland legitimiert und deren Steuerung optimiert werden soll (vgl. Abschnitt 8.3). Im Gegenteil: Folgt man den in Fachkreisen kursierenden Ergebnissen der bundesdeutschen Raumbeobachtung, so werden die Zweifel an der „Metropolität“ sogar durch die raumwissenschaftlichen Daten des BBSR geschürt (vgl. BBR 2005b). So weist die Metropolregion Mitteldeutschland gemäß dessen raumwissenschaftlicher Argumentation auch dreizehn Jahre nach ihrer offiziellen Ernennung entscheidende Defizite in den Bereichen der Entscheidungs- und Kontrollfunktion sowie der Gatewayfunktion auf und kann sich bestenfalls im Bereich der Innovations- und Wettbewerbsfunktion im Standortwettbewerb behaupten (vgl. KORIS ET AL. 2007). Akzeptiert man die bisherigen resümierenden Ausführungen hinsichtlich der untersuchten Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland, so sprächen also einige Aspekte für eine kritischere Haltung gegenüber der vermeintlichen mitteldeutschen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1). Zugespitzt formuliert könnte man sogar meinen, dass einer der größten Erfolge der Kooperation darin besteht, den Stillstand oder gar das Scheitern der Metropolregion nunmehr zweimal abgewehrt zu haben. Folgt man den Aussagen der über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren interviewten Akteure, dann konnte der „mehrfach auf der Kippe“ (IP I/07:134) gestandene mitteldeutsche Metropolisierungsprozess nur unter großen Anstrengungen verhindert werden. So gesehen könnte man der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland auch einen „Buddenbrooks-Effekt“ attestieren, worunter nach der hier vertretenen Ansicht nicht der weithin postulierte Verfall bzw. das Scheitern einer bestimmten sozialen Ordnung, sondern vielmehr der beharrliche Kampf gegen den Verfall bzw. das Scheitern zu verstehen ist. Anschluss an Teil V: In Anbetracht der nach wie vor bestehenden Schwierigkeiten der mitteldeutschen Metropolisierung ist zu erwarten, dass der Kampf gegen das Scheitern auch in der nächsten Zeit weitergehen wird. Dieser Kampf wird umso energischer geführt werden, je stärker sich die Protagonisten von den terri-

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torial operierenden Akteuren des vertikalen Staatsaufbaus und den funktional operierenden Akteuren konkurrierender Initiativen in ihrem politischen Handeln eingeschränkt oder gar bedroht fühlen. So weisen schon heute alle der befragten Protagonisten energisch darauf hin, dass die Metropolregion auch zukünftig eine wichtige Rolle in der mitteldeutschen Regionalpolitik einnehmen muss.75 Dies rückt die eingangs aufgeworfenen Fragen ins Zentrum, weshalb die mitteldeutsche Metropolregion nötig ist und von den Protagonisten vorangetrieben wird und wozu die nachweislich so schwer zu etablierende und zu konsolidierende Metropolregion Mitteldeutschland unbedingt auf der Landkarte repräsentiert sein soll. Die Beantwortung der Fragen bringt uns zunächst in das Feld der sozialgeographischen Gesellschaftsdiagnose (WERLEN 2007a; vgl. Abschnitt 4.4), die sich für die alltägliche Konstitution und Revitalisierung von Metropolregionen unter entankerten Bedingungen interessiert (vgl. Abbildung 1). Im Zentrum der sozialgeographischen Betrachtung steht die Behauptung, dass die Metropolregion Mitteldeutschland als Repräsentant einer deutschlandweit zu beobachtenden raumbezogenen „Coping-Strategie“ (REDEPENNING 2006) zu verstehen ist, mit deren Hilfe auf die zunehmend härter empfundene Globalisierung der Lebensbedingungen reagiert werden soll. Aus sozialgeographischer Sicht kann diese Strategie aber nicht nur zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen und dabei helfen, verloren geglaubtes Steuerungspotenzial zurück zu gewinnen. Vielmehr kann sie auch den Prozess der mentalen Wiederverankerung (WERLEN 2009:154) begünstigen und den damit verbundenen Effekt der gemeinschaftlichen Handlungsorientierung unterstützen. 75

Verhaltener äußert sich IP I/08 zum Fortbestand der Metropolregion: „Metropolregionen werden eine Rolle spielen. Ich glaube auch, dass unsere Metropolregion eine Rolle spielen kann. Die Frage ist, ob es sich als erfolgreich zeigt, dass da ein sehr großer Umgriff als Metropolregion gewählt wurde. Ob es eine Metropolregion ist oder ob es vielleicht zwei Metropolregionen werden. Oder ob man sich auf Kernbereiche konzentrieren wird. Das werden Fragen sein, die sich in den nächsten Jahren aus der Entwicklung zeigen werden. Die Entwicklung hängt sehr stark damit zusammen, wie die weitere wirtschaftliche Entwicklung vonstatten geht. Wie weit gelingt es uns, die Wirtschaft regional zu verflechten und nicht nur Einzelthematiken zu gestalten? Und deswegen möchte ich das noch offen lassen, wo die Reise hingehen kann. Es kann die große Metropolregion sein, so wie sie heute ist. Sie kann gegebenenfalls sogar noch größer werden. Also: Wenn Grenzen verschwinden. Mit welchem Grund sollen nicht zum Beispiel auch Ústí oder Děčín eine Rolle spielen können. Das hängt aber immer von der Verflechtungswirkung ab – und man hat am Ende des Tages eher einen Bereich, der sich so um Dresden, Freiberg, Chemnitz, vielleicht bis Jena ausdehnt, der sehr viele Ähnlichkeiten hat. Und eher ein Bereich Halle und Leipzig, die wiederum andere Schwerpunkte haben. Oder es gibt einen kleineren Kernbereich und es wird nicht mehr diese Ausuferungen bis Magdeburg und so weiter geben. Und das hängt auch von Magdeburg ab: Wo wird sich die Stadt hin orientieren? Wird sie sich eher Richtung der heutigen mitteldeutschen Metropolregion orientieren oder wird sie eher Anknüpfungspunkte nach Berlin oder nach Hannover haben? Das ist für so eine Stadt wie Magdeburg auch eine spannende Frage. Und die wird davon abhängen, wie am Ende wirklich die Verflechtungswirkungen funktionieren werden, wie die Räume auch mit Menschen gefüllt sind und wie die Verkehrswege laufen. Und da gibt es mehrere Szenarien, die denkbar werden. Ich kann die heute nicht beantworten. Man kann aber sagen, ich will sie aktiv beeinflussen“ (verändert nach IP I/08:184–208).

Metropolregion Mitteldeutschland: Eine „Erfolgsgeschichte“?

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Darüber hinaus bringt uns die Beantwortung der Fragen in das Feld der soziologischen Gesellschaftsdiagnose (ROSA 2005; vgl. Abschnitt 4.4), die sich für die alltägliche Konstitution und Revitalisierung von Metropolregionen unter beschleunigten Bedingungen interessiert. Im Zentrum der soziologischen Betrachtung steht die Behauptung, dass die Metropolregion Mitteldeutschland als Repräsentant einer deutschlandweit zu beobachtenden zeitbezogenen „CopingStrategie“ (REDEPENNING 2006) zu betrachten ist, mit deren Hilfe auf die zunehmende Desynchronisation der (Regional-)Politik hinsichtlich anderer sozialer Sphären reagiert werden soll. Aus zeitbezogener Perspektive kann mit dieser Strategie die Desynchronisation zwischen der beschleunigungsresistenten (Regional-) Politik und den beschleunigten Zeitstrukturen anderer sozialer Systeme wie der Wirtschaft überwunden werden. Von dieser Beschleunigungsoffensive versprechen sich die Protagonisten der Metropolregion(en) vor allem die Stärkung der Politik in ihrer Rolle als Schrittmacher der gesellschaftlichen Entwicklung und somit die Legitimation des erhobenen Führungs- und Gestaltungsanspruches. Angesichts dieser Erwartungshaltungen widmen sich die nachstehenden Ausführungen aber auch zwei damit korrespondierenden Paradoxien, wobei sich die Thematisierung des so genannten „Quasi-Protektionismus“ auf die widersprüchlichen Bestrebungen zur Wiederverankerung unter globalisierten Lebensbedingungen bezieht. Im Zuge dessen wird argumentiert, dass die Metropolregion die Sicherheit regionaler Geschlossenheit suggeriert und somit als Versuch der reaktionären Bewältigung spätmoderner Herausforderungen interpretiert werden kann (Abschnitt 9). Demgegenüber bezieht sich die zweite Paradoxie des so genannten „Rasenden Stillstandes“ auf den problematischen Aspekt der politischen Gestaltung von Metropolregionen. Dabei wird argumentiert, dass sich die metropolregionalen Aktivitäten vielfach durch ein niedriges Gestaltungsniveau auszeichnen und daher eine gerichtete Entwicklung vermissen lassen (Abschnitt 10).

Teil V: Interpretation geographischer Praktiken Paradoxien der (mittel-)deutschen Metropolisierungseuphorie

Die empirischen Befunde sprechen eine deutliche Sprache: Die Protagonisten der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland haben in den zurückliegenden Jahren beachtliche Anstrengungen unternommen, um einen Stillstand oder gar ein Scheitern der Metropolregion vorerst abzuwenden. Dabei haben insbesondere die neuen Akteure bewirken können, dass die Metropolregion unter dem Label „Mitteldeutschland“ neuen Schwung bekommen hat. Dennoch ist zu konstatieren, dass zahlreiche „harte“ und „weiche“ Problemfelder nur unzureichend bewältigt worden sind. Demnach bleibt die mitteldeutsche Metropolregion ein fragiles politisches Experiment mit ungewissem Ausgang. In Anbetracht der schwierigen Metropolisierung Mitteldeutschlands stellen sich nun die bereits eingangs formulierten Fragen, weshalb die Metropolregion trotz immenser Probleme und Widerstände von den Entscheidungs- und Meinungsträgern weiter vorangetrieben wird und wozu sie unbedingt auf der Landkarte repräsentiert sein soll. Da uns die Beantwortung dieser Fragen in das Feld der sozialgeographischen und soziologischen Gesellschaftsdiagnose bringt, werden die nachstehenden Ausführungen vom konkreten Einzelfall der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland abstrahieren und den Versuch einer gesellschaftsdiagnostisch inspirierten Interpretation vornehmen. In diesem Zusammenhang wird gezeigt, dass das Konzept der Metropolregionen auf eine politische „Coping Strategie“ (REDEPENNING 2006) verweist, mit der einige der spätmodernen Existenzbedingungen bewältigt werden sollen. Allerdings offenbaren die damit verbundenen Regionalisierungspraktiken auch zwei zentrale Paradoxien: So lässt sich erstens ein „Quasi-Protektionismus“ identifizieren, mit dem die Bestrebungen zum Auf- und Ausbau einer mentalen Schutzstruktur unter entgrenzten Bedingungen benannt werden sollen. Zweitens kann ein „Rasender Stillstand“ (ROSA 2005) beobachtet werden, der trotz einer Steigerung politischer Aktivitäten eine gerichtete politische Entwicklung vermissen lässt.

9 Wozu Metropolregionen?

Das Phänomen der „Metropolregion 2.0“ – oder besser: einer sich revitalisierenden Metropolregion lässt sich nicht nur in Mitteldeutschland, sondern auch anderenorts wie beispielsweise in der Metropolregion Hannover-BraunschweigGöttingen-Wolfsburg beobachten (vgl. EMR HBGW 2009; Abbildung 16). Damit reagieren die politisch verantwortlichen Akteure auf die schwierige Metropolisierung von Städten und Stadtregionen, wie sie am Beispiel der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland exemplarisch nachvollzogen wurde (vgl. Abschnitte 7 und 8). Angesichts dieser Entwicklungen kann der sowohl von Seiten der Wissenschaft als auch der Praxis häufig konstatierte Erfolg der deutschen Metropolregionen durchaus skeptisch betrachtet werden. Dabei wird diese skeptische Grundeinstellung aus Sicht der sozialgeographischen Gesellschaftsdiagnose zusätzlich bekräftigt, welche für einen ersten paradoxen Nebeneffekt der alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen sensibilisiert. Ziel der nachstehenden Ausführungen ist es demnach, eine erste Antwort auf die Fragen nach dem weshalb und wozu einer Neuauflage von Metropolregionen zu erhalten und dabei auf eine bislang unzureichend thematisierte Paradoxie der (mittel-)deutschen Metropolisierungseuphorie einzugehen. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst eine gesellschaftsdiagnostisch inspirierte Auseinandersetzung mit der politisch-ökonomischen Ordnung der Spätmoderne, welche für die politischen Akteure nicht nur zwei wichtige Verheißungsaspekte – nämlich: gesellschaftlichen Wohlstand und politische Selbstbestimmung, sondern auch die Angst vor eben deren Verlust in sich birgt (Abschnitt 9.1). Im Anschluss daran wird aus sozialgeographischer Perspektive gezeigt, dass die anhaltende Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen als eine Art raumbezogene „CopingStrategie“ (REDEPENNING 2006) verstanden werden kann, mit der die politischen Akteure auf die zuvor geschilderten Verheißungen und Ängste reagieren. So erwartet man von den deutschen Metropolregionen nicht nur die Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes, sondern vor allem auch die Sicherung der politischen Selbstbestimmung (Abschnitt 9.2). In einem dritten Schritt stehen die mit dem Wunsch nach gesellschaftlichem Wohlstand sowie der Absicht nach weitgehender politischer Selbstbestimmung verbundenen metropolregionalen Selbstbeschreibungen zur Diskussion, welche die abstrakten Raumkonzepte zum Zwecke der alltagsweltlichen Anschlussfindung symbolisierend untermauern sollen. Im Zuge dessen wird argumentiert, dass diese metropolregionalen Selbstbeschreibun-

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gen entlang von vier Hauptdimensionen gebildet werden und positive Image- und Identitätseffekte versprechen (Abschnitt 9.3). Abschließend wird gezeigt, dass die metropolregionalen Selbstbeschreibungen allerdings auch einen paradoxen Nebeneffekt mit sich bringen, welcher in der vorliegenden Arbeit als „QuasiProtektionismus“ bezeichnet wird. Im Zentrum steht die Behauptung, dass derartige Selbstbeschreibungen den Auf- und Ausbau einer mentalen Schutzstruktur begünstigen, die zwar das Zutrauen in die unmittelbare Handlungsumwelt revitalisieren kann, zugleich aber auch eine regionale Kammerung unter prinzipiell entgrenzten gesellschaftlichen Bedingungen fördert (Abschnitt 9.4).

9.1 Verheißungen und Ängste der kapitalistischen Spätmoderne Akzeptiert man die Behauptung, wonach die Metropolregionen in Deutschland ein Resultat des neoliberalen Staatsaufbaus sind (vgl. Abschnitt 1 und 2), so stellt sich die Frage nach den sozialen Bedingungen, unter denen sie alltäglich konstituiert werden. Mehr noch: Teilt man die bisherigen Ausführungen zur schwierigen Etablierung und Konsolidierung der deutschen Metropolregionen, so stellt sich ferner die Frage, welche sozialen Bedingungen die Akteure dazu veranlassen, an diesem zweifelsohne problematischen raumordnungspolitischen Konzept so vehement festzuhalten. Die Beantwortung dieser Fragen verlangt zunächst nach einer gesellschaftsdiagnostisch inspirierten Auseinandersetzung mit der politischökonomischen Ordnung der Spätmoderne, in der die zentralen Antriebsmotoren für die Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen bereits angelegt sind. Sie beziehen sich auf die zwei Verheißungsaspekte des gesellschaftlichen Wohlstandes und der politischen Selbstbestimmung sowie auf die damit korrespondierenden Ängste vor deren Verlust. Folgt man dem Soziologen MAX WEBER (2005), so stellt der Verheißungsaspekt des gesellschaftlichen Wohlstandes eine Art „kulturelle Triebfeder des kapitalistischen Ethos“ dar, die das politische Handeln bereits vor mehr als einhundert Jahren maßgeblich zu beeinflussen vermochte. An diesem Befund sollte sich auch bis in die Gegenwart nicht viel ändern, in der insbesondere Politiker trotz der immer wiederkehrenden Krisen den „Traum immerwährender Prosperität“ (LUTZ 1984) noch nicht ausgeträumt haben. Dabei wird der gesellschaftliche Wohlstand ungeachtet aller empirisch vorfindbaren Differenzen zwischen den spezifischen politisch-ökonomischen Regimen (Frankreichs, Großbritanniens oder Deutschlands etc.) zu einer politischen Maxime erhoben und muss unter allen Umständen gesteigert oder zumindest gesichert werden. Als Maßgabe werden komplexe volkswirtschaftliche Berechnungen zum Bruttoinlandsprodukt herangezogen, die zur politischen Entscheidungsfindung beitragen und zur Legitimierung politischer Programme dienlich sind. Mit Blick auf die politischen Programme lässt sich konstatieren, dass die Realisierung des gesellschaftlichen Wohlstandes durch vielschichtige Wachstumsund Wettbewerbspolitiken gewährleistet werden soll. So gesehen sind die allerorts zu verzeichnenden politischen Aktivitäten zur Stimulierung des ökonomischen

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Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

Wachstums (beispielsweise mit Hilfe der Fiskalpolitik) und zur Sicherung der „strukturellen Wettbewerbsfähigkeit“ (beispielsweise mit Hilfe der Infrastrukturpolitik) unmittelbar an das Wohlstandsversprechen geknüpft. Wenngleich die einzelnen Aktivitäten je nach ideologischer Ausrichtung divergieren können, so versprechen die Akteure aller politischen Lager (Konservative, Liberale, Sozialdemokraten, Sozialisten etc.) einen Beitrag zur gesellschaftsweiten Absicherung der (im-)materiellen Lebensführung leisten zu können. Im Falle des Gelingens können sie hierdurch mit der Untermauerung ihrer Machtpositionen rechnen; im Falle des Misslingens müssen sie nicht selten anderen Akteuren und deren Konzepten der Wohlstandssteigerung weichen. So gesehen scheint der Verheißungsaspekt des gesellschaftlichen Wohlstandes eine wichtige soziale Bedingung zu sein, welche die Handlungsorientierungen und -vollzüge der politischen Akteure maßgeblich beeinflussen kann. Aus diesem Grund sollte er auch in Auseinandersetzung mit den hier verfolgten Fragestellungen zur Konstruktion und Revitalisierung der deutschen Metropolregionen berücksichtigt werden (siehe Abschnitt 9.2). Darüber hinaus muss auch ein zweiter in der politisch-ökonomischen Ordnung der Spätmoderne angelegter Antriebsmotor in die Betrachtung einbezogen werden, welcher mit dem Verheißungsaspekt der politischen Selbstbestimmung umschrieben werden kann. Mit ihm sind grundsätzlich all die Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen verbunden, die sich mit der politischen Autonomie gegenüber anderen Arenen der Steuerung verbinden und einen Zustand der weitgehenden oder gar vollständigen Souveränität und Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Selbstverwaltung sowie Willens- und Handlungsfreiheit bezeichnen können. In der Praxis drückt sich der Verheißungsaspekt der politischen Selbstbestimmung somit vordergründig in den Bestrebungen nach Voll- und Teilautonomie aus, die nicht selten bestehende Machtverhältnisse infrage stellen und politische sowie soziale Konflikte verursachen können. Er lässt sich (wie im Falle der Dezentralisierung; Abschnitt 1.4 zur „Devolution“) aber auch in der Zuweisung von Voll- und Teilautonomie beobachten, die mit der intendierten Verlagerung der Verantwortung zur effizienteren und/oder effektiveren Steuerung einhergeht. Dabei sind auch hier die politischen Akteure quer zu ihrer ideologischen Ausrichtung von der Auffassung geleitet, territoriale Einheiten (wie beispielsweise Kommunen) oder komplexe teilsystemische Sachverhalte (wie beispielsweise die Tarifpolitik) selbstständig regeln und managen zu können. Wenngleich dabei die eigenen (parteilichen) Gestaltungsideale nach wie vor eine große Rolle spielen, so bildet die Hoffnung, auf bestimmte Sachfragen angemessener eingehen oder auf Problemsituationen besser reagieren zu können, eine einende Klammer. Insofern scheint also auch der Verheißungsaspekt der politischen Selbstbestimmung eine wichtige soziale Bedingung zu sein, welche wie eine Art Triebfeder die Handlungsorientierungen und -vollzüge der politischen Akteure strukturieren kann. Auch dieser Verheißungsaspekt mag somit einen Hinweis darauf geben, welche Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen sich mit den Metropolregionen verbinden und weshalb die Protagonisten aus Theorie und Praxis an diesem Konzept festhalten wollen (siehe Abschnitt 9.2). Darüber hinaus leiten sich aus den

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geschilderten Verheißungsaspekten zwei weitere Antriebsmotoren ab, die ebenfalls für die alltägliche Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen sprechen. Sie sind wie die Verheißungsaspekte in der politisch-ökonomischen Ordnung spätmoderner Gesellschaften bzw. in deren „kapitalistischem Ethos“ (vgl. WEBER 2005) angelegt und können mit der Angst vor dem Verlust des Wohlstandes und der politischen Selbstbestimmung umschrieben werden. Dabei drückt sich die Angst vor dem Wohlstandsverlust am offensichtlichsten in den Bedenken vor den (unvermeidlichen) Wachstumskrisen und den damit verbundenen stagnierenden oder gar sinkenden Wachstumsraten aus. Sie passen nicht in das historisch etablierte (aber konsequenzenreiche) Bild von einer leistungsfähigen kapitalistischen Wachstumsgesellschaft, in der die unaufhörliche Steigerung der Produktivität und des Konsums – kurz: des volkswirtschaftlichen Sozialproduktes eine uneingeschränkte Priorität besitzt.76 Zusätzlich geschürt wird die Angst vor dem Wohlstandsverlust durch strukturell begründete Wettbewerbsnachteile, die beispielsweise in dem Mismatch zwischen der volkswirtschaftlichen Wirtschaftskraft einerseits und der Lohn- und Sozialpolitik andererseits zum Ausdruck kommen kann. Da diese Wettbewerbsnachteile kaum mit den klassischen (keynesianischen) Konjunkturprogrammen bewältigt werden können, wird mit zum Teil harschen Einschnitten in das Wohlfahrtssystem eingegriffen (vgl. Agenda 2010 unter GERHARD SCHRÖDER). Vor diesem Hintergrund evoziert der unbedingte Wille zum gesellschaftlichen Wohlstand einen Wachstums- und Wettbewerbszwang, der in Anlehnung an den kritischen Soziologen HARTMUT ROSA (2009:99) sogar in einem Wachstums- und Wettbewerbstotalitarismus münden kann. Dieser sieht alle erdenklichen – und angesichts einer weltweit zunehmenden Wirtschaftskriminalität nicht nur friedfertigen – Mittel zur Steigerung des Wachstums und zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit vor. Wenngleich die radikalisierte Form der Wohlstandswahrung nach wie vor eher zu den Ausnahmeerscheinungen gehören mag, so lässt sich der Kampf gegen den Wohlstandsverlust allseits beobachten. „Jenseits aller Differenzen zwischen den führenden Industriestaaten […], und letztlich jenseits aller Differenzen zwischen den modernen Staaten oder auch zwischen fast allen Parteien in diesen Staaten gibt es nur eine einzige einigende Zielvorgabe, nämlich das Universaltelos der Stimulation des ökonomischen Wachstums“ (ROSA 2009:98) und der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit.

