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German Pages 218 Year 2018
Marcel Bleuler, Anita Moser (Hg.) ent/grenzen
Edition Kulturwissenschaft | Band 159
Marcel Bleuler, Anita Moser (Hg.)
ent/grenzen Künstlerische und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Grenzräume, Migration und Ungleichheit
Die Publikation wurde gefördert durch die Paris Lodron Universität Salzburg, die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg, den Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst (Paris Lodron Universität Salzburg und Universität Mozarteum Salzburg) sowie durch das Land Salzburg, Abteilung Kultur, Bildung und Gesellschaft.
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Teilnehmer_innen des Austauschprojekts »off/line: what can art do in Zemo Nikozi?« (2016) an der Demarkationslinie zu Südossetien (Fotografie © Marcel Bleuler 2016) Lektorat & Korrektorat: Iris Weißenböck Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4126-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4126-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Einführung Marcel Bleuler, Anita Moser | 7
Was bedeutet »Grenze« heute? Isolde Charim | 17
Grenzen dekonstruieren – Mobilität imaginieren María do Mar Castro Varela | 23
Entgrenzungsoperationen U.F.O. als Mittel des Grenzüber tritts bei Július Koller Ina Mertens | 35
Was macht Kunst in der Konfliktzone? Empirische Beobachtungen zu einer »dialogischen Ästhetik« Marcel Bleuler | 53
Verhandlung von Zugehörigkeitsordnungen in Fluchtkontexten Wir/Andere-(De-)Konstruktionen im Umfeld der Schutzbefohlenen Anita Moser | 79
Grenzerfahrungen als Computerspiel Sonja Prlić, Reinhold Bidner, Karl Zechenter | 103
Wild Ein künstlerischer Blick auf Wanderungspolitiken Karla Spiluttini, Korinna Lindinger | 117
Green, Green Grass of Home Zur Auflösung der Grenzen privater und öffentlicher Räume im Kontext von Flucht und Migration Romana Hagyo | 131
»Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche« Can Gülcü im Gespräch über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft Anita Moser | 143
Die Kluft zwischen diskursiver Behauptung und Umsetzung Renzo Mar tens Institute for Human Activities und dessen Zusammenarbeit mit dem Cercle d’Ar t des Travailleurs de Plantation Congolaise Siri Peyer | 157
Raum der unüberwindbaren Differenz? Christoph Schlingensiefs Arbeit in Afrika und das Operndorf-Residency 2016 Marcel Bleuler | 171
An der Grenze zur Andersartigkeit Möglichkeiten einer speziesübergreifenden Kommunikation Benjamin Egger | 195
Angaben zu den Autor_innen | 207 Abbildungsverzeichnis | 213
Einführung Marcel Bleuler, Anita Moser Im Herbst 2015, als wir, die Herausgeber_innen dieses Bandes, an der Universität Salzburg tätig wurden, hatten die jüngsten Migrationsbewegungen in der Stadt wie in vielen anderen europäischen Grenzregionen ihre Spuren hinterlassen. Die Zahl der ankommenden Migrant_innen nahm ab und umso deutlicher trat vor allem am Hauptbahnhof die logistische Organisation hervor, mit der auf die Zu- und Durchwanderung reagiert wurde. Absperrungen sowie Zeltlager in eingezäunten Zonen manifestierten ein soziales Parallelund bis zu jenem Zeitpunkt im Salzburger Alltag weitgehend unbemerkt wirksames Ungleichheitssystem. Die verbliebenen Migrant_innen, die sich auf der anderen Seite der Abgrenzungen befanden, sahen einer müde gewordenen Willkommenskultur und zusehends verschärften Regelungen bezüglich des Grenzübertritts nach Deutschland entgegen. Wie in verschiedenen anderen Teilen Europas reagierten die Salzburger Kunst- und Kulturszenen unter dem Eindruck der politischen Dringlichkeit auf die Situation. Kunsträume wurden dabei zum Reflexionsraum öffentlich geführter Debatten im Kontext der Migrationsbewegungen und zum Versuchsfeld sozialer Inklusion. Kulturelle Identitätsräume, Blick- und Grenzregime sowie Ein- und Ausschlüsse wurden zu praxisleitenden Referenzen. Künstlerisch-kulturelle Auseinandersetzungen dieser Art sind natürlich nicht neu. Politische und gesellschaftliche Grenzen sowie ihre Überschreitungen werden in der westlichen Kunst seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert vermehrt verhandelt. In diskursiver Hinsicht überschneiden sie sich mit Arbeiten aus der postkolonialen Theorie und den Genderdebatten, die über den Bereich geopolitischer Grenzziehungen hinaus ein auf Abgrenzung und Hierarchisierung beruhendes Denken aus machtkritischer Perspektive aufbrechen. Die jüngsten Migrationsbewegungen haben diesen Fokus deutlich verstärkt. Ihm stehen zusehends polemische Reaktionen und international erstarkende rechtspopulistische Diskurse gegenüber, in denen Grenzen und Differenzen naturalisiert und instrumentalisiert werden und sich Fronten zwischen einem ›Wir‹ und den ›Anderen‹ erhärten.
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Grenzziehungen zwischen Wir und Nicht-Wir und die Herstellung des Anderen/Fremden aufgrund nationalstaatlicher, ethnischer oder kultureller Zuschreibungen, äußerer Merkmale oder vermuteter Differenzen stellen ein spezifisches Wissen über die Gesellschaft her. Dieses Wissen und damit einhergehende Ein- und Ausschlüsse werden als täglich gelebte Praxis in diskursiven und sozialen Prozessen bestätigt, verhandelt und verändert. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit eine Auseinandersetzung in der kritischen Kulturproduktion und künstlerischen Praxis zu anderen Verhandlungsansätzen und zu letztlich komplexeren Perspektiven auf Grenzen, Migration und Ungleichheit führen kann. Wann wird Kunst- und Kulturproduktion zu einem Raum der Unterbrechung, in dem Ordnungen kollabieren, Dichotomien aufgehoben und Destabilisierungen normativer Grenzziehungen in Gang gesetzt werden? Vor dem Hintergrund dieser Fragen und anknüpfend an künstlerische und kulturwissenschaftliche Arbeiten vor Ort intensivierten sich ab Herbst 2015 am Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion des Kooperationsschwerpunkts Wissenschaft und Kunst (der Paris Lodron Universität Salzburg und der Universität Mozarteum Salzburg) Auseinandersetzungen zu diesem Thema in Forschung, Lehre, Diskussionsforen und dem interdisziplinären Symposium Bis dahin und (nicht) weiter? Künstlerisch-kulturelle Befragungen von Grenzen. Sie bilden den Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes. Dieser vereint Essays, Projektanalysen und Gespräche, die aus den Veranstaltungen und dem entstandenen internationalen Netzwerk hervorgehen. Ausgehend von Grenzen, verstanden als komplexes, vielfältig verhandelbares Phänomen, versammelt die Publikation künstlerische Projekte und kulturwissenschaftliche Perspektiven, die Unschärfen und Unsicherheiten in den Blick nehmen, Durchlässigkeiten einfordern, Zwischenräume eröffnen und dominante Zugehörigkeitsordnungen zur Disposition stellen.
Z u den B eitr ägen dieses B andes Wenn von ent/grenzen gesprochen wird, dann stellt sich zuerst einmal die Frage nach den Bedeutungen von Grenzen und ihrer – im Titel dieses Sammelbandes angedeuteten – Ambivalenz, respektive den Möglichkeiten einer kritischen Umdeutung im Sinne einer Gegenbewegung, also einem ›Entgrenzen‹. Grenzen hätten keine Essenz, schreibt die Philosophin Isolde Charim in ihrem Beitrag Was bedeutet »Grenze« heute?, sondern eine Geschichte. Ihre Geschichtlichkeit mache sie veränderbar sowie mehrdeutig. Was eine Grenze bedeute, hänge von den Voraussetzungen der Individuen ab und ihrer Position in der Geschichte. Charim führt durch unterschiedliche »Grenzbilder« der postmodernen Sozialtheorie, die sie zu einem neuen Bild aktualisiert und verdichtet, wonach an ein und derselben Stelle verschiedene Grenzarten wirk-
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sam sein können. Die Mehrdeutigkeit, die Charim Grenzräumen zuschreibt, ist unlösbar mit sozialen Ungleichheits- und Parallelsystemen verbunden, die sich in den verschiedenen Zirkulationen der Individuen manifestieren und dabei immer auch ihre Zugehörigkeiten ausweisen. Grenzen würden damit eine »weltweite Apartheid« (Balibar) befördern, in der die Mitglieder der »Netzwerkgesellschaft« (Castells) Menschen auf der Flucht oder Asylsuchenden gegenüberstehen. Ausgehend von einer solchen ›Apartheid‹ stellt sich die Frage, wie sich die durch die Geschichte bedingten Zugehörigkeiten und Positionszuschreibungen mit den ihnen eingeschriebenen Ungerechtigkeitsverhältnissen verändern lassen. Die Sozialwissenschaftlerin María do Mar Castro Varela kommt in ihrem Beitrag Grenzen dekonstruieren – Mobilität imaginieren zum Schluss, dass dazu die Fähigkeit, »anders zu denken, als die Hegemonie es uns anrät«, erarbeitet werden müsse. Anhand zentraler Raum- und Grenzkonzepte postkolonialer Theoretiker_innen verdeutlicht die Autorin, dass diese nicht nur die Dringlichkeit eines transgressiven Denkens betonen, sondern auch belegen, wie sich in den Alltagspraxen Durchlässigkeiten und ›Hybridität‹ bereits durchgesetzt haben. Dabei seien »Grenzländer« entstanden, die eine kritische Betrachtung der aktuellen Weltaufteilung ermöglichen und ein »Archiv der Widerstandsmöglichkeiten« bereitstellen. So fordere die »Grenzgnosis« (Mignolo) Erzählungen des sogenannten Zivilisierungsprozesses heraus und stelle ein Grenzdenken dar, von dem aus dem eurozentrischen westlichen Einheitsnarrativ der Moderne widerstanden werden könne. Castro Varela weist auf die Kontinuität epistemischer Gewalt hin, die westliche Welterklärungen zur Wahrheit erhebe. Gerade ein Blick auf die Ränder und auf das vermeintlich gelöschte Wissen ermögliche, den Horizont des Denkbaren zu erweitern. Die Imagination von Mobilität macht die Autorin dabei als eine Möglichkeit des Widerstands stark, da sie ein auf regulierten Grenzen beruhendes Denken überschreite. Eine konkrete Imagination von Mobilität, ihr transgressives und widerständiges Potenzial analysiert die Kunsthistorikerin Ina Mertens im Beitrag Entgrenzungsoperationen, der in die Slowakei während des Realsozialismus führt. Mertens diskutiert die Arbeit des Künstlers Július Koller, der ab 1970 mit einer Art gedoppelten Identität lebte: jener des ›offiziellen‹ Künstlers Koller, der den Bedingungen des realsozialistischen Raumes unterworfen war, und jener des »U.F.O.-nauten« J. K., einer im Kosmos reisenden, mit außerirdischen Substanzen erweiterten Figur. Diese Doppelung, die in Kollers Alltag als »Potenzialität eines anderen Daseins und eines anderen Kunstbegriffs« existierte, liest Mertens als emanzipatorische Entgrenzung. In ihr zeichne sich eine feine Verwebung von historischen Ereignissen – etwa des durch Jurij Gagarins ersten Raumflug 1961 gefeierten ›Entgrenzungsdiskurses‹ gegenüber der ›Immobilität‹ der slowakischen Bevölkerung, die insbesondere nach dem Prager Früh-
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ling verstärkte Einschränkungen erfuhr – mit Kollers künstlerischer Strategie ab. Eine Strategie, die Mertens nicht eindeutig als ›politisch‹ bezeichnet, sondern mit einem Streben in ein »deleuzesches Außen« in Verbindung bringt, das eine spezifische Wahrnehmung und Bezugnahme zum lokalen Raum ermögliche. Eine Form der Bezugnahme ›von außen‹ auf einen ehemals sozialistischen Raum steht in Marcel Bleulers Beitrag Was macht Kunst in der Konfliktzone? im Zentrum. Der Kunstwissenschaftler diskutiert seine Erfahrung mit einem Austauschprojekt, für das jährlich zwei Dutzend Kunstschaffende aus Westeuropa und Georgien in ein Dorf an der Demarkationslinie zu Südossetien reisen. Während eines Zeitraums von zwei Wochen setzen sich die Kunstschaffenden mit dem in einem Nachkriegs-Rehabilitationsprozess befindlichen Ort und seinen Bewohner_innen auseinander. Dabei werde ein doppelter Dialog in Gang gesetzt: Zum einen geraten die Kunstschaffenden in eine Schnittstelle von internationaler ›Entwicklungszusammenarbeit‹ und zeitgenössischer Kunst, zwei Disziplinen, die sich nicht ohne Widerstand verbinden lassen. Zum anderen treten sie in einen sozialen Dialog, der von komplexen Differenzund Hierarchieverhältnissen geprägt ist, wodurch die Möglichkeit eines Austauschs und einer Verständigung immer auch limitiert wird und ambivalent erscheint. Anhand von individuellen Positionierungen beschreibt Bleuler, wie die Künstler_innen ihre Rolle und die Positionszuschreibungen, die beim Zusammentreffen der Menschen mit verschiedenen Ausgangslagen resultieren, in dem Projekt verhandeln. Die Implikationen internationaler Zusammenarbeit, die mit ihr verbundenen Positionierungen und hierarchisierten Zugehörigkeitsordnungen spielen infolge jüngster Migrationsbewegungen auch im deutschsprachigen Raum eine zentrale Rolle. Dabei wird offensichtlich, wie sich Machtasymmetrien sowie Ein- und Ausgrenzungen insbesondere mittels der diskursiven Figuren eines ›Wir‹ und die ›Anderen‹ festigen, die sich verstärkt als wirkmächtige Konstruktionen erweisen. Welche Wir/Andere-Ordnungen sind im Zusammenhang mit Flucht virulent und wie werden sie de- und rekonstruiert? Dieser Frage geht die Komparatistin Anita Moser in ihrem Beitrag Verhandlung von Zugehörigkeitsordnungen in Fluchtkontexten nach, wobei sie den ›Opferdiskurs‹ als dominante gesellschaftliche Konstruktion betont, die Geflüchtete in untergeordneten Positionen fixiert. Anhand des Refugee Protest Camp Vienna, des dabei entstandenen Jelinek-Textes Die Schutzbefohlenen (2013) und dessen Übertragung 2015 in eine Off-Theater-Produktion des Künstler_innenkollektivs Die schweigende Mehrheit sagt JA! diskutiert die Autorin künstlerischkulturelle Bezugnahmen auf Fluchtstereotypien und Verhandlungen von Wir/ Andere-Repräsentationen. Dabei wird Jelineks Text als – auf einer rhetorischen Umkehrung hegemonialer Ordnungen basierende – repräsentationskritische Befragung des öffentlichen Diskurses über Flucht interpretiert. Das Projekt
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der Schweigenden Mehrheit verortet Moser an den Schnittstellen sozialer, politischer und künstlerischer Arbeit, wobei ein ambivalenter Raum zwischen Kritik und der Fortschreibung asymmetrischer Machtverhältnisse zwischen Geflüchteten und Mehrheitsbevölkerung entstehe. Mit Aspekten von Flucht, Grenzziehungen und Hierarchien setzt sich auch die künstlerische Arbeit des in Salzburg ansässigen Kollektivs gold extra auseinander. In dem Beitrag Grenzerfahrung als Computerspiel geben Sonja Prlić, Reinhold Bidner und Karl Zechenter von gold extra Einblick in multidisziplinäre künstlerische Zugänge, Genese und Umsetzung ihrer Computerspiele Frontiers und From Darkness. Beide Projekte basieren auf umfangreichen Recherchereisen über Fluchthintergründe und -routen in Afrika und sind Teil ihrer langjährigen künstlerischen Forschungsarbeit. Es gehe ihnen darum, komplexe politische Zusammenhänge zu kommunizieren und die Kategorie der Dokumentation als künstlerisches Medium neu zu denken. Die Interaktionen ermöglichen Spielenden multiperspektivische (Ein-)Blicke, indem komplexe Gründe für Flucht gezeigt und ein mehrdimensionales Bild gestaltet würden. Dabei eröffnen die Spiele u. a. einen »moralischen Entscheidungsraum«, in welchem Gamer_innen gemeinsam über den Ausgang einer ›Szene‹ und den Umgang mit Mitspielenden entscheiden. So erlauben die künstlerischen Computerspiele eine neue Form der Kommunikation über Flucht mit jenen Menschen, die damit nicht automatisch in Berührung kommen. Auch das Projekt Wild zielt auf eine neue Form der Kommunikation über Migration und Flucht ab, indem es das Thema neu kontextualisiert und auf Hürden und Handlungsspielräume grenzüberschreitender Wanderungen in der Tierwelt fokussiert. In dem Beitrag Wild. Ein künstlerischer Blick auf Wanderungspolitiken diskutieren die künstlerisch Forschenden Karla Spiluttini und Korinna Lindinger ihr 2017 in Salzburg umgesetztes Projekt im Kontext kultur- und naturwissenschaftlicher Studien. Dabei legen sie dar, dass die wissenschaftliche Darstellung und Fachterminologie von Migrationen und dynamischen Prozessen in der Tier- und Pflanzenwelt Lesarten befördern, diese als bedrohlich einzuschätzen. Die Autorinnen betonen die Brüchigkeit der Behauptung eines Kultur-Natur-Antagonismus, zeigen Durchdringungen auf sowie inwieweit menschliche Eingriffe – wie die bauliche und administrative Etablierung von Nationalstaaten oder die jüngsten Grenzerrichtungen im Schengenraum – die Habitate und Mobilität von Tieren beeinflussen. In ihrem Kunstprojekt überschreiten Spiluttini und Lindinger speziesbezogene Grenzen, indem utopische Perspektiven auf tierische Mobilität imaginiert werden. Im Zusammenhang mit grenzüberschreitender Mobilität stehen auch Grenzziehungen zwischen öffentlichen und privaten Räumen zur Disposition, wie die Künstlerin und Kulturwissenschaftlerin Romana Hagyo erörtert. In »Green, Green Grass of Home«: Zur Auflösung der Grenzen privater und öffentlicher Räume im Kontext von Flucht und Migration skizziert sie die Opposition
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›öffentlich-privat‹ als eine auf gesellschaftlichen Zuschreibungen beruhende Setzung, die von Durchlässigkeiten gekennzeichnet sei. Dabei seien Verfügungsmöglichkeiten über sogenannte private und öffentliche Räume u. a. von Geschlecht, sozialer Situation und Herkunft abhängig. Anhand der künstlerischen Arbeiten Green, Green Grass of Home und Women at Work – Under Construction von Maja Bajević, die im öffentlichen Raum den Verlust des Zuhauses im Bosnienkrieg zum Thema machen, zeigt Hagyo auf, wie sehr Privatheit mit privilegierten gesellschaftlichen Positionen zu tun hat. Diese gehen in Fluchtkontexten verloren. Auf einem Fluchtweg werden provisorische Räume geschaffen und wieder verlassen, die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Sphären verschwimmen. Das Zuhause fungiere nicht mehr als sicherer Ort der Geborgenheit, sondern vielmehr als Raum, der erinnert werden und (temporär) neu geschaffen werden müsse. Migration zieht den Verlust von Privilegien nach sich und lässt Ungleichheiten deutlich zutage treten, was sich im Feld von Kunst und Kultur widerspiegelt, darin aber auch kritisch verhandelt werden kann, wie Can Gülcü im Gespräch mit Anita Moser unter dem Titel »Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche« ausführt. Der Kulturarbeiter und ehemalige Ko leiter der WIENWOCHE unterstreicht, dass der Kulturbereich von einer Reihe von Grenzziehungen geprägt sei, wobei vor allem auch über Klassenverhältnisse Ausschlüsse und Ungleichheit produziert würden. Einem agonistischen Demokratieverständnis folgend, sieht Gülcü politische Kulturarbeit als Möglichkeit, Ausgrenzungen entgegenzuarbeiten, wobei jene, die Ausschlüsse produzieren, mit von Ausschlüssen betroffenen Menschen in ein »konfliktreiches Verhältnis« zu setzen seien. Radikale Grenzüberschreitungen verortet er an den Schnittstellen zum Aktivismus, aber auch als kulturarbeiterische Strategie, die mit einer Selbstpositionierung einhergehe, die Unsicherheiten eröffne und Privilegienabgabe einfordere. Das durch politische Kulturarbeit produzierte spezifische Wissen stelle Gelerntes und Gewohntes infrage, betont Gülcü und kritisiert das weitgehende Fehlen dieses ›Grenzwissens‹ im dominanten Kulturbetrieb. Einen Grenzraum stelle auch das Feld zwischen Politik und Kunst dar, in dem sich politische Kulturarbeit bewege. Sich darin zu verorten gehe mitunter auf Kosten fehlender Anerkennung im Kunstsystem. Can Gülcüs Auffassung von politischer Kulturarbeit als Teil von übergreifenden diskursiven und aktivistischen Handlungszusammenhängen stehen Kunstprojekte gegenüber, die einen politischen Anspruch behaupten und zugleich den Anschluss an den Kunstmarkt verfolgen. Ein Anschluss, der gerade eine Distinktion gegenüber anderen kulturellen Praktiken sowie die Logik wirtschaftlicher Interessen mit sich bringt. Die Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin Siri Peyer geht von der Frage aus, inwiefern sich daraus ein Spannungsfeld zwischen den »diskursiven Versprechen« und der Umsetzung von politisch engagierten Kunstprojekten ergibt. In ihrem Beitrag Die Kluft zwi-
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schen diskursiver Behauptung und Umsetzung kontextualisiert die Autorin die Frage in der jüngeren Institutionskritik und wendet sie auf das durch den holländischen Künstler Renzo Martens 2014 initiierte Institute of Human Activities in der Demokratischen Republik Kongo an. Ein Projekt, das den Versuch unternimmt, die Ökonomie des Kunstfeldes zu instrumentalisieren, um neue Wertschöpfungskreisläufe zu etablieren, von denen ehemalige Plantagenmitarbeiter_innen im Kongo profitieren sollen. Peyer analysiert Martens Zusammenarbeit im Kongo und die mit dem Projekt verbundenen Produktions- und Transferprozesse. Sie legt eine kritische Diskussion des in mehrfacher Hinsicht paradoxen Projekts vor dem Hintergrund der Frage dar, inwiefern hier Kunst das bestehende System bestätigt und reproduziert, anstatt eine kritische Widerständigkeit aufzuweisen. Diese Ambivalenz zwischen Systemreproduktion und kritischer Wider ständigkeit besteht auch in Bezug auf Martens Adressierung (neo-)kolonialer Verhältnisse. Insbesondere mit seinem Film Enjoy Poverty: Episode III (NLD, 2008), der der Gründung des Institute of Human Activities vorausgegangen ist, deckt Martens die ökonomischen Interessen internationaler ›Hilfsorganisationen‹ im Kongo auf. Auf seiner ›Entdeckungsreise‹ verfällt er selbst jedoch auch in kolonialistische Gesten und Rollenmuster. Anstelle einer Widerständigkeit lässt er die Dilemmata seines Projekts und die (scheinbare) Ausweglosigkeit aus kolonialen Verhältnissen drastisch hervortreten. Damit weist Martens Arbeit Parallelen zum deutschen Kunst- und Theaterschaffenden Christoph Schlingensief auf, der zeitgleich in afrikanischen Ländern tätig wurde. Seiner Auseinandersetzung mit ›internationaler Zusammenarbeit‹ und dem von ihm 2010 begründeten Operndorf Afrika in Burkina Faso widmet sich Marcel Bleulers Beitrag Raum der unüberwindbaren Differenz? Anhand von Schlingensiefs Schriften zeigt der Kunstwissenschaftler den konzeptionellen Hintergrund des Operndorfs auf. Dieser divergiert deutlich von der heutigen Rezeption, die das Projekt in die Logik einer ›Kulturentwicklungszusammenarbeit‹ versetzt, die auf Ermächtigung und Einbezug des ›Globalen Südens‹ abzielt. Gerade der damit verbundenen Vorstellung eines partizipativen Raumes, in dem Handlungsmacht geteilt werden könne, widersetze sich Schlingensief. Stattdessen betone er historisch geprägte Ungleichheits- und (globale) Hierarchieverhältnisse als unüberwindbare Grundbedingung internationaler Zusammenarbeit. Anhand von empirischen Beobachtungen zum Operndorf-Residency-Programm von 2016 fragt Bleuler danach, welche Form der Durchlässigkeit gerade dann entstehen kann, wenn Differenz und Ungleichheit als unüberwindbare Tatsachen anerkannt werden. Schlingensiefs Betonung einer Trennung als Grundbedingung erscheint deshalb kontrovers, da Differenz und Ungleichheit ebenso mehrdeutige, verhandel- und wandelbare Phänomene sind wie Grenzen. Wer ihre Bedeutung verändern will, muss sich auch hier mittels Imagination ein ›anderes‹ Den-
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ken erarbeiten. Aspekte dieses Prozesses zeigt der Künstler Benjamin Egger in seinem Beitrag An der Grenze zur Andersartigkeit auf, in dem er Versuche einer »speziesübergreifenden Kommunikation« diskutiert. Ausgangspunkte stellen dabei zum einen die Sehnsucht von Menschen dar, in eine Übereinkunft mit Tieren zu treten, und zum anderen die Herausforderung, dabei vor einem Gegenüber mit Sinnes- und Körperwahrnehmungen zu stehen, die wir höchstens erahnen können. Ohne das Sehnsuchtsbild kategorisch zu disqualifizieren, geht Egger der Erfahrung von Differenz nach, die immer auch eine Neubestimmung des ›Eigenen‹ und schließlich eine Dekonstruktion des ›Anderen‹ im Sinne einer monolithischen Einheit bedeute. Eggers Diskussion bezieht dazu die Erkenntnisse ein, die er mit seinem Hund Farok und bei seiner Zusammenarbeit mit der Schimpansengruppe eines Privatzoos im Rahmen des von ihm geleiteten Forschungsprojekts Inherent Crossing (2014–2017) gesammelt hat. Diese seien vom Erlebnis einer Grenze der Verständigung geprägt, doch gerade darin, so Egger, könne eine Gemeinsamkeit gefunden werden.
D ank Unser großer Dank gilt den unmittelbar Beteiligten an diesem Buch: den Autor_innen, ohne deren wissenschaftlichen, künstlerischen und persönlichen Einsatz dieser Band nicht zustande gekommen wäre. Ihre Beiträge haben unser Nachdenken über das Thema in mitunter unerwartete und äußerst fruchtbare Richtungen gebracht, eine Erfahrung, die sich nun auf die Leser_innenschaft übertragen kann. Wir danken dem transcript Verlag für das Vertrauen in unser Projekt und die freundliche Unterstützung. Unser Dank gilt zudem insbesondere auch der Lektorin Iris Weißenböck für ihre präzise Arbeit und die Bereitschaft, gerade kurz vor der Deadline den Zeitplan als verhandelbares Phänomen aufzufassen. Des Weiteren danken wir allen, die sich im Vorfeld und während der Entstehung des Buchs mit uns auf inspirierende Diskussionen eingelassen und wertvolle Perspektiven eingebracht haben: den Studierenden und Teilnehmer_innen der Lehrveranstaltungen, Foren und des Symposiums sowie den Kolleg_innen am Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion. Ein besonderer Dank geht dabei an dessen Leiterin Elke Zobl und Ko leiterin Elisabeth Klaus, die durch anregende Gespräche und hilfreiche Tipps das Projekt maßgeblich unterstützten. Wir danken auch dem Leiter des Kooperationsschwerpunkts Wissenschaft und Kunst, Gerbert Schwaighofer, für das große Vertrauen in das Buchprojekt und die finanzielle Unterstützung. Dank gilt zudem dem internationalen Netzwerk der Schweizer Stiftung artasfoundation und ihrer Leiterin Dagmar Reichert. Die von ihr initiierten monatlichen
Einführung
Diskussionstreffen haben wesentlich zur Schärfung der Zugänge zum Thema des vorliegenden Bandes beigetragen. Die Publikation wäre nicht umsetzbar gewesen ohne die finanzielle Unterstützung durch die Paris Lodron Universität Salzburg, die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Universität Salzburg, den Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst (Paris Lodron Universität Salzburg und Universität Mozarteum Salzburg) und das Land Salzburg, Abteilung Kultur, Bildung und Gesellschaft. Ihnen allen gilt unser ausdrücklicher Dank.
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Was bedeutet »Grenze« heute? Isolde Charim
Teil 1 Die Ereignisse der letzten Zeit, die Katastrophen im Mittelmeer und die Verschärfung der Asylgesetze, zeigen deutlich: Die Definition von Grenze ist eine akute Frage. Was bedeutet also »Grenze« heute? Michel Pêcheux hat in einem kurzen Text zwei anschauliche Bilder für zwei sehr unterschiedliche Gesellschaftsformen und damit für zwei sehr unterschiedliche Arten von Grenzen entworfen: zum einen das Bild der Festung und zum anderen das des »paradoxen Raums« (Pêcheux 1983: 379–391). Die Festung – damit meint er eine Gesellschaftsordnung vom Typus der »belagerten Festung« – funktioniert nach einer »militärischen Logik der Grenze« (ebd.: 381): Alle gesellschaftlichen, alle inneren Widersprüche werden an die Grenze verlagert oder besser gesagt: Sie werden jenseits der Grenze verbannt und herrschen demnach nicht im Inneren vor. So ergeben sich klare Unterscheidungen – also klare Fronten, feste Grenzen, ein eindeutiges Innen und ein eindeutiges Außen. Der paradoxe Raum hingegen hat eine ganz andere Funktionsweise. Er kennt keine festen Grenzen, keine klaren Gegensätze, keine feste Gestalt. Der paradoxe Raum hat, so Pêcheux, »keine Logik der stabilen Objekte mit festen Grenzen« (ebd.: 382). Seine Grenzen sind nicht eindeutig – und sie sind veränderbar. Ursache für diese Neubestimmung ist die berühmte Integrationskraft des Spätkapitalismus, der auftauchende Widersprüche nicht nach außen verlagert, sondern integriert – was eben den paradoxen Raum ausmacht. Dessen Paradoxie besteht nicht zuletzt darin, kein tatsächliches Außen, d. h. keine wirkliche Unterscheidung zwischen innen und außen treffen zu können. Anders gesagt: Er funktioniert nicht über die Trennung in ein Innen und Außen. Pêcheux bezog diese zwei Gesellschaftstypen, diese zwei Grenzlogiken auf den Kalten Krieg und dessen Akteur_innen, somit auf zwei Arten von Staaten. Diese unterschiedlichen Typen waren auf zwei Blöcke aufgeteilt – die Festung des Ostens stand dem paradoxen Raum des Westens gegenüber. Sie waren
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durch eine Grenze getrennt, eine Blockgrenze, die – im Unterschied zu den Grenzen der einzelnen Länder – eine Art ›Supergrenze‹ war. Mit dem Ende des Kalten Kriegs, nach dem Ende des Ostblocks also, ist diese Aufteilung nicht mehr gültig. Aber sie ist deswegen keineswegs verschwunden. Der Gegensatz ist – in veränderter Form, mit anderen Akteur_innen – noch prägend für die heutige Gesellschaft. Deshalb macht es durchaus Sinn, diese Bilder von Festung und paradoxem Raum zu übernehmen. Dass eine solche Verschiebung möglich ist, zeigt deutlich: Grenzen haben keine Substanz – auch wenn sie der Vorgabe, eine Substanz zu haben, bedürfen. Sie bedürfen des Glaubens, dass sie essenziell sind, für ihr Funktionieren. Die Verschiebung der Grenzen – die nicht nur eine territoriale Verschiebung, sondern eine Verschiebung der Grenzarten und ihres Funktionsmodus ist – und somit alleine die Möglichkeit, dass Grenzen solch eine Veränderung erfahren können, zeigt: Grenzen haben nicht nur keine Essenz, sie haben vielmehr eine Geschichte. Eine Geschichte haben heißt, sie können ihre Bedeutung verändern. Sie können das, was ihre Realität ausmacht, die Realität, die sie herstellen, verändern. Die wesentliche Funktion von Grenzen ist und war es, Eindeutigkeit herzustellen, indem die Grenze begrenzt, abgrenzt, definiert, festlegt. Eine Funktion der Grenze ist es etwa, jene, die innerhalb einer Grenze leben, einander anzugleichen. Heute aber ist diese Funktion der Grenze in jeder Hinsicht verändert: Die Eindeutigkeit hat einer Mehrdeutigkeit Platz gemacht. Ein und dieselbe Grenze hat nicht denselben Sinn für alle. Sie eröffnet unterschiedliche, ja gegensätzliche Erfahrungen. Gegensätzliche Erfahrungen von Gesetz, Polizei, Verwaltung – je nach Herkunft und Status. Grenzen sind also (immer, aber heutzutage besonders) »undemokratische Institutionen« (Balibar 1997: 377): Vor der Grenze sind nicht alle gleich. Vor der Grenze gibt es kein Absehen von Herkunft, ganz im Gegenteil. Grenzen befördern heute, so Etienne Balibar, eine »weltweite Apartheid« (ebd.: 378), indem sie eine zweifache Zirkulation von Individuen installieren. Eine Zirkulation für die Mitglieder der »Netzwerkgesellschaft« (vgl. Castells 2001) und eine andere Zirkulation für Migrant_innen, Flüchtlinge, Asylsuchende. Ein und dieselbe Grenze konstituiert heute also zwei Identitätsarten, zwei Subjektivitäten. Diese Unterscheidung bildet die wahre, die Supergrenze, um die es heute geht. Zygmunt Baumann spricht in diesem Zusammenhang von »Touristen und Vagabunden« – was sie selbst vermutlich nur ungern hören würden, wie er hinzufügt. Tourist_innen seien, so Baumann, »freiwillige Vagabunden und Vagabunden sind Touristen wider Willen« (Baumann 2912: 98). Die Tourist_innen reisen um die Welt. Sie sind an jeder Staatsgrenze willkommen. Diese Vernetzten leben nur mit symbolischen Grenzen, also gewissermaßen ohne Grenze. Für sie bedeutet das Überschreiten einer Grenze nur eine Anerkennung ihres Sta-
Was bedeutet »Grenze« heute?
tus. Sie bevölkern den – heute weltweiten – paradoxen Raum. So wie der paradoxe Raum keine Innen-Außen-Differenz kennt und auch kein Zentrum hat, so brauchen die grenzenlos Vernetzten keine stabile Identität mehr. Die Bewohner_innen des paradoxen Raums zirkulieren frei. Ihre Grenzerfahrung ist die Erfahrung der Grenzenlosigkeit. Grenzen existieren für sie nur symbolisch oder nostalgisch, wie beim Tourismus zu den Ruinen der ehemaligen Blockgrenze. Sie kennen keinen Unterschied zwischen innen und außen. Die Bewohner_innen der Festung hingegen – Migrant_innen, Flüchtlinge, Asylsuchende – stoßen überall auf Grenzen. Für sie existieren die Grenzen nicht mehr nur an der Grenze. Die Grenzen sind für sie ubiquitär. Sie haben sich vervielfacht und bestimmen die neue, die unsichtbare und die in diesem Sinne paradoxe Festung: Grenzen durch Aufenthaltsgenehmigungen, Asylrecht, Einwanderungsbestimmungen. So hat etwa die Schengen-Außengrenze den Charakter einer Supergrenze. Es reicht nicht aus, diese zu überwinden. Selbst jene, die auf dem Weg hierher nicht ertrinken, selbst jene, die es bis hierher schaffen und die Zäune überwinden, sie alle kommen bestenfalls in der Festung an. Im paradoxen Raum sind sie damit noch lange nicht angekommen. Selbst wenn sie also geografisch am selben Ort sind, so leben Migrant_innen und ›Grenzenlose‹ doch in unterschiedlichen Räumen. Oder anders gesagt: Migrant_innen und ›Grenzenlose‹ leben am selben Ort jeweils in der Festung oder im paradoxen Raum. Dieser paradoxe Raum existiert heute also nicht nur gleichzeitig mit der Festung – wie zu Zeiten des Kalten Kriegs. Paradoxer Raum und Festung existieren heute vielmehr auch am gleichen Ort, im Unterschied zum Kalten Krieg. Die zwei Grenzregime sind nicht mehr zwei unterschiedlichen Blöcken zuordenbar, sondern finden gleichzeitig und am selben Ort statt. Das bedeutet: Festung und paradoxer Raum sind heute keine topologischen Bestimmungen mehr. Sie überlagern sich. Die Grenze ist heute nicht nur vieldeutig, sie erzeugt nicht nur zwei Arten von Subjekten. Die Grenze bewirkt auch eine Verkehrung: Die Subjekte werden gewissermaßen zu Träger_innen der Grenze. Die Grenze ist heute eine Bestimmung, die an ihren Träger_innen – den jeweiligen Individuen – festgemacht wird.
Teil 2 Wir haben es heute aber nicht nur mit zwei Arten von Grenzen zu tun. Nicht nur mit zwei Arten von Subjektivitäten. Wir haben es darüber hinaus auch mit zwei Arten von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu tun. Hier wird die Grenze nicht als territoriale, sondern als gesellschaftliche Grenze virulent.
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In diese Auseinandersetzung sind zwei Fraktionen involviert: jene, die die Pluralisierung der Gesellschaft akzeptieren, und jene, die die Pluralisierung abzuwehren versuchen. Die Antipluralist_innen ziehen eine ganz eigene Trennlinie quer durch die Gesellschaft. Eine Grenze, die äußerst tricky ist. Denn diese Grenze ist sowohl klar als auch trügerisch. Sie verläuft bekanntlich über die Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Die Ablehnung von Fremden erlaubt zweierlei: Sie erlaubt einerseits, ein sehr breites ›Wir‹ zu konstruieren, in dem sich alle versammeln können, die eben keine ›Fremden‹ sind – sie erlaubt also, verbindlich zu erscheinen. Und sie erlaubt andererseits, so zu tun, als ob diese Abgrenzung eine äußere Spaltung wäre und keine innere. Denn sie verlegt die Gegnerschaft scheinbar an den Rand, an die Grenze der Gesellschaft – an das, was die Antipluralist_innen als Rand und als Grenze definieren. Innerhalb dieser Grenzen kann man sich bequem als ›Wir‹, als ›Österreicher_innen‹ vereinen. Eine vehemente Abgrenzung also, die als Verbindendes auftritt. Anders gesagt: Das Verbindende qua Exklusion verdrängt jene andere Art des Verbindenden – jenes Gemeinsame also, das die unterschiedlichen Teile der Gesellschaft trotz aller unterschiedlichen Auffassungen, trotz aller Differenzen doch zu einer Gesellschaft gemacht hat. Das Verbindende musste dabei keine große Harmonie sein, sondern konnte auch und gerade der Konflikt sein. Der Konflikt konnte das Verbindende sein. Allerdings nur dann, wenn Einigkeit über die Form der Austragung und über die Möglichkeiten des Beendens von Konflikten herrscht. Dann also, wenn bei allem Konflikt der gemeinsame Rahmen Geltung behält. Wir haben die paradoxe Grenzziehung etwa beim Brexit erlebt. Der Brexit, der ja nicht nur für Großbritannien symptomatisch ist, hat gezeigt, dass die Europäische Union offenbar nur noch für manche und eben nicht für alle ein Gemeinsames ist. Gleichzeitig hat er gezeigt, dass auch die Nation nicht mehr dieses Verbindende ist. War die Nation einmal das Angebot eines Gemeinsamen über alle gesellschaftlichen Unterschiede hinweg, so ist die Nation heute gerade dies nicht mehr. Die Nation, die sich aus dem Einspruch gegen die EU zurückgewinnen möchte, ist eine andere geworden: Aus einer verbindenden Erzählung ist sie zu einer spaltenden geworden. Sie gilt nur für 50 Prozent der Bevölkerung. D. h. aber: Sie ist gegen die anderen 50 Prozent gerichtet. War die Nation früher nach außen hin abgrenzend, aber nach innen verbindend, so muss man sagen: Heute ist die Berufung auf die Nation – das hat das englische Beispiel gezeigt – nach innen spaltend. Die Nation hat sich von einer äußeren zu einer inneren Grenze verändert. Diese Nation kann kein umfassendes, sie kann nur noch ein halbes Wir herstellen. Genau dieselbe Art der paradoxen Grenzziehung findet sich auch bei PEGIDA (die hier stellvertretend für die Funktionsweise all dieser rechten Populismen stehen). Die selbst ernannten ›patriotischen Europäer_innen gegen die Isla-
Was bedeutet »Grenze« heute?
misierung‹, die als Retter_innen des Abendlands durch die Straßen ziehen, ziehen scheinbar eine äußere gesellschaftliche Grenzlinie, die aber eigentlich eine innere Trennlinie ist. Sie ziehen die Linie zwischen dem Islam und dem Westen. Darin sind sie übrigens ganz eins mit den Islamist_innen. Die beiden treffen sich sozusagen an derselben Grenze. Wer bei diesem Stelldichein nicht dabei ist, das sind die Pluralist_innen. Diese ziehen eine ganz andere Trennlinie. Sie stehen eben nicht auf der anderen Seite der Grenze. Sie sind vielmehr jene, die diese Trennlinie ablehnen. Sie sind jene, die eine ganz andere gesellschaftliche Grenzlinie ziehen, entgegen dem, was Populist_innen, Abendlandretter_innen und Ressentimentträger_ innen in ganz Europa propagieren. Die neue gesellschaftliche Demarkationslinie, also jene politische Grenze, die eine Front ist und die die Gesellschaften in Europa spaltet, verläuft nicht zwischen Migrant_innen und sogenannten Einheimischen. Sie verläuft zwischen Populist_innen und Pluralist_innen. Wir stehen an verschiedenen Fronten. Wir teilen nicht einmal das, was uns trennt. Besonders deutlich wird das am Wort vom »Kampf der Kulturen« (vgl. Huntington 1998), das sich heute wieder großer Beliebtheit erfreut. Genau diese Parole trägt dazu bei, eine falsche Demarkationslinie zu ziehen. Das Wort vom »Kampf der Kulturen« unterstellt, die akuten Bruchlinien würden entlang von Religionen und Ethnien verlaufen. Es zieht also die gesellschaftliche Trennlinie zwischen den Kulturen. Aber diese Trennlinie ist eine Konstruktion. Eine doppelte Konstruktion, einerseits der Rassist_innen und andererseits ist es die spiegelverkehrte Konstruktion der Islamist_innen. Das sind die beiden Fraktionen, die sich an der Frage: »Wer bist du?« formieren. Das ist Huntingtons Frage. Das ist die Frage des Kulturkampfes. »Wer bist du?« ist eine Kampffrage – eine Frage also, die in der Auseinandersetzung steht und nicht darüber. Denn die Front, die Grenze, ist tatsächlich wesentlich komplexer. Sie verläuft nicht zwischen Abendland und Morgenland. Sie verläuft nicht zwischen den Religionen. Sie verläuft auch nicht zwischen Säkularen und Gläubigen. Ja, sie verläuft noch nicht einmal zwischen den beiden Fraktionen, die in den Kulturkampf ziehen: den Rassist_innen und den Islamist_innen. Selbst diese beiden Fraktionen von fundamentalistischen Kulturkämpfer_innen treten nicht gegeneinander an. Das macht die gegenwärtige Situation so unübersichtlich, da der Frontverlauf nicht der deklarierten Demarkationslinie folgt. Die/ der deklarierte Gegner_in ist nicht die wirkliche Gegner_in. Das machen all die Horrorattentate klar: Das hat das Attentat auf Charlie Hebdo klargemacht, wo fanatisierte Männer die Redaktion des Satiremagazins exekutierten. Das haben all die anderen Attentate, wie jene auf die Pariser Cafès und die Konzerthalle Bataclan klargemacht. Und das hat auch das – spiegelverkehrte – Horrorattentat des Norwegers Anders Breivik auf das Sommercamp in Utoya gezeigt. Oder das jüngste Attentat eines Rechtsradikalen auf die britische Abgeordnete Jo Cox. So verschieden diese Horrorszenarien alle sind – in einem folgen sie
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derselben Logik: Die deklarierten Feinde zielen nicht aufeinander. Die Islamist_innen haben nicht auf Rassist_innen geschossen. Ganz im Gegenteil. Und die Rechtsradikalen haben nicht auf Muslim_innen geschossen. Die Opfer sind Karikaturist_innen und Hedonist_innen einerseits und Sozialdemokraten_innen andererseits. Das ist die/der wahre ›gemeinsame‹ Feind_in für beide Seiten. Sowohl für Islamisten_innen als auch für Rassist_innen ist die wahre Feindin die atheistische, säkulare, pluralistische, die offene, die liberale, die Post-68er-Gesellschaft. Diese befindet sich in einem Zangengriff. Es ist die offene Gesellschaft, die im Fokus steht und von zwei Seiten angegriffen wird. Nach dem Attentat auf Charlie Hebdo erschien folgende Karikatur: Ein Terrorist steht mit rauchender Maschinenpistole vor einer Leiche und ruft: »He drew first!« (Also: »Er zeichnete zuerst«, und: »Er zog zuerst« – aber mit dem Pinsel). Wenn es ein Bild für die Komplexität der Situation gibt, dann dieses. Es zeigt, dass die Auseinandersetzung nicht nach der Logik eines Fußballspiels funktioniert. Es treten nicht zwei Mannschaften auf einem Feld gegeneinander an. Die Karikatur macht vielmehr deutlich: Wir teilen nicht das Terrain, wir treten nicht einmal auf demselben Schlachtfeld an. Sie zeigt: Es ist nicht nur ein Kampf an der Frontlinie, es ist auch ein Kampf um die Frontlinie, ein Kampf um den Verlauf der gesellschaftlichen Grenze.
L iter atur Balibar, Etienne (1997): Qu’est-ce qu’une frontière? In: La crainte des masses. Paris: Editions Galilée. Castells, Emanuel (2001): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft [1996]. Opladen: Leske + Budrich Verlag. Charim, Isolde/Auer, Gertraud (Hg.) (2012): Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden. Bielefeld: transcript. Huntington, Samuel Phillips (1998): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Siedler/Goldmann. Pêcheux, Michel (1983): Ideologie – Festung oder paradoxer Raum? In: Das Argument 139. Berlin: Argument.
Grenzen dekonstruieren – Mobilität imaginieren María do Mar Castro Varela
E inleitung These are not only physical borders, they are cultural borders historically constructed and socially organized within rules and regulations that limit and enable particular identities, individual capacities, and social forms. (Giroux 1991: 52)
Grenzen bestimmen die Wahrnehmung unserer Welt. Grenzen symbolisieren, begründen und stabilisieren Macht und sind daher Herrschaftsinstrumente. Es ist eine begrenzte Welt, die wir bewohnen. Dabei sind es bei Weitem nicht nur die nationalstaatlichen Grenzen, auf die wir unser Augenmerk lenken sollten, sondern auch die sozialen Grenzen, die Menschen entlang von Kategorien der Privilegierung und Marginalisierung unterscheiden: ›Einheimische‹ und ›Fremde‹; Gesunde und Kranke; Frauen und Männer; Arme und Reiche etc. Grenzen sind keine natürlichen Phänomene. Ganz im Gegenteil, sie sind zutiefst verschränkt mit einer globalen Beherrschungsgeschichte. Sie verwalten Räume des Betretbaren und des Verbotenen, auch die Felder von Zugehörigkeit (vgl. Castro Varela 2015). Sie sind zudem produktiv, denn sie stellen Staaten und kulturelle Identitäten her, aber auch Zugehörigkeitsfantasien und staatsbürgerliche Subjekte, die sogar in der Lage sind, in Zugehörigkeitseuphorien zu verfallen, weil elf erwachsene Männer (oder Frauen) in kurzen Hosen einem Ball hinterherrennen. Fußball wäre keine so einträgliche Sache, wenn es nicht die Subjekte gebe, deren Heimatgefühle immer wieder neu angefeuert werden müssten. Die Rituale und Affekte sind dabei Rituale und Affekte der Grenzziehung und des Kriegs: Fahnen, Nationalhymnen, Tränen, Anfeuern, Schießen, Jubeln, Hassen und Umarmen. Nationen werden als Gemeinschaften nicht nur über die Bildung von Zugehörigkeiten und den entsprechenden Zugehörigkeitsmythen geschaffen, sondern wesentlich auch über die Aberkennung von Zugehörigkeiten. Hierfür werden bestimmte Erzählungen rhetorisch mit
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Nachdruck weitergegeben, während andere Geschichten absichtsvoll in die Vergessenheit gedrängt werden (vgl. Loomba 1998: 202). Der folgende Beitrag betrachtet Grenzen aus einer postkolonialen Perspektive. Es wird nachgezeichnet, inwieweit die materiellen nationalstaatlichen Grenzen sich nicht nur mit der kolonialen Beherrschung verschränkt zeigen, sondern auch mit Vorstellungen von ›gut‹ und ›böse‹ oder ›gefährlich‹ und ›vertraut‹. Zunächst wird kurz in das postkoloniale Denken eingeführt. Daran anschließend werden einige Raum- und Grenzkonzepte vorgestellt, die es uns ermöglichen, die Weltaufteilung, so wie sie uns heute als normal erscheint, kritisch zu betrachten und Segregationen zu widerstehen. Schließlich wird auf Möglichkeiten des Widerstands eingegangen, denn Grenzregime können nur funktionieren, solange diese als unangreif bar gelten. Mobilität imaginieren bedeutet hier, Hoffnung zu haben, dass ein anderes Denken möglich ist. Ein Denken, das in der Lage ist, die Idee nationaler Territorien, die streng regulierter Grenzen bedürfen, zu überschreiten. Dass dies leichter gesagt als getan ist, zeigt die lange Entwicklung im Bereich der Grenzregime Europas. Wie Fabian Wagner aufzeigt, operiert beispielsweise die Grenzschutzorganisation Frontex »in einem mehr oder minder rechtsfreien Raum und umgeht so die in den Nationalstaaten und lokalen Grenzregime eingespeicherten Kräfteverhältnisse und mit ihnen die darin verankerten menschen- und flüchtlingsrechtlichen Mindeststandards« (Wagner 2010: 235). Dies ist auch einer der Gründe, warum die Gegenwehr gegen Grenzregime eher schwach ausfällt. Des Weiteren ist klar, dass es der Dominanzbevölkerung schwerfällt, sich eine Welt ohne Grenzen, ohne Nationalstaaten, ohne Grenzregulierungen vorzustellen, eben weil sie von einer Welt mit Grenzen letztlich profitiert. Schließlich schützt die Idee der Staatsbürger_innenschaft die Mehrheit, indem sie dafür sorgt, dass Migrant_innen, Geflüchtete und Menschen im Exil nicht dieselben Rechte und damit auch keinen Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten haben. Die Privilegien der einen beruhen auf der Deprivilegierung derjenigen, die beständig in der Position der Anderen stabilisiert werden. Werfen wir also einen Blick auf postkoloniale Konzepte, die versuchen, starre Grenzziehungen anzugreifen.
P ostkoloniale G renzziehungen Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, die Welt zu betrachten. Postkoloniale Theorie ist eine machtkritische Perspektive, bei der nicht davon ausgegangen wird, dass die koloniale Herrschaft beendet ist, sondern dass diese massive Konsequenzen zeitigt. Folgen, die unsere Wahrnehmung, unsere Affekte und eben auch unser Denken beeinflussen (vgl. Castro Varela/Heinemann 2016).
Grenzen dekonstruieren – Mobilität imaginieren
Über Grenzen innerhalb eines postkolonialen Rahmens nachzudenken bedeutet, entsprechend zu verstehen, wie der (Neo-)Kolonialismus das Nachdenken über Grenzen bestimmt. Hierzu gehören differenzierte Reflexionen zur Idee der Souveränität, den Geschichten der Nationalstaaten ebenso wie die eigentlich wahnwitzige Vorstellung, bestimmte Menschen hätten ein besonderes Recht auf das Leben innerhalb eines abgegrenzten und wohl definierten Territoriums. In ihrem Buch Borderlands/La Frontera (1999) thematisiert die Chicana Intellektuelle Gloria Anzaldúa wie und mit welchen Konsequenzen die Verschiebung der mexikanischen Grenze ›Fremde‹ dort hervorbrachte, wo Menschen über viele Generationen beheimatet waren. Grenzverschiebungen erweisen sich als gutes Beispiel, um die Gewalttätigkeit von Grenzformationen sichtbar zu machen. Die Fokussierung der Verschiebung kann zudem die Vorstellung der Natürlichkeit von Grenzen dekonstruieren. Anzaldúa weist dabei nicht nur auf die physischen Grenzen hin, an denen Menschen tagtäglich scheitern und für deren Überschreitung nicht wenige ihr Leben riskieren, sondern auch auf die weniger spektakulär scheinenden Grenzen: Sprachgrenzen, Grenzen, die angeblich ›gutes‹ und ›schlechtes‹ sexuelles Begehren markieren, oder auch Geschlechtergrenzen, die immer wieder nachgezogen werden und nur männlich und weiblich kennen. Die new mestiza, die dabei als Subjektformation entsteht, wird gedacht als eine neue Kategorie, die die mestiza der Kolonialzeit überwindet. Diese von Anzaldúa theoretisch begründete Figur ist insoweit eine spannende Identitätsvorstellung, als sie ein Dazwischen markiert – wie dies im Übrigen auch für die hybride Identität (etwa Bhabha 1994) gilt. Dadurch werden Grenzräume zwangsläufig rekonfiguriert und Grenzen verschoben bzw. angetastet. Postkoloniale Theorie interessiert sich für die epistemische Gewalt, die zum Einsatz kam und nach wie vor kommt, um westliche Welterklärungen zur Wahrheit zu erheben. Ganz gleich, ob es die Philosophie, die Sozialwissenschaften, auch künstlerische Produktionen oder politische Praxen sind, der ›Rest der Welt‹ muss sich immer an den Maßstäben Europas messen lassen. So wird im Zusammenhang mit außereuropäischem Denken oft gefragt: Sind diese Vorstellungen wirklich liberal? Sind sie gemäß europäischer Vorgaben intelligibel? Epistemische Gewalt formt Grenzen, die verwoben sind mit den materiellen Grenzen und den Grenzregimen, die versuchen, Verschiebungen, Überlappungen, Irritierungen zu verhindern. Wie Dipesh Chakrabarty feststellt, besteht die »Herrschaft einer Supermacht […] zweifellos darin, dass diese auf ökonomischem, militärischem und technologischem Gebiet eine beherrschende Stellung innehat, ja nicht zuletzt auch unsere Vorstellungswelt prägt« (Chakrabarty 2010: 12). Innerhalb postkolonialer Studien wird allerdings nicht nur der Import europäischen Wissens in die Kolonien untersucht und über die Bedeutung dieser intellektuell-diskursiven Intervention nachgedacht. Die Verflechtungen
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von Wissensproduktion und Imperialismus werden auch im Zusammenhang mit der enormen Zerstörung präkolonialen Wissens problematisiert. Noch »im ausgehenden 19. Jahrhundert war [Erdkunde] weitgehend eine ›Geographie der Erschließung‹« (Conrad 2008: 81). Das gilt selbstredend auch für die Ethnografie, Anthropologie und Tropenmedizin, aber auch die moderne ›Rassenkunde‹ steht zweifelsfrei in einem direkten Zusammenhang mit kolonialer Herrschaft. Die Rassifizierung der Welt ist wichtiger Teil von Grenzregimen. Sie bestimmt a priori, wer Zugang zu welchen Privilegien erhält bzw. von denselben ausgeschlossen wird. Die Löschung und Verdrängung präkolonialen Wissens beschreibt der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos – in Anlehnung an den Genozid – als »Epistimzid« und bemerkt, dass es keine soziale Gerechtigkeit ohne eine, wie er es nennt, »kognitive Gerechtigkeit« geben kann (vgl. Santos 2008: ixx). Es gilt mithin, Wege zu finden, diese kognitive Gerechtigkeit herzustellen.
D iaspor a , G renze und tr ansnationale R äume In ihrer von Foucault inspirierten Studie untersucht Mary Louise Pratt (1992) Machtdynamiken im kolonialen Raum und geht dabei der Frage nach der Verschränkung einer europäischen Selbstrepräsentation und der kolonialen Expansionspolitik nach. Dafür stützt sie sich sowohl auf wissenschaftliche Berichte als auch (wie schon vor ihr der postkoloniale Literaturwissenschaftler Edward Said) auf populär gewordene Reisenotizen, die im bürgerlichen Europa des 18. und 19. Jahrhunderts üblich waren. U. a. fragt sie sich, welche Bilder diese Schriften von der kolonialisierten Welt hervorbringen (vgl. Pratt 1992: 5). So kann Pratt zeigen, wie Reiseberichte zusammen mit einer in der Aufklärung verankerten ›Naturgeschichte‹ zur Herausbildung eines eurozentrischen Weltbilds beitrugen. In diesem Zusammenhang führt sie das Konzept der Kontaktzonen ein, das soziale Räume beschreibt, in denen soziale Gruppen sich begegnen, deren Beziehungen durch radikale Ungleichheit und Unterdrückung gekennzeichnet sind. Der Begriff Kontaktzone stellt einen Versuch dar, die Kopräsenz von Subjekten in Räumen darzustellen, die nicht gemeinsam gedacht werden können, weil sie über rassistische Denkfiguren radikal getrennt voneinander repräsentiert werden. Paradoxerweise werden dabei rassistische Grenzziehungen sowohl ins Wanken gebracht als auch scharf nachgezogen. D. h., auch diese transgressiven Momente betonen letztlich die rassistischen Grenzziehungen. Über den Gebrauch des Begriffs Kontakt werden insbesondere die transgressiven Momente der kolonialen Begegnungen in den Vordergrund gestellt. Dabei wird das Zusammentreffen keineswegs romantisiert. Vielmehr wird über die Einführung des Konzepts der Transkulturation die Asymmetrie der Beziehungen in diesen von Grenzen durchzogenen Räumen beschreibbar.
