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German Pages 704 [720] Year 1998
BEITRAGE ZUR KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE
Herausgegeben von Bernd Sösemann
BANDS
W DE
G Walter de Gruyter - Berlin
1998
New York
Emil Dovifat im Dezember 1967
BERND SÖSEMANN (Hg.) in Zusammenarbeit mit Gunda Stöber
EMIL DOVIFAT Studien und Dokumente u Leben und Werk
W DE
G Walter de Gruyter · Berlin 1998
New York
bbildungsnachweis Die Photographien aus dem Leben von Emil Dovifat stellte Frau Dr. Dorothee von Dadelsen, Tübingen, zur Verfügung; die beiden Aufnahmen aus dem ersten Vorlesungsverzeichnis finden sich im Bestand der Sammlung AKIP. Die Deutsche Bibliothek — ClP-liinbeitsaufnahme
Emil Dovifat: Studien und Dokumente zu Leben und Werk / Bernd Sösemann (Hg.). In Zusammenarbeit mit Gunda Stöber. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1998 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte ; Bd. 8) ISBN 3-11-015771-3
© Copyright 1998 by Walter de Gruyter GmbH & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin
VORWORT
Die Freie Universität Berlin und mit ihr das Institut für Publizistikund Kommunikationswissenschaft feiern 1998 ihr fünfzigjähriges Jubiläum. Eine zeitungswissenschaftliche Einrichtung, jedoch deutlich geringeren Umfangs und Anspruchs, besteht in Berlin seit einem Dreivierteljahrhundert. Mit dieser langen Tradition der zeitungs- und publizistikwissenschaftlichen Lehre und Forschung sind der Name und das Werk von Emil Dovifat (27.XII. 1890—8.X. 1969) besonders eng verbunden. 1998 liegt die feierliche Antrittsvorlesung von Dovifat an der Friedrich-Wilhelms-Universität siebzig Jahre zurück. Bereits mit ihrem Titel, „Wege und Ziele der zeitungswissenschaftlichen Arbeit", weist sie auf die ersten Wandlungen des noch jungen Faches und seines Selbstverständnisses im Lauf der Jahrzehnte hin. Emil Dovifat zählt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Zeitungsforschung und der Publizistikwissenschaft in Deutschland. Während seiner über dreißigjährigen akademischen Tätigkeit hat seine Lehre besonders beeindruckt, erinnern sich viele seiner Vorlesungsteilnehmer. Den Wissenschaftler weist vorrangig das dreibändige „Handbuch der Publizistik" aus. Die Mitwirkung in medienpolitischen Beratungsgremien trug ebenso zu seinem hohen Bekanntheitsgrad bei wie seine starke Präsenz als Redner in der akademischen und außeruniversitären Öffentlichkeit. Zusammen mit den großen und kleinen Monographien aus seiner Feder, seinen Broschüren, zahlreichen Beiträgen und Kommentaren in Jubiläumsschriften, in- und ausländischen Zeitschriften und Tageszeitungen ergibt sich ein kaum noch zu überschauendes CEuvre. Eine der gründlichsten Bibliographien nennt fast siebenhundert Titel; doch längst sind weitere hinzugekommen, darunter während der Bearbeitung dieses Bandes diverse Zeitungsartikel, ein spektakulärer Text über den Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur und schließlich eine Denkschrift über die Rundfunkkunde als Gegenstand akademischer Lehre und Forschung. Das an der Freien Universität Berlin mit Unterstützung der „Pressestiftung Tagesspiegel" Anfang der neunziger Jahre veranstaltete Sympo-
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Vorwort
sion zu Emil Dovifat — geleitet von Stephan Ruß-Mohl und Bernd Sösemann — fand eine so starke Resonanz, daß einige der Beteiligten und weitere Interessierte sich entschlossen, das Vorgetragene zu überarbeiten und zusätzliche Themen aufzugreifen. Dem Herausgeber mußte es deshalb darum gehen, mit den vorliegenden Beiträgen nicht nur einen Überblick über den gesicherten Bestand an Kenntnissen zu Biographie, wissenschaftlichem und publizistischem Schaffen zu geben, sondern auch Kontroversen und Forschungslücken sichtbar zu machen. Der Erste Teil des Sammelbandes geht auf die großen Themen im wissenschaftlichen und publizistischen Schaffen von Dovifat ein. Der Abdruck eines Artikels über das Attentat vom 20. Juli 1944 erschließt zwar kein publizistikwissenschaftliches Neuland, doch ist er von hohem allgemeinen Interesse, denn es handelt sich um bisher unbekannte, im Herbst 1945 in einer amerikanischen Zeitschrift erschienene Äußerungen von Dovifat zum Widerstand gegen Hitler. Es überrascht nicht, daß die Tätigkeit von Dovifat in der Phase nationalsozialistischer Herrschaft öffentlich besonders kritisch diskutiert wird. Nach der Wiedervereinigung scheint jedoch allgemein das Verständnis für die schwierige Lage derjenigen in einer Diktatur gewachsen zu sein, für die aus privaten und beruflichen Gründen die unmißverständliche Entscheidung nicht nahelag, eine so exponierte Tätigkeit wie die des Universitätslehrers aufzugeben oder sogar zu emigrieren. Aus Ministerialüberlieferungen, Personalakten, Promotionsunterlagen und zahlreichen weiteren, erstmals erschlossenen privaten und staatlichen Beständen ließen sich hierzu tiefere Einsichten gewinnen. Doch nicht nur zu diesem Thema präsentiert der Band Neues. Eine umfangreiche Dokumentation zu Leben, Werk und Wirken von Emil Dovifat erfaßt im Zweiten Teil einen nicht unerheblichen Bestand wenig bekannter und erstmals publizierter Materialien. Der Wiederabdruck einiger, an entlegenen Orten publizierten Artikel und Reden soll vernachlässigte Themen schärfer ins Blickfeld rücken. Es ging deshalb in diesem Abschnitt keineswegs darum, in lückenloser Folge alle Jahrzehnte und Tätigkeitsbereiche vorzustellen, sondern sowohl Schlüsseldokumente vorzulegen, die für die vielfältigen Aktionsbereiche bedeutsam sind, wie auch auf zu Unrecht Vergessenes, auf Übersehenes und auf bislang Verborgenes aufmerksam zu machen. Die frühen Zeitungsbeiträge wurden mit aufgenommen, weil sich für sie trotz ihrer Bedeutung kein Bearbeiter finden ließ. Sie bieten für das Verständnis des (partei-) politischen und sozialen Denkens des jüngeren Emil Dovifat gutes An-
Vorwort
VII
schauungsmaterial. Der Forschung und Lehre, den Dovifat-Kennern und den Interessierten an seiner Biographie und seinem Werk soll mit den Beiträgen im Ersten Teil und den Dokumenten des Zweiten Teils eine günstigere Informations- und Interpretationsgrundlage geschaffen werden. Allen Teilnehmern am Symposion und den später hinzugetretenen Autoren danke ich für ihre Beiträge und Ratschläge für die Dokumentation. Da das langsamste Schiff in einem Geleitzug die Geschwindigkeit bestimmt, konnte dieser Sammelband nicht so zeitig vorgelegt werden, wie wir es uns ursprünglich gedacht hatten. In der Schlußphase haben die Mitarbeiter am Lehrstuhl erheblich dazu beigetragen, daß der Herstellungsprozeß sich wesentlich beschleunigte. Dr. Jürgen Michael Schulz stellte auch für diesen Band der „Beiträge zur Kommunikationsgeschichte" die Druckvorlage her. Alle abschließenden redaktionellen Arbeiten koordinierte cand. phil. Klaus Klose. Die Berliner Gesellschaft „Freunde der Publizistik" unterstützte unsere Vorarbeiten finanziell. Frau Dr. Dorothee von Dadelsen (Tübingen) und Herr Dr. Bernhard Dovifat (Berlin) gestatteten uns die Benutzung des Nachlasses ihres Vaters im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin), erschlossen uns die in privater Hand befindlichen Dokumente und erlaubten die Veröffentlichungen im Zweiten Teil. Allen danke ich für ihr tatkräftiges Engagement auch an dieser Stelle herzlich.
15. Februar 1998
Bernd Sösemann
INHALT
VORWORT
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ERSTERTEIL Studien zu Leben und Werfe Klaus-Ulrich Benedikt: Ein deutsches Leben — mal sachlich betrachtet
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Elisabeth Noelle-Neumarm: Lehrer und Schülerin — ein Doppelporträt
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Joachim Heuser/Peter Szyszka: Das „Deutsche Institut für Zeitungskunde", Berlin. Martin Mohr als unfreiwilliger Wegbereiter Emil Dovifats
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Rudolf Stober Emil Dovifat in der Weimarer Republik: Bemerkungen zu Pressefreiheit, Demokratie und Subsidiaritätsprinzip
69
Otto Köhler: Auf krummen Wegen gerade gedacht. Emil Dovifat und der gelenkte Journalismus Bernd Sösemann: Auf dem Grat zwischen Entschiedenheit und Kompromiß
93 103
Astrid M. Eckert „Mit Stolz blicken die Deutschen auf die Männer des 20. Juli..." Ein unbekannter Artikel Emil Dovifats über das Attentat auf Hitler
161
Jürgen Michael Schulz: Aktivitäten für die Neue Zeit. Emil Dovifat und sein publizistisches Engagement für die CDU
187
Barbara Baems: „Wahrheit Wahrheit und Lüge Lüge nennen können". Öffentliche Informationsleistungen als Thema der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft Emil Dovifats. Rekonstruktionsversuch und Kritik
229
Jürgen Wilke: Standardwerk oder Materialsammlung ohne wissenschaftlichen Anspruch? Emil Dovifats „Zeitungslehre" und die Entwicklung der Zeitungswissenschaft in Deutschland HerbertKundler Schatten auf dem Bilde Emil Dovifats
267 289
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Inhalt
Stephan Rifl-Mohl: „Der amerikanische Journalismus". Zur Aktualität von Dovifats Frühwerk
307
Andreas Kühler. Emil Dovifat und das Institut für Publizistik
325
Dovifat und seine „Nachfolger". Materialien zur Rezeption: Leitfaden-Interviews im Auszug, zusammengetragen von Andreas KäUer
405
ZWEITERTEIL Wissenschaftliches und öffentliches Wirken in Dokumenten aus sieben Jahrzehnten, 1919—1977
VORBEMERKUNGEN ZUR DOKUMENTATION VERZEICHNIS DER DOKUMENTE
AUSWAHLBIBLIOGRAPHIE VERZEICHNIS DER AUTOREN
427 429
685 693,
ERSTER TEIL
Studien zu Leben und Werk
Ein deutsches Leben — mal sachlich betrachtet KLAUS-ULRICH BENEDIKT
Emil Dovifat ist vielleicht kein Musterbeispiel eines deutschen Lebens, wohl aber ein Musterbeispiel dafür, wieviel ein Deutscher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erleben, erfahren und nicht zuletzt auch erleiden kann. Die Generation der wie Dovifat um 1890 Geborenen war Zeitzeuge des Kaiserreiches, des Ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik, des Dritten Reiches, der Nachkriegszeit (Dovifat im doppelt erlebnisreichen Berlin) und der Entwicklung der beiden deutschen Staaten bis zur Studentenbewegung. Dovifat hat ihre Hoch-Zeit noch miterlebt — er starb im Jahre 1969. Diese Jahrzehnte suchen an Fülle und Vielfalt der Ereignisse und Entwicklungen ihresgleichen. Wer sie bewußt oder aktiv miterlebt hat oder gar — wie Dovifat — auch mitgestalten wollte, hatte gar keine Chance, ein ruhiges, friedliches Leben zu leben. Das gelang nur unpolitischen Menschen, Duckmäusern oder wandlungsfähigen Mitläufern — Wendehälsen, wie wir heute sagen. Bewußte und engagierte Menschen wie Dovifat fanden zwar epochenweise viel Freiraum zum politischen und gesellschaftlichen Wirken, aber in der folgenden Gegenbewegung mußten sie sich Stillschweigen auferlegen, wenn sie nicht ohnehin mit Repressionen oder „erzieherischen Maßnahmen" zu rechnen hatten. „Gut" und „Böse" war immer klar definiert — wie heute auch. Insofern scheint es möglich, eine Persönlichkeit wie Emil Dovifat sachlich, vielleicht sogar objektiv zu betrachten. Emil Dovifat war als Hochschullehrer von 1928 bis kurz vor seinem Tode aktiv. Er war aber nicht nur Wissenschaftler, sondern immer auch Politiker — in den politischen Parteien, in den Standesorganisationen der Journalisten, in der Kirche und in den Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
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Klaus-Ulrich Benedikt
Diese Durchdringung verschiedener Lebensbereiche macht jedoch eine sachliche Betrachtung Dovifats schwer. Zumal er den Nationalsozialismus nicht nur miterlebte und überlebte, sondern sich auch mit ihm zu arrangieren wußte — wie hätte er sonst seinen Lehrstuhl behalten können? Damit war Dovifat für manche Kritiker zwangsläufig verdächtig. Aber auch für manche Forscher, denn viele Dovifat-Betrachter waren (und sind) beides zugleich: Forscher und Kritiker. Daher ist es nötig, endlich einmal zu einer sachlichen Betrachtung Dovifats vorzudringen — eine objektive wird und kann es wohl nie geben. Auch die Zeitzeugen sind dazu nicht in der Lage. Denn die waren zwar dabei, aber war es wirklich so, wie sie es gesehen haben?
Pro und Contra Die Debatte um Dovifats Verhalten im Dritten Reich ist eigentlich ganz einfach — oder unendlich schwierig, je nachdem, wie differenziert man denkt und an den Menschen Dovifat heranzugehen bereit und in der Lage ist. Hier seien nun einfach die „Fakten" beider Seiten — oder was jeweils dafür gilt — vorgetragen, und zwar bewußt unsachlich überspitzt: Dovifat war ein Nazi, weil er — nicht ins Exil ging, an seinem Posten klebte und mit den Herrschenden kollaborierte. — weiterhin Aufsätze publizierte, vor allem während des Krieges. — Neuauflagen der „Zeitungslehre" vorlegte, die ohne jede Distanzierung die medienpolitischen Grundsätze der Nationalsozialisten referierten und alle Ansprüche auf Camouflage nur wie eine Schutzbehauptung klingen lassen. — im Buch „Rede und Redner" Hitlers Redegabe in monumentalen Worten pries, die kaum als Camouflage zu verstehen sind. — Stichworte zum „Handbuch der Zeitungswissenschaft" beitrug, die reichlich antisemitisch gefärbt sind. (Bleibt die Frage: Hat die Redaktion seine Texte nazifiziert, oder verwandte er reichlich braune Tarnfarbe, um bei dem Prestigeprojekt dabeizusein?)
Ein deutsches Leben — mal sachlich betrachtet
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Soweit die „Fakten". Begründungen für Dovifats Verhalten gibt es ebenso viele, je nach Differenzierung: a) Dovifats national geprägte Gesinnung, die die Nazis doch als Verbündete erkannte, b) seine Überzeugung, immer das Richtige zu tun, c) seine Angst, aufzufallen statt mitzulaufen, d) sein Geltungsdrang. Alle diese Begründungen sind einleuchtend — sofern Sie ins Weltbild des Betrachters passen. Aber betrachten wir zunächst die „Fakten" der anderen Seite: Dovifat war kein Nazi, weil er — nicht ins Exil floh, sondern gegen die Herrschenden arbeitete, um seinen Posten nicht den Nazis zu überlassen. — im Dritten Reich deutlich weniger Aufsätze publizierte. — Neuauflagen der „Zeitungslehre" vorlegte, in denen er als Zeichen seiner Distanzierung das nationalsozialistische Pressesystem mit Zitaten beschrieb. — er in seiner Publice Vorlesung deutlich zu verstehende, aber nicht deliktfähige Informationen und Kommentare gegen das Regime einflocht. — seine Arbeit in der katholischen Kirche fortsetzte. — als Hochschullehrer für mehrere Monate zwangspensioniert wurde. — trotz entsprechendem Dienstalter nicht Ordinarius wurde, sondern auf dem Status des Extraordinarius gehalten wurde. — in den Gestapo-Akten als unzuverlässig geführt wurde und es ihm z. B. verboten war, öffentlich zu sprechen. Auch hier lassen sich wieder zahlreiche Gründe für sein Verhalten finden: a) sein Herkommen aus der katholischen Soziallehre und -arbeit, b) seine nationale Gesinnung, c) seine überzeugte Ablehnung Hitlers, d) sein Glaube, daß die Arbeit für die Zukunft, die Vorbereitung einer Demokratie wichtiger sei als der aktive politische Kampf in der Gegenwart, e) sein Ehrgeiz oder — weniger positiv formuliert — sein starker Geltungsdrang, f) schließlich auch seine Familie, die ihm wichtiger war als die Politik. Der letzte Punkt ist gerade bei einem so gläubigen und aktiven Katholiken wie Dovifat nicht zu gering einzuschätzen. Denn in der gesamten Diskussion läuft man leicht Gefahr, die Frage nach dem „richtigen" Verhalten im Dritten Reich nur politisch und moralisch zu betrachten — noch dazu mit unserem Normenkatalog. Aber das „richtige Verhalten" im Dritten Reich war nicht allein eine politische Entscheidung —
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Klaus-Ulrich Benedikt
es hing auch von den persönlichen Umständen ab, von der Familie etwa, also den Kindern, den finanziellen Mitteln oder der Überzeugung, im (fremdsprachlichen) Exil als Mann der Sprache nicht mehr leben und arbeiten zu können.
II
Politik statt Wissenschaß Was kann also eine „sachliche" Betrachtung von Dovifats Leben leisten? Wie ist sie überhaupt möglich? Die seit Jahrzehnten flackernde — mal sengende, mal glimmende — Debatte um Dovifat reduziert sich in vielem auf die grundlegende Kontroverse: „Wer war der bessere Mensch, der Exilant oder der Kämpfer im System?" Anders gesagt: „Was war richtig: Exil oder Widerstand?" „Widerstand" heißt hier zweierlei: Zum einen Kampf im Untergrund, wie ihn Dovifats späterer Nachfolger Fritz Eberhard pflegte, der mit einer, wie er erzählte, „geräuschlosen Schreibmaschine" in dunklen Hinterzimmern Flugblätter verfaßte und unter Lebensgefahr verteilte, bis er schließlich fliehen mußte. Zum anderen all das, was unter „Camouflage" zusammengefaßt wird, also jene schwer zu beurteilenden Verhältnisse von Mitmachen und Widerstand, von Tarnung und Kampf. Dovifat ging nicht ins Exil, er nahm für seine Tätigkeit im Dritten Reich später stets den verdeckten Widerstand im Sinne der Camouflage für sich in Anspruch. Diese Kontroverse, welches Handeln im Dritten Reich „richtig" war, ist rein politisch. Sie ist natürlich bei einem so politischen Menschen wie Dovifat angebracht und notwendig, hat jedoch seit Jahren hartnäckig den Blick auf Dovifats eigentliche Tätigkeit, die Wissenschaft, verstellt. Zu einer ernsthaften und gründlichen Auseinandersetzung mit Dovifats Werk war die Publizistikwissenschaft bis heute nicht in der Lage. Immerhin zeichnen sich allmählich — mehr als 20 Jahre nach seinem Tode — die ersten Ansätze dafür ab. Auch dieser Aufsatz macht keine Ausnahme: Er befaßt sich nicht in erster Linie mit dem Wissenschaftler Dovifat, sondern soll sein Denken und Handeln an den Bruchstellen der Systeme beschreiben, also zwischen Weimarer Demokratie und Nationalsozialismus einerseits und
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zwischen Drittem Reich und junger bundesdeutscher Demokratie andererseits.
III
Biographie mit Gesinnung Für eine halbwegs sachliche Beurteilung Dovifats sind jedoch vorab zwei wichtige Punkte zu berücksichtigen: die Gesinnung und die Rolle des Nationalen. Dovifats Tun und Handeln war zumeist von „Gesinnung" geprägt. „Gesinnung" war für ihn Triebfeder und Kernpunkt jedes journalistischen und politischen Tuns. Er definierte sie als „charakterliche Grundhaltung, oft auch geneigt, ein Ziel anzugehen, eine Aufgabe zu lösen, ein Programm durchzusetzen oder zu zerschlagen. Gesinnung bejaht oder verneint, entbindet Liebe oder Haß in allen Graden und Dichtigkeiten."1 „National" ist für uns — im Gegensatz zu Dovifat — kein an sich positiver Wen, erst recht keine ausdrücklich positiv belegte Denk- oder Handlungsweise. Denn Deutsch-Nationales ist für die Generation der späten Geburt durch die Deutschnationalen und die Nationalsozialisten, die jene einfach geschluckt haben, schlichtweg ein Negativum oder doch zumindest ein Aspekt, der nur schwer mit den Werten unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Einklang zu bringen ist. Das war bei Dovifats Generation grundlegend anders. Sie wuchs im ungebrochenen Vaterlandsglauben des Kaiserreichs auf und zog mit buchstäblichem Hurrapatriotismus in den Ersten Weltkrieg. Aus 50 Jahren Distanz hat Dovifat die Augusttage 1914, in denen er Student der Universität Leipzig war, als „Ausbruch einer wahrhaften Volksbewegung"2 und die „Pflicht der Verteidigung [...] als eine vaterländische Aufgabe"3 erlebt. Diese Einstellung war — so Dovifat im Jahre 1964 — für die Entwicklung Deutschlands in jeder Hinsicht fatal: „Diese ,jungen Regimenter' erlitten dann im flandrischen Herbstfeldzug eine
1
Emil Dovifat: Handbuch der Publizistik. Band I. Berlin 1968, S. 30. Emil Dovifat: o.T. (über den Kriegsausbruch 1914), in: Epoca, 2 (1964), Nr. 7, S. 32. 3 Ebd. 2
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Feuertaufe, die ihnen, aber auch ihrer Führung, jede romantische Kriegsvorstellung zerstörte. Es geschah unter schwersten Opfern. [...] Hier erlosch bereits — mit Arbeitern und Studenten — ein großer Teil der jungen männlichen Generation, der später in den Weimarer Jahren in der Verteidigung der Demokratie fehlte."4 Diese klare Sicht der Dinge hatte Dovifat in den „Weimarer Jahren" natürlich noch nicht. Er stand politisch dem Zentrum nahe (gehörte ihm später auch an) und dachte in vielem national. Daher waren manche Gedanken und Forderungen der aufstrebenden Nationalsozialisten für ihn nicht a priori verdammenswert; erst sehr spät, auf dem Märkischen Katholikentag in Berlin im Juni 1934, forderte ihn ihre Politik zu einer öffentlichen Distanzierung heraus. Sie war ausschließlich christlich begründet, bekannte sich nachdrücklich zu Deutschland und wandte sich gegen „den Haß in seiner fanatischen, engen menschenmordenden Form mit seinem furchtbaren seelentötenden Gefolge"5. Aber damit sind wir schon einen Schritt zu weit: im Dritten Reich. Hier soll betrachtet werden, wie Dovifat den Bruch im System nachvollzog.
IV
Dovifat und die „Machtergreifung" Emil Dovifat war zum 1. Juli 1928 zum Leiter des Deutschen Instituts für Zeitungskunde ernannt worden. Damit verbunden war die Berufung durch die Universität Berlin zum außerordentlichen planmäßigen Professor der Philosophischen Fakultät für Zeitungswissenschaft. Sein Vorgänger, Martin Mohr, war lediglich Lehrbeauftragter gewesen. Er hatte das Institut — mit Dovifat als seinem Assistenten — im Februar 1924 gegründet, war aber schon im Juli 1927 gestorben. Dovifats Antrittsvorlesung sollte die Zeitungswissenschaft als vollwertiges akademisches Lehrfach darstellen, nicht als Vehikel der Journalistenausbildung, sondern als der erste Stein einer „Publizistischen Wissenschaft", deren Ziel „das Erkennen und Erforschen aller Formen des öffentlichen Lebens 4
Ebd. Zit. n. NN: Der Tag von Hoppegarten, in: Märkische Volkszeitung, Nr. 173, 25.06.1934. 5
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und all seiner Beeinflussungsmöglichkeiten"6 sein solle, für die es aber noch zu früh sei. Der Zeitungswissenschaft komme jedoch die Aufgabe zu, daß sie „auf einem ganz begrenzten Gebiete bohrt, indem man gleichsam einen Stollen vortreibt in der Hoffnung, daß auch die übrige Erdmasse ins Rutschen kommt, plötzlich in ganzer Breite absinkt und dem Auge größere und weitere Ausblicke freigibt"7. Dovifat hielt diese selbstauferlegte Beschränkung nur einige Semester lang durch. Schon im Sommersemester 1931 widmete er seine „Publice"-Vorlesung (für Hörer aller Fakultäten) dem Thema „Die publizistische Führung der Massen in der Gegenwart"8. Im Wintersemester 1932/33 untersuchte Dovifat im Oberkurs die „Psychologie der Meinungswerbung" in allen Formen und Medien. Er nahm damit die Erweiterung des Arbeitsgebietes des Instituts auf alle Medien — oder publizistischen Führungsmittel nach dem damaligen Sprachgebrauch — vorweg, die nach der „Machtergreifung" für die gesamte „Zeitungswissenschaft (die gleichwohl ihren Namen behielt) verbindlich wurde. Worum es ihm dabei ging, hatte er kurz zuvor in einem für die Weimarer Demokratie engagierten Sammelband, dem „Politischen Manifest Krisis" dargelegt: Um die Erforschung der publizistischen Werbeformen der radikalen Parteien, die deren Erfolge erklären und damit zugleich bremsen oder gar verhindern sollte. Dovifat sprach in diesem Zusammenhang die Rede und folgende kollektive Führungsmittel an: Uniform, Betriebszellen- und Häuserblockzeitung sowie Massenversammlungen, die politische Agitation direkt in die Tat umsetzten. Er forderte: „Es ist eine [...] riesengroße Aufgabe der kommenden deutschen Publizistik, in den breitsten [sie] Massen Sinn und kritische Unterscheidung zu wecken für diese neuesten Führungsmittel der Zeit."9
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Emil Dovifat: Wege und Ziele der zeitungswissenschaftlichen Arbeit (Antrittsvorlesung an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität vom 9. November 1928). Berlin 1928, S. 7; s. im zweiten Teil des vorliegenden Bandes, Nr. 8. 7 Ebd., S. 8. 8 Zit. nach dem Vorlesungsverzeichnis der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. 9 Emil Dovifat: Neue Aufgaben der deutschen Publizistik, in: Krisis. Ein politisches Manifest. Weimar 1932, S. 263.
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Klaus- Ulrich Benedikt
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Der Professor als Bekenner? Im Sommersemester 1933 hielt Dovifat im Oberkurs „Übungen zur Psychologie des publizistischen Charakters"10, die Publice-Vorlesung des folgenden Wintersemesters widmete er dem Thema „Deutschland im Kampf um die Weltmeinung"11. Die Erforschung der Zeitung war also zugunsten der übrigen Medien und Erscheinungsformen der Publizistik in den Hintergrund getreten. „Publizistische Führung" hieß das Objekt der Forschung in der damaligen Terminologie. Ziel war die Erkenntnis der „wahren Quellen und [...] inneren seelischen Voraussetzungen echten publizistischen Führertums"12. Dovifat hat diese Themen nicht nur aus der Überzeugung heraus angeboten, daß die Zeitungswissenschaft nun reif sei für die Ausweitung ihres Forschungsgebietes, auch wenn er diese öffentlich begründet hat. So erklärte er schon im April 1933 im „Zeitungs-Verlag", daß seine Forschungsrichtung vom „Führungsmittel"13 ausgehe: „Sie erforscht in erster Linie die Zeitung, zieht aber auch die übrigen Mittel der Meinungswerbung [...] in den Kreis vergleichender Betrachtung."14 Im Januarheft der „Zeitungswissenschaft", das das Selbstverständnis des Faches im Nationalsozialismus aufzeigt, begründet Dovifat die Ausweitung von Forschung und Lehre auf die „Grundsätze der Meinungsführung überhaupt"15, denn „nie in der Geschichte sind sie so total und in ihrer Auswirkung bis auf den letzten Volksgenossen eingesetzt und durchgesetzt worden"16. Für Dovifat waren diese Lehrveranstaltungen auch ein Stück wohl dosierte Aufklärung in einer Phase, da die Reglementierung und Gleichschaltung des öffentlichen Lebens mit aller Härte einsetzte, wenn auch nicht ein Akt des Widerstandes. Sich hier mit den rhetorischen und 10
Zit. nach dem Vorlesungsverzeichnis der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Zit. nach ebd. 12 Mitteilungen des Deutschen Instituts für Zeitungswissenschaft, Nr. 20, S. 6. 13 Emil Dovifat: Die Öffentlichkeit in der Außenpolitik (Rezension des Buches von E. Everth), in: Zeitungs-Verlag, 34 (1933), S. 235. 14 Ebd. 15 Emil Dovifat: Die Erweiterung der zeitungskundlichen zur allgemein-publizistischen Lehre und Forschung, in: Zeitungswissenschaft, 9 (1934), S. 13. 16 Ebd. 11
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publizistischen Mechanismen und Wirkungen der Nationalsozialisten (oder der italienischen Faschisten) auseinanderzusetzen, bedeutet zugleich, sie zu erklären und damit zu entzaubern. So verstand Dovifat seine Aufgabe als Hochschulprofessor in jener Zeit. Nur zu gern hat er später darauf hingewiesen, daß „Professor" vom lateinischen „profiteer" („ich bekenne") abgeleitet und daß er im Dritten Reich ein Bekenner gewesen sei. Dovifats Handeln als Hochschullehrer war in jenen Monaten und Jahren eindeutig politisch bestimmt. Daß er politisch agierte, paßt voll und ganz in jegliche Betrachtungsweise Dovifats — nur warum er das tat, darüber herrscht Unstimmigkeit. Nach seinem eigenen Bekunden waren der Reichstagsbrand und die Wahlen vom 5. März 1933 Schlüsselerlebnis — nicht um den wahren Charakter der Nationalsozialisten zu erkennen, sondern um ihre Medienarbeit und die Reaktion der deutschen Presse auf ihre Agitation zu studieren.
VI
Der Weg in die innere Emigration Dovifat zeigte in den Jahren 1933 und 1934 noch relativ wenig Scheu, seine Ansichten in Vorlesungen, Veröffentlichungen und öffentlichen Ansprachen kundzutun. Besonders stark engagierte er sich in der Arbeit der Katholischen Aktion. Der Höhepunkt dieser recht offenen Arbeit war seine Rede auf dem Märkischen Katholikentag. Trotz aller nationalen Akzente war diese Ansprache eine Absage an den Haß in jeglicher Form und ein Bekenntnis zur christlichen Nächstenliebe — und damit ein Aufruf gegen den Nationalsozialismus. Eine Woche später inszenierte das Regime den sogenannten „RöhmPutsch". Auch Dovifat stand auf der Schwarzen Liste, tauchte für ein paar Tage unter und konnte bald seiner gewohnten Tätigkeit wieder nachgehen. Erst in den Sommerferien wurde er vom Preußischen Kultusministerium überraschend in den Ruhestand versetzt. Dovifat hat die Maßnahme später stets als „Entlassung" (statt Pensionierung) stilisiert — und damit an seiner Fama gestrickt. Denn er war stets Direktor des Instituts geblieben, denn dieses unterstand nicht dem Ministerium, sondern wurde getragen von der Deutschen Gesellschaft für Zeitungswis-
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Klaus-Ulrich Benedikt
senschaft. Proteste von Fachkollegen, Studenten und nicht zuletzt auch Parteistellen führten im Oktober zur Rücknahme der Pensionierung. Dieses Ereignis war sicher ein Scheideweg für Dovifats Verhalten im Dritten Reich. Es zeigte ihm, wie nah Repressionen für manche Äußerungen waren, und lehrte ihn größtmögliche Vorsicht bei all seinen Äußerungen. Viele davon wurden so vorsichtig, daß ihre Botschaft je nach Hörer austauschbar wurde, daß jeder das heraushören konnte, was er wollte. Während sich die Hörer der Publice-Vorlesung atemlos an der Kühnheit seiner Formulierungen ergötzten und sich selbst als Nonkonformisten, ja mutige Widerständler fühlten, mußten sich GestapoAgenten ärgern, weil Dovifat wieder nichts wirklich Deliktfähiges über die Lippen gekommen war. Ein einfaches Beispiel: Wenn Dovifat im Wintersemester 1934/35 eine Vorlesung hielt über „Die großen politischen Redner"17 der Gegenwart, so konnte er natürlich nicht Hitlers Rhetorik verurteilen — warum auch, Hitler war ja wirklich ein glänzender Redner und (erschreckend) wirksamer Demagoge. Aber Dovifat spielte zum Vergleich auch Schallplattenaufnahmen großer ausländischer Politiker — und das hatte plötzlich eine politische, eine aufklärende Funktion. Zumindest für die Hörer, die englisch- oder französischsprachige Redner verstehen konnten. — Für den, der nur sieht „Dovifat lobt Hitler", ist Dovifats Haltung klar. Für den, der sieht „Dovifat macht Roosevelt hörbar", ist sie es ebenfalls. Unter der Oberfläche gingen freilich größere und kleinere Repressalien gegen Dovifat weiter, wie seine Personalakte belegt18. Der „Lehrplan der Zeitungswissenschaft in Deutschland", der vom Wintersemester 1935/36 an die Lehre vereinheitlichte, ließ Dovifat ohnehin weniger Spielraum. In seinen Publice-Vorlesungen agierte er nun ebenfalls vorsichtiger. Auch die Zahl der Veröffentlichungen nahm ab (sie stieg erst wieder während des Krieges an); die Arbeit in der katholischen Kirche geschah — vom Zehlendorfer Fronleichnamzug abgesehen — weniger in der Öffentlichkeit. Vielleicht bestand Dovifats Verdienst im Dritten Reich einfach darin, daß er andere ermutigte, zum Bleiben und Durch-
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Zit. nach dem Vorlesungsverzeichnis der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Vgl. Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, 42). Mainz 1986, S. 132f. 18
Ein deutsches Leben — mal sachlich betrachtet
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halten anspornte, zeigte, daß man überleben konnte, ohne sich in allem und jedem dem Regime zu unterwerfen. Stark umstritten sind in diesem Kontext Dovifats Veröffentlichungen, vor allem das Buch „Rede und Redner"19, die Überarbeitung der „Zeitungslehre" und seine Stichworte zum „Handbuch der Zeitungswissenschaft".
VII
Der schwierige Neuanfang Die Vielfalt von Dovifats Aktivitäten im Dritten Reich erschwert jedoch nicht nur seine Beurteilung aus heutiger Sicht, sondern machte ihm auch den Neuanfang nach 1945 nicht leichter. Dovifat galt nicht nur den Sowjets, sondern auch den Amerikanern als belasteter Mitläufer, d.h. als nicht geeignet für eine Tätigkeit im Journalismus20. Er gehörte zu den Mitbegründern der CDU in Berlin und war von Juli bis Oktober 1945 der erste Chefredakteur der CDU-Tageszeitung „Neue Zeit", die im Ostsektor Berlins erschien. Auf Intervention der Sowjets mußte er diesen Posten räumen. Vorausgegangen waren Angriffe auf Dovifat in der „Deutschen Volkszeitung" vom 26. September. Anlaß dafür war ein Kommentar in der „Neuen Zeit" gewesen, in dem er mehr Menschlichkeit im Alltag gefordert hatte. Mit Zitaten aus den unterschiedlichen Ausgaben der „Zeitungslehre" stellte die „Deutsche Volkszeitung" Dovifat als „eifrigen Anhänger Hitlers"21 dar. Wenig später veröffentlichte Dovifats Münchner Kollege Otto Groth in der „Neuen Zeitung" einen scharfen Artikel, in dem er Dovifat einen „redseligen Verkünder nationalsozialistischer Irrlehren"22, einen „Verteidiger nationalsozialistischer Verbrechen"23 nannte und ihn zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben aufforderte. 19
Emil Dovifat: Rede und Redner. Ihr Wesen und ihre politische Macht (Meyers kleine Handbücher 8). Leipzig 1937. 20 Vgl. Benedikt, Emil Dovifat (wie Anm. 18), S. 19, Anm. 92. 21 NN: Wer ist Herr Emil Dovifat?, in: Deutsche Volkszeitung (Zentralorgan der KPD), Nr. 91, 08.08.1945. 22 Otto Groth: Mehr Zurückhaltung! (Leserbrief), in: Die Neue Zeitung, 28.10.1945. 23 Ebd.
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Klaus-Ulrich Benedikt
Dovifat kämpfte in jener Zeit noch um seine Weiterbeschäftigung an der Universität Berlin, die im Ostsektor lag, also um die Genehmigung der beantragten Vorlesungen und Seminare sowie um die Sicherung des Instituts. Beides mißlang. Erst mit Gründung der Freien Universität konnte Dovifat seine Lehrtätigkeit in Berlin wieder aufnehmen. Seinen Versuchen, in München, Göttingen und Köln lehren zu können, war ebenfalls kein Erfolg beschieden, ohne daß jeweils politische Gründe dafür maßgeblich gewesen wären.
VIII Lehre statt Theoriebildung Die ersten Nachkriegsjahre Dovifats waren vor allem der Politik in der CDU und der aktuellen Publizistik (Tageszeitung und Hörfunk) gewidmet. Das war wohl auch der Grund, warum er nicht einmal publizistisch oder wissenschaftstheoretisch hervortrat. Die Neudefinition der Zeitungswissenschaft als Publizistik und die Neuorientierung des Faches durch programmatische Veröffentlichungen überließ er anderen. Dies macht es uns nun wiederum besonders schwer, den Blick auf den Wissenschaftler Dovifat zu lenken. Denn Dovifats Theorie ist zwar geisteswissenschaftlich-normativ, aber auch politisch: Sie bejaht die Meinungsbildung und -formung als aktive Leistung im öffentlichen Auftrag und fügt sich so in jedes politische System. So konnte die „Zeitungslehre" ohne große Mühe an das jeweilige System angepaßt werden. In der Auflage von 1944 sprach Dovifat von „politischer Willensbildung" statt von „Meinung" wie in den Auflagen zuvor. 1955 hieß es dann „öffentliche Meinungs- und Willensbildung". — Dovifats Lehre ist also eine Rechtfertigung der politischen Aufgabe der Presse in jeder Staatsform. Hier gehen Wissenschaft und Politik ineinander über. Es fällt schwer, nur die Wissenschaft zu sehen. Die meisten Kritiker Dovifats machen den Fehler, die „Zeitungslehre" (und oft auch seine ganze Lehre) nur politisch zu sehen und zu werten. Das ist ein Ansatz, dem schon HansJoachim Raabe 1962 in seiner streng linientreuen Leipziger Biographie gefolgt ist.
Ein deutsches Leben — mal sachlich betrachtet
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Die wissenschaftliche Fragestellung sollte also nicht lauten: „Warum hat Dovifat sich so verhalten?", sondern: „Was bedeutete seine Tätigkeit für das Fach?". Und dazu läßt sich feststellen, daß ihm das Institut und die praktische Arbeit mit den Studenten stets wichtiger waren als die Formulierung einer großen Lehre. Anders gesagt, arbeitete er lieber für die PubliceVorlesung als für theoriebildende Bücher. Denn ihm war die Ausbildung seiner Studenten, der zukünftigen Journalisten, wichtiger als die Theorie. Aber wofür hat Dovifat seine Studenten im Dritten Reich und in der jungen Bundesrepublik ausgebildet? Für die Demokratie, für das neue System nach dem Ende des Nationalsozialismus? Dies auszuloten wird eine Aufgabe der zukünftigen sachlichen Dovifat-Rezeption und -Forschung sein. Aber dieses Thema hat zugleich schon wieder den fatalen Hang in sich, von der reinen Wissenschaft zur Politik abzudriften. Denn hier wurde der Wissenschaftler Dovifat schon wieder politisch. — Bei Dovifat können wir der Politik wohl nicht entkommen ...
Lehrer und Schülerin — ein Doppelporträt ELISABETH NOELLE-NEUMANN
Als ich am Morgen des Festtages, an dem Emil Dovifat durch ein Symposium an der Freien Universität Berlin geehrt werden sollte, über ihn nachdachte, konnte ich mich nur schwer der Trauer erwehren. Was mich überfiel, war die Vorstellung einer Jahreszahl, seines Geburtsjahres 1890. Ich dachte nicht nur an Dovifat, ich dachte an alle, die in diesem Jahr in Deutschland geboren waren. Ein tragischer Weg war ihnen allen vorgezeichnet. Mit 24 Jahren, wenn man gerade seinen Lebensweg beginnt, der Ausbruch des schaurigen Ersten Weltkrieges. Mit 28 Jahren Zusammenbruch der Wertewelt des Kaiserreiches, mit der sie aufgewachsen waren. Weimarer Republik. Ein neuer Anlauf, das Leben zu gestalten. Anfang 40 abermals die Haut abgezogen, die Haut des Glaubens an ein Staatswesen, in dem man zu Hause sei. Viele dieses Jahrgangs haben diese Haut erst gar nicht angenommen. Sie war ihnen ja auch kaum empfohlen worden, weder von denjenigen, die an die parlamentarische Demokratie glaubten, noch von denen, die einen ganz anderen, einen totalitären Staat wollten. Die katholische Zeitung Germania, geistige Heimat Dovifats, war in diesen Jahren eine der wenigen Stimmen, von denen Zuversicht in das Gelingen der Weimarer Republik ausging. 1945, mit 55 Jahren, hatte sich der politische Weg, teils überzeugt gegangen, teils als Versuch durchlebt, gegen alle Überzeugung, doch etwas bewirken, etwas bewahren oder retten zu können — dieser Weg hatte sich als abgrundtief falsch erwiesen. Noch einmal Teilnahme am Wiederaufbau, umgeben von dem Argwohn derer, die 40 Jahre später und danach geboren waren. Die drei Lebensabschnitte Emil Dovifats treten vor das Auge. Von allen drei Lebensabschnitten weiß ich sehr wenig. Ich weiß, daß Dovifat mein Leben entscheidend beeinflußt hat. Wahrscheinlich ist es oft so,
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daß der Schüler wenig von seinem Lehrer weiß. Hoch selektiv interessierte ich mich für Dovifat nur dort, wo es mich betraf. Sein Wirken im Katholizismus, in der Politik, im Journalismus und nach 1945 in der Rundfunkpolitik war mir fremd. Das ganze Berliner Institut für Zeitungswissenschaft in der Breiten Straße hinter dem Schloß blieb mir im Grunde fremd. Richtig studiert hatte ich dort ja auch nur zwei Semester, im Wintersemester 1935/36 und im Sommersemester 1939. Ab September 1939 schrieb ich bei Dovifat meine Doktorarbeit, schloß sie im Dezember 1939 ab. Ich kann mich nur an zwei Gespräche mit meinem Doktorvater erinnern: Eines, als ich im September nach Kriegsausbruch mit dem Schreiben der Arbeit: „Meinungs- und Massenforschung in USA. Amerikanische Umfragen zu Politik und Presse" begann, und eines nach der Abgabe der Dissertation, als er mich belehrte, daß nach zwingender Vorschrift der Universität jüdische Autoren nicht zitiert werden durften, oder, falls es unumgänglich schiene, dann nur mit dem Zusatz hinter dem Namen: „Jude". Das bezog sich auf meine Erwähnungen von Walter Lippmann mit seinem Buch von 1922: „Öffentliche Meinung". Ich entschied mich für den Zusatz „Jude" zum Namen Lippmann. Dovifat versuchte nicht, meine Entscheidung zu beeinflussen. Er hat auch kein einziges Wort an meinem Manuskript verändert. Wir diskutierten auch nicht über die Vorschrift wegen der Zitierung jüdischer Autoren. Mir kam gar nicht der Gedanke, daß er diese Vorschrift billigen könnte. Ein halbes Jahr nach dem Erscheinen meiner Doktorarbeit im Moritz Diesterweg Verlag im Winter 1940 waren die 2000 Exemplare der ersten Auflage vergriffen. Dovifat sagte mir, das Propagandaministerium — oder Auswärtiges Amt? — gebe zur zweiten Auflage nur die Genehmigung, wenn ich am Text einiges änderte. Ich sagte gleich, daß ich das nicht wollte. Dovifat versuchte auch nicht, mich zu Änderungen zu überreden. Ich wäre auch sehr erstaunt gewesen, das hätte überhaupt nicht zu meinem Bild von ihm gepaßt. Die zweite Auflage unterblieb also. Ich hatte das Gefühl, daß Dovifat, wann immer wir zusammen sprachen, nachsichtig lächelte. Das traf auch sehr gut mein Verhältnis zu ihm. Er war mein Lehrer und blieb es für mich bis zu seinem Tod.
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Ganz lapidar hatte ich als Zehnjährige beschlossen, Journalistin zu werden. In meiner Familie gab es keine Vorbilder dafür. Auch sonst kann ich mich nicht erinnern, daß ich in meiner Berliner Kindheit irgendeinen Journalisten kannte. Die erste Begegnung mit dem Zeitungswesen war mein Besuch bei Heinz Ullstein im Sommer 1932. Damals war ich entschlossen, wenn irgend möglich die Schulzeit abzubrechen und sofort Journalistin zu werden. Mein Vater, seit 1928 erster Generaldirektor der Tonfilmgesellschaft TOBIS, war in größter Besorgnis, ich könnte meinen Willen versuchen durchzusetzen, und vermittelte mir das Gespräch — so als würde mir Heinz Ullstein geradewegs eine Position bei einer der von mir bewunderten Ullsteinzeitungen, zum Beispiel der BZ am Mittag anbieten. Heinz Ullstein las mehrere meiner mitgebrachten Manuskripte mit großem Ernst, während ich ihm gegenübersaß. Dann erklärte er, er sei ganz überzeugt, ich würde eine gute Journalistin werden. „Aber vorher", sagte er mit so viel Autorität, daß nichts dagegen zu machen war, „vorher müssen Sie das Abitur machen."
Irgendjemand erzählte mir von den Vorlesungen von Dovifat in der Berliner Universität „Für Hörer aller Fakultäten". „Zeitungswissenschaft" — das klang gut für mich, das hatte wenigstens mit Journalismus zu tun. Ich war damals nach Zwischenspielen an einer Haushaltsschule und einer kurzen, aber höchst eindrucksvollen Schulzeit in Salem Oberprimanerin in Göttingen. Die Sommerferien begannen Anfang Juli. In Berlin lief noch das Sommersemester bis Ende Juli. Ich ging „schwarz" in Dovifats Vorlesungen und war begeistert. Das überfüllte Auditorium Maximum — ich saß in einer der letzten Reihen — und die weit entfernte, aber doch hoch aufragende Gestalt des Professors mit der mächtigen Stimme. Atemlos hörte ich, wie er eine Karikatur an der Leinwand interpretierte. Eine neue Welt. In diesen Sommerwochen fuhr ich oft mit dem doppelstöckigen Omnibus 20 vom Automatenrestaurant Quick am Bahnhof Zoo zu meinem Elternhaus am Botanischen Garten. Es war der gleiche Bus, mit dem Dovifat zu seinem Haus nach Zehlendorf fuhr. Einmal, als ich mich auf dem Obergeschoß gerade hingesetzt hatte, entdeckte ich neben mir Dovifat. Ich überlegte kaum eine Minute, sprach ihn an, sagte, daß ich seine Vorlesung schwarz hörte und daß ich später bei ihm mein Doktorexamen machen würde und daß ich Journa-
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listin werden wolle. Damals sah ich zum ersten Mal sein nachsichtiges Lächeln. Er fragte mich, ob ich schon etwas geschrieben hätte, und ich fragte, ob ich ihm ein paar Manuskripte schicken dürfte. Er stimmte zu. Wenige Tage nach dem Erhalt meiner Kurzgeschichten antwortete er, er glaube, daß ich gute Aussichten im journalistischen Beruf hätte.
Ich entschied mich nach verspäteter Zulassung zum Studium — unmittelbar nach dem Abitur im Frühjahr 1935 war sie mir verweigert worden, weil ich als einzige meiner Göttinger Klasse nicht in den nationalsozialistischen BDM eingetreten war -, bei Dovifat im Hauptfach Zeitungswissenschaft zu studieren. Da die mißtrauische Berliner Universität Zeitungswissenschaft allein als Hauptfach nicht anerkannte, belegte ich als zweites Hauptfach Geschichte. Noch bevor ich irgendeine Vorlesung besucht hatte, erschien ich im Büro des Akademischen Auslandsamtes und erklärte, ich wollte mich um ein Auslandsstipendium bewerben. Die zwei Damen dort sahen mich belustigt an und fragten, wo ich denn studieren wollte. „In Frankreich". — „Ah — in Frankreich —" sagte eine von ihnen. „Wissen Sie, nach Frankreich kommen nur zwei Studentinnen im Jahr. Warum bewerben Sie sich nicht für Amerika — da gibt es immerhin sechs Stipendien pro Jahr für Mädchen." Innerhalb von Minuten änderte ich meinen Plan und füllte ein Antragsformular für USA aus. Die Geschichte zeigt, es war auf keinen Fall der Einfluß von Dovifat, der mich bewog, mich um ein Austauschstipendium für Amerika zu bewerben. Aber offenbar hatte er Einfluß auf die Entscheidung, daß ich tatsächlich eines der kostbaren sechs Austauschstipendien nach USA für das Studienjahr 1937/38 erhielt. Als diese Entscheidung fiel, studierte ich in München, und Dovifat selbst hat mir nie etwas darüber gesagt, wie es zu der Auswahl kam. Aber jemand erzählte mir, daß er zu dem Gremium gehörte, das in Berlin die Entscheidung traf. 50 Jahre später, 1989, ich war gerade wieder Gastprofessorin an der Universität von Chicago, erhielt ich Post von der Universität Osnabrück. Im Zuge von wissenschaftlichen Arbeiten über die Nazizeit war eine Arbeit im studentischen Reichsberufswettkampf vom Winter 1936/37 entdeckt worden, die ich offenkundig geschrieben hatte, um mich für das Stipendium zu qualifizieren, eine Abhandlung über die Leitartikel der Deutschen Allgemeinen Zeitung DAZ. Der Entdecker, Dr.
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Garsten Klingemann, schickte mir auch die Gutachten zu meiner Arbeit. Eines von meinem Königsberger Dozenten für Zeitungswissenschaft aus dem Sommersemester 1936, dem SS-Standartenführer Six, das vernichtend war, und ein zweites von einem Heidelberger Gutachter, dessen Namen ich nun, also 50 Jahre später, zum ersten Mal hone und der mich über alle Maßen lobte. Ein Gutachten von Dovifat war nicht dabei. Das Stipendium erhielt ich für die 1912 gegründete Journalistenschule der Staatsuniversität von Missouri in Columbia, genau in der Mitte zwischen St. Louis und Kansas City, tiefer Mittelwesten. Obgleich ich erst gerade das vierte Semester abgeschlossen hatte, gab mir Dovifat ein Doktorthema mit, das ich während meines amerikanischen Studienjahres bearbeiten sollte: „Was tun amerikanische Zeitungen, um Frauen als Leserinnen zu fesseln?" Mit diesem Thema mußte ich geradewegs über George Gallup stolpern; denn er hatte 1929 an der Universität von Idaho über das Thema: „Was interessiert die Leser in der Zeitung?" promoviert und dafür eine neue Methode entwickelt, CopyTests von Zeitungen und Befragung von repräsentativen Querschnitten. Als ich George Gallup entdeckt hatte, warf ich sofort die Pläne um und beschloß, über die amerikanische Meinungsforschung und die Gallup-Methode meine Dissertation zu schreiben. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich das Dovifat schrieb und um seine Zustimmung bat. Ich war ganz überzeugt, er würde zustimmen, und so war es ja nach meiner Rückkehr auch, obgleich es sich doch um ein in einer Diktatur ganz heikles Thema handelte: Erforschung der öffentlichen Meinung. Es erscheint mir von heute her gesehen sehr merkwürdig, daß ich erst aus der Einführung von Ruß-Mohl und Sösemann zur Neuausgabe des von Dovifat Ende der 20er Jahre veröffentlichten Buches: „Der amerikanische Journalismus" von Dovifats Aufenthalt vom 10. bis 13. Mai 1926 an der Journalistenschule der Staatsuniversität von Missouri erfuhr. Ich kann mich auch nicht erinnern, daß ich damals Dovifats Buch über den amerikanischen Journalismus gelesen hätte. Ich fühlte mich immer sorglos und zu nichts gegenüber meinem Professor verpflichtet. Von irgendwelchen ausführlichen Gesprächen war sowieso nicht die Rede, sonst hätte ich ja auch etwas über seinen Aufenthalt in Missouri zur „Journalism week" von 1926 hören müssen. Was das heikle Doktorthema betraf, mit dem ich dann zurückkehrte, so habe ich erst bei Dovifats Biograph Klaus-Ulrich Benedikt gelesen,
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wie Dovifat bei der Vergabe von Themen für Doktorarbeiten verfuhr: Er habe streng darauf geachtet, daß nach Themen, die als „verdächtig" gelten mußten, entsprechend linientreue Themen folgten oder — bevorzugt — ungefährliche Themen wie historische Monographien, Porträts publizistischer Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts oder die Geschichte einer Zeitung oder Zeitschrift. Die Vorlesungen bei Dovifat, die Atmosphäre dort, das Verhältnis der Studenten untereinander im Wintersemester 1935/36 und im Sommersemester 1939 fließen in meiner Erinnerung zusammen. Inzwischen hatte ich in Königsberg und München und dann in Missouri studiert und war um die ganze Welt gereist — aber im Sommer 1939 war alles so, wie ich es unmittelbar nach Beginn der Hitlerzeit 1934 bis 1936 erlebt hatte. Mit gespitzten Ohren hörten wir, die Studenten, die Vorlesung über Rhetorik. Unerhört mutig erschien uns, was Dovifat über die Rhetorik von Goebbels ausführte, was er über die Bedeutung des Grundsatzes „Trennung von Nachricht und Meinung" sagte, was er über Gesinnung und Verantwortung des Journalisten sagte, oder wie er uns die Hoffnungslosigkeit eines Dementi erklärte, wie eine Falschmeldung, sei sie erst einmal auf den Weg geschickt, wie eine Ente als „Zeitungsente" mal untergehe, aber unweigerlich wieder auftauche. Wir, die Hörer Dovifats, fühlten uns wie Widerstandskämpfer; frei fühlten wir uns, untereinander alles zu sagen, was wir dachten. Freundschaften aus dieser Zeit haben bis heute gehalten. Einer aus diesem Kreis, Oskar Bezold, wird in der Biographie von Benedikt mehrfach zitiert, zum Beispiel mit dem Satz: „Dovifat wußte sich [...] so auszudrücken, daß Leute, die hören konnten, wußten, was gemeint war." 1 An Diskussionen über Probleme der Zeitungswissenschaft kann ich mich allerdings nicht erinnern. Wir lernten die Systeme nach Zeitungslehre I und II, das war ein solides Fundament, noch nicht erschüttert durch die Erkenntnisse der späteren empirischen Kommunikationsforschung. Nach der Abgabe meiner Doktorarbeit im Dezember 1939 schrieb Dovifat sein Gutachten — das ich nie gesehen habe — offenbar innerhalb weniger Wochen; denn schon Mitte März konnte ich das Rigorosum ablegen, übrigens alle drei Fächer — zwei Hauptfächer, das Nebenfach Amerikanistik — an demselben Tag, das war so üblich. Und nun 1
Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist. Mainz: Matthias Grünewald 1986, S. 129.
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wurde ich Journalistin, wie geplant. An Wissenschaft dachte ich überhaupt nicht mehr. Insbesondere nahm ich mir vor, ich wollte in meinem ganzen Leben nichts mehr mit dem Thema „öffentliche Meinung" zu tun haben. An diesem unklaren, unfaßbaren Begriff hatte ich mir beim Schreiben meiner Doktorarbeit die Zähne ausgebissen.
Und dann schrieb Do vif at im Sommer 1963 der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Mainz einen Brief, der direkt — wie mir von Fakultätsmitgliedern berichtet wurde — zu meiner Berufung auf den neu begründeten Lehrstuhl für Publizistik führte. Naiv folgte ich der Einladung meines Kollegen aus der Zeit, als ich Redakteurin der alten Frankfurter Zeitung war, Professor Erich Welter. Er war neben seiner Tätigkeit als Gründungsherausgeber der FAZ auch Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Mainzer Fakultät, und er fragte mich, ob ich dort nicht einmal einen Vortrag halten könnte. Ich stimmte zu und wählte als Thema: „Über den Fortschritt der Publizistikwissenschaft durch Anwendung empirischer Forschungsmethoden". Von „Vorsingen", „Probevorlesung" wußte ich nichts, und also war ich sehr überrascht, als mir Welter eine Stunde nach dem Vortrag mitteilte, die Fakultät wolle mich auf einen Lehrstuhl für Publizistik berufen. Mich überrascht von heute her gesehen meine Ahnungslosigkeit umso mehr, als ich ja zu dieser Zeit der Universität nicht mehr fremd gegenüberstand, sondern seit dem Wintersemester 1961/62 Lehrbeauftragte im Fach Publizistik an der FU Berlin war. Das hatte allerdings mit Dovifat nichts zu tun, er hatte mich, solange er Direktor des Instituts an der FU Berlin war, nie zu einem Lehrauftrag eingeladen. Das tat erst sein Nachfolger im Herbst 1961, Fritz Eberhard, vorher Intendant des Süddeutschen Rundfunks, vorher als deutscher Emigrant in London Mitarbeiter der BBC. Dort hatte er seinen Familiennamen von Rauschenplatt abgelegt und den Namen Eberhard angenommen. Dovifat hielt weiter seine Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten und manchmal ging ich hin und setzte mich wie 1934 in eine der letzten Reihen. Die Vorlesung war so überfüllt wie eh und je.
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Dovifat konnte der empirischen Kommunikationsforschung, die ich in Mainz mit begründen wollte, nichts abgewinnen. Er sprach von der „eintrocknenden mathematischen Empirie".2 Dovifat und mich trennte die Nahtstelle, die sich schon beim Übergang von den Naturphilosophen zur experimentellen Naturwissenschaft zwischen 1770 und 1820 ergeben hatte. Gadamer hat das in seinem Festvortrag zum 600. Jubiläum der Gründung der Universität Heidelberg beschrieben.3 Dieser schmerzliche Übergang kam nun auch für die Sozialwissenschaften und hier speziell für die Kommunikationsforschung. Dovifat sprach mit Begeisterung in seinen Vorlesungen von der Gesinnung und der Verantwortung des Publizisten als Grundlage journalistischer Ethik. Das interessierte mich überhaupt nicht. Anfang der 60er Jahre fing ich von neuem an, den rätselhaften Begriff öffentliche Meinung hin und her zu drehen — gerade den Begriff, mit dem ich nach Abschluß meiner Doktorarbeit nie mehr etwas zu tun haben wollte. Aber dann sagte ich in meiner Antrittsvorlesung an der Universität Mainz im Dezember 1965: „Wie können wir untersuchen, welchen Einfluß die Massenmedien auf die Bildung der öffentlichen Meinung haben und wie sich umgekehrt die öffentliche Meinung in der Publizistik ausdrückt, wenn wir uns über die öffentliche Meinung so ganz im Unklaren sind?"4 Mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung, die ich seit der Gründung des Allensbacher Instituts 1947 immer besser kennen gelernt hatte, wollte ich die Frage nach der Wirkung der Massenmedien beantworten. Das Thema Ethik des Journalismus lag für mich weit in der Ferne. Davor lag ein großes, unzugängliches Gelände, das zuerst bearbeitet werden mußte. „Müssen Sie denn immer an die Wirkung der Massenmedien denken?" sagte Dovifat zu mir. Ja, nur darauf wollte ich mich konzentrieren. Ich machte mir selbst Mut. „Wir stehen sicher nicht vor einer undurchdringlichen Dornenhecke" schrieb ich am Ende der Einleitung zur ersten Auflage des Fischer Lexikon Publizistik 1971. Und ich denke bis heute, daß man von Ethik und Verantwortung des Journali2
Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. A.a.O., S. 178. Hans-Georg Gadamer: Rede, gehalten am 12. Oktober 1986 bei der Eröffnung der Festwoche zum Jubiläum: „600 Jahre Universität Heidelberg". In: Hans-Georg Gadamer: Die Universität Heidelberg und die Geburt der modernen Wissenschaft. Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/Tokyo: Springer-Verlag 1987, S. 5—21. 4 Elisabeth Noelle: Öffentliche Meinung und Soziale Kontrolle. Recht und Staat, Heft 329. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1966, S. 4. 3
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sten erst sprechen kann, wenn man die Wirkungsweisen im eigenen journalistischen Berufsfeld versteht. Für Emil Dovifats Handbuch der Publizistik schrieb ich auf seine Bitte hin in den 60er Jahren zwei Artikel über „Die Wirkung des Fernsehens" und „Die Wirkung des Hörfunks", von denen ich schon bald darauf wußte, daß sie überholt waren, daß das alles neu geschrieben werden mußte. „Return to the concept of powerful mass media" hieß der Vortrag, den ich 1972 beim internationalen Psychologenkongreß in Tokio hielt und der 1973 in der englischsprachigen Schriftenreihe der japanischen Rundfunkanstalt NHK, „Studies in Broadcasting", erschien.5 Über drei Jahrzehnte lang hatte das Dogma der „minimal effects hypothesis" geherrscht, die Lehre von der schwachen Wirkung der Massenmedien: „Die Medien verändern Meinungen nicht, sie verstärken sie nur." Aber es dauerte nach den ersten Schritten, mit denen sich für mich in groben Umrissen abzeichnete, was öffentliche Meinung sei, wie sie sich bildet und warum sie die Menschen so übermächtig zu Boden drückt, noch zwei Jahrzehnte und die empirische Forschungsarbeit einer ganzen Generation nach mir, bis die Macht der Massenmedien allmählich verständlich wurde. Selbst vertraute Grundsätze, an die auch ich Jahrzehnte lang geglaubt hatte, zum Beispiel, daß die Trennung von Nachricht und Meinung das Fundament journalistischer Ethik sei, zerbrachen. Vor allem mit den Arbeiten von Kepplinger wurde es klar, daß das Zentrum der Wirkungsforschung der Massenmedien in der Frage der Nachrichtenselektion liegt.6 Welche Nachrichten werden veröffentlicht? Eine bei mir geschriebene Magisterarbeit7 zeigte: Von hundert Nachrichten, die von Nachrichtenagenturen an die bei ihnen abonnierten Zeitungsredaktionen geliefert 5
Deutsch in Publizistik, 18. Jg., Heft l, 1973, S.26—55: Kumulation, Konsonanz und Öffentlichkeitseffekt. Ein neuer Ansatz zur Analyse der Wirkungsforschung der Massenmedien. — In den USA erschien der Aufsatz in gekürzter Fassung im Journal of Communication, Vol. 24, No. 2, Spring 1974, S. 43—51, unter dem Titel: The Spiral of Silence. 6 Hans Mathias Kepplinger: Voluntaristische Grundlagen der Politikberichterstattung. In: G. Böckelmann (Hrsg.): Medienmacht und Politik. Berlin: Volker Spiess 1989, S. 59—83. 7 Burkhard Gadaczek: Wie stark redigieren die übernationalen westdeutschen Tageszeitungen das angebotene Agenturmaterial? Qualitätszeitung und Nachrichtenagenturen im Vergleich. Universität Mainz, Magisterarbeit 1984.
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wurden, erschienen schließlich im Blatt drei. Welche drei? Das Reden oder Verschweigen entschied über das Bild der Realität, das sich die Menschen aus den Medien machen. Und diese Nachrichtenselektion ließ sich nicht durch Gesinnung und Verantwortung in die richtige Richtung steuern. Ich war erschrocken über die Konsequenzen, die Dovifats Grundsätze für die Funktionsfähigkeit der Massenmedien haben mußten. Wenn nach Gesinnung und Verantwortungsbewußtsein entschieden wurde, welche Nachrichten veröffentlicht und welche nicht veröffentlicht wurden, dann konnten die Medien ihre Aufgabe, die Bevölkerung über die Realität zu informieren, nicht erfüllen. „Alles Sehen ist perspektivisch", hatte Nietzsche geschrieben. Empirische Studien von Kepplinger zeigten, daß die Journalisten mit subjektiv bester Absicht, nämlich getragen von ihren Wertvorstellungen, einseitige Nachrichtenselektion treffen und daß sie damit ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit bildeten — jedenfalls, wenn die Mehrheit der Journalisten eine bestimmte politische Position vertritt. Von allein mischen sich die Standpunkte im journalistischen Berufsstand nicht, auch wenn das Bundesverfassungsgericht die „publizistische Vielfalt" als obersten Wert des Mediensystems erklärte. Um der Demokratie das ihr unentbehrliche ausgewogene Mediensystem zu sichern, mußte die Wirkung der Medien auf die öffentliche Meinung bis auf den Grund verstanden werden. Danach mußte bedacht werden, wie eine möglichst wirklichkeitsnahe Information erreicht werden kann. Etwas anderes als ihr Mediensystem besitzt die Gesellschaft nicht, um sich zuverlässig zu informieren. „Publizistik ist jede öffentlich bedingte und öffentlich bewirkte geistige Beeinflussung und Leistung, die auf dem Weg der Gesinnung durch freie Überzeugung das Handeln der Menschen zu lenken und zu bestimmen sucht", so hatte es Dovifat ausgedrückt.8 Sicher war er überzeugt, daß unter den Bedingungen von Pressefreiheit in der Demokratie eine empirische Untersuchung dieser öffentlich bedingten und bewirkten Medienleistungen nicht erforderlich sei. Was hätte er gesagt, wenn er noch den Aufsatz von Renate Köcher: „Die Sünden der Meinungsmacher"9 hätte lesen können? Sie schreibt: 8
Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. A.a.O., S. 171. Renate Köcher: Die Sünden der Meinungsmacher. In: Die Politische Meinung, 37. Jg., Heft 273, August 1992, S. 4—14. 9
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„Zur Zeit ist in den Medien und in der öffentlichen Diskussion die Auseinandersetzung mit der vergangenen DDR und der Gegenwart Ostdeutschlands ein fester Bestandteil der Tagesordnung. Eine der interessantesten Fragen wird in diesem Zusammenhang allerdings völlig ausgeklammert, wird nie gestellt, obwohl sie nicht nur für die Bewertung der Vergangenheit, sondern auch für die künftige Entwicklung Deutschlands von großer Bedeutung ist: warum war Westdeutschland so völlig unzureichend über die DDR informiert? [...] Es ist beunruhigend zu sehen, daß diese Informationsdefizite nur als eine der zahlreichen Überraschungen kurz zur Kenntnis genommen wurden, ohne daß sich daraus eine Diskussion entwickelt hätte, warum selbst vorhandene Informationen (über die DDR) meist nicht genutzt oder bagatellisiert wurden. Eine Diskussion darüber, wie künftig solche Informationsdefizite vermieden werden können, wurde nie begonnen. [...] Die völlig unzureichende Information vor und nach dem Fall der Mauer lenkt den Blick zwangsläufig auf die Medien, auf das Aufgabenverständnis deutscher Journalisten, auch auf ihre Haltung zur deutschen Teilung und zum Gelingen der Einheit. [...] Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ein erklärtes Ziel der Alliierten, den deutschen Journalismus umzuerziehen, ihm das Aufgabenverständnis britischer und amerikanischer Journalisten nahe zu bringen. Schon damals gab es Stimmen, die überzeugt waren, daß dies nie gelingen könne; so äußerte Dovifat, die .Freude der Deutschen am Meinungskampf' sei zu groß, als daß die Verdrängung der ,Views durch die News' gelingen könne, und er meinte dies positiv, da er aus vielen Gründen die engagierte deutsche Meinungspublizistik höher schätzte als den Journalismus im angelsächsischen Raum." Wahrscheinlich stellte sich Dovifat in deutscher Tradition das Ringen um öffentliche Meinung wie eine Diskussion im Parlament vor, in redlicher Absicht mit den besten Argumenten fechtend, so daß sich schließlich die überzeugendste und vielleicht dem Gemeinwohl günstigste Meinung durchsetzt. Max Weber, schreibt Renate Köcher, brachte das entscheidende Charakteristikum bereits 1920 auf den Punkt, als er anmerkte, Journalismus sei in Deutschland immer „Spielart einer politischen Karriere" und nie bloßes Nachrichtenhandwerk. Wenn schon die Funktionsweise der öffentlichen Meinung in der Demokratie und die entscheidende Rolle des Nachrichtenwesens so un-
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erforscht blieben, so galt das erst recht für die Situation der öffentlichen Meinung in der Diktatur.