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Besonders bemerkenswert an der uneingeschränkten Priorität der Steigerung des volkswirtschaftlichen Sozialproduktes ist, „dass in nahezu allen bekannten früheren Gesellschaftsformationen ein solch einseitiger Wachstumstotalitarismus undenkbar war, während ausgerechnet dasjenige System, dessen kulturelle Legitimationsbasis auf dem Versprechen der Überwindung materieller Zwänge beruht, ihn erzeugt, und zwar so aus sich selbst erzeugt, dass der Wachstumszwang sich von allen materiellen Bedürfnissen löst und völlig unabhängig von der tatsächlichen Größe des Sozialproduktes niemals an ein Ende gelangen kann. Das mag uns heute selbstverständlich erscheinen, aber es ist höchst konsequenzenreich, weil Wachstum ja immer auf der Grundlage von vorangegangenem Wachstum erzielt werden muss, sodass sich daraus eine nahezu exponentielle Produktionssteigerungskurve ergibt“ (ROSA 2009:98–99).

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Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

Folgt man der bisherigen Argumentationslogik, so muss abschließend auch die Angst vor dem Verlust der politischen Selbstbestimmung als eine wichtige soziale Bedingung spätmoderner Gesellschaften berücksichtigt werden. Aus sozialgeographischer Sicht lässt sich diese Angst ganz allgemein auf die zunehmende Durchmischung von Globalem und Lokalem sowie die damit korrespondierende Entankerung der spätmodernen Lebensbedingungen aus den (tradierten) räumlichen und zeitlichen Zusammenhängen zurückführen (vgl. WERLEN 2008a:21–28; 350).77 Entscheidend ist, dass diese Prozesse vor allem eine Erhöhung der Komplexität spätmoderner Gesellschaften zur Folge haben, die von Seiten der Politik häufig nicht mehr selbstständig und umfassend bewältigt werden kann. So drängt sich der Eindruck der gesteigerten Unübersichtlichkeit, Orientierungs-, Gestaltungs- und Handlungsunsicherheit sowie Entfremdung und Fremdgetriebenheit auf, was weit reichende Konsequenzen für die politische Steuerungs- und Problemlösungsfähigkeit mit sich gebracht hat. Angesichts dessen sind die politischen Akteure unentwegt daran interessiert, politisches Handlungs- und Gestaltungspotenzial zu wahren bzw. verloren geglaubtes Steuerungspotenzial zurück zu gewinnen. Dies kann aus sozialgeographischer Perspektive beispielsweise über „politisch-normative“ und/oder „informativ-signifikative“ Aneignungsprozesse geschehen (vgl. WERLEN 2008a), wozu unter anderem die Schaffung neuer intersystemischer Arenen der politischen Steuerung (GovernanceArenen) mit einer dazugehörigen Rechtssetzung und/oder emotional aufgeladene Erzählungen zur kollektiven Handlungsorientierung gehören. Hiervon versprechen sich die politischen Akteure vor allem die Sicherung oder Wiedererlangung ihrer politischen Autonomie unter gleichzeitiger Bekräftigung der Steuerungs- und Problemlösungsfähigkeit. Damit sollen letztlich auch die komplexen und unübersichtlichen sozialen Prozesse spätmoderner Gesellschaften stabilisiert werden, woraus die politischen Akteure einen wesentlichen Teil ihrer demokratischen Legitimation erhalten können. Unter Berücksichtigung dieser vier in der politisch-ökonomischen Ordnung spätmoderner Gesellschaften angelegten Verheißungsaspekte und Ängste kann abschließend argumentiert werden, dass die Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes und die souveräne Steuerung komplexer sozialer Sachverhalte zu den grundlegenden Impulsen der Politik gehören. Dies muss auch in den hier vorgenommenen Untersuchungen zur alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung 77

Die Termini der „Entankerung“, „Entbettung“ oder „disembedding“ gehören nach dem Sozialgeographen BENNO WERLEN (2008a:350) zu den zentralen Begriffen der strukturationstheoretischen und sozialgeographischen Gesellschaftsdiagnose (vgl. GIDDENS 1995:32–39). Hierunter lassen sich nach WERLEN (2008a:350) die Aufhebung der räumlichen Kammerung gesellschaftlicher Zusammenhänge, die Durchmischung verschiedenster Kulturen auf engstem Raum und die Loslösung der Bezugsrahmen der Handlungsorientierung von lokalen Traditionen verstehen. Zu den zentralen Entankerungsmechanismen können symbolische Systeme wie Schrift und Geld sowie Expertensysteme wie Flugzeuge oder Telekommunikationseinrichtungen gezählt werden. Sie erlauben das Ausgreifen von Aktionsreichweiten, einen größeren Rahmen für individuelle Entscheidungen und schließlich eine zunehmende Verstrickung des Globalen mit dem Lokalen.

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der deutschen Metropolregionen beachtet werden. Aus diesem Grund stellen die nachfolgenden Ausführungen die sich aus dem „kapitalistischen Ethos“ (WEBER 2005) der spätmodernen Gesellschaften ableitenden Antriebsmotoren in einen raumbezogen Zusammenhang. Dabei wird die These vertreten, dass die Metropolregionen in Deutschland als eine raumbezogene „Coping-Strategie“ (REDEPENNING 2006) zu verstehen sind, von der sich die politischen Akteure einen Beitrag zur Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes und zur souveränen Steuerung komplexer sozialer Prozesse versprechen.

9.2 Metropolregionen als raumbezogene „Coping-Strategie“ Folgt man den bisherigen Ausführungen zum „kapitalistischen Ethos“ (WEBER 2005) spätmoderner Gesellschaften, so müssen die Verheißungen und Ängste als wichtige soziale Bedingungen politischer Prozesse in den Blick genommen werden. Sie bilden die zentralen Antriebsmotoren bzw. „kulturellen Triebfedern“ (WEBER 2005) für die Handlungsorientierungen und -vollzüge politischer Akteure, die sich vielerorts der Konstitution neoliberaler Staatsformen verschrieben haben (vgl. Abschnitt 1). Für den hier verfolgten Zusammenhang ist entscheidend, dass die geschilderten Verheißungen und Ängste in vielen westeuropäischen Staaten auch einen expliziten Raumbezug erfahren haben. In Deutschland werden sie neuerdings mit dem raumordnungspolitischen Konzept der Metropolregion in Verbindung gebracht, was letztlich auch deren Rolle bei der Bewältigung spätmoderner Existenzbedingungen untermauert hat (vgl. Abschnitt 2). Mit dem Konzept der Metropolregionen hat die bundesdeutsche Raumordnung also ein Instrument geschaffen, von dem man sich gesamtgesellschaftliche Wohlstandseffekte verspricht. Dem liegt die Ansicht zugrunde, dass die genuin kapitalistischen Hoffnungen auf gesellschaftlichen Wohlstand nicht in den ländlichen oder peripheren Teilräumen der Bundesrepublik, sondern in deren Agglomerationen realisiert werden können. So sind es die Metropolregionen, die als „Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung“ (ADAM ET AL. 2005; Hervorhebung T.F.) die besseren Chancen hätten, gesamtwirtschaftliches Wachstum zu erzeugen und im radikalisierten Wettbewerb der Standorte bestehen zu können. Aus diesem Grund müssen sie nach Ansicht der Protagonisten wachstums- und wettbewerbspolitisch unterstützt werden, um die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands zu erhalten und den gesellschaftlichen Wohlstand zu sichern. Mit Blick auf die metropolregionale Praxis lässt sich konstatieren, dass die Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes durch vielschichtige raumbezogene Wachstums- und Wettbewerbspolitiken gewährleistet werden soll. Sie stehen grundsätzlich im engen Zusammenhang zur klassischen regionalen Strukturpolitik Deutschlands, die nach HANS-FRIEDRICH ECKEY (2005) die Volkswirtschaft hinsichtlich des regionalen Angebotspotenzials und der regionalen Nachfrage zu beeinflussen versucht. In diesem Sinne gehört beispielsweise die Etablierung und Pflege von spezifischen Branchenclustern zu den Aktivitäten, die auch zur Stimu-

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Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

lierung des metropolregionalen Wirtschaftswachstums und zur Sicherung der metropolregionalen Wettbewerbsfähigkeit beitragen können. Sie werden vor allem durch Maßnahmen im Bereich des metropolregionalen Marketings ergänzt (vgl. LINDSTAEDT 2006), welche auf die Verbesserung des Images dieser vergleichsweise neuen Raumkonzepte abzielen. Insofern mag die raumordnungspolitische „Erdung“ des Verheißungsaspektes gesellschaftlichen Wohlstandes eine erste Antwort auf die Frage nach dem weshalb und wozu der alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung deutscher Metropolregionen geben. Getreu dem Motto „Wohlstand durch Stärkung starker Stadtregionen sichern!“ stellen die deutschen Metropolregionen für die Protagonisten aus Theorie und Praxis die geeignete territoriale Klammer dar, um auf den zunehmenden Wachstums- und Wettbewerbsdruck der globalisierten Spätmoderne angemessen reagieren zu können. Darüber hinaus spricht nach der im Abschnitt 9.1 entwickelten Systematik auch der Verheißungsaspekt der politischen Selbstbestimmung für das Festhalten an dieser raumordnungspolitischen Konzeption. Dabei werden all die Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen bekräftigt, die sich mit dem Auf- und Ausbau metropolregionaler Organisationen nach dem Prinzip der Governance verbinden. So gesehen basiert die Konstruktion metropolregionaler GovernanceRegime auf der weithin verbreiteten Erkenntnis, dass einige der politischen oder ökonomischen Entwicklungen besser in Eigenverantwortung der Vor-Ort-Akteure als durch eine übergeordnete Steuerungsebene gestaltet werden können. Sie gründet auf der Überzeugung, dass die Entwicklungsprozesse durch die unmittelbare Interaktion zwischen den Vor-Ort-Akteuren auch zielgerichteter zu managen sind. Wenngleich sich diese Erwartungen nicht immer bestätigen müssen (vgl. Abschnitte 2.3 und 8.2), legitimieren derartige Verheißungen die kontinuierliche Erprobung neuer metropolregionaler Steuerungsmodalitäten. Dabei werden die Protagonisten der metropolitanen GovernanceRegime nicht selten von Vertretern der übergeordneten politischen Steuerungsebenen unterstützt, die hierüber ihr Einflusspotenzial wahren und die mit der GovernanceGenese einhergehenden Machtverschiebungen besser kontrollieren können. In diesem Zusammenhang sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich das Festhalten am Konzept der Metropolregionen natürlich nicht nur aus dem Wunsch nach einer besseren und zielgenaueren Steuerung komplexer sozialer Sachverhalte heraus begründet. Vielmehr sind einige der Protagonisten auch an der Absicherung der Machtverhältnisse interessiert, die sich im Zuge der Konstruktion neuer metropolregionaler GovernanceRegime durchaus zu ihrem Vorteil verschoben haben. Wie das Beispiel der Metropolregion Sachsendreieck/ Mitteldeutschland zeigt, profitiert gerade die politische Ebene der (Ober-) Bürgermeister von den neuen metropolregionalen Positionen, die ihnen unter anderem einen überkommunalen Aufmerksamkeitsschub in der (Fach-) Öffentlichkeit eingebracht haben. Insofern lässt sich gerade am Verheißungsaspekt der politischen Selbstbestimmung nachvollziehen, dass der Fortbestand von Metropolregionen auch an die ganz individuellen Absichten der Protagonisten gebunden ist, die hierüber ihre Position im politischen Feld stärken können.

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Neben den bisherigen Ausführungen zu den Beweggründen zur alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen sollten auch die raumbezogenen Reaktionen auf den befürchteten Verlust des gesellschaftlichen Wohlstandes und der politischen Selbstbestimmung in die Betrachtung einbezogen werden. Dabei wird die Angst vor dem Wohlstandsverlust nicht selten an das Schicksal der Metropolregionen geknüpft, deren problematische Entwicklungspfade durchaus ein Thema in (regional-)politischen Kreisen sind. So zeigen die empirischen Erfahrungen zur Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland, dass die mangelnde Effektivität und fehlende Effizienz metropolregionaler Politik auch dort kontrovers diskutiert wird (vgl. Abschnitt 8). Nichtsdestotrotz führen derartige Diskussionen nicht zu einer Abkehr von den Metropolregionen, da sich deren Stillstand oder Scheitern vermeintlich negativ auf den Wohlstand der metropolregionalen Bevölkerung und letztlich die gesamtdeutsche Wohlstandsentwicklung auswirken würde. Vor diesem Hintergrund evoziert der unbedingte Wille zum gesellschaftlichen Wohlstand das Festhalten an den scheinbaren „Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung“ (ADAM ET AL. 2005) und den damit verbundenen Wachstums- und Wettbewerbspolitiken. Dabei kann das Streben nach einem wohlstandsgenerierenden Mehrwert der Metropolregionen sogar soweit gehen, dass kritische Beobachter oder Antagonisten des Metropolisierungsprozesses in aller Öffentlichkeit als „Kooperationsbremser“ oder „Kirchturmdenker“ denunziert und politisch isoliert werden. Zwar mögen derartige Praktiken der bewussten sozialen Exklusion kritisch eingestellter Personen bzw. Personengruppen nach wie vor zu den Randerscheinungen im Konstruktionsprozess gehören. Da die nicht selten politisch motivierten Störfeuer jedoch die sozialen Positionen der metropolregionalen Protagonisten maßgeblich delegitimieren sowie die regionalpolitischen Programme der vermeintlichen Wohlfahrtsgeneratoren untergraben können, sind derartige Maßnahmen in der Praxis zweifelsohne beobachtbar.78 Mit dem Verweis auf den Aspekt der Delegitimierung ist nunmehr ein wichtiges Stichwort hinsichtlich des vierten Antriebsmotors gegeben, der entlang der hier entfalteten Systematik mit der Angst vor dem Verlust der politischen Selbstbestimmung umschrieben werden kann (Abbildung 41). Wie weiter oben ausführlicher dargelegt (vgl. Abschnitt 9.1), kann diese Angst in erster Linie auf die erhöhte und von der Politik anscheinend nicht mehr selbstständig und umfassend zu bewältigende Komplexität spätmoderner Gesellschaften zurückgeführt werden. Angesichts dieses diagnostizierten Sachverhaltes wird hier argumentiert, dass die Metropolregionen im Umgang mit eben dieser Komplexität behilflich sind und 78

Diese Aussagen stützen sich auf teilnehmende Beobachtungen zur Metropolregion RheinNeckar, die im Rahmen der Diplomarbeit anlässlich der Metropolregionskonferenz am 26.07.2005 gemacht worden sind. Dabei wurden Kritiker der Metropolregion vom damaligen Vorsitzenden der metropolregionalen Kooperation und des IHK Wirtschaftsforums sowie dem stellvertretenden Vorsitzenden der BASF SE, EGGERT VOSCHERAU, im Beisein der Ministerpräsidenten KURT BECK (Rheinland-Pfalz), ROLAND KOCH (Hessen) und GÜNTHER OETTINGER (Baden-Württemberg) sowie rund 1200 weiterer Gästen öffentlich gemaßregelt.

Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

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die Gefahr des Verlustes der politischen Selbstbestimmung minimieren können. Dies begründet sich aus sozialgeographischer Perspektive damit, dass die Metropolregionen als „raumbezogene Semantiken“ (vgl. REDEPENNING 2006, 2008) mittlerweile zahlreiche komplexitätsreduzierende Selbstbeschreibungen an sich binden, welche sie symbolisierend untermauern und eine politisch legitimierende Handlungsorientierung stiften können. Mit anderen Worten: Folgt man dem Sozialgeographen MARC REDEPENNING (2006, 2008), dann besitzen raumbezogene Semantiken ganz allgemein die funktionale Eigenschaft, ein Set von sinngebenden Selbstbeschreibungen an sich zu binden – oder besser: in verdichtender Weise auf einen Begriff zu bringen. Sie sind demnach Ausdruck der interpretativen Auseinandersetzung mit der sozialräumlichen Wirklichkeit, mit deren Hilfe die wahrgenommene Komplexität spätmoderner Gesellschaften strukturiert und reduzierend in eine neue raumbezogene Ordnung überführt wird.79 Entscheidend ist nun, dass auch die Metropolregionen derartige raumbezogene Semantiken darstellen und einen „semantischen Hof“ komplexitätsreduzierender Selbstbeschreibungen mit sich führen. Diese umfassen vereinfachende Aussagen über die komplexe sozialräumliche Wirklichkeit von beispielsweise Bremen-Oldenburg, Mitteldeutschland oder Rhein-Neckar etc., die in einer alltagsweltlich anschlussfähigen Erzählung über die jeweilige Metropolregion münden und eine gemeinsame Handlungsorientierung stiften können. Verheißungen und Ängste kapitalistischer Gesellschaften

Allgemeine politische Bewältigungsstrategien

Metropolregionen als raumbezogene „Coping-Strategie“

Verheißung gesellschaftlichen Wohlstandes

Wachstums- und wettbewerbsorientierte Struktur- / Konjunkturpolitik

Regionale Strukturpolitik zur Stärkung starker Stadtregionen

Verheißung politischer Selbstbestimmung

Bestrebungen nach und Zuteilung von Voll- und Teilautonomie

Auf- und Ausbau einer (metropol-) regionalen Governance

Angst vor gesellschaftlichem Wohlstandsverlust

Selbstauferlegter Wachstums- und Wettbewerbszwang

Selbstauferlegtes Streben nach einem Mehrwert

Angst vor Verlust politischer Selbstbestimmung

Politisch-normative / informativsignifikative Aneignung

Selbstbeschreibung zur politischen Orientierung und Legitimierung

Abbildung 41: Strategien zur Bewältigung spätmoderner sozialer Bedingungen Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Gemäß dieser Auffassung von der komplexitätsreduzierenden und orientierungsstiftenden Funktionalität von Metropolregionen kann geschlussfolgert werden, dass auch diese raumbezogene Semantik die Bestrebungen zur politischen Selbst79

Semantiken bezeichnen im Allgemeinen generalisierten und relativ situationsunabhängig verfügbaren sozialen Sinn. „Sie stellen als Begriffs- oder Themenvorrat einen besonderen, sehr stabilen Typus gesellschaftlicher Reflexionen dar. […] Sie identifizieren, erinnern, vergessen oder halten einen bewahrenswerten Sinn fest. Die dabei entstehenden Verhärtungen fungieren als Beschreibungsresultate der Gesellschaft und eigenen sich dazu künftige Erwartungen auszubilden und möglicherweise Handlungen zu dirigieren. Sie erfüllen […] in einem solchen Falle zumindest eine Orientierungsaufgabe“ (REDEPENNING 2008:322).

Wozu Metropolregionen?

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bestimmung unterstützen kann. Dabei dienen die metropolregionalen Selbstbeschreibungen als argumentatives „Backing“ (vgl. FELGENHAUER 2007), das zu Zwecken der Legitimierung von Metropolregionen mit all ihren Steuerungsmodalitäten und politischen Programmen je nach Handlungssituation und Personenkontexten machtvoll eingesetzt wird. In Anbetracht der semantischen Bedeutung der Metropolregionen scheint es angebracht, dass sich die nachfolgenden Ausführungen einer systematisierenden Darstellung der Konstruktion metropolregionaler Selbstbeschreibungen widmen. Im Zuge dessen werden die argumentativen Vorarbeiten für die weitere Auseinandersetzung mit dem „Quasi-Protektionismus“ geleistet, der im Auf- und Ausbau einer mentalen Schutzstruktur unter globalisierten Bedingungen besteht.