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Der Begriff der Transkulturation wurde bereits in den 1940er-Jahren durch den kubanischen Soziologen Fernando Ortiz (1940) geprägt, um die asymmetrischen Interaktionsprozesse und ihre hybriden Resultate bei der Herausbildung einer afrokubanischen Kultur zu beschreiben. Anders als Ansätze, die etwa von Akkulturation ausgehen, d. h. der Anpassung der einen an die andere Kultur, richtet Ortiz seinen Blick auf die Verschränkungen, die Herausbildung neuer Verbindungen und die Produktion anderer, bis dahin oft nicht wahrgenommener Phänomene. Pratt nutzt den Begriff der Transkulturation in ebendiesem Sinne, jedoch ohne sich direkt auf Ortiz zu beziehen. Anders als in vielen pädagogischen Ansätzen (vgl. kritisch Auditor 2013) werden der Dialog, die Begegnung nicht einfach romantisiert, sondern eben die gewalttätigen Momente, die in diesen eingeschrieben sind, herausgearbeitet. Pratts Text weist auf die gegenseitige Beeinflussung von europäischen Zentren und den unterworfenen Territorien hin. Dieser Argumentation folgend wird deutlich, dass und wie Europa sowohl von innen als auch von außen durch Abgrenzungen und eine kontinuierliche Grenzverschiebung konstituiert wurde (vgl. auch Blunt/McEwan 2002). Schon seit einiger Zeit kann ein wachsendes Interesse an den Verknüpfungslinien zwischen einer postkolonial bestimmten Räumlichkeit und Migrationsphänomenen ausgemacht werden. Aufgrund der aktuell zunehmenden Fluchtbewegungen wurde die politische Debatte um Grenzregime, die schon vorher existent war (siehe etwa Hess/Kasparek 2010), nochmals revitalisiert. Neben der Frage nach dem Status quo des Nationalstaats und der Transformation von Migrationskontrolle (vgl. Wagner 2010) werden dabei Fragen nach Zugehörigkeit (vgl. Anderson 1991), Fremdheit und Identität in oft problematischer Weise aktualisiert. Wer gilt als ›fremd‹? Vor wem gilt es, sich zu fürchten? Kann jede Abwehr der Mehrheit mit (verständlichen) Ängsten erklärt werden? Wie werden diese Ängste diskursiv hergestellt? Die Frage, die in diesem Zusammenhang auch zu stellen ist, ist die nach einer kulturellen Identität und die Wandlung und Bedeutungsverschiebung, die dieselbe durch Vertreibung und Exil durchmacht. Der Begriff Diaspora etwa beschreibt ein Kollektiv, welches durch die Erfahrung mit (erzwungener) Migration gezeichnet ist. Zu Beginn der kolonialen Herrschaft kam es vor allem über die Etablierung des Sklavenhandels und der Lehnknechtschaft zur gewaltvollen Disseminierung großer Bevölkerungsgruppen aus dem afrikanischen und asiatischen Kontinent. Gleichzeitig migrierten und flohen Millionen von Europäer_innen in die Kolonien, um sich dort ein neues Leben aufzubauen – viele aufgrund religiöser und politischer Verfolgung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts migrierten Millionen von Menschen aufgrund politischer und ökonomischer Gründe nach Europa, in die USA, Australien oder Neuseeland. Dekolonisierungsbewegungen spielten dabei keine unerhebliche Rolle. Die Gewalt, die sich im Zusammenhang mit den antiko-
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lonialen Kämpfen entfaltete, führte u. a. zu massiven Fluchtbewegungen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten dann erstarkte nationalistische und faschistische Kräfte in Europa zur Ausbildung neuer diasporischer Bewegungen. Die Zunahme von Grenzüberschreitungen lässt das Sprechen über Grenzen und Diaspora, wie die Soziologin Avtar Brah schreibt, zu einer neuen Währung werden (vgl. Brah 1996: 178). Postkoloniale Diasporastudien versuchen gewissermaßen, die kolonialen Kontinuitäten von Migrationsrouten nachzuzeichnen. Die Beziehung zwischen Diaspora und Kolonialismus ist dabei eine sehr komplexe. Die diasporischen Bevölkerungsgruppen sind entsprechend heterogen. Es finden sich diasporische Gruppen sowohl in den Metropolen als auch in den Kolonien und diese sind Sklav_innen, Arbeiter_innen, Verwalter_innen, Siedler_innen, Eigentümer_innen etc. Das macht es nicht einfach, allgemeine Aussagen über die Diaspora zu treffen. Da die koloniale Herrschaft über diverse Machtformationen stabilisiert wurde, enthalten die durch die Diaspora hergestellten kulturellen Formationen ebenso vielfältige Resonanzen. Diese werden bestimmt durch die diversen Bewegungen, Imaginationen der Herkunftsländer und Reaktionen des Einwanderungslands darauf. Das Konzept der Diaspora steht dem Diskurs über fixierte Herkünfte als ein kritischer Gegendiskurs gegenüber und spricht in diesem Sinne von einem heimatlichen Begehren, welches Brah klar von einem Begehren nach dem Heimatland unterscheidet (vgl. ebd.: 180). Brah schlägt vor, den Raum der Diaspora als ein Konzept zu lesen, welches die Grenzen, die ein Innen und Außen, ein Dazugehören und Nicht-Dazugehören, wie auch ein ›Wir‹ und die ›Anderen‹ formen, herausfordert. Der Raum der Diaspora ist in ihrer Lesart eine konzeptuelle Kategorie: ein Raum, der nicht nur von denen bewohnt wird, die selbst oder deren Vorfahren migriert sind, sondern gleichfalls von denen, die als ›Indigene‹ konstruiert und repräsentiert werden. Er ist mithin ein Ort, an dem Menschen, die schon seit Generationen auf demselben Territorium leben, diasporisch sein können, wie auch diasporische Menschen als ›Eingeborene‹ gelesen werden können (vgl. ebd.: 208). Dadurch wird die Bedeutung der Diaspora als Kategorie verschoben. Der Soziologe Paul Gilroy, der mit seiner Studie Black Atlantic (1993) über die Einbeziehung einer transnationalen räumlichen Dimension ein neues Verständnis von Identität und einer »Schwarzen Moderne« herausgearbeitet hat, darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Indem Gilroy die lange und komplexe Geschichte der afrikanischen Diaspora innerhalb eines transnationalen Rahmens präsentiert, ist es ihm möglich, eine Schwarze Identität in Europa und der Neuen Welt als einen fortgesetzten Prozess von Reisen und Austausch über den Atlantik hinweg auszumachen. Eines seiner zentralen Bilder ist das des Sklavenschiffes, das die Middle Passage des Sklavenhandels als eine notwendige Erfahrung für das Verständnis einer transnationalen Schwarzen Moderne evoziert (vgl. Gilroy 1993: 4). Gilroy verbindet
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die oft sehr abstrakt gedachte Moderne mit der brutalen Praxis afrikanischer Versklavung, um aufzuzeigen, wie und warum Schwarze Intellektuelle die Erinnerungen an die Sklaverei als Ausgangspunkt nahmen und nehmen, um die Moderne im Allgemeinen einer Kritik zu unterwerfen. Gilroys Arbeit entfaltet den »Schwarzen Atlantik« als eine Art Gegenkultur und erkennt zudem etwa Transmissionsrouten für Schwarze Musik als transkulturelles und transnationales Phänomen, in dem Künstler_innen neue Debatten über die Moderne anregen (vgl. ebd.: 74). Seine Vorstellung einer hybriden transnationalen Formation steht in klarer Opposition zur Kategorie der Nation. Sie bildet damit ein interessantes Analysemodell für politische Befreiung. Gilroy untersucht die Dynamiken zwischen diasporischen und nationalistischen Kulturen und beschreibt die Verfahren einer Gegenkultur des »Schwarzen Atlantiks« als kritischen (und auch kreativen) Zwischenraum, in dem beide mit der Formation der europäischen Moderne in Beziehung stehen. Ein anderes interessantes Konzept wurde von dem Literaturwissenschaftler Walter Mignolo (2000) eingeführt. In seinem Buch Local Histories/Global Designs führt er in seiner Auseinandersetzung mit dem Universalitätsanspruch europäischer (Geistes-)Wissenschaften aus: »Although ›border‹ is an overused word (e. g., border writing, border culture, border matters), none of the discussions I read using the word dealt with knowledge and understanding, epistemology and hermeneutics, those two sides of the intellectual frontiers of European modernity.« (ebd.: 5) Mit diesen Gedanken beginnend formuliert Mignolo schließlich eine Grenzgnosis und damit ein imperiales Grenzland, das den Geopolitiken westlich hegemonialer Wissensproduktion zu widerstehen versucht. Das Grenzdenken, welches hier herausgearbeitet wird, fordert die Erzählungen des sogenannten Zivilisierungsprozesses heraus. Grenzgnosis ermöglicht ein überschreitendes Denken und widersteht der eurozentrischen Grenzziehung. Es macht ein Wissen sichtbar, welches an den kolonialen Rändern und in den Metropolen gleichzeitig hergestellt wird. Mignolo argumentiert nachvollziehbar, dass die subalternen Stimmen in und von den Rändern aus in der Lage waren, die dichotomen Strukturen kultureller Imperialismen zu durchbrechen. Es erscheint ihm wichtig, die Grenzen der Dekonstruktion innerhalb westlicher Metaphysiken und des Logozentrismus hin zu einer Dekolonisierung des geschichtlich Verschwiegenen zu überschreiten. Europäische Intellektuelle haben zu lange die Kolonialgeschichte und ihr aktives Auslöschen und Verschweigen anderer Wissensarchive ignoriert. Dies stabilisierte die ›Wahnvorstellung‹, dass die europäische Wissensproduktion die einzig gültige sei und mithin universal Geltung haben müsse. Plato, führt Mignolo aus, unterscheidet zwischen Doxa und Episteme. Während die Doxa ein Alltagswissen repräsentiert, stellen die Episteme ein Wissen dar, das systematisch ist und logischen Regeln folgt. Gnosis versucht dagegen, für geheimes und verstecktes Wissen einen Raum im Feld der Wissensproduktion zu eröff-
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nen (vgl. ebd.: 9 f.). Diesem Gedanken folgend entwickelt Mignolo ein »Gnosiswissen«, welches Doxa und Episteme vereint. Border gnosis as knowledge from a subaltern perspective is knowledge conceived from the exterior borders of the modern/colonial world system, and border gnoseology as a discourse about colonial knowledge is conceived at the conflictive intersection of the knowledge produced from the perspective of modern colonialisms (rhetoric, philosophy, science) and knowledge produced from the perspective of colonial modernities in Asia, Africa, and the Americas/Caribbean. (Ebd.: 11)
Transnationale Raumkonzepte machen es möglich, Beziehungen zwischen Akteur_innen und historischen Geschehnissen herzustellen, die quer durch das Empire, zwischen den Zentren und seinen Rändern stattfanden, und können die Negierung der Gleichzeitigkeit eines Europas ›Anderer‹ effektvoll angreifen. Für Mignolo beinhaltet der Prozess der Dekolonisierung nicht nur eine Bewegung in Richtung transdisziplinärer Praxen, wie sie u. a. in der Kunst oft propagiert werden. Auch die Wissensproduktion von den externen Grenzen der modernen kolonialen Welt, der Ort kolonialer Differenz, des Dazwischen, und die Anerkennung der Historizität des grenzkennenden und grenzlandschaffenden Subjekts (hierzu Anzaldúa 1999) finden Berücksichtigung. Das Wissen an der Grenze und von den Rändern (border thinking) fordert die westliche Hegemonie in vielfältiger Weise heraus. Es irritiert eine eurozentrische Sichtweise, der es über Jahrhunderte gelungen ist, das Wissen der kolonisierten Räume zu ignorieren. Selbstredend bezieht sich dies auch auf ästhetische und affektive Konzepte. Mignolo (und auch andere postkoloniale und dekoloniale Denker_innen) gehen mit ihren Ansätzen über poststrukturalistisches Denken hinaus. Diese stellen allerdings ein notwendiges und wichtiges Fundament für seine Ideen der kolonialen Differenz und des Grenzdenkens dar, von dem aus dem eurozentrischen westlichen Einheitsnarrativ der Moderne widerstanden werden kann. Postkoloniale Ansätze stellen gewissermaßen einen räumlichen Paradigmenwechsel dar. Die von Mignolo entwickelte relationale Perspektive weist auf die gemeinsam geteilte Geschichte der Verflechtungen zwischen Weltregionen in der Vergangenheit und Gegenwart hin, anstatt immer nur die Grenzen zu stabilisieren, die gewollter Effekt imperialistischer Praxen sind (vgl. auch Gilroy 2000). Die Grenze kann als eine der machtvollsten Diskursformationen der Moderne gesehen werden. Als Metapher und als Phänomen bezeichnet sie nicht nur das, was zwischen Räumen und Territorien liegt, sondern markiert auch eigene Räume. Grenzen zeigen zudem auf, was in bestimmten Zeiträumen möglich ist. Die Grenzziehung als Praxis ist dabei Teil von Herrschaftsformationen (vgl. Anzaldúa 1999: 25). Anzaldúa bestimmt die Grenze dezidiert nicht als Linie, sondern als ein Grenzland, von dem aus Widerstand ausgeht. Grenz-
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überschreitungen von Transmigrant_innen zwischen Mexiko und den USA werden bei ihr nicht als eine Bewegung von Menschen in Richtung ökonomischen Reichtums gelesen (etwa im Sinne der klassischen ›Push-Pull-Theorie‹), sondern tektonisch interpretiert. Wie bei einem Erdbeben werden geronnene kulturelle Muster in Bewegung versetzt und auch zerstört. In einer ähnlichen Bewegung führt Gayatri Chakravorty Spivak in dem mit Judith Butler herausgegebenen Band Who Sings the Nation-State? (2007) einen kritischen Regionalismus ein, den sie als eine mögliche Alternative zum hegemonialen Nationalismus präsentiert, da dieser die Dekonstruktion von Grenzen und der damit einhergehenden rigiden nationalen Identitäten einfordert. In der von postkolonialen Ansätzen beeinflussten Geschichtsschreibung wird auf die Rückwirkung des Kolonialismus auf Europa sowie auf die vielfältigen Verflechtungen zwischen den Metropolen und den Kolonien verwiesen (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: Kap. 1). Diese verflechtungsgeschichtlichen Ansätze zeichnen nach, wie populäre Kultur und Konsum, Kunst und Kultur, Wissenschaften wie Botanik, Geografie, Ethnologie, aber auch Formen sozialer Disziplin und Hygiene sowie Diskurse über Rasse und Sexualität in der europäischen bürgerlichen Ordnung des 19. und 20. Jahrhunderts nicht selten auf Modellen und Herrschaftstechniken beruhten, die in den Kolonien erfunden und erprobt worden waren. Postkoloniale Ansätze weisen auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines transgressiven Denkens hin. Sie zeigen aber auch auf, wie sich in den Alltagspraxen Hybridität schon durchgesetzt hat, Grenzländer entstanden sind, die zwar nur bedingt den Nationalstaat infrage stellen, sich aber gegen diese Diskurse und Praxen zur Wehr setzen können und ein Archiv der Widerstandsmöglichkeiten bereitstellen.
S chlussbemerkungen »Die Nachrichten vom Tod des Nationalstaates […] sind stark übertrieben.« (Cooper 2012: 167) Diese knappe, prägnante Diagnose von Frederick Cooper, Kolonialhistoriker, bringt auf den Punkt, warum Grenzreflexionen dringlich bleiben. Cooper führt dies in seiner Einführung zur Kolonialgeschichte aus, um zu verdeutlichen, dass Nationalstaaten in einer engen Beziehung zur fortbestehenden kolonialen Herrschaft stehen. Sie bleiben de facto die dominante Vorstellung kollektiven Zusammenlebens – im globalen Norden wie im globalen Süden. Konsequenz ist, dass diejenigen, die nicht als zugehörig zum Nationalstaat gesehen werden, gewaltsam hinter die Grenzen verschoben werden. Ihr Sein innerhalb der Grenzen wird als bedrohlich empfunden; ihr Hier-Sein steht immer zur Disposition. Flucht und Migration werden kontinuierlich hin-
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terfragt und immer noch oft nur als Störung empfunden. Und dies gilt sowohl für die ehemaligen Kolonialländer als auch die kolonisierten Länder. Ein Blick auf die Ränder, auf das vermeintlich gelöschte Wissen, ermöglicht es, den Horizont des Denkbaren zu erweitern und sich eine Fertigkeit zu erarbeiten, die ich an anderer Stelle als Utopiefähigkeit bezeichnet habe (vgl. Castro Varela 2007). Die Fähigkeit nämlich, anders zu denken, als die Hegemonie es uns anrät. Subjekte, deren Imagination erweitert ist, die mehr als das Angeratene denken können, sind nicht so schnell durch den sich rasend ausbreitenden Rechtspopulismus zu beeinflussen. Sie können zudem andere Kollektive denken, die die gängigen Figuren des ›Wir‹ und die ›Anderen‹ überschreiben.
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Grenzen dekonstruieren – Mobilität imaginieren
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Entgrenzungsoperationen U.F.O. als Mittel des Grenzübertritts bei Július Koller Ina Mertens
D er R aum -Z eit-R eisende I will begin with introducing myself: I am a U.F.O.-naut JK Július Koller traveller in spacetime. […] [M]y person and personality comprises of unearthly (extraterrestrial and metaphysical) and earthly substance.1
Der slowakische Künstler Július Koller präsentiert sich in diesem Zitat in der Rolle seines Lebens: als selbst ernannter Raum-Zeit-Reisender und U.F.O.-naut J. K. Seine Selbstvorstellung ist keinesfalls als Witz zu verstehen, sondern trotz ihrer krude erscheinenden Behauptungen durchaus ernst zu nehmen. Er lebte bereits seit 1970, also 15 Jahre mit seinem Alter Ego – dem U.F.O.-nauten –, als er so über sich sprach. Dabei ist es schwierig zu sagen, ob Július Koller die Rolle des zugleich extraterrestrischen und weltlichen Wesens verkörperte oder ob es der U.F.O.-naut war, der von Koller Besitz ergriff. Beide Identitäten manifestieren sich in Abwesenheit des anderen und existieren doch in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander. Koller und der U.F.O.-naut orientieren sich trotz dieser Überlagerung in zwei verschiedene Richtungen und erschließen damit auch zwei verschiedene Bereiche. Der eine von ihnen, Július Koller, ist fest in seinem Lebensraum, dem Alltag in der staatssozialistischen Stadt Bratislava, verwurzelt und wirkt innerhalb des engen kulturpolitisch kontrollierten Rahmens, der ihm vorgibt, was zum künstlerischen Geschehen gehören darf und soll. Der andere wendet sich mit seiner künstlerischen und kulturellen Tätigkeit dem Weltraum und dem Überweltlichen zu. Die in den Sechzigerjahren durch den Menschen neu erschlossene kosmische Realität scheint aus dem All zurückzustrahlen. Koller integrierte diese neu gewonnenen Perspektiven in seine Arbeitsweise und begann, viele künst1 | Július Koller, Konzept aus dem Jahr 1985 (Hanáková/Hrabušický 2010: 255).
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lerische Aktionen sowie Gegenstände und Textkarten, Vorgefundenes und Selbstproduziertes mit dem Akronym U.F.O. zu versehen und damit in den Dienst einer größeren, dem einzelnen Kunstwerk übergeordneten künstlerischen Praxis zu stellen, die er »universell-kulturell futurologischen Operationen (U.F.O.)«2 nannte. Der U.F.O.-naut ist Produkt dieser Praxis, zugleich aber auch ihr Produzent. In seinen Textarbeiten rief Koller 1969 und 1970 den »Bedarf für eine kosmohumanistische Kultur«3 aus und begann – als U.F.O.naut –, an dieser zu arbeiten. Das Paradoxe dieser Situation – die Zweigleisigkeit der subjektiven Künstlerpersönlichkeit, die sich in einer Art ›doppelten Identität‹ auch aus dem U.F.O.-nauten speist – wurde befeuert durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Im Gegensatz zur Zeit war Raum (genauso wie Waren, persönliche Freiheit und andere Dinge des Lebens) in Kollers realsozialistischer Umgebung knapp bemessen. Die Alltagserfahrungen waren bestimmt von den Gefühlen des Eingegrenztseins auf mehreren Ebenen. Nicht nur der private Wohnraum oder die Orte für die künstlerische Arbeit waren knapp, auch die geografischen und politischen Strukturen der Tschechoslowakei riefen beklemmende Gefühle der Eingrenzung hervor. Besonders verstörend muss sich diese Situation angefühlt haben, da der offizielle mediale Diskurs vor dem Hintergrund der ersten bemannten Raumflüge die ›Entgrenzung‹ propagierte. Schließlich fielen Kollers kulturelle Operationen sowie die Ausrufung der »kosmohumanistischen Kultur« in eine Epoche, die von den neuen Möglichkeiten der Technik geprägt war und in der die Verhandelbarkeit von Raum und Zeit durch die neu entstandene planetarische Perspektive der Raumfahrt zu einer quasi staatspolitischen, transatlantischen Angelegenheit wurde. Aus heutiger Perspektive entsteht der Eindruck, dass Koller von seinem U.F.O.-nauten vorwärts gedrängt wurde: in einen alternativen Entwurf von zeitgenössischer Kunst, der mit den im Realsozialismus gültigen Modellen von Kunst oder Leben nicht viel zu tun hatte. Innerhalb von Kollers Werkkorpus fand bei den U.F.O.-Werken eine Überlagerung der ›offiziellen‹ wie der ›inoffiziellen‹ Kunstsphären statt. Dabei ist zu fragen, ob ihm die identitäre Doppelung dabei geholfen hat, sein Künstlersein innerhalb dieser zwei Sphären und in einer schwierigen gesellschaftlichen Rahmung überhaupt erst zu gestalten. Im Wirkkreis des U.F.O.-nauten konnte er in ferne Galaxien zielen. Diese Perspektive versuchte Koller dann auch in seinem Lebensraum – dem Bratislava der Nachkriegszeit – anzubringen.
2 | Univerzálne-kultúrne Futurologické Operácie (U.F.O.). 3 | Potreba kozmohumanistickej kultúry.
Entgrenzungsoperationen
D er U.F.O.- naut Im ersten Porträt, auf dem sich Július Koller als U.F.O.-naut präsentiert, fällt die Untersicht auf, mit der die Fotografie aufgenommen ist. Abb. 1: Július Koller, U.F.O.-naut J. K. (U.F.O.), 1970
Foto: Milan Sirkovský, © Slovak National Gallery, Bratislava
Dadurch wird der Eindruck befördert, der von zwei Tischtennisbällen verstellte Blick richte sich gen Himmel. Einen mit seinen Initialen J. K. auf einer Plakette beschrifteten Tischtennisschläger hält er sich vor die Brust. Das Porträt ist in Zusammenhang mit einer Reihe weiterer Fotografien entstanden, den Aktionen der Universell physisch-kulturellen Operationen (Offensive) (U.F.O.)4 Mit ähnlichen Requisiten ausgestattet streckt Koller hier wie zur Abwehr gegen 4 | Von der Arbeit existieren sieben verschiedene Einzelbilder, die Koller in unterschiedlichen Positionen zeigen. Der Originaltitel lautet: Univerzálna Fyzkultúrna Operácia (Útočná) (U.F.O.).
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oder auch als Signal für potenzielle Außerirdische aus der Deckung einer Dachluke in der Klobučnícka-Straße in Bratislava den Schläger antennenartig in den Himmel. Abb. 2: Július Koller, Universell physischkulturelle Operation (Angriff) (U.F.O.), 1970
Foto: Milan Sirkovský, © Kontakt Collection, Wien
Viele der auf das erste Porträt folgenden Bilder, in denen sich Koller einmal pro Jahr bis zu seinem Tod 2007 immer wieder als U.F.O.-naut inszeniert, haben gemeinsam, dass der Künstler sich durch Gegenstände den Blick verstellt. Die beiden Tischtennisbälle sind dabei ein wiederkehrendes Element, auf das er auch 1980 wieder zurückgreift. In den anderen Porträts nehmen ihm Folien, Teller, Bücher, Spiegel, Netze etc. die Sicht. Es scheint, als wolle er nicht sehen – oder nur gefiltert sehen. Die Gegenstände, die Koller dem Gesicht als U.F.O.-naut vorschiebt, hat er nach eigener Aussage benutzt, um auf die Spezifika des Entstehungsjahres zu verweisen. »[J]e nach meiner persönlichen kulturellen Situation oder der kulturellen Situation des jeweiligen Jahres« (Koller/Ondak 2003: 44), in dem das Porträt entstanden ist, verändern sie sich.
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Abb. 3: Július Koller, U.F.O.-naut J. K. (U.F.O.), 1980
Foto: Kveta Fulierová, © Slovak National Gallery, Bratislava
Es wäre leicht zu sagen, dass die Ereignisse des Prager Frühlings im August 1968 zu einer Art Verschlussmechanismus geführt haben. Statt die Hoffnungen auf Freiheit und einen ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹ zertrümmert zu sehen, schrieb man dem U.F.O.-nauten dann zu, er habe lieber die Augen verschlossen. Die tschechoslowakische Reformpolitik der vorhergehenden Jahre und die nahezu parallelen weltweiten Ereignisse der verschiedenen Bewegungen im Jahr 1968 hatten die Hoffnungen auf ein pluralistisches Sein, auf freie Meinungsäußerung und Freiheit in ganz Zentraleuropa genährt (vgl. Kastner/ Mayer 2008; Haraszti/St. Auby 2011: 43). Die Nachwehen jedoch ließen die aufgekeimten Möglichkeiten Schritt für Schritt wegbrechen. Das gesellschaftliche und künstlerische Leben veränderte sich und die Enttäuschung über das jähe Ende eines Auf bruchs, der gerade erst begonnen hatte, war in Bratislava groß. Die neuen, rigideren Maßnahmen seitens des Staats sickerten langsam in die gesellschaftliche Realität ein und die Künstler_innen mussten sich an die neue
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Situation gewöhnen. Zugleich waren aber auch die Erinnerungen an die Ziele der Reformpolitik, die das ›freiere Leben‹ ermöglicht hätten, noch sehr wach. Bliebe der Verschlussmechanismus der einzige Interpretationsrahmen für die verstellten Augen des U.F.O.-nauten, dann würde man die Figur resignativ verstehen und Koller in gewisser Weise einen Rückzug unterstellen. Ich glaube allerdings, dass es sich gegenteilig verhält. Der U.F.O.-naut offerierte ihm gerade in dieser spezifischen Situation einen Raum des Auf bruchs. Statt eskapistisch wirkt die Figur emanzipatorisch und sprengt leise, aber bestimmt die gesellschaftlichen Ketten. Als U.F.O.-naut musste Koller nichts sehen, nichts verstehen, nichts kommentieren, nicht in der Wirklichkeit gesellschaftlich agieren. Er durfte mit seiner Situation hadern und er durfte an den neuen Bedingungen zweifeln. Mit den aus dem Prager Frühling motivierten Erfahrungen im Rücken folgen die verstellten Augen einem dialektischen Spiel aus Verbergen und Enthüllen. In seiner Rolle stößt er eine Tür zu einem halb passiven, halb aktiven Handlungsraum auf, in dem er als Künstler undurchsichtig sein darf, aber trotzdem künstlerisch tätig ist. Die Pingpongbälle – und ebenso die anderen vorgestellten Gegenstände in den späteren Fotografien – nehmen ihm die Möglichkeit, direkt über seinen Blick zu kommunizieren, und dennoch tritt er durch die Rolle, die er einnimmt, mit seiner Umwelt in Kontakt. Er verhüllt seinen Blick und erzeugt trotzdem eine künstlerische Präsenz, die auf sein Umfeld wirkt. Durch das Spiel zwischen Rückzug und Zugegensein öffnet er einen Zwischenraum, in dem sich die ›offiziellen‹ und ›inoffiziellen‹ Zugänge zur Kunst mischen und in dem scheinbar andere Maßstäbe als die realen gelten. Dabei ist Koller ganz ›offiziell‹ Künstler. Mit einem Abschluss von der Kunstakademie in Bratislava war er auch ein anerkannter ›akademischer Maler‹ und noch bis zu seinem Ausschluss 1972 Mitglied der Slowakischen Künstlervereinigung. Aber weil er der Figur des U.F.O.-nauten treu blieb, ihn bei sich behielt, sich auf den Fotografien als U.F.O.-naut exponierte, öffnete er sich auch für das Bodenlose. Er hinterfragt nicht nur das irdische Sein vor dem Hintergrund eines möglichen kosmischen Seins, sondern steht mit diesem alternativen Entwurf zur Perzeption der Welt auch mit einem Fuß in der ›inoffiziellen‹ Sphäre seiner künstlerischen Tätigkeit. Der U.F.O.-naut existierte in seinem Alltag sozusagen als Potenzialiät eines anderen Daseins und eines anderen Kunstbegriffs. Die Botschaft, die der U.F.O.-naut verbreitet, ergibt sich dabei nicht aus einem konfrontativen künstlerischen Auftreten. Sie ist als leises Rauschen zu vernehmen und erzählt davon, dass eine andere Existenz jenseits der gesellschaftspolitischen Realität möglich ist. Mit den Gesichtsgegenständen als humorvoller Geste aus einer ›anderen‹ Welt getarnt findet diese Botschaft Eingang in das Œuvre des Künstlers und zeichnet damit eine besondere Stärke der Porträtfotografien aus.
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D as S treben nach V erständigung In Franz Kafkas Erzählung Blumfeld, ein älterer Junggeselle übernehmen ebenfalls zwei Tischtennisbälle eine tragende Rolle im Leben des Protagonisten. Hier kommt der allein lebende Blumfeld am Abend in seine Wohnung und findet auf dem Fußboden zwei unaufhörlich tanzende »Celluloidbälle« vor, die ihm folgen, ihn anspringen, ihm sogar ins Gesicht hüpfen und ihm damit vom Moment ihres Auftauchens an das Leben schwer machen. Sie bringen Blumfelds Abläufe durcheinander und stören seinen geregelten, wenn auch recht tristen Alltag. Bei seinen Versuchen, die Bälle wieder aus seiner Wohnung (und seinem Leben) zu verbannen, kommt es zu mehreren grotesken Szenen, bei denen sich Blumfeld unbeholfen sowohl im Umgang mit den Bällen – er sperrt sie in seinen Kleiderkasten – wie auch mit seinem sozialen Umfeld, den Nachbarskindern, anstellt (vgl. Kafka 2008 [1915]: 438–462). In den Mille plateaux verweisen Gilles Deleuze und Félix Guattari im Kapitel »Das Jahr Null – Die Erschaffung des Gesichts« auf Blumfeld und seinen Umgang mit den Pingpongbällen (vgl. Deleuze/Guattari 1992 [1980]: 229–262). Für die Autoren sind die Bälle im Zusammenhang mit dem Signifikationssystem des Gesichts, dem Prinzip »Weiße Wand – schwarzes Loch«, interessant. Das Gesicht ist bei Deleuze und Guattari nicht als individuelles Merkmal zu verstehen, sondern wird ähnlich wie in dem Kinderspruch ›Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Angesicht‹ von einer abstrakten Maschinerie ›erschaffen‹. Es drückt keine Interiorität und keine seelische Tiefe aus, sondern besteht eben aus Flächigkeit (der weißen Wand) und den eingeschriebenen »schwarzen Löchern« der Subjektivierung. Für Deleuze und Guattari durchkreuzen die Bälle als äußere Merkmale Blumfelds persönliche Fassade. Sie springen auf der ›weißen Wand‹ der Gesichthaftigkeit herum, die in der Erzählung vom Boden versinnbildlicht wird; Blumfeld sperrt sie schließlich in das ›schwarze Loch‹ des Schranks, wo sie weiter lautstark hüpfen. Die unvollständige Zeichenhaftigkeit des Gesichts wird durch die herumspringenden Bälle verdeutlicht. Das Angesicht ist nicht zu bändigen. Während die Tischtennisbälle in Blumfelds Alltag einer Heimsuchung gleichen und er überhaupt nicht weiß, was er mit ihnen anfangen soll, erscheinen die Bälle bei Július Koller als spielerische Requisiten des Jahres. Im März 1970 hatte Koller die Ausstellung J. K. Ping-Pong Club in der Galéria Mladých (Galerie der Jugend) realisiert. Hier lud er das Publikum ein, mit ihm oder untereinander Tischtennis zu spielen, und verwandelte die Galerie so in einen Sportklub. In einem Gespräch mit Roman Ondák äußert sich Koller 2003 mit großem zeitlichen Abstand zu dieser Ausstellung und sagt, dass er solche Spiele […] als Symbole demokratischer Verständigung herangezogen [habe], Spiele, bei denen nach bestimmten Regeln der Fairness eine gewisse Möglichkeit der
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Ina Mer tens Kommunikation, des Kräftemessens und auch der Rivalität gewahrt ist und gleichzeitig ein Meinungsaustausch stattfinden kann: im Fall dieses Sports ein Schlagabtausch mit einem Ball, der von einer Seite zur anderen fliegt. Im Grunde handelt es sich um eine Individualisierung des Strebens nach Verständigung, die zu diesem Zeitpunkt merklich nachließ und die ersten Behinderungen erfuhr, jedenfalls nicht mehr normal funktionierte. (Koller/Ondak 2003: 45 f.)
Die Bewegung der Bälle im Spiel ist für ihn also ein Kommunikationsmittel. Indem er sich die Bälle hinter die Brille schiebt, versucht er nicht, sie zu bändigen, sondern benutzt sie als Vehikel und als Verweis auf ihre eigentliche Bewegtheit, in der die Bälle zwischenmenschliche Beziehungen ermöglichen. Der Kontext des Pingpongklubs und die Rolle der Bälle in dieser Situation machen deutlich, dass der U.F.O.-naut sich nicht hinter den Bällen versteckt, sondern dass der verstellte Blick auch als Kontaktaufnahme gedacht ist. Trotz seiner passiven Rolle als Sujet der Fotografie verfolgt er damit die Idee, in einer schwierigen gesellschaftlichen Rahmung zu Kommunikation aufzurufen. Anders als bei Blumfeld, in dessen Geschichte Kafka die Bälle auch als Ausdruck des Innerlichen verwendet, weisen die Bälle bei Koller auf ein ›Außen‹. Sie sind als Medium zu verstehen, als Verweis auf ein ›Anderswo‹ und als Signal für dieses ›Anderswo‹. In gewisser Weise dienen sie ihm als Fluchtlinie im Sinne von Deleuze und Guattari. Die Fluchtlinie, die auf ein ›Außen‹ zielt, hilft dabei, den vorhandenen Machtstrukturen zu entfliehen. Es ist möglich, sich in einer abstrakten Form des ›Werdens‹ unter ihr zu versammeln. Es handelt sich um eine Bewegung, die jener des »Tier-Werdens«, die Deleuze und Guattari ebenfalls in den Mille plateaux beschreiben, ähnlich ist (vgl. Deleuze/Guattari 1992 [1980]: 234). In einer der neuesten Deleuze-Rezeptionen schreibt Andrew Culp, dass das ›Werden‹ in Wirklichkeit einem Prozess des Nicht-Werdens untersteht und den Logiken der Abtrennung und des Entzugs von dieser Welt folgt. »Subjekte sind nur dann interessant, wenn sie ›eine Linie zum Außen‹ ziehen« (Culp 2017: 35), denn in diesem Moment hören sie auf, Subjekte zu sein, und können sich, laut Culp, dem aktuellen Zustand der Welt entziehen, ohne mit einer bloßen Kritik zum Komplizen des jeweiligen Zustands zu werden. Nicht das ›Tier-Werden‹ ist Kollers Ausweg, sondern das ›ExtraterrestrischWerden‹, das U.F.O.-naut-Sein. Als U.F.O.-naut gelingt es ihm, durch den künstlerischen Zug des ›Extraterrestrisch-Werdens‹ nach außen zu streben und ein äußeres Merkmal für seine Grenzübertritte in das Zwischenräumliche zu finden. Er kann in der Rolle des U.F.O.-nauten den spezifischen Machtgefügen entgehen. Das Transgressive dieses Seins ist Teil eines Transformationsprozesses, den der Künstler während seiner Arbeit an Aktionen, Performances, Zeichnungen und anderen materiellen Werken durchmachte, um als U.F.O.-naut ›kulturelle Situationen‹ herzustellen. In einem Manifest, das er im Sinne des bereits zuvor erwähnten »Bedarfs für eine kosmohumanistische Kultur« formuliert hat, heißt es:
Entgrenzungsoperationen In this complex space-time, I feel the need for a new culture. Modern art has been absorbing all that is so-called artistic and so-called non-artistic; whole civilizations with fascinating technologies and the entire natural world are treasure troves of contemporary art. In this standing, I become an author of signals transmitted to the space of our universe, using select elements of this space through individual selection, regardless of the traditional artistic means and milieu. The target is not set in contemporary art, but in the author’s participation in shaping the new, cosmohumanistic culture. 5
Koller steht damit zwischen den Gesellschaften und den Welten. Er steht sogar zwischen der Kunst und der Nicht-Kunst. Aus dem Erkennen, Verwenden und Selektieren der Botschaften soll keine Kunst, sondern eine neue Kultur unter »kosmohumanistischen« Vorzeichen entstehen. Dabei ist sein potenzieller Handlungsraum der ganze Kosmos, und doch ist diese Praxis dem Situativen näher als einem aktiven Aushandeln im Sinne eines künstlerischen Aktivismus. Es ist nicht die Kunst der Diplomatie, sondern die des Fragenstellens und des Infragestellens. Nicht umsonst ist das Fragezeichen über die Jahre zu Kollers künstlerischem Symbol und Markenzeichen geworden, das sich beispielsweise auch auf dem Tischtennisschläger des U.F.O.-nauten aus dem Jahr 1980 befindet. Er formt eine Figur, die ähnlich wie jene funktioniert, die Isabelle Stengers in ihrem Essay Der kosmopolitische Vorschlag in Anlehnung an Dostojewskis »Idioten« entwirft.6 Eine Figur, die häufiger ein ›ich weiß es nicht‹ als das gegenteilige ›ich weiß es‹ äußert und einem Nachdenken darüber, die Welt zu verlangsamen, einem Hadern auf der Suche nach dem, was ›gut‹ ist oder sein soll, Raum gibt. Es handelt sich um das Gegenbild eines konsensuellen und friedvollen Verständnisses der Welt. Es geht darum, die herrschende Ordnung zurückzuweisen, allerdings nicht durch lauthalsen Protest, sondern durch ein leises »kosmisches Gemurmel«, das zum Innehalten anregt und ein Prinzip der Gleichheit fordert, die eine Vielheit erzeugt (vgl. Stengers 2008: 153–185).
B e wegungen im R aum Die Fundamente von Kollers Überlegungen zur kosmohumanistischen Kultur wurzeln fest in den utopischen Vorstellungen der Sechzigerjahre. Das Gedankengerüst scheint geradezu in die damals aktuellen enthusiastischen Diskussionen zum Weltall und die vielfältigen Konzepte zur Bewegung im Raum zu gehören. Schließlich hatte sich das Kräftemessen der beiden politischen Blö5 | Koller 1970: 41, Übersetzung nach Grúň 2012: 16. Eine deutsche, allerdings weniger treffende Übersetzung findet sich in: Grúň 2008: 149. 6 | Den »Idioten« hat Stengers hier Deleuze entlehnt, der wiederum Dostojewskis »Idiot« in eine »Begriffsperson« verwandelt hat.
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cke um die Vorrangstellung im Weltraum seit Jurij Gagarins erstem Raumflug am 12. April 1961, als der Kosmonaut innerhalb von 108 Minuten einmal die Erde umkreiste, immer weiter verstärkt. Vor dem Hintergrund des ideologisch aufgeladenen space race überschlugen sich die aus dem Weltall zurückkehrenden Kosmo- und Astronauten in den Folgejahren förmlich darin, die offizielle Berichterstattung zu den Raumflügen mit einer no boundaries-Rhetorik zu bedienen. Gagarin selbst schreibt in seinem autobiografischen Bericht Der Weg in den Kosmos: »Unter mir glitten Länder vorüber, und ich sah sie als Ganzes, von keinen staatlichen Grenzen getrennt« (Gagarin 1961: 158)7. Diese Aussage kann durch die Berichte von anderen Kosmo- oder Astronauten beliebig gespiegelt, weitergeführt und ausgeschmückt werden.8 Dabei hatte Gagarin bis zu seinem Flug – in eine scheinbare ›vertikale Freiheit‹ – diese Form der horizontalen Weltwahrnehmung nicht erfahren dürfen. Und er machte auch selbst darauf aufmerksam, indem er nach seiner Rückkehr aus dem All, kurz bevor er eine seiner vielzähligen Reisen durch die sozialistischen (und ebenso nichtsozialistischen) Länder antrat, um von seinen Erfahrungen im Weltraum zu berichten, bemerkte: Vor dem ersten Mai hatte mich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei zu einem Besuch in die Tschechoslowakische Sozialistische Republik eingeladen. Diese Einladung freute mich, denn, obwohl ich den Erdball umkreist hatte, war ich noch nie im Ausland gewesen. (Gagarin 1961: 158)
Wie Julia Richers beobachtet, entsprach diese irdische Einschränkung der Lebenswelt der meisten Sowjetbürger_innen. »Chruščevs Rhetorik von der neuen grenzenlosen Freiheit des Sowjetmenschen fand nicht nur beim Kosmonauten Gagarin keine reale Anwendung«, vielmehr »[stand] [d]er Entgrenzungsdiskurs auch in eklatantem Gegensatz zur Immobilität des gesamten sowjetischen Seins. Am deutlichsten kam dies wohl im eingrenzenden Reise-, Passund Grenzschutzsystem zum Vorschein« (Richers 2014: 46 f.).
7 | Das faktisch Autobiografische des Berichts bleibt Gegenstand von Debatten. Auch in der letzten Version des Buches, die 13 Jahre nach Gagarins Tod, 1981, mit teilweise erheblichen Veränderungen erschien, bleibt der Vermerk, dass es sich bei dem Buch um einen »autobiographischen Bericht« handle, bestehen. Kevin Anding legt die Entstehung der Publikationsgeschichte des Buches detailliert dar. (Anding 2014: 105–125) 8 | Der Astronaut Russell Schweickart formulierte die »Grenzerfahrungen« während seines Flugs im März 1969 folgendermaßen: »You look down there and you can’t imagine how many borders and boundaries you cross, again and again and again, and you don’t even see them. […] And from where you see it, the thing is a whole, the earth is a whole, and it’s so beautiful.« (Schweickart 1977: 11)
Entgrenzungsoperationen
Auch wenn die Slowakei, als Teil der Tschechoslowakei an der Peripherie des Sowjetimperiums, nicht unbedingt im Fokus der zentral von Moskau aus gesteuerten ›herrschenden Ordnung‹ lag, hatte das Beben des Prager Frühlings die Restriktionen gegenüber der Bevölkerung verschärft. Das konnten auch die alternativen Künstler_innen in den darauffolgenden Jahren deutlich spüren. Während sie zuvor durchaus frei agierten und ihren auch auf internationalen Strömungen beruhenden Ideen für eine zeitgenössische künstlerische Praxis nachgehen konnten, ließ die neue Situation nach dem 21. August 1968 dies nicht mehr zu. Alternative Kunsträume, wie auch jener der Galéria Mladých, wurden in den kommenden Jahren sukzessive geschlossen. 1972 folgte für viele Künstler_innen, so auch für Koller, der Ausschluss aus der Slowakischen Künstlervereinigung. Die Kunstszene in Bratislava reagierte auf die neuen Restriktionen und das formal, wenn auch nicht praktisch absolut verhängte Berufsverbot9, indem sie sich immer mehr in private Räume zurückzog, um ihre Kunst zu präsentieren. In diesem Licht erscheinen Kollers Maßnahmen, identitäre und räumliche Grenzen zu sprengen, nachvollziehbar. Indem er sich an einer persönlich-physischen ›Entgrenzung‹ durch den U.F.O.-nauten versuchte, spiegelte er die bereits von Gagarin erlebte Utopie, als Mensch im All zu existieren, in seinem Werk.
Par allelkulturen Es haben sich in den vergangenen Jahren bereits viele Theoretiker_innen gefragt, inwiefern diese künstlerische Praxis politisch zu bewerten ist (vgl. Hrabušický 2010: 321 f.; Bishop 2012; Kemp-Welch 2014). Lässt sich aus einer oppositionellen Kunstpraxis schon eine klare politische Positionierung als Regimekritik ableiten? Nachdem in den späten Neunzigerjahren die Beschäftigung mit Konzeptkunst als globalem Phänomen zu Interpretationsschemata geführt hat, die alternative Kunstpraxen als implizit politisch, dissidentenhaft dargestellt haben (Mária Orišková spricht sogar von einem »Dissidentenparadigma«), legen neuere Untersuchungen nahe, diese Einschreibungen differenzierter zu sehen (vgl. Orišková 2008: 58–70). Während Claire Bishop schreibt, dass es sich um »apolitische« Kunstpraxen gehandelt haben muss, bei denen es eher um individuelle Vorstellungswelten als um politische Einschreibun9 | Koller und viele seiner Kolleg_innen konnten so z. B. weiterhin Werke an den sogenannten Dielo Art Store, d. h. an das Geschäft des Staatlichen Fonds für Bildende Kunst [Dielo, podnik Slovenského fondu výtvarných umení], verkaufen, auch wenn diese einer bestimmten Ästhetik entsprechen mussten. Außerdem wurden teilweise auch noch offizielle Aufträge, wie beispielsweise Illustrationen für die Zeitung Pravda, an die aus der Künstlervereinigung »ausgeschlossenen« Künstler_innen vergeben.
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gen ging (vgl. Bishop 2012: 129), widmet sich Klara Kemp-Welch der Frage nach einer möglichen politischen Involviertheit der Akteur_innen wesentlich exakter. In ihrem Buch Antipolitics in Central European Art, in dem sie sechs große männliche Künstlerfiguren der zentraleuropäischen Neoavantgarde ausführlich und historisch akribisch behandelt, hat sich die Autorin das Konzept der »Antipolitik« des ungarischen Schriftstellers György Konrád zu Hilfe genommen, um die jeweiligen politischen Implikationen zu beschreiben (vgl. Kemp-Welch 2014). Konrád argumentiert in seinem gleichnamigen Essay für eine antipolitische (eben nicht apolitische) »Gegenmacht«, die zwar nicht nach politischer Macht, aber nach dem »Zustandekommen von unabhängigen Instanzen« im gesellschaftlichen Geschehen strebt. Das Problem ist hier, dass er diese »Gegenmacht« mit einem moralisch-kulturellen Gewicht ausstattet. D. h., dass er dem oppositionellen, »antipolitischen« Engagement eine moralische Überlegenheit gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Formen unterstellt (vgl. Konrád 1985: 212 f.). In den meisten künstlerischen Arbeiten, sogar in den meisten Œuvres der zentraleuropäischen Neoavantgarden bleibt mir allerdings jede Implikation, die eine moralische Überlegenheit ausdrücken wolle, verborgen. Václav Havel hat über das Wesen der tschechoslowakischen ›Parallelkultur‹ einmal geschrieben, dass »die ›Parallelität‹ rein äußerlich abgegrenzt [ist], und nichts Weiteres direkt aus ihr [folgt], das heißt weder Qualität, noch Ästhetik, noch irgendeine Ideologie« (Havel 2007 [1984]: 249). Gerade deshalb, weil nichts zwingend aus ihr folgt, braucht es die ›Parallelkultur‹ als einen weitgehend ›ideologiefreien‹ Raum, in dem sich die Künstler_innen ihren Fragestellungen haben widmen können. Eine weitere Perspektive auf die Frage nach einer politischen Positionierung liefert Gilles Deleuze. In der Fernsehserie L’Abécédaire antwortet er auf die Frage, was ›Linkssein‹ für ihn bedeutet, dass dies ein ›Wahrnehmungsphänomen‹ ist (Deleuze 2004: Min 20:25).10 Die Antwort führt er aus, indem er zunächst die Negation skizziert. Nicht links zu sein, würde bedeuten, von einer Postadresse aus zu denken. D. h. von sich ausgehend zu denken, von der Straße, in der man wohnt, zur Stadt, zum Land, in dem die Stadt liegt, zu den anderen Ländern und weiter weg. Insofern man ein privilegiertes Leben in einem reichen Land führt, folgt aus diesem Denkprozess laut Deleuze die Frage, wie diese Situation erhalten werden kann. Links zu sein, heißt für den Philosophen hingegen, die Situation genau gegenteilig wahrzunehmen. Zuerst 10 | Claire Parnet interviewt Gilles Deleuze in 25 Kapiteln. Das Interview wurde von 1988 bis 1989 für das französische Fernsehen gedreht, aber erst nach Deleuzes Tod ausgestrahlt. Eigentlich fragt Parnet im betreffenden Ausschnitt Deleuze ursprünglich, ob er den Prozess des »Revolutionär-Werdens« selbst mitgemacht hat, und Deleuze bittet Parnet, ihn doch lieber zu fragen, was »Linkssein« für ihn bedeutet.
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nimmt man den Horizont wahr, die Erde, den äußersten Umkreis, bevor man sich als Teil eines Kontinents begreift, dann die Landesgrenzen sieht, die Stadt, die Straße, in der man lebt, das Haus, und schließlich sich selbst. ›Linkssein‹ ist nach Deleuze also zuallererst eine Frage der Wahrnehmung. Links zu sein meint zu begreifen, dass die Probleme anderswo den Einzelnen mehr betreffen als die Probleme des Wohnquartiers. In dem Interview geht die Frage aus Deleuzes Einschätzungen zum Jahr 1968 hervor, also jenem Jahr, das für die Fragen nach revolutionärer, gesellschaftlicher und sozialer Umwälzung wie ein Kippschalter funktioniert. Nicht nur bündeln sich in dieser Zeit die weltweit gleichzeitigen revolutionären 1968er-Bewegungen, die heute so eng mit unserem historischen Wissen zu diesem Jahr verknüpft sind, auch die ersten vom Menschen gemachten Bilder der Erde entstanden 1968 und sind mit ihrer impliziten Zeugenschaft für Deleuzes Einschätzung von Bedeutung, da sie uns, den auf dem Planeten Gebliebenen, von außen ein System anschaulich machten, dem wir zugleich immanent sind. Dabei ist auch hier gerade die Ideologiefreiheit, mit der Deleuze über den Begriff des ›Linksseins‹ nachdenkt, interessant. Er argumentiert nicht aus demokratietheoretischen Aspekten einer linken (oder rechten) Politik heraus, führt nicht die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit ein, sondern macht Haltung zu einer Frage der Wahrnehmung. Dies ist gerade in Bezug auf 1968 so bedeutsam, da es für die kurze, revolutionäre Zeitspanne des Prager Frühlings nicht um eine ideologische Spaltung Europas in ›Ost‹ und ›West‹ ging, sondern durch die nahezu parallelen weltweiten Ereignisse die politischen Kategorien, die binäre Teilung, aufgeweicht zu sein schienen. Zudem gestatten uns Deleuzes Überlegungen, auch Kollers Arbeiten paradox präzise als Haltung zu erfassen, die von dieser speziellen – auf das ›Größere‹ orientierten – Wahrnehmung hergeleitet werden kann. So lassen Kollers Arbeiten keinen Zweifel an seiner Wahrnehmung der zeitlich parallelen Ereignisse. Es geht dem Künstler keineswegs darum, sich durch die Betonung der Blockzugehörigkeiten im Sinne des space race zu beteiligen. Er will sich auch nicht im Verhältnis zum Realsozialismus eindeutig politisch platzieren. Vielmehr folgt er der dem Thema innewohnenden Poetik und macht sich diese zunutze, indem er die Ereignisse von den Rändern, von der Horizontlinie und vom Kosmos her denkt und sich aus dieser Perspektive für den lokalen Raum engagiert.
Z wischen einem ›I nnen ‹ und ›A ussen ‹ In Michel Foucaults Texten zur Grenze und ihrer Überschreitung gleicht der Grenzübertritt einem Spiel, das sich im ständigen Ausloten einer Demarkationslinie durch einen »bohrenden« Bewegungsablauf konkretisiert. Foucault hinterfragt, ob »die Grenze überhaupt ohne die Geste, die sie stolz durchquert
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und leugnet«, existiert und »[w]as sie danach [wäre] und was sie zuvor sein [könnte]« (Foucault 2003 [1963]: 69). Erst im Moment der Überkreuzung wird einer Grenze bei Foucault überhaupt Sinnhaftigkeit zuteil. Nicht weil es sich beim Grenzübertritt zwingend um ein Vordringen in ›andere Räume‹ handelt, sondern weil sich die Überschreitung »im Inneren der Grenze das maßlose Maß der Distanz zu Eigen [macht]« (Foucault 2003 [1963]: 70). In der Überschreitung richtet sich der Blick also nicht nur auf ein ›Außen‹, das jenseits des durchschrittenen Grenzraums liegt, sondern er richtet sich zurück auf den Raum, der von dort eingeschlossen ist. Mehr als einem Ausschluss folgt die Grenze bei Foucault also den Gesetzen der Einschließung, die sich notwendig in der Überschreitung manifestieren. Er bejaht die Teilung, die ein Grenzübertritt hervorruft, wertet sie jedoch nicht als Trennung. Die Grenzüberschreitung macht bei Foucault keine Antagonismen im Sinne eines Gegensatzpaares wie ›hier‹ und ›dort‹ auf. Es geht auch nicht darum, die Differenzen zwischen einem ›wir‹ und den ›anderen‹ jenseits des Grenzraums zu beschreiben. Man kann aus der Distanz des Überschrittenen lediglich besser die Differenzen der Räume erkennen. Das Denkbild, das Foucault verfolgt, ist grundsätzlich auch jenen Diskursen der Sechziger- und Siebzigerjahre eingeschrieben, die von den Eindrücken der bemannten Raumfahrt geprägt wurden. Intellektuelle und Zeitgenossen wie Günther Anders oder Friedrich Dürrenmatt berufen sich immer wieder auf die Auswirkungen der Flüge für die Menschheit; der Mensch sei sich zum ersten Mal begegnet und habe sich selbst entdeckt (vgl. Dürrenmatt 1980; Anders 1994). Auch haben die ersten Bilder der Erde aus dem Weltall nicht etwa dazu geführt, dass der Expansionsdrang sich ausschließlich in ein ›Außen‹ des Weltraums erstreckte. Vielmehr ließ sich durch sie, wie Anselm Franke und Diedrich Diederichsen darlegen, eine »Interiorisierung« und ein »Verschwinden des Außens« konstatieren. Die Bilder des Planeten haben zu einer Anrufung eines anthropozentrischen ›großen Ganzen‹ beigetragen, für das die Gründung des ersten internationalen Earth Day 1970 und die damit begründete Umweltbewegung oder der Auf bau internationaler, gegenkultureller Bewegungen zu dieser Zeit spricht (vgl. Diederichsen/Franke 2013). Die Fotografien, in denen die Erde als schützenwerter ›blauer Ball‹ erscheint, waren ein Aufruf dafür, in Zusammenhängen im Irdischen zu denken, sozusagen einen »planetarischen Innenraum« zu produzieren. Auch hier ging es darum, den aus der Außenperspektive ›eingeschlossenen‹ Raum des Planeten Erde besser zu verstehen. Im Gestus des U.F.O.-nauten vollzieht Koller diese Bewegung ebenso. Seine Handlungsfähigkeit als U.F.O.-naut zielt auf ein ›Außen‹. Die Ausrufung der kosmohumanistischen Kultur und die universell-kulturell futurologischen Operationen lassen ihn in einer Fluchtbewegung einen Raum außerhalb der herrschenden Ordnung erreichen. Die Bälle vor den Augen wirken dabei wie
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Prothesen, die ihn behindern und doch in gewisser Weise als Hilfestellung dienen. Sein verstellter Blick zielt auf die größtmögliche Distanz. Seine Signale sendet er an unbekannte Galaxien und doch wird er immer wieder zurückgeworfen auf sich selbst, auf seinen Alltag in Bratislava. In der harten Gegenbewegung vollzieht sich die notwendige Reterritorialisierung des Kosmischen. Die spielfreudigen künstlerischen Winkelzüge haben Július Koller Konzepte verfolgen lassen, die ihm halfen, dass er sich selbst noch leiden mochte. Mit seinen Ansprüchen an sich und an die anderen, die Welt anders wahrzunehmen, regen Kollers Arbeiten bis heute dazu an, eine andere Perspektive einzunehmen, denn: »[…] wir Menschen sind nicht nur irdische, sondern auch außerirdische Wesen. […] Wir sind alle UFOnauten […]« (Koller/Obrist 2003: 53).
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Was macht Kunst in der Konfliktzone? Empirische Beobachtungen zu einer »dialogischen Ästhetik« Marcel Bleuler
Dieser Text beschäftigt sich mit dem künstlerischen Austauschprojekt off/line: what can art do in Zemo Nikozi?, das seit 2015 jährlich in einem Dorf in der georgischen Provinz Shida Kartli stattfindet.1 Zemo Nikozi mit seinen gut 1000 Einwohner_innen war im Jahr 2008 von der kriegerischen Eskalation um die Region Südossetien stark betroffen. Südossetien, das während der Sowjetunion wechselnde Autonomiebefugnisse hatte, ist seit dem Krieg de facto unabhängig, aus völkerrechtlicher Sicht jedoch nach wie vor Teil Georgiens. Die Demarkationslinie, die aus dem Konflikt hervorging, läuft direkt an Zemo Nikozi entlang, ein zwei Meter hoher Drahtzaun auf einem verwaisten Feld. Auf der anderen Seite dieses Felds sind die Hochhäuser der Stadt Zchinval/i zu sehen, an die Zemo Nikozi früher angebunden war. Heute ist die Stadt aufgrund der auf beiden Seiten stationierten Militärpolizei unerreichbar. Wer das Feld in Richtung des Zauns begeht, kann Schüsse provozieren, wer bis zum Zaun gelangt, kann verschleppt werden. Die Situation wird als ein ›frozen conflict‹ bezeichnet, ein ungelöster Konflikt also, der wieder in eine kriegerische Eskalation münden könnte, wobei es für eine solche erneute Eskalation seit Längerem keine Indikationen mehr gab. So wurde auch das von der Landwirtschaft geprägte Alltagsleben in Zemo Nikozi längst wieder aufgenommen. Inmitten der zur Normalität gewordenen Militärpräsenz und der Spuren, die der Krieg an Häuserfassaden und in den Familiengeschichten hinterlassen hat, befindet sich das Dorf in einem allmählichen Rehabilitationsprozess. Apfelbäume blühen vor dem Hintergrund des massiven Kaukasus und Jugendliche machen in der lokalen Schule ihre mittlere Reife. Dennoch handelt es sich hier aus Sicht vieler Georgier_innen um 1 | Die Nutzung von Bezeichnungen und Namen ist nicht als Anerkennung oder Nichtanerkennung durch den Autor auszulegen. Bezeichnungen wie »Region«, »Demarkationslinie« oder »Südossetien« haben im vorliegenden Zusammenhang keinerlei politische Konnotationen.
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eine Gefahrenzone, was sich etwa darin manifestiert, dass die Bewohner_innen kaum Chancen auf einen Bankkredit haben und aus wirtschaftlicher wie sozialer Sicht relativ isoliert leben. Für das Projekt off/line reisten im Jahr 2016 elf Kunstschaffende aus Westeuropa und die gleiche Anzahl Künstler_innen aus Georgien für einen zweiwöchigen Aufenthalt an. Das Projekt lässt sich als Residency-Programm bezeichnen. Die Künstler_innen kommen, um sich mit Zemo Nikozi, seinen Bewohner_innen und ihren Geschichten auseinanderzusetzen. Zugang und Austausch werden dadurch erleichtert, dass sie in Gastfamilien wohnen und so unmittelbar am Alltagsleben teilhaben. Die Künstler_innen gehen individuellen Recherchen und Arbeitsprozessen nach und treffen sich täglich in einem Workshopraum, wo sie über ihre Erfahrungen und Einblicke sprechen. Das Ziel besteht nicht darin, dass sie fertige Arbeiten entwickeln, sondern dass sie auf den Ort reagieren und vielleicht auch intervenieren. Ihre Auseinandersetzungen präsentieren alle Künstler_innen im Rahmen einer Abschlussveranstaltung, die an verschiedenen Orten im und mit dem Dorf stattfindet. Abb. 1: Bewohner_innen von Zemo Nikozi bei den Abschlusspräsentationen von off/line 2016
Foto: Olivia Jaques
Im Hintergrund von off/line steht artasfoundation, eine Schweizer Stiftung, die Kunstprojekte in Kontexten der Nachkriegsrehabilitation initiiert und durchführt. Der Gründungsgedanke von artasfoundation besteht darin, durch künstlerische Zusammenarbeit mit Menschen aus der Zivilbevölkerung Prozesse der Normalisierung, des Wiederauf baus und der Friedensbildung nach
Was macht Kunst in der Konflikt zone?
bewaffneten Konflikten zu unterstützen. Für diese Stiftung bin ich neben meiner wissenschaftlichen Tätigkeit selbst tätig. Dies ist wichtig zu erwähnen, da ich seit 2016 in Zusammenarbeit mit der georgischen Kuratorin Lali Pertenava auch Projektleiter von off/line bin. Aufgrund meiner Involvierung stellt sich aus wissenschaftlicher Sicht natürlich die Frage, inwiefern sich meine Perspektive darauf auswirkt, wie ich das Projekt hier darstelle, und inwiefern ich als konzeptioneller und organisatorischer Leiter überhaupt zu einer Analyse legitimiert bin. Zum einen möchte ich diese Frage mit einer Offenlegung meiner Beteiligung begegnen: Nachdem ich 2015 das Vorgängerprojekt in Nikozi als Beobachter begleitet hatte, übernahm ich es im folgenden Jahr und konzeptionalisierte es in Absprache mit artasfoundation neu. Über mein Netzwerk habe ich die westeuropäischen Kunstschaffenden ausgewählt, Lali Pertenava hat die Auswahl der georgischen Künstler_innen übernommen. Das Briefing der gesamten Gruppe, die sich vor Projektbeginn in der georgischen Hauptstadt Tbilisi traf, lag mehrheitlich bei mir. Damit ist es gut möglich, dass ich den Kunstschaffenden eine Perspektive auferlegt habe, die mit meinen Interessen am Projekt zusammenhängt und sich auf den sozialen Dialog konzentriert, der innerhalb von off/line stattfindet. Diese Interessen haben sicherlich auch meine Gesprächsführung während des Projekts geprägt und mir als Leitfaden bei der Beobachtung gedient, die ich einerseits aus der Perspektive des Projektleiters – der den Verlauf begleitet, um zu unterstützen und gegebenenfalls einzugreifen – und andererseits aus derjenigen des Wissenschaftlers durchgeführt habe, der qualitative empirische Daten sammelt, um danach über das Projekt zu schreiben.2 Zum anderen muss betont werden, dass der herkömmliche, wissenschaftliche Anspruch auf Objektivität mit seinen ohnehin diskussionswürdigen Implikationen in einem Setting wie demjenigen von off/line vollends seine Konturen verliert. Für die Erforschung von Kunst in fragilen Kontexten ist eine enge Zusammenarbeit mit Organisator_innen, teilnehmenden Künstler_innen und lokalen Akteur_innen nur schon aus logistisch-organisatorischen Gründen nötig. Zudem sorgt man als von außen Kommende_r bereits mit der eigenen Präsenz für Aufsehen. Man betritt automatisch ein komplexes Differenz- und Hierarchieverhältnis, von dem, wie ich ausführen werde, ein Projekt wie off/ line immer mitgeprägt ist. Will man die künstlerische Interaktion vor Ort verfolgen, wird man als Forscher_in unweigerlich Teil der sozialen Realität und 2 | Die Datensammlung hat primär in Form von informellen Gesprächen, audiovisuellen Dokumentationen und einem Beobachtungsprotokoll stattgefunden. Zitate, die in diesem Text gedruckt sind, wurden von den entsprechenden Personen validiert. Situationen, die ich beschreibe, basieren auf meinen Dokumentationen und Beobachtungen, sie wurden nur im Falle von detaillierten Beschreibungen validiert.
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der Projektverläufe, die man untersucht. Die Möglichkeit zu einer »distanzierten« Betrachtung, wie sie auch im Zusammenhang mit der Erforschung von Performancekunst infrage gestellt wurde (vgl. Ursprung 2008), erscheint hier auf mehrfacher Ebene nicht gegeben. Dokumentation und Diskussion eines solchen Projekts sind unweigerlich subjektiv und kontingent, nicht zuletzt auch deshalb, da künstlerische Arbeiten, die auf ein soziales Setting reagieren, prozessbezogen vorgehen und sich nicht auf ein ›verbindliches Produkt‹ reduzieren lassen. Es hängt somit immer von der Perspektive derer ab, die über eine Arbeit sprechen/schreiben, wie diese dargestellt wird. Auch (scheinbar) unbeteiligte Forscher_innen formen in diesem Sinne ›den Gegenstand‹ also mit.3 Diesen Voraussetzungen trägt Grant Kester, der in seiner für den kunstwissenschaftlichen Diskurs prägenden Untersuchung The One and The Many (2011) mitunter auch Projekte in fragilen Kontexten erforschte, meines Erachtens zu wenig Rechnung. In Anbetracht der um die Jahrhundertwende oft beschriebenen Häufung von künstlerischen Kollaborationen außerhalb institutioneller Kunsträume hatte Kester mit seinem Konzept einer »dialogischen Ästhetik« (Kester 2004; Krenn/Kester 2013) eine prominente Position im Forschungsfeld der ›social art‹ bezogen. In seiner Publikation von 2011 sowie im ersten Editorial des von ihm gegründeten Journals FIELDS (2015) spricht er die spezifischen Anforderungen an, die das Feld an Wissenschaftler_innen stellt (vgl. Kester 2011: 83; Kester 2015). In seinen Fallstudien kommentiert er seine eigene Involvierung jedoch höchstens am Rande. Er betont zwar grundsätzlich die Herausforderungen des sozialen Dialogs sowie etwa die Wichtigkeit des Sprechens mit lokal Ansässigen. Zugleich macht er im konkreten Fall nicht nachvollziehbar, inwiefern diese Gespräche in seine Darlegungen Einzug halten und worin genau die Herausforderungen bestehen. Bei Kester bleibt damit auch offen, wessen Perspektive er letztlich auf die Projekte einnimmt respektive wiedergibt. Aufgrund meiner Projekterfahrung komme ich – ähnlich wie Kester – zum Schluss, dass die Dialogsituation in einem Setting wie demjenigen von off/line, in dem sich nicht zuletzt an den Kolonialismus gemahnende Machtstrukturen manifestieren können, einen zentralen Stellenwert für die künstlerischen Prozesse einnimmt. Gerade die methodisch offen formulierte Feldforschung, für die Kester plädiert, ermöglicht, diese Ebene konkret werden zu lassen. Im Unterschied zu seinen Fallstudien in The One and the Many stelle ich dieses 3 | Mit dieser Auffassung orientiere ich mich nicht zuletzt am Konzept der »performativen Kunstgeschichte«, das Philip Ursprung Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelt hat (2003; 2008) und das von den feministisch geprägten Performance Studies der 1990er-Jahre (vgl. Jones 1997; Phelan 1993) und im Weiteren von Clifford Geertz’ Methode der »dichten Beschreibung« beeinflusst ist.
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Ziel einer Konkretisierung ins Zentrum. Im Folgenden fokussiere ich auf empirische Beobachtungen zu den Voraussetzungen und Implikationen der Dialogsituation in Zemo Nikozi, von denen sich – so behaupte ich – weder die Kunstprojekte noch die Forschungsperspektive abgrenzen lassen. Bei dieser Diskussion orientiere ich mich an dem von Kester konzipierten Begriff einer »dialogischen Ästhetik«, die, wie ich ausführen werde, dann entsteht, wenn sich künstlerische Praxis mit anderen kulturellen Praktiken verbindet und wenn Kunstschaffende eine Begegnung und einen Austausch suchen, die über eine lediglich symbolische Bezugnahme hinausgehen.
Z eitgenössische K unst und internationale Z usammenarbeit Ein Projekt wie off/line positioniert sich an der Schnittstelle zwischen zwei Feldern, die sich nicht ohne Weiteres verbinden lassen. Internationale Zusammenarbeit findet hier nicht nur insofern statt, als Menschen aus verschiedenen Ländern zusammenkommen. Aufgrund der Stiftung artasfoundation sowie der Geldgeber_innen4 im Hintergrund tritt das Projekt grob gesagt in das Feld der internationalen ›Entwicklungszusammenarbeit‹ ein, einer Praxis also, die von westlichen Industrienationen in Kontexten betrieben wird, wo aufgrund von Ressourcenknappheit, fehlenden sozialen, politischen oder juristischen Strukturen oder aufgrund von Konflikten Destabilisierungsgefahr droht. Diese Form der internationalen Zusammenarbeit verfolgt das Ziel, zu einem Wandel und einer ›Verbesserung‹ von bestehenden Verhältnissen beizutragen. Gerade deshalb gerät sie vor dem Hintergrund der postkolonialen Kritik auch immer wieder in den Verdacht, normative Wertvorstellungen zu implementieren, ohnehin unterdrückte Bevölkerungen zu bevormunden und Abhängigkeitsverhältnisse zu schaffen. Welche Rolle experimentelle und prozessoffene Ansätze der zeitgenössischen Kunst in diesem Feld der internationalen Zusammenarbeit spielen können, erscheint relativ unklar (vgl. Crossick/Kaszynska 2016; Hunter/Page 2014; Naidu-Silverman 2015). Es gibt zwar insbesondere in der Disziplin der Konflikttransformation ein Interesse für künstlerische Vorgehensweisen, dieses bezieht sich jedoch auf therapeutisch/pädagogisch geprägte Praktiken, die beispielsweise aus der »expressive arts therapy« (Lederach 2005) oder dem »applied theatre« (Thompson/Hughes/Balfour 2009) stammen. Diese Disziplinen arbeiten mit einem Kunstbegriff, der auf einer ausgeprägten Wir4 | Das Projekt wurde 2016 durch das Kulturprogramm des Kooperationsbüros der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) im Südkaukasus finanziert.