Kurz vor dem Symposium zu Ehren des 100. Geburtstages von Dovifat erzählte mir Joachim Fest, einer der Herausgeber der FAZ, er komme gerade zurück von einer Reise nach Peking. Er habe dort eine Reihe von Vorträgen gehalten. Es sei für ihn ganz erstaunlich gewesen, wie wachsam und schnell die Zuhörer die kleinsten Anspielungen verstanden hätten, die er vorsichtig in seinem Text gemacht hätte. Er sei eine solche Sensibilität und Fähigkeit, bloße Andeutungen wahrzunehmen, von seinem westdeutschen Publikum überhaupt nicht gewöhnt. „Wer hören wollte, konnte hören [...]" hatte Oskar Bezold über die Berliner Vorlesungen von Dovifat in den 30er Jahren gesagt. In der Diktatur steigert sich die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, Gestik und Mimik zu verstehen, Zustimmung und Ablehnung in leisesten Untertönen wahrzunehmen. Der Grund dafür ist, daß der natürliche Prozeß, in dem sich öffentliche Meinung bildet, von den Machthabern teils unterbunden, teils manipuliert wird. „Regierung ist allein auf Meinung gegründet; und dies trifft zu für die despotischsten und militärischsten Regierungen ebenso wie für die freiesten und populärsten" hatte der englische Philosoph David Hume 1741/42 geschrieben.10 Mit „Meinung" war gemeint „öffentliche Meinung", einem englischen Sprachgebrauch seit Jahrhunderten folgend. Das bedeutet: Diktaturen müssen sich die öffentliche Meinung unterwerfen, um an der Regierung zu bleiben. Der Raum, in dem sich öffentlich Meinung bildet, eben die Öffentlichkeit, die Dovifat so sehr als Sphäre, als Element interessierte, wird von den Diktatoren usurpiert, um sie völlig kontrollieren zu können. Sie kontrollieren die Öffentlichkeit, jedes Wort, jedes Zeichen von Zustimmung oder Ablehnung mit jener Mischung, die George Orwell in seinem Roman „Animal Farm" so hellsichtig beschrieben hat. Die Diktatoren erzeugen Begeisterung, Zustimmung, sie täuschen Begeisterung und Zustimmung der großen Mehrheit vor. Sie kennen intuitiv die Mechanismen der sozialen Kontrolle durch die Öffentlichkeit, das „public eye", wie die Engländer die 10
David Hume: Essays: moral, political and literary. London: Oxford University Press (1741) 1963, S. 29.
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sozialpsychologische Dimension Öffentlichkeit seit Jahrhunderten nennen. Vom „Tribunal" sprechen die Engländer, das jeden einzelnen mit Isolation bedroht, der vom echten oder vorgetäuschten Konsensus der Mehrheit abweicht. Die Diktatoren vermischen das mit allgegenwärtiger physischer Bedrohung, Konzentrationslager, Folter, Tod. Als ich in den 50er Jahren allmählich die Ergebnisse der empirischen Sozialpsychologie, der amerikanischen Gruppendynamik kennenlernte, hatte ich das Gefühl, die Nationalsozialisten hätten diese Erkenntnis schon vorab wie in einem aufgeschlagenen Buch gelesen und mit den darauf beruhenden Techniken die öffentliche Meinung erzeugt.11 Noch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch von 1945 wurden die Menschen irregeführt durch die Sportpalast-Inszenierung von Goebbels: „Wollt Ihr den totalen Krieg?" Noch Jahrzehnte später wurde das „Ja! Ja! Ja!" der Massen im Sportpalast interpretiert als Beweis der Zustimmung der ganzen Bevölkerung, wie von Goebbels geplant. Als ob es nicht geradezu selbstverständlich für eine Diktatur im Krieg gewesen wäre, ihre Funktionäre in einem Sportpalast zusammenbringen zu können und eine öffentliche Orgie der Zustimmung zu entfesseln. Nur auf den überwältigenden öffentlichen Eindruck kam es an. Wenn der legitime Raum der Öffentlichkeit, in dem sich öffentliche Meinung kundtut, von der Herrschaft, die eigentlich durch öffentliche Meinung kontrolliert werden soll, statt dessen usurpiert wird und in der Mischung mit physischer Bedrohung beherrscht wird, bilden sich neue Regeln aus, eine neue Zeichensprache der Verständigung über Zustimmung und Ablehnung. Die offiziellen Redensarten der Bekundung von Zustimmung werden ritualisiert, man weiß, was davon zu halten ist. Dafür spitzt man die Ohren für jedes Zeichen der Abweichung von der offiziellen Linie. Zunahme und Abnahme des sichtbar getragenen Parteiabzeichens wird registriert, Zunahme und Abnahme des Gebrauchs des „Deutschen Grußes" mit „Heil Hitler". Witze sind die halb geöffneten Türen, durch die man die Realität erhascht. In den Berichten des Sicherheitsdienstes, den SD-Berichten, finden sich ganze Listen von Indikatoren, die als Zeichen 11
Elisabeth Noelle-Neumann: Wirkung der Massenmedien auf die Meinungsbildung. In: Elisabeth Noelle-Neumann/Winfried Schulz/Jürgen Wilke (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik/Massenkommunikation. 3., aktualisierte, vollständig überarbeitete Neuausgabe. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 522 ff. Vgl. auch: Elisabeth Noelle-Neumann/Winfried Schulz (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik. 1. Auflage, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1971, S. 344—346.
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verstanden wurden, zum Beispiel, daß immer häufiger Fremde, die sich nicht kannten, miteinander sprachen, wurde zu Recht als Zeichen wachsenden Widerstandes erkannt.12 Hatte Dovifat mit mir über das Ritual gesprochen, daß man auf den ersten und letzten Seiten einer Dissertation mit verfänglichem Thema einige nationalsozialistische Lippenbekenntnisse ablegen müsse? Ich weiß es nicht mehr. In jedem Fall hielt ich mich an die Regel, jemand nannte diese Seiten „Packpapier", damit die ganze Arbeit durchkommen könnte. Lew Kopelew beschrieb später einmal die gleiche Praxis aus der Sowjetunion: „Wir nannten diese Seiten am Anfang und Ende eines Buches »Passepartout1 — Passierschein, um Botschaften durchzuschmuggeln". Je länger die Diktatur zurücklag, desto mehr verfiel das Wissen um die Bedingungen der Kommunikation in der Diktatur. Jetzt wurden die zwischen 1933 und 1945 geschriebenen Texte abgesucht nach Sätzen, nach Zitaten, die die Nazigesinnung der Autoren bewiesen. Auch Dovifat wurde nun mit Zitaten entlarvt, es konnte nicht anders kommen. Eines Tages schrieb mir der Gründungsherausgeber der FAZ und Kollege in der Mainzer Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Erich Welter, der Wirtschaftskorrespondent der FAZ in New York, Rosenstiel, habe ihm berichtet, er sei mit Leuten vom American Newspaper Publisher Bureau bei einer Party zusammengetroffen und habe von ihnen gehört, daß Aktionen gegen mich vorbereitet würden. Jemand, der 1937/38 ein Austauschstipendium nach Amerika bekommen habe, müsse ja mit Sicherheit ein Erznazi gewesen sein. Wen sonst hätten denn die Nazis damals nach Amerika gelassen? Außerdem sei ich eine überzeugte Antisemitin gewesen. Das zeige schon meine Dissertation, wo ich hinter dem Namen Lippmann in Klammern immer eingefügt habe: „Jude". Ich überlegte, was zu tun sei. Es war der Sommer 1969. Ich schrieb an Dovifat, ob er noch rekonstruieren könne, wie ich das Austauschstipendium nach Amerika bekommen hätte. Innerhalb kurzer Zeit antwortete er, postwendend wie immer seit meiner ersten Sendung an ihn im Sommer 1934. Er schrieb: „Leider ist es mir nur schwer möglich, auf meinen Briefwechsel in der Zeit vor 33 Jahren zurückzukommen. Jedenfalls habe ich, aufs erste 12
Manfred Wirl: Die öffentliche Meinung unter dem NS-Regime. Universität Mainz. Dissertation 1990, S. 5.
Lehrer und Schülerin — ein Doppelporträt
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gesehen, keine brieflichen Belege gefunden, aus denen meine Unterstützung Ihrer damaligen Kandidatur noch bemerklich sichtbar würde. Wie ich mich erinnere, war ich damals keine favorable Empfehlung. Im Jahre 1934 war ich nach meiner Rede gegen den Rassenkampf auf dem Katholikentag in Berlin abgesetzt worden. Ich kam dann unter anderen Umständen und anderen Bedingungen noch einmal zurück, wenn auch im wesentlichen eingeschränkt in allen Möglichkeiten. Ich hielt meine Vorlesungen und Seminare, schied aber sonst aus der Öffentlichkeit aus und war dessen sehr froh. Es kann sein, daß ich damals bewußt davon Abstand nahm, Ihnen aus meiner Rolle heraus Empfehlungen zu geben, andererseits waren die Empfehlungen damals noch keinesfalls so eindeutig nationalsozialistisch, daß ich das ruhig hätte riskieren können. Richtig war, daß ich Ihnen damals riet, die rein fachliche Befähigung für die amerikanische Aufgabe entgegen zu nehmen. Glühende Empfehlung auf Grund politischer Leistung wurde damals keineswegs so angesehen, wie es aus den späteren Jahren bei Kriegsausbruch usw. erschien. Ich weiß, daß diese Tatsache damals zwischen uns besprochen wurde und wir in stillschweigendem Einvernehmen handelten. Möglich ist aber auch, daß Ihnen eine reine Geschäftsempfehlung mitgegeben wurde, die fachlich sehr nützlich, nicht aber politisch ausgesprochen empfohlen war. (Ich galt als berufsangehörig der Gruppe laut § 4 des Beamtengesetzes: .Beamte, die nicht hundertprozentig zum NS-Regime standen'.) Gern habe ich mich damals mit Ihnen über das Thema unterhalten, und es ist sehr wohl möglich, daß mit solchen Voraussetzungen eine Empfehlung ergangen ist. Bei dem dreifachen Umzug des Instituts ist vieles verkommen und verschwunden. Soweit mir bekannt, liegt nichts mehr vor, was ich bei dem gegenwärtigen Stand meiner Akten kenne oder im einzelnen begründen kann. Ich stelle Ihnen ganz anheim, wie Sie dieses Schreiben begründen wollen. Auf keinen Fall habe ich nach späterer Art und Übung Ihre Leistungen politisch anempfohlen. Es ist mir sehr peinlich, heute mehr nicht sagen zu können. Selbstverständlich bleibe ich Ihnen verbunden und hoffe, bald wieder wohlauf zu sein. Freundschaftlich stets Ihr Dovifat". Datiert war der Brief vom 7.9.1969, einen Monat vor seinem Tod. Wie man bei Benedikt nachlesen kann, teilte Dovifat meine Auffassungen über die weitere Entwicklung des Faches überhaupt nicht. „Mei-
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Elisabeth Noelle-Neumann
nung und Meinungsführer. Über den Fortschritt der Publizistikwissenschaft durch Anwendung empirischer Forschungsmethoden" hatte ich meine unbeabsichtigte Probevorlesung an der Universität Mainz 1963 genannt. Meinungsführer — das war nach Dovifats Ansicht kein Thema für die Publizistik, das weite sie in bedenklicher Weise aus, damit verlasse die Wissenschaft ihr eigentliches Thema, das Element der Öffentlichkeit. Die Theorien von Paul F. Lazarsfeld und Elihu Katz über den Zwei-Stufen-Fluß der Kommunikation lehnte Dovifat ab, schreibt Benedikt.13 Ich selbst war gerade umgekehrt von der Notwendigkeit überzeugt, Massenkommunikation und persönliche Kommunikation in ihrer Wechselwirkung zu erforschen. Nur so, meinte ich, sei der Prozeß der öffentlichen Meinung zu verstehen und auch die Wirkung der Massenmedien. Aber im Gedanken an meine eigenwillige Art, das Fach Publizistik weiter zu entwickeln, hat Dovifat wahrscheinlich das nachsichtige Lächeln immer beibehalten. Man kann auch sagen: seine von Anfang an der Schülerin erwiesene große Toleranz. In seinem Testament vermachte mir Dovifat seine private Fachbibliothek.
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Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. A.a.O., S. 176 f.
Das „Deutsche Institut für Zeitungskunde", Berlin. Martin Mohr als unfreiwilliger Wegbereiter Emil Dovifats JOACHIM HEUSER/ PETER SZYSZKA
Neben Münster, München und nun auch wieder Leipzig zählt Berlin zu den klassischen Stätten der deutschen Zeitungs- und späteren Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.1 Wer sich dabei für die Geschichte des Berliner Instituts interessiert, stößt zwar unweigerlich auf den Namen Martin Mohr, seine über die eigentliche Gründung des Deutschen Instituts für Zeitungskunde (DIZ) hinausgehenden Verdienste sind jedoch weitgehend in Vergessenheit geraten. Dominiert wird die Geschichte der Berliner Zeitungswissenschaft von der Persönlichkeit Emil Dovifats, der hier von 1928 bis 1959 über mehr als drei Jahrzehnte und in drei zeitgeschichtlich sehr unterschiedlichen Epochen als Institutsleiter Kontinuität verkörperte. Die Fokussierung auf Dovifat als den Nestor der normativen Publizistikwissenschaft hat den Blick von der eigentlichen Institutsgeschichte weggelenkt. So ist weitgehend in Vergessenheit geraten, daß das Berliner Institut erst 1948 Universitätsinstitut wurde und bis dahin den Status eines aus standespolitischen Interessen gegründeten Fachinstituts hatte, das nur über den Lehrauftrag seines Institutsleiters der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin angegliedert war. Kaum thematisiert worden sind auch Idee und Entwick-
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Der vorliegende Aufsatz basiert in wesentlichen Teilen auf einer Monographie zur Berliner Institutsgeschichte von ihren Anfängen bis ins Dritte Reich: Joachim Heuser: Zeitungswissenschaft als Standespolitik. Martin Mohr und das Deutsche Institut für Zeitungskunde" in Berlin. Münster 1994. Für den Nachweis der vielfältigen Archivalien, aus denen die Institutsgeschichte rekonstruiert wurde und die auch diesem Aufsatz zugrunde liegen, sei daher auf diese Arbeit verwiesen. Archivalien werden in diesem Aufsatz nur soweit als Einzelbeleg angeführt, als sie zentrale Aspekte und Entwicklungen belegen.
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Joachim Heuser / Peter Szyszka
lung der Strukturen des DIZ, derer sich Dovifat für seine Arbeiten bediente: Sie waren das Werk eines anderen, nämlich Martin Mohrs. Der nachfolgende Beitrag will in drei Schritten die Rolle Dovifats in der Institutsgeschichte ausleuchten. Zunächst werden die Institutssituation beim Übergang des Instituts von Mohr zu Dovifat und damit die Arbeitsbedingungen Dovifats zusammengefaßt, ehe die Hintergründe und wichtigsten Aspekte der Gründungsgeschichte dargestellt werden. Der letzte Schritt skizziert die Arbeit Dovifats und die Erträge der Institutsarbeit in den Jahren 1928 bis 1933. Eine zusammenfassende Bewertung versucht abschließend einen Zusammenhang zu Dovifats Position innerhalb der Strukturen der Zeitungswissenschaft des Dritten Reichs herzustellen.
I
Von Martin Mohr zu Emil Dovifat Mit der offiziellen Ernennung Martin Mohrs zum Direktor des DIZ mit Wirkung des 1. April 1927 endete eine bei genauerer Betrachtung mehr als ein Jahrzehnt dauernde Konstituierungsphase des Deutschen Instituts für Zeitungskunde in Berlin und seiner Trägergesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Zeitungswissenschaft (DGZW). Vorangegangen war das jahrelange Engagement Mohrs für ein derartiges Institut, seine Auseinandersetzungen mit den Standesvertretungen Verein Deutscher Zeitungs-Verleger (VDZV) und Reichsverband der Deutschen Presse (RDP), dem Preußischen Kultusministerium und der Verwaltung der Universität Berlin, aber auch mit Mitarbeitern und Fachkollegen. Seinem Einsatz für die Etablierung eines zeitungswissenschaftlichen Fachinstituts in Berlin hatte Mohr, zu diesem Zeitpunkt knapp sechzig Jahre alt, seine Gesundheit geopfert. Schwer herzkrank, hatte es im Spätsommer 1925 kurz nach Vorlage seines ersten Entwurfs einer Institutssatzung eines längeren Kuraufenthalts bedurft, um Mohrs Gesundheit wieder soweit herzustellen, daß er seine Arbeit fortsetzen konnte. Emil Dovifat, von seinem beruflichen und standespolitischen Werdegang her ähnlich sozialisiert wie Mohr, kam 1924/25 als erster wissen-
Das „Deutsche Institut für Zeitungskunde ", Berlin
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schaftlicher Mitarbeiter Mohrs an das DIZ ,in Entwicklung'2. Am 1. Februar 1925 zum Stellvertreter Mohrs ernannt, beteiligte er sich zunächst am Institutsausbau und wurde so bestens mit den Ideen und Überlegungen Mohrs vertraut. Karrierebewußt reiste Dovifat im Sommersemester 1926 mit Hilfe eines RDP-Stipendiums zu Forschungszwecken in die USA und schied im Herbst 1926 zunächst wieder aus dem DIZ aus. Der von den Presseverbänden mitgetragene Ausbau des Berliner Instituts, das Mohr in der Zeitungs- und Reichshauptstadt zum deutschen Zentralinstitut für Zeitungskunde machen wollte, weckte Mißtrauen und Mißgunst der wenigen Fachkollegen. Einen fachpolitischen Streit, den Mohr mit Walther Heide, Karl d'Ester und anderen Fachvertretern im Zusammenhang mit einer weiteren geplanten Institutsgründung in Heidelberg austrug, weil er hierin eine Gefährdung der finanziellen Basis seines DIZ sah3, nutzte Dovifat, um sich offen auf die Seite von Mohrs Kritikern zu schlagen. Der junge und ehrgeizige Dovifat, der im gleichen Jahr mit einer Bewerbung um die Nachfolge Karl Büchers auf den zeitungskundlichen Lehrstuhl in Leipzig scheiterte, wurde zum schärfsten Rivalen des kränklichen Mohr4. Als sich Dovifats Bewerbung auch in Heidelberg als chancenlos erwies, suchte er eine Chance, dem gesundheitlich angeschlagenen Mohr als Institutsdirektor des DIZ zuvorzukommen. Daß die Demontageversuche nicht fruchteten, wird an Mohrs guten Beziehungen zum Preußischen Kultusminister Otto Boelitz gelegen haben, dessen Pressereferent Mohr von 1922 bis etwa 1925 gewesen war und der die Gründung des DIZ maßgeblich gefördert hatte. Während sich der RDP von Mohr abgewandt hatte, setzte der VDZV auf Mohr: Die jährliche Zuwendung des Verbandes an das Institut in Höhe von beachtlichen 12.000 RM war an eine Amtstätigkeit Mohrs geknüpft; für den Fall seines Ausscheidens behielt man sich eine neue Entscheidung vor5. Mohr und Dovifat waren im Frühjahr 1927 öffentlich derart zerstritten, daß 2
Eine exaktere Datierung ist bislang nicht möglich, da in den von Mohr geführten Institutsakten eine Personalakte Dovifat, im Gegensatz zu den Personalakten aller anderen Mitarbeiter, nicht (mehr?) existiert. Die Akten befinden sich heute im Privatnachlaß Dovifat, Tübingen. 3 Vgl. H(einrich) R(ippler): Martin Mohr t, in: Deutsche Presse, 17 (1927), Nr. 28, S. 410. 4 Vgl. zu Dovifats Rolle in der Gründungsgeschichte des DIZ: Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 153, 177 u. 232—241. 5 Vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 240 u. 254/Anm. 70.
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Erich Schulz, Leiter der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek und damit ein Beobachter aus der Ferne, von einer „Affäre Mohr-Dovifat" sprach"6. Nur etwas mehr als drei Monate nach seiner offiziellen Ernennung zum Direktor des DIZ starb Martin Mohr am 5. Juli 1927 an den Folgen eines Schlaganfalls. „Einsam geworden, zermürbt vom allgemeinen wie vom persönlichen Leide — er hatte nacheinander zwei Töchter und Frau auf besonders schmerzvolle Weise verloren —, war [er] abgearbeitet und überarbeitet, durch die Lebens- und Berufskämpfe mißtrauisch und empfindlich gemacht und erlebte die Tragik des alt gewordenen Journalisten in besonders bitterem Ausmaße", heißt es im Nachruf eines langjährigen Weggefährten beim RDP7. Zu diesem Zeitpunkt waren die strukturelle Institutionalisierung seines Institutskonzepts abgeschlossen und der weitere Ausbau eingeleitet. Die Früchte seiner entbehrungsreichen Arbeit jedoch konnte er nur noch wachsen sehen. Nach außen sichtbare Erfolge, wie die von ihm vorbereitete Herausgabe von Bibliographien und Handbüchern sowie die Durchführung von Fortbildungskursen am DIZ, die den berufsnahen Weiterbildungsanspruch einlösten, verbuchte sein Nachfolger: Emil Dovifat. Vor Dovifats Dienstantritt hatte das DIZ eine fast einjährige Vakanz zu überstehen. Mohrs 1. Assistent Friedrich Bertkau wurde kommissarischer Leiter. Bertkau, der sich selbst Hoffnungen auf die Nachfolge Mohrs machte, bemühte sich redlich, konnte aber nicht in die Rolle seines verstorbenen Chefs schlüpfen. Unter Studenten und Referenten machte sich zunehmend Unsicherheit breit: Die Teilnehmerzahlen der Seminare sanken; Referenten ließen sich Zwischenzeugnisse geben und bezeichneten Fachkollegen gegenüber die Lage in Berlin als .nicht sicher', obwohl die Zukunft des Instituts nicht wirklich gefährdet war. Da Bertkau zwar über langjährige Praxiserfahrungen als Journalist, nicht aber über einen akademischen Abschluß verfügte, dürfte er kaum ernsthaft zum Kreis der potentiellen Mohr-Nachfolger gezählt haben. Kultusminister Carl Heinrich Becker, seit 1925 Nachfolger Boelitz', vertraute einem in Praxis, Standespolitik und Hochschularbeit erfahrenen Mann die Fortsetzung des von Mohr eingeschlagenen Weges an, als er 6
Schreiben Erich Schulz an Karl d'Ester v. 15.05.1927 (3 S., handschr.), S. l, Archiv der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Nachlaß Schulz. 7 Rippler, Martin Mohr | (wie Anm. 3), S. 410; vgl. auch: Mitteilungen des DIZ, Nr. 9 v. 22.08.1927, S. 1; sowie: o.Verf.: Dr. Martin Mohr f, in: Zeitungs-Verlag, 28 (1927), Nr. 27, Sp. 1659 f.
Das „ Deutsche Institutför Zeitungskunde ", Berlin
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Emil Dovifat gegen das ausdrückliche Votum der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität mit Wirkung zum 1. Oktober 1928 zum außerordentlichen Professor für Zeitungskunde bestellte. Rückwirkend zum 1. Juli 1928 übertrug ihm der Vorstand der DGZW die Leitung des DIZ8.
II
Die Institutssituation 1927/28 „£m Handbuch als Vermächtnis", so hat Lutz Hachmeister in seinen Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft die über das Leben Emil Dovifats hinausragenden Erträge seines Wirkens fokussiert9; „ein Institut als Vermächtnis", so müßte analog das zeitungswissenschaftliche Lebenswerk seines Vorgängers Martin Mohr überschrieben werden, der ein .arbeitendes' Institut samt Archiven und bibliographischer Auskunftsstelle .hinterließ'. Dovifat übernahm von Mohr ein in vier Abteilungen gegliedertes Institut (Abb.l). Trotz räumlicher Enge — das DIZ verteilte sich auf nur drei Zimmer in der Preußischen Staatsbibliothek — hatten bereits Ende 1926 alle vier Abteilungen ihren planmäßigen Arbeitsbetrieb aufgenommen. Entsprechend Mohrs Grundsatz, daß Archive die „Grundlage des inneren wissenschaftlichen Aufbaues" des DIZ seien, bestand von 1926 bis in die Ägide Dovifats hinein eine Hauptaufgabe der Referenten im Aufbau einzelner Facharchive10, die ihren Fachgebieten zugeordnet waren. Darüber hinaus hatte Mohr angestrebt, ein zentrales, „organisch aufgebautes und systematisch durchgeführtes Archiv für die Zeitungskunde nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu schaffen" und seinen Mitarbeiter Hans Traub mit der
8
Um überhaupt eine Chance zu haben, versuchte Bertkau mit einer pressehistorischen Arbeit zu promovieren, fiel aber im Dezember 1927 durch das erste Rigorosum; er bestand den zweiten Versuch im Juli 1928. Vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 255 ff., bes. 258 u. 265/Anm. 5. 9 Lutz Hachmeister: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland. Berlin 1987, S. 115—117. 10 Martin Mohr: Zeitungskunde und Zeitungswissenschaft im Deutschen Institut für Zeitungskunde zu Berlin. Leipzig 1927, S. 37, außerdem S. 28—35.
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Überarbeitung der inneren Organisation der von ihm bereits in ihren Grundzügen angelegten Archive betraut11. Eine zentrale Aufgabe des DIZ bestand für Mohr in der Funktion des Instituts als „bibliographischer Auskunftsstelle"; spätestens im Herbst 1926 konnte diese Aufgabe von Karl Bömer, der zusammen mit Traub im Mai des Jahres ans DIZ gekommen war, aufgenommen werden. Sie sollte — zumindest in einer Übergangszeit — Ausgleich für die fehlenden aktuellen Nachschlagewerke des Fachs schaffen, was sich als ein äußerst mühsames Unterfangen darstellte, da die Mehrzahl der Publikationen Aufsätze in den verschiedensten Zeitschriften und in Tageszeitungen waren, die gesucht und erfaßt werden mußten. Dennoch verzeichnete die bibliographische Sammlung im Frühjahr 1927 bereits um 2.500 Titel, Mitte 1928 sogar schon mehr als 4.000 Veröffentlichungen zu zeitungswissenschaftlichen Themen. Die Bibliographie, die mit Verfasserkatalog und systematischem Schlagwortregister ausgestattet war, entsprach strukturell der in den DIZ-Archiven üblichen Systematik. Auf Grundlage der Archive und der bibliographischen Kartei sollte sich nach dem Willen Mohrs eine intensive Auskunftstätigkeit des DIZ zu Fragen des nationalen und internationalen Pressewesens entwickeln, die in der Praxis — mit steigender Tendenz — nicht nur von Verlagen und Redaktionen, sondern auch von Behörden und Verbänden sowie von in- und ausländischen wissenschaftlichen Instituten in Anspruch genommen wurde12. Bei seiner Ernennung zum Institutsdirektor verfügte Mohr über vier, „Referenten" genannte qualifizierte und wissenschaftlich vorgebildete Mitarbeiter, die die Struktur des DIZ repräsentierten. Ihre Aufgabe bestand vorwiegend in Sammlung und Aufbereitung von Lehrmitteln und zeitungskundlicher Literatur als Basis für eine differenzierte zeitungskundliche bzw. zeitungswissenschaftliche Forschung und Lehre. Friedrich Bertkau13, der Senior unter den Mitarbeitern, kam im April 1926 ans DIZ. Fast fünfzigjährig, vertrat der erfahrene Journalist und Presse-
11
Ebd.; außerdem zum Archiv-Konzept vgl. Hans Traub: (Ansicht über Zustand und An der Führung des Archivs des DIZ), 03.05.1926 (6 S.), Privatnachlaß Dovifat, Tübingen, „Personalakte Hans Traub (DIZ)". 12 Vgl. Martin Mohr: Hamburger Universität und Presse, in: Deutsche Presse, 9 (1921), Nr. 26, S. 4 f. 13 Zu Bertkau (1876—1956) und Bömer (1900—1942) vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 242—245.
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Das „Deutsche Institut fiir Zeitungskunde", Berlin Abt. I:
A. Systematische Zeitungslehre
„Zeitungskunde als
B. Zeitungsgeschichte
Wissenschaft" Leitung: Hans A. Münster
C. Zeitung und Umwelt D. Zeitungsrecht (Gesetzgebung, Rechtspflege, Pressepolizei) E. Zeitungswissenschaftliche Einrichtungen und Veranstaltungen im In- und Ausland Archiv: „Zeitung und Umwelt" (Unterabt. „Rechtsstellung der Zeitung")
Abt. II: „Struktur und Funktion der Zeitung" Leitung:
Hans Traub/Karl Bömer
A. Die Zeitung als Organismus 1. Verlagswesen (Geschäftsführung, technische Einrichtungen, Anzeigen und Reklame, Absatz der Zeitungen), 2. Schriftleitung mit ihren Unterabteilungen, 3. Mitarbeiter (Korrespondenzen, Telegraphen-Büros) B. Zeitungsbesitzformen 1. Einzelbesitz, 2. Gesellschaftsbesitz, 3. Konzerne C. Berufsorganisationen 1. Verleger, 2. Kaufmännisch-technische, 3. Journalistische Archiv: „Struktur und Funktion der Zeitung"
B i b l i o g r a P h i s c h e
A u
Abt. III:
A. Tageszeitungen
s
„Topographie und
B. Zeitschriften
k
Statistik" Leitung: Friedrich Bertkau
C. Fachpresse Archivbeteiligungen: „Zeitungsstatistik (topographisch-statistisches Archiv)" und „HistorischTopographisches Archiv"
u
A. Tageszeitungen 1. deutsche, 2. ausländische
s
Abt. IV:
„Zeitungswesen des Auslandes" Leitung: Karl Bömer
n f t s
B. Zeitschriften
t
C. Fachpresse Archiv: „Ausländisches Zeitungswesen" Archivbeteiligungen: „Zeitungsstatistik (topographisch-statistisches Archiv)" und „HistorischTopographisches Archiv"
e
Abb. 1: Gliederung des Deutschen Instituts für Zeitungskunde 1926/27
l l e
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Stellenleiter die Praxisseite. Im Mai folgte mit Hans Traub14 ein fünfundzwanzig] ähriger Nachwuchswissenschaftler, auf den Mohr aufgrund seiner Dissertationsschrift aufmerksam geworden war. Annähernd zeitgleich mit Traub kam der nur wenige Monate ältere Karl Bömer an das DIZ. Bömer hatte neben seinem Studium der Nationalökonomie als Bankangestellter gearbeitet und nach dem Studium ein Volontariat absolviert. Für Dovifat, Mohrs ersten Mitarbeiter, der im Herbst 1926 seinen Dienst quittierte, kam im Februar 1927 Hans Amandus Münster15 ans Institut. Münster, gleich alt wie Traub und Bömer, hatte — was in jener Zeit noch selten war — u. a. Nationalökonomie und Zeitungswesen studiert und war nach seiner Promotion bereits eineinhalb Jahre Assistent von Wilhelm Kapp am Freiburger Institut für Zeitungswesen und Publizistik gewesen. In der Forschungsarbeit versetzte die personelle Ausstattung das DIZ in die zur damaligen Zeit in Deutschland einzigartige Lage, auf verschiedenen Fachgebieten effektiv zu arbeiten. Mit Anstellung seiner Referenten verfügte Mohr über vier thematisch getrennte, arbeitsfähige Abteilungen. Mohr konnte sich dadurch auf die mit der Leitung einer solch großen wissenschaftlichen Einrichtung verbundenen administrativen Aufgaben — Personal- und Finanzfragen, Material- und Lehrmittelbeschaffung, Organisation von Sonderveranstaltungen (Vorträge und Führungen), Selbstdarstellung des DIZ, Herausgabe der Mitteilungen16 des Instituts — sowie auf seine Lehrtätigkeit, die aus Vorlesungen an der Universität und Oberkursen am DIZ bestand, konzentrieren17. Seinen Lehrauftrag für „Zeitungswesen unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des Weltzeitungswesens", über den das DIZ mit der der Zeitungskunde gegenüber lange sehr skeptisch eingestellten Philosophischen Fakultät der Universität Berlin verbunden war, hatte 14
Zu Traub vgl. Frank Biermann: Hans Traub (1901—1943), in: Arnulf Kutsch (Hg.): Zeitungswissenschaftler im Dritten Reich. Sieben biographische Studien. Köln 1984, S. 47—78. 15 Zu Münster vgl. Sylvia Straetz: Hans Amandus Münster (1901—1963). Sein Beitrag zur Entwicklung der Rezipientenforschung. Frankfurt a.M. 1984. 16 Die Mitteilungen bilden eine zentrale Quelle für den Zugang zur Berliner Institutsgeschichte. Sie erschienen zwischen Mai 1925 und Juli 1934 halbjährlich sowie letztmals im Oktober 1936. Vgl. Bestandsübersicht bei Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 446. 17 Vgl. Mohr, Zeitungskunde (wie Anm. 10), S. 54.
Das „Deutsche Institut für Zeitungskunde", Berlin
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Mohr nach zähem Ringen im Sommer 1924 erhalten18. Da sich mit der Zuweisung der Institutsräume in der Preußischen Staatsbibliothek durch das Preußische Kultusministerium im Dezember 1923 diese Entwicklung abzeichnete, kann davon ausgegangen werden, daß Mohr die Institutsarbeit inoffiziell zum 1. April 1924 aufgenommen hatte; öffentlich sichtbar startete der Betrieb um die Jahreswende 1924/25 mit Aufnahme des Seminarbetriebs mitten im laufenden Wintersemester. Mohr begann im Wintersemester 1924/25 eine auf zwei Semester angelegte zweistündige Vorlesung, mit der er historisch und systematisch in das Zeitungswesen einführte. In den Folgesemestern setzte er sich in seinen Vorlesungen wechselweise mit der „Geschichte des Zeitungswesens" und „Erscheinungen des Zeitungswesens in der Gegenwart" auseinander. Sein Lehrangebot richtete sich an drei Zielgruppen: Akademiker, die für ihren späteren Beruf Kenntnisse des Zeitungswesens benötigten, Mitarbeiter von Wirtschaftsunternehmen u.a., die dort — nach heutigem Verständnis — in der Öffentlichkeitsarbeit tätig waren, und Berufsaspiranten des Journalismus. Aufgrund der Nachfrage unterteilte er seine Übung in einen „Vorkursus zur Einführung in die Wissensgebiete" und in einen „Oberkursus für Fortgeschrittene". Von 43 Studenten stieg die Teilnehmerzahl bis zum Wintersemester 1926/27 kontinuierlich auf 76 an, womit das DIZ, auch von dieser Seite betrachtet, Deutschlands größte Facheinrichtung wurde. Dies ist um so bemerkenswerter, als die Zeitungskunde bis zu Mohrs Tod weder als Hauptnoch als Nebenfach bei irgendeiner Prüfung anerkannt wurde und damit nur den Status eines Ergänzungsfaches besaß19. Im Seminarbetrieb wurde Mohr zunächst von Emil Dovifat unterstützt, der den Vorkurs als Einführungsveranstaltung leitete; nach Dovifats Ausscheiden übernahm Bertkau diese Aufgabe. Während Bertkaus Lehrtätigkeit — mit Ausnahme der Vakanzzeit — hierauf beschränkt blieb, sammelten die jungen Referenten Bömer, Münster und Traub erste Lehrerfahrungen durch Referate und Sondervorträge, die sie im Rahmen der Vor- und Oberkurse hielten und in denen sie ihnen vertraute Themen behandelten. Sie wurden damit an den Lehrbetrieb herangeführt und unter Dovifat im Sommersemester 1929 voll in den Lehr-
18
Schreiben Boelitz/Preußisches Kultusministerium an Mohr (über Phil. Fak.), 25.06.1924, Universitätsarchiv Berlin (Ost), Phil. Fak., Nr. 132, fol. 224. 19 Vgl. Mohr, Zeitungskunde (wie Anm. 10), S. 7.
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Joachim Heuser / Peter Szyszka
betrieb integriert20. Ein vorläufiger Studienplan, der vermutlich vom Sommersemester 1925 an vorlag, regelte Verlauf, Themen und Dauer der zeitungskundlichen Studien am DIZ. Er gliederte das Studium in einen Vor- bzw. Unterkurs, einen Ober- bzw. Hauptkurs und ein Praktikum; Teilnahmevoraussetzung: die Immatrikulation an der Universität Berlin. Vor- und Oberkurs waren von Mohr zwar jeweils zweisemestrig konzipiert, in der Praxis wurden sie jedoch — inhaltlich verkürzt — auf zwei Semesterhälften verteilt. Ob Praktika wie geplant durchgeführt und von Mohr betreut wurden, erscheint zudem eher fraglich. Inhaltlich führte der Vorkurs in das Fachgebiet und die wissenschaftliche Arbeit selbst ein, wobei im ersten Teil Kenntnisse von Struktur, Vertrieb und textlicher Gestaltung der Zeitung sowie der technischen Hilfsmittel von Nachrichtendiensten, Depeschenbüros, Korrespondenzen und die Berichterstattung im Mittelpunkt standen. Im zweiten Teil ging es um die geschichtliche Darstellung typischer Zeitungsunternehmen und um die soziologische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung der Funktion der Zeitung (Statistik, Topographie, einzelne Zeitungstypen). Der Oberkurs zielte in erster Linie auf Interessenten, die in ihrem späteren Beruf unmittelbar mit der Presse zu tun hatten. Die Studierenden sollten hier „historisch und pragmatisch das Wissensgebiet als geschichtliches Geschehen und als Gegenwartserscheinung, und zum Abschluss psychologisch und synthetisch im Hinblick auf die Wirkung der Mitteilung des zeitlichen Geschehens im Zeitungswesen auf das öffentliche Wissen der öffentlichen Meinung und Weltmeinung" erfahren21. Neben ihrer Aufgabe, den Stoff der Vorlesungen zu vertiefen, wurden in Vor- und Oberkursen systematische Zeitungslektüre und das Abfassen von Notizen und Artikeln geübt, was für Mohr eine Form der Theorie/Praxis-Integration darstellte. Mohrs Plänen entsprechend bestand eine zweite Aufgabe des DIZ in der Veranstaltung von mehrtägigen Fortbildungskursen für Journalisten. Da die Durchführung derartiger Kurse in der Zeit der organisatorischen und finanziellen Konsolidierung äußerst schwierig erschien, behalf sich Mohr mit Ersatzveranstaltungen. So fanden seit dem Sommersemester 1925 wöchentlich in enger thematischer Anbindung an die Seminarver20
Vgl. ebd., S. 15—17 u. 31. Ebd., S. 17—19; außerdem: Martin Mohr: Das Deutsche Institut für Zeitungskunde in Berlin. Nach dem Stande vom 15. Juni 1925 (6 S.), S. 2, Zentrales Staatsarchiv, Merseburg, Rep. 76 Vc, Sekt. 2, Tit. 23, Litt. A, Nr. 140, Bd. ., fol. 206—211, hier fol. 207. 21
Das „Deutsche Institut für Zeitungskunde ", Berlin
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anstaltungen Institutsführungen und Gastvorträge von Praktikern statt, die den Seminarstoff ergänzten. Gastvorträge wurden 1926/27 als Überbrückungshilfe im größeren Stil angeboten; ihre Zahl ging mit dem Angebot des ersten Programms zeitungsfachlicher Fortbildungskurse 1929 unter Mohrs Nachfolger Dovifat deutlich zurück. Mohr selbst erlebte damit die Umsetzung dieses zweiten wichtigen Aufgabenschwerpunkts seines Konzeptes nicht mehr. Vordergründig an Mohrs recht praxisbezogener Art des Arbeitens entzündete sich Mitte der zwanziger Jahre ein Streit mit verschiedenen anderen Zeitungswissenschaftlern, der zu Mohrs Isolierung innerhalb des Faches führte22. Zunächst aber wurde Mohr als designierter Direktor der vermeintlich größten zeitungswissenschaftlichen Einrichtung in Deutschland bei einer ersten Tagung deutscher Fachkollegen 1926 zum Vorsitzenden des Ausschusses für eine Beteiligung an der internationalen Presseausstellung Pressa 1928 in Köln gewählt. Nachdem er damit fachpolitisch die Fäden in der Hand zu halten schien, begannen jedoch schon nach wenigen Wochen die Versuche seiner Demontage, bei denen sich insbesondere Walther Heide und Karl d'Ester, Herausgeber der ersten Fachzeitschrift Zeitungswissenschaft, hervortaten. Nach einer konstituierenden Sitzung tagte der Arbeitsausschuß nicht wieder. Ohne Mohr begannen im Frühjahr 1927 die Vorbereitungen zur Pressa. Neben d'Ester waren hieran maßgeblich der vom DIZ abgewanderte Emil Dovifat und Günther Wohlers aus Münster beteiligt. Zum weiteren Mitarbeiterkreis gehörten jedoch alle vier Referenten des Berliner Instituts. Wahrscheinlich durch seinen schlechten gesundheitlichen Zustand bedingt, nahm Mohr nur noch indirekt über seine Mitarbeiter Einfluß auf die Gestaltung der „kulturhistorischen Abteilung" dieser Ausstellung; zum Zeitpunkt der Ausstellung selbst war er bereits mehr als ein Jahr tot. Für drei von seinen Referenten Bömer und Münster gefertigte Schautafeln, die — „Die Zeitungswissenschaft und ihre Stellung zu anderen Wissenschaften", — „Die Zeitungswelt und die Zeitungsumwelt" und
22
Vgl. Hans Traub: Aufgaben des Deutschen Institutes für Zeitungskunde, in: Berliner Hochschul-Nachrichten, 16. Sem., H. 2 (Nov. 1926), S. 16; außerdem zum Streit vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 232 ff.
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— „Die Zeitungswissenschaft in Forschung und Lehre an deutschen Hochschulen" (am Beispiel des DIZ) visualisierten, hatten Mohrs „Wandtafeln für den zeitungswissenschaftlichen Unterricht" Pate gestanden23.
III
Martin Mohr in Journalismus und Standespolitik Wer war dieser Mann, der für die Verwirklichung einer Idee bis über die Grenze seiner physischen Leistungsfähigkeit ging? Martin Mohr, geboren am 25. Mai 1867, hatte zunächst Geschichte, deutsche und klassische Philologie sowie später Nationalökonomie studiert und 1891 in Marburg beim Kulturhistoriker Karl Lamprecht promoviert. Von seiner Absicht, ein Jura-Studium anzuschließen, nahm er auf Anraten Lamprechts und seines Onkels Wilhelm Mohr, langjähriger Korrespondent der Kölnischen Zeitung, Abstand, um Journalist zu werden. Nach Stationen u.a. bei der Wochenzeitung Der Gesellige (Graudenz/Westpreußen) und der Berliner Nationalzeitung, wo er stellvertretender Chefredakteur wurde, folgten berufliche Adressen, die stets seine politische Ausrichtung unterstrichen: Herausgeber der Nationalliberalen Korrespondenz, Korrespondent der Straßburger Post und der Königsberger Allgemeinen Zeitung, Verlagsdirektor und später Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung (München), einem der bedeutendsten politischen Blätter im Deutschland der Jahrhundertwende. 1907 wechselte Mohr zum lokalen Konkurrenten Münchner Neueste Nachrichten, wo er von 1908 bis 1914 als Chefredakteur wirkte24. Politisch interessiert zeigte sich Mohr auch an den Standesfragen des Journalismus'. Beherrschendes Thema dieser Jahre war die mangelhafte Professionalisierung der Journalisten. Ausbildungs- und Zugangsregelungen für den Beruf fehlten ebenso wie ein Berufsbild „Journalist" oder 23
Vgl. Friedrich Bertkau: Deutsches Institut für Zeitungskunde. Ausstellung auf der Internationalen Presse-Ausstellung zu Köln. Berlin 1928 (Ausstellungsfolder des DIZ im Selbstverlag, 4 S.). 24 Vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 41 f.
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„Redakteur". Der Prozeß der Ökonomisierung des Pressewesens, in dem die von den wirtschaftlichen Interessen des Anzeigengeschäfts geprägte „Generalanzeigerpresse" zunehmend in Konkurrenz zur (partei-)politisch geprägten „Meinungspresse" trat, hatte viele „Zeitungsmacher" in das Berufsfeld eindringen lassen, die als häufig preiswerte Arbeitskräfte das journalistische Geschäft nicht nur in den Augen der Journalisten „klassischen" Schlags nur unzureichend und mangelhaft beherrschten: Der öffentliche Ansehensverlust des Berufsstands war immens25. Da dieser Ansehensverlust zur Existenzfrage zu werden drohte, schlössen sich 1910 die drei bis dahin bereits bestehenden, aber wenig bedeutenden Journalistenverbände26 zum Reichsverband der Deutschen Presse zusammen. Nicht nur an der Gründung, sondern auch an der Diskussion um Inhalt, Form und Verbindlichkeit beruflicher Ausbildung zum Journalismus war Mohr in der Folgezeit maßgeblich beteiligt27. Obwohl schon 1900 im Verlegerorgan Zeitungs-Verlag „eine fachgemäße Vorbereitung der Journalisten der deutschen Tagespresse" ebenso gefordert wurde, wie die „systematische Ausbildung von Männern für den Journalistenberuf auf den Universitäten"28 und berufliche Bildung auch in den Folgejahren immer wieder Versammlungsthema war, bestand seitens der Verleger hieran nur ein geringes Interesse. Beim Journalistenverband entspann sich dagegen eine sehr kontrovers geführte Debatte, aus der sich zwei Standpunkte herauskristallisierten, die in Isidor Kastan, Chefredakteur des Berliner Tageblattes, und Martin Mohr ihre Antagonisten fanden. Während Kastan, getragen von der Mehrheit der Journalisten, den Beruf als einen ,Begabungsberuf ansah und jegliche Bildungsarbeit ablehnte, setzte sich RDP-Vorstandsmitglied Mohr für eine Anbindung journalistischer (Vor-)Bildung an Hochschu-
25
Vgl. Martin Mohr: Zeitung und Neue Zeit. Vorschläge und Forderungen zur wissenschaftlichen Lösung eines sozialen Grundproblems. München 1919, S. 26; Otto Groth: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik). Bd. IV. Mannheim 1930, S. 165—167 u. 291—301; sowie Karl Jaeger: Von der Zeitungskunde zur publizistischen Wissenschaft. Jena 1926, S. 48. 26 Dies waren der Verband deutscher Journalisten- und Schriftstellervereine (gegr. 1895), der Verein deutscher Redakteure (gegr. 1902) und der Bund deutscher Redakteure (gegr. 1909). 27 Vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 28 f. 28 [Max Jaenecke]: Unser Programm, in: Zeitungs-Verlag, l (1900), Nr. l, S. 1. Der VDZV wurde 1894 gegründet.
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len ein29. Mohrs Position erwies sich jedoch als nicht mehrheitsfähig. Auf der Delegiertenversammlung des RDP 1912 in München wurde ein Antrag seines Flügels bei Stimmengleichheit abgelehnt; ein Jahr später in Düsseldorf erzielte er immerhin einen Teilerfolg, als die von den Delegierten verabschiedete Resolution zwar keine Verbindlichkeit von Ausbildung und Hochschulanbindung, wohl aber eine Förderung der Pflege der Zeitungskunde und bei der Errichtung von Lehrstühlen für Zeitungskunde „die Berufung von Persönlichkeiten, denen Erfahrungen aus der Praxis zur Verfügung stehen, als selbstverständlich" forderte30. Zeitungskunde beschäftigte Mohr bereits seit 1905. Damals hatte Friedrich Althoff, Leiter des Universitätsreferats im Preußischen Kultusministerium und zugleich Herausgeber der Allgemeinen Zeitung, München, seinem Chefredakteur Mohr den Vorschlag unterbreitet, sich mit zeitungskundlichen Fragen, insbesondere auch der Planung eines Instituts in Deutschlands Zeitungsstadt Berlin, zu befassen. Althoffs Anregung infizierte Mohr wie mit einem Virus, der ihn nicht mehr loslassen sollte. Er besuchte je zweimal Karl Bücher in Leipzig (1906 und 1907) und Oscar Wettstein in Zürich (1907 u. 1914), um mit diesen Pionieren der Zeitungskunde die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Gründung von Fachinstituten zu erörtern. Mohr erhielt hier entscheidende Anregungen, die ihn bestärkten, seinen Weg fortzusetzen. Mit Bücher teilte er insbesondere die Auffassung, daß vor allem über die Einführung eines Hochschulfaches „Zeitungskunde" eine Anerkennung des journalistischen Berufs zu erwarten sei31. Während in Deutschland für den Ersten Weltkrieg mobil gemacht wurde, kehrte Mohr im Herbst 1914 dem Journalistenberuf den Rükken, um sich ganz der Zeitungskunde zuzuwenden: siebenundvierzigjährig auf dem Höhepunkt seiner journalistischen Karriere ein für einen Familienvater angesichts der weltpolitischen Entwicklung sicherlich sehr mutiger, für Mohr aber durchaus logischer und zwingender Schritt. Im Sommer 1915 noch in seinen Ämtern beim RDP bestätigt, legte 29
Vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 27—39. Martin Mohr: [Journalistische Berufsbildung], in: Die Vorbildung der Journalisten. Hg. v. RDP. Berlin 1913, S. 3—16. Entschließung des Düsseldorfer Delegiertentages, ebd., S. 17 f. 31 1926 veröffentlichte Mohr zu diesem Thema insgesamt acht Aufsätze, darunter als den vielleicht wichtigsten: Martin Mohr: Zeitungswissenschaft und journalistische Berufsbildung (I), in: Deutsche Presse, 9 (1921), Nr. 29, S. l f.; Mohr, Zeitung und Neue Zeit (wie Anm. 25), S. u. 43-^5. 30
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Mohr diese wenige Wochen später nieder, wechselte die standespolitische Front und wurde im Herbst 1915 in Berlin zeitungswissenschaftlicher Mitarbeiter beim Vorstand der Verlegerorganisation VDZV. Offenbar versprach er sich hier mehr Möglichkeiten für eine Verwirklichung seiner Institutionalisierungspläne; insbesondere das Verlegerorgan "Leitung-Verlag nutzte er 1915/16 intensiv für die Veröffentlichung zahlreicher Aufsätze über Probleme der Presse und deren Behandlung durch die Zeitungskunde32. Mohr schied nicht im Unfrieden aus dem Journalistenverband, wie deren Organ Deutsche Presse vermerkte, sondern blieb dem RDP „in freundschaftlicher Arbeitsgemeinschaft verbunden"33. Mohr selbst stellte diesen Wechsel später als den Versuch eines Brückenschlags zwischen den in verschiedenen Fragen zerstrittenen Verbänden dar34 — tatsächlich verbesserte sich das Verhältnis beider Verbände nur vorübergehend.
IV
Ein kriegswichtiges' Institut für Zeitungskunde in Warschau Im Spätsommer 1916 wurde Mohr zum Wehrdienst einberufen, wobei man ihm neben seiner fachlichen Verwendung auch die Förderung seiner „zeitungswissenschaftlichen und akademischen Tätigkeit" zusicherte. Mohr wurde Leiter der Presseverwaltung beim Verwaltungschef des Generalgouvernements Warschau. Bis zum Kriegsende im November 1918 konnte er diese Tätigkeit nutzen, um nicht nur den Organisationsplan eines zeitungswissenschaftlichen Instituts zu entwerfen, sondern ihn auch in Grundzügen umzusetzen und so wichtige Erfahrungen für die spätere Entwicklung des DIZ zu sammeln. Die von Mohr geleitete Presseabteilung kümmerte sich in erster Linie um die Pressezensur. Die anfangs nur aus Bereichen wie „Kanzlei", „Presse-Zensur" oder „Verwaltung und Nachrichtendienst" bestehende Abteilung erweiterte Mohr allmählich um ein publizistisches „Zentral-Archiv", einen „Publi-
32
Vgl. z. B. Martin Mohr: Zeitung und Hochschule, in: Zeitungs-Verlag, 17 (1916), Nr. 22, Sp. 572—575. 33 (Kleine Nachrichten), in: Deutsche Presse, 4 (1916), Nr. 17, S. 76. 34 Vgl. Mohr, Zeitungskunde (wie Anm. 10), S. 46.
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zistischen Dienst" und einen „Zeitungswissenschaftlichen Dienst", den er später zu einer eigenen Abteilung ausbaute35. Nach dieser Erweiterung waren in der Warschauer Presseabteilung über 70 Mitarbeiter tätig, die öffentliche Berichte für die deutsche Presse und die Presse des Generalgouvernements erstellten und die polnische Presse für eigene Zwecke auswerteten. Für die deutsche Presse wurde u. a. eine zweimal wöchentlich erscheinende Zeitungskorrespondenz Warschauer Mitteilungen zusammengestellt, die Wolff's Telegrapbisches Bureau vertrieb. Die zeitungswissenschaftliche Abteilung erarbeitete sogenannte „Warschauer Tafeln zur Gegenwartsgeschichte des Königreichs Polen", die vom Frühjahr 1917 den Tagesberichten beigefügt wurden und bei Zeitungen, amtlichen Stellen und Fachpresse große Beachtung fanden. Insgesamt 16 Tafeln, bei denen es sich um Darstellung in Tabellenform handelte, gaben einen Überblick über verschiedene Teilaspekte der polnischen Geschichte, informierten über die Presse- und Parteienlandschaft Polens sowie über mehr als 150 Persönlichkeiten des Königreichs. Vier Tafeln lieferten ein Verzeichnis aller Zeitungen und Zeitschriften des Generalgouvernements mit statistischen Angaben zu Gründungsjahr, Erscheinungsweise und -ort, politischer Ausrichtung und Verbreitung36. Im Sommer 1917 erfolgte der Ausbau des „zeitungswissenschaftlichen Dienstes" zu einer Abteilung, die u.a. auch deutsche Pressevertreter betreute, die sich als Hospitanten der Presseabteilung ein Bild von der Lage in Polen machen wollten. Zur Jahreswende 1917/18 wurde mit den Vorbereitungen zur Errichtung eines zeitungswissenschaftlichen Instituts begonnen, wobei Mohr die Einrichtung von Bibliothek und Archiv mit der Absicht begründete, einen Informationsapparat zu schaffen, der Material über die Verhältnisse in Polen für die deutsche Vertretung in Warschau sowie die zuständigen Stellen in Berlin bereitstellen sollte und der polnischen Seite Informationen über Deutschland und die deutschpolnischen Beziehungen bieten könnte37. Der Plan wurde im Sommer 1918 genehmigt.
35
Martin Mohr (Hg.): Warschauer Tafeln zur Gegenwartsgeschichte des Königreichs Polen. Leipzig 1917/18, Tafel 10, „Dienstplan der Presseabteilung des Verwaltungschefs beim Generalgouvernement Warschau". 36 Ebd., verschiedene andere Tafeln. 37 [Martin Mohr]: (Chronologischer Rekonstruktionsversuch seiner Tätigkeit in Warschau). O. D. (1918 od. später), (unvollständig, 3 S. erhalten), S. l, Zentrales
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Da die für die Einrichtung des Instituts erforderlichen Bücher und Materialien aufgrund fortgeschrittener Kriegsdauer nicht mehr bzw. nicht schnell genug zu beschaffen waren, griff Mohr auf seine im Laufe von mehr als zehn Jahren umfangreich zusammengetragenen, persönlichen Bestände zurück und stellte diese leihweise zur Verfügung. Ob das Institut seine Arbeit tatsächlich noch aufnahm, ist jedoch fraglich38. Das Kriegsende am 11. November 1918 kam für Mohr überraschend. Nur sechs Tage später mußte er Warschau Hals über Kopf Richtung Berlin verlassen. Der größte Teil seiner zeitungswissenschaftlichen Bestände ging verloren, lediglich der Organisationsplan des Instituts und Bruchteile des dazugehörenden Manuskripts konnten gerettet werden. Besonders hart traf Mohr der Verlust dieser persönlichen Unterlagen, das Ergebnis langjähriger Denkarbeit, von denen er glaubte, daß sie ihm „nach Abschluss der Warschauer Verpflichtungen die Aufnahme zeitungswissenschaftlicher Berufsarbeit in Zusammenhang mit einer Hochschule ermöglicht"^ hätten. Immerhin waren Grundzüge seines Konzepts bei Adolf von Harnack, Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek und Befürworter der Hochschulanbindung der Zeitungskunde, und Carl Heinrich Becker, Referent für das Hochschulwesen im Preußischen Kultusministerium und später dort Staatssekretär und Minister, bekannt. Hierzu hatte der RDP als Vermittler agiert. Die Hilflosigkeit, mit der deutsche Journalisten während des Kriegs der deutschfeindlichen Auslandspropaganda begegnet waren, hatte zu einem teilweisen Umdenken beim RDP geführt. Das Versagen des Berufsstandes wurde dem schlechten Bildungsstand der Journalisten angelastet, in Leipzig unter dem Eindruck der Ereignisse und mittels Förderung eines Verlegers das erste Fachinstitut gegründet. Die Frage einer Hochschulanbindung der Zeitungskunde wurde diskussionsfähig. Nachdem der VDZV Mohrs Stelle in seiner Abwesenheit zu dessen großer Enttäuschung Ende 1917 neu besetzte, war dieser zum RDP zurückgekehrt. Der RDP seinerseits, plötzlich an beruflicher Vorbildung und Akademisierung standespolitisch interessiert, sorgte dafür,
Staatsarchiv Potsdam, Nachlaß Mohr, 90 Mo 5, Nr. 17, Bl. 5—7, 5; außerdem ebd., Bl. 18—24, 21. 38 Sowohl der letzte Dienstplan der Abteilung vom 1. August 1918 als auch Äußerungen von Mohr und anderen deuten zumindest dessen formale Gründung an. 39 [Martin Mohr]: Zeitungswissenschaftliche Bibliothek und Archiv, Nachlaß Mohr (wie Anm. 37), Nr. 18, Bl. 90—95, 92.
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daß Mohrs Konzept im April 1918 dort vorlag40. Mohr wurde Leiter einer zeitungswissenschaftlichen RDP-Kommission41.
V
Das Konzept eines zeitungswissenschaßlichen Instituts Der RDP beauftragte Mohr mit der Abfassung einer Denkschrift, die die vorangegangene Debatte um die Akademisierung der Journalistenvorbildung zusammenfassen und Mohrs in Warschau entwickelten Plan rekonstruieren sollte. Im Frühjahr 1919 veröffentlichte Mohr diese Arbeit — auf Wunsch des RDP-Vorsitzenden Paul Marx als „Programmschrift" der „Zeitungswissenschaftlichen Kommission" — unter dem Titel Zeitung und Neue Zeit. Im Kern seiner Überlegungen stellte er den Entwurf eines „Allgemeinen Instituts für Zeitungskunde" vor, der in leicht abgewandelter Form Anfang 1919 beim Preußischen Kultusministerium als Antrag zur Errichtung eines zeitungskundlichen Instituts in Berlin eingereicht wurde42. Mohrs Entwurf skizzierte eine Zielvorstellung (Abb. 2): vier Fach-Abteilungen, gegliedert in .Zeitungszentrale' (Abt. I), .Zeitungswissenschaft' (Abt. II), ,Zeitungspraxis' (Abt. ) und .Allgemeine Aufgaben' (Abt. IV). Da dieser Plan angesichts der wirtschaftlich äußerst angespannten Nachkriegssituation nur in kleinen Schritten realisierbar erschien, schlug Mohr als ersten Schritt den Aufbau einer Spezialbibliothek vor, die schnell und kostengünstig als Sammel-, Sortier- und Auskunftsstelle wirken sollte. Die Abteilung „Zeitungskunde und Wissenschaft" sollte neben einer Bibliothek auch ein Archiv alter Zeitungen und Zeitschriften sowie eine Mustersammlung spezieller Zeitungstypen umfassen. Forschungsgegenstände bildeten die „Zeitungen als Geschichtsquelle und in ihren Beziehungen zu den zeitgeschichtlichen Vorgängen" sowie das „Zeitungswe-
40
Vgl. ebd., Nr. 17, Bl. 25—28, 27. Mohr, Zeitungswissenschaft und journalistische Berufsbildung (wie Anm. 31), S. l f., 1; vgl. auch Jaeger, Von der Zeitungskunde (wie Anm. 25), S. 46. 42 Anlage des Antrags der ZW-Kommission (RDP, Mohr) an PKM vom 24.01.1919 (2 S.): Arbeitsplan eines Zeitungswissenschaftlichen Instituts (4 S.), S. l (A. „Gesamtübersicht"), Zentrales Staatsarchiv Merseburg (wie Anm. 21), Nr. 140, Bd. I, fol. 270—271; vgl. Mohr, Zeitung und Neue Zeit (wie Anm. 25), S. 63—65. 41
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I. Zeitungszentrale und 1. Zeitungssammelstelle für die Presse des In- und Auslandes 2. Aktuelle Redaktionsmuster- und Nachschlagebibliothek Zeitungswesen der 3. Auskunftsstelle Gegenwart
4. Material- und Erfahrungsaustausch mit Zeitungen, amtlichen Pressestellen und Instituten 5. Lesesaal mit Depeschenauslagen
. Zeitungskunde und Wissenschaft
a. Hilfsmittel 1. Wissenschaftliche Fachbücherei 2. Zeitungsarchiv 3. Ausstellung über das Zeitungswesen b. Forschung 1. Zeitungsgeschichte 2. Statistik 3. Grundlagen des deutschen Zeitungswesens 4. In- und ausländisches Zeitungswesen und Nachrichtenverkehr 5. Öffentliche Meinung im In- und Auslande 6. Kulturpropaganda und Presse c. Lehre 1. Allgemeine Vorlesungen über das Pressewesen und Seminarübungen 2. Kurse für Angehörige anderer Berufe 3. Auswärtige Vorträge
. Zeitungskunde und 1. Berufliche Beratungsstelle, ergänzende Vorlesungen 2. Theoretische Berufsanleitung Praxis 3. Praktische Berufsanleitung 4. Hilfswissenschaften und Ergänzungsvorlesungen 5. Bibliographen- und Quellenkunde 6. Führungen 7. Fortbildungskurse und journalistische Wochen
IV. Allgemeine Aufgaben
1. Zentrale der deutschen Gesellschaft für Zeitungskunde 2. Wissenschaftliche Zeitschrift für das Zeitungswesen 3. Herausgabe von Handbüchern für den Pressedienst 4. Herausgabe von tagesgeschichtlichem Material 5. Journalistenaustausch und ähnliche Veranstaltungen
Abh.2: Mohrs Konzept eines zeitungswissenschaftlichen Instituts 1919
sen der Gegenwart und der Vergangenheit und seine Entwicklung und Wechselwirkungen in den verschiedenen Staaten"43. Neben dieser historisch orientierten Untersuchung des deutschen Zeitungswesens und der Erforschung der öffentlichen Meinung im In- und Ausland sollte sich die Abteilung auch der statistischen Erforschung des Zeitungswesens zuwenden. In Anknüpfung an seine „Warschauer Tafeln" wollte Mohr hiermit 43
Mohr, Zeitung und Neue Zeit (wie Anm. 25), S. 68 f.
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die völlig unzureichenden statistischen Pressehandbücher ablösen, die seit 1917 vom Kriegspresseamt publiziert wurden44. Die Abteilung „Zeitungskunde und Praxis" sollte als Gegengewicht zur Abteilung „Zeitungswissenschaft" den Praxisbezug des Instituts herstellen. Unter dem Titel „Theoretische Berufsanleitung" war die Vermittlung von Basis- und Hintergrundwissen über das Zeitungswesen, darunter die Systematik des Presseberufes, Standesfragen und das Zeitungsrecht, ebenso geplant wie praktische Übungen in der „Kunst des Zeitungslesens" und das Erstellen von Artikeln und Aufsätzen. Weiter sollten Fortbildungskurse nicht nur zeitungskundliches Fachwissen, sondern auch Sachkenntnisse anderer Wissensgebiete, die Journalisten etwa zur Einschätzung der von ihnen bearbeiteten Sachverhalte benötigten, anbieten. Mit Hilfe einer „beruflichen Beratungsstelle" wollte Mohr ferner Fachinteressenten gezielt über akademische Wege in den Beruf informieren. Die Abteilung „Allgemeine Aufgaben" sollte Zeitungskunde und Pressewesen allgemein fördern. So plante Mohr u.a. als Ergänzung der beiden Verbandsorgane Zeitungs-Verlag (VDZV) und Deutsche Presse (RDP) die Herausgabe einer Fachzeitschrift, die alle Fragen und Zweige des Zeitungswesens wissenschaftlich behandeln sollte. Weiter plante er die Herausgabe von Handbüchern und Nachschlagewerken, dazu die Anlage von Bibliographien und Standortskatalogen, die unter thematischen Gesichtspunkten Publikationen zusammenfassen bzw. eine Übersicht über die in Deutschland archivierten Zeitungsbestände geben konnten. Diese hatten nach seinem Verständnis auf der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis zwei Funktionen: Zum einen bildeten sie eine zentrale Grundlage des Fachs, zum anderen waren sie Hilfsmittel für Praktiker45. Mit seinem Entwurf wollte Mohr den Untersuchungsgegenstand „Zeitung" auf drei Ebenen erschließen: — in Lehre und Forschung, — in Geschichte und Gegenwart sowie — in Wissenschaft und Praxis. 44
Kriegspresseamt (Hg.): Handbuch Deutscher Zeitungen 1917. Bearb. v. Oskar Michel. Berlin 1917 (sowie Nachtrag 1918); Kriegspresseamt, Auslandsstelle (Hg.): Handbuch der Auslandspresse 1918. Bearb. v. Hans-Wolfgang Herwarth von Bittenfeld. Berlin 1918. 45 Vgl. Mohr, Zeitung und Neue Zeit (wie Anm. 25), S. 78.