9.3 Metropolregionale Selbstbeschreibungen In Auseinandersetzung mit den metropolregionalen Selbstbeschreibungen kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass deren Konstruktion zwar in vielerlei Hinsicht kontingent, aber nicht gänzlich beliebig ist (vgl. SCHLOTTMANN 2007).80 So gesehen beziehen sich die metropolregionalen Selbstbeschreibungen nicht auf völlig frei erfundene Aspekte über das spätmoderne Gesellschaft-RaumVerhältnis, sondern benötigen vielmehr eine inhaltlich glaubwürdige und alltagsweltlich verständliche Basis. Aus diesem Grund erfinden die Protagonisten der Metropolregionen auch nicht einfach neue Selbstbeschreibungen, um ein komplexitätsreduziertes und orientierungsstiftendes Bild von der jeweiligen Metropolregion zu konstruieren. Im Gegenteil: Wie im Falle des so genannten „Nation Building“ (vgl. WODAK ET AL. 1998) werden bereits bestehende raumbezogene Erzählungen ausgewählt, um zusätzliche Informationen angereichert und in einer mehr oder weniger transformierten Weise arrangiert (FEDERWISCH 2008a). Wie die eigenen empirischen Arbeiten zu den Selbstbeschreibungen der Metropolregion Rhein-Neckar gezeigt haben, adressieren die Protagonisten mindestens vier inhaltliche Dimensionen, um die Metropolregion symbolisierend zu untermauern und somit alltagsweltlich anschlussfähig zu machen. Sie beziehen sich 80

In Alternative zur „Selbstbeschreibung“ kann auch von der sinnhaften Konstitution von Deutungsmustern gesprochen werden. Der Begriff der „Deutungsmuster“ geht auf die soziologischen Arbeiten von ALFRED SCHÜTZ (1974) zurück, der den alltäglichen Wissensvorrat als ein Konglomerat unterschiedlichster Typisierungen von Erfahrungen und bewährten Problemlösungen versteht. Diese Schemata werden in der alltäglichen Erfahrung aktualisiert, indem ein Gegenstand als ein Exemplar einer Typenklasse erfasst und gleichzeitig seine spezifischen Merkmale gegenüber dem allgemeinen Typus bestimmt werden. Miteinander verbundene Deutungsschemata bilden Sinnzusammenhänge, welche die Wahrnehmung strukturieren und jene Deutungsmöglichkeiten unterdrücken, die für die aktuelle Situation des Individuums irrelevant sind. Typisierende Deutungen sind demnach selektiv, wobei die Kriterien der Selektion sozial bedingt und so bestimmte Erlebnisse immer im Rahmen bereits vorgeformter Sinnzusammenhänge wahrgenommen und gedeutet werden. Auf Basis der Sinnzusammenhänge wird die Wahrnehmung der individuellen materiellen und sozialen Umwelt so reduziert und strukturiert, dass Orientierung, Identität und Handeln möglich werden.

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Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

auf a) die naturräumliche und/oder politisch-administrative Gestalt der Metropolregion, b) deren typischen Bewohner, c) die gemeinsame Geschichte des vermeintlichen metropolregionalen Kollektivs sowie d) die gemeinsame politische, wirtschaftliche und sozialkulturelle Gegenwart und Zukunft (FEDERWISCH 2008a, b, 2009a, b; vgl. PAASI 1986; LUUTZ 2001, 2002). Dabei hat sich gezeigt, dass nicht alle vier inhaltlichen Dimensionen gleichermaßen detailliert ausgearbeitet und im (fach-)öffentlichen Diskurs verankert sein müssen. Vielmehr werden die metropolregionalen Selbstbeschreibungen immer nur in bestimmten thematischen Teilen für spezifische Handlungssituationen und Personenkontexte in zweckmäßiger Weise konstruiert sowie je nach Fokusgruppe über verschiedene Medien und Medienanstalten kommuniziert. Betrachtet man nun die einzelnen Dimensionen der metropolregionalen Selbstbeschreibungen genauer, so fallen zunächst die vielfach vorgenommenen Versuche der möglichst genauen territorialen Bestimmung der Metropolregionen auf. Dabei spielen ungeachtet der häufig vorgenommenen variablen Konstruktion der Metropolregionen (Stichwort: „Variable Geometrie“; vgl. Abschnitt 2.3) Vorstellungen über die konkrete Ausdehnung, exakten Grenzverläufe und bildhaften Formen eine entscheidende Rolle (Abbildung 14). Darüber hinaus umfassen die metropolregionalen Selbstbeschreibungen auch Vorstellungen von spezifischen Naturräumen oder Kulturlandschaften, die das Bild von der Metropolregion nicht zuletzt in ästhetischer Hinsicht befördern können. Das entsprechende sinngebende Verfahren wird hier als Modellierung verstanden, da die Protagonisten hierüber ein plastisches und intersubjektiv greifbares Bild von der physisch-materiellen Umwelt sowie der politisch-administrativen Gestalt (re-)produzieren. Im Falle der zweiten inhaltlichen Dimension spielen wiederum vermeintliche Eigenschaften des typischen Bewohners der jeweiligen Metropolregion eine besondere Rolle. Dabei werden häufig verallgemeinernde Aussagen über die kollektive Mentalität, Verhaltensdispositionen oder Charaktereigenschaften getroffen und mit Bezugnahme auf natur- oder kulturräumliche Sachverhalte begründet. So beziehen beispielsweise die Bewohner der Metropolregion Rhein-Neckar ihre angebliche Lebensfreude aus dem wohligen Klima und dem guten pfälzischen Wein (EMR RN 2005), wohingegen die „Frischköpfe“ der Metropolregion BremenOldenburg ihr besonderes Lebensgefühl aus der offenen Landschaft und der Nähe zum Meer schöpfen (EMR BO 2010). Derartige Aussagen werden nach der hier verfolgten Argumentation im sinngebenden Verfahren der Ethnisierung (re-) produziert, wobei die Vorstellungen über die Bewohner der jeweiligen Metropolregion mit vorzugsweise positiven Assoziationen belegt werden. Die dritte Dimension metropolregionaler Selbstbeschreibungen bezieht sich indes auf die mehr oder weniger konsistente sowie durch (un-)bewusste Ein- und Ausblendungen geprägte Erzählung von einer gemeinsamen Geschichte. Hierbei spielen Vorstellungen über die Ursprünge, Aufschwünge oder Blütezeiten des symbolisch repräsentierten Raumausschnittes (Rhein-Neckar, Mitteldeutschland, Nürnberg etc.) sowie über die jüngeren Entwicklungen der eigentlichen Metropolregion eine entscheidende Bedeutung. Dies geht mit der Benennung bekannter Persönlichkeiten und deren politischem, wirtschaftlichem, wissenschaftlichem

Wozu Metropolregionen?

199

oder künstlerischem Wirken, der Berücksichtigung der noch heute gelebten Traditionen, Riten und Folklore sowie der Rekonstruktion des metropolregionalen Entwicklungspfades einher. Das entsprechende sinngebende Verfahren wird hier als Retrospektion (vgl. LUUTZ 2001, 2002) bezeichnet, da sie all jene Erzählungen und Vorstellungen umfasst, welche die Gegenwart der jeweiligen Metropolregion mit deren Vergangenheit verknüpfen sollen. Bezüglich der vierten Dimension metropolregionaler Selbstbeschreibungen spielen die politische und wirtschaftliche Gegenwart und Zukunft – oder genauer: die Vorstellungen über die gemeinsame Problemsituation und die zukünftigen Herausforderungen die entscheidende Rolle. Dazu gehört beispielsweise die Thematisierung der Globalisierung, des Wettbewerbs der Regionen, des demographischen Wandels oder des sich abzeichnenden Fach- und Führungskräftemangels. Das sich damit verbindende sinngebende Verfahren wird hier als Prospektion bezeichnet, da es vordergründig um den Hinweis auf die zukünftigen Modernisierungsanforderungen geht. Dies scheint besonders wichtig, weil dadurch die gegenwärtigen lebensweltlichen Orientierungsbedürfnisse der Menschen mit den Herausforderungen der Zukunft verknüpft und die Bevölkerung hinsichtlich der Modernisierungsanforderungen sensibilisiert werden (vgl. LUUTZ 2001, 2002). Dimensionen der Selbstbeschreibung

Elemente der Selbstbeschreibung

Sinngebende (strategische) Verfahren

„Plastische“ Konstruktion der Metropolregion

Abgrenzung, Ausdehnung, Naturraum, Landschaften etc.

Modellierung

Konstruktion des typischen Bewohners der Metropolregion

Erzählungen über Mentalität, Charaktereigenschaften etc.

Ethnisierung

Konstruktion einer gemeinsamen metropolregionalen Geschichte

Erzählungen über Ursprünge, Persönlichkeiten, Aufschwünge etc.

Retrospektion

Konstruktion einer metropolregionalen Gegenwart und Zukunft

Erzählungen über gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen

Prospektion

Abbildung 42 Hauptdimensionen der sinngebenden Selbstbeschreibung Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Unter Berücksichtigung dieser vier Hauptdimensionen kann resümiert werden, dass die deutschen Metropolregionen längst keine leeren und austauschbaren „Raum- oder Worthülsen“ mehr sind. Vielmehr werden sie kontinuierlich mit sinnstiftenden Beschreibungen aufgeladen, wobei die (erd-)räumlichen Aspekte (Deutungsdimension I) mit den positiv assoziierten Vorstellungen über den typischen Bewohner (Deutungsdimension II) verknüpft sowie mit einem dazu passenden Geschichts-, Gegenwarts- und Zukunftsverständnis (Deutungsdimensionen III und IV) kombiniert werden (Abbildung 42). Im Ergebnis stehen mehr oder weniger ausgereifte metropolregionale Erzählungen (bzw. Narrationen; vgl. Abbildungen 10 und 17), die ganz wesentlich zur alltagsweltlichen Anschlussfindung des sonst eher abstrakten raumordnungspolitischen Konzeptes sowie zu dessen diskursiver Verankerung in der (Fach-)Öffentlichkeit beitragen können.

200

Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

Derartige Erzählungen suggerieren eine metropolregionale Gemeinschaft und besitzen ganz im Sinne von „Wir, die wir uns hier befinden, sind gleich und verfolgen hier ähnliche Interessen“ (REDEPENNING 2008:332; Hervorhebung T.F.) eine identitätsfördernde Eigenschaft. Insofern liegt es nahe, dass die metropolregionalen Selbstbeschreibungen nicht nur von den Protagonisten produziert, sondern auch zur Legitimierung bestimmter Wachstums- und Wettbewerbspolitiken eingesetzt werden. Mehr noch: Getreu dem Motto „Wir wissen, was wir zum Wohle der Menschen hier tun müssen“ haben die sinnstiftenden Beschreibungen von der metropolregionalen Gegenwart und Zukunft die Eigenschaft, die politische Selbstbestimmung der VorOrt-Akteure in ihren jeweiligen Machtkonstellationen zu unterstützen. Demgemäß kann geschlussfolgert werden, dass eine Abkehr von den deutschen Metropolregionen nicht nur eine Orientierungslücke bei den Protagonisten mit sich brächte, sondern auch Verwerfungen im neu konstituierten Machtgefüge der regionalen GovernanceEliten nach sich zöge. Hierin mag ein ganz entscheidender Grund dafür liegen, weshalb die deutschen Metropolregionen trotz ihrer problematischen Entwicklungspfade auch weiterhin alltäglich konstruiert und revitalisiert werden. Dieser Umstand schließt jedoch nicht aus, dass mit der alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen auch ein paradoxer Nebeneffekt – konkret: ein „Quasi-Protektionismus“ einhergeht. So erweckt gerade die politisch motivierte Konstruktion metropolregionaler Selbstbeschreibungen den Eindruck, zu einer raumbezogenen Mythenbildung beizutragen und die Ausbildung einer mentalen Schutzstruktur zu begünstigen. Angesichts dessen wird es in den nachstehenden Ausführungen darum gehen, den paradoxen Nebeneffekt des „QuasiProtektionismus“ aus einer sozialgeographischen Perspektive heraus zu erörtern. Dabei wird die These vertreten, dass sich dieser Nebeneffekt insbesondere aus der Angst vor dem Verlust des gesellschaftlichen Wohlstandes und der politischen Selbstbestimmung ergibt und die vergleichsweise „harten“ protektionistischen Maßnahmen des Staates im Sinne einer „weichen“ Komplementärpraxis ergänzt (vgl. FEDERWISCH 2008a).

9.4 Paradoxie I: Metropolregionaler „Quasi-Protektionismus“? In Auseinandersetzung mit dem paradoxen Nebeneffekt des „QuasiProtektionismus“ scheint es zunächst angebracht, eine sozialgeographische Interpretation bezüglich des „harten“ politischen Protektionismus vorzunehmen. So stellt diese Form des Protektionismus ganz allgemein eine Reaktion auf die zunehmende Globalisierung bzw. Internationalisierung der Weltwirtschaft dar, durch die ökonomische Prozesse aus den angestammten lokalen, regionalen oder nationalen Zusammenhängen herausgelöst und in globale Prozesse eingebettet worden sind. BENNO WERLEN (2008a:350) hat unter anderem diesen Sachverhalt mit dem Begriff der Entankerung umschrieben, wodurch er in metaphorischer Weise auf die verloren gegangene Dominanz (erd-)räumlich gekammerter wirt-

Wozu Metropolregionen?

201

schaftlicher Beziehungsmuster hingewiesen und hinsichtlich der Etablierung entgrenzter ökonomischer Aktivitäten sensibilisiert hat (vgl. GIDDENS 1995:33–43). Die damit korrespondierende Entstehung von weltumspannenden ökonomischen Netzwerken und so genannten „Netzwerkräumen“ (vgl. REDEPENNING 2008:328) findet ihren Ausdruck in der Entwicklung globaler Kapitalverflechtungen, weltweiter Waren- und Güterströme sowie grenzüberschreitender Wissens- und Technologietransfers (vgl. BATHELT & GLÜCKLER 2003:263ff.).81 Wenngleich weltumspannende ökonomische Netzwerke und Netzwerkräume also Teil der spätmodernen Realität geworden sind, haben sich mit Nordamerika, Japan und (West-)Europa auch drei Zentren der internationalen Ökonomie herausgebildet. Dabei nimmt das westliche Europa als eine ökonomisch hochgradig integrierte Weltregion mit ausgeprägtem Binnen- und Außenhandel eine besondere Stellung ein, die durch jahrzehntelang vorangetriebene Freihandelsabkommen der EU und der Welthandelsorganisation (WTO) überhaupt erst ermöglicht wurde. Für die europäische Politik verbindet sich damit der hohe Anspruch, derartige Handelsströme auch zukünftig zu garantieren sowie die dominante Stellung der EU im Geflecht der Weltwirtschaft kontinuierlich auszubauen. Als Orientierung dienen nicht zuletzt die am 23./24. März 2000 vom Europäischen Rat in Lissabon verabschiedeten Leitbilder zur Stärkung des europäischen Wirtschaftsraumes (Lissabon-Strategie), an die wachstums- und wettbewerbssichernde Maßnahmen gekoppelt sind und von denen sich die EU wohlstandsgenerierende Effekte verspricht (vgl. Abschnitt 9.1).

81

Zu den bekanntesten Vertretern der raumbezogenen Netzwerktheorie gehört der spanische Soziologe MANUEL CASTELLS, für den die politischen, ökonomischen und sozial-kulturellen Netzwerke und Netzwerkräume zu den zentralen Kennzeichen der globalisierten Moderne gehören. Dabei macht er zunächst darauf aufmerksam, dass spätmoderne Gesellschaften als „Netzwerkgesellschaften“ verstanden werden können, deren vielfältige soziale Beziehungen mittlerweile über räumliche Distanzen und politische Grenzen hinweg aggregiert sind. Infolge der Globalisierung sozialer Beziehungen bilden sich Kapital-, Informations-, Arbeits- und Warenströme aus, welche auch die Geographien der Globalisierung maßgeblich verändern können. So werden bestimmte Verbindungslinien, Knotenpunkte und Schaltstellen sozialer Beziehungen in gewisser Form „geerdet“, was nicht zuletzt zur Ausbildung eines hierarchisch konstituierten Netzwerkes von Global Cities geführt hat. Dabei verweist MANUEL CASTELLS mit Hilfe seiner viel zitierten Metapher des „Raumes der Ströme“ darauf, dass nicht mehr ganze Städte, sondern nur noch bestimmte Teile der Städte in die globalen politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Netzwerke eingebunden sind. Diese gehören dann zusammengenommen zum Raum der Ströme der Global City (vgl. SASSEN 2001), da hier Ideen, Produkte und Dienstleistungen bereitgestellt werden, die im Netzwerk gebraucht und verarbeitet werden. „For instance, financial networks – which is an easy example to understand – are made up of bits and pieces of different cities of the globe. The financial districts of New York, London and Tokyo are all part of the same city. They work symbiotically. They connect with each other but also with Frankfurt and Amsterdam and so on. And to a large extent even La Paz, Bolivia, is part of it. A little bit of La Paz is in that global city because that is how lots of money (they do some good trading) circulates in these global networks” (CASTELLS 2002:554).

202

Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

Zugleich zeigt sich jedoch, dass sich mit der Globalisierung nicht nur vage Hoffnungen auf gesellschaftlichen Wohlstand verbinden. Wie in Abbildung 43 exemplarisch dargestellt, verknüpfen sich hiermit auch zahlreiche Befürchtungen und Ängste hinsichtlich des Aufstrebens neuer Wirtschaftsmächte, des wirtschaftlichen Niedergangs infolge der industriellen Standortverlagerung, des damit korrespondierenden Abbaus von Arbeitsplätzen sowie des Abschieds von lieb gewonnenen wohlfahrts-staatlichen Einrichtungen (vgl. BATHELT & GLÜCKLER 2003:263ff.; KAUFMANN 1997, 2003; LESSENICH 2008). Derartige Bedrohungsszenarien veranlassen Politiker weltweit dazu, trotz Abbildung 43: Globalisierung als Risiko aller Liberalisierungsabsichten immer wieder Quelle: FOCUS 2010 zu protektionistischen Maßnahmen zu greifen. Diese Maßnahmen umfassen einen tarifären Bereich (import- und exportbezogene Schutzzölle) sowie einen nichttarifären Bereich, welcher sich auf Aspekte der Preisgestaltung (Abgaben, Exportsubventionen usw.), der Mengenregulierung (Importquoten, Kontingente) oder der administrativen Regulation (Verbote, Produktnormen) bezieht. Wenngleich diese handelsverzerrende Wirtschaftspolitik in den letzten Jahrzehnten ihre Dominanz verloren hat, so stellt sie auch unter der vom Freihandel geprägten politisch-ökonomischen Ordnung der Spätmoderne noch immer eine ernstzunehmende wirtschaftspolitische Maßnahme zum Schutz ganzer Weltregionen mitsamt ihren Währungssystemen sowie bestimmter Volkswirtschaften mitsamt ihren spezifischen Branchen oder einzelnen Produzenten dar. So gesehen scheinen die vergleichsweise „harten“ protektionistischen Maßnahmen also immer noch ein probates Mittel zu sein, mit dessen Hilfe negative soziale Folgekosten wie die Massenarbeitslosigkeit oder gar soziale Unruhen vermieden werden sollen. Sie sind auch auf der Ebene der EU beobachtbar, die beispielsweise ihren Agrarsektor durch massive Binnensubventionen und Handelsquoten vor vermeintlichen Billigimporten insbesondere aus den Schwellenländern schützen möchte. Obwohl derartige protektionistische Maßnahmen mit diskriminierenden Effekten einhergehen, können sie auch die Härte des Strukturwandels im Agrarsektor mildern und die Entwicklung junger Agrar- und Nahrungsmittelindustrien fördern („Infant Industry Protection“). In dieser Arbeit wird nun behauptet, dass neben den oben genannten protektionistischen Maßnahmen im tarifären und nicht-tarifären Bereich eine weitere und komplementär dazu stehende „weiche“ Schutzpolitik angewendet wird. Diese hier als „Quasi-Protektionismus“ bezeichnete Schutzpolitik bezieht sich jedoch auf das weite Feld kommunikativer Maßnahmen, mit deren Hilfe eine mentale Schutzstruktur gegenüber den Komplexitäts- und Orientierungszumutungen der

Wozu Metropolregionen?