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kungslogik basiert. Kunst wird hier als ein Instrument verstanden, mit dessen Einsatz Ziele angeregt und erreicht werden können, die außerhalb der Kunst liegen (etwa Stärkung von Menschenrechten, Gesundheitsaufklärung, Traumabewältigung oder Friedensbildung). Dieser wirkungsorientierte Zugang zu Kunst wird von Organisationen der internationalen Zusammenarbeit gestützt, die generell auf bedürfnis- und resultatorientierte Impacts ausgerichtet sind. Dem Feld liegt somit im Allgemeinen die Vorstellung zugrunde, dass künstlerische Ansätze innerhalb von übergeordneten Bestrebungen relativ klar umrissene Transformationseffekte erzielen können. Diese Wirkungslogik stellt für mich eine Reibungsfläche dar, da ich Kunst ganz im Gegensatz dazu als ein offenes Bedeutungsgefüge verstehe. In der postmodernen Ideengeschichte hat sich mit den Dikta des »Tod des Autors« (Barthes) oder des »offenen Kunstwerks« (Eco) die Vorstellung durchgesetzt, dass nicht Kunstschaffende, sondern die Rezipient_innen die Bedeutung von Kunst produzieren, eine Bedeutung, die von ihrer Subjektivität und den Bedingungen der Rezeption abhängt. Die Wirkung von Kunst muss somit als etwas Kontingentes und Plurales gedacht werden. Dieses Rezeptionsmodell wurde im Zusammenhang mit performativen oder relationalen Kunstformen bis in die jüngste Vergangenheit weiter ausdifferenziert (vgl. Jones/Stephenson 1999; Gatzambide-Fernandez 2013; Odin 2000; Schneemann 2015). Obwohl hier immer wieder auch Zweifel an der tatsächlichen Freiheit der Rezipient_innen geäußert wurden, sehe ich die Vorstellung als eine Errungenschaft an. Ihr liegt ein Denkmuster zugrunde, wonach die Wirkung von Kunst nicht festgeschrieben werden kann und scheinbare Deutungshoheiten ihre Autorität verlieren. Demgegenüber erscheint die Absicht, mit Kunst auf ein klar umrissenes Ziel hinzuarbeiten, nicht nur als eine Vereinfachung von Rezeptions- und Kommunikationsvorgängen, sondern auch als eine Machtpraxis. Wer Kunst als ein Instrument zur Transformation von sozialen Verhaltensweisen oder Verhältnissen einsetzt, versetzt die Menschen, die adressiert werden, in eine untergeordnete oder gar unterdrückte Position. Wie Claire Bishop beschrieben hat, rückt Kunst damit vom Prinzip her in die aus kunsthistorischer Sicht berüchtigte Nähe zu Propaganda oder auch zu Marketingstrategien (Bishop 2006). Im Unterschied zu Bishops Kritik, die grundsätzlich die modernistische Vorstellung einer »ästhetischen Autonomie« (Krenn/Kester 2013) der Kunst verteidigt, besteht das Problem in meinen Augen nicht darin, dass Kunst damit als eigenes Feld ihre Konturen verliert. Mein Vorbehalt ist vielmehr, dass sich hinter der Instrumentalisierung von Kunst eine mehr oder weniger explizit gemachte Vorstellung von Manipulation verbirgt. Die Vorstellung also, dass ästhetische Prozesse Menschen in eine bestimmte Richtung verändern und prägen können, wobei damit immer auch eine Entscheidungsinstanz impliziert wird, die diese Richtung entsprechend ihres Guthaltens und ihrer Interessen festlegt.
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Natürlich ist die internationale Zusammenarbeit in dieser Hinsicht fortgeschritten und darum bemüht, partizipative und demokratische Projektstrukturen zu schaffen. Nicht selten rennt man im Gespräch mit Praktiker_innen mit der Kritik an Machtstrukturen und dem Hinweis auf die Gefahr einer Manipulation offene Türen ein (vgl. Thompson 2009). Irritierend erscheint jedoch, dass der Projektarbeit dennoch ein hartnäckiges Denkmuster zugrunde liegt, das von einer Zielorientierung und Wirkungslogik geprägt bleibt. Vor diesem Hintergrund stellt sich aus den Perspektiven des Projektmanagements wie auch der Forschung die Frage, welche alternative Logik, also eine jenseits der Wirkungsorientierung, in Bezug auf die Schnittstelle von Kunst und internationaler Zusammenarbeit angewendet werden kann. Wie kann man davon wegkommen, von der sozialen Wirkung her über solche Projekte nachzudenken? Wie lässt sich off/line konzeptionalisieren und letztlich auch legitimieren, damit der Raum für kontingente und plurale Erfahrungen offenbleibt? Und wie kann das Projekt wissenschaftlich aufgearbeitet werden, ohne es in Hinblick auf das Erreichen eines Transformationseffekts engzuführen und dabei die Idee einer Manipulation zu perpetuieren? Aus pragmatischer Sicht stellen diese Fragen insbesondere in Hinblick auf das Sponsoring und die Kommunikation mit (lokalen) Autoritäten eine Herausforderung dar. So gibt es in Bezug auf off/line auch bestimmte Zielsetzungen, die ich und die Organisation artasfoundation z. B. in Anträgen oder Berichterstattungen vertreten. Grundsätzlich halte ich mich jedoch zurück, soziale Effekte des Projekts oder einen Impact auf den lokalen Kontext zu formulieren. Stattdessen beschränke ich mich darauf, off/line als einen offenen Rahmen zu beschreiben, der im Unterschied zu anderen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit gerade nicht zielorientiert ist. Ich vertrete also die Haltung, dass sich künstlerische Projekte dadurch von anderen Praktiken der internationalen Zusammenarbeit, beispielsweise einer Gesundheitskampagne oder eines Bildungsprojekts, unterscheiden können, als dass sie eben nicht auf einen Zweck hinarbeiten. Stattdessen setzt ein Projekt wie off/line einen offenen Austauschprozess darüber in Gang, wie Kunst an den spezifischen Kontext anknüpfen und wie sich Kunstschaffende und Bewohner_innen zueinander positionieren können. In diesem Prozess treten Zwischenmenschlichkeit und eine offene, gegenseitige Wahrnehmung in den Vordergrund. Dies scheint mir gerade für Zemo Nikozi wichtig, wo die Bewohner_innen ansonsten von internationalen Organisationen als ›Bedürftige‹ adressiert werden. off/line hat das Potenzial, diese Rollenzuschreibung in Bewegung zu setzen. So resultieren oftmals gar nicht die Bewohner_innen, sondern die Kunstschaffenden als diejenigen, die auf Unterstützung und Orientierungshilfe angewiesen sind. Es ist möglich, dass die Bevölkerung in diesem Prozess eine Neuperspektivierung ihres Lebensumfelds und eine Wertschätzung ihres spezifischen Wissens erfährt. Zudem kommt sie mit anderen Le-
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benserfahrungen und kulturellen Prägungen in Kontakt, wozu sie aufgrund der relativ isolierten Lage ihres Dorfs ansonsten wenig Gelegenheit hat. Inwiefern diese Erfahrungen aber zu einer Transformation der sozialen Verhältnisse führen können, bleibt für mich offen.
A bgrenzung vom W ohltätigkeitsauf tr ag Nichtsdestotrotz kann ich mich nicht durchgehend von einer Wirkungslogik abgrenzen. So erscheinen mir beispielsweise die Überlegungen, die in der internationalen Zusammenarbeit unter den Prinzipien der Konfliktsensitivität und des Do-No-Harm diskutiert werden, für die Arbeit in einem Kontext wie Zemo Nikozi wichtig. Grob formuliert weisen diese Prinzipien auf die Wirkungen hin, die man als von außen Kommende_r durch die eigene Präsenz und durch die Mittel, die man mitbringt, auf einen lokalen Kontext hat. Sie betreffen also die Voraussetzungen und Implikationen der sozialen Dialogsituation, die meist implizit bleiben und nicht direkt angesprochen werden. Ein konkretes Beispiel dafür stellt folgendes Dilemma dar, das sich in Bezug auf off/line stellt: Die 13 Gastfamilien, bei denen die Kunstschaffenden untergebracht werden, profitieren finanziell von dem Projekt. Damit schafft off/line eine soziale Ungerechtigkeit gegenüber allen anderen Familien, die keine Gäste aufnehmen können. Dies erscheint insbesondere deshalb ungerecht, da es sich dabei oftmals um Familien handelt, die ein Zusatzeinkommen dringender nötig hätten, jedoch über keinen Platz und keine Infrastruktur für Gäste verfügen. Nach der ersten Durchführung im Jahr 2015 entstand bei artasfoundation der Eindruck, dass das Projekt hier ein soziales Spannungsverhältnis unter den Bewohner_innen verstärkt. Für die Durchführung 2016 wurde es somit zur Auflage, das Problem anzugehen. Die Geschäftsführerin Dagmar Reichert gab einen Teil des für die Gastfamilien budgetierten Gelds in einen »Village Fund«, der potenziell dem ganzen Dorf zugutekommen sollte. Gemeinsam entschieden wir dann, dass die teilnehmenden Künstler_innen einen Plan entwickeln sollten, wie das Geld für das Dorf eingesetzt wird. In der ersten Projektwoche von off/line (2016) kamen die Kunstschaffenden abends zusammen, um den »Village Fund« zu besprechen. Neben einer grundsätzlichen Diskussion über die Sache wurde über eine Vielzahl konkreter Ideen abgestimmt. Zuletzt standen drei Vorschläge im Raum: erstens, einen Treffpunkt im Dorf zu schaffen, da der öffentliche Raum bisher unbelebt und die Menschen in ihre privaten Räume zurückgezogen erscheinen. Zweitens dem lokalen Kindergarten qualitativ gutes Spielzeug zu schenken anstelle der billig produzierten Plastikware. Drittens, eine Party für das Dorf zu veranstal-
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ten, bei der Aufführungen stattfinden, Musik gespielt und Essen und Trinken gratis an die Bewohner_innen ausgegeben werden sollen. Diese Ideen wurden dann kombiniert. Vor der lokalen Schule, die gleichzeitig den einzigen bestehenden Treffpunkt für die Bevölkerung darstellt, wurde in Zusammenarbeit mit lokalen Handwerkern ein eigens entworfener, aus massivem Holz bestehender Spielplatz errichtet, der – nebst dem Angebot an Kinder – den Ort mehr beleben und als öffentlichen Platz markieren soll. Zweitens wurde das Dorffest in einer kleineren Version in die Abschlussveranstaltung – also die Präsentation der künstlerischen Prozesse im Dorf – integriert. Die Idee von Aufführungen und Konzerten wurde gestrichen. Dafür wurden die Bewohner_innen, die keine Gäste beherbergten, animiert, sich zusammenzuschließen und Getränke sowie Essen gegen Bezahlung bereitzustellen. Einige Künstler_innen fungierten dabei als DJs. Bei der Erzählung dieser reibungslosen Umsetzung des »Village Funds« ließe es sich nun bewenden. Damit würde ich jedoch darüber hinwegtäuschen, dass die Sache bei den Kunstschaffenden sehr zwiespältige Reaktionen ausgelöst hatte, die mit der Überschneidung von Kunst und internationaler Zusammenarbeit zu tun haben. Bereits am ersten Abend, an dem die Verwendung des Gelds diskutiert wurde, entstanden insbesondere bei den westlichen Künstler_innen ablehnende Reaktionen. Ihre Ablehnung lässt sich mit zwei Positionen beschreiben. Zum einen erachteten es die Künstler_innen nicht als ihren Kompetenzbereich, den Menschen zu ›helfen‹. Zum anderen stellten sie infrage, inwiefern sie als von außen Kommende entscheiden sollten, was mit dem Geld passiert. »Wir sollten es einfach der Bewohner_innen übergeben«, waren sich viele einig. Vor allem letzteres Argument stieß auf große Zustimmung. Da jedoch unklar erschien, wie man das Geld übergeben könnte, sodass es von den Bewohner_innen fair eingesetzt würde, und da man mit der Einrichtung eines Verwaltungsgremiums nicht noch einmal soziale Spannungen erzeugen wollte, wurde die Idee verworfen. Das erste Argument wurde weniger ausdiskutiert. Die ablehnende Haltung manifestierte sich jedoch darin, dass nach dem zweiten Diskussionsabend nur noch eine kleine Gruppe an Kunstschaffenden überhaupt mit dem »Village Fund« beschäftigt war. Während die Party nebenbei von einigen Künstler_innen organisiert wurde, nahm sich insbesondere der georgische Künstler David Kukhalashvili des Spielplatzes/Treffpunkts an. Er betrachtete die Sache jedoch dezidiert nicht als Kunstprojekt. Kukhalashvili kam bereits am ersten Tag des Aufenthalts zum Entschluss, dass er in Zemo Nikozi keine Kunst machen könne, sondern dass er einfach Zeit mit den Leuten vor Ort verbringen wollte. So half er einigen Familien bei der Apfelernte, diskutierte mit verschiedenen Bewohner_innen über die öffentlichen Orte im Dorf und ihre Geschichten, suchte Handwerker zusammen, mit denen er Konstruktionspläne für den Spielplatz entwickelte, kaufte Material ein und half bei der Errichtung.
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Abb. 2: David Kukhalashvili und lokale Handwerker errichten den durch den »Village Fund« finanzierten Spielplatz
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Interessant an seinem Arbeitsprozess ist, dass Kukhalashvili auf einer deutlichen Abgrenzung von Kunst und sozialer Arbeit bestand. Obwohl er gerade die entgegengesetzte Richtung einschlug, lässt sich an seiner Position damit ein ähnliches Denkmuster ablesen, wie es die Künstler_innen zum Ausdruck brachten, die sich vom Anspruch abgrenzten, ›Hilfe‹ zu leisten. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, ob hier aus unterschiedlichen Perspektiven die angesprochene Autonomie der Kunst verteidigt wird. Eine Autonomie, die, so scheint es, an der Schnittstelle zur internationalen Zusammenarbeit gefährdet ist und den logischen Gegenentwurf zur Idee einer Instrumentalisierung von Kunst darstellt, die jedoch zugleich eine geradezu reaktionäre Haltung verkörpert.
L imitierung und U ndurchschaubarkeit des D ialogs In der Auseinandersetzung mit den für die Jahrhundertwende typischen Kunstprojekten im sozialen Raum, die oftmals unter dem Begriff der »Partizipation« (Bishop 2012) subsumiert werden, entwickelte Grant Kester wie einleitend erwähnt das Konzept einer »dialogischen Ästhetik«. Im Unterschied zu einer »relationalen Ästhetik« (Bourriaud), die vom Fokus auf die zwischenmenschliche Interaktion ausgeht, baut Kester dabei auf der Beobachtung auf,
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dass in der Kunst seit den 1990er-Jahren ein »transversaler Dialog« zwischen künstlerischer Praxis und anderen Bereichen der kulturellen oder intellektuellen Produktion stattfinde. »We encounter overlaps between art practices and activism, environmental science, participatory urban planning, social work, ethnography, and so on.« (Krenn/Kester 2013: 1) Dieser Dialog fuße gerade auf einer Überwindung der Autonomie-Idee, die Kester als typisch modernistisch bezeichnet. »[…] artists are much less likely to conceive of aesthetic autonomy as a kind of defensive bunker that protects art from contamination by the outside world.« (Krenn/Kester 2013: 4) Die veränderte Beziehung von Künstler_innen zu anderen Feldern (»domains«) und ihre Bereitschaft für Überschneidungen beschreibt er als die zentrale Grundvoraussetzung einer dialogischen Ästhetik. Die oben beschriebene Abgrenzungstendenz der Künstler_innen von off/line scheint auf den ersten Blick nahezulegen, ihnen die Erfüllung dieser Grundvoraussetzung abzusprechen. Zugleich arbeiteten die meisten von ihnen jedoch betont transdisziplinär. Sie integrierten Methoden anderer Felder in ihre Arbeitsprozesse, etwa ethnografische und dokumentarische Ansätze, handwerkliche Techniken oder kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen. Zudem hatten sich die Künstler_innen mit ihrer Entscheidung, überhaupt an off/line teilzunehmen, bewusst für die Schnittstelle von Kunst und internationaler Zusammenarbeit entschieden und damit ihre Bereitschaft für eine Überschneidung mit einer anderen kulturellen Praxis an den Tag gelegt. Im Verlauf der Gruppengespräche während des Aufenthalts erwies sich, dass die Reibungsfläche, auf die sie mit Abgrenzung reagierten, vielmehr mit der sozialen Konstellation zu tun hatte, in die sie im fragilen und relativ entbehrungsreichen Kontext gerieten. Zwischen den von außen kommenden, urban geprägten und gut ausgebildeten Künstler_innen und der lokal ansässigen Bevölkerung, die über wenig Bildungsmöglichkeiten, Vernetzung und Mobilität verfügt, besteht eine Differenz, der trotz der Tatsache, dass man ›zu Gast ist‹, ein Hierarchieverhältnis eingeschrieben ist. Gerade in der spezifischen Form des Zu-Gast-Seins zeigt sich die Komplexität dieses Hierarchieverhältnisses. Die Bewohner_innen sind zwar in der Position der Kundigen, die etwa wissen, wie man den Weg durch das Dorf, das von einem unübersichtlichen Netz an Pfaden durchzogen ist, findet, wie man sich den streunenden Hunden gegenüber zu verhalten hat oder wie die zuweilen versteinerten Gesichter der Militärpolizisten einzuschätzen sind. Die Kunstschaffenden sind Besucher_innen, die freundschaftlich und zuweilen belustigt – wenn sich etwa jemand von der imposanten Erscheinung einer Milchkuh erschrecken lässt – aufgenommen werden. Zugleich sind die Bewohner_innen natürlich froh darüber, dass das Projekt Geld bringt. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass ihre Gastfreundschaft zumindest teilweise erkauft ist. Dennoch wirkt gerade die Gastfreundschaft – die entsprechend weitverbreite-
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ter Klischees den Georgier_innen generell zugeschrieben wird – authentisch. Gerade wenn sie jedoch so ausgeprägt ist, stellt sich die Frage, inwiefern sie ein Interesse ersetzt, das scheinbar auf die künstlerischen Tätigkeiten der Besucher_innen gerichtet ist. D. h., es erscheint manchmal unklar, ob gewisse Bewohner_innen zu einer Präsentation kommen, weil sie tatsächlich an den künstlerischen Prozessen interessiert sind, oder ob sie einfach freundlich sein wollen. Genauso erscheint oftmals unklar, welche Bedeutung sie in den Arbeiten erkennen und wie sie die künstlerischen Prozesse wahrnehmen. Unterhält man sich darüber, bleibt vieles offen und man kommt selten über ein »Ich mag es« hinaus. Dabei lässt sich kaum ergründen, ob es schlicht schwierig ist, sich vor dem Hintergrund des divergierenden Bildungshintergrunds und der verschiedenen Sprachen über die Kunst zu verständigen, ob Kunst aus Sicht der Bewohner_innen mit einem elitären Habitus verbunden ist, von dem sie sich ausgeschlossen fühlen, oder ob die zumindest teilweise erkaufte Gastfreundschaft – sowie vielleicht auch einfach die Freude daran, dass mal etwas passiert im Dorf – als unausgesprochene Aspekte den Dialog undurchschaubar werden lassen. Insbesondere für die westlichen Kunstschaffenden, die bereits im Vergleich zu den georgischen Künstler_innen mit Privilegien und symbolischem Kapital ausgestattet sind, stellte die Undurchschaubarkeit ein Dilemma dar. Ein Dilemma, das durch einen »ethical turn« (Bishop 2006) verstärkt erscheint, der sich Anfang des 21. Jahrhunderts im westlichen Kunstdiskurs durchgesetzt hat. Die postkoloniale Kritik sowie die mit der Theorie einer »radical democracy« (Laclau/Mouffe) verbundene, diskursprägende Forderung nach Reziprozität und Antagonismus haben hier einen ethischen Vorbehalt geprägt, aus dessen Perspektive internationale Zusammenarbeit und Projekte, denen ein offensichtliches Hierarchieverhältnis eingeschrieben ist, in den Verdacht geraten, Machtstrukturen zu reproduzieren, die es, im Sinne der kritischen Geisteshaltung, zu überwinden gilt. Internationale Zusammenarbeit rückt aus dieser Sicht in die Nähe einer neokolonialistischen Praxis, die globale Hierarchieverhältnisse instrumentalisiert, marginalisierte Kontexte unter dem Deckmantel von »good intentions« (Hoogardt) ausbeutet und dabei Eigeninteressen unterschlägt. Es liegt auf der Hand, dass off/line den ethischen Vorbehalt aktiviert. Insbesondere die aus dem Westen stammenden Kunstschaffenden sehen sich im Vergleich zu den marginalisierten Bewohner_innen von Nikozi in eine auf globale Hierarchien zurückzuführende Autoritätsposition versetzt. Sie stehen zudem einer Gastfreundschaft gegenüber, die die Möglichkeiten für Antagonismus und letztlich auch Reziprozität unter schwierige Vorzeichen setzt. Betrachtet man off/line als eine dialogische Situation, dann handelt es sich um eine, wie gesagt, undurchschaubare und möglicherweise monologische Situation. Diese Schwierigkeit zeigte sich in der Durchführung 2016 etwa indirekt daran, dass sich vier Künstler_innen dazu entschieden, gar keine Eingriffe
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oder Äußerungen zu machen, sondern sich lediglich auf eine Beobachtung und auf die Begegnung mit den Bewohner_innen zu fokussieren. Im Unterschied zu dem georgischen Künstler David Kukhalashvili fassten sie diese Entscheidung und Vorgehensweise als künstlerischen Prozess auf. Grundsätzlich entspricht diese Sensibilität gegenüber der eigenen sozialen Position der zweiten Grundvoraussetzung der dialogischen Ästhetik. Kester trifft eine Unterscheidung zwischen Projekten, die das Anliegen einer Begegnung und eines Austauschs auf »struktureller oder organischer« Ebene verfolgen, gegenüber anderen, die ihn auf lediglich symbolischer Ebene erfüllen. Letzterer steht er kritisch gegenüber: The artists come up with a concept or an idea that requires them to assemble the bodies of people who play some symbolic role or »participate« in some nominal way acting out a prescribed script or set of movements. The bandwidth of that engagement is pretty narrow. This involves a kind of directoral notion of participation in which the artist remains the primary locus of creative agency. (Krenn/Kester 2013: 3)
Ein Austausch auf strukturell-organischer Ebene hingegen beinhalte, dass ein Projekt die sozialen Positionen der involvierten Personen verhandle und ein_e Künstler_in dabei auch ihre autoritäre Position zur Disposition stellt. Es bedürfe der Bereitschaft, »agency«, also Handlungs- und Entscheidungsmacht, abzugeben. Dies sei nicht damit zu verwechseln, dass man die Behauptung oder Hoffnung verfolgt, die eigene (Macht-)Position zu überwinden. Vielmehr gehe es darum, die Auseinandersetzung mit Positionszuschreibungen als Teil der künstlerischen Arbeit aufzufassen und zu thematisieren. How do we optimize those conditions that can lead to exchanges that are the most open, creative and transformative, and that don’t claim to eliminate all differences of power entirely, but that thematize them in such a way that they can be acknowledged and addressed in the practical, real world contexts in which they are actually reproduced? (Ebd.: 9–10)
Was passiert nun aber, wenn sich das schwer thematisieren lässt? Die Tatsache, dass in off/line die Reflexion der sozialen Konstellation grundsätzlich innerhalb der Künstler_innengruppe – etwa bei den Diskussionen um den »Village Fund« – und kaum im Austausch mit der lokalen Bevölkerung stattfand, unterstreicht die Schwierigkeit, das Differenz- und Hierarchieverhältnis im Austausch mit den gastfreundlichen Bewohner_innen zu adressieren. Diese Schwierigkeit ist nicht unbedingt mit einer fehlenden Bereitschaft gleichzusetzen. In meinen verschiedenen Involvierungen in Projekte im Südkaukasus bin ich immer wieder auf das ungute Gefühl gestoßen, dass der Austausch über die soziale Konstellation und ihre Implikationen voraussetzungs-
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reich wäre, und dass diese Voraussetzungen innerhalb eines Settings, wo viel grundlegendere Aspekte der Verständigung und Orientierung im Zentrum stehen, kaum geschaffen werden können. Ein Problem, das auch in der internationalen Zusammenarbeit – meist im Zusammenhang mit Evaluationstechniken oder im Rahmen des Anspruchs, »local ownership« herzustellen (Reich 2006) – thematisiert wird. Dabei erscheint mir das Argument, dass es dazu eben mehr Zeit braucht, nur teilweise gültig. Ich habe erlebt, wie sich bei wiederholten auch längeren Aufenthalten etwa in Nikozi eine freundschaftliche, teils fast familiäre Vertrautheit einstellen kann, die sich z. B. darin artikuliert, dass man Gefühlslagen des Gegenübers zu erkennen vermag, ohne ein Wort zu sagen. Zugleich gibt es in meiner Erfahrung Ebenen – wie etwa die Beziehung, in der man steht –, die ›unberührbar‹ bleiben. Dies mag auf eine soziokulturelle Prägung zurückgehen oder, vielleicht, auf die letztlich doch nie zu überwindende Machtbeziehung. Der Versuch, die soziale Konstellation zu verhandeln, findet auf jeden Fall unweigerlich auf einer mehrheitlich unausgesprochenen Ebene statt. Die Vorgehensweise von David Kukhalashvili, der entschied, keine Kunst zu machen, und der Künstler_innen, die nicht am »Village Fund« beteiligt sein wollten, lässt sich als solche unausgesprochenen Verhandlungen interpretieren. In Zemo Nikozi Kunst zu machen, kann die Differenz zu der lokalen Bevölkerung, die kaum einen Zugang zu zeitgenössischer Kunst hat und in der sich auch keine professionellen Künstler_innen finden, unterstreichen. Mit seinem Entschluss, keine Kunst zu machen, entschied sich Kukhalashvili somit dagegen, sich als wissende und privilegierte Person hervorzuheben. Ähnlich lässt sich die Ablehnung des »Village Funds« als ein ›Wohltätigkeitsprojekt‹ der Künstler_innen als diejenigen, die über mehr Mittel und Entscheidungsmacht verfügen, interpretieren. Indem die Künstler_innen nicht mehr an den Diskussionen teilnahmen, suchten sie die übergeordnete Position, die dem Projekt ohnehin schon auf anderen Ebenen eingeschrieben ist, zu vermeiden. Zu letzterer Gruppe gehörte die Schweizer Künstlerin Sabine Schlatter, die eine scheinbar entgegengesetzte Position zu Kukhalashvili bezog. Nach einer kurzen Orientierungsphase begann sie, großformatige, abstrakte Zeichnungen herzustellen, sogenannte »Mappings« oder »innere Karten« von Nikozi. Mit dem Medium der Zeichnung entschied sich Schlatter für eine hermetische künstlerische Arbeit, über die man jedoch unmöglich hinwegschauen konnte. Alle, die das Gemeindehaus, wo sich der Workshopraum, in dem Schlatter arbeitete, direkt neben der Militärküche befindet, betraten, sahen die Künstlerin beim Zeichnen. Auch wenn dies paradox klingen mag, so reflektierte Schlatters Arbeitsprozess gerade die soziale Konstellation des Projekts. Eine Konstellation, in die sie weder als Helferin noch als Künstlerin intervenieren wollte, in der sie sich nicht gut zu verständigen wusste, in der sie aber gerade
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aufgrund ihrer Position als Außenstehende den Raum zwischen sich und ›den Anderen‹ besonders ausgeprägt wahrnahm. Diesen Zwischenraum zeichnete sie in ihren abstrakten Bildern auf. Dass sie dabei völlig exponiert war, unterstrich ihr Anliegen, den Zwischenraum nicht zu bestätigen, sondern über die ästhetische Produktion eine Kommunikation herzustellen, die die Unmöglichkeit einer sprachlichen Verständigung ersetzt. Abb. 3: Sabine Schlatter beim Zeichnen ihrer ›Mappings‹ im ehemaligen Kulturclub und heutigen Gemeindehaus von Zemo Nikozi
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S prechbefugnis und S elbstsabotage Wer darf was sagen? – Diese Frage schwingt bei off/line mit, wo ja Kunstschaffende aus Westeuropa mit jenen aus dem nur etwa 60 Kilometer entfernten Tbilisi zusammenkommen. Während Krieg mit all seinen Auswirkungen für die Künstler_innen aus Westeuropa in den seltensten Fällen eine selbst erlebte Realität darstellt, haben diejenigen aus Georgien den Krieg 2008 aus nur ein paar Dutzend Kilometer Entfernung miterlebt. In ihre Familiengeschichten sind zudem der Kollaps der Sowjetunion und die von Ressourcenknappheit und Bürgerkriegen geprägten 1990er-Jahre eingeschrieben. Aus dieser Sicht stehen sie den Bewohner_innen von Nikozi eindeutig näher. An mir selbst beobachte ich eine Tendenz, auf die Diskrepanz der Erfahrungshintergründe und die eigene Privilegiertheit, die in der sozialen Konstel-
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lation von off/line deutlich hervortritt, mit Zurückhaltung zu reagieren. Es tut sich eine Unsicherheit auf, wie man angemessen auf Menschen mit einem im Vergleich entbehrungsreichen und oftmals traumatisierenden Hintergrund zugehen soll. Es ist nicht so, dass ich die Zurückhaltung eine durchwegs gute Reaktion fände. Mir scheint, dass sie zumindest teilweise die eigene Privilegiertheit – oder vielleicht auch ein aus der Diskrepanz entstehendes schlechtes Gewissen – kaschiert. Insofern bestätigt sie viel eher die Distanz zu ›den Anderen‹, als dass sie sie zu überwinden vermag. Eine solche Zurückhaltung ist prägend für die Dialogsituation in off/ line. Bezeichnend dafür ist z. B., dass westliche Künstler_innen, die bei einer Gastfamilie mit schlechter Dusche oder sogar ohne Duschmöglichkeit untergebracht sind, dies meist unkommentiert hinnehmen. 2016 wohnten drei Künstler, zwei westliche und einer aus Georgien, bei einer solchen Familie. Es fehlte nicht nur eine Dusche, sondern die Künstler schliefen auch in einem Durchgangszimmer und auf Matratzen, die sich im Verlauf ihres Aufenthalts buchstäblich aufzulösen schienen. Die beiden westlichen Künstler fügten sich der Situation und fassten sie als so etwas wie eine Selbsterfahrung auf. Der georgische Künstler hingegen fing bald an, bei einer anderen Familie zu duschen und zuletzt auch dort zu schlafen. Als Projektleiter versetzte mich diese Reaktion in eine schwierige Situation. Die Familie, zu der er wechselte, wurde nicht bezahlt für seine Unterbringung, die Familie, die er verlassen hatte, hingegen schon, obwohl sie nun einen geringeren Aufwand hatte. Zudem sah ich im Sinne des Prinzips der Konfliktsensitivität das Risiko, dass der Wechsel die ursprüngliche Gastfamilie verletzen oder gar im Dorf bloßstellen könnte (über alle Regungen der Gäste wurde beispielsweise im Dorfladen täglich getratscht). Zugleich handelt es sich bei seinem Wechsel aber auch einfach um ein pragmatisches Verhalten, das viel eher auf den Tisch brachte, was ohnehin im Raum stand: in diesem Falle, dass die betreffende Gastfamilie chaotisch war, ihr Versprechen, eine Dusche einzurichten, nicht eingelöst hatte, und einfach das Geld dringend benötigte. Demgegenüber stand die Reaktionsweise der beiden europäischen Künstler. Ihr Aufenthalt war sichtlich geprägt von schlechtem Schlaf, dem Fehlen einer Rückzugsmöglichkeit und einer warmen Dusche. Ihre taktvolle Zurückhaltung mündete in das, was die deutsche Künstlerin Swaantje Güntzel in Bezug auf eine ähnliche Situation als »Selbstsabotage«5 bezeichnete, etwas, was Güntzel gerade in Bezug auf Künstler_innen mit privilegiertem Hintergrund beobachtet, die in fragile Kontexte reisen. Der Begriff der Selbstsabotage, wie ich ihn hier verstehe, ist nicht mit dem in der postkolonialen Theorie oftmals erhobenen Anspruch, aus der sozial stärker gestellten Position Privilegien ab5 | Der Begriff stammt aus einem Gespräch des Autors mit der Künstlerin in Tskaltubo (GEO) im September 2015. Die Aufzeichnung liegt dem Autor vor.
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zugeben, zu verwechseln. Denn ähnlich wie in Bezug auf die oben angesprochene Zurückhaltung erscheint mehr als fraglich, ob die Selbstsabotage nicht viel mehr ein Zeichen für die Privilegiertheit darstellt als für deren Überwindung und damit dem Ziel von Begegnung und Austausch im Wege steht. Einen Unterschied zwischen pragmatisch-direkter und taktvoll/unsicherzurückhaltender Reaktion ließ sich auf mehreren Ebenen beobachten. Anschaulich ist die Reaktion der Teilnehmer_innen auf die im Dorf omnipräsenten Einschusslöcher, die an Häuserfassaden und Metallzäunen bis heute vom Krieg im Jahr 2008 zeugen. Gleich zu Beginn des Projekts, als wir mit der ganzen Gruppe in Zemo Nikozi ankamen und am Dorfeingang von der Militärpolizei kontrolliert wurden, sprang die georgische Künstlerin Luiza Laperadze elektrisiert aus dem Bus, sah sich die Schusslöcher aus der Nähe an und fotografierte sie. Mir war ihre Reaktion unangenehm, da sie die Kriegsspuren unverhohlen als Sensation behandelte. Zugleich erinnere ich mich bestens an meine ersten Reisen nach Nikozi, wo mich die Schusslöcher ebenfalls stark beeindruckten. Ich hätte meiner Wahrnehmung jedoch niemals Ausdruck gegeben, sondern habe sie – aus Unsicherheit oder dem Anspruch, taktvoll zu sein – zurückgehalten. Analog dazu ließ sich 2016 beobachten, dass sich niemand von den europäischen Teilnehmer_innen, aber gleich vier Künstlerinnen aus Georgien mit den »bullet holes« beschäftigten. Ninuca Megrelishvili malte im Austausch mit der Tochter ihrer Gastfamilie Bilder, mit denen sie die Einschusslöcher in ihrem Schlafzimmer überdecken konnte. Nutsa Esebua setzte sich analytisch mit der Ästhetik der Einschusslöcher im öffentlichen Raum auseinander und übertrug diese dann in abstrakte Frottagen und Zeichnungen. Luiza Laperadze, die von Beginn an fasziniert war von den Schusslöchern, griff in die Situation ein und ließ sich von einem Handwerker ein Stück von einem durchlöcherten Metallzaun herausschneiden. Für dieses Fragment baute sie dann eine Vitrine, wie sie in einem historischen Museum stehen könnte. Sie präsentierte die Schusslöcher damit als etwas, was zurückliegt und archiviert ist, und spielte so auf ihre Beobachtung an, dass die Bewohner_innen von Nikozi zu sehr in ihrer Kriegsbetroffenheit verharrten. Zugleich setzte sie sich zum Ziel, die Vitrine in Tbilisi auszustellen, wo das Wissen um die Situation in Nikozi zu gering sei und prinzipiell verdrängt werde.6 Auch Tamar Botchorishvili beschäftigte die Frage, warum die Kriegsspuren so sichtbar bestehen gelassen werden. Sie suchte nach einer Möglichkeit, über eine symbolische Auseinandersetzung hinauszugehen, und begann, mit verschiedenen Bewohner_innen über die Spuren zu sprechen. Dabei bestätigte sich bald, dass niemand im Dorf die Einschusslöcher mag, im Gegenteil. 6 | Aufzeichnungen der Präsentation von Laperadze sowie aller anderen Teilnehmer_innen an off/line (2016) liegen dem Autor vor.
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Der Grund, warum sie dennoch bestehen bleiben, ließ sich jedoch weniger leicht eruieren. Das einzige konkrete Argument, das Botchorishvili wiederholt zu hören bekam, war, dass es zu aufwendig und kostspielig sei, die Stellen zu reparieren. Ausgehend von diesem Argument setzt sie sich im Folgenden mit Füllmaterialien und Reparationsmethoden auseinander. Sie eruierte die praktikabelste und günstigste Art, die Löcher zu reparieren. Bei der Abschlussveranstaltung von off/line präsentierte sie den Dorf bewohner_innen dann eine einfache Anleitung sowie Kostenaufstellung. Abb. 4: Tamar Botchorishvili beim Materialtest zur Reparatur einer von Einschusslöchern übersäten Hausfassade in Zemo Nikozi
Foto: Sabine Schlatter
Eine solche direkte Adressierungen der Kriegsspuren, die für die Kriegserfahrung und den bis heute wirksamen, eingefrorenen Konflikt stehen, fand sich bei den westlichen Künstler_innen nicht. Am ehesten bezog die Schweizerin Nora Longatti Position zu der Situation. Longatti stellte Trinkgefäße aus Tonerde her, die sie selbst aus einem Flussbett auf dem Feld zwischen Nikozi und der südossetischen Stadt Zkhinval/i gewonnen hatte. Dazu musste die Künstlerin von der Militärpolizei zu dem Flussbett begleitet werden. Zudem stieß sie beim Graben des Erdofens, in dem sie ihre Töpferei schließlich brannte, auf einen zugeschütteten Bunker. Die Kriegsbetroffenheit des Orts war also präsent in ihrem Arbeitsprozess, sie sprach diese Erfahrungen bei der Präsentation jedoch nur indirekt an. Meiner Einschätzung nach hat aus ihren poeti-
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schen Äußerungen auch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung verstanden, dass die Trinkgefäße auf konkret-materieller Ebene eine Verbindung zu Südossetien verkörperten. Ihre Ausführung stand somit in einem starken Kontrast etwa zu der Vitrine von Luiza Laperadze, die den Bewohner_innen die eingefrorene Kriegssituation mit ihren Implikationen unmissverständlich vor Augen führte. Dieser Unterschied zwischen den georgischen und den westlichen Kunstschaffenden scheint deutlich auf ihre Herkunft und Position zurückzugehen. Die Künstler_innen, die aus Tbilisi angereist waren, haben dieselbe Sprache, denselben kulturellen Hintergrund wie die Bewohner_innen in Nikozi. In Vergleich zu den Kunstschaffenden aus Westeuropa sind sie Insider 7, auch in dem Sinne, dass sie der eingefrorene Konflikt selbst betrifft. Eine erneute Eskalation würde auch sie gefährden, zumindest in Bezug auf die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen, die für Georgien entstünden. Dieses Teil-Sein erlaubt ihnen, sich anders zu der Situation in Nikozi zu äußern, als es für die Outsider angebracht erscheint, also die Westeuropäer_innen, die persönlich wenig zu verlieren hätten, würde der Konflikt wieder ausbrechen, und die sich freiwillig und lediglich temporär mit der eingefrorenen Konfliktsituation konfrontieren. Während die einen sich zur direkten Äußerung befugt sahen und den Konflikt gewissermaßen in Besitz nahmen, verlagerten die anderen den Fokus weg von den Kriegsspuren. Auch dies kann als eine Form der Selbstsabotage aufgefasst werden, die sich in diesem Falle darin äußert, dass man sich selbst verbietet, das anzusprechen, was im Raum steht, um die eigene Privilegiertheit und Distanz in Bezug zu diesem Raum nicht zu betonen.
I ndirek te R esponse Inwiefern aus dem Teil-Sein der georgischen Künstler_innen tatsächlich eine ›Sprechbefugnis‹ in Bezug auf die Kriegserfahrung resultiert, lässt sich infrage stellen. So erwies sich in der Evaluation des Projekts, die 2016 durch die Kunsthistorikerin Irine Jorjadze durchgeführt wurde,8 dass die Bewohner_innen von Nikozi die direkte Adressierung mitunter als unangenehm empfan7 | Vgl. zur Unterscheidung von Insidern und Outsidern in der Konflikttransformation: Reich 2006: 9–10. 8 | Irine Jorjadze verfolgte off/line sowie die Abschlussveranstaltung an zwei Tagen vor Ort mit und führte dabei mit den Kunstschaffenden, mit einigen Gastfamilien sowie mit unbeteiligten Bewohner_innen von Nikozi informelle Gespräche. Sie reiste einen Monat nach dem Projekt noch einmal an, um mit den Bewohner_innen im Rückblick über das Projekt zu sprechen. Ihre Beobachtungen und Beurteilungen teilte sie dem Autor bei einem Skype-Gespräch mit. Alle hier gedruckten Aussagen wurden von Jorjadze validiert.
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den. Jorjadzes Einschätzung war, dass sich die georgischen Künstler_innen endlich am Ort einer Kriegserfahrung wähnten, zu der sie bisher nur einen, zwar sie selbst betreffenden, aber zugleich abstrakten Zugang hatten. Sie hätten sich übermäßig mit der Situation identifiziert und mit ihren emotionalen Reaktionen die Bewohner_innen belastet, da diese ganz im Gegensatz die Sache zurückzulassen suchen. Während also die Kunstschaffenden ihre Nähe zu der Situation sowie ihre Befugnis, den Konflikt zu adressieren, für selbstverständlich hielten, grenzten sich die Bewohner_innen hier dezidiert ab. Umgekehrt hatte Jorjadze den Eindruck, dass in Bezug auf die westlichen Kunstschaffenden durchaus erwünscht gewesen wäre, dass sie die taktvolle Zurückhaltung und die damit verbundenen, selbst auferlegten Grenzen mehr überschritten hätten. So brachte die Evaluierung hervor, dass sich die Bewohner_innen wunderten, dass die Künstler_innen während ihres Aufenthalts nicht viel mehr und lauter gefeiert hätten. Dies sei eigentlich erwartet worden und man habe das Ausbleiben von berauschten Gästen etwas bedauert. Ebenfalls in der Evaluation stellte sich heraus, dass gerade die künstlerische Arbeit in off/line 2016, die aus Perspektive der Konfliktsensitivät als heikel angesehen werden konnte, den Bewohner_innen mitunter am lebhaftesten in Erinnerung geblieben war. Dabei handelte es sich um den etwa 20-minütigen Film Nikozi Shadows, der die Geschichte eines Ausländers erzählte, der sich mit einem Alkoholschmuggelring in Nikozi einlässt. Der Film wurde von der Schweizer Künstlerin Linda Pfenninger und dem in Europa lebenden US-amerikanischen Künstler Philip Matesic in enger Zusammenarbeit mit der Übersetzerin Martha Todua gedreht. Die Hauptfiguren waren Dorf bewohner_innen, die sich teilweise spontan auf die Beteiligung einließen. So wurde eine pensionierte Militärköchin zum Kopf der Schmuggelorganisation, ein Jugendlicher zum versierten Hacker (obwohl, nebenbei bemerkt, kaum Internet in Nikozi vorhanden ist) und der Dorfladenbetreiber zum Informanten. Der Film erschuf das Bild eines äußerst gut organisierten kriminellen Untergrunds, in dem scheinbar unbescholtene Bewohner_innen Schlüsselrollen einnehmen, ohne sich von der Polizei schnappen zu lassen. Beim Prozess der Filmherstellung, der innert kürzester Zeit gedreht und geschnitten wurde, gab es durchaus heikle Momente. Dazu gehörte etwa, dass einige Jugendliche, die sich in die Rolle von Ermittler_innen versetzten, eine leidenschaftliche Gewaltbereitschaft zum Ausdruck brachten, als sie einen Hof stürmten, in dem der Schmuggelring vermutet wurde. Bei der Schlusspräsentation löste gerade diese Stelle bei den jungen Dorf bewohner_innen und ihren Eltern Gelächter aus. Anders als befürchtet erwies sich, dass die Bewohner_innen das Übermaß bestens erkannten, dieses jedoch weniger als Zeichen für eine traumatisierende Kriegserfahrung, sondern vielmehr als leidenschaftlichen Einsatz und pubertären Eifer wahrnahmen.
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Abb. 5: Die Künstlerin Linda Pfenninger bei einer Szenenbesprechung mit den Bewohnern und Filmdarstellern Guram Kereselidze und Sergo Kereselidze für den Film Nikozi Shadows
Foto: Philip Matesic
Mit ähnlichem Beifall wurde auch die Persiflage auf die im Dorf omnipräsente Militärpolizei quittiert. Diese trat in Erscheinung, als zu Beginn des Films der Ausweis des Ausländers kontrolliert wird. Der Militärpolizist musste jedoch von einem deutschen Künstler gespielt werden, da die echten Polizisten nicht abgelichtet werden dürfen. Seine etwas ungelenke Verkörperung wurde hoch amüsiert angenommen, obwohl sie die Autorität der Militärpolizei und die tragischen Verhältnisse, die sie in Nikozi vor Augen führt, zumindest implizit untergrub. Auf ähnliche Weise schien auch die Tatsache, dass kaum eine Szene ohne Schusswaffe auskam (wobei es sich um glaubhafte Attrappen handelte, die am nahe gelegenen Markt erstanden worden waren), unproblematisch. Die Waffe wurde von den jugendlichen ›Ermittler_innen‹ beherzt eingesetzt, in anderen Szenen steckte sie zumindest irgendwo im Hosenbund oder lag auf einem Tisch. Wenn man bedenkt, dass im Hintergrund des Projekts mit artasfoundation eine Organisation für Friedensbildung steht, erscheint die Waffe unangebracht. Gestoßen hat sich jedoch niemand an ihr. In diesem Sinne erwies sich in Bezug auf Nikozi Shadows plötzlich all das, was aus Sicht der Konfliktsensitivität tabu erschienen war – etwa die Jugendlichen in eine Gewaltszene zu versetzen, die Autorität der Militärpolizei zu untergraben oder im Dorf mit einer Schusswaffe zu spielen –, als Publikumsschlager und als unerwartet verbindendes Element.
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Die indirekte Response der Bewohner_innen, die mir durch Irine Jorjadze vermittelt wurde, weist darauf hin, dass ihre Reaktionsweisen nur schwer kalkulierbar sind. Vielmehr scheint es so, dass die Grenzen des Dialogs, die die Künstler_innen in Zemo Nikozi erfahren, seine Undurchschaubarkeit und Einseitigkeit zumindest teilweise zu einer Projektionsfläche werden lassen. Aus Perspektive der georgischen Kunstschaffenden mag das Gefühl einer zu großen Nähe entstehen, aus derjenigen der Westeuropäer_innen hingegen gerade das Gefühl einer Limitierung, die sich darin äußert, dass man ›den Anderen‹ nicht zu nahe treten und sich selbst nicht privilegiert zeigen will. Problematisch an beiden Projektionen ist, dass sie – in entgegengesetzte Richtungen – die ›Opferposition‹ der Bewohner_innen bestätigen. Natürlich hat das Prinzip der Konfliktsensitivität bis zu einem gewissen Grad mit Projektion zu tun. Es lässt sich nie genau annehmen, wie etwas auf jemand anderes wirkt, schon gar nicht, wenn eine derart große kulturelle Differenz und ein Hierarchieverhältnis bestehen. Ebenso wenig kann ein Schweigen oder eine nur indirekte Response mit Sicherheit richtig interpretiert werden. Dies sage ich nicht, um die Konfliktsensitivität zu disqualifizieren, sondern um ihren Fokus weg von ›den Anderen‹ hin zu einem selbst zu verschieben. Wenn sich nicht über eine soziale Konstellation sprechen lässt, weil unausgesprochene Interessen, sprachliche Verständigungsschwierigkeiten und verschiedene Voraussetzungen herrschen, dann kann die Verhandlung der sozialen Rollen vielleicht nur dann stattfinden, wenn man das eigene Verhalten erkennt und die eigene Reaktionsweise, die selbst auferlegten Begrenzungen überwindet.
W ie über K unst in der K onflik t zone schreiben ? Abschließend will ich auf die im Titel dieses Texts gestellte Frage, »Was macht Kunst in der Konfliktzone?«, zu sprechen kommen. Dabei werde ich allerdings diejenigen enttäuschen, die sich eine Kategorisierung oder Typologie versprochen haben. Das erklärte Ziel meiner Diskussion bestand darin, qualitative empirische Beobachtungen zu liefern, und diese lassen sich nicht in Hinblick auf die künstlerischen Praktiken verallgemeinern. Die einzig allgemeine Aussage, die ich treffen kann, hat vielmehr mit der Perspektive zu tun, die ich auf die Kunstproduktion im Rahmen von off/line eingenommen habe: Kunst wird hier zu einem sozialen Prozess, und zwar nicht in dem Sinne, dass sie zwingend in die soziale Situation von Nikozi eingreifen würde, sondern dass sich die künstlerischen Arbeiten in der Auseinandersetzung mit der Anlage des Projekts an der Schnittstelle zur Sozialarbeit und mit der Konstellation zwischen den von außen kommenden Kunstschaffenden und den lokalen Bewohner_innen generieren und artikulieren.
Was macht Kunst in der Konflikt zone?
In Bezug auf diese Auseinandersetzung lassen sich anhand meiner empirischen Beobachtungen vier Spannungsfelder ablesen, die sich zumindest begrifflich verallgemeinern lassen. Zu diesen Spannungsfeldern gehört erstens, dass sich die Kunstschaffenden zum Feld der internationalen Zusammenarbeit zu positionieren haben, das in Hinblick auf seine Denkmuster Widersprüche zu ideengeschichtlichen Wendungen des Kunstdiskurses aufweist. Zum einen stehen sich hier der Anspruch, zielorientiert auf einen Transformationseffekt (im Sinne eines gesellschaftlichen Wandels) hinzuarbeiten, und die Vorstellung, dass Kunst eine kontingente und plurale Wirkung hat, gegenüber. Zum anderen steht die herkömmlicherweise mit der internationalen Zusammenarbeit assoziierte Geste des Helfens in Widerspruch zum ethischen Vorbehalt, wonach gerade die Prämissen und Implikationen des Helfens kritisch zu adressieren sind. Zweitens besteht in einem Projekt wie off/line nicht nur ein Differenz-, sondern auch ein Hierarchieverhältnis zwischen den von außen Kommenden und lokal Ansässigen. Während sich die Differenz in relativ offensichtlichen Aspekten, wie etwa der Sprache, dem Erfahrungs- und Bildungshintergrund manifestiert, erscheint das Hierarchieverhältnis komplexer, insbesondere wenn finanzielle Interessen und symbolisches Kapital mit im Spiel sind. Gerade dann kommt aber auch wieder die Differenz zum Tragen, die es schwierig macht, diese Aspekte zu thematisieren. Wer im Sinne einer dialogischen Ästhetik Handlungs- und Entscheidungsmacht verhandeln will, findet sich schnell in einer monologischen Auseinandersetzung wieder, in der man lediglich das eigene Verhalten zu reflektieren und überwinden vermag. Drittens kann aus dem undurchschaubaren Hierarchieverhältnis gerade bei denjenigen in der privilegierten Position eine Reaktionsweise entstehen, die ich als Selbstsabotage bezeichnet habe. Gemeint ist damit eine Form der unsicheren/taktvollen Zurückhaltung, die sich etwa darin äußert, dass man Unangenehmes hinnimmt – es vielleicht sogar als eine Selbsterfahrung umwertet – oder die eigene Wahrnehmung nicht äußert, obwohl etwas, das anzusprechen wäre, im Raum steht. Selbstsabotage mag auf ein schlechtes Gewissen aufgrund der eigenen Privilegiertheit zurückgehen. Meines Erachtens stellt sie jedoch vielmehr ein Zeichen für die eigene Privilegiertheit dar, als dass sie einen Ausgleich – geschweige denn eine Überwindung der Distanz – erreichen würde. Viertens kann die Gegenbewegung zur Selbstsabotage als (vermeintliche) Sprechbefugnis bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich gerade um eine zu große Nähe, zu der sich Kunstschaffende gegenüber der sozialen Situation aufgrund einer eigenen Betroffenheit legitimiert fühlen können. Diese Nähe scheint einen zu befugen, eine Erfahrung in Besitz zu nehmen, womit gerade die Differenz, die ich oben als offensichtlich bezeichnet habe, übergangen oder auch missachtet wird.
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Wie ich einleitend gesagt habe, geht es mir darum, einen Gegenentwurf zum Diskurs der internationalen Zusammenarbeit, seiner Wirkungslogik und entsprechenden Rhetorik zu entwickeln. Die vier Spannungsfelder können diesem Ziel dienlich sein. Denn sie zielen nicht auf die Beschreibung von Transformationseffekten, sondern der Positionierung in der sozialen Konstellation hin. Sie ermöglichen es, die Kunstproduktion als dialogische Situation zu beschreiben, die unlösbar mit zwischenmenschlichen und subjektiven Dynamiken verbunden ist. Auf der Ebene dieser Dynamiken sehe ich auch das Potenzial einer künstlerischen Produktion, wie sie in Zemo Nikozi stattfindet. Ein Potenzial, das sich nur schlecht in eine neoliberale Logik fügen lässt, da es kaum verwertbar oder quantifizierbar ist. Ein Potenzial, das dem nahekommt, was Kester als Absicht von Kunst beschreibt, die den sozialen Dialog sucht: »We don’t simply enter into dialogue with the intention of defending an a priori belief, but in order to experience an opening out to the other that has the potential to reconfigure our subjectivity in a profound manner.« (Krenn/ Kester 2013: 10)
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Verhandlung von Zugehörigkeitsordnungen in Fluchtkontexten Wir/Andere-(De-)Konstruktionen im Umfeld der Schutzbefohlenen Anita Moser Der »lange Sommer der Migration« (vgl. Hess et al. 2017) hat die europäische Gesellschaft und Politik in unvergleichlicher Weise zwischen anfänglicher ›Willkommenskultur‹, großem zivilgesellschaftlichen Engagement und zunehmender Ausgrenzungspolitik dynamisiert. Auf eine kurze Zeit der Öffnung von Grenzen und breiter Unterstützung Hunderttausender Geflüchteter auf ihrem Weg nach Europa folgt deren Schließung und längst abgeschaffte Zäune und Schranken werden wieder hochgezogen. Die Migrationsbewegungen 2015 wirken sich deutlich auf das Feld von Kunst und Kultur aus, in dem sich eine regelrechte »Faszination von Kulturschaffenden für das Thema Flucht« (Ziese/Gritschke 2016: 26) beobachten lässt. Dabei ist neben symbolischen künstlerischen Auseinandersetzungen und Interventionen an den Schnittstellen zum Aktivismus eine Flut an Kulturprojekten für und mit Geflüchteten feststellbar. In der kritischen Analyse dieses Feldes ist die Frage nach dem ›Wer spricht?‹ – also nach Konstruktionen von Wir/Andere und deren Repräsentationen im Sinne von Darstellung, Vorstellung und Stellvertretung – zentraler Angelpunkt (vgl. u. a. Ziese/Gritschke 2016; Peter/Pfeiffer 2017). Inwieweit finden also paternalistische Stellvertretungsdiskurse und Fortschreibungen asymmetrischer Machtverhältnisse statt? Wo ändern sich hegemoniale Definitions- und Repräsentationsverhältnisse oder entstehen Räume der Selbstrepräsentation Geflüchteter1? 1 | Die Bezeichnung ist problematisch, da mit der Kategorie ›Geflüchtete‹ Menschen auf ihre Fluchterfahrung reduziert werden. Darüber hinaus wird damit ein Diskurs der Unterscheidung zwischen berechtigter und nicht berechtigter Migration, notwendiger Flucht (von ›Kriegsflüchtlingen‹) und weniger zwingender Flucht (von ›Wirtschaftsflüchtlingen‹) befeuert. Die prekären Bedingungen von in Österreich ankommenden Geflo-
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Das sind Fragen, mit denen sich der vorliegende Beitrag anhand eines zwischen Refugee-Protesten, arriviertem Kulturbetrieb und politisch engagierter Off-Szene wandernden Textes auseinandersetzt: Die 2013 im Kontext des Refugee Protest Camp Vienna entstandene literarische Arbeit Die Schutzbefohlenen der Nobelpreisautorin Elfriede Jelinek und deren Übertragung 2015 in eine Off-Theater-Produktion des Künstler_innenkollektivs Die schweigende Mehrheit sagt JA! dienen als Ausgangspunkt meiner Auseinandersetzung. Findet in diesen Texten2 die Fortschreibung oder ein Abbau diskriminierender Grenzziehungen zwischen ›Wir‹ und ›Andere‹ statt? Welche sprachlichen und visuellen Bilder bezeugen dies? Mir ist bewusst, dass dieses Vorhaben nicht unproblematisch ist. Denn Ungleichheiten in Bezug auf Repräsentationen wissenschaftlich zu befragen, bedeutet, diese auch zu reproduzieren. Sich im Kontext von Flucht mit der Arbeit einer weißen3 Autorin und der Theateradaption durch weiße Regisseur_innen zu beschäftigen, bedeutet zudem, die Sichtbarkeit ihrer Positionen minoritären Perspektiven gegenüber zu favorisieren. Jedoch ist es gerade diese weiße Perspektive, die den Mainstream adressiert und darin rezipiert wird – und daher auch kritisch zu thematisieren ist.
(D e -)K onstruk tion von W ir -B ildern Elfriede Jelineks fiktiver Text Die Schutzbefohlenen entsteht im Kontext der Refugee-Protest-Bewegung 2012/13 in Wien. Am Beginn dieser Bewegung stehen eine Dauerprotestkundgebung somalischer Refugees vor dem Parlament im Oktober 2012 sowie ein Protestmarsch vom Erstaufnahmezentrum Traiskirchen nach Wien von rund 150 Geflüchteten und die Errichtung des Refugee Protest Camp im Sigmund-Freud-Park vor der Votivkirche im November. Es henen sind jedoch aufgrund ihres spezifischen politischen Status nicht vergleichbar mit jenen von Personen mit gültigem Aufenthaltstitel, weshalb eine Differenzierung unumgänglich ist. Ich verwende im vorliegenden Beitrag die Begriffe ›Geflüchtete‹ und ›Refugees‹, wenngleich mir bewusst ist, dadurch diese Kategorisierung auch ein Stück weit zu reproduzieren. 2 | Ausgehend von einem weiten Textbegriff verstehe ich auch Theater und Performance – also den Text von Jelinek und dessen Fortschreibung durch Die Schweigende Mehrheit sagt JA! sowie die ›cultural performance‹ des Refugee Protest Vienna – als Texte, die in einen ›texte général‹ (vgl. Kristeva: 1972) eingebettet sind. 3 | Der Begriff weiß, klein und kursiv geschrieben, ist – wie er im vorliegenden Text verwendet wird – ein von Schwarzen Theoretiker_innen entwickelter analytischer Begriff, um weiße Dominanz- und Machtverhältnisse und damit verbundene Privilegien und Rassismen zu bezeichnen.
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folgen die Besetzung der Votivkirche, Hungerstreiks und die polizeiliche Räumung des Protestcamps im Dezember. Im März 2013 beenden die Geflüchteten die Besetzung der Kirche und ihren Hungerstreik und ziehen in ein ehemaliges Servitenkloster im neunten Wiener Gemeindebezirk. Im Juli desselben Jahres kommt es zu Abschiebungen von und Anklagen gegen Refugees wegen des Verdachts der ›Schlepperei‹. Der Prozess endet im Dezember 2014 mit sieben Verurteilungen und einem Freispruch.4 Die Refugee-Protest-Bewegung ist insofern bemerkenswert, als erstmals in der österreichischen Geschichte Geflüchtete und Migrant_innen auf ihren Menschenrechten beharren, politische Forderungen – wie Gewährleistung von Grundversorgung, Bewegungsfreiheit, Abschiebestopp, Zugang zu Arbeitsmarkt und Bildungssystem – selbstbestimmt öffentlich artikulieren und damit im Diskurs wahrgenommen werden (vgl. Müller 2015; Dimitrova 2017). Neben dem breiten Medienecho u. a. auch in Mainstreammedien, gelingt es, Teile der Öffentlichkeit zu mobilisieren und die Lebenssituation einiger Refugees zu stabilisieren. In der Bewegung arbeiten Geflüchtete und Supporter_innen mit unterschiedlichen Gesellschaftsbildern, politischen Positionierungen, Lebensentwürfen, Sprachen und Nationalitäten zusammen und kämpfen gegen ein diskriminierendes Asylsystem an (vgl. Mokre 2015: 9–10). Das Wir der Aktivist_innen ist von Anfang an in sich gespalten und formiert sich in internen Reflexionen und Auseinandersetzungen kontinuierlich neu, wie auch das im Kontext der Bewegung entstandene Theaterstück Warten aufs Bleiben. Ein Gastmahl thematisiert (vgl. ebd.: 194).5 Insbesondere das Verhältnis zwischen Refugees und Supporter_innen bildet dabei einen kritischen Punkt, wie intern und von außerhalb geäußerte Vorwürfe der Instrumentalisierung Geflüchteter durch weiße Unterstützer_innen verdeutlichen (vgl. Mokre 2015: 60; Kovacic 2013). Während die Zusammenarbeit zum Teil chaotisch und mitunter von körperlicher Gewalt geprägt ist (vgl. Mokre 2015: 69), wird nach außen hin ein anderes Wir der Geflüchteten repräsentiert. Um welches Wir handelt es sich dabei? In ihrer Rede an Occupy-Wall-Street-Demonstrant_innen im New Yorker Zuccotti Park betont Judith Butler – analog zu ihren theoretischen Schriften – den menschlichen Körper als Basis von Politik und die Notwendigkeit des Insistierens und der Präsenz dieses Körpers in der Öffentlichkeit:
4 | Monika Mokre, die selbst Teil der Bewegung war, weist darauf hin, dass es voneinander abweichende Versionen der Geschichte gibt, insbesondere in Hinblick auf die Anfänge der Bewegung. Eine Liste von Ereignissen gibt einen Anhaltspunkt für deren Geschichte bis 2015 (vgl. Mokre 2015: 26–27; auch Kovacic 2013; Müller 2015). 5 | Der Refugee-Protest wurde von zahlreichen Kunst- und Kulturschaffenden unterstützt und es entstand eine Reihe anderer Projekte (vgl. Müller 2015: 153–158).