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Zeitungskunde durfte nach dem Verständnis des langjährigen Pressepraktikers Mohr nicht als wissenschaftlicher Selbstzweck betrieben werden, sondern hatte sich an den Bedürfnissen der Praxis zu orientieren46. Mohrs Plan zielte nicht auf ein klassisches Hochschulinstitut ab, sondern auf eine organisatorisch selbständige Einrichtung in Form eines Vereins oder einer Körperschaft öffentlichen Rechts. Dies verdeutlicht eine im Entwurf angeführte Abteilung V „Kuratorium und Verwaltung", die Vertreter aus Politik und Verwaltung, aus dem Journalismus und seinen Standesvertretungen sowie aus der Hochschule in einer Art Aufsichtsorgan zu Verwaltung und Förderung zusammenführen sollte. Die Verknüpfung des ansonsten unabhängigen Instituts mit der Hochschule als „An"-Institut sollte ein universitärer Lehrauftrag leisten. Von einer Trägergesellschaft, für die „führende Männer des öffentlichen Lebens" zu gewinnen waren, erhoffte sich Mohr eine noch breitere Akzeptanz und Unterstützung dieses Instituts auf der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis — eine für die Zeit sehr ungewöhnliche Ansiedlung47.
VI
Umsetzung der Pläne Die Verwirklichung von Mohrs Plänen, durchdacht und überzeugend dargelegt, schien schnell in greifbare Nähe zu rücken, als der Entwicklungsprozeß plötzlich stockte. Für Mohr und den RDP völlig überraschend erhielt Otto Jöhlinger, Wirtschaftsredakteur der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung (Berlin) und Dozent am Seminar für Orientalische Sprachen der Berliner Universität, dort zu Beginn des Jahres 1919 einen Lehrauftrag für Zeitungskunde. Die Folgezeit prägten zwei Entwicklungslinien: Jöhlinger war bemüht, seinen zeitungskundlichen Lehrauftrag vom unbedeutenden „Orientalischen Seminar" an die Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität zu verlagern; Mohr versuchte weiter, mit Hilfe seiner RDP-Kommission ein Institut nach seinen Plä46
Vgl. Hans Traub: Zur Entstehungsgeschichte des Instituts für Zeitungswissenschaft an der Universität Berlin, 23.03.1935 (12 S.), S. 4, Archiv des Instituts für Zeitungsforschung Dortmund, Nachlaß Traub, fol. 172—183, 177 f. u. 183. 47 Mohr, Zeitung und Neue Zeit (wie Anm. 25), S. 80; vgl. ebd., S. 65 u. 81.
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nen zu verwirklichen. Dabei gelang es weder Jöhlinger, an die Staatswissenschaftliche Fakultät zu wechseln, noch Mohr, an die Universität München auszuweichen und dort sein Institutskonzept umzusetzen; auch eine Kooperation von Mohr und Jöhlinger kam nicht zustande48. Zum Jahreswechsel 1922/23 kam wieder Bewegung in die Sache: Jöhlingers Position schien stark gefährdet, da das Orientalische Seminar in der bestehenden Form nicht weitergeführt werden sollte. Jöhlinger orientierte sich Richtung Philosophische Fakultät. Da ihm klar sein mußte, daß er nicht mit dem Votum des RDP rechnen konnte, versuchte er zu taktieren und teilte dem stellvertretenden Direktor seines Seminars mit, daß die „ausserhalb der Fakultät in Betracht kommenden InteressenStellen [...] mit der Errichtung einer Professur für Zeitungskunde ausdrücklich einverstanden" seien. In der Sache war dies sicher richtig, in bezug auf seine Person aber irreführend: Von ihm in Aussicht gestellte zustimmende Bescheinigungen der Journalisten- und Verlegerorganisationen, die er nachreichen wollte, hätte er wohl kaum bekommen49. Bevor dieses Manöver erfolgreich sein konnte, griff diesmal der RDP ein. Der geschäftsführende Vorsitzende Gustaf Richter intervenierte bei allen wichtigen Stellen; später schaltete sich auch der Verlegerverband ein, der gegenüber dem Preußischen Kultusministerium auch den Wunsch nach baldiger Umsetzung des Mohr-Konzepts unterstrich. Hinter den Kulissen war zu diesem Zeitpunkt bereits längst eine Entscheidung für Mohr und gegen Jöhlinger gefallen. Sie fiel im Grunde in dem Moment, als Mohr im September 1922 als Pressereferent in das u.a. für die Vergabe von Lehraufträgen zuständige Preußische Kultusministerium berufen wurde. Nun war es letztlich eine Frage der Zeit, bis Mohr .seinen' Lehrauftrag erhalten würde. Fachlich überbrückte Mohr die Zeit mit Vorlesungen an der in Berlin ansässigen Deutschen Hochschule für Politik; in drei Zimmern seiner Privatwohnung richtete er ein „zeitungswissenschaftliches Institut in Entwicklung" ein, um erneut einen Grundstock für Organisation und Aufbau eines Instituts zu legen. Im Sommer 1924 erhielt Mohr schließlich den langersehnten Lehrauftrag für Zeitungskunde an der Universität Berlin, wobei die Philosophische
48
Otto Jöhlinger: Das Seminar für Zeitungskunde und Zeitungspraxis, in: Berliner Hochschul-Nachrichten, 4. Sem., 1. H. (Okt. 1920), S. 4 f., 4; vgl. auch Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 68—94. 49 Schreiben Jöhlinger an Mittwoch, 18.02.1922 (3 S.), S. 3, Zentrales Staatsarchiv Merseburg (wie Anm. 21), Nr. 140, Bd. II, fol. 44^5, 45.
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Fakultät ihm und seiner jungen Disziplin „Zeitungskunde" mit äußerster Zurückhaltung begegnete. Auch wenn das DIZ schon in den Anfangsjahren über vergleichsweise große Bestände an Archivmaterial und Lehrmitteln verfügte, lief ein Institutsbetrieb nur sehr zögerlich an. Erst als sich die finanzielle Lage besserte und Referenten zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Materials beschäftigt werden konnten, wurde das Institut wirklich arbeitsfähig. Mit der Übernahme laufender Zahlungsverpflichtungen durch die beiden Presseverbände RDP und VDZV Mitte bzw. Ende 1925 war der wesentliche Teil der Institutionalisierung des DIZ abgeschlossen. Etwas mehr als ein Jahr verblieben Mohr bis zu seinen Tod, um die Früchte dieser Arbeit wachsen zu sehen.
VII
Dovifat als Nachfolger Mohrs Ungeachtet aller persönlichen und inhaltlichen Ressentiments, mit denen er Mohr zuletzt öffentlich begegnet war, schwenkte Dovifat schon bei seiner Antrittsvorlesung im November 1928 auf den Kurs seines Vorgängers zurück. Im Schluß seiner Ausführungen wiederholte er exakt die Vorstellungen über den Aufbau des DIZ und seiner Aufgaben, die Mohr formuliert und über Jahre vertreten hatte. Dies erstaunt zunächst um so mehr, als Dovifat, d' Ester und vor allem Heide im Rahmen des Streits 1926/27 insbesondere Mohrs zeitungswissenschaftliche Kompetenz in Frage gestellt hatten, zeigt aber auch die Vordergründigkeit der fachpolitischen Strategie. Deutlich wird ein fachpolitisches Taktieren und Paktieren, auf das sich Dovifat einließ, um eine zeitungswissenschaftliche Professur zu erlangen. Mit seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor und Leiter des DIZ zeigte sich Dovifat wieder gewandelt. Nun von den fachlichen Fähigkeiten Mohrs wieder überzeugt, bezeichnete er diesen als den „Architekten" des Instituts und einen „verdienten Vorgänger in der Leitung"50. Bei beruflich und vor allem verbandspolitisch ähnlicher Sozialisation im RDP war es im Grunde naheliegend, daß Dovifat sich als neuer Lei50
Emil Dovifat: Wege und Ziele der zeitungswissenschaftlichen Arbeit. Berlin 1929, S. 15.
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ter zu dem von Mohr im Sinne der Presseverbände konzipierten und von beiden Verbänden finanziell mitgetragenen Institut öffentlich bekennen und insbesondere anerkennende Worte für die Abteilung „Zeitungskunde und Praxis" finden mußte: „Die Praxis kann die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit fortgesetzt nutzen, die wissenschaftliche Arbeit aber erhält aus der Praxis die Richtungsweiser, damit sie vor Irrwegen ins rein Spekulative und in eine graue Theorie behütet bleibt"51. Ohnehin gaben die Satzungen des DIZ den Rahmen vor, innerhalb dessen sich Dovifat mit seinen Aktivitäten inhaltlich zu bewegen hatte. Die Nachfolge Mohrs an Hochschule und DIZ versetzte Dovifat in die günstige Lage, auf ein nicht nur entwickeltes, sondern mittlerweile auch praxiserprobtes Institutskonzept zurückgreifen zu können. Insbesondere in der Forschung konnte Dovifat von der wissenschaftlichen Tätigkeit der Referenten profitieren, die zum Teil schon erheblich über Vorarbeiten hinausgegangen war. Mit geringen Modifikationen setzte Dovifat das praxiserprobte Lehrund Institutskonzept Mohrs inhaltlich und strukturell fort. Da die Teilnehmerzahlen deutlich stiegen, wurden vom Sommersemester 1929 an ein zusätzlicher Mittelkurs zwischen Vor- und Oberkurs eingeführt und die Referenten Bömer, Münster und Traub entsprechend ihren Arbeitsschwerpunkten in den Lehrbetrieb integriert. Abgesehen von Umbenennungen hatte auch Mohrs Abteilungs- und Archiv-Konzept unter Dovifat weitgehend Bestand52. Lediglich aus Münsters Abt. I „Zeitungskunde als Wissenschaft", die als Abt. III den weniger akademischen Titel „Deutsche Presse (Umwelt)" erhielt, wurde im Herbst 1929 die neue Abt. V „Presserechtsabteilung" herausgelöst, die fortan nebenamtlich von Kurt Häntzschel, Referent für Pressefragen im Reichsinnenministerium, geleitet wurde53. Zentraler Gegenstand der DIZ-Arbeit blieb bis 1933 die Zeitung, auch wenn Dovifat im Sommersemester 1931 eine Vorlesung über „Die publizistische Führung der Massen in der Gegen-
51 Ebd., S. 16. 52
Im wesentlichen änderte Dovifat Äußerlichkeiten: Neben der Einrichtung der Abt. V „Presserecht" wurden Bertkaus Abt. „Topographie und Statistik" nun in Abt. I „Deutsche Zeitungssammlung und Statistik" und Traubs Abt. „Struktur und Funktion der Zeitung" in „Deutsche Presse (Aufbau und Arbeitsweise)" umbenannt. 53 Zu Häntzschel vgl. Jürgen Wilke: Im Dienste von Pressefreiheit und Rundfunkordnung. Zur Erinnerung an Kurt Häntzschel (1889—1941), in: Publizistik, 34 (1989), H. 1—2, S. 7—28.
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wart" unter Einbeziehung der Medien Film, Hörfunk und Rede hielt und Ausweitung andeutete54. Neu in der Ära Dovifat war die Einrichtung von Fortbildungskursen für Journalisten und Verleger, die zwar schon in den Satzungen vom Januar 1927 als zweiter Schwerpunkt des Instituts und Aufgabe der Abteilung „Zeitungskunde und Praxis" festgelegt waren, aber aus verschiedenen Gründen erst vom Jahresende 1929 an regelmäßig durchgeführt werden konnten55. Ziel der „zeitungsfachlichen Fortbildungskurse", die von nun an jährlich einmal durchgeführt wurden, war es, „durch eigene Anschauung und persönliche Fühlungnahme das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben kennenzulernen und, befreit von der Alltagspolitik des engeren Pflichtenkreises, Eindrücke und Anregungen zu sammeln, um zu eigener publizistischer Arbeit frische Kräfte zu gewinnen und dadurch namentlich der Gefahr uniformierender Korrespondenzarbeit entgegenzuwirken"56. In der Praxis gestalteten sich diese etwa zehntägigen Kurse als eine Mischung aus Vorträgen und Erfahrungs- und Meinungsaustausch über allgemein-berufliche, fachlich-journalistische und technische Probleme. Ein Bedarf für diese Kurse war vorhanden, wie die Teilnehmerzahlen verdeutlichen: Nahmen am ersten Kurs im November 1929 etwa 100 Zeitungsleute teil, so konnte der siebte Kurs 1935 bereits 170 Teilnehmer zählen. Entgegen Dovifats Behauptung, dem DIZ seien im Dritten Reich wegen regimekritischen Verhaltens seines Leiters diese Weiterbildungsveranstaltungen entzogen worden, fanden sie in den Jahren 1933 bis 1935 mit nationalsozialistisch eingefärbtem Programm weiter unter der Regie des DIZ und in dessen Räumen statt. Als 1937 der RDP formal die Leitung des nun „1. Reichslehrgang für pressefachliche Fortbildung" genannten Kurses übernahm, blieben Struktur, Ziele und Inhalte
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Vgl.: Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist. Mainz 1986, S. 119, 122 u. 159—168, 160 u. 163; außerdem: Mitteilungen des DIZ Nr. 22 (Okt. 1936), S. 10 f. 55 Vgl. E[mil] Dovifat: Zeitungswissenschaft und zeitungsfachliche Fortbildung, in: Zeitungs-Verlag, 30 (1929), Nr. 22, S. 51—53. 56 Mitteilungen des DIZ Nr. 13 (Spätsommer 1929), S. 7 f., 8; Friedrich Bertkau: Der 1. Zeitungsfachliche Fortbildungskursus in Berlin. Eine Rückschau, in: Deutsche Presse, 20 (1930), Nr. 3, S. 21 f.; Dovifat, Zeitungsfachliche Fortbildung (wie Anm. 55), S. 51—53.
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erhalten; letztmalig war das Institut für Organisation, Vorbereitung und große Teile der Durchführung verantwortlich57.
VIII DlZ-Arbeiten unter Dovifat — ein ,Nachlaß{ Martin Mohrs Deutlicher noch wird der Einfluß Mohrs, der letztlich bis zur Umbenennung des DIZ in Institut für Zeitungswissenschaft reichte, an den Ergebnissen der Abteilungs- und Archivarbeit. Seine ehemaligen Mitarbeiter Bertkau, Bömer, Münster und Traub blieben zunächst Referenten des DIZ und personifizierten damit sein Konzept über seinen Tod hinaus58. Ihre Arbeit versprach Dovifat Renommee, so daß er gut daran tat, keine tiefgreifenden Veränderungen anzustreben. In den ersten knapp fünf Jahren seiner Ära faßte im Institutsbetrieb allem Anschein nach ein Rädchen in das andere. Sieben fachwissenschaftlich bedeutende Handbücher und Monographien erschienen in kurzer Folge. Das DIZ wurde zur ersten Adresse der noch jungen deutschen Zeitungswissenschaft — die Idee des Zentralinstituts schien realisiert. Der Blick auf die Erträge der Institutsarbeit der ersten fünf Jahre unter Dovifat zeigt nachdrücklich, wie sehr Mohr dem Institut über seinen Tod hinaus seinen Stempel aufgedrückt hatte59: - 1929: Bibliographisches Handbuch der Zeitungswissenschaft - 1931: Handbuch der Weltpresse (überarb. Neuaufl. 1934 u. 1937) — 1932: Handbuch der Deutschen Tagespresse (überarb. Neuaufl. 1934, 1937 u. 1944) — 1932: Internationale Bibliographie des Zeitungswesens — 1932: Der wirtschaftliche Aufbau des deutschen Zeitungsgewerbes — 1932: Jugend und Zeitung — 1933: Standortskatalog wichtiger Zeitungsbestände in deutschen Bibliotheken 57
Vgl. bes. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 286. Vgl. insbesondere: Mitteilungen des DIZ Nr. 12 ( / Frühjahr 1929), S. 6 f. u. Nr. 15 (Spätsommer 1930), S. 4—6; sowie Mohr, Zeitungskunde (wie Anm. 10), S. 40 f. 59 Zur Einschätzung der Arbeiten des DIZ vgl. Peter Szyszka: Zeitungswissenschaft in Nürnberg. Ein Hochschulinstitut zwischen Praxis und Wissenschaft. Nürnberg 1990, S. 153—160 u. 177—185. 58
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Das „DeutscheInstitutför Zeitungskunde", Berlin
Abt. I: Abt. : Zeitungskunde als Struktur und FunkWissenschaft tion der Leitung: Münster Zeitung Leitung: Traub/Bömer
Abt.
:
Topographie und Statistik Leitung: Bertkau
Abt. IV: Zeitungswesen des Auslandes Leitung: Bömer
1929: „Bibliographisches Handbuch der Zeitungswissenschaft" (Bömer) 1931: „Handbuch der Weltpresse" (Bömer) 1932: „Internationale Bibliographie des Zeitungswesens" (Bömer) 1932: „Derwirtschaftliche Aufbau des deutschen Zeitungsgewerbes" (Bertkau/Bömer) 1932: Jugend und Zeitung" (Münster)
1932: „Handbuch der deutschen Tagespresse" (Bertkau)
1933: „Standortskatalog wichtiger Zeitungsbestände in deutschen Bibliotheken" (Traub) 1934: überarbeitete Neuauflage (Traub)
1934: überarbeitete Neuauflage (Bömer)
1937: überarbeitete Neuauflage (Schneider)
1937: überarbeitete Neuauflage (Bömer)
1944: überarbeitete Neuauflage (Eisheuer) Abb. 3: Zuordnung der zwischen 1929 und 1944 entstandenen Institutspublikationen zu den von Mohr eingerichteten Abteilungen des DIZ Bei allen Publikationen handelte es sich um Arbeiten der Referenten, für die sich ein unmittelbarer Einfluß Dovifats nicht belegen läßt (Abb. 3). Do vif at selbst publizierte während dieser Zeit neben seiner programmatischen Antrittsvorlesung Wege und 2iele der zeitungswissenschafilichen Arbeit (1929) und einer Schrift über den Sensationsjournalismus (1930) sein kleines, aber grundlegendes Lehrbuch Zeitungswissenschaft (1931), in dem er erstmals sein fachwissenschaftliches Verständnis niederlegte60.
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Dovifat, Wege und Ziele (wie Anm. 50); Emil Dovifat: Auswüchse der Sensationsberichterstattung. Stuttgart 1930; Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft. 2 Bde. (Bd. I: Allgemeine Zeitungslehre. Bd. 2: Praktische Zeitungslehre). Berlin 1931
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Als erstes Handbuch des DIZ erschien 1929 das Bibliographische Handbuch der Zeitungswissenschaft. Diese „kritische und systematische Einführung in den Stand der deutschen Zeitungsforschung", so der Untertitel, dokumentierte auf knapp 350 Seiten und mit fast 4.000 Titeln systematisch die wichtigste Literatur der frühen Zeitungswissenschaft und damit gleichfalls die Arbeit der von Mohr installierten „Bibliographischen Auskunftsstelle" des Instituts. Die Gliederung des Handbuchs entsprach im wesentlichen der Gliederung des Instituts. Im Gegensatz zu anderen Bibliographien war jedem Sachgebiet dieses Handbuchs eine kurze Einführung in die Thematik vorangestellt. Mit dieser vielleicht wichtigsten Veröffentlichung des DIZ legte Bömer, der für die Bearbeitung von Handbüchern vermutlich nach Abschluß der Pressa im Sommer 1928 für etwa ein Jahr von anderen Institutsarbeiten freigestellt war, ein von Wissenschaft und Praxis gleichermaßen gefordertes Findbuch der wichtigsten Fachliteratur vor, das durchweg positiv aufgenommen wurde61. Ebenfalls unter weitgehender Bearbeitung von Bömer erschien 1932 eine Internationale Bibliographie des Zeitungswesens, die offiziell als zweite Auflage des Bibliographischen Handbuchs firmierte, sich jedoch von diesem als reine Fach-Bibliographie ohne Kommentierung deutlich unterschied. Die etwa 7.000 Titel umfassende Bibliographie entsprach im Teil „Deutsches Zeitungswesen" exakt der Gliederung der Ausgabe von 1929 und war inhaltlich aktualisiert. Der Teil „Ausländisches Zeitungswesen" war alphabetisch nach Ländern geordnet und nur bei größeren Zeitungsländern wie England, Frankreich und den USA in Anlehnung an den deutschen Teil weiter untergliedert. Als problematisch erwies sich der Versuch einer kritischen Literaturauswahl, der bei kleineren Zeitungsländern nicht durchzuhalten war62.
(= Sammlung Göschen 1039/40); außerdem vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 461. 61 Karl Bömer: Bibliographisches Handbuch der Zeitungswissenschaft. Kritische und systematische Einführung in den Stand der deutschen Zeitungsforschung. Leipzig 1929; vgl. außerdem Karl Bömer: Grundsätzliches zu einer „Zeitungswissenschaftlichen Bibliographie", in: Deutsche Presse, 17 (1927), Nr. 47, S. 576f.; für die Rezensionen z.B. E[rich] Everth: Bibliographie der Zeitungskunde, in: Deutsche Presse, 20 (1930), Nr. 15, S. 2—4. 62 Karl Bömer: Internationale Bibliographie des Zeitungswesens. Unter Mitarbeit von Raphael Rochlin hg. vom Deutschen Institut für Zeitungskunde, Berlin. Leipzig 1932, bes. S. XV.
Das „ Deutsche Institut für Zeitungskunde ", Berlin
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Den presseökonomischen Schwerpunkt des DIZ, den Mohr schon in seiner Programmschrift Zeitung und Neue Zeit 1918/19 postuliert und durch die Einrichtung der Abt. II „Struktur und Funktion der Zeitung" verdeutlicht hatte, teilte auch Dovifat, der in seiner Antrittsvorlesung 1928 „die Erforschung des Wechselspiels zwischen den geistigen, den technischen und den wirtschaftlichen Kräften innerhalb der Zeitung [als] die nächste Aufgabe der Zeitungswissenschaft" bezeichnete63. Mit Bertkau und Bömer verfügte das DIZ gleich über zwei wirtschaftswissenschaftlich vorgebildete Referenten, die 1932 die statistisch-presseökonomische Studie Der wirtschaftliche Aufbau des deutschen Zeitungsgewerbes vorlegten und dabei Einblick in ihre für die damalige Zeit anspruchsvollen presseökonomischen Forschungsarbeiten der Abt. II und III gaben. Hauptteil I, von Bertkau bearbeitet, präsentierte die erste, nach dem Ersten Weltkrieg erhobene amtliche Statistik über das Zeitungswesen, wobei Bertkau hier erstmals mit einer anfangs umstrittenen Einteilung der Zeitungen in Haupt- und Nebenausgaben arbeitete. In den Hauptteilen II und III behandelte Bömer die wirtschaftlichen Aspekte des Anlage- und Betriebskapitals, der Rentabilität sowie die handelsrechtlichen Unternehmensformen der deutschen Zeitungswirtschaft64. Das Handbuch der Weltpresse65, an dem Bömer auch nach seinem Ausscheiden aus dem DIZ 1933 weiter mitwirkte, wurde 1931 publiziert. Es war die gedankliche, nicht aber die inhaltliche Fortführung des 1918 von Hans-Wolfgang Herwarth von Bittenfeld bearbeiteten und der Auslandsstelle des Kriegspresseamts herausgegebenen Handbuchs der Auslandspresse66. Als Leiter der Abt. IV „Ausland" war Bömer hier ganz in seinem Metier. Aufgrund des DIZ-Archivmaterials und einer von internationalen Fachleuten unterstützten Fragebogen-Erhebung lagen ihm weltweit die wichtigsten statistischen Angaben von mehr als 1.000 Zei63
Dovifat, Wege und Ziele (wie Anm. 50), S. 10; vgl. Martin Mohr, Zeitung und Neue Zeit (wie Anm. 25), S. 68; Mohr, Zeitungskunde (wie Anm. 10). 64 Friedrich Bertkau/Karl Bömer: Der wirtschaftliche Aufbau des deutschen Zeitungsgewerbes. Berlin 1932. 65 Karl Bömer: Handbuch der Weltpresse. Eine Darstellung des Zeitungswesens aller Länder hg. vom Deutschen Institut für Zeitungskunde. Berlin 1931; außerdem dazu Karl Bömer: Die Gegenwartsforderung der internationalen Zeitungsforschung: Ein „Handbuch der Weltpresse", in: Zeitungs-Verlag, 30 (1929), Nr. 49, Sp. 2349—2356. 66 Handbuch der Auslandspresse. Bearb. von der Auslandsstelle des Kriegspresseamtes. Berlin 1918.
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tungen vor, die entsprechend ihrer für das betreffende Land politischen und typologischen Bedeutung ausgewählt waren. Kurze Einführungen kommentierten die Datensammlung. Insbesondere die FragebogenErhebung bot auch der Abteilung eine wichtige Ergänzung ihres Materials, da ein großer Teil der Arbeit unter Mohr aus Finanzmangel zurückgestellt war. Das Handbuch erlebte zwei Neuauflagen (1934, 1937), in denen unter dem Hinweis auf das Handbuch der Deutschen Tagespresse der deutsche Teil allerdings fehlte67. Analog zum Handbuch der Weltpresse veröffentlichte das DIZ 1932 erstmals auch ein Handbuch der Deutschen Tagespresse, das offiziell das zwischen 1928 und 1930 dreimal unter der Leitung von Kurt Kornfeld erschienene Jahrbuch der Tagespresse fortsetzte68. In der Anlage dem Handbuch der Weltpresse ähnlich, waren hier die Daten von über 4.700 deutschen und im Ausland erscheinenden deutschsprachigen Zeitungen mittels Fragebogen ermittelt und deren wichtigste Daten (Gründung, Verlags- und Besitzverhältnisse, Richtung, Erscheinungsweise, Druckauflage etc.) systematisch dargestellt69. Im Gegensatz zu Kornfeld standen den DIZ-Mitarbeitern der komplette Arbeitsapparat und alle Archive zur Verfügung, weswegen das DIZ — mit wechselnden Bearbeitern — nicht nur verbesserte und erweiterte Auflagen (4.—7. Auflage: 1932, 1934, 1937, 1944), sondern auch einen statistisch-analytischen Teil vorle67
Karl Bömer: Handbuch der Weltpresse. Eine Darstellung des Zeitungswesens aller Länder hg. vom Deutschen Institut für Zeitungskunde in Verbindung mit dem Außenpolitischen Amt der NSDAP. Berlin 1934 (2., überarb. Aufl.); Handbuch der Weltpresse. Eine Darstellung des Zeitungswesens aller Länder hg. in gemeinschaftlicher Arbeit vom Institut für Zeitungswissenschaft an der Universität Berlin und dem Außenpolitischen Amt der NSDAP unter Leitung von Karl Bömer. Leipzig 1937 (3., überarb. Aufl.). 68 Kurt Kornfeld (Hg.): Jahrbuch der Tagespresse. Berlin 1928—1930 (1.—3. Jg.); vgl. auch Handbuch Deutscher Zeitungen 1917. Hg. vom Kriegspresseamt. Bearb. von Oskar Michel. Berlin 1917 (Nachtrag 1918). 69 Handbuch der Deutschen Tagespresse. Hg. vom Deutschen Institut für Zeitungskunde, Berlin. Bearb. von Friedrich Bertkau (u. Eberhard Georgii). Berlin 1932 (als 4. Aufl. bezeichnet); Handbuch der Deutschen Tagespresse. Hg. vom Deutschen Institut für Zeitungskunde, Berlin. Bearb. von Hans Traub. Berlin 1934 (5., überarb. Aufl.); Handbuch der Deutschen Tagespresse. Hg, vorn Institut für Zeitungswissenschaft an der Universität Berlin. Bearb. von Carl Schneider. Leipzig 1937 (6., überarb. Aufl.); Handbuch der Deutschen Tagespresse. Hg. vom Institut für Zeitungswissenschaft an der Universität Berlin. Bearb. von Fritz Eisheuer. Leipzig 1944 (7., überarb. Aufl.); vgl. auch Mohr, Zeitung und Neue Zeit (wie Anm. 25), S. 17—30.
Das ,, Deutsche Institut fiir Zeitungskunde'', Berlin
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gen konnte. Wieder stellte das DIZ ein zentrales Nachschlagewerk zur Verfügung und lieferte eine in diesem Ausmaß neue statistische Sammlung über die deutsche Tagespresse, die in der Fachwelt sehr positiv aufgenommen wurde70. Mit dem von Traub bearbeiteten Standortskatalog wichtiger Zeitungsbestände in deutschen Bibliotheken legte das DIZ 1933 als letztes wichtiges Handbuch ein Findbuch vor, wie es praktisch seit Anbeginn zeitungswissenschaftlicher Forschung als Zugangshilfe zu den Materialbeständen von verschiedenen Seiten immer wieder gefordert worden war. Traub lieferte hier einen Standortsnachweis „für die praktische Arbeit des Bibliothekars, der Professoren und Studenten, wissenschaftlicher Institute, der politisch, redaktionell und verlegerisch Interessierten mit einem Nachweis der wichtigen Zeitungen in Vergangenheit und Gegenwart, soweit sie an deutschen Bibliotheken greifbar sind"71. Analog zur Anlage der Handbücher zur deutschen und zur internationalen Presse wurde auch hier die Auswahl auf historisch oder aktuell wichtige politische Zeitungen — hier in den Beständen großer Bibliotheken — beschränkt. Selbst Kritiker der Auswahl-Methode erkannten den hohen Wert dieses Findbuchs an, das keinen .Vorläufer' hatte und 41 Jahre später sogar einen unveränderten Neudruck erfuhr 72 . Von gänzlich anderer Natur war die in der Abt. I „Zeitungskunde als Wissenschaft" entstandene Arbeit Jugend und Zeitung, mit der Hans A. Münster 1932 seine Forschungsarbeit publizierte. Fragen nach Leseinteressen und Leseverhalten hatte Münster zusammen mit Jugendverbänden und Schulkollegien von Brandenburg und Berlin zu einem Fragebogen verarbeitet und mit dessen Hilfe im Frühjahr 1931 eine Umfrage unter 100.000 Schülern von Berufs-, Volks-, Mittel- und höheren Schulen gestartet. Gefragt wurde nach Lesehäufigkeit, Anzahl der gelesenen und 70
Zu den Rezensionen vgl z.B.: W(ilhelm) Kapp: Handbuch der deutschen Tagespresse 1934, in: Zeitungswissenschaft, 10 (1935), Nr. 2, S. 52 — 55; zur Typisierung der Zeitungen: Friedrich Bertkau: Zur Einführung, in: Handbuch der Deutschen Tagespresse 1932 (wie Anm. 69), S. 6*—8*. 71 Hans Traub: Einleitung, in: ders.: Standortskatalog wichtiger Zeitungsbestände in deutschen Bibliotheken. Hg. vom Deutschen Institut für Zeitungskunde. Berlin 1933, S. IX— , . 72 Vgl. Hans Traub: Standortskatalog wichtiger Zeitungsbestände in deutschen Bibliotheken. Stuttgart 1974 (unveränderter Neudruck); vgl. außerdem: [Karl] d'Ester: Der erste internationale zeitungswissenschaftliche Kongreß, in: Zeitungs-Verlag, 29 (1928), Nr. 31, Sp. 1647—1652.
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von der Familie gehaltenen (Tages-)Zeitungen, bevorzugten Teilen und der persönlichen Einschätzung der Zeitungen73. Die in der Studie Jugend und Zeitung vorgestellten Ergebnisse waren eine der ersten empirischen Arbeiten zur Rezipientenforschung. Im Gegensatz zu den vorgenannten DIZ-Publikationen entstand diese Studie zwar aus der Arbeit einer DIZAbteilung heraus, für Münster bedeutete sie jedoch den Einstieg in die eigene fachwissenschaftliche Karriere; andere Wirkungsstudien folgten. Alle diese Arbeiten entstanden während der Jahre der Weimarer Republik; lediglich zwei Handbücher erlebten später überarbeitete Neuauflagen. Die nationalsozialistische Machtergreifung im Frühjahr 1933 beendete den mit der Publikation der DlZ-Handbücher verbundenen Aufstieg des Instituts abrupt. Schon im Mai schied Karl Bömer aus dem Institut aus, wurde mit Aufbau und Leitung einer Pressestelle beim Außenpolitischen Amt der NSDAP betraut und rückte später in die Reichspressestelle der Partei auf. Dürfte der Wechsel Bömers, der mit dem Institut eng verbunden blieb, für Dovifat einen echten Verlust bedeutet haben, so registrierte dieser die Kündigung Friedrich Bertkaus Ende des gleichen Jahres mit Erleichterung. Bertkau, der sich nach dem Tod Mohrs als der geborene Institutsleiter fühlte, dann erleben mußte, wie ihm der 13 Jahre jüngere Dovifat vorgezogen wurde, hatte Dovifat wiederholt mit verächtlichen Bemerkungen hinsichtlich seiner Person und Arbeitsweise herabgesetzt. Eine 'Enthüllung' dieser Vorgänge erfolgte kurz nach der Machtübernahme; auf Drängen von Dovifat und anderen kam Bertkau mit seiner Kündigung nur seiner Entlassung zuvor74. Einen für Dovifat in mehrfacher Hinsicht schweren Schlag bedeutete das Ausscheiden von Hans A. Münster, der zum 1. April 1934 als Nachfolger von Erich Everth auf den ältesten deutschen Lehrstuhl für Zeitungswissenschaft in Leipzig berufen wurde. Als Mitarbeiter Dovifats am Aufstieg des Instituts beteiligt, wuchs Münster in den Folgejahren sehr schnell zu fachwissenschaftlicher und fachpolitischer Autorität. Während der — auch fachpolitisch betriebene — Bedeutungsrückgang des DIZ bald nicht mehr zu übersehen war, rückten Münster und sein Leipziger Institut in den Blickpunkt des Fachgeschehens der Zeitungswissenschaft. Im Oktober 1937 wurde schließlich mit Hans Traub der 73
Vgl. Hans A[mandus] Münster: Jugend und Zeitung. Berlin 1932, bes. S. l u. S. 126 f.; zur Einschätzung vgl. Straetz, Hans A. Münster (wie Anm. 15), S. 29—35. 74 Vgl. Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 301—308.
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letzte ehemalige Mohr-Mitarbeiter aus den Diensten des DIZ entlassen. Traub, der sich noch vor der Machtübernahme mit seiner Arbeit Grundbegriffe des Zeitungswesens habilitiert hatte und als einer der fähigsten Köpfe der Zeitungswissenschaft dieser zweiten Generation galt, kämpfte als „Halbjude" seit 1933 gegen die sich für ihn zunehmend verschärfenden politischen Verhältnisse. Wie es ihm letztlich gelang, bis 1937 im quasi öffentlichen Dienst zu verbleiben, ist bis heute unklar75. Hatte der Tod Mohrs einen persönlichen, letztlich aber keinen institutionellen Einschnitt in der Geschichte des DIZ bedeutet, bei dem Kontinuität durch den Verbleib seiner Referenten sichergestellt war, so bedeutete der — bei genauerer Betrachtung — auf praktisch der gesamten Breite aus politischen Gründen erzwungene Einschnitt das Ende des DIZ im Mohrschen Sinne. Zwar ersetzten neue Referenten die ausscheidenden, die Erträge ihrer Arbeit beschränkten sich — nicht zuletzt vor dem Hintergrund der politischen Bedingungen — auf mehrere überarbeitete Neuauflagen der DIZ-Handbücher zur deutschen und zur internationalen Presselandschaft.
IX
Mohr, Dovifat und das DIZ Eine abschließende Bewertung scheint auf der Hand zu liegen und fällt doch schwer. Ideengeschichtlich betrachtet war das Berliner Deutsche Institut für Zeitungskunde für die Dauer seines nominellen Bestands das Werk Martin Mohrs. Die von ihm installierte Struktur und deren personelle Ausgestaltung gewährleisteten -— unbeeindruckt von innenpolitischen und weltwirtschaftlichen Problemen — die Institutsexistenz über seinen Tod hinaus. Der von den Satzungen vorgegebene Rahmen, das Interesse der Presseverbände, nicht zuletzt aber auch der Mohrs Ideen offenbar recht ähnliche fachliche Standort Dovifats gewährleisteten die Fortsetzung. Im Zusammenwirken dieser Kräfte konnte das DIZ von seiner institutionellen Ausstattung wie von seinen fachlichen Erträ-
75
Hans Traub: Grundbegriffe des Zeitungswesens. Eine kritische Einführung in die Methode der Zeitungswissenschaft. Stuttgart 1933; vgl. Biermann, Hans Traub (wie Anm. 14), S. 52 f. u. 56.
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gen her zum zentralen Institut der Zeitungswissenschaft der ausgehenden Weimarer Republik wachsen. Das Wohl des DIZ war auch das Wohl seines Leiters Emil Dovifat, dem es Reputation verlieh und ihm eine exponierte Position innerhalb des Faches sicherte. So, wie sich Dovifat durch fachpolitisches Taktieren an die Spitze des Berliner Instituts manövriert hatte, drängten ihn im Dritten Reich die teilweise gleichen Personen ins Abseits. Wie zuvor unter Mohr waren das DIZ und sein Leiter den fachpolitisch dominierenden Strömungen ein Dorn im Auge. Hierbei mag auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, daß Mohr und Dovifat als Institutsleiter sehr ähnliche Typen waren: weniger klassische Wissenschaftler, sondern mehr Praxismenschen. Hatte es bei Mohrs Demontage noch einer offensichtlichen Intrige bedurft, war bei Dovifat die Dominanz der politisch aufgewerteten Fachpolitik unter der Führung Walther Heides für die Entwicklung ausschlaggebend. Für Dovifat rächte es sich jetzt, daß er die Institutsstruktur zwar fortgeführt, nicht aber zur Verbreiterung seiner fachlichen Position genutzt hatte; zwischen institutioneller und eigener fachwissenschaftlicher Reputation klaffte eine Lücke. Dovifats Rolle in den fachpolitischen Auseinandersetzungen des Dritten Reichs kann hier nicht näher beleuchtet werden. Eines jedoch ist augenfällig: Während Hans A. Münster mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten in Leipzig eigene Akzente setzte und aus einer wissenschaftlichen Position heraus gegen fachpolitische Gegenströmungen agierte, konnte Dovifat kein ausgeprägtes fachliches Gegengewicht in die Waagschale werfen, um dem fachpolitischen Ränkespiel entgegenzuwirken. Zwar gelang ihm mit der Anstellung Carl Schneiders, der 1934 die Abt. II übernahm und bis 1939 die statistischen Arbeiten so fortführte, daß das Berliner Institut wenigstens auf dieser Ebene seinen Status als zentrale Institution der deutschen Pressestatistik festigen konnte, ein Glücksgriff. Neue Impulse konnte oder wollte Dovifat nicht setzten. Wie die Handbücher der deutschen Tages- und der Weltpresse, so erlebte auch seine Schrift Zeitungswissenschaft 1937 und 1944 unter dem Titel Zeitungslehre lediglich zwei, auf den reichseinheitlichen Lehrplan der Zeitungswissenschaft abgestimmte Neuauflagen. Dazu schrieb er 14 Artikel für das Handbuch der Zeitungswissenschaft sowie einige Aufsätze76. 76
Emil Dovifat: Zeitungslehre I. 2 Bde. (Bd. 1: Theoretische Grundlagen, Nachricht und Meinung. Sprache und Form. Bd. 2: Schriftleitung, Stoffbeschaffung und Bearbeitung, Technik und Wirtschaft des Betriebes). Berlin 1937; Emil Dovifat: Zeitungsieh-
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Von der politischen Seite her war Dovifats Position innerhalb der nun zur Lehre von den politisch-publizistischen Führungsmitteln erklärten Zeitungswissenschaft von Anfang an geschwächt. Mit Bömer und Münster hatten zum Beginn des Jahres 1934 die beiden politisch engagiertesten Mitarbeiter das DIZ verlassen. Dem für Bömer eingestellten Wolfgang Schaeffer, der in zeitungswissenschaftlichen Kreisen völlig unbekannt, aber seit 1931 in der NSDAP und bei NS-Blättern engagiert war, scheint in erster Linie die Funktion eines „politischen Regenschirms" zugekommen zu sein, damit das Institut seinen Betrieb in Ruhe weiterführen konnte77. Nach einer Rede Dovifats im Juni 1934 auf dem Märkischen Katholikentag im Berliner Hoppegarten, in der er indirekt Kritik an der nationalsozialistischen Rassenideologie übte, wurden er Ende Juli 1934 in den Ruhestand versetzt und seine Stelle zur Neubesetzung ausgeschrieben, wogegen zahlreiche Studenten und (ehemalige) Mitarbeiter protestierten. Insbesondere die politische Patronage von Bömer für seinen ehemaligen Chef sorgte dafür, daß die Entscheidung im Oktober zurückgenommen und Dovifat im Dezember 1934 als Professor neu vereidigt wurde78, sein Handlungsspielraum aber blieb eingeschränkt und von Dritten abhängig. Dovifat und mit ihm die Zeitungs-, bald Publizistikwissenschaft blieben auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs an der Universität Berlin. 1948 erfolgte Dovifats Berufung zum ordentlichen Professor. Sie war nach 30 Jahren der letzte Schritt auf dem im April 1918 mit der Vorlage eines Konzeptionspapiers beim Preußischen Kultusministerium von Mohr begonnenen Weg zur Institutionalisierung des Fachs in Berlin. Wie in den Jahren der Weimarer Republik konnte das Institut re I. 2 Bde. (Bd. 1: Theoretische Grundlagen, Nachricht, Meinung und politische Willensbildung. Sprache und Form. Bd. 2: Schriftleitung, Stoffbeschaffung und Bearbeitung, Technik und Wirtschaft des Verlages). Berlin 1944; vgl. außerdem Heuser, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 457 ff., 462. 77 Vgl. Schreiben von Ernst Herbert Lehmann an Joachim Heuser vom 27.12.1985. 78 Vgl. (Vorübergehende) Beurlaubung Dovifats, Vorschläge zur Neubesetzung seines Lehrstuhls, Universitätsarchiv Berlin (Ost), Phil. Fak., Nr. 1479, fol. 55—59, 56; sowie das Schreiben Dovifats an Margret Boveri vom 26.05.1966 (2 S.), Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, Nachlaß Dovifat, Karton 3. Boveri hatte in ihrem Buch „Wir lügen alle" 1965 behauptet, Bömer sei gegen Dovifat aufgetreten. Die von Dovifat erbetene Korrektur ging auch in spätere Publikationen Boveris nicht ein (vgl. Margret Boveri: Wir lügen alle. Eine Hauptstadtzeitung unter Hitler. Olten/Freiburg 1965, S. 547 f.); außerdem Benedikt, Emil Dovifat (wie Anm. 54), S. 11 ff.
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auch jetzt zur größten Facheinrichtung in Deutschland anwachsen. Erst durch sein Wirken in der Nachkriegszeit gelang es Dovifat, der nicht das Institutskonzept und dessen Installierung, wohl aber die Kontinuität in der Institutsarbeit verkörperte, sich nicht nur vom Schatten Mohrs zu befreien, sondern Mohr und dessen Leistungen seinerseits seinem Schatten zu übereignen.
Emil Dovifat in der Weimarer Republik: Bemerkungen zu Pressefreiheit, Demokratie und Subsidiaritätsprinzip RUDOLF STÖBER
Ist Pressefreiheit eine wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie? Soll Pressefreiheit die Demokratie schützen? Gehört zur öffentlichen Aufgabe der Presse die Information des Bürgers und die Konstituierung des Meinungsmarktes? Das Bundesverfassungsgericht hat diese Fragen in etlichen Urteilen deutlich bejaht. Seine verfassungsgerichtlichen Definitionen haben sich fest im Bewußtsein der Öffentlichkeit, der Medienmacher und Politiker verankert. Darf dies (mehr oder minder) funktionierende bundesrepublikanische Modell zur Norm schlechthin erhoben und auf die erste deutsche Demokratie übertragen werden? Zwei Gründe scheinen dafür zu sprechen: Erstens ist die Übertragung demokratietheoretisch plausibel; zweitens priesen schon die liberalen Theoretiker des 19. Jahrhunderts die freie Presse als Mittel gegen gesellschaftliche und staatliche Fehlentwicklungen. Doch das, was vor der Weimarer Demokratie Theorie war und nach 1949 Praxis wurde, hatte in den Jahren 1919 bis 1933 wenig Gültigkeit: Die normativen Ansprüche der Gegenwart lassen sich nicht auf die Weimarer Zustände übertragen. Mit dem Versuch, Emil Dovifats Wirken in den zeitgenössischen Kontext einzuordnen, soll im folgenden verbreiteten Mißverständnissen entgegengewirkt werden. Dieser Aufsatz soll zeigen, daß Pressefreiheit den Weimarer Staat nur unzureichend konstituierte, daß sie in hohem Maße von staatlichen Instanzen abhing, daß die Pressevertreter in großem Umfang ihre eigene Freiheit dem staatlichen Schutz anempfahlen und daß nur wenige dies als Gefahr erkannten. Vier Thesen sind dabei näher zu erläutern:
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Rudolf Stöber
1. Die Presseverbände, wie auch die Parlamentarier der Nationalversammlung, interpretierten Pressefreiheit als automatische Konsequenz des demokratischen Staates. 2. Presse und Presseverbände waren weder bereit noch in der Lage, für eine demokratische Funktion der Pressefreiheit zu streiten, sondern sie verbesserten den Formalismus des geltenden Presserechts. 3. Verbesserungen der Pressefreiheit erschienen nur unter dem Schutz des Staates möglich. In besonderem Maße galt dies für die innere Pressefreiheit. 4. Reformvorschläge hatten nur bei subsidiaren Lösungsansätzen Aussicht auf Erfolg. Wenngleich auch das letztlich den staatlichen Zugriff nicht verhindern konnte, Emil Dovifats Vorschläge wiesen in die richtige Richtung. 1. Das positive Verhältnis der Deutschen zum Staat in abstracto hatte im Ersten Weltkrieg keinen nennenswerten Schaden genommen. Die Niederlage wurde von der Mehrheit der Deutschen nicht der politischen oder gar der militärischen Führung zugeschrieben, sondern jenen inneren Feinden, die den Dolch in den Rücken der Streitkräfte gestoßen hätten. Die krassen politischen Fehlentscheidungen, vor allem der 3. Obersten Heeresleitung, waren der Öffentlichkeit nicht bewußt. Ein Zusammenhang zwischen politischen und militärischen Fehlentwicklungen und der Unterdrückung der Pressefreiheit wollten nur wenige wahrhaben; stattdessen beklagten Pressevertreter die Ineffizienz der deutschen Propaganda. Sie sei ein entscheidender Faktor der Niederlage gewesen. Dabei wurden zwei Defizite der Propaganda bemängelt, eines betraf die Binnen-, das andere die Außenwirkung. Über die Außenwirkung hieß es: Der deutschen Propaganda sei es nicht gelungen, die öffentliche Meinung des Auslandes zu gewinnen. Eklatant und für jeden begreiflich war der Übertritt der USA aus dem Lager der Neutralen in das der Kriegsgegner gewesen. Als ausgemachtes Defizit der Binnenwirkung galt die Mobilisierungsschwäche. Ihre Folge, der schon erwähnte „Dolchstoß", verweist dabei schon auf den ersten wichtigen Unterschied zwischen damaligen und gegenwärtigen Auffassungen: Die Presse hatte nach landläufiger Einschätzung dem Staat zu dienen, nicht der Demokratie. Die Mehrheit der deutschen Presse hatte sich im Weltkrieg ohne großes Murren der Gängelung unterworfen. Die Berliner Pressekonferenz
Emil Dovifat in der Weimarer Republik
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als Lenkungsinstrument war weitgehend akzeptiert worden. Die Kritik der Provinzpresse richtete sich gegen die räumliche Bevorzugung der Berliner Presse. Nur in wenigen Zeitungen — z.B. in so renommierten wie dem „Berliner Tageblatt" — wurde kritische Distanz zum System der Zensur und Informationslenkung artikuliert. Die Gängelung war sicherlich keine positive Erfahrung. Die Presse akzeptierte sie aber als ihren nötigen Beitrag zum Krieg. Die Kritik wurde erst laut, als nach Kriegsende die militärische Zensurpraxis durch die der Arbeiter- und Soldatenräte fortgesetzt wurde. Wichtiger als die jetzt fehlende Legitimation der Zensur durch den Krieg war die ideologische Frontstellung der Linken gegen die Mitte und Rechte. Der Erste Weltkrieg bot für die Presse eine mäßig negative Folie, das Kaiserreich die positive. Die Monarchie hatte in Friedenszeiten die Freiheit der Presse (mehr oder weniger) garantiert. Nur für die Zeit der Sozialistengesetze zwischen 1878 und 1890 war eine parteipolitische Richtung konsequent unterdrückt worden. Andere Eingriffe in die Grundrechte der Kommunikationsfreiheit waren immer juristischer Natur gewesen — sie hatten entsprechende Gegenmaßnahmen ermöglicht. Selbst im Kulturkampf war die weit überwiegende Mehrzahl der Presseverfahren mit den strafprozessualen Mitteln der Beleidigungsklage angestrengt und geführt worden. Dabei hatte sich der katholischen Presse durch die Verantwortlichkeitsregelung in den §§ 20 und 21 des Reichspressegesetzes der Ausweg geboten, „Sitzredakteure" zu bestellen, die die Strafverbüßung auf sich nahmen und weiteres Erscheinen der Zeitungen ermöglichten. Im weiteren Verlauf des Kaiserreiches hatte das Justizsystem sogar eine entscheidende Verbesserung erfahren: 1902 war der fliegende Gerichtsstand abgeschafft worden. Vorher war es möglich gewesen, gegen Zeitungen an allen Gerichtsorten, in denen die Zeitung potentiell erhältlich war, Gerichtsverfahren anzustrengen. Die Staatsanwaltschaft konnte sich z.B. Gerichtsorte in Brandenburg aussuchen, deren Richter bekannt für presseunfreundliche Rechtsprechung und — um im Beispiel zu bleiben — für antikatholische Ressentiments waren. Die Novelle der StPO hatte präzisiert, daß der Gerichtsort nur noch der Wohnort des Klägers bzw. der Sitz der Zeitung sein konnte.1 1
Gesetz betreffend die Abänderung des § 7 der Strafprozeßordnung vom 13. Juni 1902, Reichsgesetzblau (RGBl) 1902, S. 227. Bis zur Änderung bestand der § 7 nur aus Abs. I; vgl. Strafprozeßordnung (StPO), vom 1. Februar 1877, § 7, RGBl 1877, S. 254.
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Die Erfahrung der Presse mit dem System der Pressefreiheit war also insgesamt durchaus positiv gewesen. Die Legislative hatte mit dem Reichspressegesetz ein leidlich freiheitliches Gesetz geschaffen, oberster Grundsatz war die Rechtsstaatlichkeit Deutschlands. Die Pressefreiheit war durch die eine staatliche Gewalt vor den anderen geschützt gewesen und hatte eine Ausweitung erfahren. Nach den kriegsbedingten Einschränkungen schien eine Rückkehr zu früheren Zuständen folgerichtig — mit einer entscheidenden Verbesserung: Wenn schon das konstitutionelle Kaiserreich der Presse Freiheiten garantiert hatte, mußte dann ein demokratischer Staat sie nicht erst recht garantieren? Daher sorgten sich die Vertreter der Presseverbände während der Beratungen der Weimarer Verfassung nicht um die Garantie der Pressefreiheit. Sie intervenierten nur, um die Einschränkungen bürgerlicher Presseorgane durch revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte abzuwehren.2 Es schien auch nicht nötig, sich um die konkrete Ausformulierung der Grundrechte zu sorgen. Allein ihre Beratung markierte schon den wichtigen Fortschritt. Die kaiserreichliche Verfassung hatte keinen Grundrechtekatalog gekannt. Daher war es möglich, und im Fall der Sozialistengesetze auch praktiziert worden, daß das Reichspressegesetz durch ein anderes einfaches Reichsgesetz ausgehöhlt werden konnte. Bei den Beratungen zur Weimarer Verfassung spielten die Grundrechte im Unterschied zur Vorgängerverfassung dagegen eine große Rolle — ein eigener Ausschuß, der VIII., beschäftigte sich mit der Formulierung des umfangreichen Katalogs von Grundrechten und Grundpflichten. Die Parlamentarier diskutierten die Meinungs- und Pressefreiheit weder lange noch gründlich. Ihre Hauptsorge galt dem neuen Medium Film, von dem sie eine Gefährdung der Moral des Volkes befürchteten. Die zweite Sorge galt den moralgefährdenden Schund- und Schmutzschriften und den negativen Auswirkungen auf die Jugend.3 Den Unterschied zwischen Meinungs- und Pressefreiheit erkannte kein Parlamentarier, auch kein Vertreter der Presse. Pressefreiheit verstanden sie entweder als Synonym oder als Unterform der Meinungsfreiheit. Als qualitativ Anderes, die Institution der Presse mit freiem Zugang zu den 2
Kurt Koszyk: Deutsche Presse 1914—1945 (Geschichte der deutschen Presse, Bd. 3), Berlin 1972, S. 13—24. 3 Vgl. Klaus Petersen: Literatur und Justiz in der Weimarer Republik, Stuttgart 1988, und ders.: Zensur in der Weimarer Republik, Stuttgart/Weimar 1995, S. 50—67.
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Informationsquellen, mit Schutz vor wirtschaftlicher Einschränkung des Anzeigenmarktes, mit dem Schutz der Nachricht etc., blieb Pressefreiheit unberücksichtigt. Neben den genannten Gründen, die in der politischen Sozialisation zu suchen sind, hing das mit der anachronistischen Selbsteinschätzung der deutschen Presse zusammen. Der Erste Weltkrieg hatte gezeigt, daß Meinung, Stimmung, Unterstützung und Siegesgewißheit nicht über Zeitungskommentare, sondern über Nachrichtenpolitik und reale Erfahrungen erzeugt worden waren. Der Schock der Niederlage hatte nur so groß sein können, weil die Front weit weg war, Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung nicht stattfand, die Soldaten nur stereotyp nach Hause berichteten „Es geht mir gut", in den Heimaturlauben ihre Fronterfahrungen sich nicht zu vermitteln getrauten, und im übrigen das Kriegspresseamt der Obersten Heeresleitung (OHL) die Nachrichtenlage schön gefärbt hatte. Kommentare hatten zu Kriegsbeginn motiviert, sich aber vor dem Hintergrund der Lebensmittelnot und anderer alltäglicher Sorgen schnell abgenutzt. Dennoch hielten die Parlamentarier und die Pressevertreter an der Fiktion fest, politische Aktion ergebe sich nur aus dem Austausch von Meinungen. Die eigene Meinungsfreudigkeit war der Stolz der deutschen Presse, und deshalb waren ihre Vertreter auch mit der Weimarer Garantie der Meinungsfreiheit in Artikel 118 Weimarer Reichsverfassung (WRV) zufrieden: Der Staat (die Legislative), so schien es, hatte die Freiheit der Presse garantiert und gegenüber dem Zustand im Kaiserreich erweitert.4 Erst allmählich erkannten Journalisten und Verleger, daß es einen Unterschied zwischen beiden Freiheiten gab. Erst nach Jahren drang ins Bewußtsein der Presseverbände, daß sich die Pressefreiheit gegenüber dem Kaiserreich sogar etwas verschlechtert hatte — entscheidenden Anteil hatten daran jene Gerichte, die den Artikel 118 sehr restriktiv auslegten. Obwohl die Presserechtsexperten des „Reichsverbands der deutschen Presse" (RDP), des „Vereins Deutscher Zeitungsverleger" (VDZV) und der Ministerialbürokratie einen schärferen Begriff von Pressefreiheit herausarbeiteten, in einer Hinsicht unterschied sich der Weimarer Begriff fundamental von dem bundesrepublikanischen: Pressefreiheit war 4
Zeitungs-Verlag (ZV) 1919, Nr. 10, Sp. 373 f.; ZV 1921, Nr. 9, Sp. 267 f.; vgl. ZV 1925, Nr. l, Sp. 121.
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weiterhin nur die Freiheit von einzelnen. So wie der Staatsbürger Anspruch auf sein individuelles Abwehrrecht Meinungsfreiheit hatte, so beanspruchte die einzelne Zeitung für sich das Abwehrrecht Pressefreiheit. Die Presseverbände forderten Pressefreiheit für ihre Mitglieder und beklagten die individuellen Verletzungen und Verbote. Daß Pressefreiheit eine in ihrer Gesamtheit freie Presse und über diesen Umweg die Presse insgesamt wieder die Demokratie stütze, diesen demokratietheoretischen Anspruch vertraten nur einzelne Juristen wie der Ministerialdirigent im Reichsministerium des Innern, Kurt Häntzschel.5 Die Presse verbände, zusammengeschlossen zur „Reichsarbeitsgemeinschaft" (RAG), betrachteten Pressefreiheit quasi als Abwehrrecht. In ihrer Sicht hatte zwar eine staatliche Gewalt, die Legislative, bei der Abfassung versagt. Das Versagen aber mußte sich durch Gesetzesarbeit wieder ausbügeln lassen. Die anderen Versäumnisse, deren sich Presse und Parlamentarier schuldig machten, sind in diesem Zusammenhang weniger wichtig. Sicherlich, ein Verfassungsgericht, hätte es denn existiert, hätte womöglich Pressefreiheit unter Meinungsfreiheit subsumiert. Beides wäre jedoch Abwehrrecht geblieben. Allenfalls hätte sich aus dem Recht eine Verpflichtung gegenüber der Demokratie ableiten lassen. Wahrscheinlich aber ist dies nicht — die Richterschaft war überwiegend im Kaiserreich sozialisiert worden und huldigte einem überparteilichen Ideal, und das ließ sich konkret mit etatistischer Autoritätsgläubigkeit übersetzen. Der Artikel 48, bei den Schuldzuweisungen an die Nationalversammlung steht er immer weit vorne, wurde zur schärfsten Waffe in der Hand der Staatsgewalt gegen die Freiheit einzelner Presseorgane. Aber: die Nationalversammlung traf erstens weniger Schuld als die folgenden Reichstage — der Artikel 48 forderte nämlich ein Ausführungsgesetz, und dies zu verabschieden unterließen die Parlamentarier der späteren Legislaturperioden. Zweitens, der Artikel 48 berührte nicht das Strukturprinzip von Presse- und Meinungsfreiheit als Abwehrrecht. Drittens, in der Mehrzahl wurden demokratiefeindliche Blätter von den Maßnahmen der Notverordnungen getroffen. Gleiches galt auch für die Republikschutzgesetze.
'Jürgen Wilke (Hg.): Pressefreiheit, Darmstadt 1984, S. 33—35 und 239—243.
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2. Pressefreiheit als Abwehrrecht der einzelnen Presseorgane war ein Selbstverst ndnis, das in besonderem Ma mit der Struktur der Presse und ihrer Verb nde zusammenhing. Die deutsche Presse zeichnete sich durch eine hohe, wenngleich nicht genau abzusch tzende Titelzahl aus. Die Gesamtauflage war gro , wenngleich hier die statistischen Ungenauigkeiten noch erheblich h her zu bemessen sind. Die Periodizit t hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten unaufh rlich verdichtet.6 Zahl der Zeitungstitel (Maximal- und Minimalangaben) _jE3Ztg./Min. iOZtg./Max.
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Gesamtauflage der deutschen Tageszeitungen (Addition der bekannten Auflage/Sch tzungen inklusive jener Zeitungen ohne Angaben)
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1885
6
1906
1913
1917
1918
1932
1933
Zu den folgenden drei Abbildungen: Rudolf St ber: Deutschlands ffentliche Stimmungen und Meinungen zwischen 1866 und 1945, Habilitationsschrift (Manuskript), Berlin 1996.
RudolfStöber
76
Verdichtung der Periodizität 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
ms_
mm E9 unbest. S>5mal O6mal • 4u.5mal B3mal 2 mal D1mal
II: 1850
1877
1885
1897
1906
1914
1926
Vor allem aber, die deutsche Presse verstand sich in ihrer Mehrheit als Meinungspresse, sie war überwiegend parteigebunden oder parteinah. Nach Dovifats Handbuch von 1932 folgte die Tagespresse folgender Ausrichtung:
Unbekannt 9,1% Rechts 26,6%
Parteilos 43,3% Mtte 12,8% Links 8,2%
Vor dem Ersten Weltkrieg waren die Anteile der parteilich gebundenen Zeitungen noch höher gewesen. Da die Zeitungen, wie die Parteien, die sie vertraten, nicht alle auf dem Boden der Demokratie standen, hieß auch Überparteilichkeit etwas anderes als nach 1945. Der Weimarer Staatsrechtler und Politiker Gustav Radbruch sollte darum „Überparteilichkeit" als die „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates" bezeichnen. Der untergegangene Obrigkeitsstaat hatte einen wichtigen Teil der kleinen
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Presse an seinem Gängelbande gehalten. Unter Bismarck hatten sich zwei Lenkungselemente abgelöst, die diese Presse inhaltlich steuerten. Schon vor 1871, vor allem jedoch seit 1882 hatte der Staat diese Presse subventioniert und auch noch nach Abschaffung der Barsubventionen nach 1890 indirekt finanziert (Anzeigenwesen, Abnahme von Exemplaren, Übernahme von WTB-Kosten). Bei dem wichtigen, vor 1918 „staatstragenden" Teil der Provinzpresse fielen diese Subventionen nun fort. Der Fortfall verschärfte die Finanzkalamitäten, und auf diesem Weg bekam Hugenberg einen Fuß in die Tür der Provinzpresse.7 Das aber hieß, ein wichtiger Teil der Presse war im Sinne des alten Systems überparteilich, im Sinne der neuen Demokratie dagegen klar staatsfeindlich. Hugenberg beerbte übrigens auch auf anderen Gebieten das Kaiserreich. Mit dem Scherl-Verlag erwarb er noch im Krieg einen kaiserlichgouvernementalen Großkonzern. Die UFA, die er erst 1927 seinem Trust einverleibte, war von der 3. OHL gegründet worden. Das „Centralbureau der deutschen Presse", ein wichtiges Maternbüro, das er mit seiner Wipro verschmolz, erwarb er 1925. Das Centralbureau hatte im 1. Weltkrieg am Tropf des preußischen Innenministeriums gehangen. Überparteilichkeit umfaßte also offene Systemfeindlichkeit. Die Presseverbände spiegelten das statistische Profil ihrer Mitglieder auch in dieser Hinsicht. Eine Statistik der in Weimarer Zeit in den VDZV aufgenommenen neuen Mitglieder macht dies ebenso deutlich wie die parteipolitische Zuordnung der Vorstandsmitglieder. Von den Vorstandsmitgliedern standen dabei in Relation mehr als von allen Mitgliedern im demokratischen Lager.8
7
Rudolf Stöber: Bismarcks geheime Presseorganisation von 1882, in: Historische Zeitschrift, 1996, 262. Jg., Nr. 2, S. 423—451. 8 Vgl. ausführlicher Rudolf Stöber: Pressefreiheit und Verbandsinteresse. Die Rechtspolitik des „Reichsverbands der deutschen Presse" und des „Vereins Deutscher Zeitungs-Verleger" während der Weimarer Republik (Abhandlungen und Materialien zur Publizisitik, Bd. 14), Berlin 1992.
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Parteirichtung der in den VDZVneuaufgenommenen Zeitungen
9
national-sozialistisch national10 christlich11 national-liberal12 bürgerlich-liberal13 demokratisch14 sozialdemokratisch15 amtlich16 parteilos sonstige17 ohne Angabe
Summe
1918—1933 4 140 149 13 85 46 95 39 522 18 152 1263
Die Tabellen zeigen vor allem die wenig demokratische Struktur des Verlegerverbandes. Nur die Blätter der Richtung „demokratisch" und „sozialdemokratisch" standen uneingeschränkt auf dem Boden der Weimarer Demokratie. Aber auch unter den christlichen, den nationalliberalen und den bürgerlich-liberalen fanden sich Zeitungen, die entweder als demokratisch oder doch Vernunft-republikanisch zu charakterisieren sind.
9
nationalsozialistisch, NSDAP, völkisch. national, bayerisch-national, deutsch-national, rechts, bürgerlichnational, DNVP, vaterländisch, parteilos-national, unabhängig-national. 11 Zentrum, BVP, christlich-national, christlich-demokratisch, christlich-konservativ. 12 DVP, national-liberal. 13 bürgerlich, liberal, gemäßigt-liberal, bürgerlich-parteilos, liberal-parteilos. 14 DDP, demokratisch, unabhängig-demokratisch, fortschrittlich, freisinnig, republikanisch. 15 SPD, sozialdemokratisch. 16 amtlich, amtlich-liberal, regierungsfreundlich. 17 Bauernbund, Mittelstandspartei, wirtschaftlich, landwirtschaftlich, polnisch, polnisch-katholisch. 10
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Parteipräferenz der Vorstandsmitglieder des VDZV
national-sozialistisch national christlich national-liberal bürgerlich-liberal demokratisch sozialdemokratisch amtlich parteilos sonstige ohne Angabe
Summe
insgesamt 0 9 6 7 8 6 1 1 6
1919
1931/32
0
0 6 3 4 5
4 4 3 4 5
0 1
0
3 0
1 4518
1 2519
4 1 1 2 0 1 2620
Für den „Reichsverband der deutschen Presse" galt Ähnliches. Eine parteipolitische Statistik der RDP-Mitglieder ist zwar nicht mehr zu erstellen. Die prominenten Funktionäre und Mitglieder des Journalistenverbandes rekrutierten sich aber aus allen politischen Lagern. Sozialdemokraten wie Franz Klühs, entschiedene Demokraten wie Hellmut von Gerlach oder Theodor Wolff, Liberale wie Georg Bernhard und Ernst Feder, Christliche wie Emil Dovifat, Nationalisten wie Wilhelm Akkermann und Paul Baecker fanden sich in ihren verbandspolitischen Zielen. Nur Kommunisten waren im RDP wohl nicht vertreten. Auch Nationalsozialisten dürften vor 1933 im RDP nur mäßig repräsentiert gewesen sein. Erst im Gleichschaltungsprozeß des Reichsverbandes im Frühjahr 1933 wurde eine größere Zahl von Nationalsozialisten in den Verband aufgenommen. Aus ihren Reihen rekrutierten sich jene, die im gleichgeschalteten Verband in Führungspositionen nachrückten. Auf der Verbandstagung im Mai 1933 wurden Vorstand und 18
Die „Münchner Neuesten Nachrichten" (MNN) sind wegen des Richtungswechsels zweimal gezählt. Die MNN waren ursprünglich eine liberale Zeitung und wurden dann zu einer DNVP-nahen Zeitung; Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Bd. 4: Kabinett Fehrenbach. Bearb. v. Peter Wulf, Boppard 1972, S. 354—357. 19 MNN einmal gezählt: August Helfreich, liberal. 20 MNN einmal gezählt: Otto Pflaum: (bayerisch)-national.