203

Spätmoderne aufgebaut werden soll. So zielen die kommunikativen Maßnahmen des „Quasi-Protektionismus“ grundsätzlich darauf ab, den – mit der Globalisierung der Lebensbedingungen einhergehenden – Orientierungsbedürfnissen der Menschen entgegenzukommen. Hiervon erwarten die politischen Akteure vor allem einen Beitrag zur Erneuerung der bereits maßgeblich untergrabenen „Seinsgewissheiten“ („ontological security“; GIDDENS 1988:431) leisten und somit das Zutrauen in die unmittelbare Handlungsumwelt revitalisieren zu können.82 In Anlehnung an BENNO WERLEN (2008a:376) stehen die zum Aufbau einer mentalen Schutzstruktur dienlichen Maßnahmen somit exemplarisch für die allerorts zu beobachtenden Bestrebungen zur Wiederverankerung, denen in Zeiten der globalisierten Moderne eine besondere Notwendigkeit zugeschrieben wird (vgl. WEICHHART 1990; GIDDENS 1995; LÜBBE 1997). Im Zuge dessen werden die in entgrenzte globale Prozesse eingebetteten sozialen Sachverhalte ihrer Netzwerke und Netzwerkräume enthoben und in einer (erd-)räumlich gekammerten Weise neu zusammengeführt (vgl. WERLEN 2010b:321). Dabei kommen vor allem die bereits erörterten raumbezogenen Selbstbeschreibungen zum Einsatz, welche eine Vielzahl der sozialen Sachverhalte wieder an die unmittelbaren raumzeitlichen – sprich: lokalen, regionalen oder nationalen Gegebenheiten knüpfen. Im Ergebnis werden nicht selten komplexitätsreduzierende und orientierungsstiftende Mythen konstruiert, die aufgrund einer häufig eher subtilen Verwendungsweise ihren protektionistischen Charakter geschickt verschleiern können (Abbildung 44). Protektionismus

Quasi-Protektionismus

Kernmerkmal

Strategische Wirtschaftsbzw. Handelspolitik

Explizite, subtile oder verschleierte Beeinflussung der kognitiven Dispositionen

Maßnahmen

Handelshemmnisse: tarifär (Zölle) | nichttarifär (Subventionen, Quoten)

Konstatierende/appellierende Sprechakte („Gemeinsam sind wir stark!“)

Ziel

Umfassender/teilweiser Schutz der einheimischen Volkswirtschaft

Mobilisierung einer imaginierten räumlichen Gemeinschaft

Effekte

Verhinderung gesellschaftlicher (insbesondere sozialer) Erschütterungen

Generierung „ontologischer Sicherheiten“ und Wiederverankerung

Abbildung 44: Schutzpolitiken im Vergleich Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

82

Mit der Globalisierung haben sich nicht nur die politischen und ökonomischen, sondern auch die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen verändert. So tragen beispielsweise grenzüberschreitende Umweltkatastrophen (vgl. BECK 1986), kulturelle Homogenisierungstendenzen im Sinne der „McDonaldisierung“ (RITZER 1998) oder die Durchmischung ehemals lokal getrennter Kulturen auf engstem Raum (WERLEN 2008a:350) dazu bei, die Seinsgewissheit der Menschen und das Zutrauen in die unmittelbare Handlungsumwelt nachhaltig zu untergraben. Nach ANTHONY GIDDENS begründet sich hieraus das Streben der Menschen nach „ontologischer Sicherheit“. „Der Ausdruck der ‚ontologischen Sicherheit‘ bezieht sich auf das Zutrauen der meisten Menschen zur Kontinuität ihrer Selbstidentität und zur Konstanz der sie umgebenden sozialen wie materiellen Handlungsumwelt“ (GIDDENS 1995:118).

204

Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

Überträgt man die bisherigen Ausführungen auf den hier verfolgten Sachverhalt der Metropolregionen in Deutschland, so ist deren alltägliche Konstitution und Revitalisierung natürlich kein Kennzeichen einer „harten“ protektionistischen Wirtschaftspolitik. Im Gegenteil: Das Konzept der Metropolregionen erscheint als ein idealtypischer (raumordungspolitisch initiierter) Versuch, insbesondere die regional ansässigen Unternehmen in die weltumspannenden Netzwerke einzugliedern und zu einem bedeutenden Teil der wirtschaftlichen Netzwerkräume – oder um im Bild zu bleiben: der „spaces of flows“ (CASTELLS 1999) zu machen. Interessanterweise können in der metropolregionalen Praxis aber auch Maßnahmen beobachtet werden, denen nach der oben entwickelten Argumentation ein quasi-protektionistischer Charakter innewohnt. Sie beziehen sich auf all jene kommunikativen Maßnahmen der metropolregionalen Protagonisten, mit deren Hilfe eine neue territoriale Klammer zum Zwecke einer gemeinsamen Handlungsorientierung und zur Verbesserung der „regionalen Schlagkraft“ hergestellt werden soll. Mit anderen Worten: In der metropolregionalen Praxis wird der von komplexen und unübersichtlichen Netzwerklogiken geprägten sozialen Welt mit kommunikativen Maßnahmen begegnet, welche die globalisierten sozialen Sachverhalte über eine neuerliche (erd-)räumliche Anbindung zu restrukturieren versuchen. Dabei werden die spezifischen sozialen Sachverhalte mit einer „Territoriallogik“ (WERLEN 2010b:321) versehen und an die vermeintlichen Grenzen der jeweiligen Metropolregionen gebunden. Im Zuge dessen wird das abstrakte und häufig variabel konzipierte raumordnungspolitische Konzept der Metropolregionen je nach Handlungszusammenhang und Personenkontext mit einem territorial gerahmten „semantischen Hof“ aufgeladen und eine einheitsstiftende Erzählung über die metropolregionale Wirklichkeit geschaffen (vgl. Abschnitt 9.3 zu den verschiedenen Sinndimensionen metropolregionaler Selbstbeschreibungen). Folgt man der Sozialgeographin ANTJE SCHLOTTMANN (2005; vgl. SCHLOTTMANN ET AL. 2007; FELGENHAUER 2007; FEDERWISCH 2008a:45ff.), dann werden diese Erzählungen durch häufig unbewusst kommunizierte sprachliche Mittel wie indexikalische Ausdrücke, Toponyme oder Metaphern gefördert, welche in unsere Sprache eingeflochten sind.83

83

Ein Beispiel zur mitteldeutschen Selbstbeschreibung betreffend „Lage“ und „Kultur“: „Die Metropolregion Mitteldeutschland [Toponym] liegt mitten im Herzen Europas [Metapher] und vereint elf Städte in den mitteldeutschen Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. […] Eingebettet zwischen den Gebirgszügen des Harz im Westen, dem Thüringer Wald im Südwesten, dem Erzgebirge im Süden, der Lausitz im Osten und der Magdeburger Börde im Norden vereint die Metropolregion Mitteldeutschland [Toponym] eine Vielzahl abwechslungsreicher Naturlandschaften […] Mitteldeutschland [Toponym] ist seit mehr als 3.000 Jahren ein Ort der Hochkultur. […] Von hier [indexikalischer Ausdruck] aus begann ab 1517 mit MARTIN LUTHERS Schriften und Predigten der weltweite Siegeszug der Reformation. […] Eine besondere Beziehung hat die Region [indexikalischer Ausdruck] zur Musik. Mit JOHANN SEBASTIAN BACH, GEORG FRIEDRICH HÄNDEL, GEORG PHILIPP TELEMANN, HEINRICH SCHÜTZ, RICHARD WAGNER und KURT WEILL lebte und wirkte hier [indexikalischer Ausdruck] gleich eine ganze Reihe genialer Musiker und Komponisten“ (EMR MDD 2010d).

Wozu Metropolregionen?

205

Entscheidend ist nun, dass diese erdräumlich gekammerten Sinngehalte eine handlungsleitende Funktion besitzen und somit maßgeblich die gesellschaftlichen Entwicklungen im Inneren der jeweiligen Metropolregionen beeinflussen können. Die metropolregionalen Selbstbeschreibungen und Erzählungen beleben den Wunsch nach einer verstärkten Binnenverflechtung und ziehen entsprechende politische Maßnahmen zur Förderung spezifisch metropolregionaler Politik-, Wirtschafts- oder Kulturstrukturen nach sich. Dabei verfahren gerade die metropolregionalen Protagonisten nach dem Motto „Unsere Metropolregion zuerst!“ und versuchen zunächst die eigenen Netzwerke und Cluster aus den Bereichen der Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zum Zwecke binnenorientierter Fertigungspfade und/oder Wissenstransfers etc. zu protegieren. Ziel ist es, erst einmal die eigenen Unternehmen zu fördern, die eigenen Marken zu positionieren, das eigene Arbeitskräftepotenzial auszuschöpfen, die eigene Kaufkraft zu erhöhen, den eigenen Lebensstandard zu wahren – kurz: den eigenen Wohlstand zu sichern und zu steigern.84 Darüber hinaus kann argumentiert werden, dass die kommunikativen Maßnahmen zum Auf- und Ausbau einer mentalen Schutzstruktur auch einen wichtigen Beitrag zur Vorstellung von einer starken bzw. erstarkenden Metropolregion leisten können. Dies begründet sich in erster Linie damit, dass die nunmehr symbolisch und emotional aufgeladenen Metropolregionen die identitätsstiftenden Aspekte für eine nach innen gerichtete Solidarität bereithalten (vgl. FEDERWISCH 2008a, b, 2009a, b, vgl. WEICHHART 1990). So können Metropolregionen durchaus ein Gefühl von „Gemeinsam sind wir stark!“ vermitteln, welches von den metropolregionalen Entscheidungs- und Meinungsträgern für „gebündelte Kraftanstrengungen“ zur Bewältigung spätmoderner Existenzbedingungen genutzt werden kann. Es versteht sich von selbst, dass eine solche kollektive Mobilisierung auch den politischen Bestrebungen nach Selbstbestimmung Nachdruck verleihen kann, welche die Protagonisten nicht nur gegenüber den funktionalen Akteuren und der metropolregionalen Bevölkerung, sondern vor allem bezüglich der anderen Steuerungsebenen des vertikalen Staatsaufbaus rechtfertigen müssen (vgl. Abschnitt 2.3). Damit ist das Stichwort für die nachfolgenden Ausführungen gegeben, die sich unter anderem dem Verhältnis zwischen den neuartigen deutschen Metropolregionen und den tradierten Steuerungsebenen des vertikalen Staatsaufbaus widmen. Dabei wird von der Frage ausgegangen, auf welche Weise die Metropolregionen in Deutschland in das bereits bestehende Ensemble der „Geographien der Politik“ eingeordnet werden können und auf welche Restriktionen, Persistenzen oder Behinderungen die Protagonisten im Konstitutionsprozess stoßen. Im Zuge dessen wird gezeigt, dass Metropolregionen keine Gebietskörperschaften im 84

Ein Beispiel hierfür entstammt der Metropolregion Rhein-Neckar, deren operative Ebene sich im Verlaufe der letzten Jahre einmal für ein außerhalb der Metropolregion angesiedeltes Druckhaus zur Herstellung einer Imagebroschüre entschieden hatte. Der daraufhin seitens einiger Mitglieder einsetzende Sturm der Entrüstung führte schließlich dazu, dass derartige Aufträge nunmehr innerhalb der Metropolregion Rhein-Neckar abgewickelt werden sollen (IP V/01).

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Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

vertikalen Staatsaufbau repräsentieren, sondern in einem „Regulierungsvakuum“ oberhalb der einzelnen Kommunen und Landkreise sowie unterhalb der Bundesund Länderebene konstruiert werden. Von ihnen versprechen sich die metropolregionalen Protagonisten zwar eine Beschleunigung der politischen Meinungsund Entscheidungsfindungsprozesse, die allerdings mit einer Degenerierung der Regionalpolitik einhergeht und in einem so genannten „Rasenden Stillstand“ (ROSA 2005) münden kann.

10 Metropolregionen zwischen Beschleunigung und Erstarrung

Mit dem Konzept der Metropolregionen hat die bundesdeutsche Raumordnung ein bedeutsames Instrument geschaffen, mit dem die verstädterten Regionen auf die Herausforderungen der globalisierten Moderne vorbereitet und ihre Ausgangsposition im internationalen Wettbewerb verbessert werden sollen. Dem liegt die Ansicht zugrunde, dass mit einer metropolregionalen Klammer der gesellschaftlichen Ordnung gerade dort die Rahmenbedingungen für Wettbewerb, Wachstum und Innovation geschaffen werden sollen, wo die Voraussetzungen dafür am ehesten vorhanden sind und wo sie am aussichtsreichsten gestaltet werden können. Die damit einhergehende Förderung einer metropolregionalen Steuerungsebene soll dabei helfen, auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen schneller und flexibler reagieren zu können (vgl. Abschnitt 1.4). Davon erhoffen sich die Protagonisten der Metropolregionen nicht zuletzt eine geeignete Antwort auf die zunehmende „Desynchronisation“ (ROSA 2005:403) zwischen den bereits etablierten und weitgehend beschleunigungsresistenten Formen der Regionalpolitik einerseits und den hochgradig beschleunigten sozialen Sphären wie der Wirtschaft andererseits. Akzeptiert man die Behauptung, wonach die metropolregionalen Steuerungsgremien schneller und flexibler auf die Herausforderungen der Spätmoderne reagieren können, so erhält man eine weitere Antwort auf die Frage, weshalb und wozu auch die schlecht operierenden Metropolregionen revitalisiert werden sollen. Ziel der nachstehenden Ausführungen ist es, diesen Zusammenhang kritisch zu diskutieren und die aus der Beschleunigungsoffensive resultierende Paradoxie des so genannten „Rasenden Stillstandes“ (ROSA 2005) zu erörtern. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst eine Auseinandersetzung mit dem bereits bestehenden Geflecht der „Geographien der Politik“, in deren Rahmen eine metropolregionale Governance etabliert werden soll. Dabei wird gezeigt, dass nicht nur die „harten“ Steuerungsebenen des vertikalen Staatsaufbaus, sondern auch die vergleichsweise „weichen“ raumbezogenen Identitäten den metropolregionalen Konstruktionsprozess erschweren können (Abschnitt 10.1). Im Anschluss daran wird danach gefragt, weshalb die Metropolregionen trotz aller problematischen Verstrickungen im bestehenden Ensemble der „Geographien der Politik“ weiterhin protegiert werden sollen. Im Zuge dessen wird aus soziologischer Sicht dargestellt, dass die Etablierung einer metropolregionalen Governance als eine Art zeitbezogene „Coping-Strategie“ (REDEPENNING 2006) zu verstehen ist, von der man sich eine Be-

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Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

schleunigung der politischen Meinungs- und Entscheidungsfindungsprozesse verspricht (Abschnitt 10.2). In einem dritten Schritt wird argumentiert, dass ein derartiger Beschleunigungsversuch nur auf einem relativ niedrigen Gestaltungsniveau wie dem metropolregionalen Marketing möglich ist. Nach der hier vertretenen Ansicht hat der Beschleunigungsversuch somit eine Rückverlegung des politischen Gestaltungsniveaus zur Folge, die hier mit der „Degenerierung der Regionalpolitik“ bezeichnet werden soll (Abschnitt 10.3). Daran anknüpfend wird gezeigt, dass die Etablierung einer metropolregionalen Steuerungsebene das Phänomen des „Rasenden Stillstandes“ (ROSA 2005) fördert. Dieser ist von der paradoxen Erfahrung geprägt, dass auch in der metropolregionalen Politik nichts bleibt, wie es ist, ohne dass sich etwas Wesentliches verändert hat (Abschnitt 10.4).

10.1 Metropolregionen im Geflecht der „Geographien der Politik“ In Auseinandersetzung mit der zweiten Paradoxie der (mittel-)deutschen Metropolisierungseuphorie stellt sich zunächst die Frage, auf welche Weise sich die deutschen Metropolregionen in das bereits bestehende Ensemble der „Geographien der Politik“ einordnen lassen. Es stellt sich zudem die Frage, auf welche Restriktionen, Persistenzen oder Behinderungen ihre Protagonisten im Konstruktionsprozess stoßen und wie sie darauf reagieren können. Diese Fragen begründen sich zum einen damit, dass die Metropolregionen nicht in einem völlig unstrukturierten Bereich, sondern in politisch-administrativ vorstrukturierten Zusammenhängen – konkret: im Rahmen der „harten“ föderativen Struktur der Bundesrepublik Deutschland konstruiert werden.85 Zum Zweiten treffen die Protagonisten der Metropolregionen auch auf bestehende raumbezogene Identitäten, die als vergleichsweise „weiche“ Strukturen ebenfalls den metropolregionalen Konstruktionsprozess erschwerend beeinflussen können. Mit Blick auf das Beispiel der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main (Abbildung 45) wird veranschaulicht, dass die deutschen Metropolregionen in einem bereits etablierten Geflecht politisch-administrativer Geographien konstruiert werden. Dabei zeigt sich an diesem Beispiel besonders deutlich, dass die Metropolregionen häufig über die einzelnen Kommunen, Landkreise, Regierungsbezirke, Verbände und Bundesländer hinweg entworfen werden. Interessanterweise können sie aufgrund ihrer variablen Auslegung (vgl. Abschnitt 2.3) einen bislang verhältnismäßig wenig regulierten Bereich für sich ausnutzen, sodass landesweit zahlreiche Organisations- und Steuerungsansätze erprobt und verschiedene met85

Dieses Bewusstsein ist auch bei den Akteuren der Metropolregion Mitteldeutschland beobachtbar. „Metropolregionen stoßen natürlich an geographische Grenzen. Ich meine: Die Bundesrepublik ist im Moment nun mal in sechzehn Bundesländer unterteilt und wir haben darunter Landkreise, in einigen Ländern gibt es eben noch Regierungsbezirke. Das heißt: Wir haben ja gewachsene Strukturen über Jahre hinweg. Nun heißt das nicht, dass diese Strukturen immer manifestiert werden müssen und auf Dauer bestehen müssen, denn es gibt ja logischerweise Veränderungen. Manchmal in der Geographie, manchmal auch in der Verwaltung“ (leicht verändert nach IP II/02:230–237).

Metropolregionen zwischen Beschleunigung und Erstarrung

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ropolregionale Entwicklungsprogramme initiiert werden konnten. Dabei haben sich auch kommunal und regional agierende Politiker, Unternehmer, Verbandsvorsitzende und/oder Wissenschaftler als metropolregionale GovernanceEliten etablieren und die Handlungen von Akteuren auf den tradierten politischen Steuerungsebenen zuweilen maßgeblich beeinflussen können (beispielsweise der ehemalige stellvertretende Vorstandsvorsitzende der BASF SE, EGGERT VOSCHERAU, für die Metropolregion Rhein-Neckar). Angesichts dieser Entwicklungen sollte jedoch nicht geschlussfolgert werden, dass die föderativen Steuerungsebenen nunmehr in ihrer Funktion untergraben worden sind. Im Gegenteil: Trotz der landesweiten Konstruktion von Metropolregionen mitsamt ihren Steuerungsmodalitäten haben die tradierten und demokratisch legitimierten Gremien der nationalMetropolregion staatlichen Ordnung ihre angeRegierungsbezirk Darmstadt stammten autoritativen RessourRegionalverband cen beibehalten. So besitzen die Abbildung 45: EMR Frankfurt/Rhein-Main | Quelle: Vertreter der etablierten „Geoverändert nach RV FrankfurtRheinMain 2011 graphien der Politik“ nach wie vor ein recht breites Spektrum an hoheitlichen Rechten und Aufgaben, die zu großen Teilen im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sowie im deutschen Raumordnungsgesetz festgeschrieben sind. Daran ändert auch die raumordnungspolitische Verankerung der Metropolregionen nichts (vgl. Abschnitt 2.1), da hierüber keine neue Verwaltungsebene mit den entsprechenden hoheitlichen Befugnissen eingeführt worden ist (vgl. SINZ 2005). Ebenso wenig sollte aus der konzeptionellen Einführung und alltäglichen Praxis der Metropolregionen geschlossen werden, dass die Vertreter der bestehenden Steuerungsebenen des föderativen Staatsaufbaus ihren Anspruch auf die Erhebung allokativer Ressourcen eingeschränkt hätten. Auch hier zeigt sich, dass nicht die deutschen Metropolregionen und ihre organisatorischen Kerne, sondern die bereits etablierten „Geographien der Politik“ über das Recht und die Kompetenzen der Steuer-, Abgaben- und Gebührenerhebung verfügen. In der Folge sind die Metropolregionen nicht selten an die beschränkten Mittel gebunden, die ihnen von den zuständigen Stellen der Bundesländer und Kommunen zugewiesen werden (vgl. Abschnitt 9.2 zur finanziellen Ausstattung der Metropolregion Mitteldeutschland). Dabei stellen das System der Gemeindeumlage oder die speziell eingerichteten Regionalfonds zwar interessante Finanzierungsmodelle zur Steigerung der finanziellen Basis dar, können aber die grundsätzliche finanzielle Abhängigkeit der Metropolregionen nicht verhindern.