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Anita Moser Als Körper leiden wir, benötigen wir Nahrung und ein Dach über dem Kopf; und als Körper sind wir aufeinander angewiesen und begehren einander. Daher ist das, was hier passiert, eine Politik des öffentlichen Körpers, der Bedürfnisse des Körpers, seiner Bewegung und seiner Stimme. (Butler 2011: 35)
Auch die Gruppe der protestierenden Refugees formiert sich in der Öffentlichkeit zuallererst über die Gegenwart ihrer Körper. Die Gemeinschaft konstituiert sich nicht – ähnlich wie Margarita Tsomou in Bezug auf den Protest von Griechenlands Empörten betont – über Herkunft, Gruppenzugehörigkeit oder Mitgliedschaft, sondern darüber, dass sie durch die Anwesenden und deren »Praktiken auf den Plätzen operativ hervortritt« (Tsomou 2014: 116). Neben dem Insistieren der Körper im öffentlichen Raum sind es die gemeinsam artikulierten politischen Forderungen und medialen Selbstrepräsentationen, die die Gruppe der Refugees herstellen. Dabei präsentieren sie sich in der Öffentlichkeit als »Kollektiv von Vielen«, so Petja Dimitrova (2017: 305) in ihrer Auseinandersetzung mit den Bildproduktionen des Refugee Protest Camp Vienna. Als solches treten sie beispielsweise bei Pressekonferenzen auf, indem sie entgegen herkömmlicher Regeln dieser Settings in verschiedenen Sprachen – Englisch, Deutsch, Urdu, Farsi etc. – sprechen, zum Teil gleichzeitig und Zeitvorgaben ignorierend. Die politischen Forderungen werden mittels verschiedener Formate – Flugzettel, Banner, Plakate – und »vor allem durch die eigenen Körper« (ebd.) vorgetragen. Weiße Aktivist_innen sind weder am Podium noch abseits davon als Fürsprecher_innen Geflüchteter vertreten. Die Pressekonferenzen der Refugee-Aktivist_innen waren »selbstbestimmt und radikal anders«, betont Dimitrova. Sie stünden in Hinblick auf ihre Gestaltung und das Auftreten der Refugees »im Bruch zu jeglichen Logiken hegemonialer österreichischer Repräsentationspolitik und (medialer) Verhältnisse«, wodurch es gelungen sei, das Feld der Sichtbarkeit auf buchstäbliche Weise neu zu organisieren (vgl. ebd.). Dabei gelingt es dem Kollektiv der Refugees vor allem aber auch, den im Kontext von Flucht wirksamen ›Opferdiskurs‹ zu irritieren. Aktuelle gesellschaftliche Imaginationen in Bezug auf Flucht kreisen Heidrun Friese (2017) zufolge um drei kontroverse Konstruktionen, nämlich jener von Geflüchteten als Bedrohung, Held_innen und Opfer. Die Figur des_ der Geflüchteten als bedrohliche_r Feind_in – etwa als ›Kriminelle_r‹ oder ›Illegale_r‹ – legitimiert Rechtspopulismus, rassistische Ausgrenzungspolitiken und das Streben nach der vermeintlichen Wiederherstellung einer klaren Ordnung und Hierarchie, in der Andere sich ein- und unterzuordnen haben (vgl. Friese 2017: 17). Bei der Vorstellung von Geflüchteten als Held_innen sozialer Kämpfe, wie sie in manchen aktivistischen Positionen vorzufinden ist, wird die Überschreitung von Grenzen zu einem heroischen Akt erhoben und antikapitalistischen Kämpfen eingeschrieben. Der Flüchtende wird »zum Befreier, der revolutionäre Subjektivität zu repräsentieren hat« (ebd.: 18). Durch den
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Opferdiskurs wiederum wird das ›Flüchtling-Sein‹ zum identitätsbestimmenden Merkmal stilisiert, dem alle anderen Persönlichkeitsmerkmale nach- und untergeordnet werden (vgl. Seukwa/Ziese 2016). Um eine rechtliche, politische und soziale Anerkennung als Refugee zu erlangen, ist die (Selbst-)Darstellung als ›Opfer‹ unumgänglich.6 Diese Konstruktion ermöglicht jedoch auch, sich in der Interaktion mit Geflüchteten als überlegen zu positionieren (vgl. ebd.: 108–109). Alle drei Figuren produzieren unaufhörlich Differenz und Hierarchien zwischen einem Wir und Anderen, die als Opfer, Held_innen oder Bedrohung konstruiert werden. Damit entstehen spezifische Zugehörigkeitsordnungen. Diese sind, wie insbesondere in den Postcolonial und Cultural Studies analysiert wurde, an asymmetrische Machtoptionen gekoppelt. Bei der als Othering bezeichneten Praxis der Markierung und Herstellung bestimmter Menschen(gruppen) als Andere aufgrund nationalstaatlicher, ethnischer oder kultureller Zuschreibungen wird ein meist weißes Wir als ›Normalität‹ vorausgesetzt und in Abgrenzung dazu das Andere als ›fremd‹ markiert und abgewertet. Dieses gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnis und Wissen wird als täglich gelebte soziale Praxis und durch eine Vielzahl an Repräsentationen bewusst oder unbewusst reproduziert. Stuart Hall spricht von einem »Repräsentationsregime«, das durch das »verhängnisvolle Doppel« von Macht und internalisiertem Wissen geformt und durch eine Verschränkung kultureller Dominanz und rassistischer Exklusion gekennzeichnet ist (vgl. Hall 1994: 30). In Hinblick auf eine politische Anerkennung und um aus dem Kreislauf von Diskriminierung, Befürsorgung und »paternalistische[m] Für-Entrechtete-Sprechen« (Kovacic 2013: 17) auszubrechen, ist es unerlässlich, selbstbestimmte Wir-Konstruktionen zu behaupten und öffentlich aufzuführen, wie es beim Refugee Protest Camp Vienna der Fall ist. Dabei gelingt es auch, das ›Repräsentationsregime‹, also hegemoniale Wir/Andere-Konstruktionen grundlegend zu irritieren. Es findet einerseits eine komplexe Bezugnahme auf den Opferdiskurs statt, indem die Geflüchteten den Opferstatus betonen, um Sichtbarkeit zu erlangen und mit ihren politischen Forderungen Gehör zu finden. Gleichzeitig jedoch erfolgt durch die selbstbestimmte Repräsentation, die mit Refugee-Stereotypen und Konventionen öffentlichkeitswirksamer Settings bricht, eine kritische Befragung des Diskurses. Ein Refugee-Wir wird – wie Alexander Henschel generell in Bezug auf das Potenzial von Wir-Konstruktio6 | Die Genfer Flüchtlingskonvention definiert eindeutig, dass ein Flüchtling jene Person ist, die Opfer bestimmter Umstände – wie z. B. rassistisch, religiös, politisch motivierter Verfolgung – im Herkunftsland ist. Folglich rufen die in der Flüchtlingskonvention für eine Anerkennung als Flüchtling festgelegten Kriterien eine Opferkonstruktion hervor und zwingen Asylsuchende, ihre eigenen Biografien entsprechend zu strukturieren (vgl. Seukwa/Ziese 2016: 108).
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nen anmerkt – »als rhetorisch wirkmächtige Geste […], um gemeinsam etwas zu erreichen« (Henschel 2012: 73), eingesetzt. Dieses Wir ist in sich different und auch als solches performativ sichtbar gemacht, was als Kritik an monolithischen (weißen) Wir-Konstruktion gelesen werden kann sowie als Erinnerung daran, dass »kein ›Wir‹ fraglos hingenommen werden kann« (ebd.).
M it dem W ir auf der (un -) sicheren S eite Auch in Jelineks fiktivem Text findet eine Perspektivenumkehr sowie fundamentale Befragung und damit einhergehende Dekonstruktion von Wir-Bildern statt. Unter Bezug auf den Refugee-Protest in Wien sowie auf Aischylos’ Die Schutzflehenden, Ovids Metamorphosen, die Broschüre des Staatssekretariats für Integration Zusammenleben in Österreich und »eine[r] Prise Heidegger«, so die Autorin, verfasst sie ihre literarische Litanei Die Schutzbefohlenen.7 Der Titel stellt eine Verbindung zum antiken Drama Die Schutzflehenden von Aischylos her, positioniert Refugees jedoch nicht als um Schutz flehende Bittsteller_innen, sondern – mit dem in der Rechtssprache gängigen Begriff ›Schutzbefohlene‹ – als Personen, die dem Schutz anderer Personen anbefohlen im Sinne von anvertraut sind und ein Recht auf Schutz haben (vgl. Bertsch 2016: 12). In dem Text ist gleich zu Beginn ›aus dem Mund‹ Geflohener zu vernehmen: »Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat.« Der Text endet mit »Wir sind gar nicht da. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da«, wodurch Jelinek wie in einer Art Fazit auf den liminalen Status zwischen Anund Abwesenheit verweist, in dem sich Asylwerber_innen in Europa aufgrund ihres unsicheren Status und der rechtlichen und persönlichen Einschränkungen befinden (vgl. Felber/Pfeiffer 2017: 380). Dazwischen bricht sich ein überbordender Wortschwall Bahn, in dem dieses Wir assoziativ über gegenwärtige und historische Fluchtszenarien, Schiffskatastrophen im Mittelmeer, die europäischen Außengrenzen, das Dasein in Europa und Österreich, insbesondere auch dessen politische Bedingungen nachdenkt. Dabei greift Jelinek reale Vorkommnisse aus dem Refugee-Protest und die ambivalente Rolle der Medien auf: »Am Horizont taucht ein Widerstand gegen uns auf. Wir verstecken uns in Kirchen, in Klöstern […]. Diese Kirche ist ein offenes Versteck, das Fernsehn war schon da, es holt alles ans Licht, das es sich selbst mitbringt. Da liegt einer, dort drüben auch, erfüllt vom Namen des ewigen Verhängnisses, fremd zu sein.« Die Autorin baut im Text die zeitgleich 7 | Der gesamte Text sowie Appendix, Coda, Epilog auf dem Boden, Philemon und Baucis sind auf der Website der Autorin zu finden. Sämtliche Zitate aus Die Schutzbefohlenen sind der Website entnommen (vgl. Jelinek 2013).
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in Österreich vorkommenden ›Blitzeinbürgerungen‹ zahlungskräftiger Prominenter – wie der Opernsängerin Anna Netrebko oder der Tochter von Boris Jelzin – ein, wodurch die kapitalistischen Dimensionen ungleicher Mobilitätsmöglichkeiten betont werden: »[…] wir haben nichts, wir haben unsere Existenz als Zahlungsmittel, aber wir sind nicht der Zahlungsmittelpunkt, nein, sind wir nicht, der ist die Frau Jumaschewa, […] es muß immer gezahlt werden, um die Einzigartigkeit eines Menschen zu respektieren und anzuerkennen […].« Der Text zitiert in einigen Passagen auch den Opferdiskurs, reproduziert ihn damit ein Stück weit, verzerrt und destabilisiert ihn aber auch durch Übertreibungen und Ironie: »[…] wir würden über unsere Flucht ohne Schuld, unsre schuldlose Flucht, die Sie ja immer als Flucht vor Schulden darstellen, die Flucht von Schuldlosen also erzählen, in unserer Stimme wird nichts Freches sein, nichts Falsches, wir werden ruhig und freundlich und gelassen und verständig sein […].« Dem Wir werden – wie die obigen Passage verdeutlicht – als ›Sie‹ markierte Andere entgegengesetzt, die Vertreter_innen eines hegemonialen Ausgrenzungsdiskurses repräsentieren. So auch in der folgenden Bezugnahme auf die in Medienberichten zu Flucht überaus präsenten Katastrophenmetaphern: »[…] alles, alles rückt aus, um Überschwemmungen zu verhindern und noch Schlimmeres zu verhindern, uns zu verhindern, zu verhindern, daß Menschen, Menschenzüge Sie überfluten […]«. Jelinek nimmt in ihrem Text also einen rhetorischen Perspektivenwechsel vor, indem sie die in der Migrationsgesellschaft meist als »Migrationsandere« (Broden/Mecheril 2007: 20) markierten und als Sprechende aus dem Diskurs ausgeschlossenen Geflüchteten als Wir konstruiert. Gleichzeitig bringt sie eine grundlegende Skepsis in Hinblick auf Wir-Konstruktionen zum Ausdruck. Bei hegemonialen Wir/Andere-Konstruktionen schwingt immer das Versprechen mit, »dass jene, die auf der Seite des Wir stehen, auch gleichzeitig auf der sicheren Seite sind« (Henschel 2012: 70). Sicherheit entsteht aufgrund von mehr Macht, aber auch, weil dieses Wir mit weniger Handlungsherausforderungen konfrontiert ist: »Wer zum Wir gehört, muss nicht in jeder Situation neu entscheiden, was richtig oder falsch ist, weil jedes Wir einen mehr oder weniger reichen Vorrat an Handlungskonventionen bereithält, der an der Identität des Wir mitarbeitet.« (ebd.: 67) Das in Othering-Prozessen konstruierte Wir erscheint anders als das »fremde ›Nicht-Wir‹ beruhigend unambivalent, ohne grundlegende Spannung […] und [symbolisiert] darin eine sichere Gemeinschaft« (Castro Varela/Mecheril 2010: 42, zit. n. Henschel 2012: 70). Im Gegensatz dazu erscheint das Wir der Geflohenen im Jelinek-Text als beunruhigend ambivalente Konstruktion. Aus ihm sprechen die Danaiden, im Mittelmeer Ertrunkene, Refugees der Votivkirche – von ausufernden Wiederholung geprägt, nebeneinander und oft auch im gleichen Satz. Dabei entsteht ein Wir, das nicht zur Identifikation taugt.
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V erunmöglichung von I dentifik ation als F orm der K ritik Die unterschiedlichen Perspektiven und Diskurssplitter, aus denen sich das Wir der Schutzbefohlenen zusammensetzt, verunmöglichen, den Text als einzelne Stimmen Geflüchteter oder gar als Dokument ihrer Erfahrungen zu interpretieren. Und dies, obwohl auf reale Ereignisse rekurriert wird und Elfriede Jelinek von Künstler_innen und sich selbst fordert, für jene Menschen das Wort zu ergreifen, für die kein anderer spricht (vgl. Pelka 2016: 151). Jelineks ›Für-Andere-Sprechen‹ ist als politische Haltung des Sich-Einmischens zu verstehen, bei der sie ihre künstlerischen Mittel – die literarische Sprache – einsetzt, nicht jedoch um Figuren und deren Ansichten darzustellen, sondern um gesellschaftliche Verhältnisse zu reflektieren: Ich habe nur ein einziges Verhältnis, das zur Sprache. Ich mache ja nicht das, was Menschen sind oder tun, zu meinem Thema, sondern das, was das Gleiche an ihrem Handeln ist, die Struktur ihres Handelns, also wonach sich die Figuren verhalten, ohne zu sein. Sie sind da, aber sie sind nicht. Meine Figuren gibt es nicht. (Jelinek 2006: o. S.)
Trotz der formalen Verunmöglichung wird Die Schutzbefohlenen – etwa im Umfeld kritischer Auseinandersetzungen mit künstlerisch-kulturellen Projekten in Fluchtkontexten – als Wiedergabe von Fluchterfahrungen rezipiert und dabei u. a. kritisiert, dass es »von einer Autorin ohne Fluchterfahrung geschrieben wurde« (Helling/Stoffers 2016: 247). Dies ist, wie obige Ausführungen zeigen, eine Lesart, die der Vielschichtigkeit und Differenziertheit der Arbeit nicht gerecht wird. Jelineks Text verweigert die Repräsentation Geflüchteter und evoziert geradezu eine Desidentifikation mit Einzelschicksalen von Refugees, was angesichts der stereotypen Imaginationen im Kontext von Flucht als Kritik am hegemonialen Diskurs interpretiert werden kann. In postdramatischer Tradition verfasst die Autorin als Assemblage verschiedener Texte der europäischen Gegenwart und Vergangenheit einen flächigen, rhizomartigen Text über Flucht. Darin sind weder Figuren und Identifikationsangebote noch Regieanweisungen oder Sprechinstanzen vorhanden (vgl. Felber/Pfeiffer 2017: 380). Dichotome und hierarchisierende Ordnungen – zwischen Geflüchteten und ›Anderen‹, oben und unten, Himmelsvater, Engel und Hades, hier und dort, Gegenwart und Zukunft – durchziehen den Text in einem scheinbar assoziativen Nebeneinander. Dadurch wird das Augenmerk nicht vorrangig auf die inhaltliche Aussage oder Botschaft gelenkt, sondern vielmehr auf den artifiziellen Charakter und das Herstellungsverfahren der aus Realitäts- und Fiktionspartikeln montierten Arbeit. Jelineks Text erschafft so eine (brüchige) Realität und verweist gleichzeitig auf die Konstruiertheit dieser Wirklichkeit. Dies kann als rezeptionsästhetischen Effekt
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Unterbrechung sowie Distanz nach sich ziehen und damit einen Raum für Reflexion eröffnen. Die Produziertheit von Wirklichkeit herauszustellen, sieht Johanna Schaffer im Kontext visueller Repräsentationskritik als eine unerlässliche Grundlage von Veränderung: »Denn der Verweis auf die gesellschaftliche Beschaffenheit von Wirklichkeiten verunmöglicht jegliche Argumentation, die den Erhalt einer gültigen präferierten Wirklichkeit durch den Bezug auf eine ihr vorgängige Instanz […] garantieren und absichern will.« (Schaffer 2008: 82) Darin, uns den Konstruktionscharakter von Wirklichkeit vor Augen zu führen, liegt Jacques Rancière zufolge das besondere Potenzial von Kunst. Die Logik des Konsenses sei eine Mainstreamfiktion, die »sich als das Reale ausgibt, indem sie eine scharfe Trennlinie zu ziehen vermeint; zwischen dem, was ganz offensichtlich zum Bereich des Realen zählt, und dem, was zum Bereich der Erscheinungen, Repräsentationen, Meinungen und Utopien gehört« (Höller/ Rancière 2007: o. S.). Diese Logik des Konsenses müsse Kunst irritieren, indem sie Grenzen verwischt und auf eine »Neuaufteilung der Beziehungen zwischen Räumen und Zeiten, zwischen dem Realen und dem Fiktiven« abzielt (vgl. ebd.). Jelineks Text nimmt eine derartige Neuaufteilung vor, indem Versatzstücke über Flucht aus unterschiedlichen Zeiträumen und Perspektiven nebeneinandergestellt werden. Während dabei Ausgrenzung als europäisches Kontinuum – von der Antike über den Holocaust bis ins 21. Jahrhundert – verhandelt wird, fokussiert die Inszenierung des Stücks durch das Kollektiv Die Schweigende Mehrheit sagt JA! auf die Gegenwart von in Österreich Ankommenden, Alltagsrassismen und die politische Situation im Sommer 2015. Unter der mehrheitlichen Beteiligung von Menschen mit Fluchterfahrung wird eine Bühnenversion erarbeitet, die unter dem Titel Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene umgesetzt und am 12. September 2015 beim Fest für ein anderes Europa in der Arena Wien (vgl. Schweigende Mehrheit 2015c) uraufgeführt wird. Dabei wechseln sich im Stück – ähnlich wie in der gesamten Arbeit des Kollektivs – Stellvertretung und Ansätze der Selbstrepräsentationen Geflüchteter ab, wobei politischer Impetus, künstlerischer Selbstausdruck und pragmatische sozialarbeiterische Aspekte ineinanderfließen.
V erschr änk te F elder und G emeinschaf ten Im Juli 2015 gründet sich das Künstler_innenkollektiv Die schweigende Mehrheit sagt JA! Die Bezeichnung der heterogenen Gruppe ist Programm: Man möchte das Wort im Namen jener »schweigenden Mehrheit« in Österreich ergreifen, »die sehr wohl solidarisch ist mit Menschen in Not, nicht nur vor den Lagertoren und an den Grenzen und Bahnhöfen« (Dechant/Leisch 2016: o. S.).
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Stellvertretend für das weiße österreichische Wir wird die Solidarität mit Menschen in Not, eine Unterkunft für alle und eine menschenwürdige Behandlung Geflüchteter bejaht (vgl. O. V. o. J.). Die Selbstbezeichnung des Kollektivs ist also als Verstärkung eines – zumindest am Beginn der Fluchtbewegungen 2015 stark vorhandenen – zivilgesellschaftlichen Engagements zu deuten. In der Benennung kommt es zu einer Umkehrung, denn Objekte paternalistischer Vertretung sind nicht, wie in Fluchtkontexten oft üblich, minorisierte Gruppen, sondern Mehrheitsangehörige. Konkreter Auslöser für die Gründung des Kollektivs sind die Zustände im Erstaufnahmezentrum in dem rund 20 Kilometer südlich von Wien gelegenen Ort Traiskirchen. Das Lager, das bereits seit Langem unter massiver Kritik steht, war auch einer der Ausgangspunkte der Refugee-Proteste 2012, bei denen u. a. Mitglieder der Schweigenden Mehrheit als Aktivist_innen beteiligt waren. 2015 wird Traiskirchen geradezu zum Symptom für Österreichs Umgang mit der ›Flüchtlingskrise‹, indem die Politik den dort lebenden Menschen und der katastrophalen Situation – geschuldet vor allem dem Missmanagement der Betreiberfirma ORS (vgl. Amnesty International 2015: o. S.) – mit extremer Ignoranz begegnet, nicht zuletzt um nach außen ein abschreckendes Exempel für Geflüchtete zu statuieren. Die Hintergründe zu den Vorkommnissen im Erstaufnahmezentrum zu recherchieren und auf die – von Geflüchteten dokumentierten (vgl. Freedom not Frontex Vienna 2015) – Zustände aufmerksam zu machen, ist eine der zentralen Agenden der Schweigenden Mehrheit. Das Kollektiv unterstützt vor allem aber auch Geflüchtete dabei, ihre Forderungen und Anliegen an die Öffentlichkeit zu bringen, etwa durch die erste öffentliche Pressekonferenz im Juli 2015 in Wien, bei der diese über Menschenrechtsverletzungen im Lager8 berichten, oder indem Geflüchtete im August bei der Überreichung ihres Forderungskatalogs an die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner begleitet werden (vgl. O. V. o. J.). Von 26. bis 31. Juli findet vor der Wiener Staatsoper eine von der Schweigenden Mehrheit organisierte Mahnwache statt, ein Sit-in als Marathonlesung, um »Flüchtlingen eine Stimme zu geben, die rund um die Uhr gehört wird« (Schweigende Mehrheit 2015a). Künstler_innen und Aktivist_ innen – auch aus dem Umfeld des Refugee Protest Camp Vienna 2012/13 und verschiedener NGOs – machen mit Reden und künstlerischen Beiträgen auf die Situation aufmerksam. Zeitgleich versammeln sich vor dem Aufnahmelager Traiskirchen Hunderte Menschen zu einer Demonstration. Diese 8 | Amnesty International berichtet im August 2015 von unzureichender medizinischer und sozialer Versorgung, grober Ignoranz und Gedankenlosigkeit im Umgang mit Geflüchteten und von einer »untragbare[n] Massenobdachlosigkeit von 1.500 Menschen« (Amnesty International 2015: o. S.).
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zivilgesellschaftlichen Aktionen tragen maßgeblich dazu bei, dass die Politik einen Richtungswechsel im Umgang mit dem Lager einschlägt (vgl. Pointner/Veil 2015: o. S.). Abb. 1: Pressekonferenz von Refugees über die Menschenrechtsverletzungen im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, 31. Juli 2015
Foto: © Andrea Peller
Die politisch-aktivistischen Aktionen der Schweigenden Mehrheit beinhalten neben Aspekten der Selbstrepräsentation Geflohener die Fürsprache weißer Aktivist_innen sowie künstlerisch inszenierte Kritik. Beispielsweise finden im August 2015 Proteste in Wiener Fußgängerzonen in Form von inszenierten Erstaufnahmestellen für Geflüchtete statt, bei denen Bürger_innen auf Decken den öffentlichen Raum besetzen und ausgestopfte Schlafsäcke auf der Straße ausgelegt werden. Regisseur Paul Dechant, Mitglied der Schweigenden Mehrheit, schlüpft dabei in die Rolle eines Angestellten der Firma ORS und tritt mittels Megafon in einen fiktiven, zum Teil ironisch überzeichneten Dialog mit Geflüchteten zur Situation im Erstaufnahmezentrum: »Mehrsprachige Schilder im Lager haben wir leider bis heute nicht organisieren können. Wir sind aber dran.«, »Was wollen Sie? Einen Dolmetscher? Einen Dolmetscher gibt es bei uns seit Monaten nicht. […] Aber wir sind dran.«, »Wie bitte? Zukunft? Nein, Zukunft haben wir leider keine. Sind aber dran.« (Schweigende Mehrheit 2015b)
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Abb. 2: Protestaktion von Die Schweigende Mehrheit sagt JA! im August 2015 in Wiens Mariahilfer Straße
Foto: © Andrea Peller
Parallel zur politischen Arbeit findet ab Ende August die Theaterarbeit der Schweigenden Mehrheit statt. Eine Gruppe Geflüchteter – anfangs sind es 35, später rund 50 Personen u. a. aus Syrien, Afghanistan und dem Irak – erarbeitet mit österreichischen Schauspieler_innen und den Regisseur_innen Tina Leisch und Paul Dechant auf Basis von Jelineks Text Die Schutzbefohlenen das Stück Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene.9 Bis Ende 2016 wird es über 25 Mal in Theatern, aber auch in Schulen sowie im öffentlichen Raum aufgeführt. Die Idee zum Stück entsteht in Gesprächen zwischen Leisch, Dechant und Refugees, die ursprünglich mit einem Hungerstreik und mit Sprechchören im öffentlichen Raum auf ihre Situation in Traiskirchen aufmerksam machen wollen, sich dann aber für die gemeinsame Arbeit am Theaterstück entscheiden (vgl. Leisch/Missbach et al. 2015). Passagen des Jelinek-Textes werden in Farsi und Arabisch übersetzt und mit den Refugees diskutiert. Geschichten und Erzählungen Geflüchteter werden ins Deutsche übersetzt und in die Inszenierung eingebaut. In Bezug auf die Genese des Projekts gibt es Parallelen zu vielen anderen Kunstprojekten im Kontext der Fluchtbewegungen 2015, bei denen weiße Kulturschaffende ihre Projektkonzepte mit marginaler oder keiner Beteiligung Geflüchteter ausarbeiten, aber mit diesen oder von diesen umsetzen lassen 9 | Für eine Auflistung der Mitwirkenden an der Inszenierung vgl. KünstlerInnenkollektiv Schweigende Mehrheit 2015: 12.
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(vgl. Helling/Stoffers 2016). In der Produktion selbst jedoch zeigen sich auch Unterschiede, da die Schweigende Mehrheit Wert auf einen professionellen Anspruch und die Adressierung Geflüchteter als Schauspieler_innen legt. Diese erhalten für ihre Auftritte eine Aufwandsentschädigung und durch die Theaterarbeit Möglichkeiten der Professionalisierung der eigenen schauspielerischen Zugänge (vgl. Leisch/Missbach et al. 2015). Die Arbeit der Schweigenden Mehrheit ist ein Hybrid aus sozialen, politischen und künstlerischen Aktivitäten in unterschiedlichen Gruppenzusammenhängen, was mehrere Ebenen der Kommunikation in wechselnden Wir/ Andere-Konstellationen sowie diverse Anknüpfungspunkte für eine kritische Positionierung eröffnet. Dabei entwickelt sich aus der aktivistisch-politischen Arbeit heraus das Theaterprojekt mit Publikumsgespräch, das wiederum eng mit sozialarbeiterischen Anliegen verknüpft ist. Die Vermischung verschiedener Felder wird von der Aktivistin und Mitbegründerin von maiz, Rubia Salgado, gerade angesichts eines Engagements im Zusammenhang mit dem Krieg in Syrien und den Fluchtbewegungen dezidiert eingefordert. Das Karitative sei in dem Kontext zwar absolut wichtig, doch müsse damit verschränkt ein politischer Raum geschaffen werden (vgl. Salgado/Hummer 2015: 25). Dass die mit dem Preis der freien Szene Wien und dem Nestroypreis ausgezeichnete Inszenierung politisch provoziert, macht die Stürmung der Aufführung im Audimax der Universität Wien am 14. April 2016 durch die rechtsextreme Gruppe Die Identitären deutlich (vgl. Kundrat 2017). Der durch die Theaterarbeit entstehende politische Raum ist jedoch nicht im Sinne eines emanzipatorischen Raums Geflüchteter zu verstehen, sondern als einer, der aktuelle antidemokratische und rassistische politische Entwicklungen augenscheinlich sichtbar macht.
Z wischen K ritik am A syldispositiv und einer F estschreibung ›A nderer ‹ Die Schweigende Mehrheit sagt JA! inszeniert das komplexe Lamento von Elfriede Jelinek als Deutschstunde, wobei Geflüchtete in die Rollen Geflüchteter schlüpfen. Aus ihnen sollen »Vorzeigeflüchtlinge«10 werden und am Beginn steht das Erlernen der Sprache. Grundlagen wie die Personalpronomen »ich, du, er, sie, es« werden übersprungen und man wendet sich gleich der »schönen deutschen Sprache« der Hochkultur zu, nämlich der von Elfriede Jelinek. Aus dem Mund des Lehrers, der ein Vertreter der Betreiberfirma ORS ist – und damit eine Figur, die bereits bei den oben erwähnten Protesten eine zentrale 10 | Sämtliche Zitate des Stücks stammen vom Mitschnitt der Aufführung im Theater in Leonding am 15.10.2016 (vgl. Schweigende Mehrheit 2016).
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Rolle spielt – und in seinem autoritären Auftreten mitunter an NS-Schergen erinnert, ist zu hören: »Der Innenminister hat mir den Text geschickt. Da geht’s auch um euch, und da kann man sich dann vielleicht schneller identifizieren.« Durch Übersetzer_innen lässt er den Geflüchteten in Farsi und Arabisch ausrichten: »Maybe, maybe you can stay in Austria! […] Maybe, maybe you can start a new life in Austria!« – selbstverständlich nur bei entsprechendem persönlichen Einsatz. Zu Unterrichtsbeginn wird auch gleich eine rüde Abschiebung Thema. Es gäbe eine Obergrenze im Theaterensemble, zwei Personen müssten gehen: »Ihr könnt euch selber aussuchen wer.« Schließlich übernimmt der Lehrer die Entscheidung und schickt unter dem lapidaren Hinweis, Gendergerechtigkeit sei wichtig, einen Mann und eine Frau raus. Damit werden am Anfang der Inszenierung wesentliche Eckpunkte des österreichischen Asylwesens und der Migrationspolitik – das Konzept von ›Integration‹ als Bringschuld von Migrant_innen und Willkür in Bezug auf Asylverfahren – kritisch angesprochen. Geflüchtete sprechen sodann als Musterschüler_innen im Chor Jelineks Sätze nach, um sich die deutsche ›Leitkultur‹ einzuverleiben, wobei der Lehrer korrigierend eingreift. Der einstimmige Chor wird immer wieder unterbrochen. Etwa als der Lehrer/Wärter über Lautsprecher in trocken-zynischem Ton »Achtung, Achtung, jetzt kommt auch noch die Menschenwürde!« verlauten lässt und dabei einen Refugee in den Scheinwerfer zerrt. »So nun machen wir ein Foto der Menschenwürde. Smile! Smile!! Ein Foto für die Menschenwürde!« Als sich der Geflüchtete weigert zu lächeln, wird er grob weggeschickt und ein anderer vor die Kamera geholt. Weitere Versatzstücke von Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene sind Interviewsituationen, in denen Geflüchtete vom ORS-Vertreter einvernommen werden. Dieser fragt die Refugees in einem despektierlichen Ton über das Sprachrohr der Übersetzer_innen, »Wie heißt sie?«, »Wo wohnt sie?«, »Warum ist sie hergekommen?« etc. In diesen dem ursprünglichen Jelinek-Text hinzugefügten Passagen werden die Antworten von Geflüchteten zum Teil mit eigenen Erfahrungen angereichert dargestellt. Bestandteil des Stücks sind zudem Tanzszenen und musikalische Einlagen, in denen Geflohene Lieder ihrer Herkunftsländer singen. Auch der Wienerlied-Klassiker und Welthit Wien, Wien, nur du allein (1912) wird von den Refugees inbrünstig intoniert, wobei die Refrainzeilen »Wien, Wien, nur du allein/Sollst stets die Stadt meiner Träume sein!« nicht der Sehnsucht nach ›lieblichen Mädchen‹ und Wein Ausdruck verleihen, sondern jener nach gültigen Aufenthaltspapieren.
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Abb. 3: Szene aus Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene, Uraufführung am 12. September 2015 in der Arena Wien
Foto: © Schweigende Mehrheit
In weiten Teilen von Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene dienen die Persiflage von Deutschstunden und Szenen aus Asylverfahren als Mittel zur Kritik an der österreichischen Asylpolitik und am Asyldispositiv. Dabei treten Geflüchtete in unterschiedlichen Konstellationen auf. Wie bereits in den Ausführungen zum Jelinek-Text dargestellt, ist in der Postdramatik das MimesisPrinzip hinfällig und damit auch die Aufführung von Rollen im eigentlichen Sinn (vgl. Lehman 2011). Vielmehr fungieren die Schauspieler_innen weitgehend als Sprachrohre von Textfragmenten. Dies ist auch in der Inszenierung der Schweigenden Mehrheit der Fall, etwa wenn der Chor als Refugee-Wir die jelineksche Textflut abspult. Als Musterschüler_innen, die zum theatralischen Nachsprechen (u. a. von Fluchtgeschichten) verpflichtet sind, werden sie inszenatorisch in den Opferdiskurs eingeschrieben, der von Geflüchteten für eine Anerkennung ihres Status die (Selbst-)Darstellung als ›Opfer‹ abverlangt. Damit werden sie einerseits klischeehaft festgelegt, gleichzeitig kommt es durch die Übertreibung der Stereotypen zu deren ironischer Brechung. Sofern in dem Stück einzelne Darsteller_innen aus dem Chorgefüge heraustreten, spielen und improvisieren sie ebenfalls die Rolle von Refugees. In diesen Szenen stehen einige u. a. als »Experten des Alltags« (vgl. Dreysse/Malzacher 2007) auf der Bühne, indem sie bei der Darstellung auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen rekurrieren. Gerade die improvisierten Abschnitte können als Versuche der Menschen mit Fluchterfahrungen gesehen werden, aus den weißen Projektionen auszubrechen und Raum für Selbstrepräsentationen
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zu erhalten. Dieser Raum ist inszenatorisch vordefiniert, wodurch ein Rahmen abgesteckt wird, der mitunter auch Halt geben kann. Johnny Mhanna, ein aus Syrien geflohener Schauspieler, der Ende August 2015 in Traiskirchen ankommt, betont, wie wichtig es sei, die von ihm in Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene gespielte Rolle des Refugee wirklich als solche zu begreifen: »But if somebody wants me to play what I am, it gets to a point where it gets hard for me … You think it’s easy because it’s me, but no! It’s hard! Because I have nothing to hold on. When you have a new name, a character, a script, a story, then you have something to hold on and tell or think about.« (Mhanna/ Berger/Besenius 2017: 131, Herv. u. Ausl. i. O.) Abb. 4: Interviewszene aus Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene, Uraufführung am 12. September 2015 in der Arena Wien
Foto: © Schweigende Mehrheit
Die Involvierung Geflohener in Aufführungen ist eine Möglichkeit zu umgehen, dass sie als Objekte der Repräsentation durch Dritte deklassiert werden, wie Louis Henri Seukwa in Bezug auf Theaterarbeit mit Geflüchteten betont (vgl. Seukwa/Ziese 2016: 117). Ihre Präsenz auf der Bühne beansprucht, ein Akt der Subjektaffirmation zu sein, wobei sie sich diskursiv einmischen, indem sie die mit ihrer Unterdrückung einhergehenden Bedingungen, Mechanismen und Erfahrungen etc. selbst (re-)präsentieren, dramatisch darstellen oder auch ins Lächerliche ziehen. Dies kann ein sehr spielerischer Umgang mit repressiven Techniken der Macht sein, der etwas Transgressives in sich hat. (Ebd.)
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Transgressionen sind dabei als Grenzüberschreitungen innerhalb des Asyldispositivs zu sehen, dem Geflohene zwar nicht entgehen, mit dem sie jedoch umgehen können, indem sie es künstlerisch sublimieren (vgl. ebd.). In Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene wird die den Geflüchteten vom österreichischen Staat für eine Anerkennung abverlangte Rolle realitätsnah dargestellt, bestätigt, aber auch überzeichnet oder ins Lächerliche gezogen, wobei die Protagonist_innen weiße Projektionen und Selbstrepräsentationen in sich vereinen.
D as The ater als R aum der B egegnung ? Als zentrales Anliegen ihrer Arbeit nennt die Schweigende Mehrheit, »die Bilder vom angsteinflößenden, gesichtslosen Flüchtlingsstrom aufzulösen in Gesichter von Menschen, die man kennenlernen will und deren Geschichten man sich nicht so einfach entziehen kann« (KünstlerInnenkollektiv Schweigende Mehrheit 2015: 9). Einen derartigen Begegnungsraum kann die knapp einstündige Aufführung von Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene nur ansatzweise herstellen, da für Geflüchtete die Möglichkeiten der Selbstrepräsentation und der Darstellung eigener Geschichten sehr limitiert sind. Weit mehr jedoch stellen die anschließenden, ebenfalls rund einstündigen Publikumsgespräche einen Raum des Kennenlernens her. Insgesamt bleibt der Theaterraum jedoch hochgradig ambivalent, da sich auf der Ebene der Repräsentation wie der Interaktion hegemoniale Ordnungen kaum auflösen, sondern fortsetzen. Grundlegende Aspekte von Theater und Performance sind Aushandlungsprozesse in der Gruppe und die Bildung temporärer Gemeinschaften, weshalb sie eine immanent soziale und politische Dimension aufweisen (vgl. FischerLichte 2004: 82). Politisch ist dabei jedoch nicht im Sinne von emanzipatorisch zu verstehen, sondern auch als Festschreibung Mitwirkender in unter- oder übergeordneten Positionen. Denn diese auf der Bühne oder zwischen Bühne und Publikumsraum stattfindenden Gemeinschaftsprozesse sind immer von asymmetrischen Verhältnissen – des Sprechens, Zeigens, Sehens, Erkennens – geprägt. Die von der Schweigenden Mehrheit auf der Bühne dargestellten Kommunikationsakte zwischen Refugees und dem weißen ORS-Darsteller (der auch Koregisseur des Stücks ist) sind weitgehend hierarchisch. Sie spiegeln damit die gesellschaftliche und politische Realität Geflüchteter in Österreich wider, verweisen aber auch auf jene – die Praxis des Theaterkollektivs ebenfalls kennzeichnende – Problematik von Ungleichheit, die Stella Rollig im Kontext einer allgemeinen Auseinandersetzung mit künstlerischen Zusammenarbeiten prägnant benennt: »Die Gleichheit von Künstlern und NichtKünstlern in von Künstlern erdachten und initiierten Projekten bleibt Fiktion« (Rollig 2004: 132).
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Bei den Publikumsgesprächen entstehen Gemeinschaften, in denen das Wir der weißen Mehrheitsösterreicher_innen und das der Geflüchteten aufeinandertreffen und in einen Dialog treten. Wenngleich auf der räumlichen Ebene eine Trennung – Geflüchtete auf der Bühne, Publikum im Zuschauer_ innenraum – vorhanden ist, wird diese in den Gesprächen zumindest temporär überwunden. Geflohene erzählen aus ihrem Leben und der Arbeit am Theaterstück, nutzen das Format aber auch, um politische Themen anzusprechen oder Kontakte für eine Unterstützung beim Asylverfahren zu knüpfen. Auch das Publikum stellt Fragen, die von den Refugees beantwortet werden. Es entsteht temporär ein Raum, in dem sich Geflüchtete mit den eigenen Anliegen positionieren können und die Sicherheit haben, damit Gehör zu finden. Dabei erleichtert das Setting und die klare Rollenverteilung im Kontext der arrangierten Situation im Theater die Interaktion. Geflohene können in dem inszenierten Rahmen legitimiert etwas brauchen – einen Anwalt, Mitgefühl, Unterkunft etc. –, das Publikum ist in einer legitimierten Rolle, etwas geben zu können. In ihrer Studie über Kulturarbeit mit Geflüchteten im Libanon betont Leila Mousa deren wichtige Bedeutung, um die Isolation Geflüchteter zu überwinden und Räume der Begegnung sowie »Kontaktpunkte« zwischen Geflüchteten, aber vor allem auch »zur Aufnahmegesellschaft« zu schaffen (vgl. Mousa 2016: 97). Sie warnt jedoch auch davor, beispielsweise durch rein unterhaltende Angebote die Aufenthalte von Refugees in Aufnahmezentren zu normalisieren und zu verstetigen. Gegen eine solche Verfestigung arbeiten die Publikumsgespräche der Schweigenden Mehrheit an. Sie tragen dazu bei, Begegnungen und Austausch zwischen Refugees und der österreichischen Bevölkerung zu ermöglichen, aber auch unmittelbar die Situation Geflüchteter in Österreich zu verändern, indem sie ihnen Gelegenheit bieten, zu Unterkünften bei Gastfamilien oder Wohnungen zu gelangen und ihre Aufenthalte im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen zu verkürzen. Eigentlich sei es auch ein »theatrales Wohnraumvermittlungsprojekt«, so Leisch und Dechant über Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene (vgl. Nägele 2015: o. S.). Es geht bei dem Projekt also um eine Ermöglichung von Begegnungen, mindestens genauso wichtig ist jedoch die Nutzung des Theaterraums für sehr pragmatische und zum damaligen Zeitpunkt dringliche Anliegen. In den Veranstaltungen wird zudem das von der Schweigenden Mehrheit aufgebaute politische Netzwerk zur Kritik an der Asylpolitik und Solidarisierung gegen Abschiebewellen kontinuierlich weiter ausgebaut.
A bschliessende B emerkungen Im Sommer 2015 ist die Situation mit den vielen in Österreich ankommenden Geflüchteten neu und zum Teil auch überfordernd. Die Theatermacher_innen der Schweigenden Mehrheit haben im wahrsten Sinn des Wortes einfach ›gemacht‹,
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also gehandelt, und in sehr kurzer Zeit, ohne großes Konzept und langes Proben auf die Situation reagiert und dazu eine multiple Form gewählt, in der verschiedene mögliche Zugänge gleichzeitig aufgegriffen werden. In ihrer Arbeit gibt es keine durchgehende priorisierte Form, vielmehr verbinden sich mehrere Ebenen der Verhandlung von Zugehörigkeitsordnungen: die Metaebene der Kritik, die Inszenierung der Wirklichkeit der ›Anderen‹ als Projektion, Aspekte der Selbstrepräsentation, Ermöglichung von Dialog zwischen Refugee- und Publikums-Wir. Bezugnehmend auf die Eingangsfrage nach Veränderungen hegemonialer Definitions- und Repräsentationsverhältnisse und Räumen der Selbstrepräsentation Geflüchteter lässt sich festhalten, dass sich solche Räume im Kontext des Refugee Protest Camp Vienna lokalisieren lassen. Geflohene positionieren sich dort öffentlich als Subjekte der Bewegung mit ihren Forderungen und eigenen Stimmen. Gleichzeitig erfolgt durch die selbstbestimmte Repräsentation, die mit Refugee-Stereotypen und Konventionen öffentlichkeitswirksamer Settings gleichermaßen bricht, eine kritische Befragung und Irritation des hegemonialen Wir/Andere-Diskurses. Auch im Rahmen der Aktivitäten der Schweigenden Mehrheit wird Selbstrepräsentationen von Refugees Raum gegeben. Daneben spielt in der Theaterarbeit und in den politischen Aktionen aber die Fürsprache weißer Aktivist_innen ebenfalls eine Rolle, wodurch Geflüchtete auf die Position von Nach- oder Nichtsprechenden verwiesen und hegemoniale Ungleichheiten fortgesetzt werden. Während Jelineks Ausgangstext die Konstruktion und Dekonstruktion des öffentlichen Diskurses über Flucht vorführt und dabei – basierend auf einer Umkehrung dominanter Wir/Andere-Ordnungen – ein vielschichtiges und multiperspektivisches Refugee-Wir entwirft, erscheint dieses Wir in der Adaptierung der Schweigenden Mehrheit deutlich homogener. Interpretiert von Geflüchteten bietet sich dabei jedoch bisweilen die Möglichkeit eines spielerischen Umgangs mit hierarchischen Wir/Andere-Konstruktionen, repressiven Techniken der Asylpolitik und dem Opferdiskurs. In parodistischen und persiflierenden Szenen hält die Inszenierung Provokationen und Irritationen bereit und eröffnet dabei kritische Distanzierungs- und Reflexionsräume für das Publikum. In Interviewszenen rekurrieren die Darsteller_innen u. a. mitunter auf eigene Fluchterfahrungen und Einvernahmen in Asylverfahren und lassen somit in Ansätzen Aspekte der Selbstrepräsentation sichtbar werden. Das Theater stellt einen Rahmen für Begegnungen zwischen Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten her, wobei insbesondere die Publikumsgespräche einen Austausch und Verbindungen zwischen Refugees und Zuschauer_innen ermöglichen, wenngleich dabei auch Opfer-Helfer_innen-Dichotomien rekonstruiert werden. Bezogen auf die Eingangsfrage bedeutet das, dass asymmetrische Macht- und Repräsentationsverhältnisse zwischen Geflüchteten und der weißen Bevölkerung einerseits fortgeschrieben, andererseits aber auch durchkreuzt werden. Solche Ambivalenzen gilt es, nicht nur aufzuzeigen, sondern auch als mitunter nicht auflösbar zu akzeptieren.
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zeption der Universität Wien und dem Elfriede Jelinek-Forschungszentrum. Online unter https://www.youtube.com/watch?v=j8jTsULi59c (29.09.2017). Mhanna, Johnny/Berger, Mirjam/Besenius, Corinne (2017): »Theater was my second home in Syria – here it is the only one.« An Interview with Johnny Mhanna on 31 May 2016 by Mirjam Berger and Corinne Besenius. In: Peter, Birgit/Pfeiffer, Gabriele C. (Hg.): Flucht – Migration – Theater. Dokumente und Positionen. Mainz/Wien: Verlag V & R unipress Gmbh, S. 113–135. Mokre, Monika (2015): Solidarität als Übersetzung. Überlegungen zum Refugee Protest Camp Vienna. Wien: transversal texts. Mousa, Leila (2016): Zur Bedeutung von Kulturarbeit für Geflüchtete. Erfahrungen aus dem Libanon und Überlegungen zum deutschen Kontext. In: Ziese, Maren/Gritschke, Caroline (Hg.): Geflüchtete und Kulturelle Bildung. Bielefeld: transcript, S. 87–100. Müller, Gin (2015): Refugee-Protest im Spannungsfeld von Aktivismus, Institutionen, Kunst und medialer Sichtbarkeit. In: Fleischmann, Alexander/Guth, Doris (Hg.): Kunst. Theorie. Aktivismus. Emanzipatorische Perspektiven auf Ungleichheit und Diskriminierung. Bielefeld: transcript, S. 147–174. Nägele, Sarah (2015): 385 Tränen, 596 Lächeln. Interview mit Die Schweigende Mehrheit sagt Ja. In: Theater & Tanz, 16. Oktober 2015. Online unter https://thegap.at/385-traenen-596-laecheln/ (29.09.2017). Peter, Birgit/Pfeiffer, Gabriele C. (Hg.) (2017): Flucht – Migration – Theater. Dokumente und Positionen. Mainz/Wien: Verlag V & R unipress Gmbh. Pelka, Artur (2016): Das Spektakel der Gewalt – die Gewalt des Spektakels. Angriff und Flucht in deutschsprachigen Theatertexten zwischen 9/11 und Flüchtlingsdrama. Bielefeld: transcript. Pointner, Katrin/Veil, Susanne (2015): Aufschrei der schweigenden Mehrheit. In: Wiener Zeitung. Online unter www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/ politik/766560_Aufschrei-der-schweigenden-Mehrheit.html (29.09.2017). Rollig, Stella (2002): Zwischen Agitation und Animation. Aktivismus und Partizipation in der Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Rollig, Stella/Sturm, Eva (Hg.): Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum. Wien: Turia + Kant, S. 128–139. Schaffer, Johanna (2008): Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld: transcript. Schweigende Mehrheit (2015a): Die schweigende Mehrheit sagt JA! – Teil 1 (Mahnwache). Online unter https://www.youtube.com/watch?v=3IJ3k6YlLgU (29.09.2017). Schweigende Mehrheit (2015b): Mariahilferstrasse: Aktion »Die schweigende Mehrheit sagt JA!« by RussianAustria. Online unter https://www.youtube. com/watch?v=_TWph_ZfPxU (29.09.2017).
Verhandlung von Zugehörigkeitsordnungen in Fluchtkontexten
Schweigende Mehrheit (2015c): Premiere von »Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene« der Schweigenden Mehrheit. Online unter https:// www.youtube.com/watch?v=EW_MJuP2eXM (29.09.2017). O. V. (o. J.): Die schweigende Mehrheit sagt JA. Online unter www.schweigende mehrheit.at/ (29.09.2017). Schweigende Mehrheit (2016): Schweigende Mehrheit sagt ja/Theater in Leonding. Mitschnitt vom 15.10.2016 der Aufführung Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene. Online unter https://www.youtube.com/watch?v= ZJJvL0r_7bQ&t=83s (29.09.2017). Seukwa, Louis Henri/Ziese, Maren (2016): Flucht und Handlungsfähigkeit, kulturelle Bildung und globale Ungleichheit. Louis Henri Seukwa im Interview mit Maren Ziese. In: Ziese, Maren/Gritschke, Caroline (Hg.): Geflüchtete und Kulturelle Bildung. Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld. Bielefeld: transcript, S. 107–119. Tsomou, Margarita (2014): Der besetzte Syntagma-Platz 2011: Körper und Performativität im politischen Alphabet der ›Empörten‹. In: Burri, Regula Valérie/Evert, Kerstin/Peters, Sibylle/Pilkington, Esther/Ziemer, Gesa (Hg.) Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste. Bielefeld: transcript, S. 113–141. Ziese, Maren/Gritschke, Caroline (Hg.) (2016): Geflüchtete und Kulturelle Bildung. Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld. Bielefeld: transcript.
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Grenzerfahrungen als Computerspiel Sonja Prlić, Reinhold Bidner, Karl Zechenter (gold extra) »They want me to kill myself!«, ruft uns ein verzweifelter junger Mann in einem Flüchtlingslager in der spanischen Exklave Ceuta entgegen. Fünf Jahre lang hat er sich aus dem Sudan bis hierher durchgeschlagen und hält nun seine Abschiebepapiere in Händen. Schauplatzwechsel. In einem Café in Nairobi sitzen wir Jean Paul Mutabaruka gegenüber. »You have to celebrate the diversity«, mahnt uns der ruandische Exsoldat, Kommandant und nun Friedensaktivist, der als Flüchtling in Kenia lebt. Es ist eine Einsicht, die er sich hart erkämpft hat, gewonnen aus den Kriegen, die sein Land, seine Familie und Freunde, sein Leben zerteilt haben. Dies sind zwei Momentaufnahmen aus den Recherchereisen, die wir für unsere Computerspiele Frontiers und From Darkness durchgeführt haben. Die beiden Spiele widmen sich verschiedenen Aspekten von Flucht. Frontiers dokumentiert eine Fluchtroute von Niger bis nach Rotterdam und stellt die Grenze in den Mittelpunkt des Spielgeschehens. Für From Darkness erforschten wir in einer breit angelegten Recherche in Uganda und Kenia Hintergründe von Flucht und lassen die Spieler_innen in unterschiedliche Lebensgeschichten aus Ostafrika eintauchen. Computerspiele zum Thema Flucht? Ein Computerspiel als Dokumentation von komplexen politischen Zusammenhängen? Computerspiel, Kunst, Politik, dokumentarische Arbeit – das mag im ersten Augenblick schwer vereinbar erscheinen. Doch gerade ihre Verbindung und das Erforschen der Potenziale, die entstehen, wenn diese Welten in einem Kunstwerk aufeinanderprallen und miteinander in Dialog treten, ist zu einem wichtigen Grundsatz unserer künstlerisch forschenden Arbeit geworden. Als Künstler_innengruppe gold extra arbeiten wir seit 1998 an der Frage, wie man geeignete mediale Formen entwickeln kann, um komplexe politische Zusammenhänge zu kommunizieren und künstlerisch zu verarbeiten. Dieser Ansatz hat uns über Theater, Installationen, Filme und andere Medien zu Computerspielen geführt. Der folgende Text gibt Einblick in die künstlerisch forschende Arbeit, die zu diesen Computerspielkunstwerken geführt hat.
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D as C omputerspiel F rontiers – mit dokumentarischer A rbeit an die (eigenen) G renzen gehen Frontiers ist unser erstes Wagnis mit dem Medium Computerspiel. Die erste Version des Spiels erschien 2008. Nachdem wir bereits Theaterstücke zum Thema Flucht geschrieben hatten, war für uns klar, dass unser nächstes Kunstwerk zu diesem Thema ein Computerspiel sein sollte. Das hat folgenden Hintergrund: Der mediale Schockmoment, der den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit Flucht in Frontiers darstellt, sind die Bilder, die 2005 durch alle Medien gingen und – aufgenommen von Nachtbildkameras der spanischen Grenzpolizei – zeigten, wie Menschen mit selbstgebauten Leitern die Grenzzäune in Ceuta überwanden. Dieses Ereignis wurde als » Sturm auf Ceuta« bezeichnet und führte in der Folge dazu, dass die Grenzanlagen in Ceuta und Mellila massiv ausgebaut und technologisch aufgerüstet wurden. Die Ereignisse von Ceuta stellten für uns das Sinnbild der ›Festung Europa‹ dar und waren der Beginn unserer künstlerischen Reflexion über Europas Grenzen und Flüchtlingspolitik. Als das geeignete Medium für unseren Zugang zu diesem Thema schien uns das Computerspiel, genauer gesagt, der Multiplayer, in dem Spieler_innen gemeinsam online spielen und sich austauschen. Die Frage, wie das gemeinsame Spielen einer politischen Situation künstlerisch genutzt werden kann, wurde zu einer zentralen Strategie, um das Thema Grenze zu bearbeiten. Der zweite wichtige Ansatzpunkt war die Beschäftigung mit dem Computerspielgenre First-Person-Shooter (im Deutschen ist der Begriff Ego-Shooter geläufiger), bei dem die Spielenden die Welt aus der Ich-Perspektive, also durch die Augen der Spielfigur, wahrnehmen und Kampf eine wichtige Rolle in den Spielregeln einnimmt. Das Medium und die Auseinandersetzung mit dem Genre First-Person-Shooter wurden zu zentralen künstlerischen Strategien. Frontiers stellt durch diese Verzahnung von einem drängenden politischen Thema, künstlerischem Computerspiel und der Art, wie das Publikum in diesem Projekt involviert wird, einen neuen Ansatz dar, wie man dokumentarische Kunstwerke als Computerspiele denken kann. Wir verstehen Frontiers insofern als Dokumentation, als dass die Gestaltung des Spiels auf konkreter Recherchearbeit, Videoaufnahmen, Fotos und Interviews an verschiedenen europäischen Grenzen beruht. Das dokumentarische Computerspiel ist ein sehr junges Genre, bei dem sich gerade erst Ästhetiken und die Potenziale, die die interaktive Rezeptionssituation bietet, herauskristallisieren. Ein zentraler Teil des künstlerischen Forschungsprozesses war es, neue Möglichkeiten in diesem Genre auszulotsen. Ein Weg, den wir später mit dem Spiel From Darkness weiter eingeschlagen haben.
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Die Spielräume und Regeln von Frontiers basieren auf unseren Recherchereisen nach Ceuta, Marokko und Andalusien, auf denen wir die Grenzsituation dokumentierten und zahlreiche Gespräche mit Geflüchteten, Behördenvertreter_innen, NGO-Mitarbeiter_innen und Künstler_innen, die sich mit dem Thema Grenze auseinandersetzten (wie z. B. das Kollektiv fadaiat), führten. Diese Vorgehensweise war für unsere Arbeit am Spiel essenziell. Die Auseinandersetzung mit der Situation vor Ort ermöglichte es, Menschen kennenzulernen, sich persönlich zu involvieren und selbst ein eigenes Bild zu machen, das nicht nur auf medial vermittelten Fakten beruht, sondern auf emotionalen Erfahrungen. Auf diese Weise konnten wir ein Spiel gestalten, das auf verschiedenen Ebenen das Thema Flucht kommuniziert. Für die Gestaltung der Spielsituationen griffen wir auf unser Foto- und Videomaterial zurück, auch O-Töne aus den Interviews sind im Spiel zu hören. Die Spielregeln wurden ebenso auf Basis der Gespräche mit den Betroffenen konzipiert. Die Spielsituationen, denen die Spieler_innen ausgesetzt sind, sind aufwühlend. Man droht zu verdursten oder zu ertrinken, irrt in dunklen Gassen umher oder scheitert unweigerlich beim Versuch, Grenzzäune zu überwinden. Das alles reflektiert Momente aus der Recherche, in der wir bewusst auch an die eigenen Grenzen gegangen sind, dort weitergeforscht haben, wo es schmerzhaft war, und es zugelassen haben, bewegt oder verzweifelt zu sein. Die Zitate, die wir an den Anfang dieses Texts gestellt haben, spiegeln solche Situationen wider. Auf diese Weise konnten wir das Spiel mit einer emotionalen Dimension ausstatten, die wir ohne unsere Erlebnisse vor Ort nicht erreicht hätten. Neben diesen konkreten Fragen des Spieldesigns gibt es noch eine weitere Ebene der Auseinandersetzung mit Flucht: Wir haben bereits den Entstehungsprozess von Frontiers als Teil der künstlerischen Arbeit gesehen. Das Sprechen mit unterschiedlichen Personengruppen über die Verbindung von Flucht und Computerspiel, die zahlreichen Work-in-Progress-Präsentationen, Vermittlungsarbeit in Workshops und das konstante Reflektieren der eigenen Arbeit, indem wir immer wieder Feedback von anderen eingeholt haben, hat einen Kommunikationsprozess in Gang getreten, der für die Rezeption von Frontiers ebenso bedeutend war wie das Spiel selbst. Schon lange vor seinem ersten Erscheinen wurde in Gamer-Foren, bei zahlreichen Konferenzen, in Camps von No-Border-Aktivist_innen oder in unseren Gesprächsrunden mit Geflüchteten über Frontiers diskutiert. Das Kunstwerk Frontiers besteht daher nicht nur aus dem tatsächlichen Spiel, sondern aus dem Diskurs, den wir mit unserer Arbeit entfachten.
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Abb. 1a und 1b: Der Grenzzaun von Ceuta in der Realität und im Spiel
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S pielregeln ändern Frontiers zeigt fünf Stationen einer Flucht über die Sahara, Ceuta und die Straße von Gibraltar bis nach Europa und den Hafen von Rotterdam. Als Endraum haben wir eine Art Museumsraum im Spiel konzipiert, in dem die Spielenden Material aus dem Spiel und zusätzliche Informationen erforschen können. Jede dieser Spielstationen stellt eine konkrete Grenzsituation dar. Das Grundprinzip der Spielregeln orientiert sich an jenem von Multiplayer-Spielen: Gespielt wird in Teams, als ›refugees‹ und ›border police‹, Flüchtlinge müssen Grenzen überwinden, die Grenzpolizei muss sie daran hindern, jenes Team, das die meisten Punkte am Ende einer Spielrunde sammelt, hat gewonnen.
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Wichtiger Teil dieses Spielens im Team, bei dem kooperatives Verhalten notwendig ist, ist das Kommunizieren mittels Chat-Möglichkeiten. So weit, so bekannt die Spielregeln von Multiplayer-Spielen. Einen wesentlichen Unterschied im Regelsystem unseres Spiels im Vergleich zu anderen Spielen stellt jedoch die Frage nach dem Umgang mit Gewalt in den Spielregeln dar. Frontiers ist bewusst als ›Mod‹ konzipiert. Darunter versteht man die Modifikation eines anderen Spiels. Das ›Modden‹ von Spielen ist inzwischen zentraler Bestandteil der Spielekultur. Es gehört zum guten Ton von Spielefirmen, dass sie Teile ihrer Spiele öffentlich zugänglich machen und Software zur Verfügung stellen, damit Spieler_innen diese umgestalten können und eigene Ideen entwickeln, die auf dem Regelwerk des Ausgangsspiels beruhen. Frontiers basiert auf den Grundprinzipien des bekannten First-PersonShooters Half-Life 2. Das hat zwei Hintergründe. Zum einen spielen Aspekte der Publikationsmöglichkeiten und Öffentlichkeit für das Projekt eine Rolle. Um Half-Life 2 hat sich eine große Community von Mod-Entwickler_innen etabliert, die sich gegenseitig austauschen, und die eine große Gemeinde an Fans besitzt, die diese Mods ausprobieren und spielen. Die Spieler_innen und Entwickler_innen dieser Mods stellen die primäre Zielgruppe unseres Spiels dar und ermöglichen ein einfaches Publizieren des Spiels wie auch einen niederschwelligen Zugang zu unserem Projekt. 2008, bei den ersten Veröffentlichungen von Frontiers, gab es an die 12.000 Mods auf der Website moddb. com. Frontiers wurde insgesamt 60.000 Mal heruntergeladen. Zum anderen basiert ein zentraler künstlerischer Ansatz auf der Auseinandersetzung mit dem Genre First-Person-Shooter. Im Brechen und Verändern der Regeln dieses Genres fanden wir ein interessantes Mittel, um Aspekte von Gewalt und die moralische Verantwortung jeder und jedes Einzelnen im Spiel zu reflektieren. Für Frontiers entwickelten wir neue, gewaltfreie Spieloptionen, die für First-Person-Shooter-Spieler_innen eine radikale Veränderung mit dem Spielprinzip darstellen. Polizist_innen können verhaften, Flüchtlinge können die Polizei bestechen. Ein Menschenrechtsindex, der sich auf das Punktesystem auswirkt, ahndet Gewalt im Spiel. Gewalteinsatz im Spiel führt zu Punkteverlust und zu einem Scheitern des Teams. Spieler_innen, die Frontiers spielen, bewegen sich konstant in dieser Diskrepanz zwischen den Spielprinzipien des Ausgangsspiels und den Brüchen, die Frontiers diesen Gewohnheiten entgegensetzt. Auf verschiedenen Ebenen werden die Spieler_innen aus dem sicheren ›Magic Circle‹ des Spiels, jenem Zauberkreis, in dem »die Gesetze und Gebräuche des gewöhnlichen Lebens keine Geltung [haben]« (Huizinga 1956: 20), in die Realität geführt. Dies beginnt bei der Gestaltung der Spielräume als reale, von uns dokumentierte Orte, dem Einsatz von dokumentarischem Material wie Fotos, Videos, O-Tönen aus Interviews über die Spielregeln, die bekannte Spielprinzipien unterlaufen, und die Art, wie das Spiel ›gewonnen‹ werden kann.