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verschiedene Kommissionen sowie Ämter paritätisch mit Altmitgliedern und nationalsozialistischen Neumitgliedern besetzt. Wenn aber Aufnahmen der Veränderung der Verbandsführung vorausgehen mußten, dann können vor dem 30. Januar 1933 nur wenige Nationalsozialisten in dem Verband vertreten gewesen sein.21 Der parteipolitische Spagat der Presse, namentlich des Reichsverbands, wurde in dem quasirevolutionären Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Demokratie deutlich. Eine starke Minderheit der Journalisten des RDP hatte versucht, den Verband zu einer Gewerkschaft umzugestalten. Auf einer Verbandstagung in Berlin im Februar 1919 waren entsprechende Vorschläge zur Satzungsänderung gemacht worden. Georg Bernhard hatte in unverhülltem Opportunismus die Satzungsänderung mit der neuen revolutionären Zeit begründet. Er und andere Kollegen versprachen sich von der Anpassung an den Zeitgeist sozialpolitische Vorteile für die organisierten Journalisten.22 Als die unmittelbare Revolutionsgefahr gebannt schien, gewannen jene Verbandsmitglieder Oberwasser, die eine gewerkschaftliche Orientierung aus verschiedenen Gründen verhindern wollten: Einerseits aus parteipolitischen Aversionen gegenüber dem Wort „Gewerkschaft", das nach sozialistischer oder christlicher Arbeiterbewegung roch. Andererseits aus dem eigenen journalistischen Selbstverständnis: Ein Journalist könne kein abhängiger Angestellter oder gar nur (Geistes-)Arbeiter sein. Dies stehe in gefährlicher Nähe zur geistigen Prostituierung. Das offiziell gepflegte Selbstverständnis ließ den Verkauf geistiger Leistungen nicht zu. Dies galt um so mehr, als sich die Journalisten in ihrer Mehrheit nicht als Handwerker der Informationsgewerbe, sondern als politische Köpfe im Meinungsgeschäft verstanden. Sie sahen sich daher nicht als Untergebene, sondern als Selbständige, wenn auch nur mit dem Status des Subunternehmers. Deshalb blieb der Reichsverband in Weimarer Zeit eine Standesvertretung. Als solche beschränkte sich der RDP auf Rechtspolitik, Sozialpolitik, Rechtsberatung, Arbeitsvermittlung (die kaum gelang). Streikkassen wurden nicht geführt, Streik von der Mehrheit oder zumindest einer hinreichend großen Minderheit prinzipiell abgelehnt. Zwei Momente ergänzten einander demnach: Beide machten aus RDP und VDZV im schlechtesten Weimarer Sinne „überparteiliche" Verbän21 22
Stöber (wie Anm. 8), S. 19. Deutsche Presse (DP) 1919, Nr. 10, S. 38.
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de. Einerseits die abstrakte Standesideologie vom „politischen Publizisten", andererseits die konkrete Ausprägung in einem parteipolitisch sehr weit gesteckten Spektrum, das über den Kern der demokratischen Mitte deutlich (nach rechts) hinauswies. Von solchen Presseverbänden konnte nicht erwartet werden, daß sie sich für den materiellen Kern der Demokratie stark machen würden. Deshalb kam es der Mehrheit der Pressevertreter auch nicht in den Sinn, Pressefreiheit als konstituierenden Faktor der Demokratie zu begreifen. Hieraus resultierte das Parodoxon, daß RDP und VDZV mehr zum Schutz der Demokratie beitrugen, als sie wollten. Zwar machte die Pressefreiheit, wie gesehen, keine demokratische Presse, aber die Verbände verständigten sich bei ihren Verbesserungsvorschlägen zum Presserecht auf einen Minimalkonsens. Dieser bestand in einer Verbesserung des formalistischen Presserechts. Damit verzichteten die Presserechtsexperten der Verbände auf fragwürdige Versuche, zwischen „guter" und „schlechter" Presse zu unterscheiden. Beinahe jeder Versuch, eine öffentliche Aufgabe zu formulieren, hatte zwischen guter und schlechter Presse unterschieden. Nicht wegen Furcht vor dem innewohnenden gesinnungsdiktatorischen Ansatz, wohl aber aus ihrem Unvermögen, sich auf Kriterien von gut und schlecht zu einigen, lehnten die Verbände es ab, normative und materielle Ansprüche in das Presserecht einzufügen. Demokratisch wäre das rechtsphilosophische Gedankengut, auf das verzichtet wurde, sicherlich nicht gewesen. Presserechtlicher Formalismus als Minimalkonsens hieß aber im konkreten Fall der Notverordnungen, daß der Verlust an demokratischer Qualität nicht gesehen wurde. Deshalb beklagten die Verbände immer nur die individuellen Verletzungen; sie betrachteten den Einzelfall und nahmen das Abwehrrecht Pressefreiheit zumindest auch für mäßig undemokratische Presseorgane in Anspruch. Die Verbote gegenüber der kommunistischen und nationalsozialistischen Presse wurden dagegen zwar nicht prinzipiell gutgeheißen, aber doch als aus den Umständen heraus geborenes Notwehrrecht des Staates akzeptiert. 3. Der Staat also hatte zu gewähren, zu schützen und zu verbessern. Insbesondere der Komplex innere Pressefreiheit verdeutlichte dies. Innere Pressefreiheit beschrieb im Unterschied zur äußeren Pressefreiheit, die das Verhältnis von staatlicher Gewalt und Presse berührte, jene Freiheiten, die jenseits der Beziehung Staat-Presse denkbar waren. Sie war zu-
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nächst noch nicht ausschließlich auf die Beziehung zwischen Verleger und Redakteur verengt. Schon die Weimarer Verfassung und das Betriebsrätegesetz von 1920 schufen die wichtige Kategorie der Tendenzbetriebe. Damit hatten die Verleger in der Auseinandersetzung einen wichtigen und uneinholbaren Startvorteil: Innerbetriebliche Mitbestimmung durch Betriebsräte war in Betrieben mit politischer, gewerkschaftlicher oder religiöser Tendenz ausgeschlossen. Eigene Redakteursräte durchzusetzen war dem RDP nicht gelungen. Daher hatten sich die Redakteure, letztlich um den Einfluß der technischen und kaufmännischen Angestellten auf den Zeitungsinhalt zu verhindern, an die Seite der Verleger gestellt und für den Schutz der Tendenzbetriebe gestimmt. Den Journalisten blieb in der Auseinandersetzung der nächsten Jahre der Versuch, die Vertretung des „öffentlichen Interesses" für sich zu reklamieren und dabei auf staatliche Rückendeckung zu hoffen. Sie argumentierten zum einen mit bestehenden Gesetzen, wie dem Börsengesetz von 1908. In diesem war erstmalig in Deutschland den Zeitungsredaktionen eine Verantwortung für die Allgemeinheit auferlegt worden — dies galt allerdings nur für die wahrheitsgemäße Berichterstattung über Börsenkurse. Zum zweiten beanspruchten sie den Schutz von allgemein formulierten Bestimmungen aus dem Strafrecht und den Verfahrensrechten. Zu nennen ist da der § 193 StGB. Die Redakteure forderten, qua Amt zu jenen gezählt zu werden, denen unter bestimmten Umständen „berechtigte Interessen" zugesprochen werden müßten, tadelnde Kritik auch in scharfer Form zu äußern; diese „berechtigte" Kritik am Rande der Beleidigung wäre ein erstes Zugeständnis der Gerichte gewesen, daß die Presse (insbesondere die Redakteure) das „öffentliche Interesse" zu vertreten berechtigt wären. Nach der Revolution hatten die Gerichte zunächst in dieser Richtung entschieden, bis das Reichsgericht klargestellt hatte, daß sich aus der Veränderung der Staatsform keine Erweiterung der „berechtigten Interessen" ergeben habe. Deshalb hoffte der Reichsverband, die anstehende Strafrechtsreform werde den Ersatz für den § 193 StGB so fassen, daß Redakteure ausdrücklich zum Kreis der Kritikberechtigten gezählt würden: „In Wahrnehmung berechtigter Interessen handelt insbesondere der Redakteur einer Zeitung oder periodischen Druckschrift, wenn er in
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Ausübung seines Berufs für öffentliche Interessen gewissenhaft eintritt."23 Ähnlich stand es um die Zeugnisverweigerungsrechte in Zivil- und Strafprozeßordnung. Im öffentlichen Interesse handelnd, so forderten die Journalisten, müßte ihnen das Recht verbrieft werden, ihre Informanten vor Gericht durch Zeugnisverweigerung zu schützen. Aber im Unterschied zum Strafrecht, das in Weimarer Zeit nicht verändert wurde, war der Presse beim Zeugnisverweigerungsrecht einer der wenigen Erfolge der Rechtsverbesserung beschieden. Die Novelle von 1926 ergänzte den Zeugnisverweigerungsparagraphen 53 StPO: „Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt: [...] (4) Redakteure, Verleger und Drucker einer periodischen Druckschrift sowie bei der technischen Herstellung der Druckschrift beschäftigte Personen über die Person des Verfassers oder Einsenders einer Veröffentlichung strafbaren Inhalts, wenn ein Redakteur der Druckschrift als Täter bestraft ist oder seiner Bestrafung kein rechtliches Hindernis entgegensteht."24 Zwischen StGB und StPO ergab sich daher der Unterschied, daß in dem ersten Fall der Gesetzgeber nicht bereit war, ein öffentliches Interesse der Presse zuzugestehen, während im Verfahrensrecht der Presse insgesamt ein wichtiges Privileg zuerkannt wurde. Noch wichtiger war der entscheidende Unterschied, daß im Fall des StGB die Journalisten für ihre redaktionelle Arbeit den Anspruch auf das „berechtigte Interesse" vergeblich einforderten, während die StPO-Novelle von 1926 sehr deutlich machte, daß die Presse insgesamt ein Privileg erhielt. Die Behauptung der Journalisten, nur sie (und nicht die Presse insgesamt) verträten „öffentliche Interessen", unterstützte der Gesetzgeber nicht. Noch negativer für die Journalisten veränderte sich ihr Anspruch auf „innere Pressefreiheit" durch eine Korrektur der Rechtsauffassung zur Zivilprozeßordnung: Die deutschen Gerichte waren bis 1928 davon aus23
DP 1918, Nr. 12, S. 46. Der § 53 StPO bestimmte zunächst, daß Redakteure, Verleger und Drucker nicht ausdrücklich zu den Personen gezählt wurden, die zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt waren; Strafprozeßordnung vom 1.2.1877, § 51, RGB1 1877, S. 262. Erst in der Novelle von 1926 finden sie Erwähnung; vgl. Gesetz zur Abänderung der Strafprozeßordnung vom 27.12.1926, RGBl 1926 I, S. 529. 24
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gegangen, daß den Redakteuren nach den §§ 383—385 ZPO das Zeugnisverweigerungsrecht berufsbedingt unter bestimmten Umständen zustehe. Ein Urteil des OLG Darmstadt formulierte dagegen die bis heute gültige Rechtsauffassung, nur unter Berufung auf ein Gewerbegeheimnis dürfe das Zeugnis verweigert werden. Damit aber hatte der Redakteur nur noch ein vom Verleger abgeleitetes Verweigerungsrecht. Zur inneren Pressefreiheit zählten auch die inneren Verlagsbeziehungen, insbesondere aber die Freiheit von wirtschaftlicher Einflußnahme. Daher hatte eine große Koalition recht unterschiedlicher Interessenvertreter ein reges Interesse, die „innere Pressefreiheit" im ursprünglichen Sinne des Wortes zu verbessern. Verleger versprachen sich von dem Verbot wirtschaftlicher Einflußnahme, daß sie vom Druck der Inserenten unabhängiger würden. Die Journalisten des Reichsverbands sahen mehr auf die Journalist-Verleger-Beziehung. Demokratische Ministerialbeamte wie Kurt Häntzschel erhofften eine Präzisierung der „öffentlichen Aufgabe" und damit einen besseren Beitrag der Presse zum Schutz der Demokratie. Zeitungswissenschaftler wie Emil Dovifat interpretierten den Schutz der inneren Pressefreiheit als geeignete Abwehrmaßnahme gegen die Amerikanisierung der deutschen Presse. Die Sachverständigenkommission, die 1929—1932 über ein neues Reichspressegesetz beriet, zerschlug schließlich den Gordischen Knoten aus hochgesteckten Ansprüchen und Interessenkonflikten, die im Detail steckten, indem die wirtschaftliche Pressefreiheit von der Beziehung zwischen Redakteur und seinem Verleger gelöst wurde: „Ein Dritter, der einen Verleger oder einen Redakteur durch Androhung von Nachteilen wirtschaftlicher oder anderer Art zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung hinsichtlich der Gestaltung des Inhalts einer periodischen Druckschrift, insbesondere zur Aufnahme oder Unterlassung einer Veröffentlichung nötigt, wird mit bestraft. Der Versuch ist strafbar."25 In der Garantie der wirtschaftlichen Pressefreiheit fand sich, wie schon bei der Kritik am RPG des Kaiserreichs, weitgehende Konsonanz 25
Vorschlag [Martin] Garbe, Notiz vom 20.6.1930, Bundesarchiv (BA) Potsdam, Nl. Heine 90 He l, Nr. 225, Bl. 132; vgl. Paul Baecker: Die Reinheit der Presse, BA Potsdam, Nl. Heine 90 He l, Nr. 225, Bll. 87 f.
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zwischen Verlegern und Redakteuren. Dennoch bedeutete selbst dieser Gleichklang Rivalität und Interessendivergenz. Denn das, was sich als gemeinsame Lösung dem Betrachter präsentierte, war die gemeinsame kleine Lösung. Indem die Verlegerschaft alle Maßnahmen gegen wirtschaftliche Beeinflussung, vom Inserentendruck bis hin zur Bestechung — mit Ausnahme des Kartellrechts —, unterstützte, vertrat sie ihre Interessen gleich doppelt: Erstens direkt, die Bestrafung der Drohung mit Anzeigenentzug lag im Interesse jedes Verlegers. Zweitens indirekt: Indem sie gemeinsam mit den Journalisten gegen die Bedrohung der Pressefreiheit durch Wirtschaftskraft angingen, brachen sie diesen Komplex aus dem umfassenden der inneren Pressefreiheit heraus. Es gelang der Verlegerschaft, durch hartnäckigen Widerstand auf der einen und bereitwillige Kooperation auf der anderen Seite, das Problem der redaktionellen von dem der wirtschaftlichen Pressefreiheit zu separieren, den Druck auf eine umfassende Lösung der inneren Pressefreiheit entscheidend zu mindern und damit ihren Besitzstand zu wahren. An der Lösung der wirtschaftlichen Pressefreiheit war neben Verlegern, Redakteuren und Vertretern der Ministerien auch eine engagierte Öffentlichkeit interessiert. Diese reichte von Publizistikwissenschaftlern bis zu Juristen, die Kritik an den Auswüchsen der Sensationsberichterstattung übten. Wäre der Gesamtkomplex nicht gespalten worden, so hätten die Redakteure darauf vertrauen können, daß diese unausgesprochene große Koalition — ohne die Verlegerschaft — eine redaktionelle Pressefreiheit durchgesetzt hätte. So aber wurde der Gesamtzusammenhang zerstört, und die Redakteure des Reichs verb ands standen ohne Unterstützung da. Sie selbst hatten obendrein, da sie bereit gewesen waren, die redaktionelle Pressefreiheit gegen soziale und wirtschaftliche Zugeständnisse einzutauschen, den Aufspaltungsprozeß noch eingeleitet. Folge einer bewußten Taktik der Verleger war die Aufspaltung sicherlich nicht. Das direkte Interesse der Verleger an der Lösung der wirtschaftlichen Pressefreiheit scheint eher gegen eine gezielte Planung zu sprechen. Dennoch befolgten beide Verbände ihre unterschiedliche Taktik durchgängig: Die Journalisten haben immer die ganzheitliche Lösung, die Verleger hingegen immer die Teillösung favorisiert. So zeigt sich in der Aufspaltung des Begriffes innere Pressefreiheit die ungleich stärkere Verhandlungsposition der Verlegerschaft. Und diese begriffliche Trennung gilt noch heute. Die salomonische und sehr weitreichende Lösung der Sachverständigenkommission, in der Journalisten und Verleger, Juristen, Zeitungswissenschaftler und Vertreter der Ministerialbürokra-
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tie einträchtig gearbeitetet hatten, klärte am Ende der Weimarer Republik die Fronten, die seit Beginn sich fest ineinander verkeilt und verbissen hatten. Trotz dieser in journalistischem Sinne negativen Entwicklungen war der Versuch der Journalisten, sich als alleinige Vertreter des „öffentlichen Interesses" darzustellen und damit gesetzlich ihre Selbständigkeit gegenüber den Verlegern verbrieft zu bekommen, nicht gänzlich erfolglos. Sie verfuhren dabei allerdings nach dem bösen Motto, das Kurt Tucholsky in „Wir Negativen" auf die Politiker gemünzt hatte: „Politik kann man in diesem Lande definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung."26 Auf den Reichsverband abgewandelt hieß das: Verbandspolitik konnte man in der Weimarer Republik definieren als die Durchsetzung sozialpolitischer Ziele mit Hilfe der Pressegesetzgebung. Pressefreiheit stand unter dem Schütze des Staates und wurde nicht als etwas angesehen, das die Demokratie zu stützen, sondern das den Partikularinteressen zu dienen hatte. Am erfolgreichsten war der RDP mit dieser Devise bei dem Journalistengesetz. Indem es den Journalisten gelang, den Staat, insbesondere die Ministerialbürokratie des Reichsinnenministeriums für ihre Zwecke zu gewinnen, hätten sie es beinahe erreicht, daß der Staat ihnen die innere Pressefreiheit garantierte. Dies scheiterte zwar, aber der staatliche Druck auf die Verleger bewirkte immerhin, daß ihnen weitreichende soziale Verbesserungen in Form von Normaldienstvertrag, Versicherungsschutz und Reichstarif zugestanden wurden. Der presserechtliche Mechanismus läßt sich in Form eines Regelkreislaufes beschreiben. Dabei bildeten Journalisten, Verleger und Käufer/ Inserenten/ Leser/ Wähler einen Regelkreislauf, in dem jede der drei Gruppen wie in dem Kinderspiel „Stein, Schere, Papier" eine spezifische Stärke und eine spezielle Schwäche vereinte. In seiner praktischen politischen Arbeit agierte das Wahlvolk mit dem staatlichen System, die Presse, in den Verbänden zusammengefaßt, nahm in presserelevanten Fragen am staatlich-öffentlichen Leben teil. Dabei betonte die Mehrheit der Pressevertreter allerdings die Garantie-, Aufsichts- und Schutzfunktionen des Staates. Die umfangreichen Beziehungen zwischen den Regelkreisläufen aus Presse, Bürgern und Staat einerseits und Umwelt andererseits sind als wechselseitige Beeinflussungen angedeutet. 26
Kurt Tucholsky: Wir Negativen, in: Die Weltbühne (WB) 1919, H. 12, S. 279285, hier 281.
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Die etatistische Schutzkonzeption Administration
Demokratie
Feinde Rechtsstaat
7\
\
Garantie/ Aufsicht/ Schutz
Mit- und Gegenarbeit
l
l
Leser/ Wähler
Journalisten
Mitarbeit
RDP Verbände RAG
Umwelt: Wirtschaft, Kultur, Sozial Beziehungen
4. Diese etatistische Schutzperspektive ließ sich mit dem Subsidiaritätsgedanken schwerlich vereinbaren. Die etatistischen Vorstellungen der Mehrheit der Pressevertreter waren daher bei Emil Dovifat weniger deutlich ausgeprägt. Seine Vorstellungen von Pressefreiheit standen ganz in der Tradition des politischen Katholizismus. Das drückte sich in mehreren Momenten aus: Erstens war der politische Katholizismus
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quasi im Kulturkampf „sozialisiert" worden und hatte in dieser Zeit die Presse als wichtiges Mittel, die eigenen Interessen zu vertreten, kennengelernt. Damit hing zweitens zusammen, daß der neue deutsche Staat, dessen äußere Gestalt und auch manche inneren Charakteristika die Weimarer Republik noch besaß, sich den Katholiken als eine nur scheinbar überparteiliche Instanz gezeigt hatte. Hinter dieser Maske der Rechtsstaatlichkeit und der paternalistischen Sorge für alle hatte der preußisch-deutsche Staat aber gegen die Katholiken Partikularinteressen vertreten. Freiheit der Presse war also für Menschen wie Dovifat, die in historischen Dimensionen zu denken verstanden, nicht etwas vom Staate Gegebenes, sondern gegen diesen Erkämpftes. Aus diesen Gründen lag Dovifat sehr an der Stärkung der katholischen Presse. Mehrfach hat er Gedanken zur Reform der Presse skizziert, besonders ausführlich im Juli 1928 für den Augustinusverein. Stärkung der katholischen Presse hieß für ihn moderne journalistische Formen, Anpassung an die Mittel der erfolgreichen Massenpresse von Ullstein („Berliner Morgenpost") bis Hugenberg („Berliner LokalAnzeiger"), Großzügigkeit und verbesserte Ausbildung katholischer Journalisten. Die Modernität müsse unter Wahrung der katholischen Ethik angestrebt werden. Da die Presse zu einem „Massenverbrauchsartikel" geworden sei, müsse sich die Zentrumspresse dem angleichen. Vor allem ein besseres Gespür für den Lesergeschmack, eine gefällige Aufmachung und die Stärkung der Leser-Blatt-Bindung seien nötig. Als Endergebnis einer „mäßigen geistigen Vertrustung" schwebte Dovifat eine Dreiteilung der Zentrumspresse vor: 1. eine Spitze aus führenden Zentrumsblättern in Berlin und anderen Großstädten. 2. mittlere und kleinere Massenblätter mit lokalen Kopfblättern. 3. in den ganz großen Städten eine Straßenverkaufspresse.27 Integraler Bestandteil des politischen Katholizismus war das von der katholischen Soziallehre herrührende Subsidiaritätsprinzip. Dovifat übertrug dessen Grundgedanken auf die Selbstregulierung der Presse. Exemplarisch ist das mit seinem Engagement für eine bessere Gerichtsberichterstattung zu belegen. Der undifferenzierten Kritik an der Ge27
Emil Dovifat: Zur Reform der Zentrumspresse, in: GStA I HA, Rep. 92, Nl. Dovifat, Nr. 2028. Zu Dovifats Aufgeschlossenheit gegenüber den Phänomenen der modernen Zeitungsentwicklung: Stephan Ruß-Mohl/ Bernd Sösemann: Zeitungsjournalismus in den USA — Ein Rückblick auf Dovifats Frühwerk, in: Emil Dovifat: Der amerikanische Journalismus, hg. von Stephan Ruß-Mohl (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 13), Berlin 1990, S. IX—XLm.
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richtsberichterstattung warf Emil Dovifat ihren „radikale[n] Eifer" vor, der größer als die „Sachkunde" sei. Er kämpfte gegen die Verschärfung presserechtlicher Bestimmungen unter dem Vorwand der Gerichtsberichterstattung.28 Unter Wahrung der Selbstdisziplin der Presse, so argumentierte Dovifat 1929, reichten die bestehenden Gesetze durchaus.29 Statt nach dem Gesetzgeber zu rufen, plädierte Dovifat praxisbezogen — und gestützt auf seine wissenschaftlichen Erhebungen zum 8. allgemeinen deutschen Richtertag 1929 — für Justizpressestellen, die der Zusammenarbeit von Justiz und Presse dienen sollten. Die Justiz dürfe die Pressestellen aber nicht dazu mißbrauchen, einen „richteroffiziösen" Standpunkt durchzupauken. Die Presse auf der anderen Seite solle beachten, „subjektiv wahrhaftig" zu schreiben.30 Indem Dovifat die Initiative der Presse forderte, setzte er bewußt auf eigenverantwortliche Problembewältigung. Dabei befürwortete er Gemeinsamkeiten mit den Verlegern. Die RAG müsse „die Führung an sich bringen" und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden den Mißständen gegensteuern.31 Zu den Mitteln gehörten, die Auswahl der Berichterstatter zu steuern, sowie Justizpressekonferenzen und Aussprachen zwischen Justiz und Presse unter der Schirmherrschaft der Arbeitsgemeinschaften. Dovifat gab der Hoffnung Ausdruck, daß Ausspracheabende „die Voraussetzungen für diese praktische Arbeit" schaffen würden.32 Das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre übersetzte Dovifat mit Selbsthilfe und Selbstdisziplin. Schon das Journalistengesetz hatte er als Hilfe zur Selbsthilfe angepriesen. In dem Augenblick, wo die „öffentliche Magistratur" des jour28
Dovifat an Reichsarbeitsgemeinschaft (RAG), Schreiben vom 28.9.1929, GStA, I HA, Rep. 92, Nl. Dovifat, Nr. 1290. 29 Emil Dovifat: Die Gerichtsberichterstattung, in: ZV 1929, Sp. 1820; vgl. Emil Dovifat: Zur Reform der Gerichtssaalreportage, in: Das Neue Reich 12.2 (1929/30), S. 908; vgl. Niederschrift der Sachverständigenbesprechung im Reichsministerium des Innern vom 25.9.1929, GStA, I HA, Rep. 92, Nl. Dovifat Nr. 2180. 30 Emil Dovifat: Die Gerichtsberichterstattung, in: ZV 1929, Sp. 1820; vgl. Emil Dovifat: Die Gerichtsberichterstattung, GStA, I HA, Rep. 92, Nl. Dovifat, Nr. 2179; vgl. Achter Deutscher Richtertag am 13. und 14. September 1929 in Köln. Stenographischer Bericht, Berlin 1929, S. 34. 31 Dovifat an RAG, Schreiben vom 28.9.1929, GStA, I HA, Rep. 92, Nl. Dovifat, Nr. 1290. 32 Emil Dovifat: Begrüßungsansprache zum Ausspracheabend über Gerichtsberichterstattung vom 27.10.1928 im Bezirksverband Berlin des RDP, GStA, I HA, Rep. 92, Nl. Dovifat, Nr. 2175.
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nalistischen Berufs anerkannt sei, würden sich die „Revolverjournalisten" nicht mehr halten können.33 Kaum „ein anderer Beruf" bedürfe „einer schärferen Selbstdisziplin".34 Dabei hatte die „Selbstdisziplin" in doppeltem Sinne präventiven Charakter/Sie sollte nicht nur Auswüchsen, sondern auch der verschärfenden Gesetzgebung vorbeugen. Im Zusammenhang mit dem Journalistengesetz hatte er den Vorschlag entwickelt, das Wahlrecht zu den geplanten Pressekammern an die Zugehörigkeit zum Reichsverband zu knüpfen.35 Diese Form der Selbstverwaltung der Presse wurde in Weimarer Zeit von manchem Journalisten als glücklichste Verbindung zwischen einerseits einer Steuerung der Auswüchse und andererseits der Wahrung der Pressefreiheit angesehen. Dovifats wiederholtes vehementes Plädoyer für Presseselbstkontrolle in Form von paritätisch besetzten Kammern, die mit Sanktionsgewalt ausgestattet sein sollten, zeigt eine recht große Distanz zur „etatistisch" verstandenen Pressefreiheit. Das Dovifatsche System unterschied sich demnach nicht prinzipiell, wohl aber graduell nicht unwesentlich von dem seiner Kollegen in Journalisten- und Verlegerschaft. Gegenüber dem Staat zeigte sich das Pressesystem idealiter bei Dovifat als ein gleichberechtigter Partner, dessen Initiative auf den Feldern der Selbstkontrolle imstande sein sollte, die staatlichen Ansprüche in erträglichen Grenzen zu halten. Voraussetzung war die stark betonte Harmonie innerhalb der Pressestände — nach Auffassung mancher Zeitgenossen und späterer Kritiker zu stark. Diese Geschlossenheit korrespondierte mit einer größeren Autonomie gegenüber Außeneinflüssen. Gegenüber der Leserschaft sollte gerade sie die „gesinnungsgerichtete" Führerschaft der Presse begründen helfen. Auch 33
Emil Dovifat: Unsere Pflichten aus dem Journalistengesetz, in: DP 1924, Nr. 21/22, S. 5 f. 34 Emil Dovifat: Der deutsche Journalist, in: DP 1927, Nr. 24, S. 372. 35 An sein Exemplar des Referentenentwurfs schrieb Dovifat zu § 20, VI: Anstelle von Satz Nr. 2: „Wahlberechtigt in der Abteilung der Redakteure ist jeder Redakteur, der den Nachweis erbringt, daß er hauptberuflich Redakteur im Sinne der Bestimmungen dieses Gesetzes ist, u. dem Reichsverband der Deutschen Presse angehört." Referentenentwurf, GStA, I HA, Rep 92 Nl. Dovifat, Kart. Nr. 30. Zu Dovifats Arbeit in den Presseverbänden: Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, Bd. 42), Mainz 1986; Rudolf Stöber: Emil Dovifats verbandspolitisches Engagement in der Weimarer Republik, in: Publizistik, 1992, 37. Jg., Nr. 1,5.97—112.
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Dovifats Subsidiarkonzept Schutz durch Selbstkontrolle
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Mit- und Gegenarbeit
Umwelt: Leser, Wähler, Käufer, Inserenten
dem ethisch verantwortungsvoll handelnden Verleger gestand Dovifat die Führerschaft gegenüber dem Massenpublikum zu. Frei von Schwächen war die Dovifatsche Konzeption nicht. Doch normative Maßstäbe der Gegenwart werden der Weimarer Wirklichkeit kaum gerecht. Die Weimarer Demokraten ahnten nicht (oder entwickelten nicht alle die Phantasie), daß die Einbindung der Presseverbände in die Kontrolle der Presse keineswegs den Schutz vor staatlicher Willkür garantierte. Der rücksichtslose Machtanspruch der Nationalsozialisten sollte ihnen alsbald beweisen, daß gerade die Konzeption, die die meiste Staatsferne zu versprechen schien, den braunen Machthabern eine willkommene Variante der Pressekontrolle anbot, da sie mit der Kontrolle des Berufszugangs unter dem Feigenblatt der ständischen Selbstverwaltung staatlichen Zwang ausüben konnten. Das aber kann ihnen kaum zum Vorwurf gemacht werden. Eine konsequente Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips hätte sicherlich ein wichtiges Stück Demokratisierung bedeutet. Der Staat als Garant der Presse und nicht die Presse als Garant der Demokratie — das war Weimars Urmißverständnis. Die Weimarer
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Presserechtsdiskussion reihte daher folgerichtig Paradoxa aneinander. Weil von der Demokratie eine Verbesserung des Schutzes der Pressefreiheit erwartet worden war, sah deren Schutz zum Teil sogar schlechter aus als in der Zeit des Kaiserreichs. Weil der Staat die Presse nicht mehr subventionieren konnte und wollte, trieb er sie seinen erklärten Gegnern in die Arme. Weil die Presseverbände nicht demokratisch waren und für die Demokratie sich nicht engagierten, stützten sie mit ihrer Arbeit am Presserecht die ungeliebte Weimarer Demokratie. Und gerade jene Konzeptionen, die den Einfluß des Staates auf die Presse möglichst begrenzen sollten, wurden in abgewandelter Form von den Nationalsozialisten genutzt, die Presse unter ihre Botmäßigkeit zu zwingen. Eine realistische, d. h. der damaligen Wirklichkeit entsprechende Stabilisierung hätte wohl nur mit einer konsequenten, rechtzeitigen Umsetzung der Dovifatschen Subsidiaritätsvorstellungen gelingen können.
Auf krummen Wegen gerade gedacht. Emil D o vif at und der gelenkte Journalismus OTTO KÖHLER
Das Lebensthema Emil Dovifats sei — so erfuhren wir soeben — die Ethik des Journalismus, die Ethik des Journalisten gewesen. Doch sein Beitrag zu dieser Ethik bleibt ohne Zweifel immer noch ein Desiderat wissenschaftlicher Forschung. Gewiß, das Gefühl der Dankbarkeit für die persönliche Anteilnahme des akademischen Lehrers, von der wir hörten, ist ein sehr schönes Gefühl und kann sicherlich auch eine ethische Kategorie sein. Wie sich aber auf Dankbarkeit eine Ethik des Journalismus aufbauen läßt, ist nicht erkennbar. Jedenfalls dann, wenn man Ethik als Lehre, die das sittliche Verhalten des Menschen zum Gegenstand hat, nicht mit dem Besitz der richtigen oder jeweils richtigen Gesinnung verwechselt. Emil Dovifat war ohne jeden Zweifel vor 1933 ein Gegner der Nazis. Stärker sicher noch als Heinrich Brüning, der durchaus eine Koalition mit der NSDAP in Erwägung zog. Auch in dem Augenblick, da der Staat Hitler und seiner NSDAP übergeben wurde, änderte sich Dovifats Haltung noch nicht sofort. Beispiele seiner Opposition sind bekannt: seine Rede auf dem Katholikentag im Juni 1934 — kurz vor den in der Zielrichtung sehr unterschiedlichen Mordaktionen am und nach dem 30. Juni. Die Teilentlassung Dovifats einen Monat später — im Juli 1934 — wurde nach zwei Monaten wieder aufgehoben. Führende Nationalsozialisten hatten seine Verdienste erkannt, die er mit staatspolitisch wertvollen Vorlesungen erworben hatte wie: „Der Kampf um den deutschen Namen und das deutsche Ansehen in der Welt".1
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Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 42). Mainz 1986, S. 14.
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Irgendwann zwischen 1935 und 1937 muß der überzeugte Katholik Emil Dovifat sein Damaskus erlebt haben — was nicht völlig erstaunlich ist. 1936 blickte die weite Welt voll Vertrauen nach Berlin, und Nationalstolz war Dovifat in reichem Maße eigen. Damaskus. Er selbst sprach — 1956 in seinem Beitrag über die publizistische Persönlichkeit — vom Paulinischen Punkt, einer Wende, einem jähen Impuls, den es in den Anlaufjahren nahezu jedes Publizisten gebe. Dieses Damaskus war über ihn hereingebrochen spätestens, als er sein kleines Buch „Rede und Redner" schrieb. Goebbels, dem man so leicht nichts vormachen konnte, schrieb darüber am 23. Juli 1937 froh in sein Tagebuch: „Eine interessante Darstellung, ich komme gut dabei weg."2 Ferdinand Lassalle beispielsweise, mit dem sein Buch anhebt, den lehnte Dovifat 1937 als Redner ab, weil der „mit dem sicheren Sinn seiner jüdischen Rasse für Wirkung und Aufmachung [...] ein Meister der überspitzten intellektuellen Formel" war und so die „klassenkämpferische Parole der Zersetzung" zu „bedrohlichefr] Größe" wachsen ließ. Im Führer dagegen, dessen rednerischer „Genialität" das ganze letzte Kapitel gewidmet ist, in seiner ,,leidenschaftliche[n] Hingabe" fand Dovifat am Ende eine geradezu mystische Erfüllung, ja bei der Beschreibung der Dreiheit von Hitlers Kräften („Glauben, Wollen und Tatbereitschaft, eins geworden durch eine leidenschaftliche, flammend bekannte Liebe zum deutschen Volk") gewann Dovifat selbst beinahe dichterisches Format: „Sprechend legt Adolf Hitler gleichsam Quadern über Quadern, baut er die Sätze zunächst nebeneinander, um sie dann auf breiter Grundlage übereinander hoch und immer höher, fest und massiv zu türmen. Da stürzt nichts ein und bricht nichts zusammen! Kleinen Zierat liebt er nicht, dafür aber quillt oft unvermittelt in seiner Rede der Zauber echter Menschlichkeit. Den Gegner erledigt er nicht mit dem schlanken Degen — wie das Dr. Goebbels tut — sondern mit dem breiten Zweihänder, dem Schwerte der gründlichen und einmaligen Exekution."3 2
Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente. Hg. Elke Fröhlich. Bd. 3. München: Säur 1987, S. 209. 3 Emil Dovifat: Rede und Redner, Ihr Wesen und ihre Politische Macht. Leipzig 1937, S. 69, 10, 140 ff., 143 ff.
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Wer zwang Dovifat über dieses verfängliche Thema „Rede und Redner" zu schreiben, in dem er mit Notwendigkeit Adolf Hitler behandeln mußte und nicht kritisch behandeln konnte? Mir ist keine Äußerung Dovifats bekannt, die darüber aufklärt. Allerdings schreiben Stephan Ruß-Mohl und Bernd Sösemann — leider ohne Quellenangabe — Dovifat habe „jene Passagen" anders verstanden wissen wollen, nämlich „als ,Entlarvung' von Demagogie und Massensuggestion, als Warnung vor derartigen kollektiven Führungs- und Propagandamitteln".4 Wie macht man das möglich? Wo wird hier entlarvt? Wo gar gewarnt? Während des Krieges übte Dovifat eine ausgedehnte Vortragstätigkeit vor den Kriegsberichterstatterschulen des Heeres und der SS aus, obwohl es einzelne NS-Stellen gab, die das aus ungeklärten Gründen nicht gern sahen. Diese Propagandatätigkeit hatte erstaunlicherweise schon 1935 begonnen, als er vor der Arbeitsgemeinschaft Wehrpublizistik Vorträge über die „Beziehungen der Wehrpublizistik zur Propaganda insbesondere im Kriege" hielt.5 Der wissenschaftliche Wert von Dovifats „Zeitungslehre" ist umstritten, doch ihr zeitgeschichtlicher Wert ist bedeutend, wenn auch keineswegs singular. Sie zeigt in ihren verschiedenen Auflagen, zu welchen Krümmungen ein deutscher Professor fähig sein kann, wenn es die Opportunität gebietet — und doch bleibt schließlich ein gemeinsamer Kern, über den noch zu sprechen sein wird. In sieben Auflagen6 ist die „Zeitungslehre" erschienen, drei grundlegende Erneuerungen hat sie erfahren, je nach der Staatsform, die für den fest auf der jeweiligen Grundordnung stehenden Professor gerade angesagt war. Die erste Auflage trug noch den Titel „Zeitungswissenschaft" und erschien so rechtzeitig, 1931, daß jeder erkennen konnte, wie brauchbar Dovifat auch für einen Nicht-NS-Staat war. Er konnte — und man darf nicht vergessen, daß er in der Weimarer Republik ein Zentrums-Katholik war — entschiedene Bekenntnisse zu einer liberalen Ordnung ablegen:
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Stephan Ruß-Mohl/Bernd Sösemann: Zeitungsjournalismus in den USA. Ein Rückblick auf Dovifats Frühwerk. In: Emil Dovifat: Der amerikanische Journalismus (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 13). Berlin: Colloquium 1990, S. XXXV. 5 Benedikt: Dovifat, S. 135 f. 6 Die beiden NS-Auflagen von 1937 und 1944 zählen als eine, die zweite Auflage, so daß nach der Verlagszählung die siebte und letzte Auflage von 1976 die sechste ist.
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„Die Freiheit der Presse ist die unerläßliche Ergänzung ihrer öffentlichen Aufgabe. Sie muß gegenüber der staatlichen und gegenüber jeder anderen Gewalt des öffentlichen Lebens, gegen Zwangsmaßnahmen von außen oder von innen heraus gesichert werden."7 Klare Worte — doch sechs Jahre später, 1937, sieht das ganz anders aus, die Pressefreiheit wurde in die Fürsorge geschickt: „Die liberalen Staatsformen haben im Sinne der Ideen von 1789 die Pressefreiheit als Recht des Individuums (,droit individuel') derart gefaßt, daß sie theoretisch jedem einzelnen die absolut freie Verbreitung von Gedanken, Nachrichten und Mitteilungen und die Freiheit jeder geistigen Betätigung durch den Druck gestatteten. Der Führerstaat setzt dieser hemmungslosen individuellen Freiheit zum Nutzen der Gemeinschaft entschiedene Grenzen. Er sieht in der unverantwortlichen Freiheit einzelner die Ursache einer planlosen inneren Zersetzung und Zerreißung der Nation und wilder Parteizersplitterung. Er sieht in ihr, und die Erfahrung bestärkt ihn darin, auch die Gefahr, daß mit den höchsten Gütern der Gemeinschaft, dem Wohle und der Sicherheit des Volkes, nach Wissen, Lust und Interesse Einzelner oder bestimmter Gruppen eigennützig verfahren wird. Er nimmt daher die Zeitungen als Mittel öffentlicher Führung rechtlich in Pflege."8 Schon im Oktober 1933 hatte er die vom neuen Schriftleitergesetz vollzogene „Wendung um 80 Grad" mit ehrlichem Beifall aufgenommen. Der Katholik Dovifat verkündete im Münsterischen Anzeiger, die katholische Presse habe niemals „jene ,absolute' Preßfreiheit" für sich in Anspruch genommen, die „in einem Krieg Aller gegen Aller endete". Von jeher habe sie „im Interesse des Staates und im Dienste ewiger Gesetze die Grenzen dieser Freiheit geachtet".9 26 Jahre später, 1959, Dovifat war in diesem Jahr zu dem auch von Rechtsextremisten, insbesondere von Eberhard Taubert, dem Antikomintern-Beauftragten des Goebbels-Ministeriums betriebenen Verein 7
Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft. Zwei Bände. Bd. 1. Berlin 1931, S. 105. Emil Dovifat: Zeitungslehre. Zwei Bände. Bd. 1. Berlin 1937, S. 19. 9 Münsterischer Anzeiger vom 4.10.1933, zit. nach: Josef Wulf: Presse und Funk im Dritten Reich. Reinbek 1966, S. 77 f. 8
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„Rettet die Freiheit" gestoßen, da klagte er in einem Vortrag auf den Universitätstagen in Zusammenhang mit dem Spiegel: „Es gibt in Deutschland einen starken, meist intellektuell bestimmten Leserkreis, dem eine kritische eine hyperkritische Darstellung aus nihilistischer Grundhaltung, aber in brillianter [sie] journalistischer Form zu lesen geradezu ein Bedürfnis ist. Die Sucht danach bleibt auch, wenn die Achtung vor jeder wirklichen Leistung dabei zu Bruche geht. An der zynischen Mißachtung jeder politischen Arbeit ist schon der Staat von Weimar zugrundegegangen. Hier droht die gleiche Gefahr." Er erhoffte eine langsame Wendung zu „natürlichen und gesunden publizistischen Formen", wollte aber nicht ausschließen, daß „der Gesetzgeber eingreifen" müsse, um „gröbste Auswüchse zu verhüten" — freilich „in einer Weise, die der ernsten Presse nicht gefährlich wird".10 Jeder, der damals im Audimax saß, mußte Dovifat so verstehen: den Spiegel verbieten, ohne daß es der Frankfurter Allgemeinen schaden kann. Tatsächlich gibt es zwischen Dovifats Äußerungen zur Pressefreiheit in den Jahren 1933 und 1959 mehr inneren Zusammenhang als zwischen den Äußerungen von 1931 und 1959 — Dovifat hat unzweifelhaft im Dritten Reich dazugelernt. Daß publizistische Formen „gesund" sein sollen, ist eine Einsicht, die ihm der faschistische Staat mit seiner Lehre vom Volkskörper und dessen notwendiger Gesundheit vermitteln konnte. Die Erkenntnisse, die ihm von 1933 bis 1945 zugewachsen waren, werden angemessen auf den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung übertragen, allzu krasse und leicht erkennbare Formulierungen sind geändert. Vergleiche zwischen der zweiten Auflage der „Zeitungslehre" von 1944 und der dritten bis sechsten Auflage von 1955 bis 1976 erhellen, wie man die nationalsozialistische Lehre mit wenigen Handgriffen in eine passende freiheitlich-demokratische Grundordnung übersetzen kann. Beispielsweise die Definition der Zeitung. Dovifat 1944 wie 1955:
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Emil Dovifat: Pressefreiheit und Schutz der Ehre und der Intimsphäre. In: Universitätstage 1959, S. 41.
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„Die Zeitung übermittelt im Dienste des Tages, aber [...] [so schrieb er 1944:] in geschlossener Führung zur inneren Einheit des Volkes [so schrieb er 1955:] verantwortlich, in öffentlicher Verpflichtung [...] jüngstes Gegenwartsgeschehen in kürzester regelmäßiger Folge der breitesten Öffentlichkeit." n Die Aussage von 1944 ist klar und verständlich: die Presse ist gleichgeschaltet. Die Aussage von 1955 kann auf denselben Vorgang der Gleichschaltung hinauslaufen, ist aber diffuser gefaßt. Sie verschwimmt in einer beliebig ausfüllbaren Bedeutungslosigkeit. Dovifats Grundgesinnung blieb seit Mitte der 30er Jahre gleich. Sie stimmte nicht völlig mit dem Nationalsozialismus überein, obwohl er sich in seinen Ausführungen über „Charakter- und Begabungsvoraussetzungen" ausdrücklich zu dem Wort von Hitlers Feldwebel, dem Präsidenten der Reichspressekammer, Max Amann, bekannte: „Wer in seinem Innern nicht Nationalsozialist sein kann, handelt unehrlich, wenn er sich weiterhin pressemäßig betätigt."12 Ein Jahr später, 1945, im Juli, schrieb er an Eduard Spranger: Zwanzig Jahre lang habe ich meinen Studenten vordoziert, daß publizistische Arbeit Gesinnungsarbeit ist, daß sie Mut erfordert und persönliche Opfer."13 Er selbst betrachtet also die Jahre von 1925 bis 1945 als eine Zeit ununterbrochener Gesinnungsarbeit. Tatsächlich sieht auch sein Biograph Klaus-Ulrich Benedikt einen fließenden Übergang von Dovifats Lehrmeinungen in der Weimarer Republik zu denen, die er im NS-Staat bekannte. Benedikt: „Do vif at machte sich die Vorstellungen des totalitären Staates über die Aufgabe seiner Presse zu eigen: Mittel der Volksführung zu sein. Das ist eine konsequente Fortsetzung seiner Ansicht, daß die Presse durch die Gesinnung zur Tat führen müsse. Dovifat übertrug den von ihm geforderten Führungsanspruch jeder Zeitung auf den größeren Rahmen des Staates auf eine Presse, die in einem Sinne wirkte." Benedikt zitiert auch ein Wort Dovifats von 1932, daß eine Presse ohne Pressefreiheit „krumme Wege und charakterlose Wege" suchen 11
Emil Dovifat: Zeitungslehre. Zwei Bände. Bd. 1. Berlin 1944, S. 57; Emil Dovifat: Zeitungslehre. Zwei Bände. Bd. 1. Berlin 1955, S. 50. 12 Dovifat: Zeitungslehre, 1944, Bd. l, S. 50. 13 Dovifat an Spranger, 16.7.1945, zit. nach Benedikt, Dovifat, S. 38.
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müsse, und meint, Dovifat habe nach 1933 bewußt versucht, seine Ansichten so zu formulieren, daß sie nicht anstößig wirkten: „Damit begab er sich auf die ,krummen Wege', die er in den folgenden Jahre zur »Camouflage* verfeinert, ohne sie jedoch als ,charakterlos* zu empfinden." Benedikt spricht sehr vorsichtig von einer „Zwischen-den-ZeilenPublizistik", derer sich Dovifat im NS-Staat bedient habe. Aber er kann in seiner vorzüglichen und erfreulich umfangreichen Monographie nicht ein einziges überzeugendes Beispiel für Camouflage, für Täuschung und Tarnung vorlegen. Er zitiert im Zusammenhang mit der Zwischen-denZeilen-Publizistik, der sich Dovifat bedient habe, einen Satz, den er dem neuen Schriftleitergesetz mit auf den Weg gab, diesen: „Dabei leite uns alle die große geschichtliche Erkenntnis: Eine Revolution der Macht wird die Macht erst besitzen, wenn die Revolution der Herzen vollendet ist."M In einen solchen Satz kann man mit einem entschiedenen Willen manches hineingeheimnissen. Aber klar ist, daß ihn auch Goebbels in einer Sportpalastkundgebung benutzt haben könnte. Das alles bedeutet nicht, daß sich Dovifat nie der Camouflage bedient hätte. Ich frage mich nur wann? Denn es ist nicht leicht zu bestimmen, wann der wahre Dovifat spricht: 1944, wenn er sich über die „durch Borne und Heine geschaffene, aus jüdischer, intellektuell überspitzter, scharf subjektiver Haltung arbeitende Kritik"15 beklagt, oder wenn er 1962 an der gleichen Stelle die „Bilanz des Stiles und der Farbe, der Bewegtheit und der Treffsicherheit vollendeter Form, wie wir sie bei Borne und Heine finden",16 bewundert. Wahrscheinlich war ihm, falls er sich bei seiner Äußerung von 1944 etwas gedacht hatte, der Antisemitismus nicht unbedingt ein Gesinnungsgebot. Wie aber würdigt er Borne und Heine im nichtantisemitischen Staat? Was ist das — eine Bilanz des Stiles, eine Bilanz der Farbe, eine Bilanz der Bewegtheit, eine Bilanz der Treffsicherheit vollendeter Form, die wir seit 1945 bei Borne und Heine finden dürfen?
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Ebd., S. 62 f.
Dovifat: Zeitungslehre, 1944, Bd. 2, S. 70. 16 Emil Dovifat: Zeitungslehre. Zwei Bände. Bd. 2. Berlin 1962, S. 63.
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Das ist — natürlich — eine klassische Fehlleistung. Dovifat wollte Heine und Borne Brillanz des Stils, der Farbe, der Bewegtheit, der Treffsicherheit vollendeter Form zugestehen. Doch die „gesinnungsmäßige Beurteilung" in ihm, die man ja nicht wechselt wie eine Staatsform, sie sagte ihm: Heine, Borne, Juden, also Geld, also nicht Brillanz, sondern Bilanz. So erklangen die Gesinnungskräfte in der Tiefe seines Herzen, und das Kuratoriumsmitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, als das Dovifat von 1954 bis 1966 auftrat, hat es nicht gemerkt. Nicht 1955, als er diese Formulierung in die dritte, neubearbeitete Auflage aufnahm. Nicht 1962 in der vierten neubearbeiteten. Nicht 1967 in der fünften neubearbeiteten. Und nicht einmal 1976 nach seinem Tode in der sechsten. Keiner hat es gemerkt. Tausende von Studenten, die dieser Nestor der Publizistik erziehen sollte, mit dem Wort umzugehen, sie haben sich die billigen Bändchen der Sammlung Göschen gekauft, haben ihren Dovifat gepaukt, wähnend, gute Journalisten zu werden — doch ein guter Journalist macht zuallererst die Augen auf, auch beim Lesen —, keiner hat es gemerkt. Und so kommen wir auch nicht um die Einsicht herum: Dovifats Bekenntnisse zur gelenkten Presse, seine Verachtung der Pressefreiheit waren ehrlicher und wahrhaftiger als die ihm unter dem Meinungsdruck des demokratischen Staates abgerungenen Beteuerungen über die Vorzüge des freien Wortes, die er ja nach all dem, was wir von seiner politischen Entwicklung nach 1945 wissen, für Nachteile halten mußte. Mit dem freien Wort, so stellte er 1962 fest, geht es einerseits ganz gut: „In ihrer politischen Überzeugung ausgeprägte Blätter werden in jedem Fall zu den Tagesereignissen aus ihrer — zeitgebundenen — Auffassung sprechen und ihre Leser in ihre Überzeugung zu führen suchen." Vielerorts aber führt es zu schlimmen Folgen: „Andere Blätter werden allein die Tagesereignisse darbieten, werden versuchen, die sensationellen Einzelheiten des Ereignisses breit auszuwalzen. Sie werden die höhere Wertung dem Leser überlassen oder bewußt verzichten, sie wachzurufen, ja sie durch immer gesteigertes Nachrichtentempo und, indem sie peinlichstes Detail ausmalen, unausgesetzt aufs neue ablenken und die gesinnungsmäßige Deutung gar nicht zulassen."
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So entstehe „Sensationsjournalismus", durch ihn werde „in vielen Köpfen eine konfuse Fahrigkeit" erzielt, und die wiederum eröffne „der totalitären Überwältigung Tür und Tor".17 Kurz, uneingeschränkte Pressefreiheit führt zu Diktatur und totalem Staat — viel Camouflage um das eigentliche Bekenntnis. Wieviel klarer und überzeugender war Dovifats Haltung noch 1944, als er unverstellt und geradeheraus über die Aufgabe der Zeitung schreiben konnte: „Soweit sie verantwortungsbewußt führt — also nicht Klatsch und Sensation bewußt sucht — wird sie aus einer gesinnungsbestimmten Überzeugung heraus von einem festen Standpunkte her die Ereignisse beurteilen und also aus der tagesgebundenen zur zeitgebundenen Meinung aufwärts führen. In liberaldemokratischen Verfassungen wird sie damit Mundanwalt bestimmter im Staate um die Macht kämpfender Gruppen und Parteien sein. Im Führerstaat hat sie die ihr vertrauende und anvertraute Leserschaft im Sinne der Staatsführung zu lenken und ihr in diesem großen Zusammenhang die Tagesereignisse zu deuten. Nicht Meinungskampf, sondern Meinungsfestigung zu echtem Glauben und bleibender Überzeugung, um aus ihnen die Tat des Einzelnen für die Gemeinschaft erstehen zu lassen, das ist die Aufgabe der Zeitung."™ Wenn ich ihn Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre in seinen Vorlesungen für eine „Hygiene des öffentlichen Lebens" und gegen „intellektuell überspitzte Kritik" gegen „die Gosse" predigen hörte, blieben mir keine Zweifel, daß dieser Mann da oben „gesinnungsmäßig" — wie er gern sagte — große Schwierigkeiten mit der Pressefreiheit hatte, die er aber auf der freiheitlich-demokratischen Plattform des Nachfolgestaates nicht mehr ganz offen zu formulieren wagte. Denn er unterlag dem Anpassungsdruck, der natürlich auch vom demokratischen Staat ausgeht. Gerade weil er kein Nationalsozialist war, hatte er sich nur mühsam und mit Vorbehalten zu vielen Ideen des NS-Staates durchgerungen. Aber das, was er sich damals errungen hatte, wollte er nicht wieder aufgeben, auch wenn er sich dazu — zumindest in den damaligen Formulierungen — nicht mehr offen bekennen konnte. So mußte er zum Mittel der Camouflage greifen. Und wo er sich auch dies versagte, 17
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Dovifat: Zeitungslehre, 1944, Bd. l, S. 117 f.
Auf dem Grat zwischen Entschiedenheit und Kompromiß BERND SOSEMANN
... bleibe auf deinem Posten und hilf durch deinen Zuruf; und wenn man dir die Kehle zudrückt, bleibe auf deinem Posten und hilf durch dein Schweigen. Seneca
I Gebrauch und Wen des moralischen Imperativs Alltägliches Leben in einer Diktatur ist schwer zu erfassen. Das Wissen über diese Realität ist wichtiger als die Pose der Empörung darüber. Aufmerksame und intelligente Zeitgenossen wie Victor Klemperer hatten mit dem Versuch, die Vielfalt des Miterlebten objektiv niederzuschreiben, ihre offen bekundete Schwierigkeit1. Den Historikern der erIn den Anmerkungen werden folgende Abkürzungen und Siglen benutzt: BA
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Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Bd. 2: Tagebücher 1942—1945, hg. von Walter Nowojski, Berlin 1995, passim. Unter dem Datum des 19. Sept. 1944 (S. 587) heißt es dazu: „Und ... es gibt so viele Möglichkeiten, Lügen in ein Atom Wahrheit zu mischen [...]"; am 5. Mai 1945 (S. 769) notiert Klemperer: „Und immer rätselhafter, trotz Versailles, Arbeitslosigkeit und eingewurzeltem Antisemitismus, immer rätselhafter wird mir, wie sich die Hitlerei durchsetzen konnte."
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sten Stunde erging es dabei nicht besser als ihren aus einer größeren Distanz urteilenden Nachfolgern2; und die viel zitierte „kritische Öffentlichkeit" reagiert in der Bilder- und Nachrichtenflut des Medienzeitalters vorwiegend emotional auf das zumeist spektakulär Aufbereitete.3 Es lassen sich offensichtlich leichter Machtstrukturen oder Einzelheiten eines Organisationsgefüges rekonstruieren, als die Frage beantworten, „weshalb und wie es möglich werden konnte". Selbst in den Fällen, in denen eine überdurchschnittlich gute Quellenlage die historische Analyse der Lebens- und Arbeitsverhältnisse erleichtert, offenbart sich dem genauen und kritischen Blick neben Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten eine Fülle disparater Vorgänge, die es erschweren, zu tieferen und allgemeinen Einsichten zu gelangen. In allen unfreien Gesellschaften muß mit einer weiteren Komplikation gerechnet werden. Die Mehrzahl der aus jenen Systemen überlieferten persönlichen und offiziellen Dokumente informieren uns in sprachlich „verschlüsselter" Form, weil eine direkte, offene und klare Darlegung den Berichtenden gefährdet. Daraus ergeben sich für den Historiker größere quellenkritische Schwierigkeiten sowie zusätzliche Fragen und Probleme, als sie gemeinhin bei der Erarbeitung historischer Ereignisse und Abläufe in freiheitlichen Staaten auftreten. Da zentralisierte Entscheidungsprozesse und klare Hierarchien, eine 2
Vgl. Gerhard Ritter, Der deutsche Professor im „Dritten Reich". In: Die Gegenwart l (24. .1945), S. 26; Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Berlin 1946; Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1: Der Professor im Dritten Reich; Teil 2: Die Kapitulation der Hohen Schulen, 3 Bde. München 1991— 1994. 3 Als jüngster Vorgang ist hier das von einem Teil der Presse zum Medienereignis des Jahres 1996 stilisierte Buch des amerikanischen Soziologen Daniel Goldhagen zu erwähnen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996. In der emotional geführten, wissenschaftlich wenig ergiebigen öffentlichen Debatte titulierte er seine Kritiker dreist als „Versager", obwohl seine eigenen Untersuchungen methodisch und inhaltlich einseitig und weitgehend in Unkenntnis der Spezialforschungen zu den nationalsozialistischen Judenverfolgungen und zum Antisemitismus in Deutschland geschrieben sind. Aus den zumeist einseitigen journalistischen Berichten über die öffentliche Resonanz ragt ein Beitrag positiv heraus: Johannes Heil, Nicht die Kritiker, der Kritisierte hat versagt. Die Diskussion um „Hitlers willige Vollstrecker": Daniel J. Goldhagen erweist sich vor allem darin als Meister, durch Provokation Aufmerksamkeit zu erzielen. In: Süddeutsche Zeitung 190, 19.Vm.1996, S. 9. Im übrigen vgl. Dieter Gutzen (Hg.), „Erinnern — Verdrängen — Vergessen". Die Goldhagen-Debatte in Deutschland (DAAD-Zeitungsausschnitte zur Landeskunde), Hagen 1996 (als MS gedruckt).
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omnipräsente Propaganda, eine rücksichtslos agierende Geheimpolizei und selbst die unverhüllte Bereitschaft, die eigene Bevölkerung zu terrorisieren, nur im Ausnahmefall zu „totaler" Ausrichtung einzelner Lebensbereiche führen, kann die Bearbeitung des individuellen Falles überraschende Ergebnisse, Einblicke in die Vielfalt des Möglichen erbringen. Vorschnelle rückblickende Verallgemeinerungen gehen zumeist in die Irre. Nach 1945 hat ein zusätzlicher Aspekt die Auseinandersetzung mit der „jüngsten Vergangenheit" bestimmt und die Themen und Fragestellungen in der historischen Forschung mit geprägt. Das analytische Interesse richtete sich verständlicherweise in erster Linie auf die deutschen Täter, auf die Deutschen und ihre Kollaborateure als die Verantwortlichen für Politik, Krieg und Verbrechen vor 1945. Dabei gerieten Opfer der unterschiedlichsten Kategorien unangemessen stark außerhalb des Blickfelds: es waren Deutsche slawischer Herkunft, Angehörige der Sinti und Roma, Personen, die von den Euthanasie-Programmen erfaßt wurden — sie alle mußten unter dem Regime, unter ihren eigenen Landsleuten leiden. Die Ursachen für diese eingeengte Sichtweise lassen sich wegen ihrer Komplexität und weil sie zu den Gründungslegenden der Welt im Zeichen der Vier-Mächte-Verantwortlichkeit und des Kalten Krieges gehören, hier nicht kurz darstellen. Es sei jedoch angemerkt, daß jene Einstellung in einem nicht geringen Umfang von dem Ausmaß der Niederlage mit bestimmt wurde, von eigenen Erfahrungen und den Berichten über die menschenverachtende Politik der nationalsozialistischen Regierung; hinzu kommen die vielfältigen Verstrickungen des Einzelnen, die gewalttätige Unterdrückung Opponierender und nicht zuletzt die systematisch vorgenommenen Terror- und Vernichtungsaktionen gegen die Juden. Der vor gut einem Jahrzehnt erstmals wirksam vorgetragene Appell Martin Broszats, eines der besten Kenner der nationalsozialistischen Zeit, diese Epoche zu „historisieren", hat nicht nur deshalb eine heftige, durch zahlreiche Mißverständnisse verzerrte öffentliche Diskussion auszulösen vermocht, weil es nicht wenigen der Debattierenden an profunden Kenntnissen mangelte, sondern weil selbst Jahrzehnte nach Befreiung und demokratischem Neuaufbau immer noch Vorurteile und eine moralisierende Betrachtungsweise die unvoreingenommene Sicht auf Tatsachen behindern.4 Die Leidenschaftlichkeit der 4
Martin Broszat, Was heißt Historisierung des Nationalsozialismus? In: HZ 247 (1988), S. l—H.
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Auseinandersetzungen um Broszats Meinung erreicht jeweils ihren Höhepunkt, wenn es nicht um Prozesse, sondern um Personen geht.5 Dabei ist es nicht sonderlich von Belang, ob die Aktenlage mehr oder weniger günstig ausfällt. Allgemein läßt sich sagen: Sind Persönlichkeiten wie Emil Dovifat in exponierter Position tätig gewesen, dann lassen sich Erkenntnisse über die Motive ihres Handelns, ihre Interessen und Intentionen zwar leichter erzielen, doch sind die dabei gewonnenen Differenzierungen in öffentlichen Diskussionen auffallend häufig dem Verdacht ausgesetzt, diese Ergebnisse sollten von „Schuld" entlasten oder vom Vorwurf opportunistischen Verhaltens befreien.6 In solchen Fällen muß zwischen zwei Positionen streng getrennt werden: zwischen einer punktuellen, einer vorübergehenden, also einer eher taktisch zu verstehenden Angleichung an Parolen, Forderungen und Absichten des diktatorischen Regimes. Die zweite Form der Anpassung erfolgt dagegen nicht in begrenztem Umfang. Sie geschieht aus klaren Motiven und führt zu einer weiterreichenden Verstrickung in die naiv-willfährig oder aus Überzeugung mitgetragene Politik der Machthaber.7 Die Aufklärung über diese Vorgänge ist bedeutsamer als vorschnelles Aburteilen mit dem Pathos der Empörung.8 Die Nationalsozialisten fanden ihr dürftiges politisches Etikett für Emil Dovifat ebenso schnell wie die Kommunisten: ein „republikanischer Professor [...] aus der jüdisch-muffigen Atmosphäre Berlins"9 war 5
Vgl. dazu Michael Stolleis / Dieter Simon (Hg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Disziplin (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 2). Tübingen 1989, S. 110 (Heinz Mohnhaupt: „Personen fordern zu mehr Anteilnahme heraus als die — scheinbar — leblosen Rechtsinstitute und dogmatischen Figurationen [...].")· 6 Hierzu erste Hinweise von mir in der Einführung zu dem Neudruck von: Emil Dovifat, Der amerikanische Journalismus (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik 13), Berlin 1990, u.d.T. „Zeitungsjournalismus in den USA — Ein Rückblick auf Dovifats Frühwerk", S. IX—XLin (zus. mit Stephan Ruß-Mohl); dagegen: Otto Köhler, Zum hundertsten Geburtstag von Emil Dovifat. In: Die Zeit 28 (5. .1991), und in diesem Band, S. 92—101. 7 Prominente Beispiele sind der Fall des Staatssekretärs im NS-Außenministerium Ernst von Weizsäcker oder der Zeitungswissenschaftler Carl Schneider (1905—1940). 8 Vgl. Peter de Mendelssohn, Der Geist in der Despotie. Versuche über die moralischen Möglichkeiten des Intellektuellen in der totalitären Gesellschaft. Frankfurt/M. 1986. 9 Völkischer Beobachter (Bayern-Ausg.), 22.1.1930: „Der diesjährige Presse-Empfang. Justizminister Gürtner und Professor Dovifat über Justiz u. Presse".