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Vor diesem Hintergrund sollte es nicht verwundern, dass die Protagonisten der Metropolregionen ein großes Interesse an der Integration von weiteren demokratisch legitimierten Akteuren des politisch-administrativen Systems besitzen. Zu diesem Zweck wird landesweit um die Mitgliedschaft von Akteuren aus den einzelnen Gebietskörperschaften und Verbänden geworben, die als Teil des organisatorischen Kerns die autoritativen Ressourcen der Metropolregionen untermauern sollen (vgl. Abschnitt 1.4 zur regionalen Governance). Dabei erfahren die in Personalunion oder Personalentsendung gebildeten metropolregionalen Steuerungsgremien aber nicht selten eine problematische Verflechtung mit dem bestehenden Ensemble der „Geographien der Politik“, von dem ganz unterschiedliche Steuerungsimpulse ausgehen können. Hierdurch kann es immer wieder zu Kompetenzund Loyalitätskonflikten sowie Blockadesituationen kommen, die nach ARTHUR BENZ (2003) Ausdruck einer so genannten „Politikverflechtungsfalle“ sind (vgl. SCHARPF 1985). Ein solcher Fall ist in unserem Beispiel der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland beobachtbar, von deren Erweiterung nicht zuletzt ein politisches Signal der Selbstbestimmung in Richtung des Bundes, der Bundesländer und Kommunen ausgehen sollte. Wenngleich der Erfolg dieser Erweiterungsmaßnahme aus heutiger Sicht nicht unbedingt angezweifelt werden muss, so wurden im Zuge der Erweiterung aber auch die einzelnen organisatorischen Einheiten (Gemeinsamer Ausschuss, Lenkungskreis, Arbeitsgruppen; vgl. Abschnitt 7.4) weit für neue Mitglieder aus der Politik und Verwaltung geöffnet. Hieraus ergibt sich das Problem, dass das Spektrum an Akteuren, Interessen und Handlungszielen nunmehr unübersichtlicher geworden ist und sich die Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse deutlich komplizierter gestalten. Dieses Problem wird dahingehend verstärkt, dass sich die Steuerungsgremien der beteiligten Gebietskörperschaften im permanenten Fluss befinden und aufgrund demokratischer Wahlen immer wieder neue Akteure mit neuen Interessen, Handlungszielen und Loyalitäten (Parteizugehörigkeit etc.) zu integrieren sind (vgl. IP I/04). Etwas anders gelagerte Probleme sind dann zu erwarten, wenn die Protagonisten der Metropolregionen über die Einbeziehung der Wirtschaft ihre allokativen Ressourcen erweitern und somit die einseitige Abhängigkeit von den traditionellen (öffentlichen) Geldgebern überwinden wollen. Zu diesem Zweck wird häufig um die Beteiligung von (mittel-)großen Unternehmen geworben, welche mit ihren signifikanten Beiträgen ohne jeden Zweifel die metropolregionalen Entwicklungsprogramme maßgeblich finanzieren können. Lassen sich die politischen Entscheidungsträger allerdings auf derartige Finanzierungsmodalitäten ein, dann kann die struktur- und wirtschaftspolitische Entwicklung der Metropolregionen wiederum in neue Abhängigkeiten geraten. So warnt ARTHUR BENZ (2004) eindringlich davor, dass gerade der Einfluss strukturbestimmender Unternehmen auf die regionalpolitischen Entscheidungen zur einseitigen Bevorzugung wirtschaftlicher Präferenzen und zur Vernachlässigung öffentlicher Belange führen kann. Dieser Effekt zeigt sich beispielsweise im Fall der als „Modellregion“ (SCHMITZ 2005; MANDEL 2006, 2008) bezeichneten Metropolregion Rhein-Neckar, die schon vor ihrer Ernennung im Jahre 2005 durch ein einseitiges Abhängig-

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keitsverhältnis von der BASF SE gekennzeichnet war. So wurde bereits die Initiative „Zukunft Rhein-Neckar-Dreieck“ sowohl in personeller (Personalentsendung) als auch in operativer Hinsicht (Räumlichkeiten, Ausstattung, Projektfinanzierung) weitgehend vom Ludwigshafener Großkonzern getragen. Dabei steigerte sich der Einfluss der BASF SE und ihres charismatischen Vorstandsmitglieds EGGERT VOSCHERAU über die Jahre so weit, dass sie den Gesamtprozess der (metropol-)regionalen Entwicklung entscheidend zu beeinflussen vermochte. Allein die Androhung, sich aus der gemeinschaftlichen Entwicklung der (Metropol-) Region zurückzuziehen, reichte aus, um andere Akteure aus der Politik, Verwaltung, Verbänden, Wirtschaft und Wissenschaft wieder auf eine gemeinsame Linie – oder besser: die Linie der BASF SE einzustellen (vgl. FEDERWISCH 2008a). Zwischenfazit: In Anbetracht dieser Entwicklungstendenzen kann zunächst festgehalten werden, dass die Akteure der bereits etablierten „Geographien der Politik“ zwar Spielräume für die Erprobung neuartiger Organisations- und Steuerungsansätze sowie metropolregionale Entwicklungsprogramme lassen. Allerdings erweisen sie sich dahingehend als restriktiv, dass die Ressourcenverteilung ein eindeutiges Mismatch zwischen den etablierten politisch-administrativen Geographien und den Metropolregionen erkennen lässt. Aus diesem Grund scheint es problematisch, die metropolregionalen Gremien mit Aufgaben der Regionalentwicklung zu betrauen, wenn weder die entsprechenden autoritativen noch die allokativen Ressourcen bereitgestellt werden. Insofern sollte es auch kaum verwundern, dass die grundsätzlich gut gedachte Idee der Bundesraumordnung, mit möglichst wenigen gesetzgeberischen Maßnahmen sowie finanziellen und personellen Mitteln metropolregionale Entwicklungen anzuregen, in der politischen Alltagspraxis an ihre Grenzen stoßen muss. Somit stehen auch fünfzehn Jahre nach Einführung des Konzeptes zahlreiche metropolregionale Kooperationen unter keinem glücklichen Stern. Einige von ihnen laufen Gefahr, von einem GovernanceFailure ergriffen zu werden und sich das Scheitern der regionalen Kooperation eingestehen zu müssen (vgl. Abschnitt 2.4). Da damit nicht nur die Preisgabe der bisher erlangten Steuerungspotenziale, sondern vor allem auch ein politischer Glaubwürdigkeitsverlust einhergeht, versuchen die Protagonisten der Metropolregionen, die Vor-Ort-Akteure aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Bürgerschaft auf mentaler Ebene für das Konzept zu gewinnen – kurz: eine metropolregionale Öffentlichkeit herzustellen. Dabei werden nicht nur der Globalisierungs- und Metropolendiskurs bemüht und die bekannte Drohkulisse von der industriellen Standortverlagerung, dem Abbau von Arbeitsplätzen und dem Verlust von Lebensqualität aufgebaut. Vielmehr werden auch metropolregionale Selbstbeschreibungen erarbeitet (vgl. Abschnitte 2.4 und 9.3) und als Identifikationsangebote zum Zwecke der Integration in eine imaginierte Gemeinschaft kommuniziert (FEDERWISCH 2008a). Im Zuge dessen lässt sich allerdings ein weiteres Problem beobachten, das mit dem Aufeinandertreffen zueinander inkompatibler Selbstbeschreibungen zusammenhängt. Mit anderen Worten: Diesmal treffen die Protagonisten der Metropolregionen auf einen mental vorstrukturierten Bereich und müssen sich mit ihren Selbstbeschreibungen gegenüber konkurrierenden raumbezogenen Identitäten

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Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

behaupten. Dabei bezieht sich dieser Befund nicht einmal so sehr auf die tradierten Identitäten, wie beispielsweise den „Rheinländler“ in der Metropolregion Rhein-Ruhr, den „Pfälzer“ in der Metropolregion Rhein-Neckar oder den „Vogtländer“ in der Metropolregion Mitteldeutschland. Vielmehr besteht das Problem darin, dass sich die metropolregionalen Selbstbeschreibungen gegenüber den bereits etablierten „strategischen Raumbildern“ (REUBER 1999; vgl. IPSEN 1997) und „raumbezogenen Leitbildern“ (FEDERWISCH 2009b) der einzelnen Bundesländer (Abbildung 46), der kommunalen und regionalen Wirtschaftsförderung, den Regionalen Entwicklungskonzepten sowie diversen Städtenetzen behaupten müssen. Konkret: Wie empirische Studien zu den Metropolregionen Rhein-Ruhr (SCHMITT 2006, 2007), Rhein-Neckar (PATSCH 2007) und Mitteldeutschland (FEDERWISCH 2009b) zeigen, sperren sich nicht wenige Akteure aus den Bereichen der Politik, der Wirtschaft und der Medien hinsichtlich der Einführung metropolregionaler Selbstbeschreibungen. Sie begründen ihre zum Teil skeptische und ablehnende Haltung vor allem damit, dass die Abbildung 46: Imagekampagne Thüringens Mehrzahl der metropolregionalen Quelle: Freistaat Thüringen Selbstbeschreibungen einen technokratischen Charakter aufweist und als so genannte „Kopfgeburten“ ohnehin keinen Rückhalt bei der Bevölkerung finden würde. Darüber hinaus befürchten nicht wenige Akteure, dass ihre eigenen Bemühungen im Bereich des Regionsmarketings untergraben und durch die „Bildversprechen“ (PETRIN & KNIELING 2009) der jeweiligen Metropolregionen konterkariert werden. In der Folge lässt sich auch auf dieser vergleichsweise „weichen“ Ebene ein spannungsreiches Interaktionsgeschehen beobachten, welches die Etablierung der Metropolregionen sichtlich erschwert. Insofern beantwortet nicht nur das Mismatch von steuerungsrelevanten autoritativen und allokativen Ressourcen die Frage, warum sich die deutschen Metropolregionen so schwer in das bereits bestehende Ensemble der „Geographien der Politik“ einordnen lassen. Vielmehr erweisen sich auch die mentalen Zugehörigkeiten und marketingstrategisch kommunizierten Images als ausgesprochen restriktiv hinsichtlich der Metropolisierung von Städten und Stadtregionen. Will man nun verstehen, weshalb die Metropolregionen trotz dieser Restriktionen, Persistenzen und Behinderungen weiterhin protegiert werden, so bedarf es einer Auseinandersetzung mit der vermeintlichen „Zeitkrise des Politischen“ (vgl. Abschnitt 4.4). So wird im Folgenden aus einer soziologischen Perspektive dargestellt, dass sich die Regionalpolitik im Vergleich zu anderen sozialen Sphären zeitlich entkoppelt hat und nun mit Hilfe der metropolregionalen Governance resynchronisiert werden soll.

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10.2 Metropolregionen als zeitbezogene „Coping-Strategie“ Wie sehr sich die Politik (und mit ihr die Steuerungsebenen des vertikalen Staatsaufbaus) in einer vermeintlichen „Zeitkrise“ befindet, kann der Soziologe HARTMUT ROSA (2005:402ff.) im Rahmen seiner Gesellschaftsdiagnose „Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ verdeutlichen (vgl. Abschnitt 4.4).86 In seiner Arbeit gelingt es ihm überzeugend darzustellen, dass sich die Zeitstrukturen der demokratisch verfassten Politik mittlerweile weit von den Zeitstrukturen anderer sozialer Sphären wie der Wirtschaft oder der Technik entfernt haben. So scheint die Politik – gerade wenn man die seit einigen Jahren wieder intensiver geführte Debatte zur Föderalismusreform betrachtet – mit ihren tradierten Verfahren der Meinungs- und Entscheidungsfindung sowie der Konflikt- und Problembewältigung etc. vergleichsweise langsam zu operieren, wohingegen sich andere gesellschaftliche Sphären aufgrund technischer Innovationen und ökonomischer Zirkulation mal kontinuierlich, mal sprunghaft beschleunigen konnten. In der Folge beobachtet HARTMUT ROSA eine zunehmende Desynchronisation zwischen der „Eigenzeit“ der demokratisch verfassten Politik und den Zeitstrukturen anderer Sphären, welche nicht unwesentlich zu der strukturellen Entkopplung der gesellschaftlichen Teilsysteme beigetragen hat. Mehr noch: Der demokratisch verfassten Politik scheint nicht nur eine gewisse Beschleunigungsresistenz oder -unfähigkeit, sondern sogar eine Verlangsamungstendenz inne zu wohnen (Abbildung 47). Folgt man HARTMUT ROSA (2005:411ff.), so hat dies zum einen mit dem sich kontinuierlich erhöhenden Planungs- und Informationsaufwand zu tun, den die Politik zur Bewältigung komplexer gesellschaftlicher Sachverhalte betreiben muss (vgl. Abschnitt 9.1 zur Komplexitätssteigerung spätmoderner Gesellschaften). Das Problem der Verlangsamung politischer Entscheidungen wird zusätzlich verschärft, da sich immer häufiger selbst einstige Gewissheiten über soziale Rahmenbedingungen in Ungewissheiten verkehren (Steigerung der Anzahl von Kontingenzen) und somit den Zeitaufwand für das Fällen einer rationalen Entscheidung erhöhen. Nicht zuletzt – und dies scheint für HARTMUT ROSA der gravierendste Befund zu sein – wird es auch aufgrund der zunehmenden Komplexität der kulturellen und sozialstruktu86

Zum notwendigen Grundverständnis: Im Zentrum der soziologischen Gesellschaftsdiagnose von HARTMUT ROSA (2005) steht eine systematische, aber auch hochkomplexe und hier nicht im Detail zu verfolgende Analyse der Veränderungen moderner Zeitstrukturen. Seine Studien gehen von der paradoxen Beobachtung aus, dass wir keine Zeit mehr besitzen, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen. Um diese Paradoxie zu erklären und ihrer „geheimen Logik“ nachzugehen, widmet sich HARTMUT ROSA dem Phänomen der sozialen Beschleunigung und analysiert dessen Ursachen, Erscheinungsformen, Wirkungsweisen und Konsequenzen. Dabei identifiziert er eine zirkulär und sich selbst antreibende Trias bestehend aus a) der Beschleunigung der technischen Expertensysteme (beispielsweise im Bereich der Telekommunikation oder des Transportwesens), b) der Beschleunigung des sozialen Wandels (beispielsweise hinsichtlich unserer Berufs-, Partei- oder Intimpartnerpräferenzen) sowie c) der Beschleunigung des individuellen Lebenstempos (beispielsweise in Gestalt des Multitasking oder Speeddating), welche fundamentale Auswirkungen auf unsere spätmodernen Identitäten besitzt und zu „Identitätskrisen“ führen kann.

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rellen Entwicklungen immer schwieriger (und daher immer zeitaufwändiger), eine demokratische und mehrheitsfähige Entscheidung herbeizuführen. „Denn je geringer der voraussetzbare Wertekonsens einer Gesellschaft ist und je weniger traditionalistisch oder konventionalistisch die Begründungs- und Legitimationsprinzipien der politischen Auseinandersetzung werden, umso schwieriger wird es, eine Übereinkunft zu finden bzw. einen zustimmungsfähigen politischen Willen zu formen“ (ROSA 2005:412).

Angesichts der sozialen Beschleunigung und der mit ihr einhergehenden „Zeitkrise des Politischen“ schlussfolgert der Soziologe, dass sich die Rolle der demokratisch verfassten Politik in der Gesellschaft maßgeblich verändert hat. „Weil […] die Eigenzeit des Politischen weitgehend beschleunigungsresistent bzw. -unfähig ist, hat die Politik […] gegen Ende des 20. Jahrhundert ihre in der klassischen Moderne unangefochtene Stellung des sozialen Schrittmachers (die nun von der Wirtschaft okkupiert scheint) verloren“ (ROSA 2005:407).

Wenngleich damit der steuernde Staat mit all seinen Steuerungsgremien nicht außer Kraft gesetzt wurde (vgl. Abschnitt 10.1 zum Verbleib allokativer und autoritativer Ressourcen in der Hand des Staates), so ist er doch in seiner zentralen Gestaltungsfunktion maßgeblich dezentralisiert worden. Darauf weist auch die GovernanceForschung hin, die den Staat nicht mehr im Zentrum der politischen Steuerung gesellschaftlicher Verhältnisse sieht, sondern neben der Wirtschaft, den Verbänden oder Medien etc. als Primus inter Pares versteht (vgl. Abschnitte 1.2 und 3.1). Für den hier verfolgten Zusammenhang ist nun entscheidend, dass die politischen Akteure nach Mitteln und Wegen suchen, um die „Zeitkrise des Politischen“ – welche die Interaktionen maßgeblich beeinflussen sowie das Steuerungsgeschehen entscheidend affektieren kann – zu überwinden oder zumindest abzuschwächen. Dies begründet sich nach HARTMUT ROSA damit, dass die demokratisch verfasste Politik allen Tendenzen der Desynchronisation zum Trotz ihre traditionelle Rolle als gestaltender Akteur und aktiver Mitspieler nicht aufgeben und somit die Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung weiterhin kontrollieren möchte. Diesem Steuerungsanspruch folgend, greift die Politik auf drei zentrale Strategien der Resynchronisation zurück, die bereits in den theoretischen Ausführungen im Abschnitt 4.4 dargestellt worden sind (Abbildung 47). Sie beziehen sich in erster Linie auf a) den politischen Eingriff in die Entwicklungsautonomie anderer sozialer Sphären zum Zwecke deren Entschleunigung („Zwangsentschleunigung“; ROSA 2005:409), b), die Minimierung der politischen Regulierungsbereiche zur Begünstigung der intersystemischen Selbstregulierung („Verschlankung“; ROSA 2005:409–410) sowie c) die Anpassung an das beschleunigte Innovationstempo in anderen sozialen Sphären wie der Wirtschaft („Beschleunigung“; ROSA 2005:410). Empirisch lassen sich derartige Bestrebungen zur Resynchronisation in vielerlei Hinsicht belegen, wobei die politischen Akteure stets von der Überzeugung geleitet sind, dass für die Steuerung komplexer gesellschaftlicher Sachverhalte schlichtweg nicht mehr genügend Zeitressourcen zur Verfügung stehen (ROSA 2005:407ff.). So sind politische Maßnahmen im Sinne der „Zwangsentschleuni-

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gung“ vor allem im kontrovers diskutierten Bereich der Stammzellen- und Klonforschung sowie auf dem datenschutzrechtlich sensiblen Gebiet des Informationstransfers beobachtbar, wo politische Verbote oder Beschränkungen die wissenschaftlichen und ökonomischen Aktivitäten maßgeblich ausbremsen können. Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche empirische Belege für die politische Strategie der „Verschlankung“, wobei an dieser Stelle nur an die neuerliche Initiative der Bayrischen Staatsregierung zur Streichung politischer und angeblich wirtschaftsfeindlicher Regulierungen erinnert werden soll. Nicht zuletzt zeichnet sich die Politik zur Erhöhung des Innovationstempos durch diverse Beschleunigungsinitiativen aus, wie sie beispielsweise vom Schweizer Parlament im Jahre 2000 zur Beseitigung schleppender plebiszitärer Entscheidungsverfahren durchgeführt worden sind (vgl. ROSA 2005:403, 409).87

Verkürzung des Zeithorizonts / Verknappung der Zeitressourcen Zeitraum für Entscheidungen schrumpft (Geschwindigkeit technischer/sozialer Innovationen steigt) Zahl notwendiger Entscheidungen wächst – Verknappung der Zeitressourcen pro Entscheidung Horizont der Berechenbarkeit schrumpft (Gegenwartsschrumpfung)

Politische Entscheidungen

Entschleunigung

Verschlankung

Beschleunigung

Verlangsamender Eingriff in Entwicklungsautonomie

Minimierung der politischen Regulierungsbereiche

Verlagerung von Entscheidungen in schnellere Systeme

Erweiterung des Zeithorizonts / Steigerung des Zeitbedarfs Reichweite der Entscheidungswirkungen wächst (z.B. Gentechnik) Planungsbedarf pro Entscheidung steigt infolge wachsender Kontingenzen Erosion kultureller/sozialstruktureller Entscheidungsgrundlagen (Desintegration) erhöht Zeitbedarf

Abbildung 47: Paradoxien politischer Zeit Quelle: verändert nach ROSA (2005:408) 87

Beschleunigungsskeptische Autoren fordern von der politischen Sphäre sogar eine auf soziale Entschleunigung abzielende Zeitpolitik. So konstatiert FRITZ REHEIS (1998:215): „Zeitpolitik muss die künstliche Beschleunigung evolutionär entstandener Prozesse durch abgestufte Eingriffe stoppen bzw. Entschleunigung einleiten.“ Andere beschleunigungsskeptische Autoren wie MATTHIAS EBERLING formulieren ihre Ansicht zur restriktiven Zeitpolitik noch prägnanter, wobei sie der parlamentarischen Demokratie eine explizit entschleunigende Wirkung zuweisen: „Die Kernthese lautet: Wenn Beschleunigung das Problem ist, liegt die Lösung in der Verzögerung. […] Demokratie ist dabei der Schlüssel zur Verzögerung“ (EBERLING 1996:14). Damit nehmen sie nach HARTMUT ROSA (2005:409) auch den Umstand in Kauf, dass eine entschleunigende Zeitpolitik anachronistische Entscheidungen begünstigt und letztlich an der sozialen (beschleunigten) Wirklichkeit vorbeisteuern kann.

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Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

Übertragen auf den hier verfolgten Zusammenhang wird nun behauptet, dass auch die alltägliche Konstruktion und Revitalisierung der Metropolregionen nicht zuletzt in der Absicht geschieht, auf die sich aus der sozialen Beschleunigung ergebende „Zeitkrise des Politischen“ zu reagieren. Diese Behauptung begründet sich vor allem damit, dass die Metropolregionen und die mit ihnen korrespondierenden Steuerungsgremien grundsätzlich dabei helfen können, die politischen Prozesse zur Meinungs- und Entscheidungsfindung zu beschleunigen. So werden in der regionalpolitischen Praxis bestimmte Aspekte wie das Branchen-, Clusterund Netzwerkmanagement oder das Regionsmarketing in den vermeintlich flexibleren Bereich der metropolregionalen Governance ausgelagert und somit einige langwierige Hürden der parlamentarischen Demokratie – die sich aus dem parteipolitischen Wettbewerb mit seinen vielfältigen Anhörungen, Lesungen und Abstimmungen etc. ergeben – umgangen. Die Politik nutzt somit den bereits weiter oben angesprochenen Aspekt des „Regulierungsvakuums“ aus, um sich selbst von Deliberations- und Konsensfindungszumutungen zu befreien und zu schnelleren Entscheidungen hinsichtlich der geplanten (metropol-)regionalen Entwicklungspfade zu gelangen (vgl. Abschnitt 10.1).88 Gemäß dieser Argumentation können das raumordnungspolitische Konzept und die politische Praxis der Metropolregionen als Versuch der Resynchronisation verstanden werden, bei der die Politik eine Anpassung an das beschleunigte Innovationstempo in anderen sozialen Sphären vornimmt. Dabei spielt vor allem die Übertragung politischer Aktivitäten und Verantwortlichkeiten auf die Institutionen des „vorparlamentarischen“ Raumes eine wichtige Rolle, da hierüber die politischen Akteure im Gleichklang mit den Akteuren aus der Wirtschaft und Wissenschaft sowie den Verbänden und Medienanstalten gesellschaftsgestalterisch tätig werden können. Insofern können die Metropolregionen auch als zeitbezogene „Coping-Strategien“ (REDEPENNING 2006) betrachtet werden, die den geeigneten Rahmen zur Wahrung des Einflusses politischer Akteure auf die beschleunigten sozialen Sphären bilden. So ist nicht auszuschließen, dass die an Autoritätsgewinnen interessierte Politik die Macht anderer sozialer Sphären in den metropolregionalen Foren zu bändigen versucht, um ihre eigene Position zu stärken. In Anbetracht dieser soziologisch inspirierten Interpretation ist somit auch eine weitere Antwort auf die zentrale Frage nach dem weshalb und wozu der alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen gegeben worden. Sie lässt sich am besten auf das implizite und natürlich nicht offiziell dokumentierte Versprechen zurückführen, dass mit den Metropolregionen und deren 88

„Das […] umfassend beschriebene Dilemma der Politik in der Spätmoderne führt […] ganz offensichtlich zu einer Verlagerung des Entscheidungsprozesses aus dem Bereich demokratischer Politik in andere, schnellere Arenen der Gesellschaft […]. Neben die seit langem beobachtbare Gewichtsverschiebung von der demokratischen Form legislativer Gesetzgebung zur flexiblen Institution exekutiver Entscheidungen tritt die Überweisung politisch strittiger Fragen in die Zuständigkeit der Verfassungsgerichte (Verrechtlichung), in die SelbstRegulierungsfähigkeit der Wirtschaft (ökonomische De-Regulierung) oder in den Eigenverantwortungsbereich der Individuen (ethische Privatisierung)“ (ROSA 2005:415).