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Eine unserer ursprünglichen künstlerischen Heimaten liegt im Theater. Und so haben wir uns bei der Konzeption von Frontiers an einem Theaterverfahren orientiert: Bert Brecht entwickelte als eine Strategie des epischen Theaters den Verfremdungseffekt (V-Effekt), bei dem das Publikum durch Irritationen aus der Illusion des Stücks geholt wird und auf diese Weise ein Reflexionsprozess über das Gesehene in Gang gesetzt wird. Der subversive Umgang mit dem Ausgangsspiel und die Verweise auf eine Realität außerhalb des Spiels sind als solche V-Effekte zu verstehen, die dazu dienen, Spieler_innen aus der Immersion des Spiels und ihren gewohnten Verhaltensweisen herauszuholen und ein Reflektieren zu ermöglichen. Frontiers stellt im Sinne dieses produktiven Regelbruchs einen ›epischen Shooter‹ im brechtschen Sinne dar. Abb. 2: Grabsteine der unbekannten Toten, die an der spanischen Küste gefunden wurden, im Spiel
Quelle: gold extra
D as S piel als mor alischer E ntscheidungsr aum Diese Irritation der Spieler_innen, in der sie konstant moralische Entscheidungen im Spiel im Verhältnis zu jenen in der realen Welt abwägen müssen, ist für uns ein geeignetes Mittel, um Fragen nach Grenze und Grenzpolitik sowie dem eigenen Verhältnis dazu zu thematisieren. Das funktioniert im Multiplayer-Spiel besonders gut, weil die Spieler_innen nicht alleine spielen. In anderen Spielen werden Aufgaben von Spielentwickler_innen vorgegeben und es gibt zumeist nur eine bestimmte Art, wie diese erfolgreich bewältigt werden können. Im Multiplayer-Spiel hingegen verhandeln die Spieler_innenteams darüber, wie Situationen gelöst werden. Auch diese Spielsituation hat uns an ein
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Verfahren des Theaters erinnert, das wir für Frontiers aktualisiert haben: Im Forum-Theater, das Augusto Boal als Methode des ›Theaters der Unterdrückten‹ entwickelt hat, kann das Publikum in das Geschehen eingreifen, Rollen übernehmen und einen neuen Ausgang für unbefriedigende Situationen im gemeinsamen Dialog erfinden. Wir verstehen die Kommunikationsprozesse zwischen den Spieler_innen ebenfalls als sozialen Kommunikationsraum, wo gemeinsam und unmittelbar über moralische Entscheidungen, über den Ausgang einer ›Szene‹ und den Umgang mit den anderen Spieler_innen entschieden wird. In Frontiers werden die Rollen – Flüchtling oder Grenzpolizei – durch ein Balancesystem automatisch zugeteilt. Oft müssen daher Spieler_innen, die sich kennen und gemeinsam spielen wollen, gegeneinander spielen. Sie müssen sich über ihre Erfahrungen als Grenzpolizei oder Flüchtling austauschen und sich entscheiden, wie sie miteinander umgehen. Die Reaktionen der Spieler_innen auf diese Situation und die Diskussionen, die sich im Spiel daraus entwickeln, sind intrinsischer Bestandteil des Kunstwerks. Während der Entwicklung des Spiels und nach dessen finaler Veröffentlichung 2012 haben wir zahlreiche Spielsessions betreut, mit vielen Menschen gespielt und diskutiert und die Reaktionen von Spieler_innen gesammelt. Besonders interessant sind dabei Fragen nach dem ›richtigen‹ Verhalten im Spiel und wie das eigene moralische Korsett sich mit jenem des Shooters vereinbaren lässt. Die Spielerfahrung wird in Frontiers zu einer empathischen Erfahrung, Flucht und reale Grenzräume sind nicht mehr abstrakte Themen, sondern können mit eigenen emotionalen Spielerfahrungen verbunden werden. Frontiers wurde viel gespielt, erhielt große mediale Aufmerksamkeit, wurde mit dem österreichischen Outstanding Artist Award ausgezeichnet und wird bis heute in verschiedenen Museen gezeigt (2016 war es u. a. im ZKM Karlsruhe und im Nam June Paik Center in Südkorea zu sehen). Den Erfolg des Spiels macht unserer Erfahrung nach ebenjener Kommunikationsraum aus, in dem Fragen von Spiel, Kunst und realen Grenzräumen vom Publikum mitverhandelt werden können. Er fügt dem Spiel und seiner Reflexion des Themas Flucht eine Dimension hinzu, die dazu beiträgt, es in den gesellschaftlichen Diskurs zu übertragen. Es macht uns jedoch betroffen, dass es neun Jahre nach seinem Erscheinen noch immer ungebrochen aktuell ist.
F rom D arkness – S chichten von F lucht in O stafrik a freilegen From Darkness entstand in der Nachfolge von Frontiers. Die interaktive Dokumentation setzt die Beschäftigung mit Flucht fort, allerdings unter unterschiedlichen Vorzeichen. In Frontiers verengen sich die Handlungsoptionen, eine komplexe Situation wird auf die spezifischen Gegebenheiten an den Grenzen
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zugespitzt. Dadurch entsteht eine aktive Auseinandersetzung des Publikums, der Spieler_innen, mit der gesellschaftlichen Frage. From Darkness setzt dagegen auf eine Weitung des Blicks, auf Details und auf unzählige Handlungsoptionen und präsentiert den Spieler_innen eine möglichst komplexe Situation. From Darkness ist eine interaktive Dokumentation, die vielfältige Gründe für Flucht und Migration in den ostafrikanischen Ländern Kenia und Uganda untersucht und zwischen 2011 und 2016 entstanden ist. Die Metropole Nairobi liefert den Startpunkt für eine Spurensuche nach facettenreichen Alltagsgeschichten von der Nachbarschaftshilfe bis hin zum Überleben als Geflüchteter – lokale Geschichten und solche, die die Politik und Zeitgeschichte der ganzen Region einfangen. Die Spielenden erleben die Geschichte durch die Augen einer Mutter, die nach ihrer Tochter, einer Kriegsreporterin, sucht. Die Tochter ist vor Jahren verschwunden, die Mutter hat diesen Verlust nie verwunden und macht sich auf zu einer Erinnerungsreise, die sich unerwartet zu einer Entdeckungsreise entwickelt. Ist ihre Reise zu Beginn geprägt von den Vorstellungen über Kriege, Krankheiten und Katastrophen, in der Art, wie ihre Tochter über den afrikanischen Alltag berichtet hat, lernt sie, Menschen und Städte bald mit neuen Augen zu sehen. Sie lernt dabei freiwillige Helfer_innen, Geflüchtete und verfolgte Volksgruppen, aber auch junge Menschen voller Träume für die Zukunft kennen. Die Mutter (und somit die/der Spieler_in) entdeckt Erzählungen von Menschen, die gerade dem Krieg entflohen sind, von solchen, die sich eine neue Existenz auf bauen, und von denen, die das bereits vor Jahren getan haben. Sie heißen Fatuma, Diana, James, Simon, arbeiten als CommunityWorker_innen, besuchen Schulen, träumen von einem Neubeginn, träumen vom Überwinden ihrer persönlichen Grenzen und Lebensumstände. Es sind Geschichten von Bewegung und Neugründung, die man als Spieler_in ›hautnah‹ miterleben kann. Als das Projekt 2011 startete, war uns nur wenig bewusst, dass wir einen steinigen Weg vor uns hatten, auf dem wir an mediale Grenzen wie durchaus auch an Grenzen der eigenen Arbeitsmöglichkeiten stießen. Als Künstler_innengruppe sind wir in vielen Projekten künstlerisch Forschende und From Darkness ist ein deutliches Beispiel dafür, wie wir in dieser Forschung an Grenzen stoßen und diese überwinden. 2011 haben wir mit ersten Prototypen begonnen und nach einer etwa einjährigen Vorbereitung 2012 eine Recherchereise nach Kenia und Uganda unternommen. Ein Ebola-Ausbruch hat eine Reise in den Ostkongo verhindert. Auf der sechswöchigen Recherchereise, begleitet u. a. von einem kenianischen Sozialarbeiter, führten wir Interviews mit NGO-Arbeiter_innen – solchen, die lokal arbeiteten, bis hin zu Leitungspositionen im UNHCR –, mit Reporter_innen, Geflüchteten, mit Kindern und Universitätsprofessor_innen, Community-Worker_innen und Straßenverkäufer_innen. Wir hatten das Glück, für unsere Arbeit enorm hilfreiche Recherchepartner_innen zu gewin-
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nen, darunter NGOs wie AMREF, Kituo Cha Sheria, Refugee Law Project, GIZ, UNHCR – und schließlich die Refugee Communitys selbst. Wir haben uns in der Recherche mit Kenia und Uganda bzw. auch dem gesamten ostafrikanischen Raum auseinandergesetzt, mit Ressourcenfragen, wirtschaftlicher Entwicklung und mit saisonalen und insbesondere kriegsbedingten Wanderbewegungen, bis zu den militärischen Konflikten im Sudan, in Somalia und primär im Kongo. Der letztgenannte Krieg forderte zwischen 1998 und 2003 sieben Millionen Tote, wurde von Madeleine Albright als »Afrikanischer Weltkrieg« bezeichnet und zeigt die Dimension und fortdauernde Zerstörungskraft des Konflikts, der bis heute nicht beigelegt wurde. Ziel der Recherche war, ein facettenreiches Bild der Gesellschaft zeichnen zu können. Wir wollten Lebensläufe nebeneinanderstellen und ihre Verflechtung aufzeigen. Unser Ansinnen bei From Darkness war und ist es, den Spielenden einen multiperspektivischen Blick zu ermöglichen, indem wir die vielschichtigen Gründe für Flucht zeigen und ein mehrdimensionales Bild gestalten.
M ultiperspek tivische N arr ation als ästhe tische und inhaltliche
H er ausforderung
Dieser Anspruch der Vielschichtigkeit hatte zur Folge, dass wir bei unserer Rückkehr fast 60 Stunden an Interview-, Film- und Dokumentationsmaterial im Gepäck hatten. Jetzt wurde klar, dass eine weitere Recherchereise begonnen hatte – und zwar jene nach einer ästhetisch tauglichen und technisch realisierbaren Form für das Material. Wir gingen von der Fragestellung aus: Wie können wir aus dieser Fülle an Recherchematerial ein ›spielbares‹ Projekt kreieren, das technisch und finanziell von einer Künstler_innengruppe, also mit limitierten Ressourcen, umgesetzt werden kann und trotzdem die Vielschichtigkeit und Fülle der Inhalte in konzentrierter Form widerspiegelt? Als Künstler_innengruppe sind wir multidisziplinär tätig u. a. in Film, Tanz und Theater, Medienkunst, Animation oder Musik. Dementsprechend kann auch ein künstlerisches Projekt viele unterschiedliche Formen annehmen. Da eine der wichtigsten Intentionen des Projekts war, dass die Aktivität der Betrachtenden selbst das Bild – im übertragenen Sinne – mitbestimmen sollte, aus den Zuschauer_innen also Handelnde werden sollten, haben wir für uns eine aktivierende Kunstform und schließlich für das Computerspiel als Ausgangspunkt entschieden. Die Entwicklung der ästhetischen Form war ein Forschungsprozess, in dem wir selbst dem Material immer näher kamen. Die technischen Herausforderungen alleine in der schieren Bewältigung des Datenmaterials waren enorm. Es dauerte Monate, mit Mitarbeiter_innen und freiwilligen Helfer_innen die Daten zu organisieren, aufzubereiten, zu übersetzen und schließlich Program-
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me und Game Engines zu testen und Prototypen in unterschiedlichen Set-ups zu erstellen. Schnell wurde klar, dass es kein Vorbildprojekt gab, an dem sich unsere Arbeit orientieren könnte. From Darkness würde eine Pionierarbeit sein und es wurde deutlich, dass wir für unser Vorhaben auch eine einzigartige Formen- und Bildsprache finden mussten.
A nnäherungsprozesse Die Produktion von From Darkness verlief, rückblickend betrachtet, in drei Etappen. In einer ersten Etappe haben wir uns dem Material mit klassischen Erzählmustern genähert und einen Prototypen in einer 3D-Umgebung mit 3DCharakteren geschaffen. Jedoch stand gerade dieser Versuch der Simulation der Realität im Widerspruch zu unseren dokumentarischen Filmaufnahmen. Dazu kam, dass unsere ursprünglich angedachte fiktionale Geschichte zu großen Raum einnahm und die multiperspektivische Sicht auf das Material verdeckte. Wir entschieden uns deshalb dafür, trotz hohen Arbeitsfortschritts im Projekt die grundlegende Konzeption zu verändern. In einer zweiten Phase arbeiteten wir an einem Spielsystem, das die Spieler_innen in einer abstrakteren Form mit thematischen Räumen konfrontierte, die das Videomaterial in den Mittelpunkt rückten. Die Videos stellten Türen dar, durch die man sich, wie durch ein Labyrinth einen Weg durch verschiedene Räume suchte, die jeweils einem Themengebiet der Recherche gewidmet waren. Während die Abstraktion und die Entwicklung der Räume ein richtiger Schritt waren, zog das Spielsystem, das darauf abzielte, einen Ausweg aus einem Labyrinth zu finden, das Interesse vom Erforschen des Materials ab. Schließlich konnten wir in einer dritten Phase die verschiedenen Vorarbeiten erfolgreich zusammenzuführen. Die wichtigste Erkenntnis für uns war dabei, dokumentarisches Material als ein Erforschen von Schichten wahrzunehmen. So wurden aus den ›Mauern‹ der thematischen Räume, in denen man einzelne Videos ansehen konnte, durchlässige Informationsschichten. Ästhetische und inhaltliche Entwicklung sind dabei eng miteinander verbunden. Ins Zentrum rückte die Vorstellung einer Erinnerungsreise, die sowohl der zentrale Charakter des Spiels als auch die oder der Spielende unternimmt. Es galt nun, für diese Erinnerung eine Formensprache zu entwickeln. Die vielfältigen Assoziationen, die sich mit den Themen einstellen, wurden visuell collagenartig und in semitransparenten Schichten, z. B. mit Texten, Grafiken, Filmmaterial, Zeitungsausschnitten, Fotos, Audioclips dargestellt. Die Räume, die wir geschaffen haben, sind ›Erinnerungsräume‹, psychologische Innenräume mit visuellen Erfahrungen, wie auch ›erinnerte‹ Außenräume, 3D-Räume, die die Erfahrungen widerspiegeln und die mit den Erfahrungen, die die Spielenden machen, einhergehen.
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Abb. 3: Screenshot aus From Darkness: Der Slum Kibera in Nairobi
Abb. 4: Arbeiten mit Collagetechniken. Schichten überlagern sich
Abb. 5: Erinnerungsräume in From Darkness
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F rom D arkness als S chnit tstelle Nach der Fertigstellung begann eine weitere Reise. Wie oben angemerkt, handelt es sich bei From Darkness um eine Pionierarbeit, was aufs Erste verlockender klingt, als es ist. Denn was ist From Darkness? Ein Spiel, eine Dokumentation? In Ermangelung passender bestehender Begriffe haben wir begonnen, From Darkness dokumentarisches Spiel bzw. interaktive Dokumentation zu nennen, eine neue Kategorie, die, wie oben erwähnt, gerade erst im Entstehen begriffen ist. From Darkness ist eine Arbeit an der Schnittstelle zwischen Serious Game, Dokumentation und interaktivem Film. Man könnte unsere Arbeit als visuellen Hypertext betrachten, jeder Ausschnitt aus dem Film wird zum Link zu Beginn einer jeweils anderen, neuen Geschichte. Das Projekt nähert sich dieser Art des Geschichtenerzählens vonseiten des Computerspiels, hier steht die Bewegung der bzw. des Spielenden, die Erfahrung im Raum im Vordergrund, hier können sich die Anwender_innen nicht durch eine eindeutige Geschichte, sondern durch Geschichten in Geschichten spielen. Der Begriff ›Spiel‹, den wir für die Beschreibung und ›Schubladisierung‹ unserer Projekte gerne einsetzen, bringt dabei gewisse Probleme mit sich: Das künstlerische Potenzial, das in der Verbindung von Dokumentation und Spiel liegt, hat sich leider noch nicht ausreichend im Bereich von Museen, Ausstellungen, Galerien, Kultur- und Filmzentren etablieren können. Es fehlen Institutionen, Verlage oder Festivals, um solche Arbeiten präsentieren zu können, und Förderstellen, die dafür eingerichtet sind, derartige, zumeist sehr aufwendige Kunstproduktionen zu finanzieren. So stößt man hier auch immer wieder auf eine Vielzahl an Grenzen.
R esümee Die öffentliche Darstellung von Computerspielen ist sowohl vonseiten der Medien wie auch der Institutionen noch am Anfang. Fragen wie »Was ist daran Kunst?« oder »Warum dauert die Erstellung dieses Projekts mehrere Jahre?« sind daher keine Seltenheit. Gerne ausgeblendet wird die Tatsache, dass die Erstellung eines Games ein enormes Fachwissen bzw. handwerkliche und künstlerische Expertise in unterschiedlichsten Disziplinen erfordert. Deshalb ist uns gerade auch die aktive Kommunikation unserer Projekte und Konzepte u. a. auch an Schulen und im universitären Kontext, ein großes Anliegen. Wir denken, dass Film, bildende Kunst und digitale Spiele in Zukunft noch viel enger miteinander in Verbindung kommen, sich ein reger Austausch und unterschiedlichste Formate zwischen Film, interaktivem Film, Performance, bildender Kunst und Serious Game entwickeln und somit Grenzen überwunden werden, und dass schließlich mehr das gemeinsame thematische Interesse
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als die ursprünglich unterschiedlichen formalen Ausgangspunkte im Mittelpunkt stehen werden. Und dass diese Form von multidisziplinären Projekten dann auch verstärkt ihren Platz in der künstlerischen Förderlandschaft und im musealen oder Galerienkontext finden wird, denn das Publikum findet uns schon heute ungeachtet der institutionellen, fördertechnischen und medialen Schwierigkeiten. In Frontiers und From Darkness haben wir uns auf unterschiedliche Weise der Verarbeitung des Themas Flucht in Computerspielen gewidmet. Beide Projekte sind Teil einer langjährigen künstlerischen Forschungsarbeit, in der wir uns um eine adäquate ästhetische Umsetzung der Inhalte unserer Projekte bemühen. Es geht dabei vor allem darum, die Potenziale von Computerspielen für dokumentarische Arbeiten auszuloten und die Kategorie der Dokumentation neu zu denken, als ein Kunstwerk, das nicht nur dokumentarisches Material abbildet, sondern es z. B. in Spielregeln verwandelt oder die Emotionen, die damit verbunden sind, in die Gestaltung der Spielsituation miteinbezieht. Eine interaktive Dokumentation bietet überdies die Möglichkeit, nicht-lineare Geschichten zu erzählen und verschiedene Perspektiven ineinander zu montieren und gleichzeitig erlebbar zu machen. Die künstlerische Forschung von gold extra geht über diese Gestaltungsfragen jedoch weit hinaus. Sie lotet die Grenzen des Computerspiels aus und sucht nach jenen Momenten, wo an diesen Grenzen Ansätze für eine neue Form des Dialogs über Flucht entstehen, wo Menschen erreicht werden, die sich sonst nicht mit politischen Themen beschäftigen, und der Funke der Kunst wieder auf den politischen Diskurs überspringt. Die Spiele sind unter www.goldextra.com abruf bar.
L iter atur Huizinga, Johan (1956): Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
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Wild Ein künstlerischer Blick auf Wanderungspolitiken Karla Spiluttini, Korinna Lindinger
Das Kunstprojekt Wild entwirft utopische Perspektiven von grenzüberschreitenden Wanderungen. Mobilitätsprozesse, Effekte von Bürokratien und Freiheitspotenziale werden an Beispielen aus der Tierwelt durchgespielt. Spazierende konnten die Ergebnisse unserer spekulativen Auseinandersetzung im Salzburger Wald bei einer kleinen Wanderung im Bluntautal entdecken und beobachten. Im Herbst 2017 wurden dort in installativen Szenen, Guckkästen und Skulpturen verschiedene Aspekte tierischer Mobilität erlebbar.1 Im Oktober wurden sie gemeinsam mit Expert_innen verschiedener fachlicher Provenienz diskutiert. Dieser Artikel zeichnet Assoziationslinien rund um die im Rahmen von Salzburg 2016: Wahre Landschaft geförderten künstlerischen Interventionen. Im Anschluss an eine allgemeine Auseinandersetzung mit Wanderbewegungen von Wildtieren stellen wir aus dem Projekt drei künstlerisch umgesetzte Szenen vor – und diskutieren diese im Kontext des Lebensraums Salzburg und auf Basis unterschiedlicher kultur- und naturwissenschaftlicher Untersuchungen.
Ü ber W anderungen von W ildtieren in K ulturl andschaf ten In dem Kunstprojekt Wild versuchen wir, über den Tellerrand unserer eigenen Spezies zu schielen und ein paar Wildtierarten zivilisatorische Administrationsmechanismen und Strategien für Mobilität und Migration ›aufzuoktroyieren‹. Aus Perspektive der Biologie wird die Distinktionslinie zwischen Tier und Mensch zunehmend schmäler. Die Kulturwissenschaftlerin Jessica Ullrich beobachtet Erosionsmomente eines allein auf den Menschen zugeschnittenen Wertekanons:
1 | Für mehr Informationen zum Projekt siehe: www.kaquadr.at.
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Karla Spiluttini, Korinna Lindinger Auch die letzten Bastionen der von Menschen aufgestellten Abgrenzungsmerkmale gegenüber der Tierwelt wie Sprache, Selbstbewusstsein und Kultur werden durch die neuesten Erkenntnisse der Verhaltensforschung unterwandert. Und selbst das vorgebliche Alleinstellungsmerkmal des Menschen, der freie Wille, wird heute von Hirnforschern als illusorisches Konstrukt relativiert. Im angelsächsischen Bereich ist es in den meisten Wissenschaften deshalb üblich, vom menschlichen bzw. nicht-menschlichen Tier (human/non-human animal) zu sprechen. (Ullrich 2004: 2)
Die Debatte kann als theoretische Spitze gegen die Behauptung eines Antagonismus zwischen Kultur und Natur gesehen werden. Letztere wird gerne ins Feld geführt, um ›natürliche‹ Zustände zu fordern. Wer sich in der Natur umsieht, wird allerdings schnell unsicher, was ›natürlich‹ denn eigentlich heißen mag. Noch nicht einmal die Biolog_innen sind sich darüber einig (vgl. Eser 2005: 13). Jedenfalls ist die Natur in Salzburg in ständigem Wandel begriffen und die Veränderungen der letzten Jahrhunderte sind geprägt von der Ausbreitung vor allem einer Spezies, die Lebensräume aller anderen Arten erobert und für sich in Beschlag genommen hat – dem menschlichen Tier. Für die Natur- und Kulturlandschaft Salzburgs gilt in mancherlei Hinsicht Ähnliches wie für die Gesellschaftsstrukturen. Sie ist historisch gewachsen und durch eine Vielzahl alltäglicher Praktiken verschiedenster Gruppen kultiviert. Sie ist in (inter-)nationalen Verträgen juridifiziert und durch institutionalisierte Routinen reguliert. Sie ist veränderbar und wird gestaltet durch politische Entscheidungen und ideologische Perspektiven. Beispielsweise sind die Bluntauseen, in deren Umgebung unser Projekt angesiedelt war, im Rahmen des Autobahnbaus in den 1970er-Jahren entstanden. Das Tal ist Naturschutzgebiet, seine Naturlandschaft wiewohl Produkt zahlreicher Interventionen. Sie wird von den Österreichischen Bundesforsten und einer Gemeinschaft von mehreren Dutzend Weideberechtigten und Landbesitzenden bewirtschaftet, gehegt und gepflegt. Die Lebensraumnutzung von Tieren steht entsprechend in engem Zusammenhang mit den Jagd-, Weide- und Fischereiinteressen vor Ort. Wie viele und welche Fische sich in den Seen tummeln, liegt etwa auch daran, wie viele Fischereikarten der/die jeweilige Pächter_in verkaufen möchte und mit welchen Fischen der See besetzt wird. An einem schönen Wochenende gehen im Bluntautal schon mal 1500 Menschen spazieren. Die Bediensteten der Gemeinde Golling tragen Sorge dafür, den Müll, den manche Erholungssuchende hinterlassen, wieder aus dem Wald zu putzen. Das Tal ist nicht Teil des EU-weiten Zusammenschlusses von Gebieten für den Biotop- und Artenschutz Natura 2000. In der Frage, wer in welchem Ausmaß in Zukunft über Nutzungsformen und Schutzstrategien entscheiden können soll, scheiden sich die Geister und Interessen. Seit Jahren wird
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verhandelt und entwickelt – zwischen Zielvorgaben der EU und historisch gewachsenen Besitz- und Kooperationsverhältnissen. Weiter hinten, tief drinnen im Tal, fällt das Wasser der Torrener Ache den Berg hinunter. Hier erheben sich der Hohe Göll und der Schneibstein auf weit über 2500 Meter. Es ist eine gute Gegend, um Gämsen zu jagen, und die Grenze zwischen Österreich und Deutschland ist in greif barer Nähe.
S zene 1 : @I sa G rimms L og . B ürokr atie und Ö ffentlichkeit Die Wanderung von Wildtieren ist stark geprägt von menschlichen Eingriffen. Vor der baulichen und administrativen Etablierung von Nationalstaaten hatten auch Wildtiere weitaus freiere Bewegungsmöglichkeiten. Wanderndem Wild sind grundsätzlich wenige nationalstaatliche Grenzen gesetzt. Doch seit 2015 werden wieder Zäune zwischen europäischen Staaten errichtet, wo sie zuvor durch das Schengener Abkommen schon lange verschwunden waren. Während kleine Nager und Säuger ohne Probleme durch Zäune schlüpfen können, stellen sie für Wölfe und anderes Großwild eine ernsthafte Einschränkung dar. Der Lebensraum einiger Wolfpopulationen im Natura 2000-Gebiet, das mehrere europäische Länder übergreift, wird durch die erneute Errichtung von Stacheldrahtbarrieren wesentlich eingeengt (vgl. Koechlin 2016: o. S.). Außerdem gelten in verschiedenen Bundesländern und Staaten unterschiedliche Jagdund Schutzgesetze. So darf in Bayern der erfolgreich ausgewilderte Biber mittlerweile, aufgrund seiner überaus aktiven Tätigkeit als Landschaftsgestalter, wieder gejagt werden. Nach Salzburg abgewanderte Exemplare hingegen sind ganzjährig geschützt. Auch der Wolf kann einiges über Nutzungskonflikte mit dem Menschen und die Wirkung von Grenzen und Schutzgesetzen berichten. Einst war der Wolf das Säugetier mit der weltweit größten Verbreitung nach dem Menschen. Er bewohnte mehr als die Hälfte der Landfläche der Erde (vgl. Zedrosser 1995: 243). Sein größtes Problem war und ist allerdings seine Nahrungskonkurrenz mit dem Menschen. Als großer Beutegreifer ist er eine potenzielle Bedrohung für die ökonomischen Landschaftsnutzungen des Menschen. Zwar hat der Wolf sein Jagdverhalten an die Ausweitung von Nutzflächen und die dadurch geringer werdende Zahl an Wildtieren angepasst. Gerade das in diesem Zusammenhang entstandene kulinarische Interesse an domestizierten Arten belastet die ohnehin konflikthafte und symbolisch aufgeladene Wolf-Mensch-Beziehung zusätzlich. Bereits in den altnordischen Legenden der Edda wurde der Wolf dämonisiert. Diese Tradition setzt sich fort. Zur Zeit der Hexenverfolgung im Mittelalter entstand der Mythos Werwolf. Als Kulturfeind des Menschen wurde er unerbittlich gejagt (vgl. Wolfrum 2016: o. S.). Die letzte österreichische Wolfpopulation wurde 1882 erlegt. Der Wolf zählt somit zu jenen Tierarten,
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die in Österreich nicht indirekt aufgrund von anthropogener2 Lebensraumveränderungen, sondern aktiv durch extensive Jagd ausgerottet wurden. Mitte des 20. Jahrhunderts fand ein Umdenken gegenüber dem Wolf statt. Die Art wurde stärker geschützt. Die europäischen Wolf bestände konnten sich erholen. Seit 2009 werden in Österreich wieder vereinzelt Wölfe auf der Durchreise beobachtet. Meist bleiben junge Wölfe dort, wo sie geboren sind, manche aber machen sich auf den Weg in andere Gebiete. Diese Wanderwölfe durchqueren oft mehrere Länder. Sie sind es, die sukzessive ehemalige Lebensräume des Wolfs wieder besiedeln. Bisher wurde noch nicht herausgefunden, warum einzelne Jungtiere von einem Tag auf den anderen auf brechen, ihre Familien verlassen und in der Ferne die Liebe und eine neue (alte) Heimat suchen. 2016 hat sich auch eine erste Wolfsfamilie wieder in Niederösterreich niedergelassen (vgl. Pichler 2016: o. S.). Die Forschung spricht hier von Wiedereinwanderung. Dies meint die Rückeroberung von Lebensräumen ohne aktive Mithilfe des Menschen, gleichwohl ist der Wolf auf menschliche Kooperation angewiesen. Hinsichtlich seiner Rückkehr gibt es unterschiedliche Positionen, denen auch spezifische Interessenlagen zugrunde liegen. Laut Analyse der Veterinärmedizinischen Universität Wien stellt der Wolf für die Jagd wie auch für die Landwirtschaft eine große Bedrohung dar (vgl. Rauer 2015: 14).3 Festzustellen ist, dass gerade in Gegenden, die nicht durchgehend von Wölfen besiedelt wurden, dessen potenzielle Anwesenheit besonders viele Emotionen bei den Einwohnenden auslöst. In Gegenden jedoch, in denen Wolf und Mensch immer koexistiert haben, z. B. in der Slowakei, werden Ängste und Nutzungskonflikte weniger thematisiert. Es ist schwer zu sagen, ob dies daran liegt, dass dort Schutzmechanismen, wie Herdenschutzhunde, etablierter sind, oder daran, dass man schlicht an die ›Schäden‹ gewohnt ist. Advokat_innen einer Rückkehr des Wolfs reden lieber von einer Herausforderung als von einer Bedrohung, denn »[w]enn wir nicht in der Lage sind, mit komplizierten Tierarten wie dem Wolf auszukommen, dann haben wir keinerlei moralische Berechtigung, in der Dritten Welt den Schutz des Elefanten, des Nashornes und des Tigers zu fordern« (WWF Schweiz 1994, zit. n. Zedrosser 1995: 248).
2 | Das altgriechische Wort für Mensch ist ánthropos. Von diesem Wortstamm leiten sich Begriffe ab, die die Gestaltung der Welt durch den Menschen beschreiben, beispielsweise anthropogen als Adjektiv für durch Menschen Entstandenes. 3 | Deutlich geringer werden im Vergleich dazu Nutzungskonflikte in den beiden Bereichen zwischen Mensch und Luchs sowie zwischen Mensch und Bär eingeschätzt.
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Abb. 1: Isa Grimm macht Werbung für ihren Twitter-Account
Foto: kaquadrat
Im Rahmen des Kunstprojekts Wild kann man einen Wanderwolf auf seinem Weg verfolgen. Wer aufmerksam schaut, entdeckt entlang des Wild-Rundwegs Wolfszinken. Sie sind auf Baumstämmen und Steinen am Wegesrand und im Wald verteilt. Wer die entdeckten Schlüsselwörter auf Twitter eingibt, findet seine Erzählung: Unter @IsaGrimmsLog twittert unser Wolf über seinen Weg durch verschiedene Gegenden und Länder. Er ist einer von jenen Wölfen, die sich im Alter von 12 bis 20 Monaten aufmachen, um die Welt zu entdecken und dabei bis zu 1000 Kilometer hinter sich lassen. Er ist auf der Suche nach einer Wölfin, die seine Liebe zur Freiheit teilt, um mit ihr anderswo eine Familie zu gründen. Wer ihm auf Twitter folgt, erfährt über die Herausforderungen seiner Reise, seine Träume und Tipps und Tricks am Weg durch Europa.
S zene 2 : C apreolus sapiens . A usweitung kultureller P r ak tiken Wildtiere orientieren sich bei Nahrungssuche, Paarungsverhalten, Winterund Sommerwanderungen an landschaftlichen Merkmalen. In der Biologie bezeichnet man – streng genommen – nur vorübergehende bzw. sich wiederholende Wechsel des Habitats als Wanderungen. Zugvögel sind ein Beispiel hierfür. Unter ihnen gibt es auch sogenannte teilziehende Arten, also Spezies, bei denen nur ein Teil der Population wandert. Mit Migration wird in dieser
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Klassifizierung ein dauerhafter Wechsel zwischen Lebensräumen beschrieben, wie er z. B. bei Schwarzwild zu beobachten ist. Manche Spezies ziehen ständig weiter, sie sind Dauerwanderer, andere bleiben eher in einer Region, sie werden auch Binnenwanderer genannt. Wie gesagt, steht die Lebensraumnutzung von Wildtieren – auch ihre Mobilitätsansprüche – vielfach im Widerspruch zur anthropogenen Nutzung der Landschaft (vgl. Köhler 2007: 9). Sie unterscheidet sich also von der Habitatgestaltung des mächtigsten Tiers unseres Erdzeitalters – dem Menschen. Bebauungen – Siedlungen, Autobahnen, Flussregulierungen etc. – schränken die Lebensräume und Bewegungen von Tieren stark ein. Anthropogene Verkehrswege können Nischen und Ausbreitungsachsen sein (vgl. Essl/Rabitsch 2005: 35 ff.). Oft sind sie im tierischen Alltag jedoch auch Barrieren, die nicht überwunden werden können. Die Nutzung der Landschaft für Land- und Forstwirtschaft, Freizeit und Tourismus, Wohnraum, Verkehrs- und Energieinfrastruktur zerschneidet Habitate. Raumplanung, die auf Tiere Rücksicht nimmt, unterscheidet Kern-, Trittstein- und Insellebensräume. In Kernlebensräumen können Wildtiere gut leben, fressen, jagen, Höhlen bauen etc. Als Trittsteinlebensräume werden Habitate bezeichnet, die für sich zu klein, zu schmal oder als Kernlebensraum schlichtweg nicht geeignet sind, jedoch wie Passagen Kernlebensräume verbinden und Austausch ermöglichen. Wenn ein Kernlebensraum über keine Verbindungen zu anderen Kernlebensräumen der Spezies verfügt, spricht man von einem Insellebensraum (vgl. Leitner et al. 2015: 15). Die Verinselung von Populationen kann zu einer Reduzierung des Genpools (aufgrund von Inzest) führen und Gesundheit, Fruchtbarkeit und Physiognomie beeinflussen. Mittlerweile werden vielerlei Anstrengungen unternommen, Habitate zu schützen und die Durchlässigkeit von Lebensräumen wieder zu ermöglichen bzw. zu erhalten. Es gibt naturschutzfachliche Prüfungsprozedere für Bauvorhaben, Projekte zur Korridorausweisung und Datenerhebungen, um ökologische Folgen stärker berücksichtigen zu können, sowie Forschungs- und Schutzkooperationen auf regionaler und überregionaler Ebene, z. B. die Initiative Ökologisches Kontinuum, die Plattform Ökologischer Verbund Alpenkonvention oder Econnect (ebd.: 10 ff.). Entlang des Alpen-Karpaten-Korridors versucht man, länderübergreifend traditionelle Wanderrouten von Rotwild, Luchsen, Bären und anderen Tieren wieder passierbar zu machen. Hierzu dienen wildökologische Maßnahmen wie Grünbrücken über Autobahnen, die Herstellung von Versteckmöglichkeiten oder die Aufforstung bestimmter Landschaftstypen. Die Potenziale hierfür in Bezug auf Salzburg wurden kürzlich in einem Bericht zur Lebensraumvernetzung (vgl. ebd.) evaluiert. Der Straßenverkehr stellt eine besonders große Gefahr für Wildtiere dar. Jährlich verunglücken rund 3000 Exemplare auf Salzburgs Straßen (vgl. Salzburger Jägerschaft 2015: o. S.). Verkehr meint per se die »Ortsveränderung von
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Personen, Gütern oder Nachrichten in einem definierten System wie z. B. Straßen-, Schienen- oder Luftverkehr« (Unbehaun et al. 2014: 21). Der Begriff ›Mobilität‹ erweitert diese räumliche Dimension des Verkehrs um eine geistigintellektuelle und eine soziale Dimension. Er umfasst also auch das, was der Realisierung von Bewegung in zivilisatorischen Bahnen vorausgeht: spezifisches Wissen und vergesellschaftete Kompetenzen (vgl. Unbehaun et al. 2014: 21). Eine Kompetenz, ohne die sichere Bewegung innerhalb unserer zivilisatorischen Systeme heute nicht auskommt, ist das Warten. Für das Warten gibt es spezifische Handlungsabläufe. Ein Beispiel ist die Querung von Verkehrsadern, die für Menschen durch spezifische Signale reguliert ist: Vorrangs- und Haltesymbole oder Ampeln. Querungen sind dennoch nicht immer gefahrenfrei für Menschen möglich. Für Wildtiere, die keinen Bezug zu menschlichen Regulativen haben, sind sie besonders risikoreich. Was aber, wenn es eine Rehart gäbe, die sich auf das Spiel von Rot- und Grünphasen einlassen kann? Um solche Prozesse zu symbolisieren, haben wir uns eine hybride Spezies einfallen lassen: den Capreolus Sapiens, ein Mischwesen zwischen Mensch und Reh. Das Rehwild ist ein Kulturfolger, also eine Tierart, die von der Kultivierung der Landschaft durch den Menschen profitiert hat, weil sie ihren Bedürfnissen entgegenkommt. Es ist daher unserer Meinung nach prädestiniert für ›verhaltensgenetische Versuche‹ zur Eingliederung von Wildtieren als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer_innen. Abb. 2: Gruppe von Capreolus sapiens
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Wir starten ein fiktives Pilotprojekt mit diesen Hybridwesen: Die Besuchenden von Wild können im Wald eine Gruppe junger Reh-Mensch-Mischwesen beobachten, deren humanoide Gangart schon weit entwickelt ist. Sie haben sich am Trainingsplatz zusammengefunden, um mit einer Ampel zu trainieren, wann man warten und wann man wandern soll. Wer die regulativen Handlungsmuster beherrscht, ist am Weg zu Futter oder Liebesspiel deutlich sicherer unterwegs – und Sicherheit ist für Wildtiere im Umfeld von A1, A10, B150, B159, B160 und anderen Salzburger Straßen, wie gesagt, ein hehres Gut. Mischwesen werden seit der Neuzeit auch als Chimären bezeichnet. Der Begriff kommt aus der griechischen Mythologie. Der Überlieferung nach ist Homer der Erste, der von der Chimäre erzählt – der Tochter von Echidna und Typhon, der Schwester der Hydra, des Kerberos und der Sphinx. Sie wird von Bellerophon, dem Enkel des Sisyphos, der das Göttergeschenk Pegasus auf seiner Seite hat, getötet. Zum historischen Gehalt des Mythos gibt es verschiedene Lesarten: eine von der Fruchtbarmachung oder Kultivierung eines Landes durch die Bekämpfung der dort ansässigen Tierarten (Löwen, Ziegen und Schlangen), eine andere von der Eroberung eines Landes, in dem drei Völker leben, deren Eigenschaften die Tiere beschreiben. Im Laufe der Zeit wurde Bellerophon zum Heiligen der Reiter, die Chimäre zum Drachen und ihre komplexe Geschichte über Machtverhältnisse und die Durchsetzung menschlicher Gruppeninteressen eine prototypische Erzählung vom Guten, das gegen das Böse kämpft und siegt (vgl. Hederich 1770; von Erffa 1952: o.S). Abbildungen von Anthropozoomorphen, also Hybridwesen, sind seit der Eis- und Nacheiszeit4 nachgewiesen. Archäolog_innen unterscheiden bei Hybridwesen zwischen Monstern – Tierkörper mit Menschenkopf – und Dämonen – Menschenkörper mit Tierkopf. Alte Darstellungen zeigen ausschließlich Dämonen. Forschende gehen davon aus, dass es sich meist um Schamanen handelt, die sich durch einen Tanz in andere Sphären transzendieren. D. h., es werden Menschen gezeigt, die sich in Tiere verwandeln bzw. vorübergehend in tierische Sphären vordringen. Entsprechende Funde, mythologische Figuren und Rituale finden sich in der ganzen Welt, in Salzburg beispielsweise die Perchten (vgl. O. V. 2010: o. S.). Um transzendentale Verhaltensmuster dieser Tiere zu aktivieren, wird im Projekt Wild mit einer Übungsgruppe von Reh-Mensch-Hybriden (Capreolus sapiens) gearbeitet. Wie alle aus der Mythologie bekannten Mischwesen haben sie außergewöhnliche und mächtige Fähigkeiten.
4 | Die älteste bekannte Figur wurde in Süddeutschland gefunden – ein zwischen 35.000 und 22.000 v. Chr. aus einem Mammutstoßzahn geschnitzter Mensch mit Löwenkopf (vgl. O. V. 2010: o. S.).
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S zene 3 : »H abitate sind keine I mperien « – C r ayfish I nc . L egitimität ökonomischer E xpansionen Neben jenen Tierarten, die mit der Verbreitung des Menschen und durch Innovationen seiner Lebensweise verdrängt wurden, gibt es auch jene, die davon profitiert haben. Viele Spezies haben sich im Gepäck oder auf den Spuren des Homo sapiens neue Habitate erschlossen. Österreich liegt nicht nur im Herzen Europas, sondern auch zwischen verschiedenen ökologischen Lebensräumen, in denen sich sozusagen unterschiedliche Lebensgemeinschaften von Tieren und Pflanzen entwickelt haben. Einerseits umfasst Österreich Teile des alpinen Lebensraums. Andererseits grenzt es an drei andere wichtige Ökosysteme, nämlich den pannonischen Osten, den mediterranen Süden und den atlantischen Übergangsbereich im Norden. Josef Reichholf beschreibt diesen Raum folgendermaßen: Wer so gelagert ist, bekommt von Natur aus viel Zuzug und Durchzug. Wo so unterschiedliche Naturbereiche aufeinandertreffen, ergibt sich eine entsprechend hohe natürliche Vielfalt. Und wo diese zudem durch kulturelle Unterschiedlichkeiten – zumindest bis in die jüngste Vergangenheit – gefördert und nicht vereinheitlicht worden ist, da darf auch besonders viel Dynamik erwartet werden. (Reichholf 2005: 7)
Transkontinentale Wanderungen und Veränderungen prägen Europa schon lange (vgl. Englisch 2005: 101). Als indigen gelten Tierarten, die bereits vor und/oder während der letzten Eiszeit in Österreich heimisch waren (vgl. Essl/ Rabitsch 2005: 34). Archäobiota hingegen haben sich mit menschlicher Mitwirkung bis zum Ende des Mittelalters angesiedelt. Antike und moderne Transportwege waren und sind für tierische ›Invasoren‹ zentrale Routen der Habitataneignung. In der Römerzeit machten es sich z. B. lästige Begleiter wie die Hausmaus und die Hausratte in österreichischen Gefilden gemütlich. Ihr Vorkommen war immer eng an menschliche Siedlungsstrukturen gebunden. Das frühe Vorkommen dieser Nager in Österreich ist durch Ausgrabungen belegt (vgl. Englisch 2005: 101). Reichholf betont, dass Österreichs Natur in weiten Teilen von migrierten Pflanzen und Tieren geprägt ist, und stellt fest, »um wieder alles ›heimisch-richtig‹ werden zu lassen«, müssten »mehr als die Hälfte aller frei lebenden Arten von Tieren und Pflanzen sowie so gut wie alle Nutzpflanzen und Forste verschwinden« (Reichholf 2005: 11). Tiere, die in der Neuzeit in Österreich Fuß fassten, werden als Neobiota bezeichnet (vgl. Essl/Rabitsch 2005: 29). Neobiota sind Arten, »die in einem bestimmten Gebiet (Österreich) nicht einheimisch sind und die erst nach 1492 unter direkter oder indirekter Mithilfe des Menschen in dieses Gebiet (Österreich) gelangt sind und hier wild leben oder gelebt haben« (ebd.: 29).
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Eine Art gilt als etabliert, wenn sie über mindestens 25 Jahre oder über mindestens drei Generationen in einem Gebiet freilebend existiert (vgl. ebd.: 32). Diese Prozesse gehen sehr unterschiedlich vonstatten. Erst seit Kurzem hier heimische Tiere, in der Biologie Neozoa genannt, sind in der österreichischen Säugerfauna zum großen Teil auf Jagdinteressen oder Gefangenschaftsflüchtlinge aus der Pelztierzucht, wie die Waschbären, zurückzuführen (vgl. Englisch 2005: 104). Heute leben rund 600 Neozoen hier.5 Die meisten zugezogenen Arten werden als relativ harmlos für Umwelt und Mensch betrachtet. Gleichwohl vermittelt die mediale und wissenschaftliche Darstellung oft anderes (vgl. Kiehn/Nouak 2005: 282). Die Fachterminologie stellt für ideologische Lesarten ökologischer Sachlagen ebenfalls Material bereit: Im Englischen werden Neozoen als »aliens« bzw. »invaders« bezeichnet und im Deutschen spricht man gerne von »Faunen- bzw. Florenverfälschung« oder »Verfremdung« (vgl. Essl/Rabitsch 2005: 29). Gerne wird in Antonymen gesprochen: Man stößt auf wertende Begriffspaare wie heimatlich vs. fremd, kultiviert vs. verwildert oder auch geachtet vs. unerwünscht (vgl. Eser 2005: 16 f.). Eine solche Begriffswahl legt nahe, dass nur etwas ursprünglich Dagewesenes und wenig Verändertes als positiv wahrgenommen wird, während veränderte und dynamische Prozesse als bedrohlich einzuschätzen sind. »There is a kind of an irrational xenophobia about invading animals and plants that resemble the inherent fear and intolerance of foreign races, cultures and religion.« (Brown 1989: 105, zit. n. Eser 2005: 13) Der englische Biologe und Umweltwissenschaftler Martin Holdgate (1986, zit. n. Essl/Rabitsch 2005: 37) formulierte in Bezug auf die statistische Wahrscheinlichkeit des Auftretens, der Ausbreitung und der Etablierung nichtheimischer Arten die Zehnerregel. Sie besagt, dass »von 1000 eingeführten etwa 100 verwildern, sich von diesen etwa 10 etablieren und von diesen etwa eine oder zwei naturschutzfachliche Probleme verursachten« (Essl/Rabitsch 2005: 37). Als invasiv gilt eine Art, wenn sie in wenigstens einem Naturraum so stark vorkommt, dass sie 1. autochthone Arten belegter oder vermuteter Weise verdrängt, 2. die Biotopstruktur oder 3. das Ökosystem deutlich verändert (vgl. ebd.: 34). Ein Beispiel für das erste Szenario ist die Geschichte der Flusskrebsarten in Österreich – einst Leibspeise zahlreicher Salzburger Bischöfe. Amerikanische Krebse, vermutlich als blinde Passagiere ins Mittelmeer gelangt, verbreiteten von der Lombardei ausgehend allerdings ab 1860 die Krebspest, die in den folgenden Jahrzehnten zu einem Massensterben von autochthonen Flusskrebsar5 | Die Salzburger Vogelfauna hat vom Zuzug neuer Tierarten zumindest quantitativ profitiert. Denn obwohl sieben Arten verschwunden sind, ist die Anzahl der hier lebenden Vogelarten in den letzten 125 Jahren annähernd gleich geblieben (vgl. Slotta-Bachmayr 2002: 1).
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ten in Österreich führte. Diese hatten keine Abwehrmechanismen gegen den eingeschleppten Erreger. Etwa 75 Prozent der heimischen Edelkrebse fielen zwischen 1879 und 1904 der Krebspest zum Opfer. 1970 wurden Signalkrebse, die den hiesigen Edelkrebsen sehr ähnlich sind, aus Kalifornien eingeflogen, um den verschwindenden Bestand an Flusskrebsen aufzustocken. Doch sind auch Signalkrebse Überträger der Krebspest. Mittlerweile werden viele österreichische Gewässer monopolistisch von diesen Neozoen bewohnt. Wenige autochthone Arten blieben von der Krebspest verschont. Eine Nische hat der Steinkrebs gefunden. Er bewohnt gerne Waldbäche und quellnahe Gewässer. Ausgerechnet die »harte Verbauung oder Verrohrung der Unterläufe von Bächen« (Eder 2005: 152) durch den Menschen, gemeinhin als höchst ungünstig für die Tierwelt beurteilt, habe in diesem Fall für eine relativ isolierte und somit geschützte Lage der Steinkrebspopulationen gesorgt (vgl. Eder 2005: 149 ff.). Abb. 3: Sitzung der Crayfish Inc. Niederlassung Tennengau
Foto: kaquadrat
Das Kunstprojekt Wild lässt die Besuchenden einen Blick in die Tennengauer Niederlassung von Crayfish Inc. werfen. Die Crayfish Inc. expandierte 1982 nach Österreich mit dem Ziel, die mittel- und osteuropäischen Märkte für internationale Flusskrebsprodukte zu erschließen. In einem Schaukasten zwischen den beiden Seen, da, wo das Wasser laut durch den künstlichen Verbindungskanal bricht, kann man eine Sitzung mehrerer Signalkrebse beobachten. In frisch gebügelter Geschäftskleidung sind sie versammelt, um Lösungen für die aktuellen Vorwürfe gegen Crayfish Inc. zu entwickeln. Zum wiederhol-
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ten Mal steht das Unternehmen nämlich wegen seiner Expansionspolitik im Kreuzfeuer der Kritik. Man bediene sich imperialistischer Methoden, die Gefahr einer Monopolisierung soll geprüft werden und die einschlägige Presse spricht sogar von ökonomischer Ausbeutung. Heute hat die Marketingabteilung von Crayfish Inc. einen spanischen Spezialisten für Marketingnarrative eingeladen, um an einem positiven Markenbild zu arbeiten und in Zukunft die wirtschaftlichen Vorteile für die Region besser kommunizieren zu können.
A bschliessende B emerkungen Die Ausgangslagen tierischer Wanderungsprozesse haben wir redlich recherchiert, Fachpublikationen studiert und dazu auch Expert_innen konsultiert. Die künstlerische Darstellung tierischer Handlungsspielräume und bürokratischer Strategien in unserem Projekt sind hingegen Akte künstlerischer Freiheit. Wir wählten diesen Zugang, um die Perspektive zu wechseln, denn »[i]m Tier blickt uns nicht das Eigene an, nicht das alter ego, sondern das ganz und gar Andere« (Ullrich 2004: 11). Für das Projekt Wild haben wir uns jedenfalls aus dem Kunsthabitat hinausgewagt. Eine Ausstellung im Wald zu realisieren, ist etwas anderes, als einen White Cube zu bespielen. In der Natur stellt sich beispielsweise nicht die Frage, ob man in eine Wand bohren kann, sondern ob man in einen Fels bohren darf. Auch Materialien müssen andere Anforderungen erfüllen, sollen wasserdicht und wetterfest sein und zudem resistent gegen Versuche, entwendet oder gefressen zu werden. Wir hatten die Möglichkeit, die Landschaft durch die Brille verschiedener Professionen und Nutzer_innengruppen kennenzulernen, erhielten Einblick in die Bedürfnisse der Interessengruppen und erfuhren, wo sie sich treffen, wo sie sich im Weg stehen und wo sie aufeinanderprallen. Dabei war uns wichtig, Rezipierenden unseres Projekts keinen bestimmen Blickwinkel aufzudrängen. Unseren eigenen Horizont auf Wanderungs- und Lebensprozesse haben wir in der Imagination anderer ›Naturzustände‹ jedenfalls erheblich erweitert.
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Green, Green Grass of Home 1 Zur Auflösung der Grenzen privater und öffentlicher Räume im Kontext von Flucht und Migration Romana Hagyo Wenn in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Diffusion öffentlicher und privater Räume diskutiert wird, so geschieht dies meist mit Referenz auf mediale Kommunikationsformen, postindustrielle Arbeit und Prozesse der Stadtentwicklung (vgl. Siebel/Werheim 2003; Döllmann/Temel 2002). Die Begrifflichkeit der Diffusion setzt das Vorhandensein gegensätzlicher Bereiche voraus, deren Grenzen durchlässig werden können. Mein Interesse ist, in einem ersten Schritt zu zeigen, dass die Opposition ›öffentlich – privat‹ immer schon eine auf gesellschaftlichen Zuschreibungen beruhende Setzung war: Die Verfügungsmöglichkeit über sogenannte private und öffentliche Räume war und ist abhängig von Geschlecht*, sozialer Situation, Herkunft, Religion, Körper und weiteren Faktoren (vgl. Löw 2001: 272). Ein Daheim als Raum des Rückzugs und der Durchführung sogenannter privater Tätigkeiten steht nicht allen Menschen zur Verfügung, ob die Privatsphäre einer Person als schützenswert gilt, ist abhängig von den genannten Faktoren, wie sich im Kontext von Prozessen der Flucht und Migration zeigt. Aus diesem Grund werde ich im zweiten Teil meines Beitrags zwei künstlerische Arbeiten von Maja Bajević zur Diskussion stellen, die den Verlust des Zuhauses zum Thema machen und Grenzziehungen privater und öffentlicher Räume verhandeln. Green, Green Grass of Home (2002) macht die im Bosnienkrieg verlorene Wohnung der Künstlerin zum Thema. Der Grundriss des Apartments wurde im öffentlichen Raum rekonstruiert und mit Grasziegeln ausgelegt, um die so entstandene Fläche zur Benutzung durch die Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Im Projekt Women at Work – Under Construction (1999) fertigte die Künstlerin in einer fünftägigen Performance gemeinsam mit aus Srebrenica geflüchteten Frauen Stickereien (traditionelle Motive 1 | Green, Green, Grass of Home (2002) ist der Titel einer Videoarbeit und Installation der Künstlerin Maja Bajević (vgl. Vittese 2008: 61 f.).
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aus deren ehemaligen Häusern) an der Abdeckung der Fassade der National Gallery of Bosnia and Herzegovina.2 Die Performerinnen nutzten die Fassade als Schnittstelle öffentlicher und privater Räume, um die Folgen des Verlusts des Zuhauses zu artikulieren.
K onzep tionen des Ö ffentlichen und P rivaten Das Gegensatzpaar ›öffentlich – privat‹ fungiert seit der Entstehung des Haushalts der bürgerlichen Kernfamilie als eine Grundannahme des Zusammenlebens in bürgerlichen Gesellschaften. Die Auseinandersetzung mit Angelegenheiten von allgemeinem Interesse (idealiter gleichberechtigt zugänglich) wird in öffentlichen Räumen verortet (vgl. Habermas 1990: 89 f., 97 f., 156 f.), während der private Raum des Daheims dem Schutz und Rückzug und reproduktiven, weiblich konnotierten Tätigkeiten dient.3 Die Grenze der Sphären des Öffentlichen und Privaten aber war immer schon durchlässig: Historische Forschungen über bürgerliche Wohnkulturen in europäischen Städten des 18. und 19. Jahrhunderts zeigen, dass in Treppenhäusern und Eingangsbereichen Nachrichten ausgetauscht wurden und der Aufenthalt am Fenster und am Balkon die Teilnahme am Geschehen im Stadtraum ermöglichte (sowohl im Alltag als auch bei Aufmärschen und Protesten, vgl. Holm 2015: 244; Jütte 2015: 471). Der Salon stellte einen Ausgangspunkt der bürgerlichen Öffentlichkeit dar, wo Frauen das gesellschaftliche Leben prägten. Die Berufstätigkeit von Frauen (beispielsweise als Homöopathin oder Lehrerin) ging auch in den Häusern vonstatten, geschäftliche Entscheidungen wurden bei Besuchen getätigt (vgl. Holm 2015: 245; Joris 2015: 355). Aktuell umfasst der Begriff der Arbeit nicht nur bezahlte Tätigkeiten, sondern die Arbeit am Selbst, wobei Anstrengungen der Selbstoptimierung mithilfe von Apps und sozialen Medien öffentlich gemacht werden (vgl. Lorey 2010: 17). Die medial vernetzte Arbeit am Selbst geht nicht nur daheim vonstatten. Auch Konzerne bieten ihren Angestellten Fitnessräume und Yogakurse in den Firmengebäuden. Bezahlte Arbeit verliert zunehmend ihre zeitliche und örtliche Begrenzung, das Zuhause wird für Telearbeit und Networking genutzt, während gleichzeitig private Telefonate im Stadtraum oder in öffentlichen Verkehrsmitteln einer unfreiwilligen Zuhörerer_innenschaft zugänglich sind. Mit dem Laptop am Sofa sitzend wird abwechselnd beruflicher E‑MailVerkehr abgewickelt und mit der Online-Community in Kontakt getreten. Im Fernsehen läuft parallel die neueste Reality-Show, in deren Rahmen Menschen 2 | Die Stickereien wurden in die Abdeckung der Fassade eingearbeitet. 3 | Zur geschlechtlichen Konnotation der Dichotomie öffentlicher und privater Räume vgl. beispielsweise Ruhne 2011; Terlinden 2010.
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ihre persönlichen Probleme und Lebensräume öffentlich zur Schau stellen. Die genannten Aktivitäten sind von der Hinterlassung digitaler Fußabdrücke begleitet und mithilfe von IP-Adressen für Fachleute nachvollziehbar. Während die Vorhänge zugezogen werden, um Einsichtnahme durch die Nachbar_innen zu verhindern, ist via Skype die Wohnungseinrichtung sichtbar. Mit Blick auf diese Entwicklung ist es nicht verwunderlich, dass der aktuelle Trend zur Privatheit (vgl. Döllmann/Temel 2002: 10) von einem Plädoyer für den »Wert des Privaten« (Rössler 2003) begleitet wird: Um den autonomen Status des Subjekts zu gewährleisten und seine Freiheit zu schützen, müsse das Recht auf Privatheit für alle Menschen gelten (vgl. Rössler 2003: 2 und 6). Die Autorin schlägt vor, den Raum des Privaten, der historisch ein Raum weiblich konnotierter reproduktiver Tätigkeiten war, zu nutzen, um allen Menschen unabhängig von geschlechtlichen Zuschreibungen zu ermöglichen, »ihr Leben nach ihren eigenen Entscheidungen leben zu können« (Rössler 2003: 5). Nicht nur im Raum des Daheims diffundiert die scheinbare Grenze des Öffentlichen und Privaten: Die »unternehmerische Erlebnisstadt«4 Europas fungiert als Raum der Produktpräsentation; um ihre Attraktivität zu steigern, wird sie zur »Wissensstadt« oder zur Kreativstadt (Ronneberger 2010: 7). Im Rahmen dieser Entwicklung zeigt sich die historische Veränderlichkeit der Nutzung von Räumen als ›öffentlich‹ oder ›privat‹: Aktuell übernehmen vielerorts Einkaufszentren, die sich in Privatbesitz befinden, die Funktion von Treffpunkten. Für Ordnung sorgen dort private Sicherheitsdienste. Das Essen, Rasten und Telefonieren im Stadtraum (als Folge von urbaner Mobilität, flexibler Arbeitszeiten und Konsumangebot) ist alltäglich geworden. Bei Menschen, die aus der Notwendigkeit der Obdachlosigkeit oder Flucht die privaten Tätigkeiten des Essens, Schlafens oder der Körperhygiene im öffentlichen Raum vollziehen, endet die Toleranz. Deutlich wird, dass die Verfügung über Räume zur Durchführung privater Tätigkeiten und somit die Möglichkeit einer klaren Grenzziehung zwischen den Bereichen des Öffentlichen und Privaten nicht nur geschlechtlich konnotiert, sondern von sozialer Situation, Herkunft, Religion und weiteren Faktoren abhängig ist. Ein Zuhause als Raum »lokaler Privatheit« (Rössler 2003: 4) steht nicht allen Menschen zur Verfügung; wessen Privatsphäre als schützenswert gilt, ist abhängig von den genannten Faktoren. Durch den Verlust des Zuhauses verfließen die Grenzen des Öffentlichen und Privaten. Provisorische Räume des Aufenthalts werden geschaffen und wieder verlassen im Rahmen einer Flucht. Das Daheim fungiert nicht länger als Ort, der Sicherheit und Geborgenheit gibt, sondern muss erinnert und provisorisch neu hergestellt werden. 4 | Klaus Ronneberger (2010) beschreibt die Entwicklung der bürgerlichen Städte Europas anhand dreier Stadtmodelle (deren Übergänge fließend verlaufen sind): liberal-kapitalistische Bürgerstadt, funktional-industrielle Vorsorgestadt, unternehmerische Erlebnisstadt.
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Ich werde in der Folge die Durchdringung öffentlicher und privater Räume im Kontext von Flucht und Migration fokussieren, dies ist nur eines von zahlreichen möglichen Beispielen.5 Im Rahmen von Flucht werden temporäre Räume geschaffen und wieder verlassen. Aus Notwendigkeit wird im Freien übernachtet, staatliche Massenquartiere und Lager für geflüchtete Menschen machen deutlich, dass nicht allen Personen ein Recht auf private Räume zugestanden wird.6 Der Bericht des syrischen Autors Assaf Alassaf über die Unterbringung von 80 Personen in einer ehemaligen Turnhalle in Deutschland verweist auf die Diffusion privater und öffentlicher Räume im Rahmen von Flucht und Migration (vgl. Burckhardt 2016). Der Autor erzählt über die Stationen seiner Flucht aus Syrien. Er hielt sich in Mauretanien und Libanon auf, bevor er wegen eines Stipendiums nach Deutschland einreisen und in der Folge dort Asyl beantragen konnte. Über die Unterbringung in einer Turnhalle in Berlin-Zehendorf berichtet er mit den Worten: »Natürlich keinerlei Privatheit, das nicht.« (Burckhardt 2016)
G reen , G reen G rass of H ome Der Verlust des Zuhauses sowie Flucht und Migration sind zentrale Themen im Werk von Maja Bajević. Im Jahr 1967 in Sarajewo geboren entschied sie sich nach der Schulzeit für ein Kunststudium in Paris. Als während ihrer Ausbildung in Paris der Krieg in Bosnien und Herzegowina begann, konnte sie nicht mehr in ihre Wohnung in Sarajewo zurück, nach Kriegsende musste sie feststellen, dass ihre Besitztümer verschwunden waren und das Apartment von ihr fremden Menschen bewohnt wurde. Vergeblich versuchte sie in einem Gerichtsverfahren, ihre Wohnung zurückzubekommen (vgl. Vittese 2008: 61). Die Künstlerin beschreibt den Verlust der Wohnung, die sie von ihrer Familie übernommen hatte, mit den folgenden Worten: »Home inhabits us as much as we inhabit it. We identify ourselves with places and these places punctuate our lives. With their loss, by choice or force, we lose what we lived in them.« (Bajević 2008: 61) Ihre Formulierung macht deutlich, dass nicht nur eine Wohnung, sondern auch Erinnerungsstücke, die für die eigene Identität und Geschichte 5 | Für Angestellte, die im Haushalt ihrer Arbeitgeber_innen wohnen, fungiert das Daheim ebenfalls nicht als Raum des Schutzes und des Rückzugs, sondern als bezahlter Arbeitsplatz, der oftmals keine Privatsphäre bietet (vgl. Kalwa 2007: 210 f.; vgl. Lorenz/ Kuster 2007: 262). 6 | Nicht nur das Recht auf private Räume, auch der Schutz persönlicher Daten gilt nicht für alle Menschen in gleicher Weise: Während in Reaktion auf Effekte digitaler Überwachung zahlreiche Initiativen den Schutz persönlicher Daten fordern, werden im Kontext von Flucht und Migration persönliche Dinge und Handydaten durchsucht (und beispielsweise bei Asylverfahren amtlich dokumentiert).
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stehen, vom Verlust betroffen sind. Ihre Auseinandersetzung mit dem Verlust ihres eigenen Zuhauses wird in der mehrteiligen Werkgruppe Green, Green Grass of Home 7 deutlich, deren Titel auf einen Song von Tom Jones referiert. Der Songtext erzählt von einer Person, die davon träumt, nach Hause zurückzukommen und von ihrer Familie umgeben zu sein (vgl. Songtexte.com o. J.). Abb. 1: Maja Bajević, Green, Green Grass of Home, 2002, in Zusammenarbeit mit Emanuel Licha, Videoinstallation (17′4″)
Videostill: Maja Bajević
Am Beginn des Projekts stand der Wunsch, die Erinnerung an die verlorene Wohnung bei der Produktion eines Videos aufleben zu lassen. Emanuel Licha (Maja Bajević’ damaliger Partner) filmte die Künstlerin, während sie über ihr ehemaliges Apartment erzählt. Zu sehen ist eine Wiese, wo die Künstlerin den imaginären Grundriss ihrer ehemaligen Wohnung mit Schritten abgeht und die einzelnen Zimmer und deren Einrichtungsgegenstände detailliert beschreibt. Sie schreitet von einem fiktiven Raum zum nächsten und erzählt ihre Erinnerungen (vgl. Licha 2002: 58). Im Hintergrund gehen Menschen ihrer Wege. Das Video bildet die Basis des folgenden Projektteils: Für die Performance und Installation Green, Green Grass of Home – the Construction (Ausstellung Paradiso Perduto, Piazza Cavour, Rimini, Italien, 2002) zeichneten die beiden Künstler_ 7 | Green, Green Grass of Home (2002), in Zusammenarbeit mit Emanuel Licha, Videoinstallation (17′43″), Videostills, Installation im öffentlichen Raum (vgl. Vittese 2008: 61 f.).