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er für die einen, ein „unverschämter Hitlerist", der „faschistische Wühlarbeit" betreibe10, für die anderen. Dovifats Gratwanderung in der nationalsozialistischen Zeit läßt sich differenziert und damit überzeugender erfassen, wenn man sich um eine aussagekräftigere Argumentationsgrundlage und stichhaltigere Kriterien bemüht, die gesamte Persönlichkeit in all ihren Lebens- und Tätigkeitsbereichen zu erfassen sucht, die Zeit vor der Regierungsübergabe an die Nationalsozialisten — wie so häufig geschehen — aus der Analyse nicht ausspart und die allgemeinen Existenzbedingungen während einer Diktatur in die Fragestellung und Darstellung mit einbezieht. Die Aneinanderreihung von „entlarvenden" Zitaten oder die punktuelle, also isolierte Interpretation einzelner „decouvrierender" Äußerungen verstärken lediglich publizistische Polemiken und politische Polarisierungen.11 Nach der epochalen weltweiten Wende in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und aufgrund der gesellschaftlichen und mentalen Erfahrungen mit der Wiedervereinigung Deutschlands sind die Bereitschaft und Fähigkeit in der Öffentlichkeit gewachsen, historische Koordinaten und moralische Kriterien neu zu definieren und zu bestimmen, wenn unterschieden werden muß zwischen Kollaboration, Bejahung, Anpassung, Opportunismus, Stillhalten, Schweigen, loyaler Widerwilligkeit, Camouflage, „verdecktem Schreiben", „innerer Emigration", Abschottung, „öffentlicher Reibung", Dissens, Widerwilligkeit, Protest, Verweigerung, „Resistenz", (Teil-) Opposition, Widerstand und Exil.12 10
Tägliche Rundschau 117 (27.IX.1945): „Der Kampf gegen Demokratie unter dem Deckmantel einer .Herzensdemokratie'". 11 Aus den publizistischen Kreisen ist seit Jahren eine Stimme immer wieder zu vernehmen: Otto Köhler, Große Kunst der Camouflage — Der Wissenschaftler im Wechsel seiner Auflagen: Emil Dovifat. In: ders., Wir Schreibmaschinentäter. Journalisten unter Hitler — und danach, Köln 1989, S. 21—39 und S. 290—292. Immerhin gibt es sogar in der mit einem gewissen wissenschaftlichen Anspruch verfaßten Literatur einen Ausfall, der von großer Unkenntnis zeugt: In seinem „Repetitorium Kommunikationswissenschaft" (München 3 1990, S. 25) bringt es Erhard Schreiber fertig, die Position von Dovifat und Münster als identisch anzusehen und zu erklären, daß nach 1945 die „Basisideologie" (?) „unmodifiziert in Geltung" geblieben sei. Derartige Ausfälle und Rundumschläge — „Im Dritten Reich prostituierte sich die Zeitungswissenschaft wie kaum ein anderes Fach vor den Nationalsozialisten" (ebd., S. 24) —, unbegründete Verurteilungen und auch sprachliche Entgleisungen liegen jedoch unterhalb des allgemeinen Niveaus. 12 Für einen Teil der Publizistik unter der nationalsozialistischen Diktatur stellte Dovifat einmal grundsätzlich fest: Die Technik der Camouflage habe Freunde und
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Der folgende Beitrag versucht anhand einiger Beispiele aus den unterschiedlichen Wirkungsebenen von Dovifat, ein nuancenreiches Bild des Menschen, Publizisten und des Wissenschaftlers zu entwickeln. Es geht hierbei entschiedener, als es bisher versucht wurde, um die Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit. Auf diese Art und Weise haben ihn die Zeitgenossen, sowohl die ihm nahestehenden wie auch diejenigen, die mit ihm nur gelegentlich in Berührung kamen, wahrgenommen und beurteilt. Klaus-Ulrich Benedikt hat in seiner biographischen Studie zu Emil Dovifat diesen thematischen Ansatz in auffallend eingeschränkter Form gewählt.13 Er stellt seiner Arbeit lediglich ein äußerst knappes „biographisches Gerüst" voran, um dann in fünf Abschnitten den „Journalisten", den „Medienpolitiker", den „Wissenschaftler", den „Förderer der Aus- und Fortbildung der Journalisten" und den „Katholiken" abzuhandeln. Jedoch an keiner Stelle dieser umfangreichen und zuverlässig gearbeiteten Dissertation, nicht einmal in ihren Schlußfolgerungen, entsteht ein Porträt der Gesamtpersönlichkeit. Außerdem fehlt unter den Bausteinen des Puzzles, das sich der Leser zusammensetzen könnte, ein Bereich fast gänzlich. Zwar kündigt ihn das Inhaltsverzeichnis mit dem Unterabschnitt „Dozent im Dritten Reich" an, doch findet sich dort zu akademischer Lehre und Forschung nur Allgemeines — so die Empfehlung an seine Schüler, der NS-Volkswohlfahrt beizutreten, um Pressionen entgehen zu können —, obwohl sämtliche Lehrveranstaltungen beGleichgerichtete untereinander verbunden. Dabei sei unerläßlich gewesen „eine dem diktatorischen System äußerlich gleichgeschaltete Einstellung. Von innen her aber sprach, für den, der verstand, eine oft geradezu erschreckend deutliche Opposition" (ders., Die publizistische Persönlichkeit. In: Karl Bringmann et al. (Hg.), Festschrift für Anton Betz, Düsseldorf 1963, S.48, später unverändert in: Emil Dovifat, Handbuch der Publizistik, Bd. l, Berlin 1968, S. 40—54.) — Zur Diskussion der Terminologie vgl. Peter Hüttenberger, Vorüberlegungen zum „Widerstandsbegriff". In: Jürgen Kocka (Hg.), Theorien in der Praxis des Historikers, Göttingen 1977, S. 117—138; Martin Broszat, Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojekts. In: ders. et al. (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. 4, München 1981, S. 691—709; Wolf gang Frühwald / Heinz Hünen (Hg.), Christliches Exil und christlicher Widerstand. Ein Symposium an der katholischen Universität Eichstätt 1985. Regensburg 1987; Heinz Hurten, Deutsche Katholiken 1918—1945, Paderborn 1992; KlausMichael Mallmann / Gerhard Paul, Resistenz oder loyale Widerwilligkeit? Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff. In: ZfG 41 (1993), S. 99—116. 13 Klaus-Ulrich Benedikt, Emil Dovifat, ein katholischer Hochschullehrer und Publizist (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 42), Mainz 1986.
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kannt, die Dissertationsthemen mit vertretbar erscheinender Mühe zu erschließen und die zwischen 1933 und 1945 publizierten Arbeiten zugänglich sind.14 Die Personalakten von Do vif at und zahlreichen seiner Kollegen, sein privater Nachlaß, die universitären und ministeriellen Überlieferungen sowie die Durchsicht aller Veröffentlichungen und die rückblickenden Äußerungen von Dovifat hätten die Materialgrundlage für diese Fragestellung noch zusätzlich verbessern und in jenem Kapitel zu profilierterer Darstellung und Interpretation genutzt werden können.15 Im folgenden ist es nötig, sich auf Vorgänge und Publikationen innerhalb eines nicht zu eng gefaßten beruflich-universitären und des kirchlich-konfessionellen Bereichs zu konzentrieren, denen entweder eine Exemplifikation oder eine spezifische Erklärungsmacht zuzubilligen sind. Selbstverständlich werden bei diesem Vorgehen die Ereignisse nicht ausgespart, die in der Vergangenheit wiederholt kritischablehnend, anklagend oder mit denunziatorischer Intention vorgetragen worden sind.
14
Siehe dazu die 693 Nummern umfassende Bibliographie bei Benedikt; ebd., S. XXXIV—LXV, und die hier im Band (Bibliographie) verzeichneten Ergänzungen. 15 Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich Frau Dr. Dorothee von Dadelsen (Tübingen) und Herrn Dr. Bernhard Dovifat (Berlin) für mündliche und schriftliche Auskünfte, für die Überlassung unveröffentlichter und bislang noch nicht an die Archive abgegebener Manuskripte und Photographien ihres Vaters sowie für die Erlaubnis, dessen Nachlaß im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin), Rep. 92, einsehen und einzelne Dokumente auch zur Veröffentlichung (s. den zweiten Teil dieses Bandes) benutzen zu können. Außerdem liegen meinen Untersuchungen noch folgende Quellen zu Grunde: im Bundesarchiv, Abteilungen Koblenz und Potsdam, die einschlägigen Bestände der Ministerien für Volksaufklärung und Propaganda (K: R 55; P: 50.01), Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (P: Rep. 49.01), Reichskulturkammer (K: R 56 I), Personal- und Promotionsakten des Universitätsarchivs der Humboldt-Universität, Berlin, und Materialien des Archivs für Publizistik und der Arbeitsstelle für Kommunikationsgeschichte und interkulturelle Publizistik der Freien Universität Berlin (AKIP-Materialien).
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II
Die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen Bereits vor dem „Ermächtigungsgesetz" konnten die Nationalsozialisten in der deutschen Zeitungswissenschaft, in den universitären Instituten, bei deren Finanzierung und in deren Personalbestand sowie in den Fachverbänden tiefgreifende Veränderungen erzielen. Doch mußten die Pressionen nicht in allen Fällen vom Staat oder von der NSDAP ausgehen, um die von den neuen Machthabern gewünschten Strukturen und Verhaltensweisen zu erreichen. Opportunismus und Charakterlosigkeit, aber auch apolitischer Idealismus und die aus falsch verstandener Verantwortung für das Gemeinwesen erwachsene Bereitschaft, am „revolutionären" Umbau von Staat und Gesellschaft mitwirken zu wollen, konfrontierten die Organisationen der Partei mit einer unerwartet starken und anhaltenden Eintrittswelle. Dovifat zeigte gegenüber den spöttisch als „Märzhasen" Titulierten unter seinen Kollegen kein Verständnis, beeilten sich jene doch ebenso wie die meisten Mitglieder des „Reichsverbands der Deutschen Presse", in die NSDAP einzutreten, die „nationale Revolution" in Vorträgen und Broschüren, in Zeitungsartikeln oder Festreden zu feiern und in oftmals gewagten logischen Konstruktionen nationalsozialistische Vorstellungen auf fachwissenschaftliche Inhalte, Fragestellungen und Forschungsprogramme zu übertragen. Sein Kollege Karl d'Ester (1881—1960), der Direktor des Münchner Instituts für Zeitungskunde, stellte deshalb keineswegs eine Ausnahmeerscheinung dar, als er in kämpferischer Pose und mit Worten, die an die rhetorischen Leistungen Wilhelms II. erinnern, für sein Fach einen spektakulären Aufbruch im neuen Staat durch den von ihm propagierten „geistigen freiwilligen Arbeitsdienst" in der Erziehung zum politischen Menschen forderte16: „In einer Zeit, da Deutschland wieder um seine Ehre in der Welt ringen muß, soll auch die akademische Jugend in der vordersten Front des geistigen Abwehrkampfes stehen. Unter den Fächern aber, die es dem Studierenden ermöglichen, sich die notwendigen geistigen Waf16
So die Überschrift zum letzten Kapitel seiner Schrift „Weg und Ziel einer neuen Wissenschaft. Zehn Jahre Institut für Zeitungswissenschaft an der Universität München 1924—1934", München 1934, S. 8.
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fen zu schmieden, steht die Zeitungswissenschaft nicht an letzter Stelle. [...] Die nationale Erhebung hat auch der Disziplin der Zeitungswissenschaft einen neuen Auftrieb gebracht. Endlich hat man auch in Deutschland den Wert der Propaganda erkannt und ein eigenes Ministerium für dieses wichtige Gebiet geschaffen. Die Zeitungswissenschaft ist diesem Ministerium zu großem Dank verpflichtet für die reiche Förderung, die sie von ihm erfahren durfte. [...] Hoffnungsfreudig, aber auch mit dem Gefühl einer ungeheuren Verantwortung reiht sich die Zeitungswissenschaft ein in die breite Front aller der Kräfte, die wach geworden sind, um das deutsche Volk in allen seinen Schichten zu einen und aus Elend und Verzweiflung glücklicheren Zeiten entgegen zu führen."17 Im „Reichsverband der Deutschen Presse" steuerte Dovifat als einer der acht Berliner Delegierten einen klaren Gegenkurs zu der „Selbstgleichschaltungs"-Offensive in der Jahreshauptversammlung am 30. April 1933.18 In seinem Vortrag über den Zustand der Versorgungsanstalt sprach er unverhohlen die staatlichen Pressionen an. Er erwähnte nicht nur, daß die wirtschaftliche Absicherung die unabdingbare Voraussetzung für eine verantwortungsvolle Ausübung des Berufes sei, sondern sprach auch das ihn ungleich stärker Bedrückende aus, daß nämlich „ganze Gruppen" neuerdings „geschlossen" beigetreten und an führende Stellen aufgerückt seien, einige Kollegen den Verband bereits verlassen hätten oder jetzt „auszuscheiden gezwungen" seien.19 Dovifat schloß provozierend-erwartungsvoll mit zwei Sätzen, die die unabdingbare Grundlage des Journalismus in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft bilden und die er zu einem Gedankengang formte, der das in der Weimarer Zeit Geleistete unzweideutig als verpflichtende Tradition empfahl: „Möchten die nunmehr verkündeten neuen Ziele einer neu gestalte17
Ebd., S. 8 f.; vgl. auch Ernst Storm, Staat und Pressefreiheit. In: Völkischer Beobachter (Norddeutsche Ausgabe) 25. und 26.1.1933; Ernst Lehmann, Die politischen Aufgaben der deutschen Zeitungswissenschaft. In: Westdeutsche Akademische Rundschau 8 (1937). 18 Hier und im folgenden die Einzelheiten nach: Verbandstag 1933 in Berlin: Bericht über die Vertreterversammlung, In: Deutsche Presse 23 (15.V.1933), S. 131—138. 19 Der zusammenfassende Bericht über das „Referat" von Dovifat wurde erst im übernächsten Heft abgedruckt: Deutsche Presse 23 (3I.V. 1933), S. 150 („Nachlese zum Delegiertentag 1933"); in dieser im Sinn der neuen Machthaber geschönten Veröffentlichung fehlt jeglicher Hinweis auf die herausgedrängten Mitglieder.
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ten Presse Sinn, Raum und Kräfte freimachen für entsagungs- und mühevolle Arbeit der Art, wie sie bisher geübt wurde. Nur so wird sie, nüchtern und auf lange Sicht gesehen, bleiben, was sie ist: die wirtschaftliche Untermauerung eines freien Berufes."20 In der sich anschließenden Diskussion über die vom Berliner Bezirksverband vorgeschlagenen Satzungsänderungen (Aufnahme des Führerprinzips, Ausschluß von Juden und Marxisten) äußerte sich Dovifat entschieden, scharf und ablehnend. Zusammen mit zwei weiteren Delegierten wies er auf die sich unverhohlen äußernde parteipolitische Einflußnahme des Staates hin, und nur diese drei protestierten gegen den „Arierparagraphen".21 Im darauffolgenden Jahr erstattete Dovifat seinen Bericht lediglich in schriftlicher Form. Aus dem Obersten Ehren- und Schiedsgericht trat er im selben Jahr zurück; auf den späteren Tagungen trat er nicht mehr in Erscheinung.22 Im Verlauf der folgenden anderthalb Jahre, also bis zum Winter 1934, führten die reichsgesetzlichen Neuregelungen, die zahlreichen Verordnungen im öffentlichen und akademischen Leben sowie die daraus resultierenden personellen Umgestaltungen auch für die Fachgemeinschaft zu neuen Strukturen, Zielen, Themen, Lehrplänen und Forschungsprogrammen.23 Den politischen Leitfaden formulierte Reichserziehungsmi20
E[mil] Dovifat, Die Versorgungsanstalt der deutschen Presse. In: Deutsche Presse 23 (30.IV.1933), S. 112—114; hier S. 114. 21 „Angesichts der gegebenen Mehrheitsverhältnisse verzichten wir darauf, unsere grundsätzlichen sachlichen und formellen Bedenken gegen den Arierantrag geltendzumachen, zumal Einigkeit darüber besteht, daß die endgültige Entscheidung über das Schicksal der vom Ausschluß bedrohten Kollegen erst durch das angekündigte Pressegesetz fallen soll. Wir vergessen aber nicht, daß wir mit vielen dieser Kollegen in der Berufsorganisation jahrelang zusammengearbeitet und manchen wertvollen Menschen unter ihnen kennengelernt haben. Wir vergessen vor allem nicht, daß gerade der Reichsverband der deutschen Presse ihrer Tätigkeit viel zu danken hat. Deshalb sind wir nicht in der Lage, dem Antrage zuzustimmen." Verbandstag 1933 in Berlin (wie Anm. 18), S. 137. 22 Sein lediglich in schriftlicher Form erstatteter Bericht für 1934 erschien im ersten Heft des Jahrgangs, ebd. 24 (1934), S. 16—18; auf S. 16 wird von Dovifat „Das Ausscheiden ganzer Gruppen von Schriftleitern aus dem Beruf" offen angesprochen. 23 Vgl. zu den Grundlagen und Rahmenbedingungen Karl-Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1993; Bernd Jürgen Wendt, Deutschland 1933—1945. Das Dritte Reich, Hannover 1995, und Bernd Sösemann, Publizistische Opposition in den Anfängen des nationalsozialistischen Regimes. In: J. Schmädecke / P. Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, München 1994 (Neuaufl.), S. 190—206.
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nister Bernhard Rust in der Aula der Berliner Universität am 6. Mai 1933. Selbstbewußt und offen erklärte er: „Ich muß einen Teil der Hochschullehrer ausschalten, auf daß die deutsche Hochschule wieder in der Synthese von Forschung und Führung der Jugend ihre Aufgabe erfüllen kann. Die deutsche Jugend [...] läßt sich nun einmal von fremdrassigen Professoren nicht führen."24 Am tiefsten griff 1933 die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat (28. Februar) in die Grundrechte und somit in das private und öffentliche Leben des Einzelnen ein. Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, das „Ermächtigungsgesetz" (23. März), schuf im selben Jahr die wichtige Voraussetzung für eine Diktatur auf Zeit; Hitler nutzte den rechtlichen Freiraum aus und war pedantisch darauf bedacht, die nach vier Jahren nötige Verlängerung parlamentarisch bestätigen zu lassen. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7. April) bot mit seinen sieben Durchführungsverordnungen, fünf Änderungsverordnungen und sechs Änderungsgesetzen allein bis zum Jahr 1935 das entscheidende Instrumentarium auch zur „Entfernung" mißliebiger Hochschullehrer: „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden".25 1935 trat an die Stelle des Gesetzes vom 7. April 1933 das Gesetz über die Entpflichtung und Ersetzung von Hochschullehrern aus Anlaß des Neuaufbaus des deutschen Hochschulwesens (21. Januar). Etwa ein Drittel der deutschen Bildungselite, über zweitausend Universitätslehrer, wurde zur Emigration gezwungen.26 Zu den wirkungsvollsten der weiteren Maßnahmen und Gesetze, die das kulturelle und wissenschaftliche Leben reglementieren und die intendierte Durchsetzung der nationalsozialistischen „Weltanschauung" gewährleisten sollten, sind die Stärkung des Einflusses von NS-Dozentenbund und NS-Studentenbund (§ 5 und § 6 des Gesetzes vom2I.Januar 1935) zu zählen; voraus gingen die Errichtung einer Reichspressekammer (13. April 1933), das Reichskulturkammergesetz (22. September 1933) und das Schriftleitergesetz (4. Oktober 1933) sowie die Reichshabi24
Zit. nach Thomas Ellwein, Die deutsche Universität. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Königstein 1985, S. 234. 25 RGB1 1933 I, S. 175—177, hier § 4. 26 Zu diesem Thema liegt jetzt eine grundlegende Untersuchung vor: Regine Erichsen, Vom Nationalsozialismus vertriebene Wissenschaftler auf dem Markt. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 19, H. 4, Weinheim 1996.
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litationsordnung (13. Dezember 1934). Die amtliche Begründung offenbart den leitenden und für parteipolitische Absichten leicht zu mißbrauchenden Gesichtspunkt der gesamten nationalsozialistischen Personalpolitik: „Der Hochschullehrer [...] muß als Erzieher, Lehrer und Forscher besonders strengen Anforderungen an fachlicher Eignung, Persönlichkeit und Charakter genügen." 27 Damit war eine ausreichende Grundlage für die Entlassung mißliebiger und unbequemer Zeitungswissenschaftler an den Hochschulen und an den außeruniversitären Einrichtungen gegeben. Mehr als die Hälfte der vormals 42 Wissenschaftler dieser Fachrichtung befanden sich Ende 1934 nicht mehr im Amt; jeder sechste mußte emigrieren.28 Dr. Walter Auerbach vom Kölner Institut für Zeitungswesen, Dr. Kurt Häntzschel, Berliner Lehrbeauftragter für Presserecht und ehemaliger Ministerialdirigent im Reichsinnenministerium, und der Direktor des Berliner „Seminars für Publizistik" an der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Hon.-Prof. Dr. August Hinderer, hatten für einige Tage „Schutzhaft" wegen vorgeblicher Staatsfeindschaft zu erdulden.29 Das gleiche Schicksal ereilte Dr. Rudolf K. Goldschmidt (Institut für Zeitungswesen, Universität Heidelberg) nach dem 20. Juli 1944. Den Greifswalder Privatdozenten und Berliner Lehrbeauftragten Hans Traub (1901—1943) traf 1937 die Entlassung wegen eines fehlenden „Arier-Nachweises". Die Fachwissenschaft ließ ihn wie andere Kollegen gleichen Schicksals fallen, so daß bei seinem Tod in der Fachpresse keine Notiz und kein Nachruf erschienen.30 Dovifats „Erinnerung" in der „Zeitungswissenschaft" gilt deshalb zu Recht als moralisches Fanal. Dovifat gehörte zu den Zeitungswissenschaftlern, die das Regime 1933/34 zwangsweise beurlaubte, pensionierte oder entließ. Zu 27
Deutsche Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1935, S. 12. Bis zu diesem Zeitpunkt schieden 23 aus; s. Arnulf Kutsch, Die Emigration der deutschen Zeitungswissenschaft ab 1933. Anmerkungen zu einem vergessenen Thema. In: Medien & Zeit 3 (1988), S. 5 ff. 29 Hinderer (1877—1945) gilt als Begründer einer modernen kirchlichen Publizistik; er amtierte seit 1918 auch als Direktor des Evangelischen Preßverbands für Deutschland, der Dachorganisation der regionalen evangelischen Preßverbände. 30 Frank Biermann, Hans Traub. In: Arnulf Kutsch (Hg.), Zeitungswissenschaftler im Dritten Reich. Sieben biographische Studien, Köln 1984, S. 45—78. — Martin Mohr (1867—1927) hatte Traub an das Berliner Institut geholt und mit dem Aufbau der zweiten Abteilung („Deutsche Presse") betraut. — Dovifat schrieb seinen Nachruf unter dem Kürzel „at" in der Zeitschrift „Zeitungswissenschaft" 19 (1944), S. 275 f. („Erinnerung an Hans Traub"). 28
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ihnen zählten noch Professoren wie Werner Friedrich Brück, Erich Everth (1878—1934), Max Fleischmann und Hans von Eckardt (1890— 1957) — sie waren die Direktoren der Münsteraner, Leipziger, Hallenser und Heidelberger Seminare bzw. Institute für Zeitungskunde — oder Assistenten wie zwei des Kölner Forschungsinstituts für internationales Pressewesen, Dr. Günther Wohlers und Dr. Fritz Lehmann. Der zeitungswissenschaftlichen Lehre widmeten die Nationalsozialisten seit dem ersten Semester eine so große Aufmerksamkeit, daß die universitäre Disziplin bereits zum Sommersemester 1935 über einen staatlich genehmigten, reichseinheitlich gültigen Lehrplan verfügte, dessen Einhaltung der „Deutsche Zeitungswissenschaftliche Verband" (DZV) unter der Präsidentschaft Walther Heides (1894—1945), stellvertretender Pressechef der Reichsregierung, kontrollierte.31
III
Zum christlichen, politischen und gesellschaftlichen Engagement Dovifat hat seinen katholischen Glauben in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur in allen Bereichen gelebt, also in seiner Familie, in der Zehlendorfer „Herz Jesu-Kirchengemeinde" — seit 1940 öffentlich deutlich bekundet in der Funktion des stellvertretenden Vorsitzenden im Kirchenvorstand —, im „Katholischen Ring an der Berliner Universität", seit 1921 in der Zentrumspartei, in Vorträgen, in Artikeln des „Katholischen Kirchenblatts Berlin", aber auch von 1934 bis zur Auflösung im Jahr 1938 in der „Katholischen Aktion" des Bistums Berlin, als Nachfolger des während der Mordaktionen vom Juni 1934 umgebrachten Erich Klauseners. Benedikt ist in seinem Buch auf Einzelheiten eingegangen und hat mit überzeugenden Argumenten die Glaubensfestigkeit als das sittlich-moralische „Rückgrat" von Dovifat in der Zeit der Angriffe auf die Kirche und in den unterschiedlich intensiven Phasen der Verfolgung von Gläubigen interpretiert.32 Zu den von Dovifat in jener Zeit beachteten und wiederholt ausgesprochenen 31
Vgl. die Erläuterungen des Münsteraner Institutsleiters Ernst Lehmann, Die politischen Aufgaben der deutschen Zeitungswissenschaft. In: Westdeutsche Akademische Rundschau 8 (Jan. 1937), o.S. 32 Benedikt, Dovifat (wie Anm. 13), S. 225—235.
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Grundsätzen zählen die Erkenntnisse und Leitgedanken, daß Politik ohne Religion inhuman sei, daß Fanatismus, Rassenhaß und nationaler Dünkel Irrwege darstellten, daß die politische Polarisierung den Frieden in einer Gesellschaft auflöse und die Solidarität schwäche.33 Zeitberichte über seine öffentlichen Auftritte und seine aus Furcht nur spärlich überlieferten handschriftlichen Rede- oder Vortragsmanuskripte und über Äußerungen im kleinen Kreis lassen erkennen, wie klar und eindringlich Dovifat seine Grundgedanken in immer erneut abgewandelten Formen und thematischen Zusammenhängen trotz der gebotenen Vorsicht seinen Hörern zu vermitteln suchte. Selbst in den ersten Monaten zählte er nicht zu den Kreisen, die einem „nationalen Rausch" verfielen und warnende Stimmen aus oppositionellen Gruppierungen gar nicht oder nur unwillig anzuhören bereit waren. Bereits 1931 hatte er den Rausch, den Haß und die Verzückung der Massen in solchen Situationen beschrieben und sogar nach 1934 in einem Promotionsgutachten in ähnlicher Aussageabsicht eine politische Kritik dieser An riskiert: „Erschütternd ist die Hilflosigkeit, mit der ein gut Teil des deutschen Volkes, darunter idealistische Gruppen reinen und opferbereiten Wollens, diesen neuen Führungsmitteln anheimfällt. Der vielgerühmte deutsche Bildungsstand und die Auswirkung der so oft gepriesenen deutschen Schulen versagen hier, oder scheinen außer Kurs gesetzt. Es ist eine zweite riesengroße Aufgabe der kommenden deutschen Publizistik, in den breitesten Massen Sinne und kritische Unterscheidung zu wecken für diese neuesten Führungsmittel der Zeit. Der große Demagoge wird im Wettlauf mit solcher Aufklärungsarbeit keineswegs leicht zu schlagen sein."34 — „Die Pläne, durch ein trom33
In seinem berühmt gewordenen Artikel „Herzensdemokratie oder Blockwalterton?", der scharfe Angriffe der sowjetischen Besatzungsmacht provozierte und zu seiner Entlassung führte, hatte er hierzu rückblickend geschrieben: „Die jahrelange Gewöhnung, auf dem Mitmenschen herumzutrampeln oder von ihm getrampelt zu werden, belastet noch heute das Zusammenleben. Der Andere ist primär immer der Feind; auf Kampf ist alles gestellt; davon, daß man sich in Kollisionsfällen miteinander arrangieren muß, davon, daß wir alle gleichberechtigt sind und niemand sich herausnehmen darf, dem ändern im Befehlston entgegenzutreten, davon scheint man bis jetzt nichts zu wissen" (Neue Zeit 55 [23.IX. 1945]). 34 Emil Dovifat, Neue Aufgaben der deutschen Publizistik. In: Krisis. Ein politisches Manifest. Weimar 1932, S. 256—263; hier S. 263 (die Hervorhebung findet sich in der Vorlage).
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melndes Massenblatt politische Erkenntnisse bis in den Kopf des letzten Volksgenossen zu hämmern, sind erst [...] vom Nationalsozialismus aufgenommen und durchgeführt worden."35 Wie wenig selbstverständlich eine derartige kritisch-ablehnende Haltung in jenen Tagen war, zeigt die bereitwillig und bedenkenlos angepaßte, opportunistische oder zumindest wenig kritische Einstellung etlicher Institutionen, Verbände und Persönlichkeiten, zu denen auch Mitglieder des evangelischen Klerus', des politischen Katholizismus', jüdische Geschäftsleute wie der Verleger Hans Lachmann-Mosse, Funktionäre der Christlichen Gewerkschaften oder der Deutsche Anwaltsverein gehörten36. Dovifat suchte also nach einer Orientierung, nach einem von ihm verantwortbaren Weg jenseits der frühen und mitunter emphatischen zustimmenden Bekundungen der eigenen Amtskirche, einiger hoher katholischer Würdenträger und auch des Vatikans zur „Nationalen Revolution" und zu Hitler. Hier seien lediglich die „Treueerklärung der Fuldaer Bischofskonferenz" (8.III. 1933) gegenüber der rechtmäßigen Obrigkeit erwähnt, der den staatlichen Autoritarismus zustimmend hervorhebende gemeinsame Hirtenbrief der deutschen Bischöfe (8.VI.1933), die auffallend regimefreundlich ausgerichteten Botschaften katholischer Amtsträger während der „Trierer Rock-Wallfahrt" im Sommer 1933 und der überstürzte Abschluß eines unvollkommen ausgehandelten und gerade das öffentliche Wirken der katholischen Kirche unzulänglich absichernden Reichskonkordats zwischen dem Vatikan und dem Hitler-Regime (20.VII.1933).37
35
HU, UA, Prom. Phil. 763 (Adam), Gutachten Dovifat, o.D. [Juni 1934]. Horst Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung im „Dritten Reich", München 2 1990; Bernd Sösemann (Hg.), Theodor Wolff, Tagebücher 1914—1918. Der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen des Chefredakteurs am „Berliner Tageblatt" und Mitbegründers der „Deutschen Demokratischen Partei" (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 54), 2 Bde., Boppard/Rh. 1984, hier: Bd. l, S. 45. 37 Vgl. hierzu die Quellensammlung von Hans Müller (Hg.), Katholische Kirche und Nationalsozialismus. Dokumente 1930—1935 (dtv-Taschenbuch), München 1963, und die regionalgeschichtlich akzentuierte Untersuchung von Gerhard Paul / Klaus-Michael Mallmann, Milieus und Widerstand. Eine Verhaltensgeschichte der Gesellschaft im Nationalsozialismus. Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935— 1945, Bd. 3, Bonn 1995, S. 60—144. 36
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Dovifat sprach über politische, religiöse, kulturelle und soziale Themen öffentlich und im kleinen Kreis häufig und mit großer Resonanz. Bei einigen Gelegenheiten, die sich für ihn nicht erst nach der Regierungsübergabe an Hitler ergaben, verkündete er diese Grundeinstellungen und die von ihm geschätzten Werte besonders eindringlich. Es geschah am 27. Januar 1932, als er über den „Katholischen Studenten in den weltanschaulichen Kämpfen der Gegenwart" im Kreis und als Mitglied des „Katholischen Rings an der Universität Berlin" in der Hochschule vortrug.38 Ähnliche Gedanken leiteten ihn am 13. Mai 1934, als er vor katholischen Jungmännerverbänden über den „religiösen Willefn] katholischer Jugend eingesetzt für Deutschlands Einheit und Volksgemeinschaft" redete, die in Berlin ihren Diözesantag abhielten.39 Dovifat plädierte für die Kräftigung von Nächstenliebe und Demut; er wandte sich scharf gegen jeglichen Rassenhaß und nationalen Dünkel. Der allseits propagierten „Volksgemeinschaft" wollte er lediglich dann einen höheren und verbindlichen Wert zuerkennen, wenn sie im christlichen Sinn gelebt werden könne. Mit Nachdruck formulierte er40: „Wir [Katholiken] spalten uns nicht ab von einem Protestanten, von einem Juden, von einem jener deutschen Volksgenossen, die im Suchen Christus ablehnen und aus Rasse, Blut, Boden ihren neuen Mythus hauen. [...] wir halten uns nicht für besser — wohl aber für mehr verpflichtet — weil wir mehr begnadet sind."41 Ein Katholik habe sich für mehr Demut im menschlichen Zusammenleben einzusetzen. Hierzu notierte Dovifat am Rand des Redezettels mit dickem Stift „Klasse / Rasse / [-]dünkel". Gegen Heldentum, Heroismus, Machtstreben und machiavellistisch geprägten Kampf setzte er „das christliche Liebesgesetz der Milde. [...] Machtkampf nur dadurch vom tierischen Überwältigungskampf unterschieden, daß die Menschenliebe ihn begrenzt und ihn überwindet. Aus Macht kann nie eine Gemeinschaft werden." Und dann notierte sich Dovifat hier aus dem unmittelbaren politischen Alltagserleben die ihn bedrängenden Erfahrungen aus den Monaten der Verfolgungen und des immer unverhüllter hervortretenden Terrors, der sich im Frühjahr und Sommer 1934 sogar gegen die eigenen Reihen (SA-Führung) richtete. Zuerst 38
Benedikt, Dovifat (wie Anm. 13), S. 228. Eigenhändiges MS (821 S.) im privaten Nachlaß (D. v. Dadelsen, Tübingen); im folgenden: NL Dovifat, Tübingen. 40 Es folgen Zitate aus den Vortragsstichworten zum 13. Mai 1934 (die zahlreichen Abkürzungen wurden aufgelöst [B.S.]). 41 Die Hervorhebungen (Unterstreichungen) finden sich in dem Original. 39
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zählte er die verdammenswertesten Mittel der Machtausübung auf: „Zwang, Strafe — wirtschaftlich, körperlich (Folter), geistig —, suggestive Propaganda", die „nie den Gleichklang der Herzen, das Zusammenstimmen der Seelen herbeiführen" könnten. Aus seiner klaren Erkenntnis des Unrechtscharakters des NS-Regimes heraus resümierte er: es gebe nichts „menschlich und christlich Empörenderes als Machtmißbrauch, als Machtdünkel, als Machtüberheblichkeit." Kein Katholik dürfe es dulden, daß Haß entstehe, „auch nicht gegen unsere stärksten politischen Gegner" Dovifat formulierte so nachdrücklich, weil er davon überzeugt war, daß in Deutschland nunmehr die „stärkste Machtkonzentration der Welt" vorliege.42 Seine grundsätzliche Kritik an den politischen Verhältnissen und seine entschiedene Ablehnung der öffentlich propagierten neuen Werte erfuhren aus Partei- und Regierungskreisen keine scharfe Zurückweisung und brachten den Redner nicht sofort in Gefahr, weil in jenen Tagen die monatelangen heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen dem Kulminationspunkt, den Mordaktionen des 30. Juni, zutrieben. Im Frühjahr 1934 hatten Staats- und Parteiorgane reichsweit PropagandaAktionen zur Verbesserung der öffentlichen Stimmung initiiert. Verbale Attacken des Propagandaministers gegen Unbelehrbare, Miesmacher, Kritikaster, Bierbankpolitiker und Nörgler erfolgten in wachsender Schärfe allein sechsmal in der Öffentlichkeit, von Süddeutschland bis ins Ruhrgebiet. Am 5. und am 21. Juni rechnete Goebbels in Berlin, zuletzt im Stadion Neukölln (Sonnenwendfeier) vor rund 40.000 Zuhörern, mit Regimegegnern sowie allen opponierenden Stimmen ab und zielte nicht nur hier besonders auf die Geistlichkeit: „Die nationalsozialistische Regierung hätte besser getan, alle diese Herrschaften hinter Schloß und Riegel zu setzen (Stürmischer Beifall)."43 In Duisburg und in Essen (Gauparteitag) drohte Goebbels am schärfsten den „Reaktionären" und „Besserwissern". Auf dem Gruga-Gelände rief er:44 „Und dann bin ich der Meinung, daß der bisherige Verlauf der nationalsozialistischen Revolution nicht nur uns selbst, sondern das ganze deutsche Volk verwöhnt hat. Die Revolution hätte ganz anders kommen können. [...] Es soll niemand glauben, unsere Feinde hätten 42
Ebd. BA/P Rep. 61 Re l, Nr. 153 (Bericht des DNB). 44 In Gleiwitz am 6. und in Freiburg im Breisgau am 16. Juni 1934. 43
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sich in die Mauselöcher für dauernd verkrochen. Sie sitzen darin — aber sie warten nur auf ihre Stunde. Es soll niemand glauben, daß wir diese Feinde nicht sehen. Wenn wir sie in Ruhe lassen, so nur deshalb, daß sie aus ihren Mauselöchern herauskommen. Geschenkt wird ihnen nichts. (Stürmischer Beifall) [...]. Der Feind des Nationalsozialismus sitzt nicht im Arbeiter, er sitzt bei den vornehmen Herren (Bravo), bei denen, die im Nationalsozialismus nur eine Zeiterscheinung sehen. Als die Revolution ausbrach, wechselten sie mit fliegenden Fahnen zu uns über, und als sie sahen, daß wir sie nicht mit offenen Armen aufnahmen, zogen sie sich in den Schmollwinkel zurück. Dort opponierten sie in einem ganz kleinen Kreis. Man soll sie nicht überschätzen, denn sie haben keine Möglichkeit, das Volk zu beeinflussen. [...] Wir haben dabei verschiedene Erscheinungsformen, in denen sie auftreten: einmal als Reserveoffiziere, dann als Intellektuelle, als Journalisten, als Geistliche.45 [...] das Recht zur Kritik hat nur die NSDAP allein. Allen anderen spreche ich es ab. [...] Gewiß haben wir den Marxismus vernichtet, aber wir dulden heute im Lande noch die Reaktion. Wenn der Führer heute vor die Bewegung träte und sagte, meine Parteigenossen, jetzt wollen wir ihnen zeigen, was wir mit ihnen machen, in 24 Stunden wären sie verschwunden. (Tosender Beifall.) Ich bin überhaupt der Meinung, daß wir die Macht haben, alles zu tun, was wir für richtig halten. Unsere Macht ist unbeschränkt."46 In dieser aufgewühlten Atmosphäre hielt Dovifat am 24. Juni 1934 vor 50.000 bis 60.000 Menschen — unter ihnen der Staatssekretär Hans
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Als sich in der Öffentlichkeit die Proteste gegen diese Feststellungen nicht beruhigten, ließ Goebbels vierzehn Tage später über das DNB an die Zeitungen eine inhaltlich moderatere, sprachlich unbeholfene und damit weniger prägnante Fassung verbreiten. Die Passage lautete jetzt: „Sie [die Reaktionäre] tarnen sich meistens; sie treten, ohne intelligent zu sein, als Intellektuelle auf; ohne den Bedürfnissen des Tages zu dienen, sind sie Journalisten; ohne die Kirche zu verteidigen, tragen sie geistliches Gewand, und hier und da benützen sie den Titel des Reserve-Offiziers, ohne in Wirklichkeit etwas mit Soldatentum oder Offizier zu tun zu haben. Die breite Masse der zu diesem Stande Gehörigen lehnt solche Abtrünnigen ab und weist es weit von sich, mit ihnen in einem Atem genannt zu werden" (zit. nach Berliner Börsen-Zeitung 315, 9. .1934: „Getarnte Reaktionäre. Eine Richtigstellung zu der Rede Dr. Goebbels"). 46 DNB l (1. Frühausgabe), 25.VI.1934, S.l: „Reichsminister Dr. Goebbels über das Recht zur Kritik".
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Heinrich Lammers, Reichsminister Paul Freiherr von Eltz-Rübenach47 und die Frau des Vizekanzlers Franz von Papen — eine Rede, die das stärkste öffentliche Echo hervorrief48 und ihn in Lebensgefahr brachte. Auf dem 32. Märkischen Katholikentag sprach er in Hoppegarten die „Dank- und Schlußworte". Thematisch knüpfte er an seine im Mai geäußerten Gedanken zwar an, doch ergänzte er sie mit sachlich zugespitzten Hinweisen auf aktuelle Gegebenheiten und Vorkommnisse, auf die grundsätzliche Krisenhaftigkeit und Gefährlichkeit der politischen Situation. Dem Thema und seiner Verstärkung kommt in der Wiederholung deshalb ein höherer Stellenwert als die Mai-Rede zu, weil der Ort und die publizistische Verwertung dieser Worte ihre Wirkungsmächtigkeit potenzierten: „So gilt es Schluß zu machen mit all dem Denken u. Fühlen, das sich selbst zum Maß aller Dinge macht. [...] Wir müssen niederschlagen und vernichten [...] den furchtbarsten Feind jeder völkischen Gemeinschaft und [sie] ein ebenso schlimmer Feind aller Völkergemeinschaft. Wir müssen aufbrechen und vernichtend schlagen den Hass wo immer wir ihn treffen, den Hass mit allen seinen Trabanten — in all seinen fanatischen, verbitternden, engen menschenmordenden49 und seelentötenden Folgen.50 Nicht in Gewalt — nicht in Anwendung brutaler Kraft [,] sondern nur schärfster Einsatz des christl. Liebesgesetzes. [...] 47
BT 295, 25.VI.1934 (Abendausgabe): 32. Katholikentag. Weihe des Bistums Berlin. 48 „Und immer erneut donnert dieser Beifallssturm [„Ein Donnern von Heilrufen"] während der Ansprache des großen Redners [die „wuchtige, von hohem Pathos erfüllte Stimme"], der den Gefühlen formvollendeten, in markig-mannhaften Worten Ausdruck gibt, die jeden Deutschen und jeden Katholiken heute bewegen. Die leidenschaftliche Glut seines Wortes setzt die Herzen in Flammen. Die Kraft seiner Geste reißt mit. Die Ueberzeugungskraft jeder Silbe, die er spricht, da er das Hohelied der Nächstenliebe singt, zwingt alle Seelen und alle Geister zum einigen frohen, freudigen Mittun. Der Beifallssturm, der dem begnadeten Redner dankt, will nicht enden." Aus: Märkische Volkszeitung 173, 25.VI. 1934 (mit einer Photographic, die Dovifat während seiner Rede zeigt). 49 Diese Formulierung ist die ursprüngliche; sie findet sich in dem überlieferten Manuskript (NL Dovifat, Tübingen [MS]) und wurde korrigiert in „seelentötenden und seelenverhärtenden". 50 Eine Durchsicht der Zeitungsmeldungen, der Berichte und Kommentare brachte die Überraschung zutage, daß die „Deutsche Allgemeine Zeitung" in ihrer Paraphrase der Worte von Dovifat „den Haß in seiner fanatischen, bornierten, engen, menschenmordenden Form mit seinem furchtbaren seelentötenden Gefolge" erwähnte pAZ 25.VI. 1934: D. Korodi, Der Berliner Katholikentag in Hoppegarten).
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nicht Stunde überschätzen — Sonne sinkt, Nacht, Hoffnung + Glaube auf Rückkehr des Tages.,"51 Diese und verwandte Gedanken finden sich in den Ansprachen wieder, die Dovifat von 1933 bis 1940 vor Abiturienten gehalten hat. Die Texte sind uns lediglich in Form von Stichwort-Manuskripten überliefert. Ihnen läßt sich entnehmen, wie Dovifat sich im Laufe der Jahre auch in diesem überschaubaren Kreis zunehmend vorsichtiger zum politischen und kirchlichen Leben geäußert hat. In Wortwahl und Stil finden sich dabei gelegentlich Anklänge an zeitgenössische Parolen und Übernahmen aus dem nationalsozialistischen Vokabular. Offenkundig hatten sie eine ähnlich absichernde Funktion wie eingestreute Zitate von Hitler und Walter Flex, das Beschwören von Führerprinzip- und Volkstum und die Aufnahme von Symbolen oder Metaphern aus der kämpferisch-soldatischen Bildwelt.52 Als Dovifat am 29. November 1939 vor dem Rat der Archipresbyter Berlin-Charlottenburg über das Thema „Was erwartet der Laie von der heutigen Predigt?" sprach — die gleichen Anregungen wiederholte er übrigens vier Jahre später —, plädierte er dafür, unbeirrt eine klare Linie zu vertreten, Angriffe auf die Kirche und ihre Institutionen („das schwarze Gesindel", die „Internationale des seelischen Friedens") zu parieren, aber dabei Vorsicht walten zu lassen. Alle Geistlichen sollten die größeren Zusammenhänge beachten und sich in der Öffentlichkeit klug verhalten; ihre Predigt müsse ein brauchbares, ein nützliches „Sturmgepäck" sein und dürfe deshalb den weltlichen Institutionen keine Angriffspunkte bieten. Die Parole habe deshalb zu lauten: „Kein Zitat, keine Namensnennung".53 Weitaus schwieriger war es für Dovifat, wenn er diese „verdeckte Redeweise" vor nichtkirchlichen Gremien oder sogar im größeren Kreis praktizieren wollte, um wenigstens etwas intellektuell Anregendes oder sogar Aufrüttelndes im Vortrag unterbringen zu können. Diese Strategie mußte vor Fachund Parteigremien fast durchweg scheitern, wenn die thematische Formulierung und der Zuhörerkreis den rhetorischen und sachlichen Pfad so eng begrenzten, wie es die Einrichtungen der Reichskulturkammer taten. Am 5. Juli 1935 hatte Dovifat vor der Fachschaft „Katholische Kirchliche Presse" über das Thema „Die deutsche Zeitschrift und ihr re51
Die Hervorhebungen (Unterstreichungen) finden sich in der Vorlage (wie Anm. 49). 52 NL Dovifat, Tübingen (MS): „Abschiedsworte an katholische Abiturienten", 1. .1933; dass., Berlin, 19. .1934; dass., 19. .1937; dass., 18. .1940. 53 NL Dovifat, Tübingen (MS).
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ligiöser Einsatz" zu sprechen. Erst nachdem Dovifat die neuen Aufgaben in dem „heldischen Kampf" der Publizistik in der Metaphorik jener Tage und mit den geforderten bzw. erwarteten zeitgenössischen Schlüsselbegriffen „Blut, Boden, Rasse" und die „zähe Selbstbesinnung auf [diese] ursprünglichen Kräfte, die uns tragen" benannt hatte, war das Terrain frei für streng sachbezogene Gedanken über die Lage der kirchlichen Zeitschriften, ihre Themen und Zielsetzungen.54 Während der Mordaktionen am 30. Juni 1934 und an den folgenden Tagen soll Dovifat gewarnt worden sein und sich in Berlin verborgen gehalten haben. Den Nationalsozialisten war er nämlich nicht allein als kritischer Redner und unabhängig Handelnder aufgefallen, sondern auch in einem Prozeß gegen einen sozialdemokratischen Journalisten und Funktionär, der im Untergrund für seine Partei im Exil tätig gewesen war.55 Dovifat kannte Klühs aus mehreren Begegnungen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre und aus der gemeinsamen verbandspolitischen Arbeit Anfang der dreißiger, die die finanzielle und rechtliche Besserstellung von Journalisten auf gesetzlichem Weg zu erreichen suchte. Der Prozeß gegen Klühs und andere, darunter dessen Schwiegersohn Fritz Neubecker und der SPD-Parteisekretär Wilhelm Krüger, ein Mitglied des preußischen Landtags, fand im Sommer 1934 vor dem Vierten Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig statt. Sie wurden des Hochverrats beschuldigt, da die Staatsanwaltschaft ihnen einen Verstoß gegen das Gesetz zur Neubildung politischer Parteien (14.VII. 1933) vorwarf. Gegen weitere Mitglieder der Gruppe um Klühs verhandelte das Berliner Kammergericht. Mit großem Mut widerrief Klühs seine ersten Aussagen im Columbia-Haus, indem er erklärte, daß sie unter psychischem Druck und durch körperliche Mißhandlung entstanden seien, „über dessen Ein54 55
Ebd., MS, S. 4.
Am 18. August 1933 hatte die Gestapo diesen Franz Klühs und wenige Tage später auch einige seiner politisch Vertrauten verhaftet. Der Drucker und spätere Journalist und Publizist Klühs war seit dem 18. Lebensjahr Mitglied der SPD, hatte zusammen mit Paul Lobe „Die Volkswacht" in Breslau redigiert und mit Paul Bader „Die Volksstimme" in Magdeburg. Nach dem Weltkrieg von 1914/18 holte ihn Friedrich Stampfer nach Berlin. Als stellvertretender Chefredakteur des „Vorwärts" trug er erheblich zur publizistischen und politischen Wirkung der Zeitung bei. Aus den zahlreichen Veröffentlichungen ragen die Broschüre — es ist eine sozialdemokratische Flugschrift des Vorwärts-Verlages (Nr. 7) — „Beamtenschaft und Sozialdemokratie. Ein Mahnwort an alle Beamte" (1911), und das Buch „Der Aufstieg. Führer durch die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung"(1921) heraus.
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zelheiten er hier lieber nicht sprechen wolle".56 In der Hauptverhandlung sagten zwei Personen zu Gunsten von Klühs aus. Es waren ein Redakteur der „Deutschen Tageszeitung" und Emil Dovifat. Beide haben die Verurteilung Klühs' nicht verhindern, aber durch ihr Eintreten für den Angeklagten doch wohl zur Reduzierung des Strafmaßes beitragen können. Neubecker sprach das Gericht am 20. Juni 1934 frei; Klühs und Krüger verurteilte es zu einer Gefängnisstrafe von jeweils zwei Jahren und neun Monaten. Davon hatten beide durch ihre lange Untersuchungshaft in Tegel bereits neun Monate verbüßt.57 Der „Völkische Beobachter" sparte in seinem einseitigen Bericht Einzelheiten aus und höhnte lediglich über dieses „Kleeblatt", das sich mit der Tatsache habe „nicht abfinden können, daß der Nationalsozialismus in Deutschland die Macht ergriffen" habe.58 Knapp zwei Jahre nach seiner Entlassung starb Klühs an den Folgen der Haft im Krankenhaus.
IV
Die akademische Lehr- und Prüfungstätigkeit Die universitäre Lehre und Forschung muß bei dem Versuch, Dovifats Verhalten klarer als bisher zu erfassen, in allen Bereichen berücksichtigt werden. Vorlesungen und Seminarveranstaltungen, die aus diesem Zusammenhang entstandenen wissenschaftlichen Vorträge und Veröffentlichungen, die Tätigkeit im Beirat für Auslandsstudien sowie die akademischen Prüfungen und Gutachten sind zwar als Einheit zu sehen, doch in ihrer Wirkungsmächtigkeit und Bedeutung zu unterschei56
Das Zentralorgan der niederländischen Sozialdemokratie, „Het Volk", berichtete über den Prozeßverlauf und die Aussagen von Klühs; hier zit. nach Fritz Neubecker, Als Hitler den „Vorwärts" verbot. Stampfers „zweiter Mann" und das Ende der Weimarer Republik. In: Vorwärts 18, 5.V. 1977, S. 29; vgl. auch die zeitgenössischen Zeitungsmeldungen in: Deutsche Freiheit am 22. Juni 1934; Neuer Vorwärts am 1. Juli 1934 und im Berliner Tageblatt 289 (21.VI.1934 [Abendausgabe], 1. Beiblatt): „Vorbereitung zum Hochverrat". 57 Marlis Buchholz/Bernd Rother (Hgg.), Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade 1933—1940 (Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 15), Bonn 1995, S. 45,Anm. 11. 58 Völkischer Beobachter (Berliner Ausgabe) 172, 21.VI. 1934: „Reichsgericht verurteilt ehemaligen Vorwärts-Redakteur", S. 2.
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den. Alle öffentlichen und schriftlichen Äußerungen sind von denen zu trennen59, die intern oder unter vier Augen vorgetragen wurden, denn die Form und der Inhalt des mit den Machthabern direkt Verhandelten enthüllten Einstellungen und Positionen ungleich deutlicher. Wenn die amtliche Kommunikation mit Verwaltungs- und Regierungsstellen des NS-Systems die von Dovifat getroffenen konfliktträchtigen Entscheidungen und Urteile betrifft, dann ergeben sich auf den verschiedenen Ebenen aufschlußreiche graduelle Abweichungen. Die ministeriellen Entscheidungen fielen für Dovifat zumeist nachteiliger aus. Bevor Dovifat mit Berufung auf das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums seine Pensionsurkunde als Professor erhielt, hatte sein Verhalten als akademischer Prüfer zu einem Eklat und einer anhaltenden Verstimmung in der Universität und im Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung geführt, dem sich noch weitere ähnlich motivierte Vorfälle anschließen sollten. In den Tagen der JuniMorde war Dovifat in die erste seiner scharfen und folgenschweren Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten geraten. Es überrascht, daß Benedikt nicht einmal den „Fall Adam" erwähnt, obwohl er zeitlich und sachlich mit dieser Versetzung in den Ruhestand ebenso direkt in Verbindung gebracht werden muß wie die Rede von Dovifat auf dem Katholikentag und ein Artikel in der Zeitschrift „Der Arbeitgeber" aus dem Jahr 1932.60 An der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin studierte Anfang der dreißiger Jahre eine jüdische Werkstudentin, Lotte Adam, im Hauptfach Zeitungswissenschaft sowie Philosophie und Germanistik in den Nebenfächern.61 Sie war Halbwaise, am 19. Juni 1908 als Tochter des Berliner Kaufmanns Semmy Adams und seiner Ehefrau Hedwig Belgrad geboren, hatte in einem Antiquariat, dann in einem Verlag, einer Klinik und schließlich in einem Anwaltsbüro gearbeitet; am Berliner Abendgymnasium hatte sie im Mai 1930 ihr Abitur nachgeholt. Ihre Absicht, die Berliner Universität zu verlassen und in Leipzig 59
Am aufschlußreichsten erwies sich die breite Überlieferung der Promotionsakten und dort besonders die Diskussion unter den fachlich oder in der akademischen Verwaltung beteiligten Wissenschaftlern (HU, UA mit den diversen, nach den Namen der Doktoranden geordneten Vorgängen). 60 Benedikt, Dovifat (wie Anm. 13), S. 12. 61 Hier und im folgenden verwerte ich auch die schriftlichen Auskünfte, die ich von der Schriftstellerin Mirjam Michaelis (geb. Lotte Adam) erhalten habe. Für die Mithilfe an der Rekonstruktion dieses Vorgangs danke ich Frau Michaelis an dieser Stelle ebenfalls herzlich.
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zu promovieren, wo die Zeitungswissenschaft den rechtlichen Status eines Promotionsfachs hatte, ließ sich nach dem Frühjahr 1933 nicht mehr ausführen, da ihr „aus rassischen Gründen" ein Universitätswechsel verwehrt wurde. Sie blieb in Berlin, studierte zusätzlich Geschichte und wählte Dovifat als Prüfer für ihr Examen. Als „Doktorvater" von Lotte Adam betreute er ihre Studien zur Geschichte der Berliner „Täglichen Rundschau". Mit ihrer Meldung wurde bekannt, daß sie bei den Professoren Kurt Breysig, Otto Dibelius, Fritz Härtung, Otto Hoetzsch, Hermann Oncken, Julius Petersen, Werner Sombart und Eduard Spranger gehört hatte, nicht jedoch bei dem von der Philosophischen Fakultät als Korreferenten vorgeschlagenen Historiker Wolfgang Windelband. Jenem kam im Verfahren die Rolle eines Kontrolleurs zu.62 Windelband hatte sich in Heidelberg für Mittlere und Neuere Geschichte habilitiert und Studien zu Bismarcks Außenpolitik vorgelegt; zusammen mit Werner Frauendienst hatte er den Briefteil der „Friedrichsruher Ausgabe" ediert. Die Nationalsozialisten beriefen ihn, den ehemaligen Personalreferenten im preußischen Kultusministerium und nunmehr ordentlichen Professor in Königsberg, in einer großangelegten „Verschiebeaktion" auf einen der Berliner Lehrstühle für Geschichte, obwohl man ihn dort für nicht ausreichend qualifiziert hielt.63 Über das Promotionsverfahren und insbesondere über Einzelheiten des Rigorosums am 19. Juli 1934 kann berichtet werden, weil Frau Adam, verheiratete Mirjam Michaelis, 56 Jahre später in Israel im Kibbuz Dalia ausfindig gemacht und schriftlich befragt werden konnte. Dovifat habe sie damals weiterhin gefördert, obwohl die Anfeindungen groß gewesen seien und die unverhüllt antisemitischen Wortbeiträge 62
Windelband nahm damit den drei Jahre zuvor eigentlich aufgehobenen Lehrstuhl Friedrich Meineckes ein; zu den Einzelheiten dieses politisch-ideologisch motivierten Berufungsverfahrens s. Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 13), Stuttgart 1966, S. 698 ff. 63 Windelband reüssierte auf Friedrich Meineckes Lehrstuhl nicht, enttäuschte damit letztlich sogar seine nationalsozialistischen Protagonisten und schied angesichts angedrohter Zwangsversetzung aus dem universitären Dienst aus. Die von ihm zeitweise erwogene Absicht, zu emigrieren, betrieb er offensichtlich so zögerlich, daß sie scheiterte. 1945 beging er Selbstmord. Vgl. dazu Wolfram Fischer et al. (Hg.), Exodus von Wissenschaftlern aus Berlin. Fragestellungen, Ergebnisse, Desiderate. Entwicklungen vor und nach 1933 (Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Forschungsbericht 7), Berlin 1994, S. 170 f.
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und Unterstellungen64 Windelbands im Rigorosum65 sie so verunsichert hätten, daß Dovifat es „nicht leicht [gehabt habe]", erinnert sie sich, „mich durch das Examen zu schleusen".66 In ihrem Studienbuch habe man ihr den gelben Stern eingedruckt. Sie war seit 1931 Mitglied des „Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller" und stand seit der Endphase der Weimarer Republik der zionistischen Bewegung so nahe, daß sie sich ihr im Jahr ihrer Promotion auch offiziell anschloß. Zwar erhielt Frau Adam von der Fakultät ihre Promotionsurkunde, doch durfte ihre Dissertation nicht wie üblich ohne Auflagen veröffentlicht, sondern lediglich in ausgewählten Bibliotheken geführt werden.67 Die Reichsschrifttumskammer teilte ihr, die seit Jahren gelegentlich auch schriftstellerisch tätig gewesen war, kurz darauf mit, daß es ihr als „Artfremde" zukünftig nicht mehr gestattet werden könne, irgendwelche literarischen Arbeiten zu veröffentlichen. 1938 konnte sie vor der Gestapo nach Palästina fliehen, weil man ihr eine Mitteilung über die bevorstehende Verhaftung vertraulich hatte zukommen lassen. Alle Manuskripte und Korrespondenz mußte sie zurücklassen; für zweieinhalb Jahrzehnte nahm der Holocaust ihr die Sprache der Dichtung. In den Wochen nach den öffentlich stark wirkenden Reden von Emil Dovifat und besonders in jenen Tagen nach der mündlichen Prüfung Lotte Adams versetzte ihn, wie bereits erwähnt, das Kultusministerium am 26. Juli 1934 aufgrund des Paragraphen 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den Ruhestand. Der Akt betraf die Professorenstelle und richtete sich damit vorrangig gegen den akademischen Lehrer, denn von dieser Maßnahme blieb seine Leitung des „Deutschen Instituts für Zeitungskunde" unberührt, da es einem eigenen Rechtsträger, der „Deutschen Gesellschaft für Zeitungswissenschaft", unterstand. Dovifat war in erster Linie wegen seines Ethos als akademi64
Windelband hatte behauptet, die Kandidatin sei nicht ausreichend auf die Rolle des Herausgebers und Antisemiten Friedrich Lange — vgl. sein Buch „Reines Deutschtum" (Berlin 1893) — eingegangen. Dieser Vorwurf ist unzutreffend, denn das 5. Kapitel befaßt sich ausschließlich mit Langes Tätigkeit. 65 Dovifat urteilte: „gutes Wissen, klarer Überblick"; Windelband bewertete die mündlichen Leistungen lediglich mit „knapp genügend" (zusammengezogen zu „rite"). Windelband hatte bereits die Note der Arbeit auf „idoneum" herabgesetzt (HU, UA, Prom. Phil., 763 [Adam]). 66 Brief an den Vf. (B.S.) vom 15. Juli 1990 (s.o. Anm. 61). 67 In der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz findet sich ein Exemplar (Signatur: Berlin 1934, phil. Diss. Adam).
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scher Lehrer in Mißkredit geraten. Die Akten und die von Dovifat verfaßten gutachtlichen Urteile im Promotionsverfahren Adam hatten der Universität, dem Ministerium und der Partei ein beredtes Zeugnis abgegeben. Welche Personen im Kultus- und Propagandaministerium oder außerhalb der Regierung Dovifats Entfernung im Juli erfolgreich betrieben haben, ist nicht zweifelsfrei bekannt, doch lassen die Akten und die mündliche Überlieferung ein Urteil über die damalige und in der Folgezeit noch wachsende relativ breite Front der Dovifat-Gegner zu. Die Kollegen und überzeugten Nationalsozialisten, Hans Amandus Münster, Institutsdirektor in Leipzig, und Adolf Dresler (München), gehörten ebenso dazu wie die Führung der Nationalsozialistischen Studentenschaft in Berlin, der Staatssekretär Walther Funk im Reichspropagandaministerium und der Präsident der Reichspressekammer Max Amann.68 Für den Reichsverband der deutschen Presse fertigte der in der spektakulären Jahresversammlung von 1933 zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählte Hauptmann a.D. Wilhelm Weiß ein negatives Gutachten an. Weiß erinnerte ausdrücklich an Dovifats Eintreten für die jüdischen und marxistischen Verbandsmitglieder und bezweifelte, ob Dovifat zu der nötigen radikalen geistigen Neuorientierung überhaupt fähig sei, die man von einem akademischen Lehrer verlangen müsse. Trotz des konstatierten pädagogischen Talents und des „ungeheuren Wissens in zeitungsgeschichtlicher und zeitungskundlicher Beziehung" schien es Weiß auf die Dauer „kaum tragbar, daß eine für die geistige und politische Schulung des journalistischen Nachwuchses so ungemein wichtige Professur von einem Mann ausgeübt wird, der weltanschaulich nicht in unserem Lager steht".69 Dovifat wurde bespitzelt, das Reichssicherheitshauptamt fertigte Berichte über ihn an, und die Gestapo lud ihn wiederholt vor — es hatte häufiger Denunzierungen gegeben — obwohl er sich nach seiner Wiederberufung wenigstens in seinen Lehrveranstaltungen zurückhaltender („mit gebotener Vorsicht und jesuitischer Geschicklichkeit") betätigt haben soll.70 In den Augen der Überwacher verhielt sich Dovifat aber 68
Benedikt, Dovifat (wie Anm. 13), S. 132—135. Zitiert nach Rudolf Schottlaender, Verfolgte Berliner Wissenschaft, Berlin 1988, S. 83. 70 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 13), S. 14 f. und S. 129, zur Camouflage in seinen Vorlesungen; s. auch Hans Borgelt, Der lange Weg nach Berlin. Eine Jugend in schwieriger Zeit, Berlin 1991, insbes. S. 323—344. — Die Urteile über Doktoranden, die sich in Darstellung und Wertung nationalsozialistischen Vorstellungen näherten, 69
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keineswegs angemessen. Wiederum gab ein akademischer Schüler den Anlaß für ein ministerielles Vorgehen gegen ihn. Seinen 1937 „rassischer Gründe wegen" aus der Greifswalder Privatdozentur entlassenen Schüler Hans Traub beschäftigte Dovifat weiterhin im Berliner Institut für Zeitungswissenschaft („UFA-Lehrschau"). Die gesamte deutsche Fachpresse verschwieg den Tod Traubs im Jahr 1943; Dovifat gelang es jedoch, ein Jahr später einen Nachruf zu publizieren, in dem er unerschrocken die wissenschaftlichen Verdienste und die Persönlichkeit des Verstorbenen rühmte.71 Noch während des Weltkrieges von 1939—45 erreichte es Dovifat, daß einem jüdischen Kommilitonen das Studium in Berlin gestattet wurde, wie aus dessen eidesstattlicher Erklärung hervorgeht.72 Das Kultusministerium fühlte sich wegen des bis in die Auslandspresse reichenden negativen Echos auf die Versetzung von Dovifat in den Ruhestand, wegen der verdeckt-positiv formulierten Kommentare in der gelenkten deutschen Tagespublizistik73 und besonders wegen des ähnlich fielen unzweideutig aus. Es sei hier lediglich aus dem Verfahren Heinz Schmoll („Die Kunstbetrachtung in der Tageszeitung als volkserzieherisches Mittel", 1941) und Hans Kettelhake („Pazifistische Bestrebungen im Deutschland des ersten Weltkrieges", 1941) zitiert. Dovifat rügte an Kettelhakes Darstellung die „allzu propagandistisch geprägten Urteile" (HU, UA, Prom. Phil. 935) und an Schmolls, daß er einer Erläuterung seines „aktiv-politischen" Maßstabs in der Kunstbeurteilung schuldig bleibe. Für die Ablehnung „an sich grosser Künstlerpersönlichkeiten" — und hier führt Dovifat ausdrücklich die von den Nationalsozialisten diffamierten Ernst Barlach und Käthe Kollwitz an — genüge das subjektive Urteil nicht (HU, UA, Prom. Phil. 923). 71 Emil Dovifat, Erinnerung an Hans Traub. In: Zeitungswissenschaft 19 (1944), S. 275 f.: „Kennzeichen seiner geistigen Persönlichkeit war eine unbeirrbare Wahrhaftigkeit in Forschung und Lehre und ein eiserner Fleiß, auch die undankbarste Kleinarbeit gewissenhaft zu leisten, beides unerläßliche Voraussetzungen, die schweren Tore wahrer wissenschaftlicher Erkenntnis aufzustoßen." 72 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem (im folgenden: GStAPrK), NL Dovifat; notariell beglaubigte Kopie. 73 Aus den Artikeln des „Berliner Tageblatts" und der „Frankfurter Zeitung" lassen sich die Würdigung der Persönlichkeit („vorbildliche Sachlichkeit und [...] Idealismus"), die uneingeschränkte Zustimmung der beiden anonymen Kommentatoren zu dem von Dovifat gezeichneten Bild eines Journalisten und eines sich auf „Sauberkeit und Verantwortungsbewusstsein" gründenden Journalismus unschwer herauslesen: „so leitete ihn auch bei seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen eine hohe Auffassung von den Aufgaben der Presse und ihrer kulturellen Bedeutung". Daß damit auf die Ethik- und Moralvorstellungen der Weimarer Republik verwiesen werden sollte, signalisierten damals dem aufmerksamen Leser bereits die überholten, verpönten und der „Systemzeit" zugerechneten Begriffe „Journalist" und Journalismus",
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breit vorgetragenen öffentlichen Plädoyers für eine Wiedereinstellung so unter Druck gesetzt, daß es am 26. September 1934 die „Entlassung", wie der zuständigen Ministerialdirektor Theodor Vahlen juristisch nicht korrekt formulierte, rückgängig machte. Vahlen fügte seiner Entscheidung jedoch den Satz hinzu, daß die „Lehrtätigkeit des D. [...] durch einen entschiedenen Nationalsozialisten zu ergänzen [sei]. Vielleicht Lüdde[c]ke, Grelle".74 Die Skepsis der Machthaber gegenüber Dovifat war übrigens so groß, daß das Ministerium beide in Berlin plazierte. Ob Dovifat sich in den Monaten nach seiner Reaktivierung vom 4. Oktober 1934 und dem Abschluß der Promotion von Frau Adam dreizehn Tage später in seinen akademischen Prüfungen und Gutachten vorerst stärker zurückgehalten hat, läßt sich nicht feststellen. Aus dem Bereich der Examina unterhalb der Promotionsebene oder aus der Vorlesungs- und Seminartätigkeit sind jedenfalls keine derartigen Vorgänge überliefert. Der nächste „Fall" betraf wieder ein Promotionsverfahren. Zwei Jahre nach seiner jüdischen Doktorandin Adam geriet Dovifat mit den strenggläubigen Nationalsozialisten innerhalb der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität und mit denen im Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Konflikt. Doch dieses Mal ging es nicht um einen jüdischen Studenten und auch nicht lediglich darum, Dovifat einen linientreuen Kollegen als Kontrolleur zur Seite zu geben, sondern um das unverhohlene Ziel der Nationalsozialisten, ein eklatantes Versagen als akademischer Lehrer mit der Feststellung zu enthüllen, daß er nicht einmal in der Lage sei, wie es in einem der Gutachten hieß, seinen Schülern „die rechte Anleitung" angedeihen zu lassen.75 Parallel hierzu machte sich selbst die Universitätsleitung erste, noch unverbindliche Gedanken über eine Versetzung von Dovifat — ein Hinweis findet sich unter dem 3. Juni 1936 in der Personalakte —; etwas später fragte der zuständige Staatssekretär im Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Walther Funk, nach der Verwendung Dovifats (2.X. 1936); und kurz danach notierte die Personalstelle der Universität
denn beide waren längst von der NS-Terminologie des „Schriftleitergesetzes" abgelöst worden. Im einzelnen vgl. BT 398, 24.VIII. 1934, und FZ 428/429, 24.Vffl.1934; jeweils unter dem Titel: „Professor Dovifat in den Ruhestand versetzt". 74 Schottlaender, Wissenschaft (wie Anm. 69), S. 83. 75 Alfred Baeumler, Gutachten o.D. [31.VII.1937]. In: BA/P Rep. 49.01, Nr. 1295, unfol.