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intersystemischen Steuerungsmodalitäten die „Zeitkrise des Politischen“ überwunden und die Gestaltungsmacht der politischen Akteure gestärkt werden kann. Wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, kommt ein solcher raumordnungspolitisch initiierter und regionalpolitisch praktizierter Versuch der Resynchronisation jedoch nicht ohne unbeabsichtigte Handlungsfolgen oder gar negative Folgekosten aus. So ist ein derartiger Beschleunigungsversuch leider nur auf einem relativ niedrigen Gestaltungsniveau wie dem soeben erwähnten Branchen-, Cluster- und Netzwerkmanagement oder metropolregionalen Marketing möglich, was nach der hier vertretenen Ansicht in einer „Degenerierung der Regionalpolitik“ mündet.

10.3 Degenerierung der Regionalpolitik Auf den ersten Blick scheint die Einführung von Metropolregionen mitsamt ihren neuen Steuerungsmodalitäten zur schnelleren Meinungs- und Entscheidungsfindung eine angemessene Lösung hinsichtlich der Bewältigung der „Zeitkrise des Politischen“ zu sein. Dieser Eindruck wird durch die wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussionen gestützt, welche auf die vielfältigen Vorzüge der Gestaltungshandlungen in den unmittelbar und unbürokratisch operierenden GovernanceArenen der Metropolregionen hinweisen (vgl. Abschnitt 1.4 zu den zentralen Vorteilen regionaler Governance). Aus Sicht einer soziologisch informierten Interpretation ist allerdings zu konstatieren, dass derartige politische Bestrebungen zur Resynchronisation mit der Rückverlegung des politischen Gestaltungsniveaus einhergehen. Nach diesem Verständnis gefährdet die Übertragung von Entscheidungsprozessen aus dem Bereich der demokratischen Politik in die vermeintlich schnelleren und flexibleren Arenen metropolitaner Governance den Status und die Funktion der Politik als gesellschaftsgestaltendes Projekt und produziert negative Folgekosten auf der Seite des genuin Politischen (vgl. ROSA 2005:414ff.). Konkret: Zu den zentralen Kennzeichen der Rückverlegung des politischen Gestaltungsniveaus und der damit verbundenen Gefährdung des Politischen kann die vielerorts zu beobachtende Konzentration auf metropolregionale Marketingmaßnahmen mit all ihren leicht herstellbaren und kommunizierbaren, aber auch austauschbaren Bildern und Symbolen gezählt werden. Dabei tritt – so die hier vertretene These – die politisch anspruchsvolle Gestaltung komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge hinter die marketingstrategische Generierung eines positiven Images der jeweiligen Metropolregion zurück. Das sich hieraus ergebende Problem liegt in der Verkehrung des langwierigen politischen Wettbewerbs um gesellschaftsgestalterische Argumente in einen schnelllebigen Kampf um die immer knapper werdende Ressource Aufmerksamkeit. Dabei droht die Politik im Rahmen der metropolregionalen Governance auf ein bloßes Forum für Marketingaufgaben reduziert zu werden und Fragen der metropolregionalen Entwicklung nur noch mit Hilfe von vergleichsweise einfach zu bewerkstelligenden Marketingstrategien beantworten zu können.

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Dass eine solche „Degenerierung der Regionalpolitik“ tatsächlich ein ernstzunehmendes Problem der Metropolregionen in Deutschland darstellt, zeigt sich am hier untersuchten Beispiel der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland. Betrachtet man die genuin metropolregionalen – also von den Steuerungsgremien der Metropolregion initiierten, finanzierten und durchgeführten – Projektaktivitäten, so fällt die Dominanz von Maßnahmen aus dem Bereich des Regionsmarketings auf (Ausstellungsstände auf der EXPOREAL und im EU-Parlament, Imagebroschüren etc.; vgl. EMR MDD 2010b). Folgt man den subjektiven Sichtweisen der metropolregionalen Protagonisten, so wird sich an der Fokussierung auf Marketingaktivitäten auch in mittelfristiger Zukunft nicht viel ändern (können). So ist für die meisten der befragten Personen die gemeinschaftliche Regionalpolitik von dem zentralen Ziel geleitet, die vielfältigen Stärken und Potenziale der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland nach innen und nach außen sichtbarer zu machen und mit Hilfe geeigneter Werbemaßnahmen zu vermarkten. In Anbetracht dieser Auslegung von „Regionalpolitik“ sollte es auch nicht verwundern, dass es dem metropolregionalen Steuerungsgremium bis heute nicht gelungen ist, die politischen, wirtschaftlichen oder sozial-kulturellen Entwicklungen Mitteldeutschlands maßgeblich zu beeinflussen. Mehr noch: Selbst die auf Marketingmaßnahmen reduzierte Politik der Metropolregion verblasst vor dem Hintergrund alternativer und mit einem deutlich größeren Budget ausgestatteten Maßnahmen der einzelnen Bundesländer und Kommunen sowie der funktionalen Initiativen wie der WfM. Was der Metropolregion somit fehlt, ist eine politische Gestaltungsperspektive, hinter der sich die Akteure aus Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Verbänden, Wissenschaft und Medien mit ihren autoritativen und allokativen Ressourcen vereinen können. An diesem grundsätzlich kritischen Befund können auch die metropolregionalen Visionen, Leitbilder und Handlungsziele nicht viel ändern (EMR MDD 2010b, c), die im Hochglanzformat durch die Fachforen kursieren und in Ausnahmefällen sogar die Bürger der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland erreichen. Interessanterweise zeigen die Entwicklungen in anderen deutschen Metropolregionen ein ganz ähnliches Bild – nämlich: die bevorzugte Auslegung von Metropolregionen als Marketingplattformen sowie die damit korrespondierende Konzentration auf Aktivitäten aus den Bereichen des Lobbying und der Werbung (vgl. LINDSTAEDT 2006). Nicht wenige Metropolregionen operieren also auf einem vergleichsweise niedrigen politischen Gestaltungsniveau und lassen ein gesellschaftsgestalterisches Projekt vermissen. Diese Fokussierung auf degenerierte Formen der Regionalpolitik erhält eine besondere Brisanz, da sich die metropolregionalen Akteure nunmehr auch die Chance vergeben, in politisch anspruchsvoller Weise agieren zu können. Mit der Verlagerung von regionalpolitischen Aufgaben aus dem Bereich der demokratischen Politik in vermeintlich schnellere und flexiblere, zugleich aber auch ressourcenschwache und inhaltlich degenerierte GovernanceArenen manövrieren sie sich selbst in eine politisch unbefriedigende Situation hinein, aus der heraus sie sich immer häufiger nach den Vorgaben der Wirtschaft oder Interessenverbände zu richten haben und auf deren situative Erfordernisse sie reagieren müssen (vgl. ROSA 2005:416).

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In Anlehnung an HARTMUT ROSA kann man dieser quasi selbst auferlegten reaktiven Ausrichtung der Regionalpolitik ebenso kritisch gegenübertreten wie schon der inhaltlichen Engführung auf Marketingmaßnahmen. Sie verleitet die politischen Akteure zu einer Regionalpolitik im Sinne des „muddling through“ (vgl. ROSA 2005:417) – also eine Art des „Sich-Durchwurstelns“ (GIEGEL 1999:109) – welches durch kurzsichtiges Operieren je nach situativer Lage der Wirtschaft und der Verbände sowie je nach Verfügbarkeit von Ressourcen gekennzeichnet ist. Dabei entpuppen sich selbst die vermeintlich auf Langfristigkeit angelegten Visionen, Leitbilder und Handlungsziele als situative politische Anpassungen an die Vorgaben der schnelleren sozialen Systeme (ROSA 2005:418). Bestes Kennzeichen einer derartigen Anpassung ist nach HARTMUT ROSA (2005:418) der Wandel des politischen Vokabulars innerhalb dieser Leitbilder, welches seit Jahren stark von einer Rhetorik des Sachzwanges geprägt ist und reaktive Maßnahmen zur Bewältigung der sich radikalisierenden Globalisierung, der „zunehmenden Internationalisierung der Weltwirtschaft“, der verschärften „wirtschaftlichen Standortkonkurrenz“ oder des erhöhten „Modernisierungsdrucks“ nach sich zieht.89 Nach diesem Verständnis deutet also die stark von der Globalisierungs-, Konkurrenz-, Modernisierungs-, Wachstums- und Wettbewerbssemantik etc. durchdrungene metropolregionale Rhetorik auf eine reaktive Strategie der Regionalpolitik hin. Dabei versuchen die Entscheidungs- und Meinungsträger vor allem schnell und flexibel auf die vermeintlichen Schwächen (wie beispielsweise das häufig als unbefriedigend empfundene Image) der jeweiligen Metropolregion zu reagieren und wirtschaftsnahe Lösungen (wie beispielsweise die Verbesserung des metropolregionalen Images über das Regionsmarketing) anzubieten. Das sich daraus ergebende Problem besteht in erster Linie darin, dass es bei den metropolregionalen Aktivitäten nicht mehr um das Beschaffen von politischen Mehrheiten zur Durchsetzung von anspruchsvollen gesellschaftlichen Gestaltungszielen geht. Vielmehr zielen die metropolregionalen Aktivitäten auf das zügige Erlangen von Aufmerksamkeit und Anerkennung ab, wovon nicht die Metropolregion im Allgemeinen, sondern in erster Linie die metropolregionale Wirtschaft profitieren kann. 89

Soziologisches Verständnis von einer Politik des „muddling through“: „Strategien des muddling through, die sich an den Vordringlichkeiten des Befristeten orientieren, treten also an die Stelle gesellschaftsgestalterischer politischer Konzeptionen. Wenn Politikverdrossenheit und zunehmende Wählervolatilität die politischen Kennzeichen spätmoderner Demokratien sind, so haben sie ihre Ursache nicht zuletzt darin, dass in den parteipolitischen Konzeptionen, sofern sie sich nicht auf die bloße Rücknahme politischer Gestaltungsansprüche beschränken […], das, was unter dem Segel politischer Gestaltungsvisionen antritt (Programme, Reformkonzepte, Strategieentwürfe), diesen Anspruch nicht mehr einlösen kann, sondern sich beim näheren Hinsehen als ein verzweifeltes Bemühen um Anpassung entpuppt“ (ROSA 2005:417). | Soziologisches Verständnis von einer „situativen Politik“: „An die Stelle geschichtsphilosophischer Konzeptionen oder langfristiger politischer Strategien tritt kurzsichtiges Operieren je nach situativer Lage“ (ROSA 2005:418). | Soziologisches Verständnis von einer „Sachzwangrhetorik“: „Die Fortschrittssemantik, die alle früheren Modernisierungsschübe begleitete, verschwindet hinter der Sachzwangrhetorik: Technische und soziale Veränderungen werden nicht mehr im Namen des Fortschritts durchgesetzt, sondern mit dem drohenden Verlust der Wettbewerbsfähigkeit begründet“ (ROSA 2005:418).

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In diesem Zusammenhang sollte kritisch angemerkt werden, dass auch die bundesdeutsche Raumordnungspolitik aktuell keine Anstrengungen unternimmt, durch eine Stärkung der autoritativen und allokativen Ressourcen auf die geschilderten Entwicklungen der Metropolregionen positiv einzuwirken. Dies mag daran liegen, dass das Konzept der Metropolregion selbst einen wichtigen Teil der reaktiven Strategie der bundesdeutschen Raumordnungspolitik darstellt, mit dem möglichst schnell ohne großen Ressourcenaufwand auf die Herausforderungen der globalisierten Moderne geantwortet werden soll. Problematisch ist, dass somit auch die Raumordnungspolitik eine zweite Paradoxie fördert, die aus soziologischer Perspektive als „Rasender Stillstand“ (ROSA 2005:422–427, 2009:110) bezeichnet werden kann. Dieser ist von der Erfahrung der Vor-Ort-Akteure geprägt, dass trotz der Steigerung der politischen Aktivitäten keine anspruchsvolle und gerichtete Entwicklung möglich ist – oder besser: dass in der regionalen Politik nichts bleibt, wie es ist, ohne dass sich jedoch etwas Wesentliches verändert hat.

10.4 Paradoxie II: Metropolregionen im „Rasenden Stillstand“? Nach der hier vertretenen Ansicht spiegeln die öffentlichen und wissenschaftlichen Darstellungen über den Stand der deutschen Metropolregionen ein häufig recht einseitiges Bild der aktuellen Entwicklungen wider (vgl. BBSR 2009a). Folgt man hingegen HARTMUT ROSAS Beschleunigungsdiagnose, so kann ein paradoxer Nebeneffekt das Bild von der „Metropolregion als zeitgemäßer Coping-Strategie“ ins Wanken bringen. Im Zuge der alltäglichen Konstruktion von Metropolregionen stellt sich nämlich nicht nur eine strukturelle Erstarrung ein, die nach Auffassung der Protagonisten mit Hilfe revitalisierender Maßnahmen überwunden werden muss (vgl. Abschnitte 2.4 und 7). Vielmehr führt gerade die Revitalisierung von Metropolregionen zu der Erfahrung eines so genannten „Rasenden Stillstandes“ (ROSA 2005:422–427, 2009:110), zu dessen negativen Folgekosten die als richtungslos empfundene Dynamisierung politischer Prozesse (politische Makroebene) sowie persönliche Frustrationseffekte (individuelle Mikroebene) gezählt werden können (Abbildung 48). Konkret: Aus soziologischer Sicht sind die Metropolregionen in Deutschland von einer Dialektik der politischen Beschleunigung und der strukturellen Erstarrung gekennzeichnet, wobei der Aspekt der politischen Beschleunigung in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion häufig in den Vordergrund gestellt wird. Der Grund hierfür ist, dass sich mit der Beschleunigungsinitiative all die positiven Assoziationen, Hoffnungen und Erwartungen verbinden, welche auf die Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstandes und die Sicherung der politischen Selbstbestimmung verweisen (vgl. Abschnitt 9.2). Insofern wird die Geschichte von den deutschen Metropolregionen häufig als eine (erfolgreiche) Beschleunigungsgeschichte erzählt, die auf den ersten Blick auch einige empirische Relevanz besitzt: Irgendwie regen sich die Metropolregionen im Geflecht der etablierten „Geographien der Politik“, irgendwie bewegen sich die sozialen Beziehungen in den bestehenden regionalen Netzwerken, irgendwie verändern sich die tra-

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dierten Handlungsorientierungen der regionalen Akteure, und irgendwie dynamisieren sich die herkömmlichen Praxisformen zugunsten neuartiger Interdependenzbewältigungsmodalitäten. Auf der anderen Seite scheint in der Diskussion um die Metropolregionen in Deutschland der Aspekt der strukturellen Erstarrung tendenziell in den Hintergrund zu geraten. Dies ist insofern problematisch, da die hier dargestellten empirischen Befunde zur Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland auf zahlreiche „harte“ und „weiche“ Beharrungskräfte wie das Identitäts- und Anerkennungsdefizit der bundes-, landes- und kommunalpolitischen Akteure (vgl. Abschnitt 8.1) oder die Knappheit an autoritativen und allokativen Ressourcen (Abschnitt 8.2) verweisen, welche die untersuchte Metropolregion an den Rand des Stillstandes manövriert haben. So gesehen kann – ganz im Sinne einer vom Einzelfall abstrahierenden Argumentation – der metropolregionalen Beschleunigungsgeschichte auch eine der strukturellen Erstarrung entgegengestellt werden: Irgendwie erstarren die Metropolregionen in dem tradierten Geflecht der „Geographien der Politik“, irgendwie verhärten die sozialen Beziehungen in den alten Maschen der Macht, irgendwie verharren die regionalen Akteure in den herkömmlichen Entwicklungsprogrammen, und irgendwie beharren sie letztlich doch auf den wenig inspirierenden Praxisformen der Regionalpolitik. Für den hier verfolgten Zusammenhang ist entscheidend, dass die – sich aus der Dialektik von politischer Beschleunigung und struktureller Erstarrung ergebenden – Revitalisierungsmaßnahmen in einem „Rasenden Stillstand“ (ROSA 2005:422–427, 2009:110) münden können. Dieser verweist darauf, dass sich im Zuge des allseits beobachtbaren und im Zusammenhang mit der (mittel-) deutschen Metropolisierungseuphorie stehenden Aktionismus zwar die regionalpolitische Ordnung verändert, zugleich aber auf eine erstaunliche Weise ohne eine politisch anspruchsvolle und gerichtete Entwicklung vonstatten geht (vgl. Abschnitt 10.3). „Rasender Stillstand“ bedeutet somit, dass im Zuge der schwierigen Metropolisierung von Städten und Stadtregionen auch in der Regionalpolitik nichts bleibt, wie es ist – ohne dass sich jedoch etwas Wesentliches verändert hat (vgl. ROSA 2005:436). In den Worten von HARTMUT ROSA (2009:110): „Die Dinge ändern sich, aber sie entwickeln sich nicht; es gibt unerschöpfliche Optionenspielräume, aber, da sie beständig ihre Gestalt verändern, keine langfristigen Strategien, sie kumulativ zu nutzen. Die Bewegung wird ziellos und kontingent, ja erratisch; sie verliert ihren temporalen, sachlichen und politischen Richtungsindex“.

Akzeptiert man den soziologischen Befund, wonach die alltägliche Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen zur Erfahrung eines „Rasenden Stillstandes“ (ROSA 2005) führen kann, dann sollten auch die krisenverstärkenden Konsequenzen dieser Entwicklung auf der politischen Makroebene in den Blick genommen werden (Abbildung 48). So kommt die Krise der Metropolregionen vor allem darin zum Ausdruck, dass die politische Entwicklung derselben quasi richtungslos vonstatten geht und sich in Anlehnung an HARTMUT ROSA (2005:437) in der „Wiederkehr des Immergleichen“ erschöpft. Nicht anders ist die Durchführung einer weiteren Marketingstrategie, einer weiteren Werbekampag-

Teil V: Interpretation geographischer Praktiken

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ne, einer weiteren Regionalkonferenz oder einer weiteren Bürgerbeteiligungsform zu interpretieren, welche nicht nur für die untersuchte Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland, sondern für die metropolregionale Politik im Allgemeinen kennzeichnend ist. So gesehen scheinen die Vor-Ort-Akteure zwar recht umtriebig zu sein – jedoch treffen sie keine richtungweisenden politischen Entscheidungen, da es für sie im Rahmen der Metropolregionen allzu häufig keine maßgeblichen, sondern nur degenerierte politische Entscheidungen zu treffen gibt (vgl. Abschnitt 10.3).

Beschleunigung

Beschleunigungskräfte

Beharrungskräfte

Dynamisierung von sozialen Strukturen

Erstarrung Beharrung in sozialen Strukturen

„Rasender Stillstand“

Politische Makroebene Richtungslose Dynamisierung und „Wiederkehr des Immergleichen“

Erfahrung, dass nichts bleibt, wie es ist, ohne dass sich etwas wesentlich verändert.

Konsequenzen

Konsequenzen

Individuelle Ebene Ausbildung von Frustrationseffekten („FrustregionalGovernance“)

Abbildung 48: Konsequenzen sozialer Beschleunigung und struktureller Erstarrung Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Aus dieser quasi richtungslosen Dynamisierung der metropolregionalen Politik kann sich eine zweite krisenverstärkende Konsequenz ergeben, die nunmehr allerdings auf der individuellen Ebene der einzelnen Protagonisten angesiedelt ist. So kann die individuelle Wahrnehmung eines „Rasenden Stillstandes“ (ROSA 2005) auch zu Frustrationseffekten führen, welche die metropolregionale Entwicklung zweifelsohne negativ beeinflussen können (vgl. Abschnitt 2.3). Diese Effekte zeigen sich beispielsweise an der hier untersuchten mitteldeutschen Metropolregion, in der sich neben der „Metropolisierungslust“ einzelner Kommunalpolitiker auch ein „Metropolisierungsfrust“ der operativ handelnden Akteure aus der Verwaltungsebene eingestellt hat. Dabei bezieht sich deren Frustration häufig auf a) die Richtungslosigkeit des politischen Steuerungsgeschehens sowie b) die Perspektivlosigkeit der eigenen Projektaktivitäten, die in den Phänomenen des „Netzwerksfrustes“ oder des „FrustregionalGovernance“ (Abschnitte 2.3 und 8.2) ihren begrifflichen Ausdruck gefunden hat. Mit diesen Ausführungen zur weitgehend richtungslosen Dynamisierung politischer Prozesse und der Ausbildung von Frustrationseffekten auf der individuellen Ebene soll die hier entwickelte Argumentation zum „Rasenden Stillstand“ (ROSA 2005:422–427, 2009:110) zu einem vorläufigen Ende gebracht werden. Dabei hatten die letzten soziologisch informierten Ausführungen zum Ziel, weitere

Metropolregionen zwischen Beschleunigung und Erstarrung

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Aspekte für die grundsätzliche Skepsis hinsichtlich der vermeintlichen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) der deutschen Metropolregionen zu thematisieren und für zentrale Probleme der Metropolisierung von Städten und Stadtregionen zu sensibilisieren. In den abschließenden Ausführungen wird es darum gehen, die in der vorliegenden Arbeit entwickelte Argumentation noch einmal zu bündeln und für weitere Forschungsaktivitäten in der Tradition der sozialwissenschaftlichen Aufklärung zu werben (vgl. ROSA 2009; DÖRRE ET AL. 2009). Diese sollten sich unter anderem der Frage widmen, ob die vom hier verfolgten Einzelfall ausgehende Interpretation sich mit einer breiter angelegten Empirie zu den deutschen Metropolregionen untermauern lässt und ob es sich bei diesen Raumkonzepten mit all ihren intersystemisch operierenden Steuerungsgremien und regionalpolitischen Entwicklungsprogrammen um Elemente einer dysfunktionalen Systemreproduktion handelt.