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innen den Grundriss der Wohnung in Originalgröße auf den Vorplatz des Ausstellungshauses und bedeckten diese Fläche mit Grasziegeln. Auf Liegestühlen verbrachten sie dort die Zeit bis zur Ausstellungseröffnung, in der Folge stand die Rasenfläche abends den Passant_innen als Aufenthaltsort zur Verfügung (vgl. Bajević 2008: 61 f.).8 Alle, die die Rasenfläche nutzten (inklusive der Künstlerin selbst), waren allerdings den Blicken der Vorbeigehenden ausgesetzt.9 Das Zuhause wurde zu einem Raum, diesen Blicken ausgesetzt ist. Maja Bajević macht in der Reinszenierung ihrer Wohnung nicht nur die Aufarbeitung des Verlusts ihres Zuhauses öffentlich sichtbar, sondern stellt den neu geschaffenen Raum zur Nutzung zur Verfügung. Auf diese Weise fungiert das Zuhause nicht mehr als Schutz- und Rückzugsraum, sondern muss erinnert und temporär vor aller Augen neu geschaffen werden (vgl. Bajević 2002: 43; Licha 2002b: 70)10. In den unterschiedlichen Inszenierungen des Wohnungsgrundrisses (als Video und als Installation im öffentlichen Raum) wird deutlich gemacht, dass durch den Verlust des Zuhauses, durch Vertreibung und Flucht die Bereiche des Öffentlichen und Privaten diffundieren.
Women at Work – U nder C onstruction Die Performance Women at Work – Under Construction, eine Kooperation von Maja Bajević und fünf aus Srebrenica geflüchteten Frauen11, ist Teil des Zyklus Women at Work12 . Während die National Gallery of Bosnia and Herzegovina sich im Umbau befand, bestickten die Beteiligten die Abdeckung des Baugerüsts. Das halbtransparente Gewebe der Abdeckung war Träger der Stickereien, hin8 | Der rekonstruierte Grundriss findet noch ein zweites Mal Verwendung: Für die Ausstellung Construction of Situations (Galerie im Taxispalais, Innsbruck, 2002) werden die Wände der Wohnung in verkleinertem Maßstab nachgebaut. Emanuel Licha und Maja Bajević lassen sich in diesem Nachbau stehend fotografieren (Smile, Fotografie, 2002; vgl. Licha 2002: 59). 9 | Hier ist eine Parallele zur Videoarbeit Green, Green Grass of Home festzustellen: Die Videoarbeit wurde ebenfalls im öffentlichen Raum gedreht, im Hintergrund sind vorbeigehende Menschen zu sehen. 10 | Maja Bajević setzt sich im Dialog mit Emanuel Licha mit der Thematik des Verlusts des Zuhauses in künstlerischen Arbeiten und Gesprächen auseinander, dies ist im Katalog … and other stories dokumentiert (vgl. Bajević 2002). 11 | Fazila Efendic, Zlatija Efendic, Hatidza Verlasevic, Munira Mandzic und Amira Tihic. Das gleiche Team führt in der Folge noch die Performances Women at Work – The Observers (2000) und Women at Work – Washing Up (2001) durch (vgl. Bajević o. J.). 12 | Der dreiteilige Zyklus wurde in den Jahren 1999 bis 2001 an unterschiedlichen Orten durchgeführt (vgl. Vittese 2008: 46–53).
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ter dem Netzgewebe waren schemenhaft die stickenden Personen sichtbar. Die Motive stammten aus den ehemaligen Häusern der Teilnehmerinnen, die das Massaker von Srebrenica überlebt und ihre Häuser verloren hatten: Während des Massakers von Srebrenica (im Jahr 1995) wurden geschätzte 8000 Menschen (hauptsächlich Männer und Jungen) von serbischen Truppen ermordet, obwohl die Stadt unter dem Schutz der UN-Friedenstruppen stand. Die Personen, die sich zum Zeitpunkt des Überfalls in Srebrenica befanden, waren in den vorangegangen Jahren aus den umliegenden Dörfern und Städten in die Stadt geflüchtet, weil sie auf den Schutz der Friedenstruppen vertraut hatten (vgl. Wölfl 2016). Die Aktion stellt ein temporäres Hinterlassen von Spuren im Stadtraum und ein Einschreiben marginalisierter Geschichte(n) dar. Von den Akteurinnen der Performance, die ihren Alltag mit der Heimarbeit der Stickerei13 und auf Demonstrationen für ihre verstorbenen Verwandten verbrachten, wurde die Fassadenabdeckung eines in Umbau befindlichen Gebäudes genutzt, um ihre Lebensrealität und ihre Arbeit zum Thema zu machen und auf diese Weise den öffentlichen Raum mitzugestalten. Indem sie Motive aus ihren ehemaligen Häusern in das Gewebe sticken, machten sie den Verlust ihres Zuhauses und ihre Trauer zum Thema. Abb. 2: Maja Bajević, Women at Work – Under Construction, 1999, Performance
Fotodokumentation: Haris Memija, Dejan Vekic, Maja Bajević 13 | Näh- und Stickereiarbeit stellt für viele aus Srebrenica geflüchtete Frauen (die keine Pension erhalten, weil ihre verstorbenen Männer nicht identifiziert werden konnten) die einzige Einkommensquelle dar.
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Abb. 3: Maja Bajević, Women at Work – Under Construction, 1999, Performance
Fotodokumentation: Haris Memija, Dejan Vekic, Maja Bajević
»I feel homeless . Thrown out.« 14 Maja Bajević platziert sich und die Performerinnen in einer erhöhten Position auf dem Gerüst der im Umbau befindlichen Fassade der National Gallery of Bosnia and Herzegovina, gearbeitet wird hinter dem semitransparenten Gewebe der Fassadenabdeckung. Auf den Performancefotografien sind nicht nur die farbigen Musterungen der Stickereien zu sehen, hinter dem durchscheinenden Gewebe werden auch die Arbeitenden erkennbar (vgl. Bajević o. J.). Durch die Anbringung der Stickarbeiten an der Fassadenabdeckung werden mit dem Zuhause und dem Privaten konnotierte Arbeitsformen genutzt, um Trauer und Verlust des Zuhauses zur Diskussion zu stellen. Als Konsequenz kann die Aktion als Öffentlichmachen von Verlust und Trauer unter Rückgriff auf weiblich konnotierte Arbeitsformen gelesen werden (vgl. Pejić 2002: 191). Ich möchte als alternative Lesart zur Diskussion stellen, dass die Platzierung der Stickereien an der Fassadenabdeckung auf die Diffusion der Bereiche des Öffentlichen und Privaten im Rahmen von Vertreibung und Flucht verweist. Die Lesart des ›Öffentlichmachens‹ von Verlust und Trauer würde das 14 | Diese Aussage von Maja Bajević entstammt ihrem Katalog … and other stories (Bajević 2002: 43).
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Vorhandensein einer privaten Sphäre voraussetzen, aus der die Thematik an die Öffentlichkeit getragen werden kann. Gebäudefassaden (wie auch Fenster und Türen) fungieren als Begrenzung des Innenraums und als Öffnung zum Außenraum, sie trennen, begrenzen und verbinden gleichzeitig (vgl. Hauser 2005: 317; Schäffner 2010: 144). Seit Walter Gropius’ Glasfassade des Bauhauses in Dessau (1925) wird die Transparenz von Gebäudefassaden angestrebt, indem großflächige Fassadenbereiche mit Glas ausgestattet werden. Diese ermöglichen gleichzeitig Einblick in den Innenraum (auch auf die bauliche Konstruktion) und Überblick über den Außenraum und werden zu »Schnittstellen zwischen Innen- und Außenraum« (Pejić 2002: 181). Die Durchführung der Stickereiarbeit an der Fassadenabdeckung verweist nicht nur auf die dichotome (geschlechtlich codierte) Konzeption von Öffentlichkeit und Privatheit, sie stellt deren Dualität infrage, indem sie die gegenseitige Durchdringung der beiden Bereiche verdeutlicht. Analog zu Maja Bajević’ Arbeit Green, Green Grass of Home wird im Stadtraum ein temporärer Erinnerungsort hergestellt, der das verlorene Zuhause zum Thema hat. Wenn das Daheim durch Flucht oder Vertreibung verloren gegangen ist, verschwimmen die starren Grenzen der öffentlichen und privaten Sphären. Auf einem Fluchtweg mit vielen Stationen werden provisorische Räume geschaffen und wieder verlassen. Das Zuhause fungiert nicht mehr als sicherer Ort der Geborgenheit, sondern vielmehr als Raum, der erinnert wird, der (temporär) neu geschaffen werden muss (vgl. Bajević 2002: 43; Licha 2002b: 70). Die räumlich erhöhte Position auf dem Baugerüst ermöglicht den Akteurinnen den Überblick über die Umgebung und setzt sie gleichzeitig dem Betrachtetwerden aus. Die Abdeckung der Fassade als semitransparentes Gewebe trägt die Stickereien, die auf das verlorene Zuhause verweisen, hinter dem netzartigen Stoff sind die Akteurinnen gleichzeitig sichtbar und geschützt, um ihrer (Erinnerungs-)Arbeit nachzugehen. Die Fassadenabdeckung fungiert als Schnittstelle zwischen Innen- und Außenraum. Maja Bajević und ihre Mitarbeiterinnen nutzen diese räumliche Position, um im Changieren zwischen Transparenz und Verhüllung, zwischen Zeigen und Verdecken einen temporären Erinnerungsort herzustellen, der nicht nur minorisierte Positionen sichtbar macht, sondern auch auf die Durchlässigkeit der Grenze zwischen privaten und öffentlichen Räumen im Kontext von Flucht und Migration verweist.
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»Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche« Can Gülcü im Gespräch über politische Kulturarbeit und Grenzüberschreitungen in einer von Ungleichheit geprägten Gesellschaft Anita Moser
»Der Konflikt ist der wesentliche Kern einer freien und offenen Gesellschaft«, betont der US-amerikanische Bürgerrechtler Saul D. Alinsky bereits 1971 in seinem Buch Rules for Radicals. Auf diese Aussage und das Motto »Harmonija, na ja …« Bezug nehmend lud das Kulturfestival WIENWOCHE 2015 unter der Koleitung von Can Gülcü Kulturschaffende ein, zu »stören, um zu verändern!« (vgl. WIENWOCHE 2015: 3). Diese Perspektive auf künstlerisch-kulturelle Praxis als Möglichkeit produktiver Störung lässt sich mit einem agonistischen Demokratieverständnis in Verbindung bringen. Demzufolge bilden Widerstreit und Dissens die unerlässliche Basis einer Demokratie, wobei insbesondere künstlerische Praktiken differente Perspektiven aktivieren, in den hegemonialen Diskurs intervenieren und Räume des Widerstands schaffen können (vgl. Mouffe 2014: 136). Kunst müsse die Logik des Konsenses irritieren, so Jacques Rancière, worin auch ihr politisches Potenzial liege. Dabei sei anzuerkennen, dass die Kunst ihre eigene Politik habe, deren »Form der Wirksamkeit […] primär im Verwischen von Grenzen [besteht], in der Neuaufteilung der Beziehungen zwischen Räumen und Zeiten, zwischen dem Realen und dem Fiktiven« (Höller/Rancière 2007: o. S.). Das Verwischen von Grenzen, Aufzeigen neuer Perspektiven und Möglichkeiten, vor allem aber auch Momente der Unsicherheit und des Konflikts spielen in Gülcüs Verständnis von politischer Kulturarbeit eine wesentliche Rolle. In einer von Ungleichheiten geprägten Gesellschaft gehe es im Grunde immer darum, wie er im folgenden Gespräch betont, »diejenigen, die Ausschlüsse produzieren, mit denjenigen, die von Ausschlüssen betroffen sind, in ein Verhältnis zu setzen. Und das kann, solange die Ausschlüsse passieren, nur ein
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konfliktreiches Verhältnis sein«. Radikalität beginnt für ihn als Kulturarbeiter dort, wo man auch in Konflikt mit sich selbst gerät, eigene Grenzen überschritten werden, es anfängt wehzutun. Geboren in Bursa in der Türkei, arbeitet Gülcü seit geraumer Zeit in Österreich als Kulturschaffender, Lehrbeauftragter und Aktivist an den Schnittstellen verschiedener Kunstformen und politisch-partizipativer Kulturarbeit mit Fokus auf politischen und sozialen Machtverhältnissen. Er war u. a. gemeinsam mit Katharina Morawek Teil des Leitungsteams der Shedhalle Zürich, einem Produktions- und Vermittlungsort, an dem sich Kunst, diskursives Vorgehen und politisches Engagement kreuzen. Von 2012 bis 2015 leitete er gemeinsam mit Radostina Patulova und Petja Dimitrova (bis 2014) die WIENWOCHE. Das seit 2012 jährlich im September zu verschiedenen Ausschreibungsthemen stattfindende Kulturfestival experimentiert mit der Verschmelzung von kreativen Praktiken und Aktivismus und versteht Kulturarbeit als ein Einmischen in gesellschaftliche, politische und kulturelle Debatten – mit dem Ziel, diese sichtbar zu machen und voranzutreiben. Dabei sollen künstlerische und kulturelle Praxen erweitert und für alle in der Stadt lebenden sozialen Gruppen zugänglich gemacht werden (vgl. Website WIENWOCHE). Anhand unterschiedlicher im Kontext der WIENWOCHE umgesetzter Projekte sprach Gülcü beim Symposium Bis dahin und (nicht) weiter? Künstlerisch-kulturelle Befragungen von Grenzen in Salzburg im November 2016 über politisch engagierte Kunst und Kulturarbeit als Formen radikaler Grenzüberschreitungen. Anknüpfend an diesen Vortrag fand das folgende Gespräch statt.
M it künstlerischer und kultureller A rbeit G e wohntes und G elerntes infr age stellen AM: Bei deinem Vortrag in Salzburg hast du politische Kunst als jene Art von künstlerischer Arbeit beschrieben, die nichts Geringeres im Sinn hat, als am gesellschaftlichen Wandel zum Wohl aller teilzuhaben, weshalb sich insbesondere die Mächtigen dafür interessieren. Kannst du diese Aussage präzisieren? CG: Die Idee des ›Zum-Wohl-Aller‹ geht auf einen spezifischen ideologischen Blickwinkel zurück. Gesellschaftlicher Wandel zum Wohl aller meint aus meiner Perspektive, die Gesellschaft dahingehend zu beeinflussen oder zu transformieren, dass alle Zugang zu allen Ressourcen haben, alle gleiche Rechte haben, alle die gleiche Möglichkeit, sich zu artikulieren, und dabei spielt auch künstlerische und kulturelle Arbeit eine Rolle. Damit meine ich aber nicht eine belehrende Form künstlerischer Arbeit, die nur Inhalte vermitteln will, sondern sehr wohl auch politische Arbeiten, die Konflikte auslösen wollen, die Gewohntes und Gelerntes infrage stellen.
»Radikalität findet dor t statt, wo ich meine eigenen Regeln breche«
AM: Also Politik im Sinne von Jacques Rancière, der darunter den Dissens über eine auf dem Ausschluss der Anteillosen basierende Ordnung versteht? Eine Politik, die – wie er betont – nicht darauf zu beschränken ist, die Ausgeschlossenen in die Gesellschaft zu integrieren, sondern bei der es vielmehr ganz grundsätzlich darum geht, das Problem des Ausschlusses sichtbar zu machen. CG: Ja, das ist das, was ich mit Konflikt meine. Letztlich geht es darum zu sagen, es gibt ein Missverhältnis, wobei die Sichtbarmachung allein nicht genügt. Sichtbarmachung ist ein Teil der politischen Arbeit, aber im Grunde geht es darum, diejenigen, die Ausschlüsse produzieren, mit denjenigen, die von Ausschlüssen betroffen sind, in ein Verhältnis zu setzen. Und das kann, solange die Ausschlüsse passieren, nur ein konfliktreiches Verhältnis sein. Im Grunde ist es ein Kampf um die Bühne, auf der wir gleichberechtigt sprechen können. Gleichberechtigt sprechen im politischen Sinne heißt, gleichberechtigt entscheiden zu können. Die Sichtbarmachung allein ist ›schön‹, aber ich behaupte, dass die allermeisten Menschen ohnehin wissen, welche Ausschlussverhältnisse in der Gesellschaft da sind, zu diesen sehr wohl auch stehen – und damit ihre Superiorität behaupten möchten. Zu zeigen, welche Ausschlüsse es gibt, wie rassistisch, sexistisch oder homophob eine Gesellschaft ist, reicht einfach nicht. Der Konflikt, von dem ich spreche, ist auch kein künstlerischer oder kultureller, es ist ein politischer, da es um die Ressource Macht geht. AM: Über die reine Repräsentationskritik hinausgehend hat politische Kulturarbeit also auch konkrete Schritte zu setzen, die in die Strukturen hineinwirken? CG: Ja, aber ich würde sagen, dass es bei Institutionen, die nicht in ihrer Entstehung bereits das Ziel verfolgen, eine gewisse in der Gesellschaft vorhandene Breite zu repräsentieren, nicht leicht ist. Dazu wäre eine Neugründung notwendig. Beispielsweise in einem bürgerlichen Theater über Repräsentationspolitiken Ausschlüsse zu thematisieren, ändert nichts an den Strukturen. Es ist immer noch so, dass, wenn auch mal eine Schwarze Schauspielerin auf der Bühne steht, die zweite Migrantin im Haus wahrscheinlich die Putzfrau oder die Buchhalterin ist. Es geht um eine grundlegende Veränderung von Institutionen, der Strukturen, des Personals – und das ist wie bei allen Rechten, nichts, das man geschenkt bekommt. Ich halte nichts von Geschenken der Diversitätspolitik. Rechte erkämpft man sich. Und das ist eine Frage von Strategien, auch von künstlerischen und kulturarbeiterischen Strategien. AM: Zu diesen Strategien zählen die von dir im Vortrag angesprochenen ›radikalen Grenzüberschreitungen‹. Was ist darunter zu verstehen?
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CG: Damit meine ich Grenzüberschreitungen, die mir und anderen wehtun. Indem ich mich in eine Art von ›Gefahr‹ begebe, über das Gewohnte und Bekannte hinausgehe, indem ich mich in eine Situation bringe, in der mir etwas entgleitet und ich meine eindeutige Position nicht mehr behalten kann. Indem ich mich z. B. an einen Ort begebe, wo ich nicht die ›Hoheit‹ habe und ich derjenige bin, der völlig von außen kommt. Oder indem ich Menschen zum Gespräch einlade, die eine ganz andere Meinung vertreten als ich, die sexistische und rassistische Aussagen machen. Ich versuche, sie zwar zu konfrontieren, aber auch ihre Positionen auszuhalten und Teil der Arbeit werden zu lassen, auch wenn es wehtut. Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Gesetze und Regeln breche. AM: Es geht also um Unsicherheiten? Darum, sich für Unsicherheiten zu öffnen, diese sichtbar zu machen und ihnen Platz einzuräumen? CG: Ja, das sind auch die Räume, wo politisches Handeln möglich wird. AM: Und wo etwas Neues entstehen kann. CG: Genau. In einer Gesprächssituation mit Menschen, die nicht meine politische Formierung haben und aus ganz anderen Kontexten kommen, könnte ich immer wieder auf Begriffe, Formulierungen, Praxen hinweisen, die meinem Verständnis nach ›nicht richtig‹ sind. Aber das bringt nicht so viel, weil auf so einer Basis kein gemeinsames Nachdenken und keine gemeinsamen Projekte möglich sind. Es geht nicht darum, jemanden zu sich herzuholen, sondern sich auf jemanden hin zu bewegen – und das bedeutet auch, auszuhalten, unsicher zu sein, sich zu ärgern und das nicht gleich zu formulieren. Es kann auch bedeuten, über eigene Geschmacksgrenzen zu gehen. AM: Wie kann ich mir das konkret vorstellen? CG: Es ist ja nicht so, dass ich wahnsinnig auf türkische Volksmusik stehe. Bei der WIENWOCHE hatten wir aber viele Veranstaltungen mit türkischer Volksmusik, Pop, traditioneller Musik, immer jedoch in einem Bruch mit Formaten, die ganz anders funktionieren. Es ist in Ordnung, als privilegierter, gebildeter ›Kulturhackler‹ und Festivalleiter, was ja eine sehr ambivalente Mischung ist, sich selbst und den Gästen etwas anzubieten, das kein Privileg und kein symbolisches Kapital bringt, sondern etwas davon wegnimmt. Bei Gazino Royal, einer Abschlussveranstaltung der WIENWOCHE, standen Menschen, die von der Mehrheitsgesellschaft vielfach als ›kulturfern‹ bezeichnet werden und hier vor 40 Jahren angekommen sind – also Gastarbeiter_innen –, auf der Bühne und sangen Musik von früher. Dazwischen gab es eine Moderation, die viel
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politischer war als das Konzert selbst, die den ›Integrationsschmäh‹ und damit auch einen Bruch hineinbrachte. Als ›kulturfern‹ werden ja oft Leute bezeichnet, die einfach eine andere Kulturproduktion haben, die viele aus der Mehrheitsgesellschaft gar nicht erreicht. In einem türkeistämmigen Milieu schauen sich Menschen sehr viele Serien an – darin werden über drei Stunden höchst verwobene Geschichten erzählt. D. h., sie konsumieren sehr viel Kultur, jedoch nicht in den Theatern, weil dort offenbar nicht die Geschichten erzählt werden, die sie interessieren. Da muss man sich fragen, ob die Theater was falsch machen. Sind sie zu teuer, zu unverständlich, zu uninteressant, zu wenig an anderen Kulturtechniken interessiert? Wenn von ›Kulturferne‹ die Rede ist, geht es immer auch um Fragen der Wertigkeit, also welche Formen von Kultur mehr wert sind als andere. Abb. 1: Abschlussabend von WIENWOCHE 2014 mit Gazino Royal Viyana und musikalischen Highlights der Gastarbeiter_innen-Kultur
Foto: © WIENWOCHE/Drago Palavra
AM: Als Beispiele ›radikaler Grenzüberschreitungen‹ hast du auch Projekte genannt, in denen Kunst benutzt wird, um damit Politik zu machen, etwa indem bewusst Gesetze übertreten werden, was jedoch aufgrund des Kunstkontexts keine rechtliche Verfolgung nach sich zieht. CG: Alles, was wir sehen, erleben, analysieren, findet in wahnsinnig widersprüchlichen, ambivalenten Verhältnissen statt. Damit zu arbeiten – und beispielsweise ein Gesetz zu brechen, um etwas sichtbar zu machen –, ist eine Möglichkeit politischer Kulturarbeit. Das Projekt WahlweXel jetzt! gab vom
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Wahlrecht ausgeschlossenen Menschen die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben. Das geschah in Form öffentlicher Diskussionen und einer Tauschaktion des Briefwahlformulars zwischen den Wahlberechtigten und den Nichtberechtigten. Das war ein Verstoß gegen das Wahlgeheimnis, was in den Medien auch skandalisiert wurde und zu parlamentarischen Anfragen führte, aber als Kunstprojekt deklariert genoss die eigentlich politische Grenzüberschreitung einen gewissen Schutz. Abb. 2: Am 25. September 2013 spazierten rund 300 WahlweXler_innen vom Wiener Kulturzentrum WUK zum nächstgelegenen Postkasten, um die Wahlkarten einzuwerfen
Foto: © WIENWOCHE/Drago Palavra
AM: Ein fast schon historisches Kunstprojekt zur repressiven österreichischen und europäischen Migrationspolitik ist die Containeraktion Bitte liebt Österreich von Christoph Schlingensief, die 2000 im Rahmen der Wiener Festwochen stattfand (vgl. Lilienthal/Philipp 2000). Die Aktion wurde von Rechten wie Linken massiv kritisiert. Wie beurteilst du das Projekt? Sind da Grenzen überschritten worden, die nicht überschritten hätten werden dürfen? CG: In dem Projekt sind unterschiedlichste Grenzen überschritten worden. Ich sehe es – im Gegensatz zu vielen anderen, mit denen ich mich darüber ausgetauscht habe, auch jenen, die den Container damals im Rahmen der Proteste gegen die schwarz-blaue Regierung gestürmt und besetzt haben – im Rückblick betrachtet insgesamt recht positiv. Es hat damals viele Menschen, die auf unterschiedliche Art und mit je eigener Perspektive am Thema Asyl- und Mi-
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grationspolitik interessiert waren, in Konflikt miteinander gebracht, mit Äußerungen und Protesten dagegen und dafür. Das hat sehr gut funktioniert. Und vielleicht funktioniert so ein Projekt auch nur dann, wenn man in manchen Punkten weniger Sensibilität auf bringt, also in Bezug auf die Rollen und Entscheidungen, wer und was wie repräsentiert ist, auf die Selbstdarstellungspraxis von Schlingensief und die der involvierten Akteur_innen, in Bezug auf die Frage, wer im Rahmen des Projekts sprechen kann und wer nicht. AM: Es ist ein Projekt, das undemokratisches Verhalten und demokratiepolitische Konflikte inszenierte und Vertreter_innen entgegengesetzter Positionen als Darsteller_innen involvierte, aber nicht unbedingt in Strukturen hineingewirkt hat. CG: Ich würde nicht sagen, dass das Projekt gar nicht in Strukturen hineingewirkt hat. Es ist ein Referenzpunkt für alle geworden, die Projekte zur Migrations- und Grenzpolitik machen. Das Zentrum für politische Schönheit, um eines der jüngeren Beispiele zu nennen, ist ja sehr stark von Schlingensief beeinflusst. Natürlich hat sein Projekt an den Strukturen der Grenzpolitik nichts verändert, aber es hat sicher ein paar Menschen politisiert, dahingehend vielleicht, dass sie sich Fragen wie ›Wer darf hier sprechen und wer nicht?‹ stellten.
I m G renzr aum z wischen P olitik und › echter ‹ K unst AM: Ich möchte auf die von dir angesprochenen ›Geschenke der Diversitätspolitik‹ zu sprechen kommen. Wie würdest du in diesem Zusammenhang die WIENWOCHE positionieren? CG: Zweischneidig. Ich würde sagen, die WIENWOCHE ist ein klassisches Diversitätsprojekt, also das, was ich kritisiere. Die Stadt Wien als Fördergeber kann sich damit repräsentativ schmücken und sagen, dass in Wien neben diesen und jenen Projekten auch die WIENWOCHE stattfindet und damit das ›Segment Migration‹ abgedeckt ist. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch so, dass die WIENWOCHE konkrete Handlungsspielräume eröffnet. Sie ist eine Institution in dem Sinn, dass sie für einen bestimmten Zeitraum zugesicherte finanzielle Mittel hat. Die Frage ist aber, was passiert mit dem Wissen, das die WIENWOCHE generiert, mit der Professionalisierung einzelner Personen – der Künstler_innen, der Menschen, die in der Produktion arbeiten, der Leiter_innen. Nicht symbolisch, sondern ernst gemeinte Diversitätspolitik würde bedeuten, dass alle diese Menschen in anderen Institutionen landen, weil man sie da händeringend sucht. Das passiert aber nicht, weil die kulturpolitische Annäherung an solche Projekte die ist, dass sie symbolisch-repräsentativ sein sollen und nicht ein Zwischenschritt hin zu einer Veränderung
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der Institutionen selbst. Wenn man Brüche in der gewöhnlichen institutionellen Praxis haben möchte, muss man auch die entsprechenden Menschen in die Institutionen holen. Es ist zwar nicht so, dass ›eine lesbische Frau mit Migrationshintergrund‹ besseres Theater macht als ein ›weißer 1, alter Mann‹. Das wäre wahnsinnig schematisch. Aber es macht einen Unterschied, ob Personen, die Diskriminierungserfahrungen haben oder die aus anderen Kämpfen kommen, etwas zu sagen haben oder nicht. Die Person macht ihren Job vermutlich einfach anders. AM: WIENWOCHE als Vorzeigeprojekt der Stadt Wien bestätigt gewissermaßen, dass jedes System seine Brüche, Differenzen, Abweichungen produziert, duldet oder auch fördert, sie gleichzeitig aber auch vereinnahmt und dadurch in ihrem ›widerständigen‹ Potenzial schwächt. CG: Bei der WIENWOCHE haben wir auch selbst unsere eigenen Brüche produziert, was diese Vereinnahmung vielleicht erschwert hat. Wir waren von Anfang an nicht sehr daran interessiert, dass unsere Projekte in den Medien im Feuilleton als Kunstprojekte diskutiert werden. Uns war wichtig, dass die Projekte in der Chronik, im Stadtleben landen – und zwar mit ihrer politischen Aussage. Damit übernimmt man als Kultureinrichtung eine Aufgabe, die vielleicht oft nicht als ihre eigentliche angesehen wird. Statt Einzelpositionen sichtbar zu machen oder repräsentativ bestimmte Personen in den Vordergrund zu ›spülen‹, war uns wichtig, auf verschiedene Konfliktthemen in der Gesellschaft hinzuweisen und diese in jenen Foren, die eher wahrgenommen werden, repräsentiert zu wissen. Dadurch nimmt man sich natürlich etwas, z. B., dass man im künstlerischen Feld ernst genommen wird. AM: Du sprichst damit die Grenzen zwischen Kunst und Politik in Hinblick auf ihre feldspezifischen Anerkennungs- und Legitimierungsmodi an. Politik arbeitet mit klaren Forderungen, Kunst hingegen mit Komplexität und Abstraktion. Politische Wirksamkeit spießt sich mitunter mit Regeln der Anerkennung im Kunstfeld. CG: Genau das ist das Spannungsfeld, gleichzeitig aber auch das Spannende. WIENWOCHE ist immer wieder mit Kritik bedacht worden, etwa, dass es sich um eine ›DIY-Birkenstock-WIENWOCHE mit Mitmachaktivitäten‹ handle, aber ›echte‹ Kunst in den ›echten‹ Kultureinrichtungen stattfände. Das hat natürlich mit Abwertung zu tun. So einer Kritik ist aber wahnsinnig schwer 1 | Der Begriff weiß, klein und kursiv geschrieben, ist – wie er im vorliegenden Text verwendet wird – ein von Schwarzen Theoretiker_innen entwickelter analytischer Begriff, um weiße Dominanz- und Machtverhältnisse und damit verbundene Privilegien und Rassismen zu bezeichnen.
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zu entgegnen aus dem gesellschaftspolitischen Selbstverständnis der WIENWOCHE heraus mit ihrem Anspruch an spezifische Produktionsbedingungen trotz wenig Geld: nämlich Eigenproduktionen über einen längeren Zeitraum zu entwickeln, mit ordentlich bezahlten Mitwirkenden, mit dem Ziel, künstlerisch Interessierte ebenso wie gesellschaftstheoretisch und politisch Interessierte anzusprechen. Dahin zu kommen, das Maximum an ›künstlerischer Qualität‹ und das Maximum an diskursiver Durchschlagskraft in einem Gleichgewicht zu halten, war das Anliegen. Es ging nie um Sichtbarkeit oder Repräsentationspolitik in dem Sinne, dass nun auch Migrant_innen, LGBTIQ, Schwarze Aktivist_innen Kulturarbeit machen, sondern vielmehr darum, Strategien auszuprobieren, mit denen wir in gesellschaftliche Diskurse intervenieren können. Abb. 3: Ausschnitt aus dem Projekt Graus der Geschichte mit dem FPÖ-Politiker Jörg Haider als ›Geist der Geschichte‹
Foto: © Wienwoche/Drago Palavra
AM: Kannst du ein Beispiel für ein Projekt nennen, wo das deiner Meinung nach gut gelungen ist? CG: Graus der Geschichte, das Eröffnungsprojekt der WIENWOCHE 2015. Das war eine Art Persiflage, eine kritische Auseinandersetzung mit nationaler Geschichtsschreibung, mit dem geplanten Haus der Geschichte. Welche Geschichten werden darin erzählt? Welche nicht? Welche Figuren kommen vor? Welche werden wie behandelt? Damit hat sich die Gruppe malmoe auseinandergesetzt, indem sie eine Geisterbahn im Wiener Prater umgebaut hat.
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Darin kamen verschiedene historische Figuren als Puppen – als ›Geister der Geschichte‹ – vor, unterlegt wurde das Ganze mit Ton- und audiovisuellen Spuren von Künstler_innen. Vor der Geisterbahn, die drei Tage offen war, gab es immer eine Warteschlange mit Menschen, die extra wegen des Projekts hingekommen sind, und ebenso Menschen, die den Prater besucht hatten. Es funktionierte aufgrund einer sehr einfachen Idee der Umsetzung. Es braucht ein Format, dass die Barriere durchbricht zwischen Formen, zwischen Diskursen, zwischen Milieus. Dadurch bricht man auch Gewohnheiten auf. AM: Mit welchen Grenzziehungen bist du als Kulturarbeiter konfrontiert? Wo siehst du im Moment die massivsten Grenzen, an die du in der Praxis immer wieder stößt? CG: Die Beschaffenheit der Förderstrukturen. Das betrifft sehr viele Menschen, die in einem weniger etablierten Feld arbeiten. Die Strukturen sind so, dass entweder punktuell eine bestimmte Arbeit gefördert wird oder Gefäße für Projekte wie die WIENWOCHE oder andere Festivals geschaffen werden. Gleichzeitig geht ein Großteil der öffentlichen Kulturförderungen in große Institutionen. In unserem Feld wird es auch in Zukunft schwierig bleiben. Wir haben nicht mehr Geld, de facto wird es nicht mehr werden, und das hat zur Folge, dass kaum Neues gegründet werden kann, dass keine neuen Strukturen entstehen können, in denen mit Entscheidungsfreiheit und Ressourcen experimentiert werden kann. Es ist generell relativ schwierig, Nischen zu finden, Handlungsräume zu finden und selbst welche zu schaffen. AM: Umverteilung und Verteilungsgerechtigkeit – zwischen großen Einrichtungen bzw. der ›Hochkultur‹ und freier Kulturarbeit – ist ein viel diskutiertes Thema. Es soll nicht das eine gegen das andere ausgespielt werden, aber man könnte schon auf Basis programmatischer Entscheidungen evaluieren und sich fragen, warum beispielsweise eine Opernproduktion, die frauenfeindliche Klischees ungebrochen tradiert, immer noch gefördert werden soll. CG: Absolut. Förderrichtlinien anzupassen und voraussetzungsvoller zu machen und Kulturentwicklungspläne zu erarbeiten, um politisch vorzudefinieren, wohin Förderungen fließen, ist wichtig. Auch zu hinterfragen, was mit den paar Millionen an Förderungen – z. B. bei den Kulturtankern – gemacht wird. Warum passiert das eine, warum das andere nicht oder warum auf diese Weise? Die Unterscheidung zwischen etablierter und freier Szene finde ich schwierig und ist auch nicht immer leicht zu treffen. Und in einem gegebenen Rahmen in einer etablierten Institution zu arbeiten hat ja auch Vorteile, man hat Ressourcen, andere Möglichkeiten, andere Rahmenbedingungen. AM: Wo gibt es Durchlässigkeiten oder leicht veränderbare Grenzen?
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CG: Beispielsweise in Bezug auf Öffentlichkeit. Es ist sehr viel einfacher geworden, sichtbar und hörbar zu werden. Vor allem auch dann, wenn man mit bestimmten Privilegien – wie Bildung oder einer gewissen Herkunft – ausgestattet ist und repräsentativ ›etwas hermacht‹.
»D ie macht vollere P osition abgeben heisst : macht einmal !« AM: Sprechen wir noch über Benennungspraktiken. ›Migrant_in‹ wird zum Teil als oppositionelle Selbstbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber verwendet. Wie hältst du es mit diesem Begriff oder anderen wie ›Menschen mit Migrationshintergrund‹, ›migrantische Kulturarbeit‹ etc.? Durch Benennungen werden Subjekte und Phänomene immer auch auf eine spezifische Art markiert und ›geandert‹. Wie kann oder soll beispielsweise im Kulturbereich gesprochen werden? CG: Ich habe kein Rezept dafür, es kommt auf den Kontext drauf an. Ich verwende die Begriffe immer ganz unterschiedlich und manchmal ist es mir, ehrlich gesagt, auch egal. Den Begriff ›Migrant_in‹ verwende ich sehr wohl, ›Migrationshintergrund‹ verwende ich kaum, denn je nach Umfeld und Machtverhältnissen, in denen ich mich bewege, ist dieser Hintergrund meistens auch der Vordergrund. Ethnische Zuschreibungen versuche ich zu vermeiden. Im Grunde diskutieren wir – wenn wir von Inter- und Transkulturalität sprechen – immer das Österreichischsein, sogenannte ›Normalität‹, also was es heißt, österreichisch zu sein. Ich verwende in verschiedenen Zusammenhängen auch pejorative Begriffe wie ›Tschusch‹, ›Kanake‹, als Scherz ebenso unter Freund_innen wie auch hier und da, um zu provozieren. In den Kulturdebatten der letzten Jahre hat sich hier viel geändert. Womit ich aber wirklich aufmerksam sein will, ist der neue Identitarismus, also mit Selbstdefinitionen wie ›People of Color‹ oder eben auch ›Migrant_in‹ so zu argumentieren, dass es den Anschein macht, Identität sei monolithisch und immer schon gegeben und nicht auch und vor allem Ergebnis ökonomischer Verhältnisse. Man kann von Menschen sprechen, die armutsbetroffen sind oder geringeren Bildungszugang haben. Das können ja Migrant_innen wie Nicht-Migrant_innen sein. Ein ›weißer alter Mann‹ kann genauso keinen Zugang zum Landestheater haben. Er kann in verschiedener Hinsicht machtvollere Positionen haben, in vielen aber auch nicht. Verallgemeinernde Zuschreibungen sagen noch nichts über dieses Verhältnis aus. Wir müssen über Klassenverhältnisse reden, über die sehr viel weitergetragen wird. Darüber, wen man meint, wenn man von ›Migrant_in‹ spricht. Privilegierte Migrant_innen wie mich? Oder den ›Jugobuben‹ aus einem sogenannten Problembezirk? Wir sind oft einfach sehr unpräzise und müssen schauen, worum es konkret geht.
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Man bleibt in einer Wolke der Zuschreibungen, der Verallgemeinerungen und verschleiert sehr viele Machtverhältnisse. AM: María do Mar Castro Varela sprach in ihrem Vortrag in Salzburg davon, dass sie vor allem einen Bedarf in der Entwicklung von ›Grenzwissen‹ sieht, Wissen der Menschen, die in den ›Borderlands‹ leben und weder von der einen, noch von der anderen Seite anerkannt werden. Sie betonte das Potenzial von hybrider Identität und Migration als Möglichkeit zur Befreiung von der ›Heimat‹ im Sinne des Konzepts eines geografisch fixierten Orts. Auch der Migrationsforscher Erol Yildiz (2015) betont das positive Potenzial von Prozessen der Entortung und Neuverortung, Mehrfachzugehörigkeiten, (Grenz-)Biografien und daraus entstehenden postmigrantischen Räumen bzw. Transtopien im Sinne von Zwischenräumen. Wie und wo siehst du diese Potenziale – im politischen Sinn, aber auch persönlich? CG: Sowohl das ›Grenzwissen‹ wie das ›Postmigrantische‹ sind die Normalität. Dabei muss man nicht selbst migriert sein. Es ist da und findet in Räumen der Begegnung statt – im öffentlichen Raum, in einem Wohnviertel, im Wohnhaus, in der Schule, in der Arbeit. Sie sind eine Chance, fehlen aber auch einem Teil der Bevölkerung. Dass ich in einem Land wie Österreich, in dem seit über 50 Jahren Menschen aus der Türkei in einer relativ beachtlichen Zahl leben, fast immer erklären muss, wie man meinen Namen ausspricht, ist nicht mein Defizit. Das ist das Defizit der Gesellschaft, die weder das Bedürfnis nach noch die Möglichkeiten für Begegnungen mit Menschen anderer Herkünfte hatte. Unterschiedliches ›Grenzwissen‹, kulturelles, inter- oder transkulturelles Wissen ist in Stadtteilen, wo verschiedene Menschen mit nicht so großen ökonomischen Unterschieden zusammenleben, normal. Dieses Wissen fehlt einem Teil der Bevölkerung – und wie es vermittelt werden könnte, ist wirklich ein schwieriges Thema. AM: Die Wiener Brunnenpassage (vgl. Pilić/Wiederhold 2015) ist so ein Vermittlungsort. Haben künstlerisch-kulturelle Orte dieser Art ein besonderes Potenzial in Hinblick auf die Gestaltung solcher Begegnungsräume? CG: Ja, weil sie unterschiedliche Menschen erreichen können. Die Brunnenpassage ist wirklich ein außerordentliches Projekt, in der Form einmalig. Mit sehr wenigen Ressourcen geschieht dort sehr viel. Wenn man aus dem Kulturfeld hinausgeht, kann man sagen, dass das gesamte Bildungssystem so ein Begegnungsraum ist. Aber noch mal zurück zur Kultur: Ich wüsste nicht, warum nicht auch das Volkstheater, das Landestheater, das Burgtheater oder das Kino um die Ecke solche Räume sein können. Der Punkt ist, dass das Wissen, das die Brunnenpassage, die WIENWOCHE und verschiedene andere Projekte, die in Nischen arbeiten, generieren, in die Institutionen einfließen muss. Es geht
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noch nicht einmal darum, dass dieses Wissen in die Gesellschaft reinfließt, sondern dass die Institutionen selbstkritisch danach fragen müssen, was ihnen fehlt. In Gesprächen mit Kulturpolitiker_innen und Kulturschaffenden fällt auf, wie sehr die Menschen über andere sprechen und kaum über sich selbst. Allein der Versuch, mit Menschen mit anderen Herkünften zu arbeiten, reicht für viele, um zu sagen, ›Ich bin eh schon auf der richtigen Seite‹. Was man aus der Brunnenpassage lernen kann, ist, dass es notwendig ist, unterschiedlichste Menschen in die Arbeit und in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Von außen und teilweise von oben zu versuchen, Grenzen zu durchbrechen und Durchlässigkeiten zu schaffen, funktioniert einfach nicht. Wenn das Wissen nicht von Anfang an in eine Institution mit- und eingebracht wird, muss sie wahnsinnig viel verlernen und lernen. Das ist eine Frage der Ressourcen, aber vielleicht auch eine Frage des Zurücktretens und Sagens, jemand anders macht das vielleicht besser als ich. AM: Also auch eine Frage der Reflexion privilegierter Positionen und des Abgebens von Privilegien, wie es Gayatri Spivak als eine der ersten postkolonialen Theoretiker_innen von Angehörigen der weißen Mehrheitsgesellschaft, aber auch von Elitemigrant_innen gefordert hat? Du bezeichnest dich als ›Elitemigrant‹. Inwieweit gibst du Privilegien ab? Wie kann ich als weiße Universitätsangestellte Privilegien abgeben? CG: Man kann Machtpositionen abgeben. Die machtvollere Position abgeben heißt: macht einmal! Also Vertrauen haben, sich selbst rausnehmen, Rahmenbedingungen schaffen, in denen andere Menschen sich zurechtfinden können, zur Entwicklung eines Projekts mit Laien oder Menschen in der Professionalisierungsphase zusammenarbeiten statt mit professionellen Künstler_innen. D. h. aber auch, dass man selbst oft viel mehr Arbeit hat, dass man für ein Projekt viel mehr Zeit braucht, dass man Dinge tut, die nicht so toll sind – z. B. an Budgets für die Projekte anderer arbeitet oder ›Hilfsarbeiten‹ übernimmt. Privilegien abgeben heißt, sich für etwas einzusetzen, Dinge zu tun, die weniger Spaß machen, die in Hinblick auf die eigene Karriere weniger bringen.
L iter atur Höller, Christian/Rancière, Jacques (2007): Entsorgung der Demokratie. Interview mit Jacques Rancière. Online unter www.eurozine.com (10.10.2017). Lilienthal, Matthias/Philipp, Claus (2000) (Hg.): Schlingensiefs Ausländer raus. Bitte liebt Österreich. Dokumentation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Mouffe, Chantal (2014): Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin: Suhrkamp.
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Pilić, Ivana/Wiederhold, Anne (Hg.) (2015): Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft – Transkulturelle Handlungsstrategien am Beispiel der Brunnenpassage Wien. Bielefeld: transcript. WIENWOCHE 2015/Verein zur Förderung der Stadtbenutzung (Hg.) (2015): Programm WIENWOCHE 2015. Harmonija, na ja … Wien: Rema-Print. Yildiz, Erol (2015): Postmigrantische Perspektiven. Auf bruch in eine neue Geschichtlichkeit. In: Yildiz, Erol/Hill, Marc (Hg.): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft. Bielefeld: transcript, S. 19–36.
Websites Gazino Royal. Online unter www.wienwoche.org/de/316/gazino_royal_viyana (10.10.2017). Graus der Geschichte. Online unter www.wienwoche.org/de/364/graus_der_ geschichte (10.10.2017). WahlweXel jetzt! Online unter www.wahlwexel-jetzt.org/ (10.10.2017). WIENWOCHE. Online unter www.wienwoche.org/de/wienwoche/ (10.10.2017). Zentrum für politische Schönheit. Online unter https://www.politicalbeauty.de/ (10.10.2017).
Die Kluft zwischen diskursiver Behauptung und Umsetzung Renzo Martens Institute for Human Activities und dessen Zusammenarbeit mit dem Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise Siri Peyer
Zur Einführung eines öffentlichen Vortrags des Künstlers Renzo Martens zu seinem neuesten Langzeitprojekt begrüßt Yori Albrecht das Publikum mit folgender Anekdote.1 Er habe erst kürzlich ein Geschenk von Martens erhalten, und zwar eine Kunstedition: Eine Schachtel, deren Inhalt er beim ersten Öffnen für einen ›Schrumpfkopf‹ gehalten hätte. Erst beim späteren Durchlesen der Packungsbeilage hätte er realisiert, dass es sich um einen Kopf aus Schokolade handle und dass er diesen essen könne. Sein Kommentar dazu: »It’s sort of a nasty gift, it makes you think.«2 Auch der Kunsthistoriker T. J. Demos beschreibt seine erste Reaktion auf die oben beschriebene Edition aus Schokolade folgendermaßen: Einen beunruhigenden Aspekt der Schokoladenskulptur erkenne er darin, dass diese essbar sei. Bei einem Kauf würde impliziert, dass nicht nur die afrikanische Schokolade vertilgt werden könne, sondern auch die damit einhergehende Arbeit und in einem weitesten Sinne sogar die_der Hersteller_in (vgl. Demos 2015: 83). Der Kritiker Kolja Reichert nennt die Edition ein »Selbstportrait eines Afrikaners als Riesenpraline« (Reichert 2015: 54). Bei ebendiesem Schokoladenkopf handelt es sich um eine Edition, die neben weiteren Skulpturen aus Schokolade im Rahmen der von Martens initiierten künstlerischen Aktion Institute of Human Activities (IHA) in unter1 | Yori Albrecht ist Direktor des De Balie in Amsterdam, wo der Vortrag von Renzo Martens am 19. November 2016 stattfand, dieser war Teil der Gesprächsreihe Beeldbepalers (von der Mondrian Stiftung finanziert) und fand während des Filmfestivals idfa statt (https://vimeo.com/192262127). 2 | https://vimeo.com/192262127, 04:05 (03.05.2017).
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schiedlichen Galerien und Museen in Europa und Nordamerika seit 2014 gezeigt wird. Das mehrjährig angelegte Projekt, eine Zusammenarbeit mit der KASK – School of Arts in Gent, wurde im Juni 2012 auf einer Palmölplantage in Boteka 800 Kilometer entfernt von der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa gegründet. In der Projektbeschreibung stellt Martens die diskursive Behauptung auf, Ziel des IHA sei die »Gentrifizierung des Dschungels«3. Die im Projekt angelegte Kritik an der ökonomischen Ungleichheit solle nicht nur symbolische, sondern auch materielle Auswirkungen haben.4 Die Demokratische Republik Kongo habe er als Ort der Umsetzung gewählt, weil dort die Folgen des Kolonialismus, die bis heute anhaltende ökonomische Segregation, exemplarisch für die gesamte Südhalbkugel erkennbar seien. Zur Inauguration des Projekts fand an zwei Tagen im Juni 2012 ein Eröffnungsseminar zum Thema Gentrifizierung in Boteka statt. Eingeladen wurden sowohl Ortsansässige (es sind 200 lokale Gäste erschienen) als auch nationale und internationale Kurator_innen, Aktivist_innen und Theoretiker_ innen.5 Richard Florida, bekannt durch seine (höchst umstrittene) Publikation The Rise of the Creative Class (2012), wurde per Videolink zugeschaltet. Während seiner sechs Minuten dauernden Live-Übertragung per Satellit machte er Werbung für sein Modell der sogenannten »drei Ts«: Technologie, Talent und Toleranz. Seine im Kontext etwas zynisch anmutende Empfehlung für das anwesende kongolesische Publikum lautete folgendermaßen: You can be an experiment! The world is very hungry. The world wants a new model that isn’t driving wages down, that isn’t a race to the bottom. And in the Congo you have the opportunity to show that. In a place that isn’t the wealthiest on the planet, a place that has to struggle, you can make a new model. 6
3 | Martens’ Argumentation zur Funktion des IHA verändert sich im Laufe des Projekts. Nach den ersten paar Jahren sieht er ab etwa 2016 davon ab, das Ziel des IHA als »Gentrifizierung des Dschungels« zu benennen. Fortan operiert er zunehmend mit dem Begriff und der Funktion des White Space, welches er auf ehemaligem Plantagengebiet errichten will. 4 | Vgl. www.renzomartens.com (03.08.2017). 5 | Eingeladen wären sowohl Gäste aus dem Kongo als auch aus Europa: T. J. Demos (Kunsthistoriker), Marcus Steinweg (Philosoph), René Ngongo (Aktivist), Eyal Weizman (Architekt, nur via Skype), Jérome Mumbanza (Ökonom), Nina Möntmann (Kuratorin), Katrien Pype (Anthropologin) und Emmanuel Botalatala (Künstler). Der Städtetheoretiker Richard Florida gab via Skype über Satellit einen Keynote-Vortrag. Das Eröffnungsseminar war eine Koproduktion der 7. Berlin Biennale. 6 | Transkribiert von der Autorin; vgl. https://vimeo.com/81178245 (27.07.2017).
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Schon bei dieser Eröffnungsveranstaltung des IHA wird die komplexe Ambivalenz des Projekts deutlich sichtbar: Einerseits benutzt Martens auf satirische Weise das Vokabular der Gentrifizierung – das normalerweise für die Beschreibung von Stadtentwicklungsprozessen, die dazu führen, dass die ursprünglich dort Ansässigen vertrieben werden, herangezogen wird –, andererseits hat Martens den Anspruch, auf überhaupt nicht zynische Weise etwas zu verändern. Sein erklärtes Ziel ist, dass kongolesische Plantagenarbeiter_innen, die nicht von ihrem Lohn leben können, zukünftig mithilfe ihres künstlerischen Engagements ihren Lebensunterhalt verdienen. Die sicherlich auf Provokation ausgerichtete Kommunikationsstrategie geht von einer Analyse politisch engagierter Kunst und der damit einhergehenden Erkenntnis aus, dass diese trotz hehrer Absichten keine realen Veränderungen herbeiführe. Martens erkennt dabei folgendes Muster: Ein_e Künstler_in der westlichen Welt entwickle typischerweise kritische Projekte in einem nicht-westlichen Entwicklungsland mit dem Ziel, Unterprivilegierten neue Formen der Partizipation und Repräsentation näherzubringen. Doch das fertige Produkt werde schlussendlich in den Kunstmärkten, Galerien, Institutionen und Magazinen der reichen Nordhalbkugel ausgestellt, diskutiert und verkauft. Der Anspruch kritischer Kunstpraxen sei nur insofern kritisch, als dass sie die Aufmerksamkeit auf das zu kritisierende Objekt lenken, anstatt die eigene Beziehung zum Missstand zu thematisieren. Kritische Kunst würde Not als Ware verhandeln (vgl. Martens/Żmijewski 2012: 149).
D as I nstitute of H uman A ctivities als eine P r a xis der I nstitutionskritik Diese von Martens zugespitzte Aussage kann und wird oft als weiterer Beitrag zur Diskussion rund um die Institutionskritik gelesen: Inwiefern bestätigt und reproduziert kritische Kunst das bestehende System (vgl. Martens/Żmijewski 2012; Steyrl 2010; Fraser 2011; Holmes 2007; Raunig/Ray 2009). Eine Gefahr der Institutionskritik sei beispielsweise, so Andrea Fraser, dass diese, obwohl sie das eigene System durchaus kritisch durchleuchte, trotzdem oftmals den ökonomischen Nutzen ihrer eigenen Produktion außer Acht lasse (vgl. Fraser 2012: 31). Durch die provokative Behauptung, den Dschungel zu gentrifizieren, werde – so Martens an diesen Diskurs anschließend – eben genau der ökonomische Nutzen seiner Kunst thematisiert. Denn anstatt ein kritisches Kunstwerk zu produzieren, welches trotz der inhärenten Kritik unvermeidlich in die Kreisläufe des Kunstmarkts aufgenommen wird, werden die generierten Ressourcen in eine andere Richtung und damit in andere Aktivitäten kanalisiert.7 7 | Vgl. www.humanactivities.org/en/about-3/ (27.07.2017).
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So weit Martens, zurück zu Fraser: Diese glaubt nämlich, in solchen diskursiven Behauptungen über den Nutzen und/oder die sozialen Auswirkungen von Kunst eine immer größere Kluft zwischen den symbolischen Systemen – wie die Arbeit diskursiv verortet wird und welche gesellschaftlichen und politischen Forderungen sie stellt – und den sozialen und materiellen Bedingungen ihrer Entstehung und Rezeption zu erkennen. Die Institutionskritik hätte die Aufgabe, nicht nur die Selbstrepräsentation, die bei kritischen Kunstprojekten oftmals mit einer Narration von Radikalität und/oder Revolution operiere, als Ort der Auseinandersetzung zu beurteilen. Vielmehr sei es ihre Aufgabe, die eigenen widersprüchlichen Verstrickungen in situ zu konfrontieren (vgl. ebd.: 30). Diesem Einwand folgend, ist es unerlässlich, den Blick weg von Martens’ Interpretationsanleitungen und dem daraus entstehenden Diskurs zu wenden und zu fragen, was genau diese sozialen und materiellen Konditionen beinhalten und wie sie repräsentiert werden. Zu Beginn des Institute für Human Activities (IHA) waren die Aktivitäten in Boteka als sogenannter »Community Outreach« (Martens 2013: 74) konzipiert, dieser beinhaltete beispielsweise Kunsttherapie-Workshops mit dem israelischen klinischen Psychologen Rony Berger. Berger ist spezialisiert auf die Behandlung von Personen aus Katastrophengebieten. Er versuchte, in seiner Workshopserie die Methoden, die er zur Therapierung von Tsunami- und Erdbebenopfer anwendet, für die Plantagenarbeiter_innen zu modifizieren. Dabei sollten die Schwierigkeiten, die aus der langjährigen Arbeit auf den Plantagen resultieren, adressiert werden (ebd.). In Boteka arbeitete er mit den Kindern von Plantagenarbeiter_innen und ließ diese Zeichnungen von ihren Zukunftsvisionen anfertigen.8 In Zusammenarbeit mit dem Van Abbemuseum wurde zudem ein Residency-Programm für internationale Künstler_innen, Aktivist_ innen oder Schriftsteller_innen, aber auch für Gäste aus Kinshasa oder aus der Umgebung umgesetzt. Auch Personen, die sich selbst nicht als Künstler_innen bezeichnen, sollten dabei die Möglichkeit erhalten, vor Ort zu arbeiten (z. B. »Visionary Seers« oder »Heiler_innen«).9 Ein Jahr später im Sommer 2013 wurde das Institut von der in Kanada stationierten Plantagenbesitzerin Feronia Inc. – diese hat die Plantage 2009 von Unilever abgekauft – gezwungen, den Standort zu verlassen.10 Darauffolgend 8 | Vgl. www.humanactivities.org/en/iha-blank/iha-restarts-at-new-secret-location/ (03.08.2017). 9 | Im ersten Jahr waren folgende Personen zu Gast: Emmanuel Botolatala, Eléonore Hellio, Sapin Makengele, Dominique Malaquais, Mega Mingiedi, René Ngongo, Katrien Pype und Bebson de la Rue. 10 | Ein Jahr nach der Eröffnung im Sommer 2013 blockierte die Firma Feronia, Betreiberin der Palmölplantage, öffentliche Straßen, verleugnete das Abkommen mit dem IHA und zerstörte dessen Siedlung. Zudem konfiszierte sie Kunstwerke, die während eines
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wurde das IHA in Lusanga im Süden der Demokratischen Republik Kongo wiedereröffnet. Dieses Mal kauften Martens und seine Projektpartner_innen das Land. Der neue Standort befindet sich ausgerechnet auf dem Land, wo ehemals Unilever seine ersten Palmölplantagen betrieben hatte. Dort startete 2014 das »kritische Curriculum«: Workshops, an denen interessierte Anwohner_innen von Lusanga teilnehmen konnten. Der holländische Kritiker Laurens Otto hielt beispielsweise einen Vortrag über den White Cube und es wurden Videos von Bruce Naumann, John Baldessari oder Dan Graham gezeigt.11 Im Rahmen dieser Workshops wurde der Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise (CATPC) gegründet, ein Zusammenschluss von ungefähr zehn Frauen und Männern, die sich lokal als Kleinbäuer_innen, Handwerker_innen, Tagelöhner_innen oder Händler_innen über Wasser halten. Unter Anleitung der aus der 600 Kilometer entfernten Hauptstadt Kinshasa stammenden Künstler_innen Michel Ekeba, Eléonore Hellio und Mega Mingiedi erarbeiteten die CATPC-Mitglieder in Bildhauerworkshops skulpturale Selbstporträts aus dem lokal im Überfluss vorhandenen Material Lehm.12 Die Teilnehmer_innen wurden aufgefordert, ihre Biografien, persönliche Erinnerungen und kritische Kommentare zu ihren Lebensumständen als Inspiration für Selbstporträts und weitere sinnbildliche Figuren zu benutzen (vgl. Hellio 2016: 62). In einem nächsten Schritt wurden diese Skulpturen digital 3D gescannt, danach zerstört und der Lehm wiederverwendet, die digitalen Daten anschließend per Mail nach Europa in die Büros des IHA in Amsterdam gesendet. In Amsterdam verarbeitete ein 3D-Drucker die digitalen Daten zu Negativformen weiter. Mittels dieser Formen konnten die Skulpturen aus Schokolade der belgischen Firma Barry Callebaut – dessen Kakao mehrheitlich aus dem Kongo stammt – gegossen werden.13 Jeder Prototyp einer Skulptur – deren Größe etwas mehr Kunsttherapie-Workshops mit dem israelischen Therapeuten Rony Berger und Kindern von Plantagenarbeiter_innen entstanden waren. Die Kunstwerke zeigten persönliche Zukunftsvisionen der Kinder. Diese Vorkommnisse zwangen das IHA, die Siedlung und die Community, mit welcher sie eng zusammenarbeitete, zu verlassen; vgl. www.human activities.org/en/iha-blank/iha-restarts-at-new-secret-location/ (03.08.2017). 11 | Die Videos waren Leihgaben des Van Abbemuseum in Eindhoven. 12 | Michel Ekeba ist Teil des aus Kinshasa stammenden (Performance-)Kollektivs Kongo Astronauts. Eléonore Hellio ist eine französische Künstlerin aus Strassburg, welche seit 2006 in Kinshasa lebt und dort an der Académie des Beaux-Arts unterrichtet. Mega Mingiedi ist ein kongolesischer Künstler, der an der Académie des Beaux Arts in Kinshasa und an der École des Arts Décoratifs in Strassburg studierte. 13 | In Artikeln wird immer wieder erwähnt, dass einzelne Plantagenarbeiter_innen, die dem CATPC beigetreten sind, genau diesen Kakao pflücken, der später zur verwendeten Schokolade verarbeitet wird, aber in den Beschreibungen des IHA wird mehrheitlich von
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als einen Meter beträgt – wurde in einer Edition von fünf hergestellt. Zudem wurden kleinere in Schachteln verpackte Schokoladenköpfe (11 × 11 × 11 cm) als unbegrenzte Edition produziert, käuflich für 39,95 Euro. Abb. 1: CATPC Künstler Jeremie Mabiala mit der Skulptur The Art Collector im White Cube in Lusanga
Foto: Thomas Nolf
Die materielle Transformation und die mit den Editionen einhergehende Vervielfältigung der Skulpturen können als ein Teil von Martens’ diskursivem Metakonzept verstanden werden: Seine Entscheidung, die Skulpturen in Schokolade reproduzieren zu lassen, enteignet gewissermaßen die Autor_innen, der Transfer in eine andere Materialität überlagert den ursprünglich erarbeiPalmöl-Plantagenarbeiter_innen gesprochen. Callebaut bezieht jedoch ihren Kakao aus Westafrika u. a. von einer Plantage der Gruppe Blattner Elwyn, deren Besitzer in Martens’ Film Episode III. Enjoy Poverty auftaucht.
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teten Ausdruck mit der Narration von Martens’ Kritik am globalen Rohstoffhandel. Die Materialität der Schokolade erinnert zudem in einer sarkastischen Weise an den Konsum der westlichen Welt und der damit einhergehenden Ausbeutung des Südens. Die Reproduktionen zeigen – durch den 3D-Scanund Druckprozesses herbeigeführt – auch eine andere Oberflächenstruktur auf. Diese Verfremdung macht den maschinellen Produktionsprozess sichtbar und erzeugt eine zusätzliche ästhetische Distanz zum Ursprungsort der Produktion. Ein weiterer Aspekt, der die Distanz zu Lusanga verstärkt, ist die Empfindlichkeit von Schokolade gegenüber Wärme. Bei Temperaturen über 26 Grad beginnt sie zu schmelzen. Dies bedeutet, dass die Skulpturen in Lusanga nur ein paar Tage überleben würden, während sie in westlichen Kunstinstitutionen, die über Klimaanlagen verfügen, mehrere Jahrzehnte erhalten werden können. Die einzelnen CATPC-Mitglieder haben also die Skulpturen, wie sie in Europa und Amerika in Ausstellungen präsentiert werden, selbst nie gesehen. In Ausstellungsbesprechungen wird darüber berichtet, dass keine_r von ihnen jemals Schokolade gekostet hätte. Einzig Mathieu Kilapi Kasiama, der Anfang 2017 anlässlich der Ausstellung im SculptureCenter in Long Island zur Ausstellungseröffnung eingeladen wurde – und dessen Visum zum Erstaunen aller Beteiligten nach unzähligen Formalitäten bewilligt wurde –, erlebte, wie die ursprünglichen Skulpturen nach ihrer Transformation aussehen und wie Schokolade schmeckt.14 Diese rematerialisierten Schokoladenskulpturen werden in Ausstellungen präsentiert und sind verkäuflich. Ziel des IHA ist es, möglichst viele Schokoladenskulpturen zu verkaufen und die dabei gewonnen Profite – nachdem die zuständigen Galerien ihre im Kunstmarkt üblichen 50 Prozent abziehen – direkt zu den Hersteller_innen in Lusanga zurückfließen zu lassen. Bis zum Frühling 2017 wurden die Skulpturen in 19 Einzel- und Gruppenausstellungen in Galerien, Museen und Kunstmessen in Europa und Nordamerika präsentiert. Die Ausstellungen beinhalteten auch einen dokumentarischen Teil, in dem mittels erklärendem Text, Fotografien und/oder Videos die Geschichte und die Organisation des IHA und des CATPC vorgestellt wurden. In einer Ankündigung auf ihrer Webseite gibt das IHA bekannt, dass im Jahr 2015 bereits 2500 Editionen verkauft wurden. Während eines Vortrags zwei Jahre später erzählt Martens, dass die Skulptur The Art Collector drei Mal verkauft worden
14 | Vielleicht ist diese Entfremdung auch mit ein Grund, weshalb in den jüngsten Ausstellungen die CATPC-Künstler_innen dazu übergegangen sind, ebenfalls Zeichnungen auszustellen, so können sie ihre Arbeiten dem Zugriff Martens’ bis zu einer gewissen Weise entziehen, wie beispielsweise in der Ausstellung Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise (Congolese Plantation Workers Art League) im SculptureCenter in New York (29. Januar bis 27. März 2017).