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lapidar das von allen gemeinsam angestrebte Ziel: Zurückdrängung und Isolierung von Dovifat.76 Dovifat hatte seinem Schüler Wilmont — in den Akten gelegentlich: Wilhelm — Haacke das damals nicht unverfängliche Thema „Geschichte der Deutschen Rundschau" zur Bearbeitung vorgeschlagen. Für die Nationalsozialisten waren diese Zeitschrift, ihr Verleger und Herausgeber, die meisten der Autoren und das Programm des Organs „typische Produkte" des Judentums, eines „zersetzenden" Intellektualismus und der „liberalistischen" Presse.77 Als Haacke seine Doktorarbeit der Philosophischen Fakultät am Ende des Wintersemesters 1935/36 einreichte, konnte er nicht ahnen, wie spät und unter welch außergewöhnlichen Bedingungen ihm der begehrte Titel schließlich (31. Juli 1937) zuerkannt werden würde. Emil Dovifat und der Germanist Julius Petersen verfaßten die beiden erforderlichen Fachgutachten; sie legten übereinstimmend das Prädikat „sehr gut" fest, und die Fakultät nahm daher die Arbeit als Dissertation an. Am 2. April prüften Dovifat, Petersen und der Verfassungshistoriker Fritz Härtung den Kandidaten erfolgreich, so daß der Dekan den Promotionstermin auf den 29. Oktober 1936 festlegte, zu dem das Verfahren mit der Drucklegung der Untersuchung hätte abgeschlossen werden können. Doch hielten eine „Stellungnahme?] zu der Dissertation", ein „Gutachten" und die „ausführliche Rezension" des Direktors des Instituts für politische Pädagogik an der Universität Berlin den Vorgang auf und drohten, ihn scheitern zu lassen.78 Der Philosoph, Erziehungswissenschaftler und politische Schriftsteller Alfred Baeumler (1887—1968) war von den Nationalsozialisten in dieses Amt befördert worden. Als pädagogischer Chefideologe neben Baidur von Schirach und Ernst Krieck identifizierte er sich mit den erziehungstheoretischen und politischen Zielen der Nationalsozialisten in hohem Maß, nahm mit großer Akribie seine inoffizielle Wächterrolle in der Philosophischen Fakultät wahr und versuchte, durch Berichte und Gutachten an den Minister Bernhard Rust von außen auf die Universität Einfluß zu nehmen, wenn ihm die von den Machthabern favorisierte diskretere Verhinde-
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Der Appell lautete am 19. Oktober 1936: „Einschränkung des Einflusses D.'s". — Zit. nach Benedikt, Dovifat (wie Anm. 13), S. 12 ff. 77 Meyers Lexikon nennt in seiner achten Auflage (der „braune Meyer") Rodenberg einen „Repräsentanten eines seichten Modeliberalismus" (Bd. 9, Leipzig 1942, S. 475). 78 BA/P Rep. 49.01, Nr. 1295.
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rung mißliebiger Verfahren im Vorfeld oder auch eine direkte Intervention mißlungen waren79. Das Promotionsverfahren Haacke verstieß nach Baeumlers Meinung entschieden gegen den „neuen Geist" und die Werte des jungen „Zeitalters der politischen Schule".80 Die Gutachten von Dovifat und Petersen schienen ihm auf eine unerträgliche Weise einem überholten bürgerlichliberalen Konzept verpflichtet zu sein. Baeumler war erst spät Parteigenosse geworden; er zählte zu den „Märzhasen". Der nach Berlin Berufene, ein Vertrauter Alfred Rosenbergs, hatte am 30. April 1933, 46jährig, das Parteibuch der NSDAP erhalten. In seiner überfüllten Antrittsvorlesung rechtfertigte er am 10. Mai 1933 die Bücherverbrennung auf dem Opernplatz. Anschließend marschierte er mit seinen begeisterten Studenten — die meisten von ihnen in SA-Uniform — dorthin, um in die Tat umzusetzen, was er für die Reinigung des Volkskörpers von Giftstoffen hielt: „Der politische Gegner ist kein Ketzer, ihm stellen wir uns im Kampfe, er wird der Ehre des Kampfes teilhaftig. Was wir heute von uns abtun, sind Giftstoffe, die sich in der Zeit einer falschen Duldung angesammelt haben. Es ist unsere Aufgabe, den deutschen Geist in uns so mächtig werden zu lassen, daß sich solche Stoffe nicht mehr ansammeln können." Baeumler führte seinen Kampf sowohl in der Universität als auch von einer Parteidienststelle aus.81 Im „Amt Rosenberg", das für die weltanschauliche Überwachung und Schulung der Partei verantwortlich zeichnete, leitete er von 1934 an die Abteilung Wissenschaft.82 Eine Kritik Baeumlers zählte im „Amt" sehr viel. Seine Bedenken hielten Verfahren auf und senkten Noten ab; seine Negativ-Urteile verhinderten in der Regel Promotionen und Habilitationen. Gegen Dovifat und seinen Doktoranden Haacke fuhr Baeumler deshalb die stärksten weltanschaulichen, politischen und wissenschaftlichen Geschütze auf, weil sie 79
Vgl. Hermann Giesecke, Hitlers Pädagogen. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung, Weinheim 1993. 80 Alfred Baeumler, Politik und Erziehung, Berlin 1937, S. 76. 81 Die heroischen Männerbünde Spartas und Thebens standen ihm dabei vor Augen: „Weil der Deutsche wesentlich kriegerischer Natur ist, weil er Mann ist, weil er für die Freundschaft geboren ist, deshalb kann die Demokratie, die in ihrer letzten Konsequenz dazu führt, daß Weiber über Männer richten dürfen, niemals in Deutschland gedeihen" (Alfred Baeumler, Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1934, S. 39). 82 Jan-Pieter Barbian, Literaturpolitik im „Dritten Reich". Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder (dtv-Taschenbuch 4668), München 1995 (überarb. Ausgabe), S. 270 ff.
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das Negativbild zu der von den Nationalsozialisten propagierten kämpferischen Wissenschaft abgaben und er ihre derartig unverhüllt auftretende politische „Ignoranz" für überlebt gehalten hatte. Zeitungswissenschaft sollte im NS-Staat wie Geschichte oder Jura als politisches Fach angesehen und präsentiert werden; ein Uninteressierter am neuen Staat wie Dovifat durfte es nicht kühl und sachlich im Sinn des Objektivitätsideals betreiben. Baeumlers Bericht83 an das Ministerium fiel schärfer aus als seine zweite Äußerung, und es wurde deshalb ein doppelt so langes Gutachten84: Die Dissertation, erklärte er nunmehr, bewundere kritiklos das Lebenswerk eines Juden („mit Liebe und Wärme"). Sie kennzeichne die zahlreichen Juden, Halbjuden und sonstigen Judenstämmlinge im Mitarbeiterstab Rodenbergs nicht ausdrücklich als „Juden", berühre nur an einem Punkt die Judenfrage und dann auch nur flüchtig sowie zu Gunsten Rodenbergs. Haackes Urteile über die großen politischen Zusammenhänge seien schief und unzulänglich. In seiner Untersuchung bleibe die typische Kaiser-Friedrich-Schwärmerei der Liberalen unwidersprochen, falle kein Wort zu Gunsten Bismarcks in der sog. GeffckenAffäre, und in der Darstellung gebe Haacke falsche Kronzeugen für den nationalsozialistischen Kurs in der Geschichte an.85 Baeumlers Resümee über die wissenschaftliche Gesamtleistung Haakkes lautet in der Gutachten-Fassung dementsprechend: „Die ganze Arbeit ist so geschrieben, als gäbe es in der deutschen Literatur und Politik des 19. Jahrhunderts kein Judenproblem. Dem Verfasser fehlt völlig das Bewusstsein der Distanz zu der von ihm geschilderten Epoche. Er urteilt, als wenn seitdem kein entscheidender Einschnitt erfolgt wäre. Das zeigt er nicht nur in der kritiklosen Verherrlichung Rodenbergs, sondern auch in dem vorbehaltlosen Lob der geistigen Kultur dieser Epoche. Ja der Verfasser macht den Ver83
Am 8. Februar 1937 sandte Baeumler dem Dekan der Philosophischen Fakultät eine „Stellungnahme?] zu der Dissertation" (es ist unklar, welches Schriftstück damit gemeint ist) und eine „ausführliche Rezension" mit der Bitte, die Schriftstücke an den Kultusminister Rust weiterzuleiten; über die ausführliche Fassung ist dank einer handschriftlichen Marginalie bekannt, daß sie erst am 31. Juli 1937 an den Minister ging84 BA/P Rep. 49.01, Nr. 1295, unfol.: Gutachten [...] (wie Anm. 75). 85 Paraphrasiert nach der ausführlichen neunseitigen Fassung der Kritik Baeumlers, in der Belegstellen gehäuft werden und eine Stellungnahme zu den Beurteilungen von Dovifat und Petersen fehlt.
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such, über das zweite und das dritte Reich hinweg eine einheitliche geistige Linie zu konstruieren.[...] Der Nationalsozialismus hat (nach unserer Überzeugung86) die grosse Aufgabe gelöst, das deutsche Volk aus tiefster Erkenntnis der deutschen Vergangenheit in eine neue Zukunft hinüberzuführen. Nach Meinung Haackes hat die Deutsche Rundschau dieselbe Aufgabe gelöst, aus der Vergangenheit in die Zukunft zu führen. Er spricht ihr den gleichen politischen Weg zu wie der nationalsozialistischen Bewegung. Eine Arbeit, die in den Grundlagen so entscheidend vor der nationalsozialistischen Weltanschauung versagt, kann nicht als Dissertation gedruckt werden."
Nicht minder entschieden und scharf ablehnend äußerte sich Baeumler über Dovifat als Wissenschaftler und „Volksgenossen", über sein angebliches Versagen als akademischer Lehrer und Betreuer der Dissertation, über seine Fehlurteile in seinem Gutachten zur Geschichte der Deutschen Rundschau und zu Julius Rodenberg sowie über seine mangelnde Aufgeschlossenheit für politisch-ideologische Fragestellungen und Beurteilungskategorien im Sinn der Herausforderungen des neuen Zeitalters. Denn für Baeumler kam der Universität als vornehmste Aufgabe die Bildung eines „politischen Menschen" zu, der an die Stelle des neuhumanistischen Bildes vom Menschen zu treten habe. Nationalsozialismus bedeute „die Ersetzung des Gebildeten durch den Typus des Soldaten" (so im Jahr 1934).87 In seinen gutachtlichen Äußerungen über Haacke resümiert Baeumler seine Kritik an Dovifat mit den Sätzen: „Der Hauptreferent, Professor Dovifat, stellt zustimmend fest, daß Julius Rodenberg von Haacke als ,das Vorbild eines Herausgebers' dargestellt ist. Diese formale Einschätzung Rodenbergs beweist, daß der Referent vom Weltanschaulichen völlig absieht. Die von Haacke über das zweite und dritte Reich hinweg konstruierte Kontinuität wird vom Referenten besonders unterstrichen: .Indem aber der Verfasser die Jahre des Niedergangs seiner Zeitschrift bis zu ihrem Wiederaufblühen heute begleitet und zeigt, wie durch Moeller van den Brück und andere auch die Gedanken der neuen Zukunft sich durchsetzen, wird der Anschluss an unsere Tage doch gefunden, und ihre 86 87
Nachträgliche handschriftliche Einfügung in das Typoskript. Giesecke, Pädagogen (wie Anm. 79), S. 90.
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überlieferten Leistungen rücken in ein neues Licht/ In restloser sachlicher Zustimmung zu der Darstellung der Zeitschrift durch den Verfasser schlägt der Referent das Prädikat ,Sehr gut' vor. Der Korreferent, Professor Petersen, tritt dem hohen Prädikat ohne Einschränkung bei. Aus der Arbeit lässt sich entnehmen, dass der Verfasser ein befähigter Mann und kein böswilliger Gegner des Nationalsozialismus ist. Ohne die rechte Anleitung von seinen Lehrern zu empfangen, hat er seinen Enthusiasmus dem falschen Gegenstande zugewendet."88 Auch im Fall Haacke zeigte sich der Kultusminister Baeumlers abweichendem Votum gegenüber aufgeschlossen.89 Am 26. April 1937 schrieb er dem Rektor, daß er die Dissertation und die beigegebenen Akten geprüft habe, die Leistung mit dem gleichen negativen Votum wie Baeumler beurteile („dem ich mich voll inhaltlich anschließe") und deshalb mit Befremden feststellen müsse, „daß die Falkultät die Arbeit als Dissertation anerkannt hat. Da zu einer Rückgängigmachung leider eine rechtliche Handhabe fehlt, kann die Ablehnung der Druckerlaubnis nicht dazu führen, die bisherige Prüfung aufzuheben und von dem, wenn auch nicht schuldlosen, Kandidaten eine neue Arbeit zu fordern. Die Promotion muß daher leider vollzogen werden." Der Minister schloß seinen Brief an das Rektorat mit dem unmißverständlichen Hinweis, daß er derartige Fälle nicht mehr zu erleben wünsche: „Ich behalte mir jedoch vor, die Professoren Dr. Dovifat und Dr. Petersen sowie den zuständigen Dekan zur Verantwortung zu ziehen."90 Diese deutlichen Mißfallensbekundungen aus dem Erziehungsministerium verunsicherten das Rektorat der Universität und führten zu ei88
Gutachten Baeumlers zu Haacke (wie Anm. 75). Parallel zu den Auseinandersetzungen über die Dissertation Haackes verliefen weitere zwischen Dovifat und Baeumler über die von Hans-Hermann Schwalbe („Die Grundlagen für die publizistische Bedeutung der Karikatur in Deutschland"). Die beiden Gutachter, Dovifat und Finder, hauen die Arbeit wegen ihres „sicheren und selbständigen Urteil[s]" mit „gut" benotet, das Gegengutachten Baeumlers testierte dem Kandidaten „eine peinliche Halbbildung", „politische Richtungslosigkeit" und die Haltung eines „historischen Dilettanten" und erregte sich darüber, daß Schwalbe, der seine Ansichten mit Zitaten aus „Werken des Führers" belegte, es an politischem Instinkt habe mangeln lassen. Erst nach entsprechenden Korrekturen ließ Baeumler den Fortgang des Verfahrens zu (HU, UA, Prom. Phil. 850). 90 BA/P Rep. 49.01, Nr. 1295. 89
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nem ungewöhnlichen weiteren Vorgehen. Dovifat und Petersen, aber auch der zuständige Dekan, der Direktor des Mathematischen Seminars, Prof. Dr. Ludwig Bieberbach, wurden von dem damals noch stellvertretenden Rektor und derzeitigen Direktor des Historischen Seminars, Willy Hoppe, einem völkisch gesinnten, wissenschaftlich nicht bedeutenden Landeshistoriker („Märkische Geschichte")91, am 29. April 1937 in so scharfer Form zu einer Erläuterung ihrer Gutachten und ihres Vorgehens angehalten, daß der Dekan um eine umfassende Untersuchung des aus seiner Sicht korrekt verlaufenen Vorgangs und einer entsprechenden ausdrücklichen Bestätigung seines pflichtgemäßen und sorgfältigen Handelns bat. Während Bieberbach nur den ordnungsgemäßen Verlauf — Eröffnung am 19. Februar, Eingang der Gutachten am 30. März — bestätigte und erklärte, daß er „bestimmt eine weitere Begutachtung veranlasst haben würde, wenn ich irgend welchen Verdacht bei der Meldung des Kandidaten geschöpft hätte", trieb das Rektorat das Verfahren inhaltlich voran. Es fällt auf, daß wiederum nicht der Rektor selbst, der Direktor für Veterinär-Anatomie, Prof. Dr. Wilhelm Krüger, sondern der Nationalsozialist Hoppe tätig wurde.92 Doch das Rektorat beachtete einen zweiten Hinweis Bieberbachs ungleich stärker. In seinem Brief wies er auf Baeumlers Versäumnis hin, zuvor der Fakultät seinen beim Ministerium angemeldeten Einspruch vorzulegen, denn hätte sich jener, so folgerte Bieberbach zu Recht, das ihm zustehende Einspruchsrecht auf der Fakultätsebene zur Pflicht gemacht, so wäre die Universität gar nicht in diese Lage geraten, da doch Baeumler in der Vergangenheit auch ihm gegenüber wiederholt mündlich zugesagt habe, „er werde sich regelmässig um die für ihn in Betracht kommenden Arbeiten kümmern".93 Der Zweitgutachter Petersen legte dem Rektorat zuerst seinen Bericht vor. In ihm beschränkte er sich auf die Feststellungen, daß die Dissertation primär eine zeitungswissenschaftliche Untersuchung darstelle, daß der Verfasser die literarhistorische Bedeutung der „Deutschen Rundschau" richtig — „mit unvoreingenommener Kritik" — erkannt und er als Gutachter keine „Tendenz" zu bemerken vermocht habe. In der offenkundigen Absicht, dem in die Krise geratenen Verfahren durch eine 91
Fischer, Exodus (wie Anm. 63), S. 175 f. Alle diesbezüglichen Personalangaben nach: Amtliches Personenverzeichnis der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für das Rektoratsjahr 1936/37, Berlin o.J.; Universität Berlin. Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Sommersemester 1936, Berlin o.J.; sowie die nachfolgenden Jahrgänge der beiden Veröffentlichungen. 93 BA/P 49.01, Nr. 1295, unfol.: Brief Bieberbachs an den Rektor, 3.V.1937. 92
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sachlich-verbale Anlehnung an den nationalsozialistischen politischen Jargon wenigstens eine kleine Unterstützung zu geben, hatte Petersen den Satz eingeflochten: „Die nationale Aufbauarbeit im Gege[nsatz] zur Systemrepublik und in Bereitschaft zur Mitarbeit im Dr[itten] Reich wird hervorgehoben."94 Dovifat ging in ähnlich hilfreicher Absicht bei seiner Berichterstattung vor, tat aber noch einen zusätzlichen Schritt auf die Machthaber zu: nicht damit, daß er einen „Heil Hitler!"-Gruß an den Schluß setzte, denn damit bediente er sich lediglich einer kalmierenden Konvention, sondern mit seiner inhaltlichen Replik auf den Vorwurf, Haacke habe keine Sensibilität gegenüber der Juden-Thematik gezeigt. Der Doktorand habe die publizistische Technik der Zeitschrift anschaulich herausgearbeitet und dabei — und hier argumentierte Dovifat mit der nationalsozialistischen Terminologie — die „entschiedene Abgrenzung von der radikalen politisch und kritisch zersetzenden Arbeit" des größeren Teils des Judentums nachgewiesen. Dovifat nahm jedoch von seinem positiven Urteil nichts zurück und betonte vielmehr unbeirrt, daß der Kreis um die „Deutsche Rundschau" „die besten deutschen Namen dieser Zeit umfasste." Über diese thematische Ebene führt die darauf folgende Bemerkung hinaus. Mit ihr verweist Dovifat auf den drohenden Verlust der Wissenschaftlichkeit bzw. auf die vom Regime beabsichtigte Politisierung und Ideologisierung historischer Forschung: „Die Tatsache, dass der erste Herausgeber Jude war, ist zwar nicht zu übersehen, tritt aber aus der historischen Darstellung heraus zurück."95 Dovifat lehnte es konsequent ab, den nationalsozialistischen Begriff „Jude" in die Darstellung der „Deutschen Rundschau" mit einzubeziehen, weil er ihn weder für adäquat in einer historischen Untersuchung noch für die Beurteilung der Leistung Haackes hielt, denn Billigung und Übernahme dieser Terminologie mußten sich wissenschaftsfeindlich auswirken.96 Der Minister Rust weigerte sich aus der klaren Erkenntnis der Grundsätzlichkeit und damit der Gefährlichkeit der Argumentation von Dovifat, dessen Maßstäbe und Beurteilungskriterien zu akzeptieren oder 94
BA/P 49.01, Nr. 1295, unfol.: Berichterstattung Petersens an das Rektorat der Friedrich-Wilhelms-Universität, 22.V. 1937. 95 BA/P 49.01, Nr. 1295, unfol.: Berichterstattung von Dovifat an das Rektorat der Friedrich-Wilhelms-Universität, 25.V. 1937. 96 Zu dieser Thematik vgl. Ernst Nolte, Zur Typologie des Verhaltens der Hochschullehrer im Dritten Reich. In: ders., Marxismus, Faschismus, Kalter Krieg. Vortrage und Aufsätze 1964—1976, Stuttgart 1977, S. 136—152.
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überhaupt auf das ihnen zu Grunde liegende Wissenschaftsverständnis näher einzugehen. Mit der unbefangenen Bearbeitung von Forschungslücken im Stil der Schüler von Dovifat, mit der sachlichen Auseinandersetzung über Irrtümer oder Vorurteile und mit der unbestechlichen Analyse von Ursachen, Entscheidungsprozessen und Wirkungen mußte es im neuen Staat ein Ende haben. Der auf die uneingeschränkte Fortwirkung dieser wissenschaftlichen Standards beharrende Dovifat erschien unter diesem Aspekt quer- oder starrköpfig, zumindest aber antiquiert und lästig. In dem abschließenden Vermerk seines Ministeriums zum Verfahren heißt es deshalb auch: „Der Mangel [an Sorgfalt im Gutachterverfahren] liegt vielmehr zu tief, um ihn im Einzelfall disziplinarisch erfassen zu können: es ist ein Mangel an Spürsinn gegenüber den Einbruchstellen liberalistischer Denkungsweise im Gebäude nationalsozialistischer Gesamtauffassung. Dieser Mangel, in den bekanntermaßen unsere älteren Hochschullehrer aus Furcht vor der entgegengesetzten Gefahr, der Nichtachtung von Tatsachen aus dogmatischen Gründen, selbst bei bestem Willen allzuleicht verfallen, berührt die Frage nach geeignetem Hochschullehrernachwuchs. "97 Ministerium und Universität zwangen Dovifat die Zusicherung ab, die beanstandete Untersuchung Haackes bei den Akten zu belassen. Die Promotion wurde zwar offiziell vollzogen, aber der Kandidat hatte sich unter Eid schriftlich zu verpflichten, die Dissertation nicht, wie es die Ordnung vorsah, zum Druck zu geben.98 Damit war Haacke eine wissenschaftliche Karriere nicht mehr möglich. Universität und Erziehungsministerium blieben in den folgenden Jahren bei ihrer entschieden ablehnenden Haltung. Der von Haacke am 20. Juli 1939 unternommene Versuch, mit einem „Gesuch um Genehmigung zur Umarbeitung" eine Revision der Entscheidungen von 1936/37 zu erreichen, scheiterte gründlich, weil beide Institutionen sich weiterhin auf das vernichtende Urteil Baeumlers im Verfahren von 1937 beriefen und dessen später eingenommenen, moderateren Haltung keine aufhebende Bedeutung beimessen wollten. „Wenn Herr Bäumler [sie] seinen Standpunkt ändert, so ist mir das völlig unverständlich", schrieb der Dekan der Philosophischen Fakultät, der Philologe Prof. Dr. Franz Koch, Direktor des Ger97
BA/P 49.01, Nr. 1295, unfol.: Vermerk des Sachbearbeiters Prof. Harmjanz, 25.X.1937. 98 Diese Versicherung ging laut Personalakte Haackes am 17. Juni 1937 im Rektorat ein.
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manischen Seminars, mit ausdrücklicher Zustimmung des nunmehr sogar zum Rektor „aufgestiegenen" Hoppe an den Erziehungsminister und fügte hinzu, daß es nicht um Einzelheiten der Beurteilung gehen könne, sondern vielmehr darum, die „Arbeit in ihrer Tendenz zu mißbilligen" und deshalb ihre Veröffentlichung zu verhindern." Kurz darauf zeigte sich im Promotionsverfahren Willibald Dreschers, wie eifrige Nationalsozialisten auch in einer Untersuchung zum „Sport im deutschen Rundfunk" die Arbeit „zersetzender Kräfte am deutschen Volkskörper entlarven" können. Dovifat hatte als Zweitgutachter den Direktor des Berliner Hochschulinstituts für Leibesübungen, Karl Krümmel, seit 1936 Herausgeber der Fachzeitschriften „Archiv für Körpererziehung" und „Athletik"100, zur Seite, der jedoch seine gute Beurteilung nicht akzeptierte und lediglich für „genügend" plädierte, weil er die „liberalistischen" Wertmaßstäbe des Kandidaten ablehnte sowie einer Politisierung der Universität und Wissenschaft das Wort redete. Im gedanklich-ideologischen Einklang mit Goebbels kritisierte Krümmel die Dissertation und ihren Betreuer grundsätzlich und im Ton der Macht: „Der Sport als .Überwindung aller sozialen Gegensätze' (S. 2) ist ein Schlagwort aus der Zeit des Liberalismus, das der politischen Bedeutung des Sports nicht gerecht wird. Ebenso gehört die vom Verfasser an verschiedenen Stellen vorgetragene Auffassung von den Olympischen Spielen als .Völkerversöhnung' in den Kreis der liberalistischen Ideologien, während die Beteiligung des nationalsozialistischen Deutschland an diesen Spielen keinen anderen Sinn hatte, als dem Volke ein erhöhtes Bewußtsein seiner selbst zu geben. Die vom Verfasser gebrachten Tatsachen sind politisch nicht genügend ausgewertet [...]."101 Doch weder von der Attacke seines Zweitgutachters Krümmel noch von den weitaus schwerwiegenderen Zusammenstößen mit Baeumler und ihren Folgen ließ Dovifat sich mundtot machen, wenn es um die Arbeiten seiner Schüler ging. Im selben Jahr vergab er ein ähnlich politisch brisantes Thema, nämlich zur liberalen Pressefreiheit.102 Aus den siebenundfünfzig überprüften Konvoluten von Promotionsvorgängen der Jahre 1936 bis 1945 können mehrere derartige Fälle rekonstruiert 99
BA/P 49.01, Nr. 1295, unfol.: Brief des Dekans an den Erziehungsminister, 20.X. 1939 (am 23. Oktober vom Rektor zustimmend weitergereicht). 100 Krümmel veröffentlichte 1937 „Die Welt der Sporthochschulen". 101 HU, UA, Prom. Phil. 921. 102 Ygi cJazu Jig Akten zum Verfahren Gerhard Meissner („Die liberale Pressefreiheit Englands im Lichte englischer Kritik", 1939) in HU, UA, Prom. Phil. 899.
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werden; es muß aber aufgrund der desolaten Überlieferungslage offenbleiben, in welchem Umfang Dovifat in seinen Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Machthabern außerhalb der Promotionen noch tätig geworden und geblieben ist. Am 14. Mai 1938 richtete der Student Rudolf Semler über Dekan und Rektor der Universität an den Minister Rust das Gesuch, bei Dovifat eine Dissertation über das Thema „Die Radikalsozialisten und ihre Presse" vorlegen zu dürfen, für die er die Vorarbeiten so gut wie abgeschlossen habe. Zur Eröffnung des Verfahrens mangelte es bei ihm lediglich am Nachweis des Latinums. Dovifat hatte sich für den Kandidaten nachdrücklich eingesetzt, die Qualität der Arbeit und ausdrücklich die „Würde" der Person hervorgehoben sowie die Richtigkeit der eingereichten ausführlichen Begründung in allen Punkten bestätigt. Das Ministerium kam Dovifat bei einem derartigen Gesuch minderen Ranges nicht entgegen und lehnte knapp einen halben Monat später die Bitte unverbindlich und kühl ab.103 Im September/Oktober desselben Jahres machte Minister Rust einen anderen minder bedeutenden Vorstoß von Dovifat zunichte, als er dessen erfolgreichem Doktoranden Franz Bachmann nicht gestattete, seine Dissertation über „Die Verfallserscheinungen im Anzeigenteil Berliner Tageszeitungen der Nachkriegszeit 1919—1933" drucken zu lassen und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er gestattete dem Dovifat-Schüler auch nicht, seinem Gesuch neben der Stellungnahme seines akademischen Lehrers die des Zweitgutachters (Schüssler) und ein ebenfalls positives auswärtiges Fachgutachten — d'Ester hatte es verfaßt — beizulegen.104 Im Laufe der Jahre hat Dovifat im einzelnen wiederholt dem Staat oder den nationalsozialistisch gesinnten Kollegen in der Universität partielle Zugeständnisse machen müssen, wollte er seine akademische Gratwanderung mit Gewinn für Schüler, Universität und Wissenschaft durchhalten können. Bei der Notengebung hat er in dem Promotionsverfahren von Lotte Adam ausnahmsweise einmal in einer zweiten gutachtlichen Äußerung seine ursprüngliche Bewertung abgesenkt. Im Verfahren von Wolfgang Gubalke (1936/37) akzeptierte er unter besonderen Voraussetzungen ein relativierendes Vorwon für die Druckfassung, da anderenfalls das Verfahren gescheitert wäre oder ein Publizie-
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BA/P 49.01, Nr. 1295 unfol. i° Ebd. 4
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rungsverbot gedroht hätte.105 Im Gegensatz zu Lotte Adam war Hans Fuchs bereits vor dem Beginn der Archiv- und Bibliotheksarbeiten in London klar, daß sein von Dovifat angenommenes Thema, „Die große englische Presse und ihre Stellungnahme zum nationalsozialistischen Deutschland", nicht auf Begeisterung bei den Machthabern stoßen würde. Innen- und außenpolitische Verwicklungen drohten, hieß es offiziell, doch letztlich schreckte nicht allein das Kapitel „Die Judenfrage", sondern mindestens genauso stark die Einschätzung der britischen Presse, daß Nationalsozialismus und Bolschewismus trotz aller Unterschiede im einzelnen sich in den grundsätzlichen Fragen und Methoden ähnlich und somit gemeinsam die schärfste Herausforderung von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Parlamentarismus seien. Die Promotionskommission hielt deshalb „eine Veröffentlichung der Arbeit naturgemäß [für] ausgeschlossen" und konnte darauf verweisen, daß das Dekanat sich dem Kandidaten gegenüber bereits früher ähnlich geäußert habe. Dovifat stimmte dem Verfahren zu, weil das Ministerium überaus rigoros verfuhr und den Kandidaten über den Dekan sogar von der Verpflichtung entband, zur Promotion persönlich zu erscheinen (1938).106 Vom nationalsozialistischen Regime gewünschte Themen hat Dovifat in einem Fall von einem überzeugten Parteimitglied bearbeiten lassen;
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Die bereits am 5. Juli 1932 eingereichte Arbeit über „Das Gruppeninteresse in der Berliner Tagespresse — Dawes 1924" war für die Nationalsozialisten wegen ihres „liberalen" Standpunktes ein Ärgernis. Sie suchten es dadurch zu verringern, daß sie für die Drucklegung die folgende Vorbemerkung verlangten: „[...] Die aus der Meinungsbildung gezogenen Schlussfolgerungen sind in dem Masse bedingt, wie sich inzwischen die massgebenden politischen Kräfte konzentriert haben. Gerade vom Standpunkt der geeinten Nation zeigt der Widerspruch der dargestellten Argumentation am historischen Beispiel des Kampfes um den Dawes'schen Tributplan besonders deutlich das Verhängnis der damaligen politisch-parlamentarischen Zersplitterung" (HU, UA, Prom. Phil. 833 und 835). 106 HU, UA, Prom. Phil. 873: In seiner Dissertation gibt Fuchs z.B. den umfangreichen Artikel· „Zwei Diktaturen" vom 7. August 1935 ausdrücklich „mit nur geringfügigen Kürzungen" wieder (S. 86—93). Fuchs dokumentiert hiermit gleichzeitig die von seinem „Doktorvater" favorisierte Einschätzung der beiden Diktaturen. Geradezu hilflos erscheint dem heutigen Leser der eifrige Distanzierungs- bzw. Abschwächungsversuch. „Man darf annehmen", schreibt Fuchs (S. 93), „dass eine Zeitung vom Range der .Times' politisch nicht so blind ist, dass sie wirklich von der Wahrheit solcher Vergleiche überzeugt wäre [...]" (ebd.).
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der Doktorand Rahm widmete seine Dissertation Goebbels.107 Von Ministerien durch Forschungsstipendien oder auch nur mit Reisemitteln unterstützte Kandidaten108 hat er selbstverständlich betreut, ohne seine fachlichen Ansprüche aufzugeben. Die bahnbrechend wirkende Untersuchung von Elisabeth Noelle über „Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse"109 stufte Dovifat wie der Zweitgutachter, der Anglist und Amerika-Fachmann Wilhelm Schönemann, und das dritte Kommissionsmitglied, der Historiker Wilhelm Schüssler, mit „sehr gut" ein, weil die lebendige Darstellung, wie er überzeugend ausführte, aus umfassenden Materialstudien gewonnen sei, eine kluge Stoffbeherrschung zeige, selbständige Urteilsfähigkeit und eine sichere Einfühlung in die Probleme der USA, so daß sich fruchtbare Ergebnisse auch für die allgemeine Publizistik daraus ergäben.110 Gelegentlich verlor Dovifat wegen seiner Haltung sogar die Unterstützung von sehr geschätzten Kollegen wie dem Kunsthistoriker Pinder, der die von Fritz Herzog verfaßte und von Dovifat betreute Dissertation „Die Kunstzeitschriften der Nachkriegszeit" (1940) herabstufte, weil Herzog die behandelten Juden
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Der Sohn eines Schweizer Pastors, Hans-Georg Rahm, 1915 geboren und seit dem April 1932 Mitglied der NSDAP, schrieb über den „Angriff, der nationalistische Typ der Kampfzeitung". Dovifat betonte in seinem Gutachten, wie sehr diese „kampfbewegte Darstellung" in Sprache und Stilform aus dem Rahmen falle, wie stark subjektiv die Darstellung sei („aus der Beteiligung des Aktivisten, die er [Rahm] als jugendlicher Mitkämpfer an den Werdejahren des .Angriffs' selbst genossen hat") und resümiert: Er sei sich „durchaus bewußt, daß diese Dissertation wegen ihrer aus .gläubigem Erleben gestalteten kämpferischen Form'" einen „Sonderfall" darstelle (HU, UA, Prom. Phil. 891). 108 Alle Kandidaten hatten bei Antragstellung auf Eröffnung ihres Promotionsverfahrens nicht nur den Arier-Nachweis zu führen — der Betreuer bestätigte gleichzeitig, daß der Kandidat „im kameradschaftlichen Arbeitsverhältnis" unter seiner Aufsicht gearbeitet habe — , sondern auch anzugeben, ob sie der Partei oder einer ihrer Gliederungen angehörten und ob ein Ministerium oder die Partei die Arbeit in irgendeiner Weise gefördert hätten. 109 Die Arbeit von Elisabeth Noelle — in den Akten auch Nolle — war, wie es in der Antwort auf die ausdrückliche Anfrage des Dekanats vom 30. April 1941 hieß, „mit Unterstützung des Propaganda-Ministeriums geschrieben worden"; für die Forschungen in den USA hatte sie 1937/38 ein DAAD-Austauschstipendium für den Besuch der University of Missouri erhalten (HU, UA, Prom. Phil. 915, fol. 59 ff.). 110 Ebd., fol. 65 f.; Schönemann ergänzte: „Die Arbeit macht einen ausgezeichneten Eindruck. Die wissenschaftliche Behandlung aller Amerika-Probleme ist hieb- und stichfest" (ebd., fol. 66 verso).
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nicht „nach Vorschrift" ausdrücklich gekennzeichnet und „mehr als ein Dutzend Male [...] Juden nicht erkannt" habe.111
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Publizistik im Bann von Überwachung, Disziplinierung und Bedrohung Der Tag der Regierungsübergabe an die Koalitionsregierung HitlerHugenberg, also der 30. Januar 1933, brachte für Emil Dovifat sogleich die erste Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen Gedanken unter veränderten politischen Rahmenbedingungen. War es ein Zufall, oder beantwortete er bewußt in den politisch angespannten Stunden der Regierungsneubildung den in nationalsozialistischen Blättern gegen ihn gerichteten Angriff? Die Frage wird sich zwar heute nicht mehr klären lassen, doch informiert ein erhaltenes Dokument uns über den bedeutungsvollen Vorgang. Es ist nämlich der Brief überliefert, in dem Dovifat seine Auffassungen über „Staat und Pressefreiheit" gegen einen entschiedenen Anhänger Hitlers, den Berliner Privatdozenten Ernst Storm, zu begründen und zu verteidigen suchte. Storm lehrte an der Technischen Hochschule, war promovierter Volkswirt und hatte seine öffentliche scharfe Abrechnung mit Dovifat in zwei Artikeln des „Völkischen Beobachters" plaziert.112 Dieselben Vorstellungen hatte Storm gut zwei Monate früher in einem groß aufgemachten Artikel, aber an weniger beachteter Stelle, in der Zeitschrift „Der deutsche Student", an das akademische Umfeld adressiert.113 Dovifat dürfte ihm vorrangig wegen der Zweitverwertung, der Verbreitung durch den „Völkischen Beobachter", geantwortet haben, da er zu Recht annehmen durfte, daß eine derartige direkte Attacke in der Umbruchsituation von erheblicher öffentlicher Resonanz sein dürfte. Er reagierte in abgestufter Form doppelt, denn nach dem privaten Brief gelang es ihm, Kernsätze seiner Widerlegungen auch publizistisch an die Öffentlichkeit zu bringen. Für die Fachzeit111
Mit der Bemerkung: „Der Verfasser ist noch jung. Vielleicht kommt daher seine völlige Unkenntnis in der Frage jüdischer Herkunft" suchte Pinder seinem antisemitisch pointierten Zweitgutachten etwas an Schärfe zu nehmen (HU,UA, Prom. Phil. 917). 112 Völkischer Beobachter (Norddt. Ausgabe) 25, 25./26.I.1933 (2. Beibl.). 113 Der deutsche Student 5, Sept./Okt. 1932.
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schrift „Deutsche Presse" hatte Dovifat nämlich wenige Monate später einen Bericht über das „Deutsche Institut für Zeitungskunde" zu verfassen. Er nutzte diese unverdächtig anmutende Gelegenheit, sich vor einem Fachpublikum entschieden gegen eine Presse auszusprechen, die den „kollektiven Massenwahn" fördere, und verwandte die Situation zugleich dazu, für „wahrhaftige, aber auch packende Formen der publizistischen Führung" zu werben.114 Dovifat hatte die Konfrontation initiiert. Storm und die NSDAP mußten sich durch seinen Artikel „Der autoritäre Staat und die Freiheit der Presse" in der Zeitschrift „Der Arbeitgeber" herausgefordert und provoziert gefühlt haben.115 Dort hatte Dovifat u.a. an italienischen und sowjetischen Beispielen die vielfältigen Formen der Informationssteuerung im Pressewesen und der Beeinflussung der öffentlichen Meinung dargestellt und gleichzeitig nachgewiesen, in welchem hohen Maß die faschistischen und bolschewistischen Vorstellungen über Informationskontrolle, Zensur- und andere Lenkungsmaßnahmen mit nationalsozialistischen Anschauungen übereinstimmten. Seine Darstellung war mit Lenin-Zitaten und mit Redeauszügen des Generalsekretärs des faschistischen Journalistenverbands Amicucci angereichert. Die Schlußfolgerungen und Bewertungen von Dovifat waren unmißverständlich. Über die sowjetische Presse urteilte er, daß keine bolschewistische Nachricht, welcher Art sie auch immer sei, objektiven Wert habe: „sie trägt immer agitatorischen, propagandistischen oder mindestens massenorganisatorischen Charakter". Die italienische sei gelenkt, schrieb er, durch „zentrale Anweisungen, deren Wirkung in der Haltung der ganzen Presse erstaunlich deutlich wird, und es gibt schließlich jene Erscheinung, die in Ländern unterbundener Pressefreiheit sofort und wirksam auftritt: an die Stelle der freien Presse tritt das Gerücht, das unheimlich wuchert und im Lauf von Mund zu Mund Meinungen bildet und Nachrichten verbreitet, die unbeweisbar, unkontrollierbar, aber auch mit keinem Mittel zu fassen, sicher ihre Wirkung tun. [...] Denunziation ist die Folge dieses Systems." Die Ähnlichkeiten zwischen den faschistischen Grundauffassungen und den nationalsozialistischen über einen „Staatsjournalismus" seien am größten. 114
Deutsche Presse 24, 7. . 1934, S. l—3: Emil Dovifat, Ein Haus und eine Aufgabe. Arbeitsräume und Arbeitsrichtung des Deutschen Instituts für Zeitungskunde. 115 Der Arbeitgeber. Zeitschrift der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 22 (1932), S. 527—529.
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Dovifat belegte mit Zitaten aus „Mein Kampf" und dem Parteiprogramm der NSDAP, „daß eine solche Grundauffassung jede Pressefreiheit kraß ausschließt". Die Blätter seien Mittel der Staatsführung, besäßen irgendwelche Ausdrucksmöglichkeiten der politischen Willens- und Meinungsbildung nicht mehr, geschweige denn Mittel der Opposition oder irgendeiner Kritik. „Keine junge Bewegung — wenn sie wie jede junge und gesunde Bewegung aus der Opposition heraus sich entwickelte — hätte überhaupt die Möglichkeit, für sich zu werben und ihre Ansprüche zu erheben." Dovifat warnte: „Nichts hat größere Werbekraft als der Märtyrer. Das sollte jede Staatsführung in ihren Beziehungen zur Presse beachten. Dabei sollte sie auch bedenken, daß eine gegängelte, auch in ihrem Nachrichtenteil offiziös gelenkte Presse gerade in entscheidenden Schicksalswendungen eines Volkes — statt Vertrauens- und Führungswirkungen zu zeigen — in Mißtrauenskatastrophen voll verhängnisvoller Folgen führt." Und er schloß seine Ausführungen mit drei Sätzen, in denen seine in der Weimarer Republik jahrelang vertretene Überzeugung sich ebenso spiegelt wie die Erfahrung mit den besonderen Bedingungen der Präsidialkabinette unter den parlamentarisch isoliert agierenden Reichskanzlern Brüning, von Papen und von Schleicher: „Im Zeitalter starker Kollektivität der Meinungs- und Führungsformen aber muß die Pressefreiheit als solche, die entwickelt ist aus einem der großen Grundrechte menschlicher Gemeinschaften überhaupt, gefördert und erhalten werden. Sie ist unerläßlich im parlamentarisch-demokratischen Staat und sie ist es erst recht in jeder autoritären Staatsführung. Die Staatsführung ist die stärkste, die in einem freien Meinungskampf ihre Auffassung werbend zu vertreten und sie gegen einen ungebundenen Gegner zum Siege zu führen befähigt ist."116 Storm wendet sich mit Verve als erstes gegen die Gleichsetzung der nationalsozialistischen Vorstellungen des Presse- und Informationswesens mit bolschewistischen und faschistischen Grundauffassungen über die Presse. Die Vergleiche von Dovifat seien oberflächlich und abwegig. Er verteidigt die von Dovifat angeprangerte deutsche Zensurpolitik im Ersten Weltkrieg, mahnt ihn wegen seiner Betrachtungsweise — „die Ursachen für den verlorenen Krieg liegen viel tiefer" — und meint die „ziemliche" Pressefreiheit in Frankreich und England damit erklären zu können, daß ihre Journalisten im Gegensatz zu den deutschen national 116
Alle Zitate ebd., S. 527 ff.; alle Hervorhebungen finden sich als Sperrdruck im Original.
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zuverlässig seien und in der Geschichte jener Länder kein beachtenswertes Blatt jemals „aus der Reihe" gesprungen sei. Das deutsche Volk müsse erst zu einem bewußten nationalen Fühlen erzogen werden. Gegen das von Dovifat hervorgehobene Freiheitsprinzip setzt Storm Hitler-Zitate, die einem politisch klugen Menschen und Zeitungswissenschaftler zu denken geben müßten: „Die Presse ist ein Mittel zur Volkserziehung, das sich der Staat mit rücksichtsloser Entschlossenheit sichern muß." In Storms eifernden Worten heißt die Erläuterung: „Es kommt wirklich nicht darauf an, daß die Presse zu jeder Kritik berechtigt ist, sondern vielmehr darauf, daß sie der Nation wahrhaft nutzt." Dovifat wich in seinem Antwortbrief nicht von seiner in den Jahren der Weimarer Republik veröffentlichten Grundauffassung ab, bot den neuen Machthabern keine Kompromißformeln in der „Euphorie der ersten Stunde" an und machte nicht einmal in Details irgendwelche Zugeständnisse. Anders als etliche Deutsche und Ausländer, die meinten, den Nationalsozialisten eine Chance geben zu sollen, schwankte er in seiner Grundauffassung nicht.117 Eine Politik der Zeitungsverbote, Presselenkung und Zensur hielt er nicht nur „für eine zwecklose, sondern für eine gefährliche Sache!" Denn eine solche Meinungsführung von oben herab schaffe „ein Märtyrertum, das werbender in seiner Zeugenschaft ist, als irgend andere Werbemittel es sein können". Keines der Stormschen Beispiele akzeptierte er; die Ansichten über die englischen Journalisten und ihre Zeitungen hielt er „für völlig falsch" und fragte provozierend, womit der Kollege diese Behauptungen zu belegen gedenke. Die unmißverständliche Klarheit in der Sache verstärkte er durch drei wichtige Feststellungen. Sogleich im zweiten Satz betonte er, daß er sich erstens nicht auf die parteipolitische Ebene zu begeben gedenke und daß er zweitens Storms Ansichten für eine Glaubensangelegenheit halte. Im weiteren 117
In Großbritannien war die Position des wohlwollenden Abwartens weit verbreitet; die „Times" brachte sie am Ende des ersten Jahres der NS-Regierung in dem Bericht des „Berlin-correspondent" auf die Formel: „But, despite Herr Hitler's evident borrowings from Rome and Moscow, and the retention so far of things and persons associated with the capitalist system, there are forces behind the National-Socialist eruption which render it advisable to look upon this experiment as something with distinctive possibilities. To reject obstinately everything in the Third Reich because features of its beginnings shocked public opinion in many other countries is not going to help the world to understand the new Germany and adjust itself to the changes."; „Herr Hitler's First Year. Levelling the Barriers. . — A Chaotic Period", London, 31.1.1934.
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Verlauf der Argumentation folgt die dritte Konfrontation, indem Dovifat lapidar und ohne jeglichen Erklärungsversuch schrieb: „Ich bin nicht Nationalsozialist." Dieses offene Bekenntnis mußte Storm und andere Parteistellen allein schon deshalb zu Aktionen gegen Dovifat motivieren, weil er hier in einem Brief Bekenntnisse und Meinungen knapp berührte, die er ausführlicher und sich unbeirrt wiederholend in seinen Lehrveranstaltungen, Reden und Publikationen vortrug. Danach sah Dovifat die Pressepläne der Nationalsozialisten als gefährlich in mehrfacher Beziehung an: Zum einen für ein geistig so lebendiges und leidenschaftliches Volk wie das deutsche, dem anderenfalls „die organische und gesunde Fortbildung des öffentlichen Lebens unmöglich sein würde"; zum anderen wegen der Explosionsgefahr im Staatsleben, wenn oppositionellen Kräften der Weg verbaut werde, denn mit Verboten könne man keine Gegenbewegung eindämmen, sondern nur in der „freien Auseinandersetzung auf freiem Feld und mit der zielbewußte[n] und erfolgreiche^] politische[n] Tat"; und zum dritten könne die Presse ausschließlich in enger Begrenzung und auch dann nur für einige Bevölkerungsgruppen ein Erziehungsmittel sein, denn „eine im Sinne einer Partei rein ,erziehende' Presse würde sehr bald ungelesene Makulatur sein; das deutsche Volk ist zu selbständig, als daß es sich vom Katheder herunter eine Zeitung machen ließe. Meinungskampf und Berichterstattung würden sich, wenn es andere Zeitung[e]n nicht gäbe, andere Wege suchen." Dovifat schloß seinen Brief mit einem Hinweis auf die für ihn verbindlichen ethischen und nationalen Werte und mit der Feststellung, daß sie in einem hohen Grad sein wissenschaftliches Werk und seine private Existenz bestimmten und ihn deshalb zu entgegengesetzten Erkenntnissen hätten führen müssen. „Nicht im Knebeln, Verbieten und Unterbinden, sondern in dem Streben, diesen Kampf ehrlich auszutragen und die Gegner dazu zu bringen, das in gegenseitiger Achtung und ritterlichen Formen zu tun."118 Als die „Kölnische Volkszeitung" 1939 ihr achtzigjähriges Bestehen feierte, verfaßte Dovifat für den Jubiläumsteil „Zeitung im Zeitenwandel" einen Beitrag zum „politischen Teil" der Tageszeitung, der in Darstellung, Argumentation und Schlußfolgerungen weit über den zu feiernden Anlaß hinausging. Die Interpretation von Dovifat zielte darauf, 118
Darstellung und Zitate fußen auf einer Kopie des Briefes von Dovifat an Storm, Berlin, den 30. 1.1933 (ms.), den mir Frau Dr. Dorothee von Dadelsen freundlicherweise zur Verfügung stellte.
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die tiefgreifende Umgestaltung des deutschen Zeitungs- und Pressewesens, die Ausrichtung der journalistischen Arbeit auf einen Führerwillen und damit eine „totale Kehrtwendung", also die Abwendung von liberaldemokratischen Grundauffassungen hervorzuheben. Diesen Vorgang bezeichnet er deshalb als einen „doppelt tiefgreifenden revolutionären Umbruch", um mit seinem Urteil die Einmaligkeit, die Intensität, die Willkür und die politische „Ausrichtung" betonen zu können.119 Nach Jahren weniger spektakulärer kleinerer Arbeiten und gut einem Jahr nach dem Erscheinen der Studie über „Rede und Redner" liegt mit dieser Veröffentlichung in einer Tageszeitung eine klare und deutliche, öffentlichkeitswirksam plazierte Positionsbeschreibung und wissenschaftliche Stellungnahme von Dovifat vor. Bedenkt man die allgemeine politische Situation im Frühjahr 1939, die damaligen von der Partei- und Staatsführung restriktiv gehandhabten Verfügungen und die thematisch kleinschrittigen, aber umfassenden Presseanweisungen sowie die besondere Situation des rheinisch-katholischen Presseorgans — es war die größte zentrumsnahe Zeitung mit einer doppelt so hohen Auflage wie die „Germania" —, dann überrascht diese nur mäßig in „verdeckter Schreibweise" abgefederte Sprache und Form der Publikation. Die Ausführungen von Dovifat werden genauer untersucht, weil sie bislang zu wenig beachtet worden sind und weil ihnen in seinem Werk, mit Blick auf seinen methodischen Ansatz und sein Verständnis publizistischer Abläufe und kommunikationspolitischer Zusammenhänge, eine außerordentliche Bedeutung zuzubilligen ist. Unmißverständlich formulierte Dovifat seine theoretischen Grundeinsichten, von denen aus Urteile über publizistische Vorgänge in Geschichte und Gegenwart zu untersuchen und einzuschätzen seien. Die Publikationsorgane und ihr Selbstverständnis seien dem sozialen und politischen Wandel unterworfen; im Laufe der Zeit änderten sich ihre Funktion und die Gesetze — im Sinne von Voraussetzungen und Modalitäten —, unter denen sie einmal angetreten seien. In einem ähnlichen Maß und in verwandten Formen wandelten sich die journalistische Arbeit und ihre Bedingungen und Funktionen. Dovifat verweist damit auf die zu berücksichtigende Dimension der Zeitbezogenheit im allgemeinen und die ideologische (parteipolitische, rechtliche, wirtschaftliche, technische, gesellschaftlich-kulturelle und 119
Emil Dovifat, Zeitung im Zeitenwandel. 80 Jahre KV. Der politische Teil. In: Kölnische Volkszeitung 118 (30.IV. 1939), S. 13.
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mentale Einbindung in den allgemeinen historischen Kontext jeglichen Informierens, Publizierens und Räsonierens: „Zeitungen spiegeln nicht nur das Zeitgeschehen, auch der Spiegel selbst und die Gesetze der Spiegelung wandeln sich mit dem Gange der Zeit. [...] Denn das liegt im Leben der Zeitung, daß sie die Zeit, für die und aus der heraus sie lebt, in ihrer Entfaltung begleitet und sich also mit ihr wandelt." Diese Voraussetzungen und jener perspektivenreiche Bezugsrahmen müssen seitdem als unabdingbare Bestandteile jeder anspruchsvollen kommunikationshistorischen Analyse gelten. Darstellungen, die von nun an Handlungen, Vorgänge und Entwicklungen „im Spiegel einer Zeitung" untersuchen wollen, müssen die von Dovifat beschriebene inhaltliche Komplexität der Beziehungen zwischen dem Medium und den Ereignissen erfassen und differenziert darstellen. Im ersten Teil seines Beitrags gibt Dovifat einen kurzen historischen Aufriß. Dort und in seiner sich anschließenden umfangreicheren Positionsbeschreibung der „Kölnischen Volkszeitung" im ersten halben Jahrzehnt der nationalsozialistischen Diktatur wird der zuvor beschriebene methodische Ansatz mit einer kritischen Rekonstruktion der historischen und aktuellen Rahmenbedingungen umgesetzt. Die „Kölnische Volkszeitung" habe seit ihrer Gründung in ähnlicher Weise wie das gesamte Zeitungswesen „im Bereich des Politischen den Forderungen Rechnung zu tragen" gehabt, die das Schicksal an sie gestellt habe. Seit der Revolution von 1848/49, hebt Dovifat hervor, habe eine Zeitung in Deutschland zusätzlich zu der Funktion der Nachrichtenübermittlung noch die der „meinungmäßigen Auseinandersetzung" gewinnen können. Die „Kölnische Volkszeitung" sei seitdem zwar auf eine Richtung, die des katholisch-konservativen Parlamentarismus, festgelegt, aber noch keinesfalls auf eine Partei. Dovifat nennt die großen Journalisten und Verleger, spart keinesfalls die berühmten jüdischen, also Mosse und Ullstein, aus und lobt ihre Tüchtigkeit, ihren Geschäftssinn, ihre Kenntnisse und ihre „geistige Linie". Kurzum, er stellt in einer auf Eindruck zielenden Weise die Fülle, Vielfalt und die Lebendigkeit der Zeitungslandschaft in der Weimarer Zeit dar. Den Umschwung nach dem 30. Januar 1933 durfte Dovifat selbstverständlich nicht negativ formulieren. Auch mußte er die frühen Kommentare der Redaktion zum Kabinett Hitler-Hugenberg unterdrücken, denn sie hatte schwere Schatten über Deutschland aufziehen sehen, auf die Aufpeitschung turbulenter Instinkte verwiesen, Geschichtsklitterungen und wiederholt die unerträgliche
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Phraseologie angeprangert, die dem Bolschewismus entlehnt sei.120 Ebensowenig konnte Dovifat auf Verbote der Zeitung hinweisen; er mußte auch die Verhaftung von Redakteuren und sonstige Einschüchterungsversuche unterdrücken. Deshalb beschränkte er sich darauf, die neue „öffentliche" Aufgabe einer Zeitung im Nationalsozialismus zu beschreiben, die staatspolitische Verpflichtung der Hauptschriftleiter hervorzuheben und damit deren „schwere Verantwortung vor Staat und Nation" anzudeuten. Er vermied hier die gängige Formel „Partei und Staat" und fügte vielmehr noch ein, daß das NS-Schriftleitergesetz die Verantwortlichen „belaste". Er sprach in unmißverständlicher Weise von der „Ausrichtung" der Zeitungen im neuen Staat, dem es allein darum gehe, sicherzustellen, daß die Presse „den Willen des Führers und den Sinn der Staatsführung im Gange der Ereignisse des Tages deute und erläutere [...]". Die pressepolitischen Entscheidungen des Jahres 1933 feierte Dovifat mit keinem Wort als zukunftsweisende Tat, als Aufnahme oder als Fortführung wieder entdeckter bewährter Traditionen; derartige historische Dimensionen bemühte die NSDAP für sich und zur Apotheose ihrer „nationalen Revolution" besonders gern. Dovifat bezeichnete die einschneidenden Reglementierungen und Verordnungen vielmehr als „fraglos den tiefsten Eingriff in die Zeitungsgeschichte", als bewußte Abkehr von dem leistungsfähigen Pressesystem des 19. Jahrhunderts. Lapidar, bewußt verallgemeinernd und somit sein Urteil ins Grundsätzliche ausdehnend, nennt Dovifat diese „ausgerichtete" — er vermeidet den Begriff „gleichgeschaltete" — Publizistik „Führerpresse" und resümiert seine Darlegungen mit den Worten: „Die deutsche Presse ist nicht mehr eine Presse der politischen Auseinandersetzung, sondern der politischen Läuterung, Erziehung und Gemeinschaftsführung [...]." In der Publizistik einer Diktatur läßt sich Offenheit wohl nicht mehr vergrößern, wenn Autor und Publikationsorgan nicht leichtfertig Bestrafung und Erscheinungsverbot riskieren wollen. In der Diktatur sind derartige Formulierungen und Urteile nur möglich, wenn sie mit Einschränkungen und Zugeständnissen verbunden sind. Eine der wichtigsten Konzessionen dürfte die Betonung der Übereinstimmung im Prinzipiellen sein. Sie mußte in Wortwahl und Gesamteinschätzung unzweideutig ausfallen. Die Darstellung und Ein120
Vgl. dazu Kölnische Volkszehung 31 (31.1.1933): „Hugenbergs Weg" (S. l f.); ebd. 33 (2. .1933): „Neuer Kampf" (S. 1); ebd. 34 (3.II.1933): „Harzburger Parteiwahlen" (S. l f.); ebd. 70 (14.111.1933): „Eine Erklärung" (S. 1).
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Schätzung durch Dovifat erfüllten diese Bedingungen publizistischen Wirkens im Ausnahmezustand dennoch nur in engen Grenzen. Im Jargon der Zeit ersetzte er zwar „Parteienvielfalt" durch „Parteienzersplitterung", wenn er die Weimarer Republik und das Kaiserreich charakterisierte, sprach auch von „Parteienkampf", „doktrinäre[r] Auseinandersetzung" und „polemisch zugespitzte[r] innenpolitischefr] Auseinandersetzung", wenn er parlamentarische Debatten oder liberale Publizistik erwähnte, und feierte im gewünschten Sinn die Überwindung der Einzelinteressen zu Gunsten der „Lebensnotwendigkeiten des Volkes", wenn er die Folgen des nationalsozialistischen „revolutionären Umbruchs" beschrieb, die Zeitung ebenso wie die öffentliche Rede wiederholt und eindringlich als das „schönste und wirksamste Mittel der Volksführung" bezeichnete und die junge „volkstümlich und kompromißlos kämpfende nationalsozialistische Presse" lobte. Diese publizistische Strategie hatte Dovifat zwar schon zwei Jahre zuvor in seinem Buch über „Rede und Redner" verfolgt, doch zeigt der Versuch des „verdeckten Schreibens" im Fall des „Reden"-Buches eine deutlich ungeübtere Handhabung der sprachlichen Mittel und damit verbunden eine ungleich weitergehende Konzession in der Bewertung Hitlers und der nationalsozialistischen Bewegung. 121 Das Deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik werden von Dovifat in der bekannten oberflächlichpejorativen Form behandelt und mit den gleichen negativen Standardbewertungen bedacht wie die Vertreter der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratien des Westens. Mussolini und Hitler erfahren jedoch eine Zuwendung und Zustimmung, die über die von Dovifat 1939 bewußt beachtete Ebene hinausgeht. Dennoch erweist sich im Vergleich mit ähnlichen Studien aus der gleichen Zeit die von Dovifat geübte Zurückhaltung sogar noch deutlicher.122 121
Emil Dovifat, Rede und Redner. Ihr Wesen und ihre politische Macht (Meyers Kleine Handbücher 8), Leipzig 1937; vgl. hier insbes. die S. 14 f., 18, 39, 91, 137 f., 140 f. und 145. 122 Als Beispiel für eine Darstellungsweise eindeutig apologetischer Art des von Dovifat zurückhaltend behandelten Themas sei auf die Broschüre von Karl Kindt, Der Führer als Redner, Hamburg 1934, verwiesen, die schon mit pathetisch-schwülstigen Worten einsetzt: „Hitler eroberte Deutschland durch sein Won. [...] der Atem des Führers ging hin über das Leichenfeld von Weimar und machte die Totengebeine lebendig, hier einen, dort einen, lange Reihen, zuletzt das ganze Volk; aus dem Grabe stieg Deutschland, erweckt von der Stimme seines Propheten", ebd., S. 7 f. ( die Hervorhebung findet sich im Original).
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Andererseits trifft der häufig vorgetragene Vorwurf, Dovifat hätte die „NS-Größen" gar nicht und wenn schon, dann nicht in ihrer rhetorischen Leistung positiv darstellen dürfen, die Realitäten nicht. Das Unbehagen, Hitler und Goebbels eine souveräne Beherrschung einer Kunst überhaupt zuzubilligen, ist in Grenzen zwar verständlich, doch kann es in einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht darum gehen, seinen moralischen Widerwillen gegen ein offensichtlich vorhandenes Talent zu artikulieren. Der Argwohn gegen eine Beherrschung der „Kunst der Rede" ist weit verbreitet, ebenso der damit verknüpfte Verdacht der Heuchelei der Anwendung von „Tricks" oder der Lüge. Das positive Urteil über rednerische Begabungen schließt keinesfalls eine positive Würdigung politischer und moralischer Positionen oder intellektueller Gaben ein. „Vielleicht wäre", überlegte kürzlich ein deutscher Publizist, „vieles anders gekommen, wenn sich [bereits] in den Jahren der Weimarer Republik die deutschen Intellektuellen die Mühe gegeben hätten, den »Völkischen Beobachter' und ,Mein Kampf zu lesen und diese für viele abstoßenden und letztlich doch so massenwirksamen Reden zu hören — wenn sie [...] wenigstens versucht hätten, ihre Landsleute über die Rhetorik von Hitler und Goebbels aufzuklären."123 Dovifat hat sich nicht nur in der Anfangsphase und allein in der Universität und in der kirchlichen Sphäre unerschrocken und im entscheidenden Moment klar zu seinen akademischen Schülern sowie zu seinen Auffassungen und Urteilen bekannt, sondern er hat zusätzlich in seinen publizierten Arbeiten im Laufe der Jahre versucht, ein Verfahren zu entwickeln, das es ihm gestattete, weiterhin öffentlich zu wirken. Selbst nach der aufgehobenen Suspendierung vom Professorenamt ließ er in dem Bemühen nicht nach, seine Meinung und Interpretation wenn schon nicht deutlich, dann doch möglichst wenig artifiziell zu vertreten, damit er von einem aufmerksamen Leser auch verstanden bzw. nicht mißverstanden werden konnte.124 Gelegenheiten suchte und nutzte, die 123
Marcel Reich-Ranicki hat auf diese Zusammenhänge mit Recht hingewiesen (FAZ 189, 16. !. 1997: „Gefürchtet, verachtet, gebraucht und geliebt"): Er nennt Hitler den „größten Redner in der Geschichte Deutschlands" und stellt zu Goebbels fest: „Es war leichter, dem Redner Goebbels zuzujubeln, als sich mit ihm zu identifizieren." 124 Deutliche Kritik an Dovifat richtete seit dem Sommer 1938 einer der bedeutendsten Nachwuchswissenschaftler, Karl Oswin Kurth (1910—1981). Aus der NS-Studentenbewegung kommend, wurde er 1933 bei Hans Amandus Münster (1901—1963) promoviert, erhielt die Geschäftsführung des DZV und habilitierte sich 1940 in Kö-
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kleine Form bevorzugte er: Rezensionen, Vortragsverpflichtungen oder wissenschaftliche Aufsätze finden sich in wachsender Fülle. „Gerade weil ich die neue Aufgabe der Zeitung, Mittel der Staatsführung zu sein, ganz erkenne", schrieb er einmal, „lehne ich nicht nur als unjournalistisch, sondern auch als unpsychologisch Auffassungen ab, die so tun, als stände der Leser immer nur gestiefelt und gespornt und harre der Befehlsausgabe durch die Zeitung."125 Jeder Journalist — diesen verpönten Begriff wählte Dovifat in einem seiner Universitätsvorträge des Jahres 1935 — müsse wissen, daß er in einem Beruf halbamtlichen Charakters arbeite. Die Zeitung, Schule, Bühne, der Film und der Rundfunk seien „gleichgesetzt unter der Führung des Staates", und man werde sehen, so soll Dovifat reichlich pessimistisch geschlossen haben, wie stark die Zahl der deutschen Zeitungen in den nächsten zwei bis drei Jahren noch sein werde.126 Oder er baute ein Plädoyer für traditionelle Prinzipien irgendwo pointiert ein. So schloß er einen Beitrag in dem Fachblatt „Maschinenmarkt" mit der Forderung, die Zeitschrift habe fachlich begründet, sachlich sicher und weitschauend zu sein, denn nur dann könne sie der Gemeinschaft einen Dienst erweisen.127 Die Kritiker von Dovifat häufen Zitate neben Zitate aus der „Zeitungslehre" oder dem „Reden"Buch, um die sprachliche Nähe zum NS-Jargon und -Denken zu belegen. Doch diese „Beweise" kaschieren nicht selten Vorverurteilungen, da die gleiche Wortwahl sicher ein Indiz, aber eben nur eines unter mehreren Merkmalen ist. Keineswegs hat sich heute die Schwierigkeit verringert, wissenschaftliche Texte aus einer Diktatur angemessen zu bewerten. Inzwischen sind nämlich viele Worte anders konnotiert, weil wir
nigsberg. Die Kritik findet sich in Karl Kurth, Kritik der Publizisitk. In: Zeitungswissenschaft 13 (1938), S. 497—504. — Zum Problem der sprachlichen Camouflage s. Erwin Rotermund, Tarnung und Absicherung in Rudolf Pechels Aufsatz „Sibirien" (1937). Eine Studie zur „verdeckten Schreibweise" im „Dritten Reich", In: Heimo Reinitzer, Textkritik und Interpretation. Festschrift für Karl Konrad Polheim zum 60. Geburtstag, Bern 1987, S. 417-^38. 125 Emil Dovifat, „Die Tageszeitung als Mittel der Staatsführung". Eine Buchbesprechung. In: Deutsche Presse 23 (1933), S. 265 f. (Rezension des gleichnamigen Buches von Theodor Lüddecke). 126 Oberschlesische Volksstimme 45 (14. .1935): „Der deutsche Schriftleiter. Nach einem Vortrag von Prof. Dovifat." 127 Emil Dovifat, Die Gemeinschaftsaufgabe des Fachblattes. In: Maschinenmarkt 48 (1943), S. 3 f.
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Nachlebenden über Folgen und Konsequenzen informiert sind, die Dovifat und seinen Zeitgenossen fremd sein mußten.