Ausblick: Metropolregionen als Elemente einer dysfunktionalen Systemreproduktion?

„Metropolregion 2.0“ – mit diesem Schlagwort wurde in der vorliegenden Arbeit ein Phänomen bezeichnet, welches in der viel beschworenen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) der deutschen Metropolregionen bislang keinen Platz gefunden hat. Es steht für die empirische Beobachtung der neu gestarteten – oder besser: der sich revitalisierenden Metropolregionen und stellt eine Reaktion auf die schwierige Metropolisierung von Städten und Stadtregionen dar. Übergeordnetes Ziel der Arbeit war es, mithilfe der Analyse dieses Phänomens für die problematischen Entwicklungspfade der deutschen Metropolregionen zu sensibilisieren und somit für eine kritische Distanz hinsichtlich deren vermeintlich erfolgreichen Etablierung zu werben. In diesem Zusammenhang wurde den Fragen nachgegangen, weshalb eine Neuauflage von Metropolregionen immer wieder nötig und von den Entscheidungs- und Meinungsträgern vorangetrieben wird und wozu die nachweislich so schwer zu etablierenden Metropolregionen unbedingt in den politischen Dokumenten repräsentiert sein sollen. Die Beantwortung dieser Fragen machte zunächst eine theoriegeleitete Diagnose der Transformation gesellschaftlicher Raumbezüge nötig, welche den Diskurs um die deutschen Metropolregionen in die makrogesellschaftlichen Zusammenhänge eingeordnet hat (Teil I). So wurde im ersten Abschnitt die staatstheoretische Interpretation von der Neuorientierung des spätmodernen Nationalstaates nachgezeichnet und auf die besondere Bedeutung der so genannten „Entnationalisierung des Nationalstaates“ (JESSOP 1997) bzw. dessen territorialer Neuordnung hingewiesen (vgl. Abschnitt 1). In einem zweiten Schritt wurden die raumordnungspolitischen Bestrebungen zur Verankerung des Konzeptes der Metropolregionen in Deutschland sowie die raumwissenschaftlichen Bemühungen hinsichtlich deren konzeptionellen Vergewisserung erörtert. Dabei wurde im Sinne einer ersten kritischen Zwischenbilanz auf zentrale Problemfelder des deutschen Metropolisierungsprozesses hingewiesen und das Phänomen der „Metropolregion 2.0“ vorgestellt (vgl. Abschnitt 2). Zu den zentralen Ergebnissen des ersten Teils zählt die Einsicht, dass die territoriale Neuordnung mitsamt der Einführung kooperativ-netzwerkartiger Steuerungsmodalitäten und regionalisierter Entwicklungsprogramme nunmehr zur Staatsräson vieler westlicher Nationen gehört. Zugleich haben die Ausführungen zur britischen „Politics of Devolution“ gezeigt, dass derartige Veränderungen des

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Ausblick

Gesellschaft-Raum-Verhältnisses auf zahlreiche Widerstände stoßen und somit auch prinzipiell scheitern können. Wenngleich die deutschen Bemühungen zur Etablierung von Metropolregionen zwar nicht gescheitert sind, so gefährden einige konzeptionelle „Geburtsfehler“ sowie Funktionsdefizite (Integrations-, Legitimations-, Effizienz- und Effektivitätsprobleme) den landesweiten Metropolisierungsprozess. Dabei haben die empirischen Beobachtungen ins Stocken geratener Metropolregionen die Einnahme einer kritischen Haltung gegenüber dem vermeintlichen Erfolgskonzept zur Folge gehabt, welches entgegen den offiziellen Darstellungen nicht selten revitalisiert werden muss. Ausgehend von der Problematisierung des Phänomens der „Metropolregion 2.0“ wurde nunmehr eine theoriegeleitete Forschungskonzeption angestrebt, welche die Transformation gesellschaftlicher Raumbezüge aus kritischer Perspektive betrachtet (Teil II). Hierzu wurden zunächst zwei bedeutende Perspektiven zur Erforschung des deutschen Metropolisierungsprozesses – nämlich: die GovernanceForschung und die Raumwissenschaft – auf ihre Erkenntnispotenziale hin untersucht und bezüglich ihres Kritikvermögens bewertet (vgl. Abschnitt 3). Nach ausführlicher Kritik an diesen Forschungsperspektiven wurde danach gefragt, wozu sich eine sozialgeographische Sichtweise auf die alltägliche Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen lohnt. Darüber hinaus wurde analysiert, welche Erkenntnispotenziale in der sozialgeographischen (WERLEN 2007a) und soziologischen (ROSA 2005) Gesellschaftsdiagnose liegen, die für eine kritische Interpretation des deutschen Metropolisierungsprozesses fruchtbar gemacht werden sollten (vgl. Abschnitt 4). Als ein zentrales Ergebnis des zweiten Teils kann festgehalten werden, dass a) die GovernanceForschung vordergründig an den Funktionslogiken von metropolregionalen GovernanceRegimen interessiert ist und b) die Raumwissenschaft sich weitgehend in der Aufdeckung funktionaler Ausstattungsmerkmale sowie verschiedener Verflechtungsbeziehungen von Metropolregionen erschöpft. Beide Forschungsperspektiven stellen somit vorzugsweise „technisches Verfügungswissen“ (BLOTE-VOGEL 2003:32) bereit, mit dessen Hilfe sie maßgeblich zum Gelingen der Metropolregionen beitragen können. Demgegenüber erweist sich die sozialtheoretisch informierte Sozialgeographie BENNO WERLENS als geeignet, um so genanntes „kritisches Reflexionswissen“ (BLOTEVOGEL 2003:32) über den deutschen Metropolisierungsprozess bereitzustellen. Als kritisch konzipierte Perspektive vermag sie auf a) die konzeptionellen „Geburtsfehler“ und b) die Funktionsdefizite (Integra-tions-, Legitimations-, Effizienz- und Effektivitätsprobleme) einzugehen sowie für c) die Notwendigkeit der Revitalisierung und d) die sich hieraus ergebenden Paradoxien zu sensibilisieren. Vor dem Hintergrund der bis dahin erfolgten Thematisierung des zentralen Problembereichs und der Einnahme einer kritischen Forschungsperspektive, bedurfte es im dritten Teil der Arbeit einer methodologischen Reflexion und methodischen Operationalisierung (Teil III). Ziel dieser Ausführungen war es, zunächst die methodologischen Grundprinzipien der Qualitativen Sozialforschung zu erläutern und anschließend die methodische Vorgehensweise für das Forschungsprojekt abzuleiten (Stichwort: Datenaufnahme- und Datenauswertungsverfahren;

Ausblick

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vgl. Abschnitte 5 und 6). In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass sich die empirische Forschung zur alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen auf das Fallbeispiel der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland bezog, die seit ihrer Ernennung im Jahre 1997 einen problematischen Entwicklungspfad zu verzeichnen hat. Die Entscheidung, die systematischen Untersuchungen auf das Fallbeispiel der mitteldeutschen Metropolregion zu beschränken, hatte dabei rein forschungspragmatische Gründe (Umfang, Dauer und Ressourcen der Untersuchung). Diese Entscheidung sollte den Versuch einer vom Einzelfall abstrahierenden Interpretation nicht gefährden. Zu den zentralen Ergebnissen des dritten Teils gehört, dass a) das gegenstandbezogene Vorwissen eine entscheidende Rolle im Forschungsprozess spielen kann und b) die „Methoden-Triangulation“ nach NORMAN DENZIN (1978) ein geeignetes Verfahren zur systematischen Analyse des mitteldeutschen Metropolisierungsprozesses darstellt. So erlaubt die Kombination aus der Teilnehmenden Beobachtung, den Experteninterviews und der Dokumentenanalyse einen Zugang zu den subjektiven Sichtweisen der mitteldeutschen Protagonisten sowie deren alltäglichen Praktiken zur Konstruktion und Revitalisierung der Metropolregion. Überdies gestattet die „Methoden-Triangulation“ (DENZIN 1978) einen Zugang zu dem Denken und Agieren derjenigen Akteure, die dem mitteldeutschen Metropolisierungsprozess skeptisch oder gar ablehnend gegenüber stehen. Insofern ist es mit Hilfe dieser methodologisch und technisch reflektierten Herangehensweise möglich, zentrale Problem- und Konfliktfelder aufzudecken und die Daten auf Widersprüche hin zu untersuchen. Basierend auf den theoretisch-konzeptionell informierten und methodologisch-technisch reflektierten Vorüberlegungen wurden im vierten Teil der Arbeit die geographischen Praktiken zur Konstruktion und Revitalisierung metropolregionaler Wirklichkeiten untersucht (Teil IV). Hierzu erfolgten zunächst eine Auseinandersetzung mit dem historischen Entwicklungspfad der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland sowie eine Darstellung deren aktuellen Entwicklungsstandes (vgl. Abschnitt 7). Daran anknüpfend wurden entlang der zuvor entwickelten Terminologie „harte“ und „weiche“ Problem- und Konfliktfelder der untersuchten Metropolregion aufgedeckt sowie die politischen Strategien der Problem- und Konfliktbewältigung thematisiert (vgl. Abschnitt 8). Damit sollte die empirische Beweisführung hinsichtlich der schwierigen Metropolisierung Mitteldeutschlands und der Revitalisierung der Metropolregion im Sinne der „Metropolregion 2.0“ erbracht sowie eine kritische Distanz zur vermeintlichen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) eingenommen werden. Zu den zentralen Ergebnissen des vierten Teils zählt die Erkenntnis, dass die Protagonisten der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland in den zurückliegenden Jahren beachtliche Anstrengungen unternehmen mussten, um einen Stillstand oder gar ein Scheitern der Metropolregion abzuwenden. Dabei haben insbesondere die neuen sachsen-anhaltinischen und thüringischen Akteure bewirken können, dass die einstige Metropolregion Sachsendreieck unter dem Label „Mitteldeutschland“ neuen Schwung bekommen hat. Dennoch ist zu konstatieren, dass zahlreiche „harte“ und „weiche“ Problemfelder nur unzureichend

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bewältigt worden sind und die Metropolregion Mitteldeutschland immer noch mit a) Wahrnehmungs-, Identitäts- und Akzeptanzproblemen auf der Ebene der Länder und Kommunen, der teilregionalen und branchenspezifischen Netzwerke sowie der Bürgerschaft zu kämpfen hat und b) komplexen Konkurrenzbedingungen, zermürbenden Interessenkonflikten, einer mangelhaften Ressourcenausstattung, einer ineffektiven und ineffizienten Steuerung sowie einer fragwürdigen Projektqualität gegenüber steht. In der Folge bleibt die mitteldeutsche Metropolregion auch dreizehn Jahre nach ihrer offiziellen Ernennung ein fragiles politisches Experiment mit ungewisser Zukunft. In Anbetracht der schwierigen Metropolisierung Mitteldeutschlands stellten sich im fünften Teil der Arbeit noch einmal die eingangs formulierten Fragen, weshalb die Metropolregion trotz immenser Probleme und Widerstände weiter vorangetrieben wird und wozu sie unbedingt in den politischen Dokumenten repräsentiert sein soll (Teil V). Da die Beantwortung dieser Fragen in das Feld der sozialgeographischen (WERLEN 2007a) und soziologischen (ROSA 2005) Gesellschaftsdiagnose führte, wurde nunmehr vom konkreten Einzelfall der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland abstrahiert und der Versuch einer gesellschaftsdiagnostisch inspirierten Interpretation vorgenommen. Im Zuge dessen wurde die alltägliche Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen aus den Verheißungen und Ängsten der kapitalistischen Spätmoderne (vgl. Abschnitt 9) und den Bestrebungen zur Rückgewinnung des verloren geglaubten politischen Steuerungspotenzials (Abschnitt 10) heraus begründet. Dabei wurde auch auf zwei Paradoxien des (mittel-)deutschen Metropolisierungsprozesses eingegangen, die mit dem „Quasi-Protektionismus“ und dem „Rasenden Stillstand“ bezeichnet wurden. Zu den zentralen Ergebnissen des fünften Teils gehört, dass die Metropolregionen sowohl eine raumbezogene als auch eine zeitbezogene „Coping-Strategie“ (REDEPENNING 2006) darstellen, mit deren Hilfe einige der Existenzbedingungen der globalisierten Moderne bewältigt werden sollen. So verfolgen die metropolregionalen Protagonisten mithilfe der Metropolregionen die Absicht, den Prozess der kollektiven Wiederverankerung zu begünstigen und die Resynchronisation der Politik an die beschleunigten sozialen Sphären zu fördern. Allerdings offenbaren die damit verbundenen geographischen Praktiken auch zwei zentrale Paradoxien: So lässt sich erstens ein so genannter „Quasi-Protektionismus“ identifizieren, mit dem die Bestrebungen zum Auf- und Ausbau einer mentalen Schutzstruktur unter entgrenzten gesellschaftlichen Bedingungen benannt wurden. Zweitens kann ein „Rasender Stillstand“ (ROSA 2005) beobachtet werden, der trotz einer Steigerung der Aktivitäten eine anspruchsvolle und gerichtete politische Entwicklung vermissen lässt sowie auf der individuellen Ebene Frustrationseffekte im Sinne des FrustregionalGovernance hervorruft. Am Ende dieser Arbeit steht die Gewissheit, dass es sich bei der hier vorgenommenen Darstellung und Interpretation nicht um eine sozialgeographisch begründete „Wahrheit“ über die Metropolregionen in Deutschland handelt. So lassen sich zweifelsohne Beispiele für funktionierende (metropol-)regionale Kooperationen und wirksame Regionalpolitiken – kurz: gelingende Metropolregi-

Ausblick

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onen anführen, welche die Ansicht von deren Leistungsfähigkeit untermauern können. Die hier getroffenen kritischen Aussagen zur alltäglichen Konstruktion und Revitalisierung von Metropolregionen zielten jedoch darauf ab, Argumente für die Skepsis hinsichtlich der vermeintlichen „Erfolgsgeschichte“ (BBSR 2009a:1) der deutschen Metropolregionen zusammenzutragen, für zentrale Problem- und Konfliktfelder der Metropolisierung zu sensibilisieren und zwei zentrale Paradoxien des (mittel-)deutschen Metropolisierungsprozesses verständlich zu machen. Weitere Forschungsaktivitäten sollten – wie auch diese Arbeit – in der Tradition der sozialwissenschaftlichen Aufklärung stehen. Insofern kann diese Arbeit, die sich einer kritischen Annäherung an die deutschen Metropolisierungsprozesse verschrieben hat, als ein möglicher Ausgangspunkt für weitere Forschungsaktivitäten betrachtet werden. Dabei kann auf das fachhistorisch eingebettete terminologische Grundgerüst, die theoretischkonzeptionellen Vorüberlegungen, die methodologisch-technischen Reflexionen und empirischen Befunde aus dieser Arbeit zurückgegriffen werden. Im Zentrum sollte eine über den Einzelfall der mitteldeutschen Metropolregion hinausgehende Analyse zum Phänomen der „Metropolregion 2.0“ stehen sowie eine weiterführende Interpretation von den erwähnten Paradoxien der (mittel-)deutschen Metropolisierungseuphorie vorgenommen werden. Hierzu sollten folgende Fragen beantwortet werden: Lässt sich die vom hier verfolgten Einzelfall ausgehende Interpretation mit einer breiter angelegten Empirie zu den deutschen Metropolregionen untermauern? Handelt es sich bei diesen Raumkonzepten mit all ihren intersystemisch operierenden Steuerungsgremien und regionalpolitischen Entwicklungsprogrammen um Elemente einer dysfunktionalen Systemreproduktion?

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Anhang

Metropolregionen in (Mittel-)Deutschland: Die Hauptkategorie erfasst die Aussagen von einem allgemeinen Verständnis von Metropolregionen bis hin zu deren konkreten Organisation in Mitteldeutschland.

Strategieentwicklung: Die Hauptkategorie erfasst die Aussagen von der persönlichen Motivation bis hin zur Ressourcenmobilisierung.

IP I/04: „Es gibt einen Gemeinsamen Ausschuss der Oberbürgermeister. […] Dieser Ausschuss entscheidet circa zweimal im Jahr über wirkliche Zielsetzungen […]. Es gibt einen Lenkungsausschuss, in dem Vertreter der einzelnen Städte sitzen […].“

Organisation: Die Aussagen beziehen sich auf das grundlegende Verständnis, welches die Interviewpartner von der politischen Organisation der erweiterten Metropolregion Mitteldeutschland haben.

SWOT-Analyse: Die Aussagen beziehen sich auf Stärken (Strenghts), Schwächen (Weaknesses), Chancen (Opportunities) und Risiken (Threats), die im Zusammenhang mit der Entwicklung der Metropolregion Mitteldeutschland stehen.

Erwartungen an Mitteldeutschland: Die Aussagen beziehen sich auf jegliche Erwartungen, die von den Interviewpersonen hinsichtlich einer mitteldeutschen Metropolregion getroffen worden sind.

Motivation strategischer Akteure: Die Aussagen beziehen sich auf die persönliche und emotional-affektiv zum Ausdruck gebrachte Motivation der Interviewpersonen. Sie beziehen sich zudem auf die vermeintliche persönliche Motivation Dritter.

Variable Geometrie: Die Aussagen beziehen sich auf das grundlegende Verständnis, welches die Interviewpartner von der „Variablen Geometrie“ der erweiterten Metropolregion Mitteldeutschland haben.

Geographie/Raumvorstellung: Die Aussagen beziehen sich auf die Raumvorstellung, welche die Interviewpartner von der Metropolregion Mitteldeutschland haben. Hierzu gehören vor allem metaphorische Formulierungen, welche die metropolregionale Geographie versinnbildlichen sollen.

IP I/01: „Ich bin biographisch tief verankert hier. Zu meinen Vorfahren gehört GEORG FRIEDRICH HÄNDEL, meine Eltern kommen aus dem Raum Magdeburg und Halle, ich bin in Halle geboren, meine Familie ist von Dresden über Halle bis hin nach Thüringen verteilt, und ich bin auch kulturell hier sehr verortet […].“ IP I/02: „Ich verspreche mir von der Metropolregion einen verbindlichen Bund von Kommunen und Regionen, die sich wirklich zum Ziel gemacht haben und an diesem Ziel auch aktiv arbeiten und in dieses Ziel auch Geld investieren, um die Außenwahrnehmung der Gesamtregion deutlich zu verbessern […].“ IP I/04: „ Nehmen wir mal gerade die Solarindustrie. Dort ist es zwar schon ein bisschen in den Köpfen drin, aber wir haben dort ein Potenzial, was weltweit betrachtet – die Konzentration an Solarindustrie bei uns […] ist dominanter als Silicon Valley in seiner Hochzeit in diesem Bereich dominant auf der Welt war.“

IP IV/01: „Da muss ich noch ein bisschen zurückgreifen in eine Zeit, in der ich mich auch kaum auskenne. Das ist der HARA und ORA […] da hat man das mit den Metropolregionen angefangen zu platzieren. Und es ging eigentlich schon ein stückweit darum, dass man mehr eine Wachstumspolitik stärkt.“ IP II/01: „In Deutschland gab es das Problem, dass man die wirtschaftliche Entwicklung voranbringen will – aus Sicht der Raumordnung und Landesplanung und der Bundesraumordnung – und da ist man auf dieses Konstrukt gekommen, nämlich: die Zusammenarbeit von Regionen, innerhalb von Regionen […].“ IP I/02: „Der Ursprung ging von Sachsen aus. Man hat zunächst versucht, die sächsischen Städte miteinander zu vernetzten: Dresden, Chemnitz, Leipzig, mit Zwickau und Plauen. Leipzig und Halle kann man schlecht trennen. Die sind sehr eng verbunden […] So kam also Halle als sachsen-anhaltinische Stadt mit rein.“ IP I/02: „Dieses Dreieck entwickelt sich ja nach dem Willen Vieler jetzt zu einem mitteldeutschen Sechseck. Reicht also bis Magdeburg, umfasst Dessau und bis nach Eisenach. Und das wiederum kennzeichnet das Gebiet, auf dem das Ganze sich entwickelt. Das sind letztlich die drei mitteldeutschen Bundesländer.“ IP I/05: „[…] Je nach Thema [sind] die Vernetzungen unterschiedlich. Von daher: Flexible Grenzen können sehr viel mehr Synergien schaffen, die je nach Thema erzielbar sind. Also insofern ist die […] ‚Variable Geometrie‘ eigentlich auch eine Reaktion auf ganz unterschiedliche Konfigurationen.“

Verständnis von Metropolregionen: Die Aussagen beziehen sich auf das grundlegende Verständnis, welches die Interviewpartner von den Europäischen Metropolregionen in Deutschland haben. Hierzu gehören vor allem Aussagen zum Konzept der Europäischen Metropolregionen in Deutschland. Notwendigkeit von Metropolregionen: Die Aussagen beziehen sich auf den Bedeutungsgewinn und die Notwendigkeit von Europäischen Metropolregionen in Deutschland. Hierzu gehören vor allem Aussagen, die im Zusammenhang mit dem neoliberalen Wettbewerbsdiskurs stehen.