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sei.15 Vom erzielten Umsatz von ungefähr 30.000 Euro seien 9000 Euro Profit direkt in den Kongo zurückflossen. Wieder ein Jahr später ist bereits von einem Profit von 50.000 Euro die Rede, der direkt in den Kongo floss. Bemerkenswert ist, dass in den Ausstellungsrezensionen und auch in den Texten zu den Ausstellungen nicht oder nur sehr am Rande auf die spezifischen ästhetischen Qualitäten der Skulpturen eingegangen wird (vgl. u. a. Charlesworth 2015; Jeffries 2014; Reichert 2015; Stange 2015; Ziherl 2015). Vielmehr begnügen sich die Kritiker_innen mit einer ausführlichen Beschreibung der komplexen Projektstruktur, der Produktionsbedingungen der Skulpturen und der Lebensumstände der CATPC-Mitglieder. Die Rezeption folgt also der diskursiven Behauptung, die Martens vornimmt, indem sie sich vorrangig mit seinem Konzept, seiner Rolle und seinen Intentionen auseinandersetzt. Sie verstärkt somit den Eindruck, dass der Künstler Martens als Aushängeschild für das Projekt notwendig ist und dass dieser Umstand die ungleiche Produktion von kulturellem Kapital weiter reproduziert. Der Kunstkritiker T. J. Demos bringt dieses ungute Gefühl wie folgt auf den Punkt: Martens platziere sich durch die Konzeption des IHA als außergewöhnliche, lenkende Figur (und weißer europäischer Mann), der über seinen Mitarbeiter_innen (schwarze, ›arme‹ Afrikaner_innen) stehe und ihnen durch seine Rolle ihre eigene Befreiung aus ihrer von Missständen geprägter Situation ermögliche. So fände absurderweise ein Reenactment jener Situation statt, welche Martens eigentlich mit dem IHA zu überwinden suche (vgl. Demos 2015: 89).
D ie A mbivalenzen der P r äsentation und R epr äsentation im globalen K unstsystem Nichtsdestotrotz werden die Schokoladenskulpturen der CATPC-Mitglieder ausgestellt und auch von einem (westlichen) Publikum rezipiert. Was wird da genau angesehen und wer spricht dabei? Gemäß Martens’ Galeristen Alexander Koch reagieren die Betrachter_innen meistens »mit Erstaunen« (Koch 2016: 216). Er begründet dies mit den sowohl formalen als auch narrativen Qualitäten und der expressiven Stärke der Objekte. Eine häufige Bemerkung sei, dass die Skulpturen ja gar nicht afrikanisch aussähen, sie würden vielmehr an die europäische Gotik erinnern. Koch erkennt darin ein kulturelles Missverständnis und eine Ignoranz gegenüber der kolonialen Geschichte. Denn die Kolonialzeit und die damit einhergehende Missionierung im Kongo hätten die kulturelle Identität der Kongoles_innen und die ehemals bekannte 15 | Vgl. Vortrag von Renzo Martens am De Balie, Amsterdam, 19. November 2016; https://vimeo.com/192262127 (23.01.2017).
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lokale Tradition der Skulpturenherstellung ausgelöscht und diese mit christlichen Motiven und Erzählungen ersetzt. Diese Geschichte des gewalttätigen Einflusses Europas werde in den Skulpturen widergespiegelt. Koch findet diesen Hintergrund wichtig für die konzeptuelle und ästhetische Bedeutung der Skulpturen: Diese beinhalten einerseits die unterschiedlichen Narrationen, die bei ihrer Entstehung in Lusanga ästhetisch umgesetzt werden, und anderseits die Projektionen der Kunstwelt in Europa. Sowohl der kulturelle Hintergrund der Personen, welche die Skulpturen entwarfen, als auch die Materialität des dabei benutzten Lehms unterscheiden sich in ungewöhnlichem Maße von den kulturellen Hintergründen der Rezipient_innen und der Materialität der Schokoladenreproduktionen. Koch meint, der ästhetische Effekt der Skulpturen könne deshalb nicht als authentisch aufgefasst werden, denn die spezifische, an die Gotik erinnernde Ästhetik vermische sich mit den Qualitäten, die mit Schokolade verbunden werden: Vergnügen, Geschmack und Raffinesse. Darin sieht er eine satirische Referenz sowohl zu traditionellen als auch zu trivialen Qualitäten von Kunst. Abb. 2: Ausstellungsansicht Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise, SculptureCenter, New York, 2017
Foto: Kyle Knodell
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Der Standort des IHA in Lusanga – von Martens als »ground zero« der globalen ökonomischen Ungleichheit bezeichnet – befindet sich auf dem Land, wo bis vor Kurzem die allererste von Unilever errichtete Plantage betrieben wurde. Ein Vertrag mit der belgischen Kolonialbehörde erlaubte es 1911 den Brüdern James und William Lever, auf fünf Gebieten in den kongolesischen Wäldern exklusiv Palmöl anzubauen (auf Land, das den dort lebenden Menschen geraubt wurde), dies mithilfe von Zwangsarbeit. Das Zentrum für den Handel und die Ölfabrik Huileries du Congo Belge lagen in Lusanga, das die Brüder in Leverville unbenannten, wie die Stadt bis Ende der Kolonialzeit hieß. 1930 schließlich schlossen sich Margarine Unie und Lever Brother Ltd. zu Unilever zusammen, einem der ersten Großkonzerne der Welt. Die Plantagen waren und sind weiterhin als Monokulturen organisiert. Während der Kolonialzeit wurden in Lusanga Skulpturen des lokalen Stamms der Pende geraubt und in westliche Museen gebracht, wo sie Anfang des 20. Jahrhunderts Künstler wie Picasso oder Matisse inspirierten. Heute arbeiten die Pende wie die meisten ehemaligen Stammesgruppen weiterhin für globale Rohstoffunternehmen, die Coca- oder Palmölplantagen betreiben – für einen durchschnittlichen Monatslohn von 13 Euro – oder versuchen, sich als Kleinbäuer_innen oder Tagelöhner_innen über Wasser zu halten. Doch in welcher Tradition stehen die von den CATPC-Künstler_innen heute hergestellten Skulpturen? In welcher Verbindung stehen sie mit der Raubkunst aus der Kolonialzeit? In den afrikanischen Sprachen gäbe es kein Wort, das sich sinngemäß mit dem, was wir uns unter Kunst vorstellen, übersetzen lässt, meint der Philosoph Kwame Anthony Appiah (vgl. Appiah 1995: 21). Es muss also angenommen werden, dass die damals geraubten Objekte – die nun in westlichen Museen ausgestellt werden – vor der Kolonisation in anderen politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen eingebettet waren. Nicht als Kunstwerke – die von Expert_innen beurteilt und in Museen aufbewahrt werden müssen – im Sinne eines westlichen Kunstverständnisses, sondern als Artefakte mit vielfältigen (rituellen) Funktionen und damit einhergehenden Praktiken. Es gibt wenige Überlieferungen, welche Rolle diese geplünderten Objekte in ihren jeweiligen Gemeinschaften hatten und/oder haben. Die geraubten Artefakte wurden von der westlichen Welt angeeignet und damit in eine andere Modalität transferiert. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass Martens’ Kooperation mit den CATPC-Künstler_innen nicht auf deren Tradition eingeht, sondern ihnen ein weiteres Mal die Perspektive des westlichen Kunstverständnisses aufzwingt. Denn das Ziel sei es, den Plantagenarbeiter_innen einen direkten Zugang in das westlich dominierte globale Kunstsystem zu verschaffen.16
16 | https://vimeo.com/192262127, 37:59 (24.08.2017).
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Dieses Ziel ist vielleicht für die Ambivalenz gegenüber den Behauptungen und Ansprüchen des Projekts mitverantwortlich: Denn das Kunstsystem, in das die kongolesischen Projektbeteiligten inkludiert werden sollen, ist in sich selbst höchst widersprüchlich: Es profitiert direkt von der zunehmenden Ungleichheit auf der Welt und ist ein gutes Beispiel für einen sogenannten »Winner-take-all«-Markt, der wenige mit großem ökonomischen und symbolischen Kapital ausstattet und den großen Rest in prekären Verhältnissen zurücklässt (vgl. Fraser 2012: 28 f.). Die Filmerin, Kuratorin und Theoretikerin Ariella Azoulay argumentiert in ihrem Text zum CATPC, dass den in der Kolonialzeit geplünderten Objekten der Status eines Kunstwerkes wieder entzogen werden muss, um sie so von den imperialen Vorstellungen über westliche Kunst zu befreien. Nur so könne die Plünderung als ihr Hauptprädikat und als Grundlage für ein anderes Normengefüge entlarvt werden (vgl. Azoulay 2016: 379). Das macht Martens eben gerade nicht, er verstärkt vielmehr den Status des Kunstwerks, vor allem weil er durch die von ihm konzipierte Transformation der Skulpturen diese in einen sehr spezifischen, westlichen Kunstdiskurs überführt. Sein konzeptioneller Überbau thematisiert explizit die Ökonomien der globalen Kunstwelt. Martens will durch die Inklusion der Plantagenarbeiter_innen in die globale Kunstwelt Gerechtigkeit schaffen, dies obwohl deren Lage durch die Kolonisation und der damit einhergehenden Plünderung und Auslöschung ihrer eigenen Kultur verursacht wurde. So ist es bezeichnend, dass sich Martens’ Narration auf die bis heute anhaltende Schuld der Kolonisation und der damit einhergehenden ökonomischen Segregation zwischen Nord und Süd konzentriert und dabei gleichzeitig die aktuelle postkoloniale politische Situation in der Demokratischen Republik Kongo weitgehend ignoriert. Die Plantagenarbeiter_innen aus dem peripheren Süden können als die neue globale Arbeiterklasse verstanden werden. Sie könnten mit dem von Gayatri Chakravorty Spivak geprägten Begriff der Subalternen beschrieben werden: heterogene, versprengte Menschengruppen, die ihre politischen Rechte als Subjekte nicht wahrnehmen können, die über keinen Zugang zu politischen Prozessen verfügen und nicht in der globalen Weltwirtschaft repräsentiert werden. In ihrem Text Can the Subaltern Speak? (1985) beschäftigt sie sich mit der Frage, welche Möglichkeiten des selbstbestimmten Sprechens die Subalternen haben. Denn gemäß Spivak findet ihr Sprechen immer innerhalb der bereits vorherrschenden Machtstrukturen statt und es wird von diesen durchdrungen, ist also mitnichten selbstbestimmt, die Autorin kritisiert dabei die Rolle der sogenannten Expert_innen, also der privilegierten Übersetzer_innen, die mit ihren Übersetzungen die marginalisierte Position der ›Für-sich-selbst-Sprechenden‹ markieren und sich selbst dabei erhöhen (vgl. Spivak 2008: 67 f.).
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D as D ilemma der U nmöglichkeit einer E ins -zu - eins U mse t zung von diskursiven B ehaup tungen Wird Martens in seiner Rolle als Vermittler innerhalb der Projektstruktur des IHA zu einem solchen Experten? Vielleicht bringt ihm diese paradoxe Position den Vorwurf unethischen Handelns ein? Dieser mag sehr wohl berechtigt sein. Gleichzeitig ist die Umwertung respektive Exotisierung ihrer Kunst innerhalb des westlichen Kunstdiskurses wahrscheinlich für die am Projekt beteiligten CATPC-Künstler_innen weitaus weniger alltagsprägend als die Tatsache, dass sie die Einnahmen der verkauften Schokoladenskulpturen in den Anbau eines gemeinschaftlichen Gemüsegartens investieren konnten: Bereits 6650 Kakaopflanzen, 801 Ölpalmen und 944 unterschiedliche Früchtebäume wurden gepflanzt. Diese konkreten materiellen und sozialen Bedingungen vor Ort in Lusanga sind für uns Rezipient_innen aus der Kunstwelt viel schwieriger zu fassen, doch die Involviertheit vor Ort zwingt alle Projektbeteiligten – sowohl Martens und sein Team aus Europa als auch die lokalen Anwohner_innen – dazu, um eine gemeinsame Sprache zu ringen, auch wenn eine Übersetzung der jeweils eigenen Sprachen in die andere nicht vollständig möglich sein wird. Und vielleicht ist dieses Ringen bei aller Ambivalenz bezüglich Instrumentalisierung und Repräsentation ein Moment, der gegenseitige Empathie ermöglicht und so Solidarität und Gleichheit aufscheinen lässt. Es bleibt die Frage, was Martens mit dem IHA beabsichtigt und bewirkt. Geht es ihm um eine selbstreflexive Anerkennung unserer eigenen, bis heute andauernden Verstricktheit in die Kolonialgeschichte? Will er uns die Stimmen der Kongoles_innen vermitteln – die in den neoliberalen globalen Machtstrukturen untergehen –, lässt er sie gar selbst sprechen oder benutzt er sie nur als Statist_innen für seine Kunst? Soll der Dschungel wirklich gentrifiziert werden? Jede eindeutige Antwort wäre wahrscheinlich eine polemische Vereinfachung und Zuspitzung der komplexen und uneindeutigen Verhältnisse. Am Schluss nochmals zurück zu Frasers Diagnose: Die von ihr proklamierte Kluft zwischen den materiellen Bedingungen der Kunst und ihren symbolischen Systemen sei »ein Graben zwischen dem, was eine große Mehrheit von Kunst ist (gesellschaftlich und ökonomisch), und dem, was die jeweiligen Produzenten oder Kritiker_innen behaupten, die Kunst tue und/oder bedeute« (Fraser 2012: 30 [Herv. i. O.]). Sie erkennt dabei als maßgeblichen Ort, an dem sich die Grenze zwischen Kunst und Leben manifestiert – zwischen der ästhetischen und epistemologischen Form, welche die symbolischen Systeme konstituieren, und den praktischen und ökonomischen Relationen, die die sozialen Konditionen bestimmen –, nicht die physische Manifestation der Kunst (wie oftmals behauptet), sondern den Diskurs (vgl. ebd.). Diskursive Behauptungen sind ein Sich-Positionieren anhand von bestimmten Forderungen und Gesten. Diese negieren die widersprüchlichen Verstrickungen und Konflikte in-
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nerhalb von komplexen Gesamtstrukturen, von denen wir alle betroffen sind, indem sie diese in sich opponierenden, idealisierenden und dämonisierenden Positionen, die eingenommen oder abgelehnt werden können, externalisieren. Martens’ diskursive Behauptungen zur Funktion des IHA provozieren viel Kritik, auch weil er seine eigene privilegierte Position innerhalb des Kunstsystems und die damit einhergehende Mittäterschaft im kompetitiven »Winner-take-all«-Kunstmarkt nicht thematisiert. Die konkrete Umsetzung der Zusammenarbeit in der Demokratischen Republik Kongo – die u. a. in einem Landerwerb und einer autonomen Bewirtschaftung von Gemüse- und Fruchtgärten resultiert – wird nicht frei von widersprüchlichen Verstrickungen sein. Das Dilemma der Unmöglichkeit einer Eins-zu-eins-Umsetzung von diskursiven Behauptungen ist wohl nicht zu umgehen. Fraser beendet ihren Artikel trotzdem mit einem optimistischen Ausblick, dem ich mich anschließen möchte: The dreaming, imagining, thinking, saying, writing, representing, making, or performing of anything may be taken, first of all, as an affirmation that what is dreamt, imagined, thought etc., is present within us as a memory, a fantasy, a wish, a representative of an affective state or force, an object that matters to us, or an intra- or intersubjective relationship in which we are, in one way or another, a participant. (Fraser 2012: 32)
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Raum der unüberwindbaren Differenz? Christoph Schlingensiefs Arbeit in Afrika und das Operndorf-Residency 2016 Marcel Bleuler
Im Jahr 2010 legte der deutsche Künstler und Theaterschaffende Christoph Schlingensief den Grundstein für das Operndorf Afrika bei Laongo in Burkina Faso. Der Gründung ging ein längerer Prozess voraus, während dem Schlingensief sowohl den geografischen Ort für den Bau, sein Modell wie auch den gesellschaftlichen Zweck des ›Festpielhauses‹ (so eine frühere Bezeichnung des Projekts) mehrfach verhandelt und angepasst hatte. Ein nicht reibungsloser Prozess, über den die posthum veröffentlichte Textsammlung Ich weiß, ich war’s (2012) Aufschluss gibt. Die sukzessive Inbetriebnahme des Operndorfs erlebte Schlingensief selbst nicht mehr mit. Der Künstler verstarb nach der Grundsteinlegung und der Uraufführung seiner Theaterproduktion Via Intolleranza II (2010), an der verschiedene Personen aus Burkina Faso beteiligt waren und mit der das Operndorf-Projekt in Europa präsentiert wurde. Nach seinem Tod setzte der burkinische, in Deutschland lebende Architekt Francis Keré in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung die Baupläne um. Unter der Direktion von Schlingensiefs Ehefrau Aino Laberenz wurden neben einer Grundschule und Krankenstation Wohnateliers für Arbeitsaufenthalte von Kunstschaffenden errichtet, die seit 2015 im Rahmen eines Residency-Programmes besetzt werden.1 Gemeinsam mit einem fünfköpfigen Team, das in Berlin und in der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou sitzt, stellte Laberenz Personal aus der Umgebung des Operndorfs an, das die Grundschule sowie die Krankenstation heute weitgehend selbstständig betreibt. Für die Residency-Künstler_innen stehen in diesem Sozialgefüge einfache Wohnhäuser zur Verfügung, die sich mitten
1 | Das Residency-Projekt ist auf der Website des Operndorfs ausgeschrieben. Online unter www.operndorf-afrika.com/artist-in-residence/das-programm/ (17.10.2017).
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unter den Unterbringungen des lokalen Personals und in nächster Nähe zum Pausenplatz der Schule befinden. Das Residency-Projekt findet jährlich während einer verhältnismäßig kurzen, etwa zweimonatigen Phase statt. Daher unterscheidet sich das Operndorf die meiste Zeit kaum von einer ›Entwicklungsinitiative‹, die die lokalen Lebensbedingungen mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Förderung von Bildung und Gesundheitsversorgung zu verbessern sucht. In diesem Sinne wird es auch beispielsweise von der Architekturhistorikerin Marlene Rutzendorfer untersucht (2016), die nach den »positiven Impulsen«2 fragt, die das Projekt auf den lokalen Kontext hat. Sie stellt dabei die Bauweise von Francis Keré in den Vordergrund, die betont partizipativ und ›educational‹ sei, insofern, als sie lokale Handwerker_innen in der Herstellung nachhaltiger Mauerwerke und klimatisch günstiger Raumkonstruktionen unterrichtet. Auch das Courtauld Institute of Art in London, das dem Projekt 2016 die Konferenz The Transformative Power of Art widmete, bezeichnete das Operndorf ganz selbstverständlich als »participatory project«3 und setzte es – ähnlich wie die Präsentation des Projekts im Rahmen der von Raphael Gygax kuratierten Frieze Projects, ebenfalls 2016 in London4 – ins Zeichen von ›social transformation‹. Diese Einordnungen klingen zeitgemäß und entsprechen den in der Entwicklungszusammenarbeit in jüngerer Zeit starkgemachten Anliegen von ›capacity building‹ und ›local ownership‹. Und sie wirken irgendwie beruhigend, da die Hinweise auf die burkinische Beteiligung und den zu erwartenden Impact auf den lokalen Kontext die Irritation abfedern, die der Projekttitel Operndorf Afrika auslöst. Ein Titel, der nach einer an Fitzcarraldo gemahnenden, wahnwitzigen, kolonialistischen Vision riecht und die Auferstehung der deutschen Oper in der burkinischen Steppe erwarten lässt. Mit der jüngsten Rezeption geht jedoch auch eine Reibungsfläche verloren, die Schlingensief mit aller Kraft bearbeitete und die gerade Sand in die Mühlen derjenigen Diskurse streut, die Marlene Rutzendorfer oder die Konferenz 2 | Zitiert nach dem Abstract zu Rutzendorfers Vortrag am 11.04.2016 am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Online unter www.ifk.ac.at/ fellows-detail/marlene-rutzendorfer.html (01.11.2017). 3 | Die Bezeichnung »partizipativ« erscheint bereits im Konferenztitel: The Transformative Power of Art. Richard Wagner’s Gesamtkunstwerk and Christoph Schlingensief’s participatory experiment Opera Village Africa (05.–06.02.2016). Online unter http:// courtauld.ac.uk/event/the-transformative-power-of-art (05.11.2017). 4 | Frieze Projects sind Auftragsarbeiten respektive Kollaborationen mit Kunstschaffenden, die im Rahmen der Kunstmesse Frieze präsentiert werden. Zu der von Gygax kuratierten Ausstellung 2016 wurde ein Booklet gedruckt, das die Präsentationen ins Zeichen von »social transformation« stellt (das Booklet liegt dem Autor vor). Online unter https://frieze.com/article/frieze-projects-2016-artists-announced (05.11.2017).
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am Courtauld Institute zumindest implizit perpetuieren. Mit der Bezeichnung ›partizipativ‹ wird in Kunstkontexten ein Paradigma evoziert, das Anfang des 21. Jahrhunderts für demokratische Teilhabe und eine Verhandlung von Ungleichheitsverhältnissen steht. Die mit ›Partizipation‹ verbundenen Diskurse und Praktiken sind vielseitig, zudem haben sie bereits vor einem Jahrzehnt eine kritische Diskussion erfahren, auf die ich noch eingehen werde. Der Begriff meint aber in den meisten Zusammenhängen das In-Gang-Setzen eines Handlungs- oder Entscheidungsprozesses, der auf einem reziproken Austausch zwischen den involvierten Personen basiert (vgl. Bishop 2012; Kester 2004). Das Ziel besteht also darin, einen intersubjektiven Raum zu schaffen, in dem Personen mit divergierenden Voraussetzungen5 gemeinsam agieren können. Ein Raum, in dem gemäß Grant Kester – einem der diesbezüglich diskursführenden Kunsthistoriker_innen – ein lediglich symbolischer Zusammenschluss überschritten wird und eine Transformation oder »Rekonfiguration von Subjektivität« (Krenn/Kester 2013: 10) stattfindet. Im Kontrast zu dieser Implikation streicht Schlingensief im Zusammenhang mit seiner Arbeit in Afrika gerade die Schwierigkeit heraus, Handlungsund Entscheidungsmacht abzugeben, eine neue Perspektive zu gewinnen, und die Verfangenheit in der eigenen Subjektivität zu überwinden. Insbesondere im Kontext der Produktion von Via Intolleranza II (2010) nimmt Schlingensief die Vorstellung von gemeinsamem Handeln vor dem Hintergrund des Ungleichheitsverhältnisses zwischen ihm respektive den europäischen Schauspieler_innen und den burkinischen Protagonist_innen ins Visier. Mit dem Stück äußere er seine Angst, »den verbrüderungsdiskurs ›weiss trifft schwarz‹« mitsamt seinen »alten, auch abgegriffenen argumenten und erlebnissen« weiterzugeben (DVD Booklet: o. S.). Er bezeichnete die Produktion als eine, die keinerlei »Sentimentalität verträgt«, in der »Unverständnis« vorherrsche und bei der es wichtig sei, »zu begreifen, dass wir eigentlich gar nicht zusammenpassen« (Laberenz 2012: 264). Die Unmöglichkeit eines über ›das Eigene‹ hinausführenden Zusammenschlusses betonte Schlingensief im Zusammenhang mit seiner Arbeit in Afrika oder auch in Brasilien immer wieder. In bewusst provokativer Abgrenzung von kritischen Diskursen, die gerade seitens des_der Initiator_in eine sensitive Vorgehensweise fordern (vgl. Bishop 2016; Kester 2011: 29 ff.), bezeichnet er sich in seinen Schriften wie auch im Abschlussmonolog von Via Intolleranza II salopp als »Touristen« (Laberenz 2012: 94). Als eine Figur, die zwar mobil ist und sich räumlich verbinden kann, die aber nicht aus ihrer 5 | Diese divergierenden Voraussetzungen können sich hier auf konkrete Privilegien wie etwa Bildung, (monetäre) Ressourcen oder Mobilität sowie auf symbolische Kapitale wie die Zugehörigkeit zu einer diskursführenden sozialen Gruppe (gegenüber einer schwächer gestellten) beziehen.
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Position des_der Außenstehenden herauskommt und letztlich auch wieder froh ist, zurück nach Hause zu fahren, wo die gewohnten Privilegien, Komfort und Sicherheit bestehen. Anstatt um die Vorstellung einer transformativen Gemeinschaft scheint es Schlingensief also gerade um die Betonung der Unüberwindbarkeit von Differenz und den ihr eingeschriebenen Machtstrukturen zu gehen. Ungleichheit stellt über die Arbeit in Afrika hinaus ein prägnantes und kontroverses Motiv in seinem Werk dar. Insbesondere in Bezug auf seine Projekte mit Menschen, die nicht zur sogenannten »Hochkultur« (ebd.: 166) gehören – etwa Harz-IV-Empfänger_innen in Chance 2000 (Kleinpartei-Gründung, 1998), Asylbewerber_innen in Bitte liebt Österreich! (öffentliche Kunstaktion, 2000) oder Menschen mit Behinderung in Freakstars 3000 (TV-Casting-Sendung, 2002) –, wurde ihm mit vehementer Kritik begegnet.6 Die Logik dieser Kritik beruht auf einem ethischen Standpunkt, der in den Diskursen um Partizipation forciert worden ist: ›Kunstferne‹ Menschen würden durch Künstler_innen wie Schlingensief einer Ausbeutung (»exploitation«, vgl. Bishop 2006) preisgegeben, da sie in einen Betrieb geraten, dessen Vokabular und Regelwerke sie selbst nicht beherrschen, und dabei auch keinen eigenen Profit machen können. Diese Kritik verstärkt sich in Bezug auf Schlingensiefs Zusammenarbeit in Afrika, wo das in der Kolonialvergangenheit fußende und von neokolonialen Abhängigkeitskonstellationen genährte Ungleichheitsverhältnis ins Spiel kommt. Entsprechend beschreibt er in Ich weiß, ich war’s an unterschiedlichen Stellen die Angriffe, die er während der Planung und auch der Grundsteinlegung erfahren hat und die ihn mitunter den Abbruch erwägen ließen (vgl. Laberenz 2012: insbes. 255). Schlingensiefs Schriften bringen ein Ringen darum zum Ausdruck, eine eigene Positionierung zu finden, in einem diskursiven Feld, das von kritischer postkolonialer Reflexion, von politischer Korrektheit und sozialem Engagement bestimmt ist. Es handelt sich um ein Feld, in dem das Fantastische, das Verrückte und Ambivalente kaum einen Platz zu haben scheinen. Ein Feld, das einerseits von scharfsinnigen Kritiker_innen (»die Besserwisser«, ebd.: 184), die die Berechtigung seiner Arbeit in Afrika sowie seine Vorgehensweise grundlegend infrage stellen, und andererseits von westlichen Kulturförder_innen, die in den Augen Schlingensiefs einen paternalistischen »Kultur-Monopolismus« betreiben und dabei den erwähnten Verbrüderungsdiskurs perpetuieren, bestimmt wird. Schlingensief begibt sich dabei auf eine vielschichtige Gratwanderung, über die meines Erachtens in der jüngsten Rezeption zu leicht hinweggesehen wird. Dabei halte ich es für entscheidend, sein Projekt nicht widerstandslos 6 | Diese Kritik zieht sich bis in die jüngste Gegenwart hinein, vgl. beispielsweise Terkessidis 2015: 179–187.
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im Diskurs zur Partizipation aufgehen zu lassen oder es auf das Stereotyp von ›social transformation‹ zu reduzieren, sondern es in Hinblick auf die Ambivalenz zwischen einer Ausbeutung von sozial/global schwächer Gestellten und einer Widerständigkeit gegenüber zu einfach gedachten Vorstellungen von Verbindung und Partizipation genauer anzuschauen. Eine Ambivalenz, die die Dilemmata internationaler (künstlerischer) Zusammenarbeit deutlich hervorbringt und das spezifische Fundament des Operndorfs ausmacht, das es letztlich auch von anderen ›Entwicklungsinitiativen‹ unterscheidet. Diese Gratwanderung will ich im Folgenden diskutieren, um dann die Frage zu stellen, wie es denn nun konkret um den von Schlingensief begründeten Raum steht, in dem Differenz anscheinend unüberwindbar ist. Dazu dienen mir Beobachtungen, die ich 2016 während eines Forschungsaufenthaltes im Operndorf, bei der Moderation von Skype-Gesprächen im Rahmen der Ausstellung Frieze Projects sowie im Austausch mit den beiden Residency-Künstlern Nomwindé Vivien Sawadogo und Pio Rahner gesammelt habe.
S tr ategische D ifferenz Schlingensief wurde zu einer Zeit in Afrika tätig, in der auch das Paradigma der Partizipation eine zusehends kritische Diskussion erfuhr. Im Kunstdiskurs mehrten sich Widerstände gegenüber den mitunter zu einfach gefassten Demokratiekonzepten, die im Zusammenhang mit partizipativer Kunst perpetuiert wurden, sowie gegenüber der in vielen Projekten zelebrierten »togetherness« (Bishop 2004: 57), die kaum die von Projektverantwortlichen behaupteten politischen Ansprüche – geschweige denn eine Überwindung von Machtstrukturen – einlösten (vgl. Bishop 2004, 2006; Hagoort et al. 2005; Miessen 2011).7 Eine solche Distanzierung zeichnete sich punktuell auch im Diskurs zur internationalen Zusammenarbeit ab. So legte z. B. Hannah Reich, eine Theaterwissenschaftlerin und Arabistin, die sich als Spezialistin für Konflikttransformation im Nahen Osten einen Namen gemacht hatte, 2006 eine kritische Diskussion des Prinzips ›local ownership‹ vor, das sie in enge Verbindung mit Praktiken der ›Partizipation‹ setzte (vgl. Reich 2006: 6). Unter der Frage »Partnership, Participation or Patronage?« streicht Reich in ihrem Paper heraus, dass sich verschiedene internationale Projekte selbst als partizipativ bezeichnen, um den Anspruch zu markieren, gegen die eigene Dominanz – also jene der internationalen Initiator_innen – vorzugehen. Die Erfahrung zeige 7 | Während Autor_innen wie Marlene Rutzendorfer oder Institutionen wie das Courtauld Institut den Begriff weiterhin in Umlauf halten, lässt sich bei anderen Autor_innen eine mehr oder minder explizite Abwendung davon feststellen (vgl. beispielsweise: Krenn/Kester 2013; Milevska 2016).
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aber, dass sich diese Dominanz in pragmatisch-organisatorischer Hinsicht wie auch in Bezug auf an Wertvorstellungen gebundene Aspekte kaum überwinden lasse. Bei genauerer Betrachtung würden sich partizipative Ansätze somit auch meist als »Überzeugungsprozesse« (»process of persuasion«, ebd.: 16) erweisen, bei denen die Initiator_innen ihre Grundidee letztlich durchsetzen und damit auch ihre Machtposition untermauern. Auf dieser Basis bezeichnet Reich den Begriff ›participatory‹ als kontraproduktiv und plädiert für eine komplexere Auffassung von internationaler Zusammenarbeit, bei der zuerst einmal gelernt werden müsse, über die Bedingungen der Begegnung und der möglichen Partnerschaft zwischen von außen kommenden Initiator_innen und lokalen Beteiligten nachzudenken. In seiner Arbeit nimmt Schlingensief gerade diese Bedingungen ins Visier. Dabei bringt er eine kritische Haltung zum Ausdruck, die in vieler Hinsicht jener von Hannah Reich ähnlich ist, nur dass sie sich bei Schlingensief nicht direkt erschließt. Im Gegenteil: Mit seiner Betonung der Touristenposition, seinem Beharren auf die Unüberwindbarkeit von Differenz und mit dem Verweis auf die Figur des opernvernarrten Fitzcarraldo8 evoziert er keine kritische, sondern vielmehr eine kolonialistische Geisteshaltung. Auf diese spielte er bereits in seiner früheren Arbeit in Namibia explizit an, die heute in Form des Filmes The African Twintowers (2005–2009) in Umlauf ist, ein dokumentarisch-fiktionalisierender Film, der zuerst in Fragmenten in unterschiedlichen Kontexten ausgestellt und später als 70-minütige Fassung veröffentlicht wurde. The African Twintowers erzählt u. a. die Geschichte eines deutschen Ehepaares, das in Begleitung einer Gruppe exzentrischer Figuren mit dem Plan, ein ›Bach-Festival‹ in Namibia zu initiieren, nach Lüdertiz reist. Mit seinem luxuriösen und gönnerhaften Verhalten wirkt das Ehepaar völlig entrückt von der sozialen Realität, in der es sich bewegt. Die ganze Gruppe, unter der sich auch Schlingensief befindet, scheint komplett von sich selbst eingenommen und zugleich überwältigt von den Townships und den Steppen Namibias. Sie treten in verschiedenen Kostümierungen auf, die mal einer Wagner-Oper und dann einer New-Age-Bewegung entstammen könnten. Ihre Performance lässt eine teilweise absurd anmutende Parallelität zu den sozialen Kontexten in Namibia aufklaffen. Es wird eine Differenz unterstrichen und nicht der Versuch unternommen, diese zu überwinden oder eine gegenseitige Verständigung herbeizuführen.
8 | Die Referenz auf Fitzcarraldo spricht Schlingensief in mehreren Kontexten an, meist im Zusammenhang mit seiner Arbeit in Brasilien im Jahr 2007 (die heute in Form der DVD Der fliegende Holländer [D, 2016] vorliegt) und der Oper in Manaus (vgl. Laberenz 2012: 166).
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Abb. 1: Fünf der insgesamt 14 Protagonist_innen aus Christoph Schlingensiefs Film The African Twintowers (2005–2009) in der namibischen Steppe
Foto: © Aino Laberenz und Filmgalerie 451
Die Geschichte der Implementierung eines Festspiels, die in The African Twintowers skizziert wird, scheint mit dem darauf folgenden Operndorf-Projekt Realität zu werden. Ähnlich wie der Film oszilliert auch dieses Projekt von Beginn an zwischen einem kritischen, ins Verrückte verzerrten Reenactment und der Reproduktion einer kolonialistischen Geste. Diese Ambivalenz befeuert Schlingensief, indem er offen bekennt, dass er »Afrika beklauen« wolle (Laberenz 2012: 178), eine Formulierung, die natürlich einer durch den Postkolonialismus sensibilisierten Kritik in die Hände spielt. Anstatt sich kritisch zu distanzieren, betont Schlingensief mit seinen Aussagen, Gesten und Inszenierungen das historisch hoch belastete, asymmetrische Verhältnis zwischen Westeuropa und Afrika. So paradox es klingen mag, bringt er genau damit seine Form der Widerständigkeit hervor, die sich – in Verwandtschaft zu jener von Hannah Reich – gegen eine Verharmlosung der eigenen Dominanz richtet. Zudem grenzt er sich mit dem Verweis auf ein Eigeninteresse gegen die (scheinbare) Selbstlosigkeit ab, die der internationalen ›Entwicklungshilfe‹ im Allgemeinen zugeschrieben wird und die das Feld etwa mit dem Paradigma ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ selbst perpetuiert.9 9 | Schlingensief äußert sich sehr kritisch zu scheinbar selbstlosen Sozialprojekten in Afrika: »Denn diese Idee, ich gehe jetzt mit meinem europäischen Helfer-Gen mal nach Afrika und tu was Gutes, ist Bullshit. Hatte ich ja auch. Ablasshandel: Wollt ein besserer
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In Bezug auf diese kritische Positionierung lässt sich eine Parallele zwischen Schlingensief und dem holländischen Künstler Renzo Martens herstellen, der etwa zeitgleich in Afrika arbeitete. 2008 produzierte Martens seinen essayistischen Dokumentarfilm Enjoy Poverty: Episode III, der den Künstler bei seiner Annäherung und Auseinandersetzung mit humanitären Notlagen in der Demokratischen Republik Kongo zeigt. Dabei deckt Martens auf, wie sich eine ganze Katastrophen- und Nothilfe-›Industrie‹ gebildet hat, die Profit aus der Armut und den unmenschlichen Verhältnissen zieht, die sie zu bekämpfen sucht. Er weist damit auf ein System hin, das der von Konflikten und Ausbeutung betroffenen Bevölkerung von Plantagegebieten zugutekommen soll, sie zugleich aber vom monetären und/oder symbolischen Gewinn ausschließt, den es erbringt. Die Kontroverse an Martens Film besteht darin, dass er auf seiner ›Entdeckungsreise‹ selbst in (neo-)kolonialistische Gesten und Rollenmuster verfällt. Im Prozess seiner Auseinandersetzung lässt er deutlich werden, dass jede seiner Handlungen und Bezugnahmen von der Dominanzposition mitgeprägt ist, die er als privilegierter Westeuropäer innehat. Eine Position, die letztlich auch nur ihm und nicht den lokal Ansässigen, mit denen er sich temporär zusammenschließt, ermöglicht, Profit aus der investigativen Dokumentation zu ziehen (was im Film mit erbarmungslos konfrontativen Szene thematisiert wird). Anstelle eines Gegenentwurfs zu dem System, das er anprangert, lässt Martens damit die Ausweglosigkeit aus (neo-)kolonialen Verhältnissen und die Dilemmata drastisch hervortreten, die mit dem Vorhaben, in Beziehung zum ›Globalen Süden‹ zu treten, verbunden sind. Ähnlich wie Renzo Martens gerät auch Schlingensiefs Arbeit unweigerlich – und, wie seine Referenzen und Wortwahl deutlich machen, ganz bewusst – in eine kolonialistische Logik. Wenn er davon spricht, dass er »Afrika beklauen« wolle, dann zeichnet er nicht zufällig von sich selbst das Bild eines Europäers, der auszieht, um einen in Afrika liegenden ›Rohstoff‹ zu gewinnen. Vielmehr weist Schlingensief damit ostentativ auf die Instrumentalisierbarkeit seiner Dominanzposition hin, anstatt diese als eine der Bedingungen seiner Arbeit in Afrika zu unterschlagen. Schlingensief geht es jedoch nicht nur um eine Bespiegelung der eigenen Position. Unter dem Motto ›Afrika beklauen‹ verweist er auch auf ein Defizit, das ihn überhaupt zu einem ›Raubzug‹ veranlasst. In seinen Schriften macht der Künstler keinen Hehl daraus, dass er von einer leidenschaftlichen Unzufriedenheit mit der westlichen »Hochkultur« getrieben ist und einen Gegenentwurf für dringend notwendig hält. Dies zeigt sich etwa im Zusammenhang Mensch werden, damit ich ein bisschen besser ertragen kann, dass ich hier auf Kosten so vieler anderer Menschen lebe. Diesen ganzen Gutmenschenbrei muss man von sich abkratzen.« (Laberenz 2012: 167)
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seiner Kommentare zur Oper, dem »Überbegriff für den elitären Glanz der Hochkultur« (ebd.: 166). Mit dem Operndorf wolle er diesen in keiner Weise nach Burkina Faso transferieren, sondern vielmehr neu verhandeln. Es gehe ihm um eine Bestimmung dessen, was Oper sein kann oder »was eine Oper vielleicht mal war, bevor wir so eine amputierte Veranstaltung daraus gemacht haben, ohne Leben, ohne Improvisationskunst, ohne Spiritualität« (ebd.: 165). Schlingensief sieht eine Notwendigkeit darin, in die Hochkultur »Leute rein[zu]lassen, die damit eigentlich nichts zu tun haben und die da wieder Kraft reingeben« (ebd.: 166). Eine Absicht, die er mit seiner Arbeit in Burkina Faso explizit verfolgt: Ich glaube, dass Afrika spirituell und kulturell extrem wichtig ist für unsere Zukunft hier in Europa. Wenn ich da jetzt nichts lerne, was soll ich denn dann demnächst machen, wenn wir uns alle hier nur noch selbst zitieren? Was sollen wir alle denn bloss machen, wenn uns in diesem abgeschlafften Kontinent nix Neues mehr einfällt? (Ebd.: 90–91)
In diesem Sinne nimmt Schlingensief zumindest in kultureller Hinsicht eine Umwertung des Verhältnisses zwischen Europa und Westafrika vor. Wenn er von seiner Idee des Operndorfs spricht, dann gerät Burkina Faso nicht einfach in die Position eines Rohstofflagers, sondern resultiert als kulturell überlegene Region. In diesem Sinne präzisiert er auch seine Zielsetzung: »Wir geben zu, dass wir euch beklauen, weil wir von dem kulturellen und spirituellen Schatz, der da verborgen ist, lernen wollen.« (Ebd.: 178) An Schlingensiefs Äußerungen fallen zum einen die Anzeichen einer exotisierenden Idealisierung auf, auf die ich noch zurückkomme. Zum anderen sind seine Aussagen von einer dualistischen Konstruktion eines ›Wir‹ und die ›Anderen‹ durchsetzt. Anstatt auf Überschneidungen oder sogenannte ›connectors‹ zu fokussieren, erweckt Schlingensief den Eindruck von zwei Kulturfronten. Den Angehörigen des westeuropäischen Kulturkreises stellt er die Menschen in Burkina Faso gegenüber. Ihre Differenz nimmt dabei einen zentralen Stellenwert ein, den es gerade nicht zu überwinden gilt. Die Differenz ist nicht das Problem, sondern das Potenzial für ›unsere‹ Kultur, da sie einen »Schatz« birgt, der Westeuropa fehlt. Die Krux an Schlingensiefs Aussagen ist, dass die dualistische Konstruktion auf ein essenzialistisches Konzept von Differenz hinzuweisen scheint. In Anlehnung an das Theorem eines »strategischen Essenzialismus« (Spivak) lässt sich jedoch auch sagen, dass Schlingensief die Konstruktion strategisch einsetzt, um die Umwertung voranzutreiben und die Reaktionsweisen der dominanten westeuropäischen Kultur gegenüber der afrikanischen zu problematisieren. Wie Schlingensief diese Reaktionsweisen wahrnimmt, zeigt er in seiner Theaterproduktion Via Intolleranza II auf, wo er die Stereotypen des »verbrüderungsdiskurs[es] ›weiss trifft schwarz‹« vorführt. Die westeuropäischen
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Figuren des Stücks fallen in Anbetracht der burkinischen Protagonist_innen auf eine gönnerhafte Offenheit, eine letztlich sexualisierende Distanzlosigkeit oder aber auf den Impuls zurück, die Ausdrucksstärke der Burkinabe in eine traditionell-westliche Form zu bringen. So leiten sie etwa einen burkinischen Tänzer, der sich mit größter Gelenkigkeit, Begeisterung und Rhythmusgefühl bewegt, dazu an, klassische Ballettposen einzunehmen. In Via Intolleranza II wird die »Verbrüderung« als Übergriff der global und wirtschaftlich stärker gestellten auf die schwächer gestellte Kultur dargestellt. Obwohl es sich dabei um einen freundlichen oder gar selbstlos gemeinten Vorgang handelt, resultiert er in einer Unterdrückung. Ohne dass dies ausgesprochen würde, wird durch die Bewertung nach westlichen Maßstäben und die Übertragung in tradierte Formen das Ausdruckspotenzial der Burkinabe entwertet. Insofern sieht Schlingensief die Verbindung mit Europa als eine Gefahr für den »spirituellen und kulturellen Schatz« Afrikas an, was er in seiner Theaterproduktion metaphorisch vor Augen führt, indem er eine burkinische Sängerin ›an Europa‹ erkranken lässt. Das Problem, so suggeriert die Aufführung, besteht darin, dass die europäische Kultur gar nicht richtig hinschauen und ›die Anderen‹ wahrnehmen kann, sondern dass sie – womöglich in bester Absicht – alles gleich in ein »Betonkleid packt, weil es ja sonst angeblich nicht weitergeht, weil sonst keine Ordnung reinkommt in das Ganze« (ebd.: 177). Abb. 2: Szene aus Christoph Schlingensiefs Theaterproduktion Via Intolleranza II (Uraufführung: Kunstfestivaldesarts, Brüssel, 15.05.2010). Im Hintergrund die ›an Europa‹ erkrankte Sängerin »Kandy« Manounata Guira
Foto: © Aino Laberenz
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Durch sein Beharren auf die Unüberwindbarkeit der Differenz will Schlingensief eine solche Wahrnehmung der Anderen ›als Andere‹ in Gang setzen. Die Anerkennung der Differenz, auf die er abzielt, funktioniert dabei als ein doppelter Ausweg. Zum einen setzt sie den von Schlingensief problematisierten »Verbrüderungsdiskurs« außer Kraft, zum anderen zeigt sie eine Perspektive für die von ihm als »marode« empfundene Hochkultur auf. Dem entsprechend soll auch das Operndorf den Europäer_innen ermöglichen, neu erfahren zu können, was Kunst sein kann oder – im Sinne des Zitats oben – was Kunst vielleicht einmal gewesen ist, bevor ihr Leben, Improvisationskunst und Spiritualität abhandenkamen.
P r agmatischer N ut zen Im Sinne dieser Zusammenfassung scheint sich Schlingensiefs Zugang zu seiner Arbeit in Afrika auf eine Wirkung auf den westlichen Kulturkreis auszurichten, sodass sich die Frage tatsächlich aufdrängt, ob Burkina Faso hier ausgebeutet wird. Zudem sind Schlingensiefs Aussagen deshalb kontrovers, da sie eine Idealisierung oder Exotisierung des kreativen Potenzials Afrikas zum Ausdruck bringen, ohne dabei die realen Rahmenbedingungen dieser Kreativität sowie die Möglichkeit, dass es sich dabei sowieso einzig um eine Projektion des europamüden Künstlers handelt, einzubeziehen. Die Verweigerung einer diesbezüglichen Selbstreflexion, die in Ich weiß, ich war’s höchstens am Rande erscheint (vgl. ebd.: 184), kann jedoch ebenfalls als strategisch gelesen werden. Mit seiner Umwertung richtet sich Schlingensief gegen einen unausgesprochen und möglicherweise auch unbewusst betriebenen »Kulturmonopolismus« (ebd.: 256). Was darunter konkret zu verstehen ist, schildert er anhand seiner Eindrücke der »Kulturentwicklungshilfe« in Burkina Faso, personifiziert durch die Mitarbeitenden des Goethe Instituts oder des Institut Français in Ouagadougou. Als er auf der Suche nach Protagonist_innen für die Produktion Via Intolleranza II war, seien sie mit Ratschlägen auf ihn zugekommen. Diese beinhalteten jedoch grundsätzlich nur Hinweise auf burkinische Kunstschaffende, die es bereits auf ein Festival oder eine Ausstellung in Europa geschafft hätten (vgl. ebd.: 255–256) und die damit – so die Implikation – westeuropäischen Standards zu entsprechen vermögen. Eine solche Anwendung der europäischen ›Hochkultur‹ inklusive ihres Geschmacks und ihrer Maßstäbe auf Burkina Faso lehnt Schlingensief aufs Schärfste ab. Er bezeichnet sie als »wahnsinnig unangenehm« und »peinlich« (ebd.: 256). Anstelle von im westlichen Sinne ›etablierten‹ Künstler_innen wählte er sodann für Via Intolleranza II ausschließlich Personen aus, die singen und Musik spielen, weil man das in ihrer Familie einfach macht, oder die
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ihm schlicht von ihrem Wesen, von ihrer Körperlichkeit und Ausdruckskraft her überzeugend erschienen.10 Mit der Exponierung dieser im doppelten Sinne ›Anderen‹ im westeuropäischen Kunstbetrieb läuft Schlingensief zwar Gefahr, sie in ihrer sozial/global schwächer gestellten Position für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Zugleich liegt in der Zuwendung und Sichtbarmachung jedoch eine Kraft, da sie die Maßstäbe der westlichen ›Hochkultur‹ und ihrer Institutionen – deren Wirksamkeit über das Goethe Institut und das Institut Français auch nach Ougadougou übergegriffen zu haben scheint – zumindest indirekt für ungültig erklären. Damit ebnet Schlingensief grundsätzlich das Feld für die Anerkennung und Wertschätzung pluraler Ausdrucksformen. Die Notwendigkeit einer solchen Anerkennung deutet sich im Zusammenhang mit dem Residency-Programm des Operndorfs an, in dessen Rahmen jeweils ein_e Künstler_in aus Europa und ein_e aus Afrika für einen gemeinsamen Aufenthalt eingeladen werden. 2016 funktionierte das Programm erstmals auch als Austausch. Der burkinische Residenz-Künstler, der Fotograf Nomwindé Vivien Sawadogo, reiste nach dem Aufenthalt im Operndorf, den er gemeinsam mit dem deutschen Künstler Pio Rahner verbracht hatte, für eine Ausstellung ihrer beider Arbeiten nach Deutschland.11 Nach der Ausstellungseröffnung traf ich Sawadogo im März 2017 in München, wo er sich nun für ein anderes Residency aufhielt. Auf die Frage, ob er bei seinem bereits mehrwöchigen Aufenthalt in Westeuropa das Risiko empfindet, in das hemmende Korsett der westlichen Hochkultur zu geraten, winkte Sawadogo belustigt ab. Auch die Gefahr eines Übergriffs auf seine eigene Kultur schien für ihn nicht im Vordergrund zu stehen. Eine Differenz und letztlich eine Unvereinbarkeit nahm er aber sehr wohl wahr. Er sehe viel Neues und habe vor allem von Rahner viel gelernt. Zugleich sei dies aber nicht auf sein Leben in Ouagadougou übertragbar.12 Der Alltag in der burkinischen Hauptstadt, wo Sawadogo in einem verhältnismäßig gut situierten Familienbund lebt, sei viel zu unstrukturiert und unberechenbar, um einen derart organisierten Zugang zum Kunstmachen zu erreichen, wie er 10 | Neben der Textsammlung Ich weiß, ich war’s gibt auch der Dokumentarfilm Das Knistern der Zeit (D, 2012, Regie: Sibylle Dahrendorf) Einblicke in die Vorbereitung – sowie in die Castings der Protagonist_innen – von Via Intolleranza II, die mit der Vorbereitung und Grundsteinlegung des Operndorfs zusammenfiel. 11 | Die Ausstellung Panga Panga der Operndorf Residence-Künstler Sawadogo und Rahner fand vom 17.03. bis 01.04.2017 im ERLKÖNIG, Bremen, statt. Zu der Ausstellung wurde ein Katalog produziert (van den Busch 2017). 12 | Alle indirekten Zitate von Sawadogo entstammen unserem Gespräch, das wir am 30.03.2017 in München in französischer Sprache geführt haben. Eine Audioaufzeichnung des Gesprächs liegt dem Autor vor.
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von Europäer_innen verfolgt werde. Zudem seien sie technisch nicht ausgerüstet, um etwa eine so detaillierte, digitale Bildbearbeitung vorzunehmen, wie ihm das Rahner gezeigt habe. Und auch wenn sie über die technischen Mittel verfügten, würden sie diese nicht auf die gleiche Art anwenden wie die Künstler_innen in Deutschland. Zum einen, weil etwa immer wieder mal der Strom fehle oder das Internet nicht gehe, zum anderen, weil in Ouagadougou sowieso alles chaotischer sei. Trotz dieser Unübertragbarkeit hält Sawadogo die Erfahrung, die ihm der Aufenthalt im Operndorf, der Austausch mit Rahner und die Residenz in München brachten, für wichtig. Diese Erfahrungen würden sich auf das eigene Leben auswirken, auch wenn vorerst unklar sei, wie genau. Nach unserem Gespräch begleitete ich Sawadogo zu einer Ausstellung in der Aspekte Galerie im Münchner Gasteig – einem Flaggschiff der westlichen Hochkultur –, wo Fotografien von ihm und drei weiteren burkinischen Fotografen gezeigt wurden. Die Ausstellung mit dem Titel Die Afrikanische Revolution – Burkina Faso 2014 (2017) erweckte ein seltsames Gefühl. Es handelte sich eher um eine Ansammlung von Aufnahmen der mehrheitlich friedlich verlaufenen Revolution von 2014 als um eine Kunstausstellung. Die vier Fotografen, die das Publikum durch die Ausstellung führten, wurden dabei als authentische Zeugen präsentiert bzw. befragt. Es ging dabei nicht um künstlerische Aspekte, sondern um die Motive und die Anekdoten hinter den Bildern – etwa was es in Burkina Faso bedeutet, wenn Frauen mit dem Kochlöffel in der Hand auf die Straße gehen. Anstatt die Fotografien als eigenständige Werke zu erkennen, wurden sie als Dokumente angesehen, die den Blick in ein ›anderes Leben‹ freigeben, ein Leben, das im fernen Afrika verortet und von der Dringlichkeit einer Revolution durchzogen ist. Für das durchgehend weiße, bildungsbürgerliche Publikum schien dies eine aufregende Projektionsfläche zu sein. Bei der Führung durch die Ausstellung wurde das, was ich eine freundliche – aber nicht minder problematische – Exotisierung nennen würde, betrieben. Es herrschte eine betonte Offenheit bis hin zu einer Distanzlosigkeit, die sich in der Bereitschaft der Besucher_innen manifestierte, sich von den Darstellungen und Erzählungen der drei Fotografen betont betroffen zu zeigen. Gerade diese Betroffenheit stand in seltsamem Kontrast zu den an sich recht undramatischen Schilderungen, die die Burkinabe über die Revolution lieferten. Im Unterschied zu Schlingensiefs Arbeit – etwa dem Stück Via Intolleranza II – gab es im Gasteig keinen kommunikativen Rahmen, der diese Reaktionsweise exponiert hätte. Während in Via Intolleranza II die Art und Weise, mit der die europäischen Protragonist_innen auf die burkinischen zugehen, als deplatziert und übergriffig resultiert, wirkten die distanzlose Exotisierung und Projektion im Gasteig ganz natürlich. Sawadogo fügte sich gelassen in die Situation. Möglicherweise stellte die Rezeption seiner Bilder als Dokumente einer fremden Lebensrealität auch kein
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Problem für ihn dar. Zumindest steht sie nicht grundsätzlich im Widerspruch zu seiner Wirkungsabsicht. Im Katalog zu seinem Residency-Aufenthalt im Operndorf, der im Rahmen der Ausstellung Panga Panga (2017) publiziert worden war, wird Sawadogo diesbezüglich folgendermaßen zitiert: Ich präsentiere ein realistisches Bild von Afrika, weil der Kontinent über Jahrhunderte hinweg und sogar noch heute abwertend dargestellt wird. […] Ich möchte mit meinen Fotos ein richtigeres, realistischeres Bild zeigen, von einem Afrika, das man besser verstehen und schätzen kann, mit den Bewohnern, die mit ihrer Umwelt in Harmonie leben. (van den Busch 2017: o. S.)
Abb. 3: Fotografie von Nomwindé Vivien Sawadogo aus seinem ResidencyAufenthalt im Operndorf Afrika von Mitte Oktober bis Mitte Dezember 2016
Foto: © Nomwindé Vivien Sawadogo
Zugleich bleibt für mich unklar, inwieweit Sawadogo die Ambivalenz wahrnahm (oder sich darum kümmerte), die aus einer Rezeptionssituation wie in München entsteht, bei der er nicht als Fotograf mit ›anderen‹ Anliegen und Zugängen, sondern einfach als ›der Andere‹ behandelt wurde. Es fand keine Anerkennung seines spezifischen Umgangs mit fotografischen Techniken statt, stattdessen stürzte sich das Publikum auf seine Sujets und die Exotik, die sie in ihren Augen verströmten. Ganz im Sinne von Schlingensief wurde Sawadogo hier in die ›Hochkultur‹ hereingelassen. Seine Arbeit wurde jedoch nicht als potenzielle Neuperspektivierung wahrgenommen, sondern auf etwas reduziert, was sich leicht einverleiben ließ: die seit Kolonialzeiten zelebrierte Lust am Fremden. Dies
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führte zu dem paradoxen Eindruck, dass er trotz des physischen Einbezugs als Künstler ausgegrenzt oder zumindest übergangen wurde. Sawadogo selbst bleibt in Bezug auf solche Beobachtungen pragmatisch. So gewinnt er auch schlicht der physischen Mobilität etwas ab, die ihm die Teilnahme am Residency-Projekt des Operndorfs ermöglichte (insgesamt zwei Reisen nach Europa). Diese Mobilität, so Sawadogo beim Gespräch in München, werde in Ouagadougou durchaus wahrgenommen. Durch die internationale Aufmerksamkeit werde ein gesellschaftliches Interesse an Kunst geweckt. Es entstehe der Eindruck, dass man in dem Bereich einen Status erreichen, Geld verdienen und international tätig sein könne. Dies erhöhe die Wertschätzung ›Kunst‹ gegenüber, einem kulturellen Bereich, der erst während der Kolonialzeit in Burkina Faso eingebracht worden sei und der bis heute – insbesondere wenn es sich um bildende Kunst handelt – sehr unscharfe Konturen habe.
»L’artiste comme fou « – L eidenschaf t als kommunik atives M oment Beim Gespräch in München betonte Nomwindé Vivien Sawadogo, dass in Burkina Faso relativ unklar sei, was ein_e Künstler_in ist. Künstler_innen würden grundsätzlich einfach als Verrückte wahrgenommen, wobei dies nicht unbedingt despektierlich gemeint sei. Denn die Passion, mit der sie an die Sache gehen und die von einem inneren Plan zeugt, werde durchaus wahrgenommen. Diese Leidenschaft, die sich auf eine Tätigkeit richtet, die sich keinen eingebürgten Kategorien kultureller Produktion zuordnen lasse, mache Menschen zu Verrückten, also zu Künstler_innen. Diese Auffassung von Kunst als einer verrückten Produktion ist gerade für den Rückbezug auf Schlingensiefs Arbeit in Afrika und sein Beharren auf Differenz interessant. Im anfangs genannten Film The African Twintowers zeigt sich deutlich, wie der Künstler einen Raum entstehen lässt, in dem eine überbordende, zuweilen absurd anmutende Dynamik entsteht. Ein Raum, in dem die westlichen Figuren mit höchster Intensität und zugleich hermetischen Selbstbezogenheit agieren. Es wird nicht im Geringsten der Versuch unternommen, eine Vermittlung nach außen, geschweige denn eine gegenseitige Verständigung zu erreichen. Die Protagonist_innen sind in einer eigenen, von außen nicht zugänglichen Sache drin. Zugleich scheint jedoch gerade dieses ›Drin-Sein‹, also die verrückte Leidenschaft für eine Sache, wahrnehmbar und letztlich auch ansteckend. Wenn Schlingensief etwa in einem Pinguinkostüm mit drolligen Bewegungen die staubige Straße eines Townships hinabrennt, wirkt das irgendwie völlig deplatziert. Es ergibt keinen Sinn und setzt jeden Anspruch auf ein konfliktsensitives In-Beziehung-Treten außer Kraft, bei dem der durch die Kolonialvergangenheit und globale Hierarchieverhältnisse belas-
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teten Konstellation zwischen dem weißen Europäer und der global schwächer gestellten lokalen Bevölkerung Rechnung getragen würde. Zugleich erweckt gerade die verrückte Dynamik unmittelbare Reaktionen. Bewohner_innen und vor allem Kinder des Townships laufen auf den verrückten Pinguin zu. Der Tumult schafft einen gemeinsamen Raum, in dem vielleicht keine Verständigung, aber eine Verbindung entsteht. Als mir Sawadogo in München vom Konzept des ›artiste comme fou‹ erzählte, erschien mir Schlingensiefs Vorgehensweise – wenn er eben in einem Pinguinkostüm durch ein Township rennt oder ein Operndorf in der burkinischen Steppe errichten will – plötzlich angemessen. In Schlingensiefs Arbeit in Afrika sind Künstler_innen Verrückte, die sich dem Spannungsfeld stellen, das aus der kolonialen Vergangenheit, der kulturellen Differenz und globalen Ungleichheitsverhältnissen hervorgeht. Ist es möglich, dass er in Namibia respektive Burkina Faso genau damit auf Verständnis stieß? Pio Rahner, der gemeinsam mit Sawadogo im Herbst 2016 im Operndorf arbeitete, empfindet die Verrücktheit, die Künstler_innen zugeschrieben werde, eigentlich als völlig normal. »Es ist nicht kulturspezifisch, dass sich die Leute erst einmal wundern, wenn man als Künstler_in zu arbeiten beginnt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Berufen gibt es ja erst mal keine Arbeitsanweisung, die man befolgt oder umsetzt.«13 Wunderlich muss es den Leuten tatsächlich vorgekommen sein, als Rahner, der ausgebildeter Tischler und studierter Fotograf ist, zur Mitte seines Aufenthaltes hin eine große Arbeit im Operndorf zu realisieren begann. In der nachmittäglichen Bruthitze, bei der jede_r lieber im Schatten ein Glas Wasser trinken würde, begann Rahner, mitten auf dem zentralen Platz Unkraut zu beseitigen und, als die Stelle frei war, massenhaft Steine von einem nahe gelegenen Hügel abzutragen und anzukarren. Der Ort seines Tuns war nicht zufällig gewählt. Es handelte sich um die Stelle, an der Schlingensief 2010 bei einer Zeremonie den Grundstein für das Operndorf gelegt hatte und wo entsprechend der ursprünglichen Pläne einmal ein zentrales »Festspielhaus« erbaut werden sollte (ein Plan, der bis heute noch nicht realisiert wurde). Diese Stelle befindet sich auf dem freien Platz, um den herum die Wohnmodule und Schulgebäude des Dorfs ellipsenförmig angeordnet sind. Auch ohne das Festspielhaus hat der zentrale Platz etwas von einer Bühne. Während er von überall her überblickbar ist und weitgehend ungenutzt bleibt, spielt sich um ihn herum das Alltagsleben ab. Dieses ist vom Betrieb der Grundschule geprägt, von der Arbeit in der Kantine, wo Essen für die Kinder, Lehrpersonen und Gäste gekocht wird, vom Betrieb der Krankenstation mit 13 | Alle direkten Zitate stammen aus einem E‑Mail-Wechsel mit Pio Rahner, der im Mai 2017 stattgefunden hat. Die E‑Mails liegen dem Autor vor. Rahner hat zudem die zitierten Passagen im Oktober 2017 validiert.