VI
Bemühen um Abstand, Aufklärung und Aufrichtigkeit Die Überschrift soll nicht allein auf Dovifat verweisen, sondern auch auf den rückblickenden Betrachter und insbesondere auf den Historiker, der sich mit wissenschaftlichen Mitteln um Erkenntnisse, Beurteilungen und ihre angemessene Darstellung bemüht. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und das Bemühen um vorurteilsfreie und unparteiische Untersuchungen sind eng mit den subjektiven und objektiven Möglichkeiten solcher Absichten verknüpft. Wie könnte ohne innere Betroffenheit und Anteilnahme über „Recht" und „Unrecht" in einer Diktatur geschrieben und geurteilt werden?128 Nicht einmal die allgemeine Erwartung, daß zeitliche Distanz zur Erleichterung der Urteilsfindung führen könne, erfüllt sich generell, wie die fortwährende Sensibilität der Öffentlichkeit für bestimmte Themen der neueren deutschen Geschichte beweist.129 Eindeutige und verbindliche Antworten gibt es auch deshalb nicht, weil die moralische Dimension aus dem Prozeß des Erkennens, Interpretierens und der Darstellung nicht zu eliminieren ist.130 Dieses Problem zu sehen und das daraus resultierende Spannungsverhältnis auszuhalten, ohne sich in vorschnelle moralische Pauschaldistanzierungen oder in ein amoralisches Alles- und
128 Ygi dazu die allgemeingültigen Äußerungen in der speziellen Untersuchung von Martin Stolleis / Dieter Simon, Vorurteile und Werturteile der rechtshistorischen Forschung zum Nationalsozialismus. In: NS-Recht in historischer Perspektive (Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte), München 1981, S. 13—51. 129 Seien es die Fragen nach der deutschen Allein- oder Mitschuld an der Auslösung des Weltkriegs von 1914/18 — Bernd Sösemann, Die Tagebücher Kurt Riezlers. Untersuchungen zu ihrer Echtheit und Edition. In: HZ 236 (1983), S. 321—369 —, die gefälschten Hitler-Tagebücher, die Gerüchte über Martin Bormann oder die heftige öffentliche Diskussion um die Thesen von Goldhagen (wie Anm. 3). 130 Martin Broszat, Grenzen der Wertneutralität in der Zeitgeschichtsforschung: Der Historiker und der Nationalsozialimus. In: Hermann Graml / Karl-Dieter Henke (Hg.), Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat. München 1986, S. 112.
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Nur-Verstehen zu flüchten, muß von einem Wissenschaftler erwartet werden können. Eine Urteilsbildung ist wirklichkeitsfremd und anmaßend, um nicht zu sagen: inhuman, die die realen Bedingungen der Diktatur ignoriert und die höchst unterschiedlichen persönlichen Befindlichkeiten außer acht läßt. Die Historiographie zeigt, wie schwer dieser Forderung nachzukommen ist. Das in den Vorträgen und Schriften von Dovifat sich spiegelnde Verständnis von Moral und sein vielfach positiv belegtes hohes Berufsethos, seine Einstellung zum freiheitlichen Rechtsstaat und seine Auffassung von freier Presse verboten ihm eine ideelle und institutionalisierte Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus.131 Als aktiver Katholik konnte es für ihn trotz des von seiner Kirche verlangten Autoritätsgehorsams und trotz der erwarteten Achtung vor der Staatsgewalt keine derartige Anhängerschaft geben.132 Gewiß waren ihm bestimmte Erscheinungsformen und einzelne Gedanken einer „Volksgemeinschaft" ebensowenig unsympathisch wie Themen und Töne „nationaler" Proklamationen und die betont antibolschewistische Haltung der Nationalsozialisten133, doch tolerierte er niemals das gedankliche und moralische Umfeld dieser Einstellungen und lehnte Gewalt und Vertreibung, Unterdrückung und Lenkung sowie die antikonfessionellen Elemente der nationalsozialistischen Anschauungen und die kirchenfeindliche Politik der NSRegierung entschieden ab. Da Dovifat seinen Beruf nicht aufgeben, die universitären Möglichkeiten der Einflußnahme nicht dahingehen, seine Kirche nicht verlassen und seine Familie schützen wollte, mußte er Frei131
In seinem Entnazifizierungs-Fragebogen (22.IV. 1947) gab Dovifat an, lediglich der NS-Kriegsopferversorgung und dem NS-Reichskriegerbund angehört zu haben (GStAPrK, NL Dovifat). 132 Am 27. Juli 1949 hat Dovifat die eidesstattliche Versicherung abgegeben, daß er „niemals der N.S.D.A.P. oder einer von deren Gliederungen angehört" und sich „auch sonst nicht in irgend einer Weise im nationalsozialistischen Sinne betätigt" habe (GStAPrK, NL Dovifat; beglaubigte Abschrift). 133 Auf diese Zusammenhänge wies ein früher Kritiker des Nationalsozialismus, der liberale Historiker Friedrich Meinecke, in der „Kölnischen Zeitung" (21.X.1930) hin: „Nationalsozialismus und Bürgertum"; wieder gedruckt in: ders., Politische Schriften und Reden, hg. von Georg Kotowski, Darmstadt 1958, S. 443: Vom „eigentlich Wertvollen" des Nationalsozialismus gehe eine „suggestive Wirkung" auf die bürgerliche Öffentlichkeit aus, die „das starke nationale Wollen, das leidenschaftliche Empfinden unserer politischen Unfreiheit und die ethische Aufbäumung gegen Großstadtschmutz" begrüße. 134 Dazu Borgelt, Der lange Weg (wie Anm. 70).
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räume in den Institutionen erkunden und Bewegungsmöglichkeiten nutzen. Chancen für ein „Überleben" im Sinn seiner politischen, gesellschaftlichen und moralischen Werte hatte er aufzutun und wahrzunehmen sowie Formen des Sprechens und Schreibens zu entwickeln, deren eng begrenzte Aussage- und Wirkungskraft ihm Konflikte mit dem Regime wenn schon nicht ersparte, so doch wenigstens nicht in seiner Existenz gefährdete.134 Diese schwierig zu praktizierende und nach außen von Mißverständnissen nur begrenzt freizuhaltende „Koexistenz an der Peripherie" und diese von der Situation erzwungene begrenzte Teilhabe prägten Dovifat in seinem Selbstbehauptungskampf. Seine Wege führten ihn, der von der Gestapo fortlaufend überwacht wurde135, nicht in den Widerstand, aber in die Nähe oppositionellen Denkens, Sprechens und Handelns.136 Diese Versuche halfen ihm und seiner Familie, die Zeit der Diktatur zu überleben, und ermöglichten es ihm, für die katholische Kirche, für seine akademischen Mitarbeiter und Schüler wenigstens in den von den Machthabern gesetzten engen Grenzen zu wirken. „Ich bin kein Opfer des Faschismus", schrieb Dovifat an Spranger, „aber für Viele ist es ein Wunder, dass ich es nicht geworden bin."137 Wie jeder Deutsche, der nicht emigrierte, war auch Dovifat in einem gewissen Sinn „durch diese zwölf Jahre der Hitlerei in tragischer Weise mitbelastet", wie der ins amerikanische Exil getriebene Historiker Gerhard Masur einmal rückblickend erklärte und selbstkritisch hinzufügte, daß er „es immer als ein 135
Lutz Hachmeister, Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaften in Deutschland (Beiträge zur Medientheorie und Kommunikationsforschung 25), Berlin 1987, S. 103. 136 In seinen Promotionsgutachten finden sich auch hierzu Zeugnisse. In der Arbeit von Waltraut Karin Schoor, „Wilhelm Heinse als Kunsthistoriker und Feuilletonist" (1943) schrieb er: „Freilich möchte ich nicht mit der Verfasserin Heinse als eine Persönlichkeit feiern, die ,frei und vorurteilslos eine germanische Weltanschauung [Hervorhebung in der Vorlage] des Kampfes und der Stärke kündete' (S. 328). Das ist ganz sicher falsch [...]." (HU, UA, Prom. Phil. 936). Eine Kritik am NS-Erziehungssystem findet sich 1944 in der Dissertation von Annemarie Ehrke („Die kulturpolitische Seite der italienischen Tageszeitung in der Zeit von 1926—1943") und 1942 in den politischen Urteilen von Gisela Reuter („Deutsche Karikaturen als Waffe der feindlichen Hetzpropaganda im Weltkrieg"), die gelegentlich zu unkritisch, zu glatt, und von den Verfasserinnen „auf zu populären Nenner" im Sinne des Regimes gebracht worden seien (ebd., 930). 137 Mitteilung aus diesem nach Kriegsende verfaßten Brief von Dovifat (Frau von Dadelsen danke ich auch für diese Information).
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Vorrecht betrachtet habe, zu der von Hitler verfolgten jüdischen Minderheit zu gehören. Nicht weil ich mich besonders stark zu Israel hingezogen fühle, sondern weil dies nun einmal ein Teil meines Schicksals war, dem ich nicht entlaufen konnte. Zum anderen aber auch deswegen, weil es mich der Versuchung überhob, mit der Naziverbrecherbande einen Kompromiss zu schliessen. [...] Hätte ich anders gehandelt [i.e. Emigration], wenn ich als .Arier' auf die Welt gekommen wäre? Das ist schwer zu sagen und noch schwerer vollkommen zu verneinen."138 Von den emphatischen Begrüßungen der Nationalsozialisten hat Dovifat sich ferngehalten.139 Seinen abweichenden politischen und wissenschaftlichen Auffassungen und seinem pädagogischen Ethos in Prüfungsverfahren hat er gerade dort Geltung zu schaffen versucht oder sogar durchgesetzt, wo sich aus dieser Haltung „Überlebenshilfe" für andere ergeben konnte. Für ihn selbst aber erwuchsen daraus wiederholt berufliche und persönliche Erschwernisse und Anfeindungen. Auf diesem Lebensweg mußten sich Überschreitungen der selbst gesetzten, von Gewissen, Gesittung, Anstand und christlichem Ethos markierten Grenzen und damit schließlich Irritationen bei den Nachlebenden ergeben, wenn Dovifat sich der parteioffiziellen Erwartungshaltung und 138
Brief an Wilmont Haacke (ms.); Lynchburg/Virginia, 8.VEI.1971 (Kopie; AKIPMaterialien: Sammlung Dovifat). — Dazu, wenn auch polemisch und mitunter undifferenziert, Peter Glotz, Von der Zeitungs- über die Publizistik- zur Kommunikationswissenschaft. In: Publizistik 35 (1990), S. 255: „Keiner, der in diesen Zeiten im Amt bleiben wollte, kam schuldlos durch. Aber es gab gewaltige Unterschiede in der Art der Reaktion auf das Verbrecher-Regime." 139 Dovifat kann jedoch auch nicht zu dem kleinen Kreis der nüchtern und systematisch die Situation Analysierenden gezählt werden. Zu diesen gehörte Wilhelm Röpke, der damals erklärte: „Je mehr sich die politischen und wirtschaftlichen Tagesereignisse überstürzen, um so notwendiger ist es, dieses erregende Geschehen an tieferen und weiteren Zusammenhängen heraus zu verstehen. [...] Wohin treiben wir?" Und er resümierte: „Servilismus, Irrationalismus, Brutalismus, das ist das Programm des sich heute so anmaßend spreizenden Liberalismus. [...] Sie [die Nationalsozialisten] wissen nicht, daß sie eine Barbarei herbeiführen wollen, in die die Menschheit im Verlaufe ihrer Geschichte schon einmal zurückgefallen ist. [...] Diese Masse steht im Begriff, den Garten der europäischen Kultur zu zertrampeln, skrupellos, verständnislos. Kein Konservativer kann den Liberalen in der Überzeugung übertreffen, daß die Masse niemals aufbauen, sondern nur zerstören kann [...]." Öffentlicher Vortrag vom 8. .1933 („Epochenwende"), zitiert nach dem Wiederabdruck des Vertrags in: Wilhelm Röpke, Wirrnis und Wahrheit. Ausgewählte Aufsätze, Zürich 1962, S. 105— 124; hier: S. 105 und S. 123 f.
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Programmatik zu sehr annäherte oder sich der Funktionalisierung und Instrumentalisierung der Fachdisziplin nicht entschieden genug widersetzte. Zu einem nicht unerheblichen Teil lag dieses Verhalten in dem Bemühen von Dovifat begründet, nicht in eine Randposition geschoben oder völlig hinausgedrängt und damit auch noch seines restlichen Einflusses beraubt zu werden; zu einem weiteren ergab sich diese Haltung aus den unverhüllten Repressionen der Machthaber und ihrer Helfershelfer in Partei, Verwaltung und Universität. In der Kriegszeit kam ein psychologischer Effekt hinzu, der bei dem Versuch, das Verhalten eines Menschen zu beurteilen, der sein Vaterland liebt und es von außen bedroht sieht, nicht zu unterschätzen ist, nämlich die aus der nationalen und physischen Bedrohung erwachsene (partielle) Solidarisierung mit der Regierung140. Und schließlich wurzelte dieses Auftreten bei Dovifat in einem von deutsch-national-antidemokratischen Momenten nicht freien Denken, das der hegelianischen Tradition entstammt und das in dem (starken) Staat eine über den gesellschaftlichen Gruppen und ihren Konflikten stehende Wesenheit erblickte. Aus nationaler Bewunderung — Kampf gegen das „Versailler System" — und moralischer Abscheu speisten sich die gemischten Gefühle. Von einer Unterstützung oder „Rechtfertigung der faschistischen Politik" und eines Dienstes an „der nazistischen Pressepolitik", wie eine Leipziger Dissertation urteilte, war Dovifat weit entfernt.141 Er traf vielmehr in jener für diktatorische Systeme nicht untypischen Gemengelage von Formierungsdruck und Gewalt, Freiwilligkeit und Opportunismus, Distanz und Opposition für 140
Am 28. Dezember 1942 schrieb Dovifat an den ihm freundschaftlich verbundenen Dr. Hans Eugen Pappenheim, einen jüdischen Studienkollegen von Carl Schneider (Berlin): „Ich war vor 4 Wochen im Osten und sah dort größere Probleme. Kiew, Charkow, [...]. Tiefe Hochachtung vor der Arbeit und Leistung des schlichten Landsers, Frage [,] wie wir dies unendliche Land bewältigen sollen. Heimgekehrt fand ich — bei fehlenden Osturlaubern — eine mit Mädchen überfüllte Universität. Viel, viel Arbeit auch im Politischen. Neue, sehr schwierige politische Probleme tun sich mit schärfer werdender Not auch in unserem Volke auf. Schön wäre es, die Dinge in Seelenruhe zu betrachten und auf ihre Entwicklung gespannt zu sein. Aber da man als Volk mit hineingezogen ist und erst recht auch persönlich, folgt man allem doch mit klopfendem Herzen" (Kopie / AKIP-Materialien: Sammlung Dovifat). — Zum Thema allgemein: Klaus Schwabe, Deutsche Hochschullehrer und Hitlers Krieg (1936— 1940). In: Martin Broszat / Klaus Schwabe (Hg.), Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg, München 1989, S. 332. 141 Hans-Joachim Raabe, Emil Dovifats Lehre von der Publizistik, Diss. phil. Leipzig 1962, S. 176 (ms. MS).
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sein öffentliches Leben ein in Umfang und Inhalt moderates Arrangement. Darin kann allein derjenige eine Verfehlung sehen, der den Nationalsozialismus als etwas Singuläres und damit als ein in der deutschen Geschichte schlechterdings nicht verwurzeltes Phänomen sieht. Der differenziert und kenntnisreich Urteilende wird die Vorgänge um Dovifat, sein Verhalten in den unterschiedlichen Situationen und über den gesamten Zeitraum der nationalsozialistischen Diktatur hinweg im Sinn einer tieferen „historischen Einsicht" zu verstehen suchen. Er wird im Lebensweg von Emil Dovifat nicht vorwiegend die Momente einer partiellen Anpassung und gelegentlichen Kompromißbereitschaft sehen und sie deshalb überlegt in das Gesamtbild dieses Menschen einfügen. Wie bei fast allen Oppositionellen im Deutschland jener Jahre waren Ablehnung und Distanz vorwiegend nur zeitweilig vorhanden und selbst dann noch mit einer partiellen Affirmation verbunden.142 Für sich persönlich hat Dovifat aus der Erfahrung mit der Universität und der Kirche in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur die Konsequenz gezogen, zukünftig in einem viel geringeren Umfang auf den überlieferten Typus der Rationalität zu vertrauen. Nach 1945 sah er bei seinem Engagement für den Aufbau eines freien demokratischen Rechtsstaats mehr als je zuvor in seinem Glauben den stärksten Garant menschlich-politischer Moralität.
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Auf diesen Tatbestand weist Broszat, Historisierung (s. Anm. 4), S. 9, eindringlich hin.
„Mit Stolz blicken die Deutschen auf die Männer des 20. Juli..." Ein unbekannter Artikel Emil Dovifats über das Attentat auf Hitler ASTRID M. ECKERT
I In der New Yorker Zeitschrift Commonweal erschien am 16. November 1945 der Artikel „The Twentieth of July 1944". Als Verfasser nannte die Redaktion der katholischen Wochenschrift „Emil Dorrfat". Der Artikel versucht, einer amerikanischen Leserschaft die Tragweite des Attentats auf Hitler nahezubringen. Dabei ist der Autor sichtlich bemüht, gegen die in den Vereinigten Staaten unmittelbar nach dem Attentat etablierte negative Bewertung der Attentäter und ihrer Motive anzuschreiben. Es geht ihm darum, die Verschwörung als einen ernstzunehmenden, ehrenhaften und selbstlosen Aufstand gegen Hitler zu rehabilitieren.1 „Emil Dorrfat" ist niemand anderes als Emil Dovifat. Der Artikel ist der Forschung als Veröffentlichung Dovifats bisher entgangen, denn durch die falsche Schreibweise des Namens ist er nicht auf den ersten Blick dem Berliner Zeitungswissenschaftler zuzuordnen. Die Autorenschaft Dovifats ist jedoch zweifelsfrei belegt durch eine Karteikarte der Commonweal-Reoakuon, die den Vermerk trägt: „Emil Dovifat (Dorrfat by mistake)".2 Für die Möglichkeit, den vorliegenden Aufsatz zu veröffentlichen, danke ich Herrn Professor Dr. Bernd Sösemann, für die kritische Durchsicht des Manuskripts Herrn Sven Felix Kellerhoff und für Recherchen in der Bibliothek der University of Michigan Frau Libby Garland. 1 Emil Dorrfat [ = Dovifat], The Twentieth of July 1944, Commonweal, vol. 43, Nr. 5 (16.XI.1945), 112—115. Vgl. Dokumententeil, Nr. 27. 2 Die Autorenkarte gibt an, Dovifat habe für den Artikel ein Honorar von 15 USDollar erhalten. Die Karte findet sich in den Unterlagen der Zeitschrift Common-
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In dem dreiseitigen Artikel versichert Dovifat seiner Leserschaft, daß die Deutschen die neu gewonnene Freiheit zu einer offenen Diskussion über jene Kräfte nutzten, die eine zwölf Jahre währende Tyrannei ermöglicht hatten, ohne daß es ihnen selbst gelungen wäre, das Joch Hitlers abzuschütteln. Der einzige ernsthafte Versuch sei das Attentat vom 20. Juli 1944 gewesen. Dovifat verweist auf die Heterogenität der Widerstandsbewegung, die eben nicht ausschließlich aus Militärs, sondern auch aus Zivilisten bestanden habe: Verwaltungsbeamte, Diplomaten, Professoren, Industrielle, Kleriker, Großgrundbesitzer gehörten ebenso dazu wie Arbeiter. Namentlich hebt er Carl Friedrich Goerdeler, Paul Lejeune-Jung, Wilhelm Leuschner, Julius Leber, Alfred Delp, Otto Müller, Johannes Popitz und Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg hervor. Weitere Verschwörer, die vom Volksgerichtshof verurteilt und hingerichtet wurden, nennt Dovifat auf einer dem Artikel angefügten Liste. Trauer und Scham über den Schaden, den das Hitler-Regime dem Ansehen Deutschlands zufügte, habe die gemischte Gruppe der Verschwörer verbunden. Besonders bei den christlichen Gewerkschaftern in der Gruppe um Goerdeler sieht Dovifat einen Aufstand des Gewissens, das durch die Verbrechen in nationalsozialistischen Gefängnissen und Konzentrationslagern wachgerüttelt worden sei. Aus diesem Kreis sei mehr hervorgegangen als nur die Gegnerschaft zu Hitler, man hatte dem Regime ein positives Regierungsprogramm entgegenzusetzen. Dovifat zitiert als Beleg lange Passagen aus einem Dokument, das er als Regierungserklärung der neuzubildenden Regierung um Goerdeler bezeichnet. Manche Sätze Dovifats erscheinen wie zugeschnitten auf eine Leserschaft, die im eigenen Land weder militärische Auswirkungen des Krieges zu ertragen hatte, noch den Alltag in einer Diktatur erfahren mußte. Deshalb verweist er auf die Allgegenwart der Geheimpolizei, den blinden Gehorsam eines Großteils des Militärs, die Lethargie der Bevölkerung, die Bedrohung durch Folter und Tod. Vor diesem Hintergrund verleiht Dovifat dem Attentat die Größe einer revolutionären Charaktertat. Letztlich seien es aber gerade der blinde Gehorsam sowie technische Fehler gewesen, die den ausgeklügelten Plan zum Scheitern und die Verschwörer um ihr Leben brachten. Um den bislang unbekannten Dovifat-Artikel sinnvoll einzuordnen, muß zunächst seine Entstehung geklärt werden. Besonders wichtig ist weal, Archives of the University of Notre Dame, Indiana, CCWL 34 (Commonweal box 34).
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der Kontext der zeitgenössischen US-amerikanischen Diskussionen um Deutschland und seine Zukunft nach Kriegsende. Dabei wird das Profil der katholischen Zeitschrift Commonweal, die Dovifats Artikel veröffentlicht hat, ebenso beleuchtet wie die Positionen, die in der amerikanischen Presse zum Attentat des 20. Juli vertreten wurden und gegen die Dovifat sich wendete. Schließlich ist zu fragen, wie der Artikel rezipiert wurde und welcher Stellenwert ihm in der frühen Aufarbeitung des Widerstandes zukommt.
II
„The Twentieth of July 1944" macht deutliche Anleihen bei zwei Artikeln der christdemokratischen Tageszeitung Neue Zeit (NZ), die Dovifat bis zum 12. Oktober 1945 als erster Chefredakteur leitete. Als eine erste Vorlage diente der lediglich mit drei Sternen gezeichnete Artikel „Um den 20. Juli" in der ersten Ausgabe der NZ vom 22. Juli 1945.3 „Um den 20. Juli" stammt von Dovifat selbst.4 Er stimmt im Tenor mit dem Commonweal-Aruke\ überein: Der 20. Juli sei „der große Versuch des deutschen Volkes, sich von der Schmach der Hitlerherrschaft zu befreien." Der NZ-Artikel hebt den Beitrag der christlichen Gewerkschafter unter den Widerständlern hervor. Anders als der spätere Artikel in Commonweal zieht er zudem eine Linie vom 20. Juli zur Gründung der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands. Außerdem berichtet ein Absatz von der Gedenkfeier anläßlich des ersten Jahrestags des Attentates. Deutlicher als im amerikanischen Artikel betont der anonyme Autor in der NZ das Motiv der Attentäter: Sie seien getrieben worden von der „Erkenntnis, daß das deutsche Volk eine eigene Tat setzen mußte, um auch die Welt erkennen zu lassen, daß es in Deutschland Männer gab, die aus eigener Kraft unter Einsatz ihres Lebens den Verbrechen ein Ende machten, die zwölf Jahre lang ,im Namen des deutschen Volkes"* geschehen waren. Beide Artikel zitieren aus einem Dokument, das Dovifat offensichtlich für die vorgesehene Regierungserklärung Goerdelers hielt. 3
[Anonym], Um den 20. Juli, Neue Zeit, Nr. l (22. . 1945), 3. Vgl. Dokumententeil, Nr. 26. 4 Dies ist die Auskunft der Tochter Emil Dovifats, Frau Dr. Dorothee von Dadelsen, Tübingen (9.XI.1996), der ich für ihre Hilfe herzlich danke.
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Ein direkter Textvergleich des ungezeichneten Artikels aus der WZ mit dem Beitrag aus Commonweal belegt die Autorenschaft Dovifats. Ganze Sätze wurden lediglich übersetzt: „Wer die Männer kannte, die in dem Drama vom 20. Juli ins Rampenlicht traten, weiß, wie sehr Scham und Entsetzen über die Schändung des deutschen Namens in ihnen brannte."
„Whoever knew the men who so suddenly came into the limelight with the tragedy of July 20, knows that they were motivated by sorrow and indignation over the damage suffered by the German name through Hitlerdom."
„Ihre Ziele waren neben der Selbstreinigung des Volkes der unbedingte Wille, den Frieden zu schaffen und in kurzer Zeit einen demokratischen Staat zu bilden, der Recht, Menschenwürde und Anstand im deutsehen Volke wiederherstellte."
„Besides the purification of the German attitude it was the aim of these men to obtain a peace which might lead to a democratic state, and once more restore righteousness, human dignity and decency to the German people."5
Die zweite Vorlage für den Commonweal-Artikel stammt aus der Neuen Zeit vom 9. September 1945: Hier erschien auf der Titelseite der NZ neben Dovifats Leitartikel „Den Streitern des Geistes" eine Liste mit den Namen der Verschwörer. „Die Toten des 20. Juli" war eine reine Namensliste, die für die amerikanische Leserschaft dann um Beruf und jeweilige Funktion ergänzt wurde.6 Wie Dovifat die Verbindung zur Zeitschrift Commonweal herstellte oder ob die Redaktion an ihn herantrat, läßt sich nicht mehr zweifelsfrei 5
Eine dritte Passage ist zwar nicht direkt übersetzt, wirkt in ihrer Ähnlichkeit trotzdem deutlich. Im A/Z-Artikel heißt es: „[Die Verschwörer] sahen [im Attentat] die einzige Möglichkeit, das deutsche Volk vor den furchtbaren weiteren Schicksalen zu bewahren, die es durch sinnlose Weiterführung eines verlorenen Krieges nun tragen mußte." In der englischen Version steht: „But the men of July 20 regarded their plot as the only possibility of saving the people from the most terrible sacrifices and destruction, and held firmly to their purpose of taking upon themselves the odium of ,having prematurely called a halt'." 6 Die Toten des 20. Juli, Neue Zeit, Nr. 43 (9.IX.1945), 1; Emil Dovifat, Den Streitern des Geistes, Neue Zeit, Nr. 43 (9.IX.1945), 1.
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rekonstruieren. Möglicherweise kam „The Twentieth of July 1944" auf Vermittlung des an der University of Notre Dame lehrenden Politologen Waldemar Gurian zustande, der wie Dovifat Mitglied der katholischen Newman-Society war.7 Die falsche Schreibung des Namens legt nahe, daß Dovifat der Redaktion zuvor nicht bekannt war. Vermutlich hatte er wegen der unzureichenden Postverbindung zwischen Deutschland und den USA auch nicht die Möglichkeit zur Korrektur der Druckfahnen bekommen, denn Dovifat wären die vielen Schreibfehler bei den Namen der Verschwörer auf der angefügten Liste aufgefallen. Dovifat veröffentlichte seine Sicht des 20. Juli in der jüngsten der drei katholischen Zeitschriften in den USA. Ihr Gründer Michael Williams war 1924 darum bemüht, mit Commonweal ein katholisches Äquivalent zur liberalen New Republic zu schaffen. Anders als Catholic World und die jesuitische Zeitschrift America setzte sich die Redaktion von Commonweal aus Laien zusammen. Die Zeitschrift sollte nicht nur Katholiken ansprechen, sondern wendete sich der Gründungsidee Williams' gemäß gegen eine katholische „ghetto mentality".8 Geführt von Commonweal, standen die katholischen Blätter bis 1944 allein in ihrer dezidierten Ablehnung alliierter Bombenangriffe auf zivile Ziele in Deutschland. Christlich-ethische Gründe waren zu diesem Zeitpunkt dafür ausschlaggebend, noch keine grundsätzlich pro-deutsche Haltung.9 Commonweal ließ stets Vertreter verschiedener Positionen in der Debatte um Deutschlands Zukunft zu Wort kommen,10 bezog dann aber spä7
Auskunft von Frau Dr. von Dadelsen (9.XI.1996). Die Korrespondenz der damaligen Commonweal-Redaktion ist im Gegensatz zu den übrigen Unterlagen der Redaktion nicht den Archives of the University of Notre Dame, Indiana, übergeben worden. Auch der Nachlaß Gurians im Archiv der University of Notre Dame sowie der Nachlaß Dovifats im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 92, enthalten keine Hinweise. Zu Waldemar Gurian vgl. Joachim Radkau, Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluß auf die amerikanische Europapolitik 1933—1945 (Düsseldorf: Berteismann 1971), 214—216. Gurian war regelmäßiger Mitarbeiter von Commonweal. 8 Rodger Van Allen, The Commonweal and American Catholicism (Philadelphia: Fortress Press 1974), 5—9; John M. Muresianu, War of Ideas. American Intellectuals and the World Crisis 1938—1945 (New York: Garland 1988), 68 f. 9 Muresianu, War of Ideas, 306—311, 416. 10 Zum Beispiel: F[erdinand] A. Hermens, Ferrero's Message. One Man's View of Germany's Future, Commonweal, vol. 39, Nr. 1 (22. X. 1943), 6—8; F[riedrich] W[ilhem] Foerster, Peace with Germany. What is the German „Problem"? Commonweal, vol. 39, Nr. 12 (7.1.1944), 297—300.
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testens Anfang 1946 selbst Position und nahm eine wohlwollende Haltung gegenüber Deutschland ein. So ermutigte die Redaktion ihre Leser, wieder Kontakte mit deutschen Gläubigen aufzunehmen und versuchte zumindest in dem ihr möglichen Rahmen, Deutschland einen „Neuanfang" zu ermöglichen.11 In der Debatte um den Kriegsgegner in der amerikanischen Publizistik hatte Commonweal sich damit der moderaten Position zugeordnet.
III In der Diskussion um Deutschlands Zukunft ließen sich schon während des Krieges drei Strömungen unterscheiden. Sie boten verschiedene Erklärungsmodelle für das Aufkommen, den Erfolg und den grundsätzlichen Charakter des Nationalsozialismus und leiteten daraus Vorschläge für die Behandlung der Deutschen nach Kriegsende ab:12 Die harte Position nahmen Anhänger einer Interpretation ein, die im Nationalsozialismus keine Verirrung deutscher Geschichte, sondern deren logische Konsequenz sahen. Sie boten für das Aufkommen des Nationalsozialismus Erklärungen an, die zu eigenwilligen, vor allem deterministischen Interpretationen deutscher Geschichte führten: Die Entwicklung setzte wahlweise bei den Teutonen, den Ordensrittern, spätestens aber bei Luther ein und sei, angetrieben vom sogenannten preußischen Militarismus, über etliche Stationen in die Gegenwart getragen worden. Für die Verbrechen des Regimes und die militärische Aggression machten die Vertreter dieser Interpretation das deutsche Volk und seine Führung gleichermaßen verantwortlich. Sie verlangten konsequent eine wirtschaftliche und militärische Entmachtung des Landes nach Kriegsende, gegebenenfalls sogar dessen Teilung, um einen „Dritten Weltkrieg" zu verhindern. In der Regel werden die Vertreter dieser Position nach dem britischen Lord Vansittart „Vansittartisten" genannt; dieser vertrat den harten Kurs gegenüber Deutschland in Eng11
Contact with Germany, Commonweal, vol. 43, Nr. 16 (1. .1946), 395 f.; Communications with Germans, vol. 43, Nr. 18 (15. .1946), 444 f. In der Leserbriefspalte wurde diese Initiative von Waldemar Gurian und Klaus Dohrn begrüßt. 12 Diese Einteilung folgt Jost Hermand, Vom Nazismus zum NATOismus. Das westdeutsche Wandlungswunder im Spiegel der Luce-Presse, in: Frank Trommler (Hg.), Amerika und die Deutschen. Bestandsaufnahme einer 300jährigen Geschichte (Opladen: Westdeutscher Verlag 1986), 421^35.
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land. Vansittart hatte mehrfach die Möglichkeit, seine Ansichten in die amerikanische Diskussion einzubringen13, und diese wurden verbreitet, aber auch verzerrt durch die Society for the Prevention of World War III. Diese wurde im Dezember 1943 von Friedrich Wilhelm Foerster und Isidore Lipschutz initiiert und stand unter der Präsidentschaft des Kriminalschriftstellers Rex Stout.14 Die Society gab ihre eigene Monatsschrift, Prevent World War III, heraus und zählte unter anderem die vormaligen Deutschland-Korrespondenten Edgar A. Mowrer und William L. Shirer, den Leiter des Propagandabüros aus dem Ersten Weltkrieg, George Creel, sowie den Literaturwissenschaftler Mark Van Doren zu ihren Mitgliedern.15 Auch die ehemalige Korrespondentin Sigrid Schultz, der Rundfunkjournalist Johannes Steel sowie die Publizisten Louis Nizer und Emil Ludwig gelten als Vertreter der „vansittartistischen" Position.16 Selbst Präsident Roosevelt teilte die Ansicht, daß man nicht zwischen Nazi-Führung und deutschem Volk unterscheiden könne, hielt sich allerdings öffentlich mit entsprechenden Äußerungen zurück.17 13
Vansittart's Twelve Points, New York Times Magazine (16.1.1944), 5, 36 f.; Germany's Third Try, Atlantic Monthly, vol. 176, Nr. 2 (August 1945), 43—46. Vansittart war bis 1941 Unterstaatssekretär im Foreign Office. Vgl. zur Person und Diskussion in England Aaron Goldman, Germans and Nazis. The Controversy over ,Vansittartism' in Britain during the Second World War, in: Journal of Contemporary History 14 (1979), 155—191. 14 John McAleer, Rex Stout. A Biography (Boston: Little Brown 1977), 329—333. 15 Joachim Radkau, Die Exil-Ideologie vom „anderen Deutschland" und die Vansittartisten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (10.1.1979), 31—48, 43 f. 16 Vgl. Emil Ludwig, The Germans. Double History of a Nation (New York: Little Brown 1941); Louis Nizer, What to do with Germany (Chicago/New York: ZiffDavis 1944); Sigrid Schultz, Germany Will Try Again (New York: Reynal & Hitchcock 1944); Johannes Steel, The Future of Europe (New York: Holt 1945). Zu Steel vgl. Sigrid Schneider, Johannes Steel: „The Future of Europe". Analysen und Konzepte eines populären Journalisten in den USA, in: Thomas Koebner et al. (Hgg.): Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939—1949 (Opladen: Westdeutscher Verlag 1987), 62—78. Zu Ludwig vgl. Wulf Köpke, Die Bestrafung und Besserung der Deutschen. Über die amerikanischen Kriegsziele, über Völkerpsychologie und Emil Ludwig, ibid., 79—87. 17 Michaela Hönicke, ,Know Your Enemy': American Wartime Images of Germany, 1942/43, in: Ragnhild Fiebig-von Hase und Ursula Lehmkuhl (Hgg.), Enemy Images in American History (Providence, RI: Berghahn; in Vorbereitung), l—46, 7 f. — Die im Dezember 1997 publizierte Fassung dieses Beitrags konnte hier nicht mehr berücksichtigt werden; vgl. dort 231—278.
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Anders als die „Vansittartisten" gingen Vertreter einer moderaten Position von einer Verführung der Deutschen durch die Nationalsozialisten aus; ihnen erschien das deutsche Volk quasi als erstes Opfer des Regimes. Diese Interpretation ließ Raum für eine Unterscheidung zwischen „good Germans" und „bad Nazis". Nach dem Kriege müßte das Volk den schädlichen Einflüssen entzogen und die individuell Schuldigen bestraft werden. Die Journalisten Dorothy Thompson, Howard K. Smith und Louis P. Lochner verfolgten diesen gemäßigten Kurs. Ebenso die Organisation American Friends of German Freedom, die 1935 unter dem Vorsitz des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr gegründet worden war und sich vorgenommen hatte, den „aktiven antinazistischen Kampf innerhalb und außerhalb Deutschlands" zu unterstützen.18 Niebuhr förderte auch die Gründung des Council for a Democratic Germany. Gemeinsam mit Dorothy Thompson verfaßte er die Einladung zum Gründungstreffen, die unter anderem auch der Philosoph John Dewey unterzeichnete. Das Council war als Zusammenschluß des politischen Exils im März 1944 unter dem Vorsitz des emigrierten Theologen Paul Tillich ins Leben gerufen worden, erlangte aber keinerlei politischen Einfluß.19 Auch das Propaganda-Büro der amerikanischen Regierung, das Office of War Information, folgte lange der Devise: „The enemy is not the German people" und rückte erst auf Protest der Verbündeten langsam davon ab. In den Jahren 1942/43 beschränkte es sich darauf, die bereits vorhandenen Einstellungen zu Deutschland zu bestätigen und zu verstärken, anstatt das Deutschlandbild aktiv umzuformen.20 Diese Einstellungen, also die Wahrnehmung Deutschlands außerhalb der intellektuellen Kreise, deckten sich bis Mitte 1944 mit den Ansichten innerhalb der moderaten Position: Vor allem eine Trennung zwischen der NaziFührung, die es zu bekämpfen galt, und der breiten Masse der Deutschen war weit verbreitet.21 Daß die deutsche Bevölkerung sich nicht ge18
Claus-Dieter Krohn, Der Council for a Democratic Germany, in: Ursula LangkauAlex, Thomas M. Ruprecht, Was soll aus Deutschland werden? The Council for a Democratic Germany in New York 1944—1945 (Frankfurt/M.: Campus 1995), 17—48, 22 und passim. American Friends of German Freedom nannte sich seit September 1944 Association for a Democratic Germany. 19 Zum Council vgl. Krohn, Council for a Democratic Germany, 17—48. 20 Hönicke, ,Know Your Enemy', 8—20, passim; Zitat 16. 21 Die Gallup-Umfragen dokumentieren diese Trennung immer wieder: Im Juni 1942 hielten 79 % der Befragten die Nazi-Führung für den Kriegsgegner, nur 6 % nannten das deutsche Volk. Das Ergebnis hatte sich im Dezember 1942 nur geringfü-
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gen das Regime auflehnte, erkläre sich durch den Terror der Nazis gegen die eigene Bevölkerung.22 Eine dritte, eine „weiche" Einstellung gegenüber Deutschland erwuchs nicht aus einer Analyse des Nationalsozialismus, sondern des Kommunismus unter Stalin. Sie sah in der Sowjetunion den ideologischen Kontrahenten der näheren Zukunft. Deutschland kam dabei eine Funktion als „Bollwerk" zu, was eine wirtschaftliche Abrüstung nach dem Krieg ausschloß. Diese antikommunistische Position spielte im öffentlichen Diskurs der Kriegsjahre aus Rücksicht auf die alliierte Sowjetunion eine untergeordnete Rolle. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, die Betrachtung der verschiedenen Positionen in der Deutschland-Debatte dürfe nicht auf die Unterscheidung reduziert werden, ob Nazis und Deutsche gleichgesetzt oder ein „anderes Deutschland" mit „guten Deutschen" wahrgenommen wurde.23 Tatsächlich simplifiziert ein solches Vorgehen die oft tiefgehenden Analysen und Interpretationen des sogenannten „German problem", wie überhaupt eine Einteilung in die genannten drei Positionen nur eine Hilfskonstruktion sein kann, um die Debatte darstellbar zu machen. Individuellen Standpunkten kann sie lediglich in engen Grenzen gerecht werden.24 Dennoch brachte immer wieder diese Unterscheidung die Diskutanten gegeneinander auf und führte oft zu einer polemi-
gig verschoben, weil die Antwort „Beide" als Möglichkeit hinzugetreten war. Vgl. The Gallup Poll. Public Opinion 1935—1971. Bd. I, 1935—1948 (New York: Random House 1972), 337, 356. 22 Michaela Hönicke, Wartime Images of the Enemy and the German-American Encounters at „Zero Hour", Borderline 2 (1995), 166—194, 176. Ein britischer Stimmungsbericht von Anfang 1943 über die „German Lobby" in den USA macht den guten Ruf der Deutsch-Amerikaner und das schlechte Gewissen über die Behandlung dieser Ethnic im Krieg 1914/18 dafür mitverantwortlich, daß sich wenig Antipathie gegen Deutschland entwickle. Vgl. The »German Lobby' in the United States. Bericht des Political Intelligence Department (21.1.1943), in: Lothar Kettenacker (Hg.), Das „Andere Deutschland" im Zweiten Weltkrieg. Emigration und Widerstand in internationaler Perspektive (Stuttgart: Klett 1977), 218—221. 23 Köpke, Bestrafung und Besserung, 80. 24 Wie wenig z. B. Dorothy Thompson in dieses Schema paßt, zeigt Peter Kurth, American Cassandra. The Life of Dorothy Thompson (Boston: Little Brown 1990), 358—381, bes. 364 f.
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sehen Verkürzung der Debatte auf Schlagwörter.25 In der Präambel der Society for the Prevention of World War III heißt es jedenfalls: „The Widespread habit of setting the Nazis apart from the German people results from an inadequate knowledge of German history. [...] The forces in Germany that raised Hitler to power and have maintained him, are the identical forces that stood behind Bismarck, and Kaiser Wilhelm."26 Eine heutige Betrachtung der Positionen anhand der Trennlinie zwischen „bad Nazis" und „good Germans" verstellt zudem den Blick darauf, daß die Deutschland-Debatte in intellektuellen Kreisen eigentlich eine oft heftige Diskussion um den besten Weg zum gleichen Ziel war, nämlich bleibenden Frieden zu stiften und Deutschland das Potential für militärische Aggression zu nehmen.27 Die jeweilige Einschätzung des Nationalsozialismus war dabei ausschlaggebend, welcher Weg zu diesem Ziel für vielversprechend gehalten wurde. Wann welche Position den öffentlichen Diskurs dominierte, ergab sich jeweils als Reflex auf den Kriegsverlauf. Als die steigenden Verluste beim Kampf gegen die Wehrmacht den Krieg gegen Deutschland in den USA spürbarer machten, begann auch das Bild von Deutschland sich Mitte 1944 zu verdüstern. Gleichzeitig gingen die Befürworter eines harten Kurses publizistisch in die Offensive. Was in der Literatur als „Wechsel der öffentlichen Mei25
Vgl. z. B. George Creel, What We Will Do With Germany, Reader's Digest, vol. 46, Nr. 273 (Januar 1945), 30—34, 33, der sich mokiert über die „sentimentals who cling to the myth of ,good Germans'." Der Artikel war ursprünglich bei Collier's erschienen. Vgl. auch William L. Shirer, ,Good Germans' as Dangerous as Nazis, Propaganda Shows, Washington Post (6. .1944), 2B. 26 The Society for the Prevention of World War , Inc., Prevent World War III, vol. 1, Nr. 6 (Dez. 1944), o. S.; Hervorhebung im Original. Ich danke Michaela Hönicke 0ohn F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Berlin) für diese Quelle. 27 Hönicke, Wartime Images, 184. Daß die Vertreter des moderaten Kurses und die „Vansittartisten" nicht gerade zimperlich miteinander umgingen, zeigt die Reaktion auf den Leitartikel: The Shame of American Writers, Common Sense, vol. 13, Nr. 5 (Mai 1944), 187, in dem der Vorsitzende des Writers' War Board, Rex Stout, für seinen „Rachefeldzug" gegen Deutschland angegriffen wird. 25 Schriftsteller, Publizisten und Journalisten, darunter der Leiter des Office of War Information, Elmer Davis, bezogen zu diesem Artikel Stellung und liefern so einen guten Überblick über die Positionen in der Deutschland-Debatte: American Writers on Germany, Common Sense, vol. 13, Nr. 6 Quni 1944), 206—212.
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nung"28 beschrieben wird, ist jedoch sinnvoller als Überlagerung der moderaten Position durch die „Vansittartisten" zu begreifen. Der moderate Kurs wurde von seinen Befürwortern auch weiterhin vertreten, nur dominierte er die öffentliche Debatte nicht länger. Dies wird gerade bei der Bewertung des Attentats vom 20. Juli durch amerikanische Kommentatoren deutlich, bei der nun die „vansittartistische" Interpretation bestimmend wurde.
IV Die amerikanische Presse war unmittelbar nach dem Attentat vornehmlich auf die Verlautbarungen aus Deutschland selbst und auf ihre in London und Stockholm stationierten Korrespondenten angewiesen. Die Berichte und Kommentare standen deshalb oft auf nur dünner Grundlage und waren bestimmt von Vermutungen, Gerüchten und Falschmeldungen.29 Trotz der unzuverlässigen Faktenlage und obwohl das Attentat in der Berichterstattung mit der vierten Nominierung Roosevelts zum Präsidentschaftskandidaten und dem Rücktritt des Kabinetts Tojo in Japan konkurrierte, war der Anschlag auf Hitler die dominierende Meldung. Sie hat, so sah es der Karikaturist der Pittsburgh-Post Gazette, „Uncle Sam" regelrecht vom Stuhl gerissen (Abb. 1). 28
Köpke, Bestrafung und Besserung, 79. Birdsall S. Viault, Le 20 Juillet 1944 vu d'Amerique, in: Guerres Mondiales et Conflicts Contemporains 163 (1991), 91—104, trägt die kuriosesten Falschmeldungen und Gerüchte zusammen, z. B. die Meldung der New York Times (NYT) vom 23. Juli 1944, die Generäle Keitel und von Brauchitsch, Halder und Beck hätten eine Gegenregierung gegründet, oder die Meldung der Associated Press in der Washington Post vom 9. August 1944, eine zweite Revolte hätte stattgefunden, bei der Himmler umgekommen und Goring schwer verletzt worden sei. Viault beschäftigt sich ausführlich mit den Reaktionen amerikanischer Kommentatoren auf das Attentat vom 20. Juli. Allerdings trägt er vornehmlich Zitate zusammen, ohne den jeweiligen Verfassern genügend Aufmerksamkeit zu widmen. Das führt unter anderem dazu, daß er Dorothy Thompson zu Unrecht als deutschfeindlich einstuft. Viault kommt zu dem Schluß, amerikanische Kommentatoren seien zu einer falschen Interpretation deutscher und generell der europäischen Politik gelangt, und schreibt die verzerrende Bewertung des 20. Juli den „passions de la guerre" zu. Dabei beachtet er nicht, daß es in der Deutschlanddiskussion grundsätzlich verschiedene Positionen gab und demnach Begriffe wie „richtig" oder „falsch" unangemessen sind. 29
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NO TIME
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LETHARGY
Abb. 1: No Time For Lethargy, in: New York Times Nr. 31592, 23. VII. 1944, 2 B. Zeichnung von Hungerfora in The Pittsburgh Post-Gazette. Die Nachricht „Roosevelt Nominated Again" stört „Uncle Sam" in seinem Schlummer, während die Schlagzeile „ Tojo Cabinet Quit" ihn richtig weckt. Regelrecht vom Stuhl reißt ihn aber erst die Nachricht „A Bomb Thrown at Hitler".
Die unmittelbaren Bewertungen des Attentats waren fast ausschließlich negativ und fügten sich nahtlos in den immer stärker „vansittartistisch" geprägten Diskurs ein. Neben den amerikanischen Kommentatoren meldeten sich etliche der deutschen Emigranten zu Wort. Geprägt wurde die Diskussion um den Umsturzversuch allerdings von dem Urteil des führenden Kolumnisten jener Zeit, von Walter Lippmann. Seine Kolumne erschien in seinem Stammblatt, der New York Herald Tribune, sowie in über einhundert regionalen Tageszeitungen und erreichte schätzungsweise zehn Millionen Leser.30 Er sah in der Verschwörung eine begrüßenswerte Palastrevolte, in der Parteiführung und Militär sich gegenseitig zerstörten: „This is the way the monstrous Reich should end, in an implacable struggle among those who made it the terror of mankind. Their victims can never be as ruthless with them as they themselves, habituated in horror, will in desperation be with one another. The Allies
30
Zur Verbreitung von Lippmann vgl. Muresianu, War of Ideas, 14.
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have not the slightest reason to shorten or mitigate this internal German struggle."31 Einige Motive begegnen in den Artikeln zum Attentat der Monate Juli und August immer wieder: Ausgehend von der Rundfunkrede Hitlers unmittelbar nach dem Anschlag, die in etlichen amerikanischen Zeitungen übersetzt wurde und die eine erste wichtige Information war, vermutete man hinter der Verschwörung nur Militärangehörige.32 Kaum ein Artikel verzichtete auf die Bezeichnung „Junker generals", „Junker chiefs" oder einfach „Prussian officers" für die Verschwörer und stellte damit die Verbindung her zu dem gerade gängigen Bild deutscher Geschichte als Entwicklung von Luther via Bismarck zu Hitler, mit deutschem Militarismus als treibender Kraft. Der Begriff „Junker" implizierte in diesem Erklärungsmuster eine Mitschuld am Aufstieg Hitlers. Barnet Nover, Kolumnist der Washington Post, formuliert diesen Gedanken unmißverständlich: „The German generals went along with Hitler every step of the way until defeat began to stare Germany in the face. They did not protest the seizure of power by the Nazis but welcomed it. They took no steps to prevent the massacre of the Jews, the extermination of Poles, Russians, Yugoslavs and other conquered people.[...] At every stage the Junker generals have been the collaborators and the accomplices of the Nazis. What irks them today is not that Hitler is a Nazi but that he is a failure."33 Das Attribut „anti-Nazi" sei für diese Generäle nicht angemessen. Nicht moralische Bedenken, sondern Status-Denken habe sie gegen Hitler aufgebracht:
31
Walter Lippmann, The Coming German Civil War, Washington Post, Nr. 24873 (22. .1944), 5. 32 Immer wieder zitiert wird Hitler mit dem Satz: „An extremely small clique of ambitious, unscrupulous and at the same time foolish, criminally stupid officers hatched a plot to remove me, and together with me, virtually to extermine the staff of the German high command". Chicago Daily Tnbune, Nr. 174 (21.VII.1944), 1; New York Times, Nr. 31590 (21.Vn.1944), 3; Washington Post, Nr. 24872 (21.VH.1944), 2; Time, vol. 44, Nr. 5 (31.Vn.1944), 26. 33 Barnet Nover, Nazis and Junkers, Washington Post, Nr. 24876 (25. VH. 1944), 8.
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„The mutinous generals want to cut their losses while there is still time, save what they can from the wreckage of their hopes and ambitions. Above all they want to salvage what they can of the prestige of the German army by saddling the responsibility for Germany's second defeat in a quarter of a century on the Nazi regime."34 Der Vergleich mit der Situation vom Herbst 1918 drängte sich etlichen Kommentatoren auf. Eine neue Dolchstoßlegende käme der militärischen Führung angesichts der Lage durchaus gelegen, stellte die Illustrierte LIFE fest.35 Die Generalität verfolge damit dieselben Ziele wie Ludendorff 1918, schrieb der Emigrant Walter Mehring in Nation: Man wollte nach dem erfolgreichen Attentat die Verantwortung für die Kriegführung auf Hitler abwälzen, die militärische Kaste über die Niederlage hinaus retten und sich in aller Ruhe auf einen Dritten Weltkrieg vorbereiten, gemäß Ludendorffs Ausspruch: „The game is lost this time. [...] War has its ups and downs. Perhaps another time Germany will have better luck."36 In der Zeitschrift Nation wurde selbst die Authentizität des Attentats sogar mehrfach angezweifelt. Hitler habe einen Vorwand gesucht, um erneut eine „Nacht der langen Messer" wie 1934 zu inszenieren; die Bombe sei nur eine andere Art von „Reichstagsbrand" und demnach eine Erfindung Goebbels'.37 Paul Winkler, dezidierter „Vansittartist", ver34
Ibid. Ebenso deutlich äußert sich Edwin L. James, Hitler Seems Master of First Army Revolt, NYT, Nr. 31592 (23.VII. 1944), E 3: „It is not to be presumed that the German generals were working for the sake of the Allies. They were working for their own sake. [...] They wished to take over with the idea they could make a better deal for Germany than could Hitler. Back in their minds was, of course, the desire to do something to preserve the force of the German officers clique, which had been skillful enough to survive the 1918 military catastrophe of Germany and bring the Reich back to where it could start World War II." 35 Explosion in Germany, LIFE, vol. 17, Nr. 6 (7.VIH.1944), 28. 36 Walter Mehring, Last of the Scapegoats, Nation, vol. 159, Nr. 5 (29.Vn.1944), 128 f. Passagen des zum Teil polemischen Artikels wurden nachgedruckt in Aufbau/Reconstructwn, vol. 10, Nr. 31 (4.VIII. 1944), 5. Zu Mehring vgl. Werner Röder und Herbert A. Strauss, International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933—1945, hg. vom Institut für Zeitgeschichte und der Research Foundation for Jewish Immigration, 4 Bde. (München: Säur 1983), , 795 f. 37 Behind the Generals' Plot, Nation, vol. 159, Nr. 5 (29.VH1944), 115 f.; Argus [=Konrad Heiden], Behind the Enemy Line: Goebbels' Biggest Lie, Nation, vol. 159, Nr. 6 (5.VEI.1944), 156 f.
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trat eine ähnliche Ansicht. Angesichts des tatsächlich komplizierten Ablaufs des Umsturzversuchs und des Informationsstandes in den Vereinigten Staaten müssen Sätze wie der folgende für die Leser einleuchtend geklungen haben: „It is at least curious that an army-inspired attack on Hitler failed. If leading German generals wanted to kill Hitler, they ought to have been able to do so. No one has better facilities than they for the purpose. A revolver shot fired at close range would hardly miss its target."38 Die Einhelligkeit des Urteils zum Umsturzversuch am 20. Juli 1944 ist frappierend und hat bereits Zeitgenossen veranlaßt, eine Presseanweisung aus Washington dahinter zu vermuten. Gerade im Mai 1944 hatten Meinungsforscher im Auftrage der US-Regierung wachsende Sorge vor der erwarteten Invasion in Frankreich registriert, die sich in einer relativ hohen Bereitschaft zu einem Verhandlungsfrieden ausdrückte: 38 Prozent der Befragten würden einen solchen akzeptieren, wenn die deutschen Generäle Hitler entmachteten.39 Als im Juli 1944 die Möglichkeit eines Verhandlungsfriedens der Realität nahe rückte, galt es, die Unter38
Paul Winkler, Attack on Hitler, Washington Post, Nr. 24875 (24. . 1944), 10. Winkler war Mitglied in der „Society for the Prevention of World War ". Vgl. Radkau, Deutsche Emigration in den USA, 208. Dorothy Thompson reagierte auf diesen Vorwurf — wenn vielleicht auch nicht bewußt — indem sie darauf verwies, daß Stauffenberg ob seiner Verletzung keine Pistole halten konnte. Vgl. dies., Deutsche, die Hitler bekämpften, in: Karl O. Paetel, Deutsche Innere Emigration. AntiNationalsozialistische Zeugnisse aus Deutschland (Dokumente des Anderen Deutschland IV) (New York: Friedrich Krause 1946), 9—28, 16. 39 Im Stimmungsbericht des britischen Botschafters in Washington vom 29.VH1944 heißt es: „Press is apparently following an official lead from Washington and papers of all shades of opinion are stressing that much hard fighting lies ahead." Washington Despatches 1941—1945. Weekly Political Reports from the British Embassy, hg. von H. G. Nicholas (Chicago, 111.: Univ. of Chicago Press 1981), 394; ein entsprechender Hinweis auch bei Louis P. Lochner, Always the Unexpected. A Book of Reminiscences (New York: Macmillan 1956), 294 f. Mit Bezug auf Lochner geht zudem Klemens von Klemperer, German Resistance Against Hitler. The Search for Allies Abroad, 1938—1945 (Oxford: Clarendon 1992), 386, von einer Pressedirektive aus. Ohne Beleg dieselbe Vermutung bei Walther Hofer, Das Attentat der Offiziere und das Ausland, in: Rudolf Lill und Heinrich Oberreuter (Hgg.), 20. Juli: Portraits des Widerstandes (Düsseldorf: Econ 1984), 47—62, 50.
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Stützung für die Politik der bedingungslosen Kapitulation nicht weiter bröckeln zu lassen. Einer Richtlinie an die Presse — wenn es sie gegeben hatte — wären also vor allem drei Funktionen zugekommen: Optimismus über ein baldiges Kriegsende in Europa sollte vermieden, die Kriegsanstrengungen nicht gemindert und die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation unterstrichen werden.40 Ganz in diesem Sinne warnte Paul Winkler in der Washington Post davor, auf die „guten Deutschen" in Deutschland zu hoffen, eine Warnung, die auch in einer Karikatur der New York Times aufgegriffen wurde (Abb. 2). Letztlich kämpften in Deutschland nur zwei Arten des „Bösen" gegeneinander: „Let them fight it out together in the pit."41 Die publizistischen Reaktionen speziell der deutschen Emigranten auf das Attentat legen nahe, daß einige von ihnen mit einer bitteren Erkenntnis kämpfen mußten: Der 20. Juli hatte gezeigt, daß Widerstand letztlich nur in Deutschland selbst greifbare Ergebnisse bringen könnte. Das politische Exil mußte so gesehen vergeblich erscheinen. Ein gewisses Unbehagen mag deshalb in den Artikeln der Emigranten mitschwingen.42 Und obwohl die Trennlinie in der Deutschland-Debatte eher zwischen „Vansittartisten" und moderaten Diskutanten verlief, unterscheiden sich die Artikel der Emigranten in der Substanz von denen ihrer eingesessenen Kollegen durch eine ausgewogenere Interpretation. Karl O. Paetel arbeitete in New Republic am deutlichsten die Konsequenzen der Verschwörung hinsichtlich der Machtfülle Himmlers heraus.43 Alfred Vagts ging in Nation mit jenen ins Gericht, die einen ,Black Record* für Deutschland etablieren wollten. Mit dieser Anspielung auf ein Buch Lord Vansittarts verwahrte er sich gegen die allzu simplen Geschichtskonstruktionen. Vagts war der einzige, der auf „Junker" verzichtete und
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Die Information wurde umgehend an Roosevelt weitergeleitet. Vgl. Richard W. Steele, American Popular Opinion and the War Against Germany: The Issue of Negotiated Peace, 1942, in: Journal of American History 65 (1978), 704—723, 722. 41 Paul Winkler, Junkers' Revolt, Washington Post, Nr. 24880 (29. . 1944), 4. 42 Radkau, Deutsche Emigration in den USA, 234. 43 Karl O. Paetel, The Crisis in Germany, New Republic, vol. Ill, Nr. 6 (7.VHI.1944), 154 f. Paetel hatte sich zuvor bereits zu Himmlers neuen Kompetenzen geäußert in: Himmler kontrolliert .Ersatzheer', Aufoau/Reconstruction, vol. 10, Nr. 31 (4.VIH.1944), 5. Paetel war einer der Erstunterzeichner der Deklaration zur Gründung des Council for a Democratic Germany im März 1944. Zu Paetel vgl. Biographical Dictionary, I, 546.
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LOOK OUT FOR THE
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PHOENIX
Abb. 2:Look Out For the Phoenix, in: New York Times Nr. 31592, 23.VII.1944, E 3. Zeichnung von Butterworth in The Manchester Daily Dispatch. Über den sicheren Anzeichen der kommenden Niederlage (Berlin Bombing, Russian Advance, Colossal Crack Coming in France) und den Trümmern Deutschlands schwebt der unschuldig lächelnde „gute Deutsche" mit Engelsflügeln. Er trägt einen Ölzweig als Friedensangebot in der einen, aber ein Köfferchen mit Plänen für einen kommenden Krieg in der anderen Hand.
statt dessen von „noblemen" und einem „Adelsputsch" sprach.44 Aber auch die Emigranten wandten sich nicht gegen den Konsens in der amerikanischen Presse bei der Beurteilung der Verschwörung: „The officers who revolted were certainly not opposed to Hitler on any sort of principle of morality."45 Die New Yorker Wochenzeitung Aufbau/Reconstruction schloß sich sogar dem radikalen Urteil Walter Lippmanns an. 44
Alfred Vagts, The Putsch that Failed, Nation, vol. 159, Nr. 6 (5. Zu Vagts vgl. Biographical Dictionary, , 1187. 45 Paetel, The Crisis in Germany, New Republic, 155.
.1944), 152 f.
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Chefredakteur Manfred George stellte die redaktionelle Linie zu diesem Thema ganz auf den Kolumnisten der New York Herald Tribune ab46 und druckte auch Lippmanns scharfen Artikel „The Corning German Civil War" nach.
V
Gegenüber der negativen und abwertenden Position der Kommentatoren amerikanischer Zeitungen und Zeitschriften erscheint Dovifats Artikel als bewußter Versuch, der Leserschaft von Commonweal nach Kriegsende ein anderes, positives Bild des Umsturzversuchs zu vermitteln und mit Nachdruck auf die Existenz des oft beschworenen „anderen Deutschland" hinzuweisen. Um sich bewußt gegen eine bestimmte Position zu wenden, muß man diese allerdings auch kennen. Tatsächlich hatte Dovifat während des Krieges Zugang zur US-amerikanischen Presse. Als Leiter des Deutschen Instituts für Zeitungswissenschaft konnte er sich schon 1933 das Privileg sichern, die in Deutschland verbotene Auslandspresse zu „ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken" zu beziehen. Daneben sammelte er Material zum Widerstand und zur Emigration an, um deren Tätigkeit später einmal dokumentieren zu können.47 Seine Sammlung kam ihm bei der Arbeit am Commonweal-Artikel offensichtlich zugute. Im Einklang mit der redaktionellen Linie von Commonweal ordnete sich auch Dovifat der moderaten Position innerhalb der DeutschlandDebatte zu. Er markiert dies am deutlichsten durch seine Unterscheidung zwischen dem Nazi-Regime und dem deutschen Volk. Dovifat spricht von „Hitlerism", der eine Gefahr für das deutsche Volk gewesen sei, sowie vom „Hitler yoke", jenem Joch, von dem die Deutschen befreit werden mußten. Das Attentat vom 20. Juli sei der schlagende Be46
Manfred George, Vor dem Bürgerkrieg im Dritten Reich, Aufbau/Reconstruction, vol. 10, Nr. 30 (28.VÜM944), l f.; Eine Warnung, Aufbau/Reconstruction, vol. 10, Nr. 32 (11.VIH.1944), 2. Der Aufbau war ursprünglich die Vereinszeitung des German-Jewish Club in New York und entwickelte sich zum führenden Organ der politischen Emigration. Zum Auß>au/Reconstruction vgl. Radkau, Deutsche Emigration in den USA, 126—143, bes. 141 f. 47 Klaus-Ulrich Benedikt, Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen 42), (Mainz: Grünewald 1986), 15, 135.
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weis, „that by no means [the German people] marched in absolutely closed ranks behind Hitler [...]·" Angesichts der Argumente aus dem „vansittartistischen" Lager ist es nur folgerichtig für Dovifat, zu behaupten, „the German people regard the men of the Twentieth of July with pride", denn mit Stolz auf die Verschwörer blicken konnte nur, wer zuvor das Hitler-Regime als Unrecht begriffen hatte. Von einer solchen Einstellung, wie Dovifat sie bei seinen Landsleuten beobachtet haben will, kann aber im Winter 1945 schwerlich die Rede sein: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung waren die Kenntnisse über das Attentat in weiten Kreisen der Bevölkerung noch von der nationalsozialistischen Propaganda bestimmt, ein authentisches Wissen über die Ereignisse verschwindend gering. Wer sich unter dem Schock der „totalen Niederlage" überhaupt mit anderem als dem täglichen Überleben beschäftigte, haderte eher mit der Frage, ob die Attentäter als „Widerständler" oder „Landesverräter" einzuschätzen seien.48 Dovifats „The Twentieth of July" war nicht der einzige Artikel in der amerikanischen Presse, der den deutschen Widerstand nach Kriegsende noch einmal aufgriff. Das abwertende Urteil über die „Junker"Verschwörer war im Sommer 1944 unter anderem deshalb so leicht gefallen, weil die näheren Umstände des Umsturzversuchs nicht bekannt gewesen waren. Der wichtigste Schritt zur Neubewertung des 20. Juli bestand also darin, erst einmal den genauen Ablauf nachzuzeichnen. Noch im Mai 1945 rekonstruierte LIFE den Hergang anhand der Aussagen des Stenographen der Reichskanzlei, Heinz Buchholz.'19 Die Illustrierte Collier's widmete im Dezember 1945 dem Prozeß der Verschwörer vor dem Volksgerichtshof zwei Photoseiten, um damit die Fairness 48
Besonders die Diskussion der fünfziger Jahre wurde von der äußersten Rechten durch die These verwässert, die Verschwörer seien „Vaterlandsverräter". Vgl. Ulrich Schlie, Das Ausland und die deutsche Opposition gegen Hitler. Widerstandsforschung und politische Gegenwart seit 1945, Militärgeschichtliche Mitteilungen 52 (1993), 153—168, 157 f.; Christiane Toyka-Seid, Der Widerstand gegen Hitler und die westdeutsche Gesellschaft: Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte des „anderen Deutschland" in den frühen Nachknegsjahren, in: Peter Steinbach und Johannes Tuchel (Hgg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus (Bonn: Bundeszentrale 1994), 572—581; Norbert Frei, Erinnerungskampf. Zur Legitimationsproblematik des 20. Juli 1944 im Nachknegsdeutschland, in: Christian Jansen et al. (Hgg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhunden. FS für Hans Mommsen. Berlin 1995, 493—505. 49 Percy Knauth: The Hitler Bomb Plot, LIFE, vol. 18, Nr. 22 (28.V.1945), 17 f., 20, 23.