Genealogie/Protagonisten: Die Aussagen beziehen sich auf die Entstehungsgeschichte (Genealogie) der Metropolregion Mitteldeutschland. Dabei werden auch Aussagen zu den Protagonisten einer mitteldeutschen Metropolregion kategorisiert.

Ankerbeispiel

Subkategorie

252 Anhang

Strategische Handlungsfelder: Die Hauptkategorie erfasst die Aussagen über Aktivitäten und Projekte.

Kritische Reflexion: Die Hauptkategorie erfasst das Spektrum der Kritik an den Metropolregionen.

IP II/02: „Im Bereich Wirtschaft ist das zum Beispiel Photovoltaik. […] Also: Photovoltaik ist ja in Sachsen-Anhalt mit Q-Cells ansässig. Solche Sachen, die wollen sie eben nach vorne bringen. Also: Alternative Energien ist ein Schwerpunkt im Bereich Wirtschaft, Marketing... IP I/04: „Anbindung und Mobilität: Dort kann es um die Lobbyarbeit gehen bezüglich des Ausbaus der Verkehrsinfrastrukturen. Zurzeit haben wir auf dem Internationalen Transportforum in Leipzig […] eine kleine Ausstellung zur Metropolregion.“ IP I/04: „Ich stell jetzt nur eine Frage: Wenn sich das Konzept so weiterentwickelt und immer mehr dazu kommt, sich immer weiter ausdehnt, dann hat man auch mal ganz Deutschland abgedeckt, dann ist die Frage, macht das Konzept noch Sinn.“

Cluster/Verkehr und Mobilität: Die Aussagen beziehen sich auf konkrete Aktivitäten der Clusterentwicklung, die von oder in Kooperation mit der Metropolregion Mitteldeutschland durchgeführt worden sind.

Lobbying/Marketing: Die Aussagen beziehen sich auf konkrete Lobby- und Marketingaktivitäten, die von oder in Kooperation mit der Metropolregion Mitteldeutschland durchgeführt worden sind.

Metropolregionen in Deutschland: Die Aussagen beinhalten eine grundlegende Kritik an den Metropolregionen in Deutschland. Sie schließen die kritische Reflexion des Konzeptes mit ein.

Erweiterung/Namensfindung: Die Aussagen beinhalten eine grundlegende Kritik am Prozess der Erweiterung sowie der Namens- und Identitätsfindung der Metropolregion Sachsendreieck.

Metropolregion Mitteldeutschland: Die Aussagen beinhalten eine grundlegende Kritik zur Metropolregion Mitteldeutschland. Sie schließen eine kritische Analyse des metropolregionalen/mitteldeutschen Selbstverständnisses mit ein.

IP I/08: „Ich schaue schon dem Umgriff der Metropolregion skeptisch gegenüber. Aus zwei Gründen: Was bringt einen zu einer Metropolregion? Entweder ich habe starke Verflechtungswirkungen oder [ich urteile nach dem] Mobilitätsprinzip. Für die Metropolregion Mitteldeutschland gilt weder das eine noch das andere.“ IP II/01: Also historisch ist der Begriff Mitteldeutschland ja anders belegt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff speziell für das Gebiet HalleLeipzig gebraucht […]. Einige Städte der Metropolregion gehören somit nicht zu diesem ehemaligen Mitteldeutschland.

IP I/06: „Jetzt erst einmal die Aufnahme von Magdeburg. Dann muss die Frage beantwortet werden, was wird aus Dessau? Was wird aus den anderen Thüringer Städten, außer Jena. Denn Jena hat ja bisher die Thüringer Städte vertreten.“

Erweiterung/Namensfindung: Die Aussagen beziehen sich auf das Hochschulprojekt „Namens- und Identitätsfindung Metropolregion Sachsendreieck“, welches im Wintersemester 2008/2009 von neun universitären Einrichtungen bearbeitet wurde.

Ressourcen: Die Aussagen beziehen sich auf allokative und autoritative Ressourcen (Kapitalien), die bei der Realisierung der Metropolregion Mitteldeutschland zum Einsatz gebracht werden (können).

IP I/06: „Aber eins muss klar sein: Wenn wir uns jetzt Mitteldeutschland nennen als Metropolregion, dann muss es auch eine gemeinsame Strategie geben und eine gemeinsame Vertretung nach außen geben und eine gemeinsame Interessenslage geben. Das jetzt zu finden, da fangen wir jetzt mit an.“ IP I/01: „Ich bin also stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender in der Wirtschaftsinitiative für Mitteldeutschland. […] Ich bin der Vertreter der Thüringer Städtekette in der jetzigen Metropolregion Sachsendreieck […]. Und habe selber gegründet in Jena […] das Forum Mitteldeutscher Städte […].“ IP I/06: „Also bei der Grundausstattung reden wir über eine Beteiligung im Moment von 10000 Euro pro Stadt – das ist die aktuelle Situation. Muss vielleicht aufgestockt werden. Aber wenn es offenbar ein Projekt x gibt – was wir noch definieren müssen – da muss das natürlich separat finanziert werden.“

Strategische Ziele: Die Aussagen beziehen sich auf die Leitbilder und strategischen Ziele, die im Zusammenhang mit der Entwicklung der Metropolregion Mitteldeutschland stehen. Sie betreffen also Schlussfolgerungen, die aus der SWOT-Analyse gezogen worden sind. Mitgliedschaften und Kooperation: Die Aussagen beziehen sich auf die Mitgliedschaften der Interviewpartner in relevanten Gremien. Sie beziehen sich zudem auf die tatsächlichen und wünschenswerten Kooperationen der Interviewpartner mit relevanten Gremien.

Anhang

253

Erfolg/Nutzen der Metropolregion: Die Aussagen beziehen sich auf den Erfolg und Nutzen der Metropolregion Mitteldeutschland. Sie stehen in einem argumentativen Zusammenhang zur „Notwendigkeit von Metropolregionen“ sowie den Subkategorien der „Kritischen Reflexion“.

IP I/02: „[Bei uns] gibt es die Bereitschaft zu einer Kooperationsvereinbarung zu kommen. […] Wichtig ist für beide Seiten, dass […] beide sich nicht in die jeweiligen Felder reinreden. [Wir] kümmern uns stärker um die Wirtschaft […]. Die Metropolregion kümmert sich mehr um […] kommunalpolitische Fragen.“ IP I/08: „Man hat so etwas wie die Geschäftsstelle eingerichtet. Man hat auch die ersten gemeinschaftlichen Veranstaltungen und Publikationen herausgebracht. Und man ist durchaus gewillt, darüber nachzudenken, was verbindet uns, was bringt uns voran, was sind die Thematiken?“

IP I/08: „Und wir haben dann auch – wir haben den Deutschlanddirektor von Prognos in die Klausurberatung der Bürgermeister eingeladen und haben analysiert ‚Wo wollen wir hin, was sind die Schwerpunktsetzungen, was bringt uns voran?‘“

Beratung/Benchlearning: Die Aussagen beziehen sich auf die Inanspruchnahme von Beratungsleistungen zu Konfliktbewältigung. Sie beziehen Aspekte zum Benchlearning (auf Wissensaustausch basierende Lernprozesse) mit ein.

Arbeitsteilige Kooperation: Die Aussagen beziehen sich auf die arbeitsteilig Kooperation als Konfliktbewältigungsstrategie. Sie stehen im argumentativen Zusammenhang zu den Subkategorien der „Kritischen Reflexion“.

IP I/05: „Wir sind ein Kulturraum und haben eine gemeinsame Transformationsgeschichte. […] Und das auf dem Boden einer Jahrhunderte langen alten Traditionslinie. […] Das ist eine große Bindung, die uns von der Identität her alle Chancen gibt, zusammenzurücken.“ IP I/07: „Dann musste ich mich an einem bestimmten Punkt entscheiden ‚Will ich in dem Zug, der da fährt, ganz hinten sitzen und immer mal gucken, wo die Bremse ist oder vielleicht die Notbremse? Will ich aussteigen? Oder will ich vorne ins Führerhaus und sagen OK.‘ Und dann habe ich mich […] entschieden […].“ IP I/02: „Integration verstehe ich so, dass man […] versucht, möglichst alle mitzunehmen. Dass man also wach ist, […], dass man auch bei den Diskussionen sehr genau guckt, wie wird argumentiert, wo sind Sorgen, wo sind Bedenken? Die nehme ich auf, die nehme ich ernst. […] Wie kann man die überwinden?“

IP I/04: „Das sind Alibiprojekte gewesen. Dinge, die einigermaßen realisierbar waren, die nach außen einigermaßen verkaufbar waren, nach dem Motto ‚Ihr seht ja, hier gibt es einen gewissen Mehrwert.‘ Das waren einfach Projekte ins Blaue geschossen – Dinge, die umsetzbar waren. Aber nicht mehr und nicht weniger.“ IP I/04: „Sie kriegen von mir einen riesen Preis, wenn Sie mir in einer halben Stunde jemanden in Chemnitz finden – außer Sie gehen ins Rathaus und Sie fragen gezielt – der die Metropolregion kennt. Fragen Sie einen Bürger – ich denke, jeder Tausendste kennt es vielleicht. Also: Es ist nicht da, es ist nicht vorhanden.“

IP III/01: „Wir beobachten das äußerst kritisch […] was dort passiert. Weil, durch die Institutionalisierung entstehen dort Aktivitäten, die schon x-mal […] von anderen Vereinigungen, Initiativen, Organisationen hier in der Region passiert sind.“

Mythos Mitteldeutschland: Die Aussagen beziehen sich auf emotional aufgeladene Sinnzuschreibungen zur Metropolregion Mitteldeutschland. Die im argumentativen Zusammenhang zur „Kritischen Reflexion“ stehenden Aussagen repräsentieren raumbezogene Identitätsanker. Bewusstseinswandel: Die Aussagen beziehen sich auf den Bewusstseinswandel, den die Interviewpartner oder Dritte in Bezug auf die Metropolregion Mitteldeutschland vollzogen haben. Sie stehen im argumentativen Zusammenhang zu den Subkategorien der „Kritischen Reflexion“. Deliberative Politik: Die Aussagen beziehen sich auf Formen der demokratischen Konsensbildung. Hierzu gehören neben der bloßen Bekundung zu konsensorientiertem Handeln auch die Interaktionsformen des verständigungsorientierten Argumentierens und des Verhandelns.

Öffentlichkeit/Identität: Die Aussagen beziehen sich auf eine als defizitär wahrgenommene metropolregionale Öffentlichkeit bzw. Identifikation mit der Metropolregion Mitteldeutschland.

Effizienz/Effektivität: Die Aussagen beziehen sich auf Effizienzprobleme (Wirtschaftlichkeit und Wirksamkeit) sowie Effektivitätsprobleme (Leistungsfähigkeit) der Metropolregion Mitteldeutschland.

Konkurrenz/Interessenkonflikte: Die Aussagen beziehen sich auf Konkurrenzsituationen und Interessenkonflikte, welche die Entwicklung der Metropolregion Sachsendreieck/Mitteldeutschland behindert haben/behindern.

Anhang 1: Codierleitfaden Experteninterviews | Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Konfliktbewältigung/Legitimation: Die Hauptkategorie erfasst die Aussagen von der politischen Rhetorik (talk) bis zu faktischen Handlungen (action) zur Konfliktbewältigung und Legitimation.

254 Anhang

0 0 2 1 1 0 3 2 0 4 4 1 0 3 0 0 0 1 4 1 0 1 1 9 1 2 1

IP I/01 0 0 1 2 0 1 6 2 0 3 4 0 6 0 2 0 0 4 0 1 0 10 0 3 3 0 1

Motivation strategischer Akteure Erwartungen an Mitteldeutschland SWOT Strategische Ziele Mitgliedschaft und Kooperation Ressourcen

Erweiterung/Namensfindung Cluster/Verkehr und Mobilität Lobbying/Marketing

Metropolregionen in Deutschland Metropolregion Mitteldeutschland Erweiterung/Namensfindung Konkurrenz/Interessenkonflikte Effizienz/Effektivität Öffentlichkeit/Identität

Mythos Mitteldeutschland Bewusstseinswandel Deliberative Politik Beratung/Benchlearning Arbeitsteilige Kooperation Erfolg/Nutzen der Metropolregion

IP I/03 0 2 1 0 0 2

0 1 2 2 2 0

0 0 1

2 2 1 2 1 1

1 0 0 0 1 1

IP I/04 0 4 2 1 2 4

3 6 2 17 8 6

0 7 8

0 16 7 9 0 1

8 3 2 4 0 1

IP I/05 3 1 1 2 3 3

0 0 6 4 0 0

1 0 2

1 1 0 8 5 6

0 1 0 2 2 3

IP I/06 1 1 0 1 3 0

0 1 2 0 1 3

1 0 0

0 0 1 5 0 8

1 0 1 1 1 7

IP I/07 1 3 1 0 0 1

0 0 2 1 0 1

1 0 0

0 2 1 2 0 0

0 1 1 1 0 2

IP I/08 0 3 0 1 2 1

5 5 0 3 7 2

0 0 0

6 1 0 2 0 1

0 2 0 0 2 0

IP II/01 1 1 0 2 4 1

2 2 4 2 5 1

0 1 2

0 4 0 0 0 10

3 10 2 0 0 4

0 4 3 3 0 3

10 4 4 4 4 1

0 2 0

1 0 1 1 2 2

2 2 0 0 2 4

IP II/02

Anhang 2: Quantifizierende Materialübersicht Experteninterviews | Quelle: Eigene Erhebung, Konzeption und Darstellung

IP I/02

Verständnis von Metropolregionen Notwendigkeit von Metropolregionen Genealogie/Protagonisten Geographie/Raumvorstellung Variable Geometrie Organisation

IP II/03 0 8 1 4 3 0

6 5 3 6 1 5

4 2 1

0 3 1 1 2 3

1 3 7 0 4 4

IP III/01 1 0 0 0 2 1

0 2 0 4 1 0

1 0 2

0 2 0 0 2 0

0 0 0 0 0 1

IP III/02 0 1 0 4 1 0

0 1 0 3 0 1

1 0 1

0 0 1 1 0 0

0 0 7 1 0 1

IP IV/01 0 1 0 11 2 0

3 0 1 4 1 1

0 0 0

0 0 0 0 0 0

2 2 0 0 0 0

Anhang

255

Text: Die Hauptkategorie erfasst die Textdimension der gesammelten Dokumente.

Bild: Die Hauptkategorie erfasst die Bilddimension der gesammelten Dokumente.

Das vorliegende Dokument stellt einen Report zur Auftaktkonferenz dar und gliedert sich in eine Präambel, die paraphrasierten Beiträge zum Plenum, aus dem Podium und aus den vier Foren sowie in die Ergebnisfeststellung und Handlungsempfehlungen. Im Abschnitt „Strategien und Netzwerke“ werden die vielfältigen Kooperationen im Sinne der variablen Geometrie thematisiert. Dabei werden konkrete Aktionsbündnisse und Partnerschaften benannt, die vor dem Hintergrund eines „beispiellosen Systemumbruchs“ zusammengefunden haben. […] Appellfunktion: „Die ‚Metropolregion Sachsendreieck‘ hat insbesondere mit ihrer variablen Geometrie in Thüringen und Sachsen-Anhalt als Wirtschaftsstandort eine hervorragende Position in Ostdeutschland und im gesamtdeutschen Vergleich eine hohe Dynamik“ (EMR SD 2007).

Inhaltliche Strukturierung: Die Analyse bezieht sich auf den Kern des Textinhaltes, der in Haupt- und Nebenthemen gegliedert ist. Das Thema ist entweder in einem bestimmten Textsegment (Überschrift, bestimmter Satz) realisiert oder muss interpretativ aus dem Textinhalt abstrahiert werden. Thematische Entfaltung: Die Analyse bezieht sich auf die konkreten Textinhalte, die in den einzelnen Textsequenzen formuliert worden sind. Sie werden in paraphrasierter Form wiedergegeben und in Verbindung zum thematischen Kern des Textes gebracht. Kommunikative Funktion: Die Analyse bezieht sich auf die sprachlichen Indikatoren, mit denen auf explizite/implizite Weise ein kommunikativer Kontakt oder eine Einstellung zum Textinhalt signalisiert wird. Ferner können auch kontextuelle Indikatoren auf eine bestimmte Funktion von Texten hinweisen.

Gattung: Gutachten zum Fachkräftebedarf | Verwendungsweise: SWOT-Analyse

Zugang: über Internet | Verfügbarkeit: frei zugänglich

Aktualität: neu (Stand: 06/2010) | Qualität: aufwändige Bearbeitung

Art des Dokuments: Die Analyse bezieht sich auf die Gattung des Dokuments (Report, Broschüre) und deren primäre Verwendungsweise (Mobilisierung etc.)

Herkunft des Dokuments: Die Analyse bezieht sich auf den Zugang zum Dokument (Internet, Auslage) für den Forscher und andere Interessenten.

Aktualität und Qualität des Dokuments: Die Analyse bezieht sich auf die Aktualität des Dokuments und dessen Qualität.

Bildmaterial: Die Analyse bezieht sich zum einen auf die Gattung der verwendeten Bilder (Fotos, Bildcollagen, Logos etc.) und auf die dargestellten Aspekte (Persönlichkeiten, Gruppen, Gegenstände etc.). Sie bezieht sich zum Zweiten auf deren Positionierung im Textkorpus. Kartenmaterial: Die Analyse bezieht sich auf die Gattung der dargestellten Kartenmaterialien (Karten der Raumplanung, historische Karten etc.) und auf die dargestellten Aspekte (Deutschland, Metropolregion Sachsendreieck etc.). Sie bezieht sich zum Zweiten auf deren Positionierung im Textkorpus. Grafik: Die Analyse bezieht sich auf die Gattung der dargestellten Grafiken (Diagramme, Tabellen etc.) und auf die dargestellten Aspekte (Ranking der Metropolregionen, Stärken-Schwächen Profile etc.). Sie bezieht sich zum Zweiten auf deren Positionierung im Textkorpus.

Ankerbeispiel

Subkategorie

Anhang 3: Codierleitfaden Dokumentensammlung | Quelle: Eigene Konzeption und Darstellung

Formale Aspekte: Die Hauptkategorie erfasst formale Aspekte.

256 Anhang

Auf den ersten Blick scheint mit den Metropolregionen ein erfolgreiches Instrument zur kooperativen Stadt- und Regionalentwicklung geschaffen worden zu sein. Empirische Befunde belegen jedoch, dass einige Metropolregionen ausgeprägte Funktionsdefizite und Konflikte aufweisen und daher schwierig zu etablieren sind. Entgegen den offiziellen Verlautbarungen stellen sie somit in der Praxis noch kein gelungenes, sondern vielmehr ein zu gelingendes Vorhaben dar. Wie sehr die Metropolregionen unter dem Imperativ des Gelingens stehen, zeigt sich an deren beobachtbarer Revitalisierung.

Der Autor betrachtet den deutschen Metropolisierungsprozess auf kritische Weise. Er stellt die Frage, weshalb eine Neuauflage immer wieder nötig und von den regionalen Akteuren vorangetrieben wird. Zur Beantwortung geht er auf zahlreiche Probleme und Problemlösungsstrategien ein, wie sie sich am Beispiel Mitteldeutschlands gezeigt haben. Die Ergebnisse der Analyse bettet er in eine raum- und zeitbezogene Gesellschaftsdiagnose ein, um auf die Notwendigkeit und die möglichen Folgen dieser Revitalisierung hinzuweisen.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10003-8

Tobias Federwisch Metropolregion 2.0

Sozialgeographische Bibliothek ---------------------------------Herausgegeben von Benno Werlen Wissenschaftlicher Beirat: Matthew Hannah Peter Meusburger Peter Weichhart

Band 15

Tobias Federwisch

Metropolregion 2.0 Konsequenzen einer neoliberalen Raumentwicklungspolitik

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10003-8 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany.

Auf den ersten Blick scheint mit den Metropolregionen ein erfolgreiches Instrument zur kooperativen Stadt- und Regionalentwicklung geschaffen worden zu sein. Empirische Befunde belegen jedoch, dass einige Metropolregionen ausgeprägte Funktionsdefizite und Konflikte aufweisen und daher schwierig zu etablieren sind. Entgegen den offiziellen Verlautbarungen stellen sie somit in der Praxis noch kein gelungenes, sondern vielmehr ein zu gelingendes Vorhaben dar. Wie sehr die Metropolregionen unter dem Imperativ des Gelingens stehen, zeigt sich an deren beobachtbarer Revitalisierung.

Der Autor betrachtet den deutschen Metropolisierungsprozess auf kritische Weise. Er stellt die Frage, weshalb eine Neuauflage immer wieder nötig und von den regionalen Akteuren vorangetrieben wird. Zur Beantwortung geht er auf zahlreiche Probleme und Problemlösungsstrategien ein, wie sie sich am Beispiel Mitteldeutschlands gezeigt haben. Die Ergebnisse der Analyse bettet er in eine raum- und zeitbezogene Gesellschaftsdiagnose ein, um auf die Notwendigkeit und die möglichen Folgen dieser Revitalisierung hinzuweisen.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10003-8