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den im Schatten wartenden Patient_innen, von der Anwesenheit der Wärter, die rund um die Uhr für die Ordnung und Instandhaltung des Ortes zuständig sind, und vom Feierabend, wenn die Dunkelheit kommt und sich die etwa ein Dutzend Bewohner_innen in ihre Wohnmodule zurückziehen. Als Gast oder als Artist-in-Residence erscheint es schwer möglich, sich in dieses gleichmäßig getaktete Alltagsleben einzufügen. Ungeachtet der eigenen Hautfarbe und Herkunft fällt man nur schon deshalb aus dem Rahmen, da man keine klar konturierte Rolle im Dorf hat. Zugleich gibt es, wie Pio Rahner bei einem Skype-Gespräch gegen Ende seines Aufenthaltes beschrieb und wie ich selbst erlebt hatte, kaum eine Privatsphäre, in die man sich zurückziehen könnte. In dieser exponierten Lage wird das, was man tut, wahrgenommen und zu einem Identifikationsmoment. So blieb auch nichts, was Rahner tat, unbemerkt. Die Leute wunderten sich etwa darüber, dass er selbst seine Wäsche wusch – obwohl er ein Mann ist, dem zudem aufgrund seiner Herkunft die finanziellen Mittel zugeschrieben wurden, jemanden für die Hausarbeit anzustellen. Das ›Anders-Sein‹, das Sawadogo in Westeuropa anhaftete, galt auch für Rahner in Westafrika, wobei er im Unterschied zu Sawadogo in eine eher autoritäre Rolle geriet. Nichtsdestotrotz fand auch hier eine Exotisierung statt. Aus Sicht der Anwohner_innen befand er sich in der Position des wunderlichen Ausländers, in einer, wenn auch in gewisser Hinsicht mächtigen, so dennoch minoritären Position, der er nicht entkommen konnte und mit der er offen umging. Anstatt etwa zu fürchten, dass er schräg angesehen würde, wenn er als Mann seine Wäsche selbst erledigte, fragte er danach, wo er die größten Waschbecken bekommen könnte und wo er das Schmutzwasser nach dem Waschen hinschütten sollte. Bereits während unserer viertägigen Begegnung im Operndorf fiel mir Rahners unbefangener und pragmatischer Umgang mit der Positionszuschreibung auf. Ich haderte mehr damit, den Blicken der Anwohner_innen ausgesetzt zu sein, die ich nicht als neutral, sondern als wertende Beobachtung auffasste. Für Rahner hingegen waren sie kein Problem, sondern ganz natürlich, ebenso wie die Tatsache, dass es Unterschiede gibt. Ich komme aus Europa, aus Deutschland aus Offenburg, aus meinem Elternhaus. Und seit ich auf der Welt bin, haben mich diese Stationen, Gebiete und Orte geprägt. Die Strukturen, nach denen ich handle, sind zum großen Teil gelernt durch mein gewohntes Umfeld. Und dann komme ich in ein Umfeld, wo die Menschen in ganz anderen Strukturen verwachsen sind. Da muss man erst mal einen Nenner finden.
Das durch die Kolonialvergangenheit belastete Verhältnis stand für ihn dabei nicht im Vordergrund. Rahner empfand es auch nicht als grundsätzlich entscheidend, sich in einem Kontext zu befinden, zu dem er in einer relativ offen-
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sichtlichen Ungleichheitsbeziehung stand, die auch eine Projektionsfläche mit sich brachte. Ihm sei zwar bewusst gewesen, dass ihm aufgrund seiner Herkunft Eigenschaften zugeschrieben wurden, und er habe auch manchmal das Gefühl gehabt, sich von diesen Zuschreibungen emanzipieren zu müssen, »für mich gibt es [aber] keinen Unterschied, ob ich jetzt in Castrop Rauxel oder im Operndorf eine Arbeit realisiere«. An beiden Orten würde er in erster Linie mit Menschen in Kontakt treten, die ihren Fokus auf andere Arbeiten legen als Kunstmachen. »Das bedeutet, dass, wenn ich einen Dialog anstrebe, der meine Arbeit zum Thema hat, es an mir liegt, das zu vermitteln, was mich beschäftigt.« Zu einer solchen Vermittlung kam es im Operndorf weniger in Form von Gesprächen, sie setzte sich vielmehr performativ um, also im Zuge seines Handelns. Ein Handeln, das ähnlich wie in Schlingensiefs Film The African Twintowers relativ hermetisch und zugleich exponiert vonstattenging. Als Rahner begann, die Stelle um die Grundsteinlegung auf dem zentralen Platz von Unkraut frei zu räumen, wurde dies sofort wahrgenommen. Ein Wärter sei sogleich dazugekommen, der wissen wollte, was er da mache. Abdoulaye bot mir sofort an, sich um das weitere Jäten zu kümmern. Ich wollte mir in diesem Moment nicht helfen lassen, da ich für gewöhnlich alle Arbeitsschritte meiner, sagen wir mal, Arbeit selber durchführe. Abdoulaye wiederum konnte aus seinem Arbeitsverständnis heraus schlecht zugucken, dass ich die Arbeit mache, die eigentlich in seinem Bereich liegt. Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich an meiner Gewohnheit festhalten sollte oder ob es nicht einfacher und höflicher wäre, ihm die Arbeit zu überlassen. Wir haben uns dann darauf verständigt, dass es offensichtlich zu einer Überschneidung der Aufgaben kommen kann, wenn ich im Operndorf als Residenzkünstler arbeiten sollte. So konnte ich dann alleine weiter machen.
Im Gegensatz zum Wärter hätten die Krankenschwestern und Lehrer_innen des Dorfs seiner Arbeit anfangs kaum Beachtung geschenkt. Irgendwann seien die Kinder des Dorfs gekommen, die wissen wollten, wofür er die Steine brauche. »Auch für die Erwachsenen stand die Frage im Raum, warum oder wofür ich dass mache. Nach dem Warum hat mich aber niemand gefragt.« Das, was sich also einstellte, war weniger ein Dialog oder eine sprachliche Verständigung, sondern vielmehr eine neue Situation. »Es wurde für alle zur Gewohnheit, dass ich die Eselkarre durchs Dorf zog. Mal mit und mal ohne Steinen drauf.« Rahner war in seiner Sache drin, die von außen kaum zugänglich war, die aber zugleich deutlich einen Plan zu erkennen gab. Die Steine, die er abtrug und ankarrte, legte er in einer deckenden, kreisrunden Fläche aus, die sich wie ein Tuch über den steppenartigen, unebenen Boden legte. Was dann passiert ist, hatte viel mit Kontinuität zu tun. Auch wenn ein vermeintlicher Nutzen nicht zu erkennen war, haben die anderen gemerkt, dass ich ja immer weiter ma-
Raum der unüber windbaren Differenz? che. Dadurch wurde klar, dass das wichtig oder nötig sein muss. Es hat sich zunehmend ein Interesse entwickelt. Und je deutlicher die Form wurde, desto größer wurde auch das Interesse der Bewohner_innen. Man muss sich das so vorstellen, dass aus einem kleinen Haufen Steine über die Zeit ein großer Kreis wächst. Die Erwachsenen, die mir anfangs noch kopfschüttelnd zusahen, schicken ihre Kinder los, um ebenfalls Steine zu holen.
Rahner arbeitete an einer abstrakten Sache, die für ihn in Zusammenhang mit übergreifenden Interessen stand. Erzählt er von der Arbeit, dann kommt er auf seine weit über den Aufenthalt hinausgreifende Auseinandersetzung mit Ordnung, mit Systemen des Warenverkehrs und mit Maßeinheiten zu sprechen. Dieser Hintergrund spielte jedoch im Operndorf kaum eine Rolle. Es war vielmehr der hartnäckige Einsatz, mit dem Pio Rahner über Tage hinweg in der Bruthitze gearbeitet hatte, der zum kommunikativen Moment wurde. Die Sache an sich – also der ›Steinkreis‹ respektive das Foyer, wie der Künstler die Arbeit betitelt – war dabei kaum mehr als eben eine konkrete Form mit konkreter Beschaffenheit, die sich unterschiedlich begreifen ließ und die letztlich einfach einen »schönen Platz« bildete: »Also auf schön konnten sich zumindest alle verständigen. Und ja vielleicht auch nützlich, weil man sich da ja nun trifft zum Reden, zum Tee Trinken oder Rauchen.«
Abb. 4: Ansicht der ortspezifischen Arbeit Foyer (2016) von Pio Rahner auf dem Hof des Operndorf Afrika. Der aus Lateritsteinen bestehende Kreis hat einen Umfang von 32 Schritten Foto: © Pio Rahner
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D urchl ässigkeit im R aum der U ngleichheit Obwohl Rahners Arbeit bei Weitem weniger drastisch ausfiel als die Situationen, die Schlingensief und die Protagonist_innen in The African Twintowers entstehen lassen, liegt seiner ›Steinkreis‹-Arbeit eine ähnliche Handlungslogik zugrunde. Die künstlerische Tätigkeit des Europäers in Afrika lässt eine Differenz und Parallelität aufklaffen, die nicht mit dem Anliegen einer Verständigung zu überbrücken oder zu schließen versucht werden. Im Gegenteil: Seiner Arbeit, bei der er sich zuerst auch nicht helfen lassen wollte, haftet etwas Hermetisches an. Dies ist scheinbar insofern paradox, als die Arbeit äußerst exponiert im sozialen Raum stattfindet. Zugleich setzt jedoch gerade das sichtbare, auf die eigene Sache konzentrierte Arbeiten einen kommunikativen Prozess in Gang. Durch das Insistieren auf die eigene Sache wird sie zum Teil des sozialen Raums und erhält letztlich auch eine Relevanz. Dabei bleibt offen, inwiefern ein gemeinsames Verständnis entsteht, ebenso wie auch offen bleibt, ob dem abstrakten und zugleich sehr konkreten Foyer überhaupt ein Sinn zugesprochen wird. Indem sich aber die künstlerische Arbeit im sozialen Raum konturiert, wird eine Verbindung geschaffen. Diese Beobachtung ist mir aus zwei Gründen wichtig. Zum einen zeigt sie eine Form der Durchlässigkeit auf, die gerade dann hervortreten kann, wenn Differenz und Parallelität anerkannt werden, anstatt dass mit einer vordergründigen Vermittlung ein scheinbar gemeinsames Verständnis geschaffen würde. Zum anderen hat sie mit einem Anliegen zu tun, das mir für Schlingensiefs Arbeit im Kontext von Ungleichheit zentral erscheint. Ein Anliegen, vor dessen Hintergrund ich das Operndorf betrachte, um es nicht widerstandslos im Diskurs zur Partizipation untergehen zu lassen. Dieses Anliegen lässt sich mit der von Sawadogo skizzierten Auffassung von Kunst als eine verrückte Sache, die sich über die Leidenschaft und Kontinuität des Handelns artikuliert, veranschaulichen. Diese Auffassung kontrastiert die westliche Gegenwartskultur und insbesondere ihren Kunstbetrieb, in dem Leidenschaft und Verrücktheit kaum relevante Kategorien darstellen,14 14 | Die Figur des_der verrückten Künstler_in ist m. E. von der Geniefigur aus der westlichen Kunstgeschichte, dessen_deren leidenschaftliche Inbrunst und Getriebenheit zu Höchstleistungen antreiben, zu unterscheiden. Diese Höchstleistungen bemessen sich gerade daran, dass der_die verrückte Künstler_in eine bereits betriebene Sache steigert oder in neue Dimensionen bringt. Die burkinische Figur hingegen bezieht sich darauf, dass der_die verrückte Künstler_in etwas macht, was nichts Bestehendem zugeordnet werden kann. Das Verrückte besteht darin, sich etwas ›Nutzlosem‹ hinzugeben. Eine Tätigkeit, die nicht aufgrund ihrer Beziehung zu Bestehendem, sondern einzig aufgrund der Leidenschaft, mit der sie betrieben wird, eine Relevanz erhält.
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sondern in dem die historisch gewachsenen Referenzpunkte von Konzepten sowie formalästhetische Merkmale entscheidend sind. Aspekte, die wiederum im Operndorf ihre Relevanz verlieren, da sie vor dem Hintergrund der Differenz kaum kommunizierbar sind und da nur sehr wenige Referenzen geteilt werden. Auf der Bühne der Differenz, als die sich das Operndorf-Residency bezeichnen lässt, findet damit zwingend eine Umwertung künstlerischer Arbeit statt. Konkrete und zugleich verrückte Handlungen – etwa in der Bruthitze der burkinischen Steppe einen Steinkreis auszulegen oder in einem Pinguinkostüm durch ein namibisches Township zu laufen – ergeben hier plötzlich einen Sinn. Nicht weil ihnen eine verbindliche Bedeutung zugeschrieben würde, sondern weil sie einen Erfahrungsraum eröffnen, in dem – um auf Schlingensiefs Begrifflichkeit zurückzukommen – Lebendigkeit, Improvisation und vielleicht auch eine Form von Spiritualität wirksam werden und in dem »die Seele sich entfalten darf, in ihrer Unschärfe akzeptiert wird und dabei Kräfte mobilisiert […]« (Laberenz 2012: 178). Diese Perspektive auf das Operndorf als ein Raum der Differenz – anstatt der Partizipation – ist mit der Frage verbunden, wem oder welcher Sache dies nun nützt und was dabei für die Burkinabe herausspringt. Ist das Operndorf lediglich ein Experimentierraum für westliche Kunstschaffende und handelt es sich somit eine einseitige Nutzung von Ungleichheit? Einerseits lässt sich diese Frage mit Nomwindé Vivien Sawadogos Bemerkung beantworten, wonach der internationale Austausch den Status von Kunst – und damit auch die Bedingungen des Künstler_in-Seins – in Burkina Faso verbessern kann. Andererseits führt der Fokus auf die Differenz zu einer genaueren Wahrnehmung und einer Anerkennung ›der Anderen‹. Im Unterschied zu Diskursen, die die Vorstellung von Partizipation mitsamt ihren Implikationen ins Zentrum setzen, macht Schlingensiefs Haltung die Sache kompliziert. Eine zu einfache Vorstellung der gemeinschaftlichen Verbindung, der Transformation von Subjektivität oder von intersubjektiven Beziehungen lehnt er dezidiert ab. Seine Haltung mag radikal sein, sie weist aber auch auf die Machtstrukturen sowie auf die ganz konkreten Herausforderungen im Umgang mit Differenz hin. Akzeptiert man diese Herausforderungen – also Positionszuschreibungen, aus denen es keinen Ausweg zu geben scheint, oder auch das eigene Unvermögen, Selbstverständnisse, Gewohnheiten oder Bequemlichkeit aufzugeben, oder etwa die nur sehr beschränkte Möglichkeit, sich in die Perspektive eine_r Anderen zu versetzen –, dann bewirkt dies, dass man genauer hinschaut. Es macht es unmöglich, ›die Anderen‹ – etwa die ländliche Bevölkerung im und um das Operndorf herum – in die Position der Partner_innen zu versetzen, mit denen ein gemeinsamer, intersubjektiver Raum verhandelt werden kann. Stattdessen wird der Fokus auf den Raum zwischen ›uns‹ und ›den Anderen‹ gelenkt, ein Raum, in dem nicht einfach die
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eine oder andere Partei übergreift, sondern in der erst mal gar nichts greift. Nur wenn diese Unvereinbarkeit, aus der vielleicht nicht einmal einen Ausweg gefunden wird, als Teil eines partizipativen Prozesses anerkannt wird, kann das Operndorf meines Erachtens als partizipativer Raum bezeichnet werden. Das was Schlingensiefs Arbeit verdeutlicht, ist, dass es darum geht, sich auf diesen Raum einzulassen und sich in ihm zu exponieren. Für mich persönlich liegt in dieser Beobachtung eine wichtige Erkenntnis. Sawadogos und Rahners Unbefangenheit, mit der sie sich dem Raum der Differenz hingeben, lässt die Ungleichheit zu etwas Sprechendem werden. Anstatt dass sie negiert würde, wird sie als reale Bedingung sichtbar. Diese Erfahrung fällt auf diejenigen zurück, die sie wahrnehmen, und die sich dabei ihrer Wahrnehmung bewusst werden können. Sehr konkret gesprochen besteht damit – um auf die Frage nach dem Gewinn für die burkinischen Beteiligten zurückzukommen – ein möglicher Nutzen darin, dass sich Mitarbeitende des Goethe Instituts oder des Institut Français, die gemäß Schlingensiefs Erzählung westeuropäische Maßstäbe auf den Kunst- und Kulturbetrieb in Ouagadougou anwendeten, genauer hinschauen und im Zuge dessen vielleicht auch über die Kategorien stolpern, die ihre Wahrnehmung und ihr Denken bestimmen. Diese Erfahrung des Stolperns kann im Raum der Differenz zu etwas Verbindendem werden und eine Durchlässigkeit entstehen lassen.
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An der Grenze zur Andersartigkeit Möglichkeiten einer speziesübergreifenden Kommunikation Benjamin Egger
Wie wahrscheinlich jede Person, die Beziehungen mit Tieren eingeht, habe ich eine Sympathie für das Ungezügelte und eine Faszination für das Ungezähmte. Tiere und Menschen können ein erstaunlich symbiotisches Verhältnis erarbeiten, das Wilde und Unberechenbare bleibt dennoch immer Bestandteil ihres Zusammenseins. Und gerade in diesem Spielfeld zwischen Symbiose und Unberechenbarem kann sich eine Erfüllung einstellen. Eine Erfüllung, die sich in den Momenten der Übereinkunft mit ›dem Anderen‹ einstellt. Die Vorstellung eines sich ergänzenden Mensch-Tier-Teams, das, trotz der beachtlichen körperlichen Unterschiede, gemeinsam Handlungen durchführt, ist wohl ein Traum jeder Person, die Verbindungen mit Tieren eingeht. Ein gutes Beispiel ist die Verfilmung Gorillas in the Mist (USA, 1988) von Diane Fosseys Arbeit mit den im Kongo lebenden Berggorillas. Die Szenen, in denen Sigourney Weaver sich ›wie ein Gorilla‹ den Tieren annähert, ihren Kopf bedächtig senkt und sich vom Silberrücken respektvoll abwendet und dieser ihr schließlich seine Hand entgegenstreckt, haben wahrscheinlich nicht nur für mich eine romantische Vorstellung eröffnet. Eine Vorstellung, in der ein wild lebendes Tier aus eigenen Stücken einen Menschen zulässt. Ein Bild für einen paradiesischen Zustand, in dem sich Mensch und Tier verstehen. Ich bin diesem Zustand nicht abgeneigt. Im Gegenteil denke ich, dass eine »companionship« (Haraway 2003) mit einer anderen Spezies durchaus mittels sensibler Wahrnehmung des Anderen möglich ist. Wenn wir uns in der Verfilmung die Hollywood-Klischees wegdenken, zeigt Gorillas in the Mist die jahrelange Arbeit einer Person, die sich auf die Berggorillagruppe rund um den Silberrücken Digit einließ und sich dadurch selber transformierte. Der Film vermittelt uns, dass eine jahrelange Annäherung und eine sensible Wahrnehmung des Gegenübers die natürlichen Grenzen zwischen den Spezies dahingehend aufweichen können, dass ein gegenseitiges Verständnis möglich wird. Eine solche Kommunikation spielt sich immer an der Grenze zur Welt des anderen ab. Diese Welten unterscheiden sich durch die speziesbedingten
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Körperlichkeiten und die damit verbundenen anderen Wahrnehmungsmuster und Reiz-Handlungs-Parameter (vgl. Üexküll 1956). So ist die Welt einer Biene eine absolut andere als die einer Katze. Diese andere Welt kann man zwar erahnen oder zu verstehen versuchen, aber nie selber erfahren. Zu wissen, was es heißt, als Biene durch ihre Welt zu fliegen, bleibt somit für alle Nicht-Bienen unerlebbar. Abb. 1: Benjamin Egger mit acht Jahren auf einem Pony
Foto: © Benjamin Egger
Ich selbst fühle mich durch das Ausüben von Kommunikationshandlungen mit Tieren in der Welt aufgehobener. Meine eigene Welt wird durch die Zusammenarbeit mit Tieren in einem existenziellen Sinn einfacher und ehrlicher. In zwischenmenschlichen Beziehungen spielen unausgesprochene Vorstellungen und Sehnsüchte oft eine tragende Rolle. Tiere hingegen nehmen sich selber so an, wie sie sind, und lösen dadurch bei ihrem menschlichen Gegenüber ein ebensolches, direktes Verhalten aus. Dies hat auch damit zu tun, dass es gerade wegen der existenziellen Unterschiede zwischen Tier und Mensch ganz grundsätzlich darum geht, überhaupt eine gemeinsame Kommunikationsebene zu finden. Um diesen Verständigungsprozessen näher zu rücken, umgebe ich mich seit Jahren mit Tieren. Meine künstlerische Praxis basiert auf diesen Erfahrungen und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Tieres. Ich schloss vor Kurzem eine mehrjährige, am Anthropologischen Institut der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste angegliederte Studie ab, für die ich mit einer 16-köpfigen Schimpansengruppe eines Schwei-
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zer Zoos zusammenarbeitete. Dabei untersuchte ich in wöchentlichen Sitzungen, ob die Schimpansen einen selbstmotivierten Umgang mit Malutensilien entwickeln (vgl. Egger 2017). Daneben begann ich, Ziegen, Schweine, Hühner, Meerschweinchen und eine Katze zu betreuen, die im Kleinzoo eines Gemeinschaftszentrums in Zürich untergebracht sind. Neben der Versorgung der Tiere bringe ich dabei auch in regelmäßigen Abständen Kindern den Zugang zu und den Umgang mit den Tieren näher. Zusätzlich habe ich mich vor einigen Monaten dazu entschlossen, einen Hund in meine Welt zu holen. Hunde sind durch ihre Kosozialisation mit Menschen diejenigen Tiere, die eine speziesübergreifende Kommunikation als Existenzgrundlage in ihrem Wesen eingeschrieben haben. Nach meiner Untersuchung mit den Schimpansen und neben meiner Betreuungstätigkeit für die Tiere des Gemeinschaftszentrums ist es nun mein Leben mit Farok, so der Name des Hundes, über das ich mein Erfahrungswissen mit Tieren in den letzten Jahren vertiefen konnte. Aufgrund dieser praktischen Erfahrungen stelle ich hier meine Überlegungen zu einer speziesübergreifenden Kommunikation und ihrem Potenzial in Bezug auf eine nonverbale, intuitive Verständigung an. Abb. 2: Farok an der Leine
Foto: © Benjamin Egger
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Benjamin Egger She just can’t be chained to a life where nothing’s gained and nothing’s lost. But 1 such a cost. (Melanie, Ruby Tuesday, 1970)
Als ich Farok auf dem Online-Portal einer Tierschutzorganisation erblickte, hat mich der Notfallbanner auf dem Abbild berührt. Die kurz aufgelistete Lebensgeschichte des ehemaligen Sprengstoffspürhunds, der die sieben Jahre seines bisherigen Lebens vornehmlich alleine in einem Zwinger verbracht hatte, sowie die Tatsache, dass ihm der Euthanasietod drohte, falls er nicht anderweitig untergebracht werden konnte, erweckten Mitleid in mir. Die Dringlichkeit, mit der er aus der damalig aktuellen Pflegefamilie weg musste, da er auf menschliche Einflussnahmen nicht zu reagieren schien und u. a. unkontrolliert an der Leine zog, hat zudem meinen Ehrgeiz im Umgang mit Tieren angestachelt. So kam es dazu, dass der belgische Schäferhund – der in seinem Leben neben dem Zwinger nicht viel mehr gesehen hat als den Kofferumschlagplatz des Pariser Flughafens – bei mir und meiner Mitbewohnerin einzog. Von Anfang an war klar, dass Farok ein unbändiger Hund ist. Zu Beginn hatte ich in der Tat eher das Gefühl, ein sich wild gebärdendes Reh an die Leine gebunden zu haben als ein durch die Menschheitsgeschichte genetisch mutiertes Tier, das in der sozialen Symbiose mit Menschen seine Evolutionskarriere vom Wolf zum Hund gemacht hatte. Hunde haben durch ihre Evolutionsgeschichte eine einzigartige Position innerhalb der Gemeinschaft von Menschen und Tieren inne. Dass sie erst in Koexistenz mit Menschen zu Hunden wurden, hat seine Konsequenzen. Ein Hund kann als Extension seiner Bezugsperson gesehen werden. Der Mensch konnte sich über den Zeitraum der gegenseitigen Annäherung die Fähigkeiten der Hunde zunutze machen und durch diese z. B. seinen eigenen Geruchsund Gehörsinn erweitern. Verständlicherweise kommt eine solche Sinnesdelegation nicht automatisch zustande. Eine in Koexistenz lebende, speziesübergreifende Gemeinschaft lebt von ihrer Morphologie, also von permanenten und wechselseitigen »Intra-Actions« (Barad 2007: 98–185). Es handelt sich hierbei in erster Linie um Beziehungsarbeit. Diese verlangt in einem entscheidenden Maße die Fähigkeit der In-Beziehung-Stehenden, den anderen in sich aufkommen zu lassen und in der unüberbrückbaren körperlichen Differenz das gemeinsam Mögliche zu finden. Da Hunde in direkter Koexistenz mit Menschen auch deren Lebensraum teilen, lösen sie eine zweifache Reflexion der Hundehalter_innen aus. Durch ihr Verhalten zeigen sie einerseits die Differenz der Bedürfnisse zwischen den Spezies auf: Ich habe bis jetzt – als Hundehalter von Farok – nie den Drang verspürt, den Urin eines anderen Hundes am Wegrand zu beschnüffeln. Ebenso braucht er, im Vergleich zu mir, nicht acht Stunden Schlaf in der Nacht, 1 | Im Original von den Rolling Stones aus dem Jahr 1966 heißt es »At such a cost«.
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um entspannt in den Tag zu starten. Andererseits führen Hunde durch ihre Präsenz an der Seite des Menschen vor Augen, wie man in der menschlichen Lebenswelt wahrgenommen und dabei permanent auch bewertet wird. Als Person mit einem Hund an der Leine wird man als Hundehalter_in gelesen, als jemand, die_der nicht nur dem Tier, sondern auch den Mitmenschen gegenüber eine Verantwortung trägt. Ein kläffender Hund ist mühsam. Ein Hund, der den Jogging-Flow unterbricht, löst Augenrollen aus. Ein Hund, der friedlich unter dem Zugsitz liegt, ist ein lieber Weggefährte. Wie sich die Tiere in unserer Lebenswelt zu bewegen wissen, entscheidet über den sozialen Ein- respektive Ausschluss der Hunde und ihren Halter_innen. Es muss also eine speziesübergreifende Beziehung entstehen, die in der menschlichen Umwelt bestehen darf. Das In-Relation-Setzen von Bedürfnissen und das Abgleichen von daraus resultierenden Prioritäten, die dazu nötig sind, ist nichts anderes, als eine Beziehung zwischen zwei Individuen herzustellen. Bei Hunden ist das Hauptwerkzeug zu einer fruchtbaren Bindung die Leine. Dass die Leine ein wechselseitiges Kommunikationstool ist, kann man heute in diversen Ratgebern nachlesen. Die meisten Menschen, die nie mit Hunden eine Beziehung hatten, sehen sie jedoch als nötiges Repressionsinstrument. Sie wissen nicht um die perfiden Spiele in Bezug auf die Frage, wer jetzt genau mit wem an der Leine spaziert. Über die Leine und das gemeinsame Gehen entsteht zwischen Hund und Halter_in nicht nur eine physische, sondern genauso eine emotionale und mentale Verbundenheit. In der Praxis ist der ›schöne Leinengang‹ derjenige, bei dem der Karabiner an der Leine durch die Schwerkraft Richtung Boden hängt. Also derjenige, der die Leine als schlapp hängendes Ding eigentlich unnötig macht. Doch wie erlerne ich nun mit Farok, der sich als wild zerrendes Reh gebärdet, diesen schönen Leinengang? Ein Hundetrainer, den ich am Anfang des Zusammenlebens mit Farok konsultierte, schickte diesbezüglich voraus: »Ich brauche nie eine Leine. Ich bin Hundetrainer. Wäre ja komisch, oder?« Die Lektion, die ich zu lernen ermutigt wurde, ist simpel: Wenn die physische Begrenzung zur mentalen Begrenzung wird, dann hast du den Hund im Griff. Um diesen Griff zu erreichen, ging der Hundetrainer relativ brutal vor. Neben einem Würgehalsband benutze er eine Metallkette als Erziehungsinstrument. Um für mich nachvollziehbar zu machen, dass ein Anwerfen der Metallkette beim Hund keine Schmerzen verursacht, sondern ihn eher kurz alles andere vergessen macht, schmiss er die Kette zuerst mir an. Ich war einerseits verwundert und andererseits besorgt um Farok. Im Gegensatz zur Brutalität des Würgehalsbands und der Metallkette hat mir eine andere Hundetrainerin den Leckerlisack nahegelegt und mich mit Leberpastentuben eingedeckt. Credo: Umkonditionierung. Sie hat sich mit ihrem schrillen »Faroooook!« mit anschließendem »Ich wollte nur kurz seine Aufmerksamkeit« nicht gerade in eine Vorstellung von einem künftigen Selbst von mir verwandelt. Nichtsdestotrotz schien sie
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felsenfest von der in der Mensch-Hunde-Welt verbreiteten Methode der positiven Verstärkung überzeugt, was nicht unansteckend war. Wahrscheinlich braucht sie auch keine Leine? Ich habe sie nicht gefragt. Erklärtes Ziel von beiden Lagern: die Bedürfnisse des Hundes so umzuformen, dass sie mit den meinen und vor allem auch mit denen der menschlichen Gemeinschaft um mich herum in Einklang zu bringen sind. Das eine Lager verpflichtet sich auf Einschränkung und Unterbinden der Bedürfnisse – u. a. mit dem Werkzeug der Bestrafung –, während das andere Lager auf die Macht von Leckerli schwört, um neue Bedürfnisse zu formen. Abb. 3: Angela Widmer und Pili
Foto: © Benjamin Egger Trust is like a mirror. You can fix it if it’s broke. But you can still see the crack in that motherfucker’s reflection. (Beyoncé und Lady Gaga, Telephone, 2009)
Um mit den Bedürfnissen des anderen arbeiten und auf sie reagieren zu können, braucht es erst mal eine Annäherung, die diese Bedürfnisse offenbart. Eine solche Annäherung geht von beiden Seiten aus und bedingt ein Verständnis bzw. ein Einfühlungsvermögen gegenüber dem anderen Individuum. Dass es sich dabei um einen gegenseitigen Prozess handelt, konnte ich auch von Angela Widmer lernen. Angela ist die ehemalige Revierleiterin ›Affen‹ jenes Zoos, in dem ich mit den Schimpansen arbeitete. Sie hat mit mir über zwei Jahre hinweg wöchentliche Sitzungen mit der 16-köpfigen Schimpansengruppe durchgeführt, bei denen wir erforschten, ob die Tiere einen selbstmotivierten Umgang mit Malutensilien entwickeln. Während der ers-
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ten Monate sind wir da gesessen und haben vergeblich darauf gewartet, dass die Schimpansen anfangen, mit der Farbe rumzuschmieren. Angela betonte immer wieder, dass die Schimpansen gar nicht wüssten, was Malutensilien sind, weder Pinsel noch Farbe kennen und nur in Kontakt mit Papier kommen, wenn ihnen zur Beschäftigung Papierbahnen ins Innengehege gespannt werden. Sie war der Meinung, dass den Affen zumindest Hinweise zu geben sind, was das Ganze soll, um ihnen eine faire Chance zu geben, sich der Aufgabe zu stellen. Dieser auf Erfahrungswissen beruhende Ratschlag war jedoch nicht mit dem Forschungsfokus vereinbar. Mit den Forschungspartner_innen, die im Hintergrund des Projekts standen, sprich dem Anthropologischen Institut der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule der Künste, hatte ich den Aspekt der ›Selbstmotivation‹ als strikte Vorgabe definiert. Die Vorstellung, dass die Schimpansen ohne jedwede Einflussnahme von uns Menschen mit ›Malen‹ beginnen, versprach einerseits eine verlockende Schlagzeile. Andererseits war klar, dass, wenn wir beginnen, aktiv mit den Schimpansen zu interagieren, dies aus wissenschaftlicher Sicht eine Verwässerung der Resultate bedeuten würde. Der Konflikt, der das Ausbleiben der erhofften Maltätigkeit auslöste, war für mich deshalb von fundamentaler Art. Ich rang darum zu entscheiden, wer nun falsch lag. War es Angela, die den Schimpansen nicht zutraute herauszufinden, dass die Farben zum Streichen da sind und dass diese visuell-motorische Tätigkeit sie beglücken wird? Oder waren wir – die Initiator_innen des Projekts – die Fehlgeleiteten, die einem Tier eine von seinem Alltag völlig losgelöste Aufgabe stellten und dabei von ihm erwarteten, sich sowohl die Aufgabe als auch die Methode zu ihrer Lösung selbst zu erschließen? Heute bin ich der Überzeugung, dass wir falsch lagen. Angela hat eine, sich über 30 Jahre erstreckende, gemeinsame Geschichte mit den Schimpansen. Sie hatte mit ihnen schreckliche Unfälle, Totgeburten und Hierarchiekämpfe durchgemacht. Sie hatte Hilfestellungen bei Geburten geleistet und dankend angenommene Fürsorge bei Krankheiten miterlebt. Über die vielen Jahre baute sie dadurch mit jedem einzelnen Mitglied der Gruppe eine persönlich verbindende Beziehung auf. Ihre Einwände beruhten nicht auf einem vorwissenschaftlichen Pragmatismus, sondern vielmehr auf ihrem persönlichen Erfahrungswissen und dem darauf auf bauenden Anliegen, den Schimpansen überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich bezüglich unseres Vorhabens zu verhalten. Angela betonte auch die individuellen Voraussetzungen der einzelnen Schimpansen. Sie verhielt sich z. B. anders zum Schimpansenjungen Petiri als zur 14 Jahre älteren Balima, da Balima von ihrem praktischen Vermögen her geschickter ist als er. In diesem Sinne hat sie einen pluralen Begriff von Schimpansen, der sich aus persönlichen Beziehungen speist und dadurch auch komplex und unfassbar bleibt. Im Gegensatz zu einem wissenschaftlichen Begriff
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des Schimpansen, der die ganze Spezies im Allgemeinen zu erfassen versucht, ist dies ein grundsätzlicher Unterschied. Die zentrale Bedeutung dieser persönlichen Beziehung musste ich zuerst selbst erfahren, damit ich Angelas Zugang zu den Affen verstehen konnte. Über die zwei Jahre der Untersuchung baute ich eigene Beziehungen mit den Schimpansen auf. Mit der Zeit erkannte ich die einzelnen Individuen schon von Weitem oder auch wenn sie mir den Rücken zuwendeten. Genauso wurde ich Bestandteil ihrer wöchentlichen Routine. Die einen Schimpansen freuten sich, wenn sie mich von ihrem Gehege aus ankommen sahen, anderen war ich wiederum gleichgültig. Aufgrund der eigenen Beziehung, die ich neben Angela zu den Tieren auf baute, entstanden auch divergierende Einschätzungen. So hatte ich z. B. weniger Bedenken in Bezug auf Chicca, eine gewiefte Schimpansendame, vor deren schmalen Händen Angela großen Respekt hatte. Ich war aber auch nicht dabei gewesen, als Chicca die Haare einer anderen Tierpflegerin durch das Gitter ergriffen hatte. Die Diskussionen, die ich mit Angela führte, basierten alle auf Erfahrungswerten und persönlichen Wahrnehmungen der einzelnen Schimpansen. Sie bezogen sich mehr auf emotionale als auf rationale Befunde. »Ich hab heute das Gefühl, dass Chicca ein wenig angespannt und nervös ist im Vergleich zur letzten Woche.« – Solche Einschätzungen, und das ist entscheidend, basierten nicht nur auf Beobachtungen des Verhaltens, sondern vor allem auch auf Emotionalitäten oder Befindlichkeiten, die sich zwischen den Tieren und uns übertrugen. Wenn ich etwas von Angela gelernt habe, dann diese Übertragung zuzulassen und die Tiere geradezu körperlich wahrzunehmen. Wenn man mit Schimpansen arbeitet und interagiert, ist es schlicht lebenserhaltend, auf Körperimpulse zu hören und sie als Reaktionsgrundlage zu nutzen. Schimpansen sind flink und geschickt, und der Bruchteil einer Sekunde, in der man zuerst zu rationalisieren versucht, was ihr Körperausdruck wohl bedeutet, ist ein Bruchteil zu spät. Ungut – zurücktreten. Eine solche Vorgehensweise benötigt neben einem Vertrauen in die eigene Wahrnehmung das Erlernen oder, vielleicht besser, das Zulassen einer entsprechenden Reaktion darauf. So geht es schließlich nicht nur darum, sich in Sicherheit zu bringen, sondern in einem weitergehenden Sinn, darum, mit diesen Körperimpulsen produktiv zu arbeiten und eine Kommunikation aufzubauen, die solch intuitive Annahmen zu ihrem Bestandteil macht. Time is the essence of all. Never a break. Never a pause. Time is there and then it’s gone. Gone before there’s an after. You betta listen. (Laurnea, Betta Listen, 1997)
In der praktischen Arbeit mit Tieren ist – neben der langfristigen Beziehungsarbeit – das richtige Timing der halbe Erfolg. Die Konsequenzen eines richtigen Timings kann man gut beim konditionierenden Training mit Hunden
An der Grenze zur Andersar tigkeit
beobachten. Es geht hierbei um ein effektives Zeitintervall von einer halben Sekunde: Lobwort und dann muss das Leckerli in einer halben Sekunde im Mund sein. Das Ziel dieser kurzen Reaktionszeit besteht darin, dass eine direkte, positive Verknüpfung gemacht wird, dass also der Hund seine Handlung und das positive Feedback miteinander verbindet. Wer einmal einen in der Technik des Klicker-Trainings geschulten Hund miterleben konnte, weiß, wie gewisse Hunde von sich aus, sich immer mehr an den vom Menschen gewünschten Handlungsablauf annähern können. Bei meiner Schulung für den Sachkundenachweis für Hundehalter_innen führte die Lehrerin dies mit ihrem Hund vor: Der Rüde musste – aufgrund eines spontanen Vorschlags eines Kursteilnehmers – seinen Kopf in den Abfalleimer senken. Die klickende Hundehalterin hat ihn bei der Annäherung zu diesem Akt begleitet und ihm jedes Mal, wenn er dem Ziel etwas näher kam, mit einem Klick und einem Leckerli deutlich gemacht, dass er auf dem richtigen Weg ist. Die Krux beim sogenannten Klickern ist, dass der Hund von sich aus auf den vom Menschen gewünschten Handlungsstrang kommen muss. Der Hund wird also nicht in die gewünschte Position geführt und dann belohnt, sondern er muss eigenständig herausfinden, was gemeint ist und was er machen muss. Diese Ausgangslage begründet eine andere Art von Kommunikationsfähigkeit, die im menschlichen Alltag gegenüber Tieren oft vergessen geht. Tiere können sich für Handlungen entscheiden und Alternativhandlungen anbieten, wenn es sich für sie lohnt. In einer solchen Konstellation ist das Erspüren der Intention entscheidend. Der richtige Moment ist oftmals nicht während der Handlung selber, sondern während der Intention vor der eigentlichen Handlung. Das Spüren der Intention beruht jedoch nicht auf einer äußeren Wahrnehmung, sondern vielmehr auf einem Gefühl oder einer emotionalen Annahme, dass das Tier die gewünschte Handlung intendiert. Man muss das Tier gut kennen, damit die Offenheit für eine solche körperlich-emotionale Übertragung stattfinden kann. Die Beschreibung dieses Moments ist schwierig. Es ist der Moment, vor einem Schimpansen einen Schritt zurückzutreten, und dann zu merken, dass vorhin irgendwie ein mulmiges Gefühl aufkam. Der Augenblick, bei dem man merkt, dass der Hund den Ball aus seinem Gebiss lösen will, bevor er das Maul effektiv öffnet. Der Moment, vor dem Wollschweineber stehen zu bleiben, obwohl er einen anrempelt, weil man anschließend merkt, dass er die Standfestigkeit von einem austesten wollte. Die rationalisierende Zeitachse ist dabei rückwirkend und nicht vorgängig.
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Abb. 4: Otto und Willi im Gemeinschaftszentrum Zürich-Wipkingen
Foto: © Benjamin Egger What a difference a day made. And the difference is you. (Stanley Adams, What a difference a day makes, 1934)
Das Tier als das andere in sich selbst zuzulassen, das bildet die Schwelle zu einer speziesübergreifenden Kommunikation. Es geht dabei nicht um das Berüchtigte Sich-auf-Augenhöhe-Begegnen, sondern vielmehr darum, für das andere durchlässig zu werden und die Eigenart ihrer oder seiner Körperimpulse in sich aufkommen zu lassen. Ich spreche hier von allgemeinen Emotionalitäten wie aufgeregt sein, beruhigt sein, Angst haben, aggressiv sein, sich bedrängt fühlen usw. Bei einer speziesübergreifenden Kommunikation ist dies eine Lernsache und nicht selbstverständlich. Simple Dinge wie etwa, dass ein Pferd – bzw. die meisten Tiere – den direkten Blickkontakt als Bedrohung empfinden, ein Hund diesen aber zur Absicherung benötigt, muss ich als Mensch irgendwo erfahren haben. Dass Meerschweinchen still liegen, wenn wir sie streicheln, weil sie in einer Schockstarre sind und nicht in einem genießenden Wellnessmoment, muss man irgendwo gelernt haben. Dass Hunde, die sich fremd sind, nicht fröhlich auf der Wiese rumspielen, sondern eine Rangordnung aushandeln, will als solches verstanden werden. Dieses Verständnis muss erarbeitet werden, zugleich bleibt es uns bis zu einem gewissen Punkt auch verwehrt. So wie wir niemals wissen können, wie es sich anfühlt, als Biene durch die Welt zu fliegen, so ist es ist ein Trugschluss, als Mensch eine tierische Beziehung mit Tieren führen zu können. Es ist nicht nur ein Trugschluss, sondern auch eine Diffamierung der Schönheit von Differenz – und, je nach Spezies, lebensgefährlich. Wer dieses Spiel oder, vielleicht besser, diesen Tanz an der Grenze zur Andersartigkeit praktiziert, weiß um die gegenseitige Transformation, die er
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bewirken kann. Das Training, die Arbeit, das gemeinsame Durchführen von Handlungen bilden hierbei den Tanzboden, auf dem physische Grenzen wie Gitter, Leine oder Zaun überwunden werden können. Das Aushandeln der meist funktionalen Handlungsstränge zwingt beide Partner_innen, sich auf den anderen einzulassen und seine Körperlichkeit, Zeitlichkeit und Räumlichkeit in sich zu reflektieren. Diese drei Grundpfeiler der Welt des anderen müssen bis zu einem gewissen Grad in den eigenen Körper übergehen. Dabei bildet der Respekt gegenüber den Voraussetzungen sowie den Grenzen des anderen die Grundlage für ein Vertrauen, das in Aufgehobenheit mündet und ein produktives Zusammenarbeiten ermöglicht. Die Körperlichkeit ist für diese Beziehungsarbeit wohl der delikateste und zugleich der entscheidendste Aspekt. Eine andere Körperlichkeit in sich zu reflektieren, verlangt viel Offenheit für das Gegenüber und die Fähigkeit, sich im anderen selber zu vergessen. Für mich hat dieser Punkt mit etwas Unsagbaren zu tun, das sich am ehesten über schleierhafte, tendenziell esoterische Szenarien beschreiben lässt. Es ist eine Art Wissen, was der andere meint, ohne dies ausdrücken zu müssen. Eine indirekte Kommunikation über Körperempfindungen, die sich nicht rationalisieren lässt. Dass diese Form der Kommunikation überhaupt als etwas Besonderes wahrgenommen wird, trifft wohl nur auf uns Menschen zu. In unseren sozial hyperkomplexen und regulierten Systemen bildet die sprachliche Rechtfertigung, die Begründung, eine ungemein wichtige Rolle. »Es hat sich im Moment einfach gut angefühlt« ist je nach Konsequenz der vorangegangenen Handlung innerhalb der menschlichen Gemeinschaft schlicht kein Argument. Unsere sozialen Verantwortlichkeiten sind zu komplex und unsere Gewissenhaftigkeit zu entscheidend. Das intuitive und emotionale Wissen muss bis zu einem gewissen Grad marginalisiert werden, damit ein solch gesellschaftliches Zusammensein überhaupt bestehen kann. Ich bin nicht der Meinung, dass wir als Menschen nun völlig unseren Körperimpulsen folgend jedwede juristische Errungenschaft über den Haufen tanzen sollten. Doch in der Zusammenarbeit mit Tieren – bei der es ganz grundsätzlich um den jetzigen, gemeinsamen Moment geht – können wir lernen, dieser Art von Wissen mehr Raum zu geben und ›dem Anderen‹ losgelöst von Vorurteilen und verfestigten Vorstellungen zu begegnen wie auch dieses ›Andere‹ erst mal zuzulassen, bevor wir uns davon abgrenzen.
L iter atur Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. North Carolina: Duke University Press.
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Benjamin Egger
Egger, Benjamin (2017): Inherent Crossing: On the Evidence of a Paragraphic Intention. Institute for Contemporary Art Research der Zürcher Hochschule der Künste. Online unter www.inherent-crossing.net (12.08.2017). Haraway, Donna J. (2003): The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago: Prickly Paradigm Press. Van Uexküll, Jakob (1956): Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Angaben zu den Autor_innen
Reinhold Bidner studierte an der FH Salzburg (MultiMediaArt), am Duncan of Jordanstone College of Art and Design, Schottland, Dundee (Animation and Electronic Media) und diplomierte in Berlin 2001 im Rahmen eines SokratesStipendiums. Ab 2001 arbeitete er in Linz am Ars Electronica Futurelab, wo er 2005 Key-Researcher für den Bereich TimeBased Media wurde. Seit 2006 ist er freischaffend in den Bereichen Animation, Games, Media Art, Video & Fotografie tätig. Neben individuellen künstlerischen Arbeiten ist er Mitglied des Kollektivs gold extra und unterrichtet an der Kunstuniversität Linz in den Bereichen Animation, Motion Graphics & Interactive-Video. Reinhold lebt und arbeitet in Wien und Salzburg. Marcel Bleuler ist Leiter des Postgraduierten-Programms Arts and International Cooperation an der Zürcher Hochschule der Künste und unterrichtet am Schwerpunkt Wissenschaft & Kunst, Kooperation Paris Lodron Universität Salzburg und Universität Mozarteum Salzburg. Er war mehrfach Lehrbeauftragter an den Universitäten Bern und Zürich und ist Projektleiter bei artasfoundation, der Schweizer Stiftung für Kunst in Konfliktregionen. Gefördert durch den Schweizerischen Nationalfonds forscht er über Kunstprojekte, die Austausch über kulturelle Grenzen hinweg zu fördern suchen. Er beschäftigt sich insbesondere mit Ansätzen des Relationship-Building vor dem Hintergrund globaler und kultureller Ungleichheitsverhältnisse und mit konkreten Ansätzen einer dialogischen Ästhetik. Weitere Forschungsschwerpunkte: künstlerische Forschung, Kollaboration, das Amateurhafte als Strategie der zeitgenössischen Kunst. María do Mar Castro Varela ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Diplom-Psychologin, Diplom-Pädagogin und promovierte Politikwissenschaftlerin. In 2016 war sie Senior Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien (IWM). Forschungsschwerpunkte: Refugee Studies, Critical Education Gender und Queer Studies und Postkoloniale Theorie. Zurzeit arbeitet sie u. a. zur Konti-
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nuität von traumatischen Erfahrungen. Publikationen u. a.: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (gem. mit Nikita Dhawan) und Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart (hg. gem. mit Paul Mecheril). Isolde Charim, geb. in Wien, Philosophin und Publizistin, langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Wien mit Schwerpunkt Ideologietheorie, zuletzt Gastprofessur für Politische Theorie an der Universität Wien. Kolumnistin der taz und der Wiener Zeitung, wissenschaftliche Kuratorin der Reihen Diaspora. Erkundungen eines Lebensmodells sowie Demokratie reloaded am Bruno Kreisky Forum in Wien (siehe dazu: Isolde Charim/Gertraud Auer [Hg.]: Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden. Bielefeld: transcript). Philosophische Sommervorlesung im Radiosender Ö1 im Juli 2016, die auch als CD erschienen ist. Demnächst erscheint die Publikation Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert im Zsolnay Verlag. Benjamin Egger arbeitet als Künstler in Zürich. Bis 2017 leitete er das Forschungsprojekt Inherent Crossing am Institute for Contemporary Art Research der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), für das er mit dem Anthropologischen Institut der Universität Zürich zusammenarbeitete. Er lehrt regelmäßig an der ZHdK, wo er 2014 auch das Masterprogramm in Transdisziplinarität abschloss. Bis 2008 studierte er bildende Kunst in Zürich und an der Bezalel Academy for Arts and Design Jerusalem. Von 2009 bis 2011 war er Atelierstipendiat der Stiftung Binz 39. Benjamin Egger hat Texte über Tiere und deren kulturelle Konstruktion veröffentlicht und an diversen Ausstellungen und Performancefestivals teilgenommen; u. a. an Kunst – Ein Evolutionärer Denkansatz am Museum der Anthropologie Zürich (2016–2017) oder an Referendum on withdrawal from the human race in Warschau und Kiew (2014). Can Gülcü, geboren 1976 in Bursa, lebt seit 1990 in Österreich. Arbeitet als Kulturschaffender in Wien an den Schnittstellen verschiedener Kunstformen und politisch-partizipativer Kulturarbeit mit Fokus auf gesellschaftliche, politische und soziale Machtverhältnisse. Seit Oktober 2017 verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit des Verbands zur gewerkschaftlichen Unterstützung undokumentiert Arbeitender in Österreich UNDOK. 2012–2015 mit Radostina Patulova und Petja Dimitrova (bis 2014) Leitung des Kulturfestivals WIENWOCHE und 2012–2014 mit Katharina Morawek Leitung der Shedhalle Zürich. Lehrbeauftragter am Institut für Pädagogische Professionalisierung an der Karl-Franzens-Universität Graz, zuvor an der Akademie der bildenden Künste Wien. Aktivist, Vorstandsmitglied der Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch und Mitautor von Beograd Gazela – Reiseführer in eine Elendssiedlung.
Angaben zu den Autor_innen
Romana Hagyo arbeitet in den Bereichen bildende Kunst und Kunstwissenschaften zu Stadtforschung, Raumtheorien und Gender Studies. Sie ist als Doktorandin Mitarbeiterin am Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst (Paris Lodron Universität Salzburg und Universität Mozarteum Salzburg) und Lehrbeauftragte der Kunstuniversität Linz. Ihre Dissertation Über das Wohnen im Bilde sein fokussiert Konzeptionen des Öffentlichen und Privaten in ausgewählten künstlerischen Darstellungen des Wohnens. Sie ist Preisträgerin der Anni und Heinrich Sussmann-Stiftung und des Trend-Profil Verlags und war Stipendiatin der GEDOK Lübeck, des Künstlerhauses Schloss Plüschow und des Landes Vorarlberg. Korinna Lindinger lebt als Künstlerin und Soziologin in Wien. Ihre künstlerische Arbeit beschäftigt sich mit der Verortung der_des Einzelnen in ihrer_seiner (sozialen) Umgebung. Wichtig ist ihr die Auseinandersetzung mit Raum, Bewegung und Elektronik als künstlerisches Material. Lindinger ist Teil der Künstlerinnenkollektive kaquadrat und maschen. Sie wurde u. a. mit dem Salzburger Landespreis für Medienkunst, dem Preis des Otto Prutscher Fonds und dem Alois Mock Förderpreis ausgezeichnet. Ihre sozialwissenschaftlichen Forschungsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, Kindheit, Raum und Bildung. Sie ist Lektorin für Kinderrechte an der Universität Wien, war Beirätin für interdisziplinäre Kunst des Bundeskanzleramts und bis 2017 am Institut für Kinderrechte und Elternbildung beschäftigt. Seit 2017 ist sie Universitätsassistentin am Department für Raumplanung der Technischen Universität Wien. Ina Mertens, geboren 1981 in Krefeld, studierte Kunstgeschichte in Wien, Krakau und Bern, wo sie 2016 mit der Arbeit Stadt – Land – Kosmos. Die slowakischen Neoavantgarden und ihr Verhältnis zum Außen promoviert wurde. Sie war als Projektkoordinatorin, Ausstellungsorganisatorin und Kunstvermittlerin für Institutionen, Künstler_innen und Kurator_innen tätig u. a. für das mumok in Wien, für die Ausstellung VALIE EXPORT auf der 2. Moskau Biennale, für documenta 12, den Verein tranzit.org, die Július Koller Society in Bratislava und das Belvedere in Wien. Ihr Forschungsinteresse gilt der Kunst Ost- und Mittelosteuropas im 20. und 21. Jahrhundert. Aktuell arbeitet sie für die Zentralbibliothek Zürich. Anita Moser ist Senior Scientist am Programmbereich Zeitgenössische Kunst und Kulturproduktion des Schwerpunkts Wissenschaft & Kunst (Kooperation Paris Lodron Universität Salzburg/Universität Mozarteum Salzburg), wo sie den Forschungsbereich Öffentlichkeit(en) und Intervention leitet. Forschungsschwerpunkte sind Kulturmanagement, Freie Kulturarbeit, Gender Studies sowie zeitgenössische Kunst und Migration. Sie publizierte u. a. Die Kunst der Grenzüberschreitung. Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Poli-
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tik (transcript) und ist auch Lehrbeauftragte an der Universität Innsbruck. Nach dem Studium der Komparatistik und spanischen Philologie in Innsbruck/Österreich und Bilbao/Spanien war sie u. a. als leitende Angestellte beim Festival Neuer Musik Klangspuren Schwaz und Geschäftsführerin der Interessenvertretung freier Tiroler Kulturinitiativen (TKI) tätig. Siri Peyer promoviert an der HafenCity Universität Hamburg bei Prof. Dr. Gesa Ziemer. Seit 2015 ist sie wissenschaftliche Assistentin in der Forschungsgruppe Kunst, Design und Öffentlichkeit an der Hochschule Luzern – Kunst & Design. Ihre Dissertation schreibt sie im Rahmen des Forschungsprojektes What can art do? Die Dissertation untersucht anhand einer diskursanalytischen Beschreibung von Fallbeispielen, wie sich prozessuale, partizipative und politisch engagierte Kunstpraxen inszenieren und welche Ansprüche der/die Künstler_in an die jeweilige gesellschaftliche Funktion stellt. Sie ist freie Kuratorin und hat mehrere Ausstellungen kuratiert und kokuratiert u. a. ReCoCo – Life Under Representational Regimes (zusammen mit Joshua Simon) im White Space Zürich (2011), in der Kunsthalle Exnergasse, Wien (2011) und im MoBY – Museums of Bat Yam, Israel (2013). Sonja Prlić ist Medienkünstlerin, Regisseurin und Dramaturgin. Ihre Studien führten sie über Literatur und Dramaturgie zu künstlerischen Computerspielen. 1998 begründete sie die Künstler_innengruppe gold extra mit und arbeitet seither an Projekten zwischen Theater, Neuen Medien und Computerspielen. Ihr Interesse gilt neben Robotertheater der Entwicklung neuer künstlerischer Formen für dokumentarische Computerspiele. Ihre künstlerisch forschende Dissertation auf diesem Gebiet wurde mit dem Award of Excellence ausgezeichnet. Für ihre künstlerischen Arbeiten erhielt sie Auszeichnungen wie das Dramatikerstipendium der Republik Österreich und den Autoren- und Produzentenpreis des Jungen Theater Bremen. Die Computerspiele von gold extra erhielten u. a. den österreichischen Outstanding Artist Award und den Salzburger Medienkunstpreis. Karla Spiluttini ist Medienkünstlerin, Forscherin und Vermittlerin in Wien. Diplome der Transmedialen Kunst und der Medienwissenschaften. Künstlerische und wissenschaftliche Schwerpunkte: Materialforschung, Phänomenologie von Elektronischen und Maker Kulturen, spielerischer Umgang mit Elektronik. Letzteren vermittelt sie u. a. an der Universität für Angewandte Kunst Wien, der Akademie der bildenden Künste Wien und der NDU St. Pölten. Als Teil des Medienkulturverein Subnet Salzburg ist sie in Kooperation mit Korinna Lindinger für Planung und Ausführung des Workshop- und Vortragsprogramms tinkerlab der Schmiede Hallein und die Programmierung des Subnet Residency Programms subnetAIR zuständig. Parallel dazu künstlerische Tä-
Angaben zu den Autor_innen
tigkeit. 2017 Projektmanagerin der Themenkonferenzen des Ars Electronica Festivals in Linz zu AI – Artificial Intelligence. Das Andere Ich. Karl Zechenter ist Künstler und Kurator, lebt und arbeitet in Salzburg, Österreich. Er ist Mitbegründer der Künstler_innengruppe gold extra, Vorsitzender des Dachverbandes Salzburger Kulturstätten, Mitglied der IG Kultur Ländervertretung, des Salzburger Landeskulturbeirates und lehrt an der Universität Salzburg und der Kunstuniversität Mozarteum. Als Künstler ist er im Bereich von Theater, bildender Kunst und Medienkunst mit gold extra tätig. Die Arbeiten haben Auszeichnungen und Preise erhalten und wurden weltweit ausgestellt (ZKM, Games for Change N. Y.). Forschungsinteressen sind u. a. dokumentarische Medienkunst und kulturelle Bildung. Als Kulturveranstalter war er u. a. künstlerischer Leiter der ARGEkultur Salzburg und setzte zahlreiche Initiativen zur Förderung junger Künstler_innen in verschiedenen Kunstbereichen.
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Abbildungsverzeichnis
Ina Mertens – Entgrenzungsoperationen Abb. 1: Július Koller, U.F.O.-naut J. K. (U.F.O.), 1970 (Foto: Milan Sirkovský) (© Slovak National Gallery, Bratislava) | 37 Abb. 2: Július Koller, Universell physisch-kulturelle Operation (Angriff) (U.F.O.), 1970 (Foto: Milan Sirkovský) (© Kontakt Collection, Wien) | 38 Abb. 3: Július Koller, U.F.O.-naut J. K. (U.F.O.), 1980 (Foto: Kveta Fulierová) (© Slovak National Gallery, Bratislava) | 39 Marcel Bleuler – Was macht Kunst in der Konfliktzone? Abb. 1: Bewohner_innen von Zemo Nikozi bei den Abschlusspräsentationen von off/line 2016 (Foto: Olivia Jaques) | 54 Abb. 2: David Kukhalashvili und lokale Handwerker errichten den durch den »Village Fund« finanzierten Spielplatz (Foto: Marcel Bleuler) | 62 Abb. 3: Sabine Schlatter beim Zeichnen ihrer ›Mappings‹ im ehemaligen Kulturclub und heutigen Gemeindehaus von Zemo Nikozi (Foto: Marcel Bleuler) | 67 Abb. 4: Tamar Botchorishvili beim Materialtest zur Reparatur einer von Einschusslöchern übersäten Hausfassade in Zemo Nikozi (Foto: Sabine Schlatter) | 70 Abb. 5: Die Künstlerin Linda Pfenninger bei einer Szenenbesprechung mit den Bewohnern und Filmdarstellern Guram Kereselidze und Sergo Kereselidze für den Film Nikozi Shadows (Foto: Philip Matesic) | 73 Anita Moser – Verhandlung von Zugehörigkeitsordnungen in Fluchtkontexten Abb. 1: Pressekonferenz von Refugees über die Menschenrechtsverletzungen im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, 31. Juli 2015 (Foto: © Andrea Peller) | 89 Abb. 2: Protestaktion von Die Schweigende Mehrheit sagt JA! im August 2015 in Wiens Mariahilfer Straße (Foto: © Andrea Peller) | 90 Abb. 3: Szene aus Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene, Uraufführung am 12. September 2015 in der Arena Wien (Foto: © Schweigende Mehrheit) | 93
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Abb. 4: Interviewszene aus Schutzbefohlene performen Jelineks Schutzbefohlene, Uraufführung am 12. September 2015 in der Arena Wien (Foto: © Schweigende Mehrheit) | 94 Sonja Prlić, Reinhold Bidner, Karl Zechenter (gold extra) – Grenzerfahrungen als Computerspiel Abb. 1a und 1b: Der Grenzzaun von Ceuta in der Realität und im Spiel (gold extra) | 106 Abb. 2: Grabsteine der unbekannten Toten, die an der spanischen Küste gefunden wurden, im Spiel (gold extra) | 108 Abb. 3: Screenshot aus From Darkness: Der Slum Kibera in Nairobi (gold extra) | 113 Abb. 4: Arbeiten mit Collagetechniken. Schichten überlagern sich (gold extra) | 113 Abb. 5: Erinnerungsräume in From Darkness (gold extra) | 113 Karla Spiluttini, Korinna Lindinger – Wild Abb. 1: Isa Grimm macht Werbung für ihren Twitter-Account (Foto: kaquadrat) | 121 Abb. 2: Gruppe von Capreolus sapiens (Foto: kaquadrat) | 123 Abb. 3: Sitzung der Crayfish Inc. Niederlassung Tennengau (Foto: kaquadrat) | 127 Romana Hagyo – Green, Green Grass of Home Abb. 1: Maja Bajević, Green, Green Grass of Home, 2002, in Zusammenarbeit mit Emanuel Licha, Videoinstallation (17′4″), Videostill: Maja Bajević | 135 Abb. 2: Maja Bajević, Women at Work – Under Construction, 1999, Performance, Fotodokumentation: Haris Memija, Dejan Vekic, Maja Bajević | 137 Abb. 3: Maja Bajević, Women at Work – Under Construction, 1999, Performance, Fotodokumentation: Haris Memija, Dejan Vekic, Maja Bajević | 138 Anita Moser – »Radikalität findet dort statt, wo ich meine eigenen Regeln breche« Abb. 1: Abschlussabend von WIENWOCHE 2014 mit Gazino Royal Viyana und musikalischen Highlights der Gastarbeiter_innen-Kultur (Foto: © WIENWOCHE/Drago Palavra) | 147 Abb. 2: Am 25. September 2013 spazierten rund 300 WahlweXler_innen vom Wiener Kulturzentrum WUK zum nächstgelegenen Postkasten, um die Wahlkarten einzuwerfen (Foto: © WIENWOCHE/Drago Palavra) | 148 Abb. 3: Ausschnitt aus dem Projekt Graus der Geschichte mit dem FPÖ-Politiker Jörg Haider als ›Geist der Geschichte‹ (Foto: © Wienwoche/Drago Palavra) | 151
Abbildungsverzeichnis
Siri Peyer – Die Kluft zwischen diskursiver Behauptung und Umsetzung Abb. 1: CATPC Künstler Jeremie Mabiala mit der Skulptur The Art Collector im White Cube in Lusanga (Foto: Thomas Nolf) | 162 Abb. 2: Ausstellungsansicht Cercle d’Art des Travailleurs de Plantation Congolaise, SculptureCenter, New York, 2017 (Foto: Kyle Knodell) | 165 Marcel Bleuler – Raum der unüberwindbaren Differenz? Abb. 1: Fünf der insgesamt 14 Protagonist_innen aus Christoph Schlingensiefs Film The African Twintowers (2005–2009) in der namibischen Steppe (© Aino Laberenz und Filmgalerie 451) | 177 Abb. 2: Szene aus Christoph Schlingensiefs Theaterproduktion Via Intolleranza II (Uraufführung: Kunstfestivaldesarts, Brüssel, 15.05.2010). Im Hintergrund die ›an Europa‹ erkrankte Sängerin »Kandy« Manounata Guira (© Aino Laberenz) | 180 Abb. 3: Fotografie von Nomwindé Vivien Sawadogo aus seinem Residency-Aufenthalt im Operndorf Afrika von Mitte Oktober bis Mitte Dezember 2016 (© Nomwindé Vivien Sawadogo) | 184 Abb. 4: Ansicht der ortspezifischen Arbeit Foyer (2016) von Pio Rahner auf dem Hof des Operndorf Afrika. Der aus Lateritsteinen bestehende Kreis hat einen Umfang von 32 Schritten (© Pio Rahner) | 189 Benjamin Egger – An der Grenze zur Andersartigkeit Abb. 1: Benjamin Egger mit acht Jahren auf einem Pony (© Benjamin Egger) | 196 Abb. 2: Farok an der Leine (© Benjamin Egger) | 197 Abb. 3: Angela Widmer und Pili (© Benjamin Egger) | 200 Abb. 4: Otto und Willi im Gemeinschaftszentrum Zürich-Wipkingen (© Benjamin Egger) | 204
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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
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