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des Nürnberger Haupkriegsverbrecherprozesses zu unterstreichen.50 Andere Artikel aus dem Jahr 1945 griffen sich bestimmte Widerstandsgruppen heraus, konzentrierten sich aber nicht auf das Juli-Attentat.51 Im Vergleich zu diesen frühen Berichten machen drei Aspekte Dovifats Artikel also zu einer Besonderheit: Erstens erwähnt er ausdrücklich die zivilen Beteiligten am Attentat, versucht also, den 20. Juli in seiner ganzen Breite darzustellen und der Fixierung auf Offiziere und Generäle entgegenzutreten. Die Beteiligung von Zivilisten an der Verschwörung wurde in der amerikanischen Presse erstmals bekannt, als ein Kopfgeld in Höhe von einer Million Reichsmark auf Goerdeler ausgesetzt wurde.52 Die Zivilisten unter den Widerständlern fanden aber kaum Aufmerksamkeit; zu stark hatte sich das Bild der „Generalsrevolte" bereits festgesetzt. Um die Opposition gegen Hitler vom Stigma des „Junkertums" zu befreien, mußte der Blick auf die Verschwörung vom 20. Juli jedoch erweitert werden. Ein ausgewogeneres Bild des „anderen Deutschland" in den USA, das einen Widerstand zeigte, der in allen Lebensbereichen und Klassen verwurzelt war, hätte die überlebenden Verschwörer für Schlüsselpositionen beim Neuaufbau empfehlen können. Über den Umweg der USA hätten die Hintergründe des 20. Juli 1944 auch in Deutschland selbst umfassender bekannt gemacht werden können. Denn die frühen Erlebnisberichte und
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Kenneth T. Downs, Trial by Fury, Collier's, vol. 116, Nr. 26 (29. .1945), 22 f. Eine positive Bewertung des Umsturzversuchs versuchte der Artikel nicht: „Our interest in this is not pity for the condemned, most of whom were icy Nazis when the going was good. Our interest is that we were looking at these pictures and thinking of the trials of the top Nazis at Nuremberg. A great deal of time was spent deciding how to try the Von Ribbemrops, the Goerings and the Streichers." 51 Zum katholischen Widerstand Friedrich Baerwald, Nazi Germany, Thought, vol. 20, Nr. 77 (June 1945), 217—234. Baerwald war einer der Erstunterzeichner der Deklaration zur Gründung des Council for a Democratic Germany im März 1944. Zu Baerwald vgl. Biographical Dictionary, , 47 f. Ein Anonymus veröffentlichte eine vierteilige Serie in der sozialdemokratischen New Yorker Neuen Volks-Zeitung: Verschwörer für Freiheit. Leben und Tod Adam Trott zu Solz', Neue Volks-Zeitung, Nr. 33—36 (IS.Vm. 1945—8.IX. 1945). Zum Arbeiterwiderstand Paul F. Nemenyi, The Record of the German Left, 2 Teile, Current History, vol. 9, Nr. 51 und 52 (Nov. und Dez. 1945), 439-^46 und 526—535. 52 [United Press], Nazis Put 1,000,000-Mark Price On Fugitive in Anti-Hitler Plot, New York Herald Tribune Nr. 35689 (2.VIII. 1944), 1. George Axelsson, Political Ferment Still at Work in Germany, MTNr. 31606 (6.VIIL1944), E 3.
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Tagebücher erreichten kein Massenpublikum, unter anderem weil sie meist in der Schweiz verlegt wurden.53 Zweitens zitiert Dovifat in seinen Artikeln in der Neuen Zeit und in Commonweal lange Passagen aus einem Dokument, das er als vorgesehene Regierungserklärung Goerdelers bezeichnet. Die Auszüge aus der Denkschrift sollten belegen, daß die Widerständler über ihr unmittelbares Ziel hinaus gemeinsame Interessen verfolgten und mehr anstrebten als nur den Sturz Hitlers. Dovifat spricht sogar von einem „democratic state" als Ziel der Verschwörer. Für ein US-amerikanisches Publikum war die Existenz eines solchen Programmes neu, wie überhaupt die Deutung des Attentats als internen Machtkampf keinen Raum für das politische Profil der Verschwörer gelassen hatte, sondern ihre „Programmatik" auf die Gegnerschaft zu Hitler reduzierte. Tatsächlich handelt es sich bei dem Dokument allerdings weder um die vorgesehene Regierungserklärung Goerdelers noch um die für den Fall des erfolgreichen Attentats vorbereitete Rundfunkansprache Goerdelers.54 Er zitiert statt 53
Hans Bernd Gisevius, Bis zum bitteren Ende, 2 Bde. (Zürich: Fretz & Wasmuth 1946); Ulrich von Hassell, Vom anderen Deutschland. Aus den nachgelassenen Tagebüchern 1938—1944 (Zürich: Atlantis 1946); Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler, hg. von Gero von Gaevernitz (Zürich: Europa 1946). Toyka-Seid, Widerstand gegen Hitler und westdeutsche Gesellschaft, 579, führt es auf die Zensur der Alliierten zurück, daß diese Schriften in der Schweiz verlegt wurden. Lothar Kettenacker, Die Haltung der Westalliierten gegenüber Hitlerattentat und Widerstand nach dem 20. Juli 1944, in: Gerd R. Ueberschär (Hg.), Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime (Freiburg: Bund 1994), 19—37, 26, spricht davon, das Thema deutscher Widerstand sei von den Besatzungsmächten tabuisiert worden. Dagegen argumentiert Frei, Erinnerungskampf, 495. Es ist denkbar, daß Schweizer Verlage aufgrund persönlicher Verbindungen für diese Publikationen gewählt wurden. Der Emigrant Friedrich Krause zum Beispiel war sehr an der Förderung des Themas interessiert. Er gab in seinem gleichnamigen Verlag in New York die „Dokumente des Anderen Deutschland" (4 Bde., 1945/46) heraus. In der Reihe erschien unter anderem das politische Testament Goerdelers. Krause war Miteigentümer des Europa-Verlags in Zürich, der dann die ersten Auflagen von Schlabrendorffs Bericht verlegte. Zu Krause vgl. Biographical Dictionary, I, 39If. 54 Die Regierungserklärung bei Peter Steinbach und Johannes Tuchel, Widerstand in Deutschland 1933—1945. Ein historisches Lesebuch (München: Beck 1994), 333— 345. Die Rundfunkansprache gibt es in zwei Versionen: 1) Das Regierungsprogramm vom 20. Juli 1944. Karl Goerdelers geplante Rundfunkrede nach Übernahme der öffentlichen Gewalt. Aus dem Nachlaß hg. von Gerhard Ritter, Die Gegenwart l (24.VI. 1946), 11—14; 2) Rundfunkansprache (Entwurf von Goerdeler), in: Bodo
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dessen aus der Denkschrift „Grundsätze und Ziele der Reichsregierung", die erstmals in Auszügen in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt und anschließend in Schlabrendorffs Erlebnisbericht aufgenommen wurde.55 Dieses Memorandum weicht in Diktion und Inhalt so offensichtlich von Goerdelers Schriften ab, daß es sich um ein nachträglich zusammengestelltes und dem Kreis um Goerdeler zugeschriebenes Dokument handeln muß, das im Sommer 1945 in bestimmten Kreisen kursierte.56 Und schließlich hebt sich Dovifats Commonweal-Artike\ von den übrigen frühen Berichten zum Widerstand in der amerikanischen Presse durch den Versuch ab, die Namen möglichst vieler Verschwörer einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Die dem Artikel angefügte Liste mit 120 Namen nennt jene Personen, die nach dem gescheiterten Staatsstreich hingerichtet wurden. Sie geht zurück auf eine Aufstellung der „Toten des 20. Juli", die am 9. September 1945 in der Neuen Zeit erschien. Im Gegensatz zur Leserschaft der Neuen Zeit wurden den Lesern von Commonweal als Orientierungshilfe militärische Ränge oder Berufsbezeichnungen genannt und so gleichzeitig noch einmal die Heterogenität der Verschwörer unterstrichen.57 Deutlich ist an der Liste erkennbar, wie neu die Materie für die Redaktion von Commonweal war:
Scheurig, Deutscher Widerstand 1938—1944. Fortschritt oder Reaktion? (München: dtv 21984), 282—288. Scheurigs Dokument basiert auf der Anlage l zum Kaltenbrunner-Bericht vom 14. .1944. 55 W. W. S[chütz], Die unterirdische Opposition in Deutschland während des Krieges, Neue Zürcher Zeitung Nr. 1583 (22.X.1945), Blatt 2. Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler, hg. von Gero von Gaevernitz (Zürich: Europa 1946), 118—125. Das angebliche Goerdeler-Programm taucht in vier mir vorliegenden Auflagen des Buches auf, einschließlich der neuesten (Berlin: Siedler 1984). Leichte Veränderungen zur ersten Auflage treten auf bei der Ausgabe des Fischer-Verlages (1960), 118—125, 120, wo es z. B. statt „die Reichsregierung beginnt ihr Werk damit, [...]" heißt: „die Reichsregierung beginnt damit, [...]". Die bei Dovifat zitierten Passagen sind identisch mit den entsprechenden Abschnitten in der ersten Auflage von Schlabrendorff. 56 Für die Hilfe beim Nachweis der Dovifat-Zitate und die Einschätzung zum Quellenwert der Denkschrift gilt mein besonderer Dank Herrn Dr. Johannes Tuchel, Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Berlin). Ein Exemplar der Denkschrift findet sich im Nachlaß Jakob Kaisers, B A/K NL Kaiser Nr. 73, eine Durchschrift in den Papieren von Ludwig Frh. von Hammerstein, Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Paul Kluke, Der deutsche Widerstand. Eine kritische Literaturübersicht, Historische Zeitschrift 160 (1949), 136—161, 141, hält die Denkschrift für authentisch. 57 Die Toten des 20. Juli, Neue Zeit, Nr. 43 (9.IX.1945), 1.
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Die Schreibung etlicher Namen ist fehlerhaft, Übersetzungsfehler bei den Berufsbezeichnungen tauchen auf. Zudem fehlt ausgerechnet der Name von Carl Friedrich Goerdeler; aber es sind hier auch Erich Gloeden und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg nicht genannt. Eine vergleichbare Zusammenstellung war zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht in der amerikanischen Presse erschienen. Im Gegenteil, die Journalistin Dorothy Thompson versuchte im September 1945 vergeblich, in den Unterlagen des deutschen Generalstabs die Liste jener Offiziere zu finden, die in das Attentat verwickelt waren: „Bis auf den heutigen Tag ist die vollständige Liste der Offiziere und Zivilisten, die in diese Bewegung und diese Verschwörung verwickelt waren, weder innerhalb noch ausserhalb Deutschlands veröffentlicht worden. Sollten die alliierten Regierungen eine vollständige Liste besitzen, so haben sie es nicht für richtig gehalten, sie zu veröffentlichen. Die Nazis haben nie mehr als einige Namen bekannt gegeben. [...] Was [sie] bezweckten, ist augenscheinlich: sie wünschten, daß in Deutschland niemals eine andere als die Nazilegende geschaffen würde."58 Wenngleich Dovifats Liste auch nicht vollständig ist, so ergänzt sie doch seine Absicht, das Juli-Attentat für amerikanische Leser in ein helleres Licht zu rücken.
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Noch im Frühjahr 1946 griffen auch amerikanische Autoren das Hitler-Attentat wieder auf und setzten ebenfalls zu Korrekturen an dem einseitig abwertenden Bild der Verschwörer an, wie es sich im Juli 1944 festgesetzt hatte. Zwei ehemalige Nachrichtenoffiziere, Alexander B. Maley und Gabriel A. Almond, legten in Zeitschriften von geringer Auflage die weite Verzweigung des Widerstandes dar. Besonders Maley versucht in der konservativen Wochenschrift Human Events, die Verschwörer zu rehabilitieren:
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Thompson, Deutsche, die Hitler bekämpften, 9 f.
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„When the concentration camps were finally opened, and advertised as proof of German bestiality, Americans were not told that many of the miserable victims were heroic German men and women who had given their all to overthrow the Nazis. [...] We have been led to believe that almost without exception, the German nation concurred in the crimes of its leaders."59 Allerdings verzichten diese Artikel auf eine moralische Akzentuierung, wie Dovifat sie benutzte und die bei heutiger Lektüre streckenweise pathetisch klingen muß. Lediglich Dorothy Thompson griff mit ähnlichem Engagement wie Dovifat im Mai 1946 in die amerikanische Nachkriegsdebatte um die Attentäter ein. Thompson hatte aus den zwanziger und dreißiger Jahren persönliche Verbindungen zu Mitgliedern des Widerstands. Ihr war es deshalb ein Bedürfnis, die Reputation der Verschwörer wiederherzustellen.60 Die Prominenz Thompsons in den USA darf aber nicht suggerieren, daß die wohlwollende Position den Juli-Verschwörern gegenüber stark rezipiert worden sei. Sowohl Thompson als auch Dovifat publizierten ihre amerikanischen Texte nicht in Zeitschriften mit hoher Auflage. Dort hätten ihre Artikel kaum eine Chance auf Veröffentlichung gehabt. Tatsächlich schlug Thompsons Versuch fehl, ihren Bericht „The Germans Who Defied Hitler" in LIFE zu plazieren, obwohl Herausgeber Henry Luce nach Thompsons Angabe den Bericht als „the most sensationally interesting article to
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Alexander B. Maley, The Epic of the German Underground, Human Events, vol. 3, Nr. 109 (27. .1946), 1—8. Maley war Nachrichtenoffizier bei der Marine. Sein Artikel entstand unter Mitarbeit des Emigranten Alexander Böker, eines Vertrauten Adam von Trotts. Vgl. Schlie, Das Ausland und die deutsche Opposition gegen Hitler, 160 f. Gabriel A. Almond, The German Resistance Movement, 2 Teile, Current History, vol. 10, Nr. 57—58, (Mai—Juni 1946), 409^19 und 519—527. Almond war während des Krieges Mitarbeiter des Office of Strategie Services (OSS). 60 Dorothy Thompson, What Do We Want in Germany?, Christian Century, vol. 63 (8. V. 1946), 589—591, 591. Thompson hatte zwischen März und September 1942 über CBS-Kurzwelle direkt nach Deutschland senden können. Die Sendungen sind zusammengefaßt in dem Buch „Listen, Hans" (Boston: Houghton Mifflin 1942). Der angeblich fiktive „Hans" war nach Thompsons eigenen Angaben nach dem Krieg kein anderer als Helmuth James Graf Moltke. Vgl. Thompson, Deutsche, die Hitler bekämpften, 20.
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come out of Europe to date" bezeichnet hatte.61 Wirkungsvolle Korrekturen am einseitig-negativen Bild der Juli-Verschwörung wurden erst möglich, als die pro-westliche Orientierung der Widerstandskämpfer im Kontext des beginnenden Kalten Krieges neue Bedeutung erlangte. Eine wohlwollende Bewertung des Hitler-Attentats und eine kritische Sicht auf das Verhalten der West-Alliierten erschien im März 1946 sogar in der New York Times. Dort erläuterte Cyrus L. Sulzberger auf einer ganzen Seite die Hintergründe des Attentats.62 Die publizistische Beschäftigung mit dem deutschen Widerstand ging bereits 1946 in eine wissenschaftliche über. Franklin L. Ford, ein Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes Office of Strategie Services (OSS), und kurz darauf Allen W. Dulles, OSS-Vertreter in Bern während des Krieges, legten ihre Ergebnisse vor.63 In der Forschung wird es dem Buch von Dulles zugeschrieben, „erstmals das ganze Spektrum der deutschen Opposition darzustellen]," also auch den Kreisauer Kreis, einzelne Theologen, linke Gruppen sowie die Geschwister Scholl einzubeziehen.64 In der frühen Publizistik und Literatur zum Widerstand, sowohl der amerikanischen als auch der deutschen, bleib Dovifats Beitrag in 61
Kurth, American Cassandra, 284 f. Eine bei Kurth, 528, zitierte Passage des LIFEArtikels „Germans Who Defied Hitler" gleicht einer Textstelle des Beitrages „Deutsche, die Hitler bekämpften", 26, so daß auch wegen der Ähnlichkeit der Titel davon ausgegangen werden kann, daß der bei Paetel erschienene Artikel ursprünglich für LIFE vorgesehen war. 62 C. L. Sulzberger, Füll Story of Anti-Hitler Plot Shows That Allies Refused to Assist, NYT, Nr. 32195 (18. .1946), 5. C. L. Sulzberger war Ressortchef für Auslandsnachrichten und Neffe des Besitzers der NYT, Arthur Hays Sulzberger. Sulzberger hatte seine Recherchen bereits im Januar abgeschlossen, war aber vom Geheimdienst OSS aufgefordert worden, das Material noch nicht zu verwenden, weil Allen Dulles, damaliger OSS-Vertreter in Bern, es als erster in einem Buch veröffentlichen wollte. Sulzberger veröffentlichte aber vor Dulles, dessen Buch .Germany's Underground' erst 1947 erschien. Einen Teil seiner Informationen bezog er von Baron Albrecht von Kessel, Legationsrat im Auswärtigen Amt unter Ernst von Weizsäcker. Vgl. C. L. Sulzberger, A Long Row of Candles. Memoirs and Diaries 1934—1954 (London: Macdonald 1969), 272, 274 f. 63 Franklin L. Ford, The Twentieth of July in the History of the German Resistance, American Historical Review 51 (Juli 1946), 609—626; Allen W. Dulles, Germany's Underground (New York: Macmillan 1947). Zur Entstehungsgeschichte beider Beiträge vgl. Jürgen Heideking, Die ,Breakers'-Akte. Das Office of Strategie Services und der 20. Juli, in: ders. und Christof Mauch, Geheimdienstkrieg gegen Deutschland (Göttingen: V&R 1993), 11—50, 39—41. 64 Kettenacker, Haltung der Westalliierten, 26 f.
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Commonweal unbeachtet. Lediglich die New Yorker Staatszeitung, das führende Organ der Deutschamerikaner, druckte seinen Artikel im Dezember 1945 auf deutsch nach.65 In der Forschung taucht Dovifats „The Twentieth of July" mittlerweile in einer zwar systematischen, aber kaum analytischen Auswertung der amerikanischen Presse zum Staatsstreich auf. Hier wird „Dorrfats" Beitrag jedoch falsch eingeordnet als ein Beleg dafür, daß „amerikanische Kommentatoren" fast eineinhalb Jahre nach dem Attentat begonnen hätten, die Verschwörung gegen Hitler positiver zu betrachten.66
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Paul Schwarz, Die deutsche Untergrund-Bewegung, New Yorker Staatszeitung (15. . 1945). Der Artikel sei deshalb wert nachgedruckt zu werden, weil er direkt aus Deutschland stamme, schrieb Schwarz in seiner Einleitung. 66 Viault, Le 20 juillet, 103.
Aktivitäten für die Neue Zeit. Emil Dovifat und sein publizistisches Engagement für die CDU JÜRGEN MICHAEL SCHULZ
„Nur in Freiheit und Unabhängigkeit kann eine demokratische Presse ihrer Aufgabe, der Aufklärung und Führung der breiten Öffentlichkeit und ihrer Mobilisierung zur demokratischen Mitarbeit und Verantwortung dienen."1 Als Emil Dovifat im Jahr 1947 diese Forderung aufstellte, unterstützte er damit das langfristige Ziel der Schaffung einer einheitlichen deutschen Pressegesetzgebung, die nach der zwölfjährigen Unterdrückungs- und Lenkungspraxis während der nationalsozialistischen Herrschaft nun die Grundlage für eine gefestigte demokratische Presse bereitstellen sollte. Unausgesprochen berücksichtigten die Ausführungen von Dovifat aber auch Erfahrungen, die er zwei Jahre zuvor in der sowjetischen Zone während der Gründungsphase der CDU-Zeitung Neue Zeit als deren erster Chefredakteur gesammelt hatte. Seine journalistische Arbeit war dennoch nur ein Teil aus einem breiten Spektrum unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Aktivitäten, die er seit dem Ende des Krieges entfaltete. Als Hochschullehrer war Dovifat bemüht, sein zeitungswissenschaftliches Institut an der Berliner Universität zu erhalten und fortzuführen; als Politiker nahm er regen Anteil an der Entwicklung der von ihm in Berlin mitbegründeten Christlich Demokratischen Union.2 Soll in der folgenden Betrachtung der Akzent auch auf der publizistischen Tätigkeit, insbesondere der relativ kurzen 1
Emil Dovifat: Die neue deutsche Presse. In: Handbuch der Lizenzen Deutscher Verlage, Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlage. Berlin 1947, S. XV—XXXI, hier: S. XXXI. Dovifat knüpfte mit seinen Formulierungen an Forderungen aus der Zeit vor 1933 an, vgl. Emil Dovifat, Zeitungswissenschaft, Bd. I (Sammlung Göschen, Bd. 1039). Berlin 1931, S. 105. 2 S. hierzu besonders: Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen, Bd. 42). Mainz 1986, S. 16—21, S. 179—187, S. 218—221.
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Phase der Arbeit als Chefredakteur der Neuen Zeit, liegen, so erfordert schon allein die enge Verzahnung der vielfältigen Betätigungen von Emil Dovifat, diese in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zu berücksichtigen.3
Politisches Engagement Am 25. April 1945 war der Zweite Weltkrieg für die Familie Dovifat bereits beendet. In der Nacht zuvor hatten russische Soldaten — auf dem Weg in das Zentrum Berlins — ihr Zehlendorfer Wohngebiet eingenommen. Erst eine Woche später, am 2. Mai, erfolgte die Kapitulation der Reichshauptstadt. Folgt man den Tagebuchnotizen von Emil Dovifat, die für das Frühjahr 1945 überliefert sind,4 dann konzentrierten sich dessen Aktivitäten vor allem auf zwei Bereiche. Zum einen widmete sich Dovifat schon sehr früh der Sicherung seiner Professur an der Berliner Universität und dem Erhalt seines Instituts. Zum anderen begann er noch in den Tagen der letzten Kampfhandlungen mit dem Bemühen, sich in irgendeiner Weise an der öffentlichen Diskussion um den Aufbau 3
Ein Nachteil der insgesamt verdienstvollen Dovifat-Biographie Benedikts (wie Anm. 2) besteht in der etwas starken Abgrenzung der unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche Dovifats und der hieraus resultierenden isolierten Darstellung seiner Aktivitäten. 4 Emil Dovifat faßte in der Zeit zwischen dem 1. April und dem 3. Juli 1945 Tageseindrücke handschriftlich in einer Kladde zusammen und versah sie mit dem Titel „Aufzeichnungen ab Ostern 1945". Die Eintragungen wurden zum Teil unregelmäßig verfaßt. So wurden im Juni 1945 offenbar keine Notizen vorgenommen. Das Tagebuch war zu einem späteren Zeitpunkt mit der Aufschrift versehen worden: „Wichtiges Tagebuch von Dovifat über die letzten Kriegstage und die ersten ,Friedenstage' 1945". Hinweise im Text lassen darüber hinaus darauf schließen, daß einzelne Eintragungen wenige Tage später rückwirkend verfaßt worden sind. Die Aufzeichnungen werden im folgenden zitiert: Dovifat, Tagebuch. Die Aufzeichnungen und andere Materialien zu Emil Dovifat befinden sich im Privatbesicht der Tochter von Emil Dovifat, Frau Dr. Dorothee von Dadelsen (Tübingen), der ich auch an dieser Stelle für die sehr hilfreiche Unterstützung danke. Ich bedanke mich zugleich bei ihrem Bruder, Herrn Dr. Bernhard Dovifat (Berlin), für die Erlaubnis, den Nachlaß von Emil Dovifat im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin), Rep. 92, zu nutzen. Dieser Abschnitt folgt zunächst: Dovifat, Tagebuch, 24.IV. 1945; 25. 7.1945.
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einer neuen politischen Ordnung zu beteiligen. So verfolgte er trotz widriger privater Umstände — die Familie Dovifat mußte gerade das Haus für ein russisches Lazarett räumen5 — schon am 30. April 1945 Vorbereitungen für die Gründung eines lokalen Nachrichtenblatts.6 Zwei Tage später kam es zu einer ersten Unterredung mit dem von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzten Zehlendorfer Bürgermeister Georg Schulze7. Hierbei erfuhr Dovifat, daß der sowjetische Kommandant für Zehlendorf die Gründung einer Zeitung mit deutscher Mitarbeit wünschte.8 Doch erst Schulzes Nachfolger, Werner Wittgenstein, nach der Einschätzung von Dovifat ein Verwaltungsfachmann, griff am 15. Mai den Vorschlag auf.9 Obwohl Wittgenstein noch am selben Tag eine entsprechende Vorlage für die sowjetische Kommandantur formuliert hat, scheint das Projekt einer regionalen Zeitungsgründung im Sande verlaufen zu sein. Die Notizen von Dovifat erwecken insgesamt den Eindruck, daß ihn publizistische Fragen nicht nur organisatorisch, sondern auch aus einer inhaltlichen Betrachtungsweise heraus noch über die letzten Kriegstage hinaus außerordentlich stark interessierten.10 Dennoch bleibt ungeklärt, wie ernst es ihm mit seinen Versuchen war, das künftige Pressewesen auch längerfristig aktiv mitzugestalten. Mit Skepsis begegnete er jedenfalls Ende Mai 1945 auf wiederholte Besuche des ihm 5
Dovifat, Tagebuch, 29.IV. 1945. Dovifat, Tagebuch, 30.IV. 1945. 7 Der Diplom-Landwirt Georg Schulze-Gaebert war erst kurz zuvor, am 26. April 1945, in sein Amt eingesetzt worden, vgl. Jürgen Wetzel: Zehlendorf (Geschichte der Berliner Verwaltungsbezirke 12). Berlin 1988, S. 154. 8 Dovifat, Tagebuch, 2.V. 1945. 9 Dovifat, Tagebuch, 15.V.1945. Werner Wittgenstein löste Schulze bereits am 10. Mai als Bürgermeister ab, als er von der sowjetischen Militärregierung mit der Bildung eines kollegialen Bezirksamts beauftragt wurde. Er gehörte später — wie Dovifat — der CDU an und zählte später zu den Begründern des Kulturbundes (Wetzel, Zehlendorf [wie Anm. 7], S. 155; Jens Wehner: Kurzbiographie in: Kulturbund und Volksfront. Ein Beitrag zur Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945—1949 [Europäische Hochschulschriften, R. , Bd. 518], Frankfurt/M. 1992, S. 1199). 10 Diesen Eindruck vermitteln besonders die Tagebuchaufzeichnungen, die er im April und im Mai 1945 verfaßt hatte. So war Dovifat laufend um „Material über die Publizistik dieser Tage" bemüht (Dovifat, Tagebuch, 17.IV. 1945), deren Inhalt er für „lebenswichtig" hielt (Dovifat, Tagebuch, 22.IV. 1945). Diese Bedeutung unterstrich er mit der Feststellung, die Zeitungsfrau „sei in solchen Zeitläuften in gemein-wichtiger Aufgabe" (ebd.; Hervorhebung im Original). 6
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seit längerer Zeit gut bekannten ehemaligen Leiters der Lokalabteilung des „Deutschen Nachrichtenbüros", Kröning.11 Kröning erkundigte sich, ob Dovifat „für die Presse etwas organisieren könnte", schließlich könne er, Dovifat, „führendes leisten, ein deutsches Zeitungswesen wieder in Gang zu setzen". Dovifat zeigte sich zwar geschmeichelt für das ihm entgegengebrachte Vertrauen, er blieb aber dennoch unentschlossen, wenn er in seinem Tagebuch hierüber vermerkte: „Ich möchte es gerne tun, aber nur als Treuhänder, ohne selbst wieder aktiv journalistisch zu arbeiten, da ich die Lehrtätigkeit als meine eigentliche] Aufgabe ansehe." Schrittweise änderte Dovifat seine Ansicht in den folgenden Wochen. Die Schwierigkeiten, die sich für seine Stellung an der Universität in der folgenden Zeit ergaben, trugen zweifellos erheblich dazu bei, daß die Bereitschaft wuchs, am politischen und gesellschaftlichen Wiederaufbau aktiv teilzunehmen. Zu nennen sind vor allem einschneidende Maßnahmen wie die Aufkündigung des Beamtenverhältnisses und die Ankündigung einer Überprüfung aller bisher an der Hochschule beschäftigten Mitarbeiter. Ihr Ergebnis war eine fortan schwer überschaubare und unsichere berufliche Situation an der Berliner Universität, zumal auch der neue Rektor Eduard Spranger — wenigstens aus der Sicht von Dovifat — glücklos in seinen Bemühungen blieb, die Interessen der verbliebenen Professoren gegenüber der SMAD wirksam zu vertreten.12 Den entscheidenden Impuls gaben endlich die Bemühungen bürgerlicher Politiker, Emil Dovifat für die Mitarbeit zu gewinnen. Zu den ersten derartigen Kontakten nach Kriegsende war es bereits Mitte Mai gekommen. Sie verliefen vor dem Hintergrund der Errichtung eines ersten Nachkriegsmagistrats für die Stadt Berlin durch die Sowjetische Militäradministration. Als am 17. Mai 1945 die personelle Zusammensetzung dieser Stadtregierung öffentlich bekannt gegeben wurde, stand nämlich fest, daß auch eine größere Anzahl bürgerlicher Politiker an der Stadtverwaltung beteiligt werden sollte. Damit folgte die sowjetische Militäradministration einem Organisationsprinzip, das zuvor bereits bei der 11
Im folgenden nach: Dovifat, Tagebuch, 23.V.1945 und 24.V.1945. Krönings Besuch erschien Dovifat in seinem Tagebuch als „wertvoll" (24.V. 1945). 12 Von Dovifats Schwierigkeiten und insbesondere von der Gefahr, beim Neuaufbau der Berliner Universität übergangen zu werden, berichtet auch seine Tochter, Dorothee Dovifat in eigenen Tagebuchaufzeichnungen am 13.VI.1945, die dem Vf. freundlicherweise in Auszügen zur Verfügung gestellt wurden (im folgenden: Dorothee Dovifat, Tagebuch).
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Einrichtung der Bezirksämter angewandt worden war: die Bildung „antifaschistischer" Koalitionen, mit der ein breites politisches Spektrum in die Politik von SMAD und — in der Regel federführenden — deutschen Kommunisten garantiert wurde.13 Hierzu rechnete auch Andreas Hermes, der in der Zeit von 1920 bis 1923 zunächst Reichsernährungs- und Landwirtschaftsminister und dann Finanzminister gewesen war. Als Zentrumspolitiker war Hermes ein ehemaliger Parteifreund von Dovifat. Hermes' entschiedene Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, die ihn in die Widerstandsgruppe des 20. Juli geführt hatte und für die er beinahe mit dem Tode bezahlen mußte, aber auch sein Bekenntnis zum Ausgleich mit Rußland prädestinierten ihn nun für ein politisches Amt. So besaß die Einbeziehung von Hermes in den Magistrat in der Sicht von Walter Ulbricht, der die Besetzung der Stadtverwaltung vornahm, oberste Priorität. Nur knapp verfehlte er in der Prioritätenliste Ulbrichts das Amt des Berliner Oberbürgermeisters, wurde aber einer von dessen vier Stellvertretern und zugleich Stadtrat für Ernährung.14 Hermes, der nun seinerseits nach Unterstützung Ausschau hielt, ließ noch am Vorabend zu seiner offiziellen Ernennung den Kontakt zu Dovifat herstellen.15 Daß die Initiative nicht von Hermes ausgegangen war — immerhin hatte er Dovifat seit dem Jahr 1923 nicht mehr gesprochen16 —, erfuhr Dovifat auf dem Wege zu dem neuen Stadtrat in der Dienststelle des Ernährungsdezernats am Fehrbelliner Platz. Dort wurde er nämlich von dessen altem Weggefährten und jetzigem Stellvertreter als Leiter der Ernährungsabteilung, Theodor Steltzer, empfangen und sogleich über die Hintergründe seiner Einladung informiert.17 Nach den Aufzeichnungen, die Dovifat über dieses Gespräch anfertigte, erschien Steltzer zumindest in der Anfangsphase als die treibende Kraft bei der personellen Formierung eines christlich-konservativen Lagers im Berlin der Nachkriegszeit — eine organisatorische Arbeit, die schon zwei Monate später in die Gründung der Christlich-Demokratischen Union
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S. hierzu die Einleitung von Dieter Hanauske zu: Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46. Bearb. und eingel. von Dieter Hanauske. Teil I: 1945 (Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, Bd. 2, Teil 1). Berlin 1995, S. 1—78, hier: S. 32^i4. 14 Hanauske, Einleitung (wie Anm. 14), S. 34 f. 15 Dovifat, Tagebuch, 16.V. 1945. 16 Dovifat, Tagebuch, 18.V. 1945. 17 Dovifat, Tagebuch, 17.V. 1945; Dorothee Dovifat, Tagebuch, 17.V.1945.
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münden sollte.18 So zitierte Dovifat Steltzer, als er vorausschauend sein Bemühen mit dem Ziel beschrieb, „für künftige Arbeiten Leute zu sammeln, damit die Berliner Arbeit gelinge, die vielleicht einmal die Zelle einer größeren Aufgabe werden könne". Dovifat war von nun an in den Kreis bürgerlicher Politiker und Journalisten einbezogen, die zunächst nur informelle Kontakte untereinander pflegten. Mit anfangs noch eher verhaltener Euphorie vermerkte er in seinen Niederschriften „Besuche über Besuche", ohne sich jedoch der Eigendynamik entziehen zu können, die zu seiner immer stärkeren Einbindung in die frühe Nachkriegspolitik führten.19 Hierzu trug der gute persönliche Kontakt bei, den Dovifat zu Jakob Kaiser besaß. Ihn, den er noch von seiner journalistischen Tätigkeit für den christlichen Deutschen Gewerkschaftsbund kannte, traf Dovifat an jenem 17. Mai auf dem Weg zu Hermes wieder.20 Bis sich eine bürgerliche Parteiengründung in der sowjetischen Zone und im noch vollständig sowjetisch verwalteten Berlin als das Hauptziel der bürgerlichen Sammlungsaktivitäten herausstellte, verging noch einige Zeit. Andreas Hermes' Sonderstellung in diesem Prozeß legte diese Aktivitäten auf eine eher christlich-konservative Richtung fest, die wenigstens für die Phase der Tätigkeit von Dovifat als Chefredakteur der Neuen Zeit bestimmend für die Union sein sollte. Immerhin hatte Hermes als erster und zu jenem Zeitpunkt einziger ehemaliger Zentrumspolitiker wieder ein hohes politisches Amt erhalten. Nicht nur wegen seiner Funktion im Berliner Magistrat als Stadtrat für Ernährung, sondern vor allem als der einzige bürgerliche Stellvertreter des Oberbürgermeisters verfügte er über exklusive Kontakte sowohl zur sowjetischen Militärverwaltung als auch zu jenen deutschen Kommunisten — in der Regel Angehörige der ehemaligen KPD —, die nun die meisten und wichtigsten leitenden Funktionen in der Berliner Verwaltung einnahmen.21
18 19
Ebd.
So klagte Dovifat: „Allen soll man einen Weg weisen u. kennt doch selbst keinen." Dieses und das Zitat im Text in: Dovifat, Tagebuch, 24.V. 1945. — Zu den Gästen gehörte auch der Associated Press-Korrespondent Louis Lochner, ein langjähriger Freund der Familie Dovifat; Dovifat, Tagebuch, 24.V. 1945. 20 Dovifat, Tagebuch, 17.V.1945. 21 Zu dieser Einschätzung gelangt auch Andreas Fischer: Der Einfluß der SMAD auf das Parteiensystem in der SBZ am Beispiel der CDU. In: Deutschland-Archiv 26 (1993), H.2 (Feb.), S. 265—272, hier: S. 267 f.
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Folgt man der Analyse von Harold Hurwitz, dann herrschte bei den bürgerlichen Politikern eine weitaus stärkere Abneigung gegenüber der frühzeitigen Wiedererrichtung eines Parteiensystems als bei sozialistischen und kommunistischen Politikern.22 Ein noch immer zögerndes Umdenken erfolgte erst, nachdem die Gründung der Linksparteien bereits vollzogen war. Am 17. Juni, also zwei Tage nach der Veröffentlichung des Gründungsaufrufs der SPD — die KPD war bereits am 11. Juni neu entstanden —, fand die entscheidende Sitzung in der Wohnung von Andreas Hermes statt.23 Die hier beschlossene „Union" vereinte nicht nur die unterschiedlichen politischen Richtungen, wie sie ihre Gründer repräsentierten. Sie entsprach zugleich dem Wunsch der meisten Gründer, eine große bürgerliche Sammlungspartei ins Leben zu rufen — ein Weg, der die Suche nach einem gemeinsamen politischweltanschaulichen Nenner erheblich hätte erleichtern müssen. Dennoch machte schon allein das deutliche Übergewicht von Vertretern der früheren Zentrumspartei und konservativ-protestantischen Politikern gegenüber ehemaligen DDP-Mitgliedern nur das Konzept einer zwar überkonfessionellen, aber dennoch prononciert christlichen Volkspartei konsensfähig.24 Vereinzelte regionale christlich-liberale Gemeinschaftsgründungen konnten nicht verhindern, daß sich mit der ChristlichDemokratischen Union und einer Liberaldemokratischen Partei letztlich zwei — konkurrierende — bürgerliche Parteien im sowjetischen Herrschaftsbereich etablierten. Der Wunsch von Emil Dovifat, sich aktiv am Wiederaufbau Deutschlands zu beteiligen, erfüllte sich damit zunächst auf politischem und erst 22
Harold Hurwitz: Die politische Kultur der Bevölkerung und der Neubeginn konservativer Politik (Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Bd. 1). Köln 1983, S. 220 f. 23 Dieses Datum findet sich in einer im April 1967 für Elfriede Kaiser-Nebgen verfaßten Abschrift von Kalendernotizen Dovifats und in den Tagebuchaufzeichnungen seiner Tochter (beide im Privatbesitz von Dr. Dorothee von Dadelsen). Johann Babtist Gradl nennt dagegen den 16.VI.1945: Anfang unter dem Sowjetstern. Die CDU 1945—1948 in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Archiv für Christlich-Demokratische Politik). Köln 1981, S. 17. 24 Nach Norbert Mattedi, Gründung und Entwicklung der Parteien in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945—1949 (Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland). Bonn und Berlin 1966, S.35, standen in der Anfangsphase „8 oder 9" frühere Demokraten 42 ehemaligen Zentrumspolitikern und Protestantisch-Konservativen gegenüber.
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in zweiter Linie auf publizistischem Gebiet. Von Anfang an war er Teilnehmer an den politischen Diskussionsrunden, die Andreas Hermes in seiner Wohnung veranstaltete. Dovifat war es auch, der mit der redaktionellen Vorbereitung eines Aufrufs für die künftige Partei beauftragt wurde. So verfaßte er am 17. Juni 1945 den Rohentwurf eines Aufrufs für eine „Deutsche (Demokratische) Aufbaupartei".25 Dieser dokumentiert nicht nur das Engagement von Dovifat in der Entstehungsphase der CDU. Der Entwurf legt vor allem offen, daß sich Dovifats Vorstellungen über die künftige Partei im Juni nicht nur in der Akzentuierung, sondern bei bestimmten Einzelfragen sogar in der Tendenz von jenem Programm unterschieden, auf das sich die Gründungsmitglieder schließlich am 26. Juni geeinigt hatten.26 Sein Text vertraute auf die Kraft, die in der Wiederbelebung christlicher Werte liegen sollte, forderte „Tatchristentum" und die Stärkung der Familie. Konkrete Forderungen wie diejenige nach einer Einheitsgewerkschaft blieben die Ausnahme. Der Wunsch, das Privateigentum zu schützen, aber „in seiner Nutzung der Gemeinschaft zu unterstellen", nahm sich unverbindlich aus gegenüber der am 26. Juni schließlich verabschiedeten Leitlinie, „Bergbau und andere Schlüsselunternehmen [...] klar der Staatsgewalt" zu unterwerfen. Auch in der Frage der Mitverantwortung der deutschen Bevölkerung für die Handlungen der NS-Machthaber wurden unterschiedliche Bewertungen deutlich. So gab Dovifat nur jenen „in der Zahl kleinen, in der Unmenschlichkeit so teuflischen Handlangerfn] Hitlers" die Verantwortung für die Untaten des nationalsozialistischen Deutschlands, während der am 26. Juli verabschiedete offizielle Aufruf die „Schuld weiter Kreise unseres Volkes, die sich nur allzu bereitwillig zu Handlangern und Steigbügelhaltern für Hitler erniedrigten", betonte. Am 26. Juni wurde die Gründung der Christlich-Demokratischen Union verabredet. Der Gründerkreis erhielt damit zugleich die Funktion einer provisorischen Parteiführung. Als dessen Mitglied besaß Dovi25
„Aufruf der .Deutschen (Demokratischen) Aufbaupartei'". In: Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin (ACDP), 1—171, Nr. 002/1. Nach Dorothee Dovifat, Tagebuch, 17.V. 1945, hatte Dovifats Tochter den Entwurf am 17. Juni geschrieben. Die Datierung bestätigt auch das Schreiben Kaisers an Dovifat vom ISJuni 1945. In: ACDP, 1—171, Nr. 002/1. 26 Der Gründungsaufruf ist abgedruckt bei: Peter Hermes, Die ChristlichDemokratische Union und die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands im Jahre 1945. Saarbrücken 1963, S. 99—103.
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fat somit bis zur ersten Strukturierung der Partei im Januar 1946 die Möglichkeit, unmittelbaren Einfluß auf die Entwicklung und die politische Ausgestaltung der Union und damit der Politik in Berlin und der sowjetischen Zone zu nehmen. Der Handlungsspielraum, den die Union in der folgenden Zeit erhalten sollte, war jedoch nur gering. Er wurde begrenzt von der Einbindung der Partei in die neugeschaffenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen, die die SMAD und die sie unterstützenden deutschen kommunistischen Politiker in der SBZ und in Berlin geschaffen hatten. So war bereits die Lizenzierung der Partei am 10. Juli an die Verpflichtung der Union gebunden, in der „Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien" mitzuarbeiten,27 einem Gremium der zunächst vier in der sowjetischen Zone vertretenen Parteien, in dem Beschlüsse nur einstimmig erfolgen konnten und dessen Handlungs- und Entscheidungsspielraum darüber hinaus von der sowjetischen Politik vorgegeben wurde. Außerdem wurde von Seiten der sowjetischen Militärregierung schon früh klargestellt, daß der Mittelpunkt politischer Aktivitäten in Berlin sich auf den sowjetischen Sektor zu konzentrieren habe.28
II
Bedingungen für einen journalistischen Neubeginn in Berlin Die Parteiengründungen im sowjetischen Machtbereich Deutschlands gingen mit der Errichtung von zentralen Verwaltungseinrichtungen einher; sie waren wenigstens in der Anfangsphase noch mit dem Anspruch befrachtet, Führungseinrichtungen künftiger „Reichsparteien" zu bilden. Damit fügten sie sich in das Konzept der UdSSR ein, über zentrale Institutionen allmählich Einfluß in ganz Deutschland zu gewinnen.29 Als 27
Hermes, Die Christlich-Demokratische Union und die Bodenreform (wie Anm. 26), S. 15—17. 28 Vgl. Protokoll über die Besprechung beim Stadtkommandanten von Berlin vom 10. Juli 1945, abgedruckt in: Hermes: Die Christlich-Demokratische Union und die Bodenreform (wie Anm. 26), S. 104—106. 29 So forderte Ulbricht noch im September 1946 im Neuen Deutschland, die Zusammenarbeit der großen Parteien zum Ausgangspunkt für die Errichtung gesamtdeutscher Verwaltungen zu machen und diesen Weg der vom amerikanischen Außenminister Byrnes im gleichen Monat geforderten Errichtung eines Nationalrats —
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Teil dieses Konzeptes ist auch die Vorbereitung bzw. Durchführung der Gründung von Parteizeitungen in Berlin zu verstehen. Sie erwies sich für die SMAD wenigstens als geeignetes Mittel, um die Medienlandschaft des alten und — wie erwartet wurde — auch neuen politischen Zentrums Deutschlands entscheidend vorzustrukturieren, bevor Briten und Amerikaner Anfang Juli 1945 ihre Sektoren übernehmen und ihrerseits eigene Zeitungsgründungen veranlassen konnten.30 Im Unterschied zu den beiden seit August herausgegebenen westalliierten Militärzeitungen (Der Berliner, Allgemeine Zeitung) befanden sich alle sowjetisch kontrollierten Zeitungen in der Stadt bis auf die Tägliche Rundschau in deutschen Händen. Die vier Zentralorgane von KPD, SPD, CDU und LDP erhielten wie die Parteien selbst wenigstens dem Anschein nach ein überregionales, zunächst sogar zonenübergreifendes Erscheinungsbild. Als Parteizeitungen waren sie auch der verordneten Eintracht der „Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien" verpflichtet. Damit folgten sie dem von der SMAD und der KPD beachteten Prinzip, wonach in der SBZ auch machtpolitisch unterlegene gesellschaftliche Schichten und Gruppen auf allen Ebenen in den Aufbau einer neuen Ordnung eingebunden und damit zentral gelenkt werden sollten.31 der von den Ministerpräsidenten gebildet werden sollte — vorzuziehen; vgl. Klaus Bender: Deutschland, einig Vaterland? Die Volkskongreßbewegung für deutsche Einheit und einen gerechten Frieden in der Deutschlandpolitik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Europäische Hochschulschriften, R. , Bd. 509). Frankfurt/M. u.a. 1992, 36 f. Die „Volkskongreßbewegung", die sich auf die Grundlage der Parteienzusammenarbeit stützte, war der letzte Versuch, über diesen Weg Einfluß auf die Deutschlandpolitik zu gewinnen (vgl. ebd., passim). 30 Mit dem Sender Berlin im Haus des Rundfunks in der Charlottenburger Masurenallee, dem späteren Berliner Rundfunk, und den wiederhergerichteten Sendeanlagen in Berlin-Tegel verfügte die sowjetische Besatzungsmacht seit dem Mai 1945 über die einzigen funktionstüchtigen Rundfunkeinrichtungen im Berliner Großraum. Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung über den Rundfunk im sowjetischen Einflußbereich in Deutschland liegt noch immer nicht vor. Ersatzweise sei auf die einführenden Kapitel in der Darstellung von Rolf Geserick verwiesen: 40 Jahre Presse, Rundfunk und Kommunikationspolitik in der DDR (Minerva-Fachserie Wirtschaftsund Sozialwissenschaften), München 1989. 31 Die Motive und Methoden dieser Politik beschreibt eingehend Siegfried Suckut in seiner Einführung zu: ders. (Hg.): Blockpolitik in der SB2/DDR 1945—1949. Die Sitzungsprotokolle des zentralen Einheitsfront-Ausschusses. Quellenedition (Mannheimer Untersuchungen zu Politik und Geschichte der DDR, Bd. 3). Köln 1986,
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Die Gründung der Neuen Zeit, deren erste Ausgabe am 22. Juli 1945 erschien, war somit nicht nur eng mit der Entstehungsgeschichte der Ost-CDU verbunden. Sie war auch Teil der Politik, welche die UdSSR mit Unterstützung der ihr unterstellten deutschen Behörden und deutschen Verbündeten in Berlin, in der Ostzone und darüber hinaus in ganz Deutschland verfolgte. Nahezu alle Schritte der Zeitung, von ihrer Genehmigung bis zur Gestaltung des Inhalts, wurden beobachtet, kontrolliert und bei Bedarf beliebig korrigiert. Eine Lenkung der Lizenzpresse verfolgten auch die Westalliierten in ihren Zonen mit den Mitteln der Personalpolitik, der Presserichtlinien, der Vorzensur und sogar der Auflagenachrichten. Die wichtigsten Unterschiede bestanden im Ziel und in der Methode. So war die Presselenkung in der sowjetischen Zone und im sowjetischen Sektor Berlins Teil einer Deutschlandpolitik, die sich bereits in den gesellschaftspolitischen und ideologischen Grundlagen deutlich von der Politik der westlichen Verbündeten unterschied.32 Das Zensur- und Lenkungssystem war in unterschiedliche Wirkungsebenen aufgefächert. Es bezog die Mitarbeit von KPD bzw. SED und anderen Gruppierungen ein, die mit der SMAD zusammenarbeiteten, und enthielt zunehmend ein für totalitäre Lenkungsmethoden typisches Instrumentarium: Denunziation, Verleumdung, Druck und Terror gegen Einzelpersonen, Erzeugung von bedarfsgerechten „Empörungen" der „Massen". Ihre Ausmaße wurden besonders deutlich, als seit August versucht wurde, die Neue Zeit unter Druck zu setzen: Neben Verzögerungen im Genehmigungsverfahren — häufig, bis der Artikel ohnehin S. 7—50. Auch äußerlich überparteiische Gründungen wie die des Kulturbundes, der FDJ und des Frauenbundes entsprachen diesem Prinzip. Vgl. zu dieser Praxis auch insgesamt Bender, der u.a. die Sitzungsprotokolle ausführlich ausgewertet hat (wie Anm. 29). 32 Daß die UdSSR frühzeitig eine grundsätzlich andersartige Pressepolitik in Deutschland plante, wird an dem Umstand deutlich, daß der im Sommer 1944 unterbreitete britische Vorschlag für eine gemeinsame Drei-Mächte-Kontrolle des Informationswesens in Deutschland von der UdSSR ungeprüft zurückgewiesen wurde; Kurt Koszyk: Pressepolitik für Deutsche 1945—1949 (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 10; zugleich: Geschichte der deutschen Presse, Teil IV). Berlin 1986, S. 23. Zur sowjetischen Medienpolitik s. auch Barbara Baerns: Lenkung und Kontrolle beim Neuaufbau des Pressewesens (1945—1949). In: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts (Publizistikhistorische Beiträge, Bd. 5), München 1982, S. 280—304; Peter Strunk: Zensur und Zensoren: Medienkontrolle und Propagandapolitik unter sowjetischer Besatzungsherrschaft in Deutschland (Edition Bildung und Wissenschaft, Bd. 2). Berlin 1996.
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überholt war — und der Verweigerung des Imprimaturs konnten auch gezielte, den Sinn verfälschende Streichungen bestimmter Passagen vorgenommen werden. Gleichzeitig mit der Genehmigung der deutschen Presse war in der sowjetischen Zone die Vorzensur eingeführt worden. Sie erhielt eine wirkungsvolle Ergänzung durch ein zunehmend verfeinertes System ständiger Ermahnungen und Zurechtweisungen, eine Praxis, die am deutlichsten den begrenzten Handlungsspielraum der Zeitungen dokumentierte. Zur Bewertung der sowjetischen Zensurpraxis liegen uns umfangreichere Vorgänge erst aus dem Frühjahr 1946 vor. Einen näheren Einblick in die Methoden vermitteln Briefe, wie derjenige, den der Chefredakteur Karl Brammer im Mai 1946 an Jakob Kaiser sandte.33 So lassen sich die folgenden Reizthemen erkennen, die zu Konflikten führten: Auseinandersetzung mit dem Komplex der deutsch-sowjetischen Freundschaft, die grundsätzliche Kritik an Korruptionserscheinungen in der Verwaltung, unkommentierte Gerichtsurteile, soweit sie schon an sich eine Kritik am Magistrat darstellten.
III Dovifat und seine Konzeption der „Neuen Zeit" Ebenso rasant wie die Gründung der CDU vollzogen sich Planung, Organisation und Konstituierung der Neuen Zeit, nachdem ihre Zulassung am 27. Juni 1945 offiziell beantragt worden war.34 Anschaulich beschrieb die Tochter von Emil Dovifat, Dorothee Dovifat die wichtigsten Etappen in ihrem Tagebuch: am 11. Juli 1945 besuchte ihr Vater zum ersten Mal die Redaktion, am 14. Juli erschienen 23 Personen in der Zehlendorfer Wohnung „wegen der neuen Zeitung" — vermutlich Bewerber um die Mitarbeit —; an demselben und am folgenden Tag wurde mit dem Maler Rüdiger Knudsen und dem Graphiker Ahrle der Zeitungs33
Hier und im folgenden: Schreiben Brammer an Kaiser vom 27.V.1946, in: ACDP, —012, Nr. A 0920. 34 Das Schreiben enthielt die Anschrift „An den Herrn Kommandanten von Berlin", war also an den sowjetischen Stadtkommandanten gerichtet. In: Landesarchiv Berlin (Stadtarchiv), Rep. 101, Nr. 110. Mit demselben Brief wurde auch — erfolglos — eine Wochenzeitung unter dem Titel „Der Aufbau" beantragt.
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köpf besprochen; am 16. Juli fand bereits in der Schlüterstraße die Redaktionssitzung statt; am 19. Juli hatte Dorothee Dovifat, die als promovierte Germanistin selbst in der Kulturredaktion mitarbeiten sollte, „viel Material für das Feuilleton herausgesucht" und mit ihrem künftigen Ressort-Chef Werner Fiedler besprochen; am 20. Juli stand bereits der erste Leitartikel ihres Vaters fest; am 21. Juli borgte sie sich Bücher und beschaffte englische Zeitungen. Am 3. Juli formulierte Dovifat seine Vorstellungen über die „publizistische Linie und den organisatorischen Aufbau" der Neuen Zeit.*5 Vorausgegangen waren bereits mehrere Denkschriften. Hierzu gehörten insbesondere ein anonym und ohne Datum verfaßtes „Expose über die Einrichtung einer neuen Zeitung"36 und ein am 21. Juni 1945 fertiggestellter Entwurf aus der Feder des künftigen Verlagschefs Katzenberger37. Das Bekenntnis zu christlichen und demokratischen Werten und die klare Abgrenzung zum NS-Regime beschrieb die Grundlinie aller drei Entwürfe. Dennoch erhielten die Ausführungen von Dovifat zu einer in der Neuen Zeit beabsichtigten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zeit eine etwas andere Akzentuierung als in den beiden älteren Diskussionsbeiträgen. Im „Expose" galt, daß jede neue Zeitung vor allem auf eine antinationalsozialistische Wirkung bedacht sein müsse. Dabei sei es erforderlich, der „Bildung einer Hitler-Legende" vorzubeugen.38 In den meisten Rubriken und in besonderen Reportagen sollte in dieser Richtung gewirkt werden.39 Für Katzenberger war die 35
In: ACDP, 1—171, Nr. 003/1. Im folgenden zitiert als „Vorschläge". Nach Benedikt (Dovifat, S. 33 [wie Anm. 2]) war Dovifat lediglich Mitverfasser des Konzepts. Nach Dorothee Dovifat, Tagebuch, 1.VII. 1945, wurden die „Vorschläge" jedoch von ihrem Vater und zwar bereits am 1. Juli 1945 niedergeschrieben. Nach ihrer Notiz war sie selbst an der inhaltlichen Formulierung beteiligt: „Vater schreibt eine grundlegende Denkschrift über die neue Zeitung. Ich gebe ihm schriftlich Vorschläge, die er fast alle wörtlich mit einbaut und verwendet." Der Anhang mit der Überschrift „Vorschläge zum .kulturellen Teil' der Zeitung ,Die neue Zeit'" stammt offenbar vollständig aus ihrer Feder, Mitteilung von Dr. Dorothee von Dadelsen an den Vf. (J.M.S.) vom 28.IV. 1992 (Zudem enthält das Dokument den später nachgetragenen handschriftlichen Vermerk „Dr. D. Dovifat"). 36 In: ACDP, 1—171, Nr. 003/1. Im folgenden zitiert als „Expose". 37 Katzenberger: „Die neue Zeitung". In: ACDP, 1—171, Nr. 003/1. 38 „Expose" (wie Anm. 36), S. 2. 39 So sollten regelmäßig 10—15 Zeilen auf der ersten Seite für die „Anti-NSPropaganda" reserviert werden. Als besondere Themen werden darüber hinaus u.a. genannt: NS-Geschichtsbild, NS-Wirtschaft, „Enthüllungen über Nazi-Führer, Ereig-
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Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit überhaupt erst die Voraussetzung für die Arbeit der Neuen Zeit.40 Er forderte für die praktische inhaltliche Ausgestaltung der Zeitung, „in zwangloser Folge" Betrachtungen zu veröffentlichen, „die sich mit der Analyse des Vergangenen beschäftigen und dem deutschen Volke die Voraussetzungen, die Fehler und die Verantwortlichkeiten erklären und erläutern sollen, aus denen heraus der Nationalsozialismus überhaupt zur Macht gelangen und sie mit einer so verhängnisvollen Wirkung für das deutsche Volk handhaben konnte".41 Entsprechende Leitlinien waren in Denkschrift von Dovifat zugunsten pragmatischer Zielvorgaben in den Hintergrund getreten. Es genügte ihm, in seinen Ausführungen auf die Abgrenzung von der nationalsozialistischen Presse und der bis zum Frühjahr 1945 vorherrschenden nachrichtenpolitischen Praxis zu verweisen. Die Neue Zeit solle nicht den „Weg der doktrinären /^riezzeitung gehen, die predigend ihr Programm aufzwingt".42 Die „feine und schlagkräftige Polemik in Gestalt des gestrafften Kurzartikels", die pointierte Glosse und das politische Feuilleton sollten die „Holzhammertechnik des letzten Jahrzehntes" ablösen. Diese deutliche Absage an die journalistische Praxis der vergangenen zwölf Jahre entsprach zweifellos der von Dovifat bei vielen Gelegenheiten geäußerten Grundeinstellung. Einzelne Überlegungen der Denkschrift klangen aber so, als ob sich die Grundgedanken journalistischer Ethik mit einzelnen herausgelösten Tendenzen der Publizistik der nisse, Morde, politische Gefangene"; „Unterdrückung des Gewerkschaftswesens und die Vergeudung seiner Gelder unter den Nazis" (vgl. „Expose" [wie Anm. 36], S. 5—7.). 40 „Wie der vorgeschlagene Titel der Zeitung bereits zum Ausdruck bringt, steht das deutsche Volk vor der Aufgabe, unter völligem Bruch mit der voraufgegangenen Zeit der nationalsozialistischen Diktatur sein staatliches und privates Leben neu zu gestalten. Es ist nicht möglich — von dieser Erkenntnis muss jede neue politische Arbeit ausgehen — dort wieder anzufangen, wo das vornationalsozialistische Regime und die in ihm wirkenden politischen Kräfte aufgehört haben. Es muss auf Grund der laufenden Betrachtung der geschichtlichen Zusammenhänge der letzten Jahrzehnte dem deutschen Volk klargemacht werden, dass es das nationalsozialistische Regime mit zu verantworten hat und aus der Erkenntnis dieser Verantwortlichkeit heraus überhaupt erst die Kraft und die Möglichkeit finden kann, neue Wege für den Wiederaufbau zu gehen." (Katzenberger: „Die neue Zeitung" [wie Anm. 37], S. 3 f.). 41 Katzenberger: „Die neue Zeitung" (wie Anm. 37), S. 3. 42 Hier und im folgenden nach: Dovifat, „Vorschläge" (wie Anm. 35); Hervorhebungen im Original.
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NS-Zeit vereinbaren ließen. Nur so ist die Forderung von Dovifat für die Berichterstattung der Neuen Zeit zu verstehen, schon in Auswahl und Kommentar „die Verbindung mit der im April abgerissenen Linie der damaligen Hitlerischen Nachrichtenpolitik zu suchen und sie nachrichtenpolitisch überzeugend umzulenken in die heutige Sachlage, deren nüchterne und ungeschminkte Darstellung Aufgabe des Blattes ist". Eine antiliberale Tendenz trugen jedoch andere Bemerkungen von Dovifat, die wieder an seine entsprechenden kritischen Äußerungen aus den späten Jahren der Weimarer Republik anknüpften, durchaus aber auch in Betrachtungen auftauchten, die er in den dreißiger und vierziger Jahren als Zugeständnis an das nationalsozialistische Regime formuliert hatte. Hierzu gehörte die Forderung, „jede unverantwortliche Nörgelei und jede negative Formspielerei gegenüber sachlicher Leistung", wie sie für „gewisse intellektuelle Wochenblätter" in der Zeit vor 1933 — Dovifat nannte hier ausdrücklich Tucholsky und Stapel — typisch gewesen sei, „unter allen Umständen zu unterlassen". Die Kritik habe „verantwortungsvoll die gute Mitte zwischen der ,Kunstbetrachtung' der Hitlerzeit und der überspitzten Jch-Kritik' der intellektuellen Presse vor 1933 zu halten".43 ' Das größte Gewicht — und erst hierin lag der besondere Beitrag zur Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit — setzte Dovifat auf eine ehrliche Berichterstattung. Nachrichten hätten aber darüber hinaus schon allein durch ihre Fassung politische Erkenntnisse zu „wecken", die in den vergangenen zwölf Jahren gefehlt hätten. Dovifat wollte, daß „schiefe Persönlichkeitsbilder", die von der „propagandistischen Führung der Hitlerzeit" geprägt worden seien, „zurechtgerückt" würden. So sei „ohne demütigende Schuldbekenntnisse aber in wahrhaftiger Erkenntnis der Tatsächlichkeiten" darzustellen, was in Politik, Kultur und Wirtschaftspolitik während der Diktatur „falsch und verlogen war". Eine so zu leistende „nachholende politische Bildungsarbeit" 43
In ähnlicher Formulierung, aber mit einer akzentuiert christlich-moralischen Begründung versehen, erschien diese Forderung auch in den von Dorothee Dovifat verfaßten Vorschlägen zum kulturellen Teil (wie Anm. 35): „Die Kritik im .kulturellen Teil' soll das Mittelmaß halten zwischen der gesinnungsgebundenen (impressionistischen, oft expressionistischen) Kritik, die zeitweilig nach dem Weltkriege vorherrschte, und der .Kunstbetrachtung' der Nazizeit. Da der .kulturelle Teil' ja auf einer gewissen religiösen Basis beruht, muß auch die Kritik gebunden sein an Menschenwürde und -recht, sie darf nicht hetzen, sie darf aber auch nicht selbstgefällig über das kritisierte Objekt hinweggehend mit dem eigenen Intellekt spielen."
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hatte frei von „Doktrinarismus" und „ohne niedere Sensation" zu sein. Sie sollte sich nicht anbiedern, sondern sich vielmehr lebendig, in Form von Serien und bisweilen sogar im politischen Roman vollziehen. Ausdrücklich wollte Dovifat „niemals [...] allzu lange und niemals lähmend" zurückblicken. Für ihn hatte die Stärke der Neuen Zeit in einer Berichterstattung zu liegen, die dabei half, die täglichen Probleme zu meistern und Hoffnung für die Zukunft zu gewinnen. Der volkswirtschaftliche Teil sollte an die „täglichen Wirtschaftsnöte, gerade auch der Hausfrau", anknüpfen. Nicht nur durch den Unterhaltungsteil seien „Mut und Zuversicht zu beleben und ein wenig Freude auch in den lichtlosen Arbeitstag zu bringen". Über die Fortschritte beim Wiederaufbau, aber auch über Fehlschläge, seien „ermutigende und anschauliche Unterrichtungen zu geben". Die Neue Zeit sollte die politischen Ziele der CDU vertreten. Mit dieser Prämisse entschied Dovifat, daß christliche Inhalte eine geringere Rolle als bei der einstigen Zentrumspresse spielen sollten und ihnen statt dessen eine die Politik flankierende und ansonsten eher moralstiftende Bedeutung zukommen würde. Dovifat befand sich in Übereinstimmung mit dem Entwurf Katzenbergers, als er für die Behandlung religiöser Fragen, die er nur im Feuilleton zu behandeln wünschte, forderte: „vom Konfessionellen nur das Einigende"** Dovifat setzte — und hierauf legte er das Hauptgewicht seiner Ausführungen — auf die Qualität und eine daraus resultierende hohe Verbreitung der Zeitung: Stil und Haltung der Neuen Zeit sollten in allen Sparten einen „eigenen Charakter" haben. In den Sonntagsnummern 44
Katzenberger (wie Anm. 37) hatte hierzu folgendes ausgeführt: „Es wird dabei [beim Wiederaufbau] unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass bei der Neuordnung des deutschen politischen und privaten Lebens die christlichen Grundsätze eine Auswirkung finden, die ihrer hohen Bedeutung sowie der grossen kulturellen Tradition des deutschen Volkes entsprechen. Es wird Aufgabe der Zeitung sein, evangelische und katholische Christen und alle die, die bereit sind, diese Grundsätze anzuerkennen, zum Wiederaufbau des staatlichen Lebens zusammenzuführen." Vgl. auch hierzu die stärkere Gewichtung auf der christlichen Ausrichtung des Feuilletons, wie sie von Dorothee Dovifat in den Vorschlägen zum kulturellen Teil (wie Anm. 35) formuliert wurde: „Als .kultureller Teil' sucht er zurückzugehen zu den Quellen der Kultur, dem religiösen Glauben. Aber nicht konfessionelle Fragen sollen im Mittelpunkt stehen, sondern immer soll das die Konfessionen Einigende, Gemeinsame sich als gestaltende Kraft auswirken. So wird Enge, Begrenzung und Zersplitterung zugleich vermieden — andrerseits aber auch ein Ausschweifen auf Gebiete des halt- und glaubenslosen, kalten Intellekts." (Hervorhebungen im Original).
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sollten Dichter und Schriftsteller „von Ruf" zu Wort kommen. Täglich erwartete Dovifat ein „Meisterfeuilleton, das tröstend aus dem Kummer des Alltags emporführt", ebenso forderte er für die Kurzgeschichte „Nur beste Federn" und für das gelegentliche Gedicht „nur wirkliche Leistung". Das Bild, schließlich, entweder als Karikatur („— wenn Meisterleistung vorliegt — politisch kämpfende oder erziehende Karikaturen") oder als Foto, sollte „sparsam aber immer nur in besten Leistungen" eingesetzt werden, „keine täglichen Mussbilder, sondern nur ausgezeichnete Beispiele, die gut bezahlt werden und deren Schöpfer wir uns verpflichten müssen". Für Dovifat schloß der Wunsch, durch hohe journalistische Qualität die Leser zu gewinnen, auch ein, daß dem Leser das neue Weltbild nur „ohne Anbiederung in würdiger, aber immer lebendiger und leserwerbender Form" vermittelt werden durfte. Welche Schwierigkeiten sich dieser Absicht in den Weg stellen würden, hatte Dovifat bereits bei der Abfassung seiner Denkschrift angedeutet. Auf der einen Seite befürchtete er eine Anlehnung an die Praxis der Partei- und Richtungspresse der Weimarer Zeit, in der Parteivorstände und von ihr eingesetzte Kommissionen die Gestaltung der Presse ständig beeinflussen konnten. Um der Abhängigkeit der Neuen Zeit als Parteizeitung zu begegnen, hatte Dovifat für die redaktionelle Arbeit ein Höchstmaß an Selbständigkeit gefordert. Organisatorisch hieß das: Gründung eines eigenständigen Verlags in Form einer GmbH, dessen Anteile jedoch im Mehrheitsbesitz der Partei verblieben und dessen Direktor Weisungen der Parteiführung erhalten konnte. An die Stelle einer Pressekommission sollte ein „Treuhänder der Partei" mit Sitz und Stimme auf der Redaktionskonferenz treten. Auf der anderen Seite — und hier unterschätzte Dovifat noch das wirkliche Ausmaß der Beeinträchtigung — befürchtete Dovifat in seiner Denkschrift die Einflußnahme der sowjetischen Medienpolitik: „Ob freie Nachrichtenarbeit z. B. aus den drahtlosen Quellen möglich ist, wird — wie vieles Andere — von der Form und Handhabung der Censur abhängig sein." Seinen eigenen journalistischen Einstand bei der Neuen Zeit gab Dovifat mit einem Artikel, der in den wesentlichen Punkten auf der Linie seines Konzepts lag.45 Ausführlich legte er dar, welche Aufgabe die Presse künftig haben müsse. Nach den Erfahrungen mit einer von Propa45
Der mit „D." gezeichnete Artikel erschien unter dem Titel: „Unsere Zeitung NEUE ZEIT". In: Neue Zeit (NZ), Nr. l, 22.VII.1945.
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ganda und Zwang bestimmten Publizistik in der Zeit der Diktatur sei es notwendig, zunächst das Interesse und das Vertrauen der Leser zu gewinnen: „Der Leser muß fühlen, daß er in allem, was ihm die Zeitung darbietet, ernstgenommen, ehrlich angesprochen und nicht zu irgendeiner propagandistischen Absicht mißbraucht wird. Die schlicht vorgetragene Tatsache, die wahrhaftige, aber lebensnahe Darstellung soll wieder die Grundlage seiner selbstverantwortlichen politischen Entschlüsse sein." Die Zeitung habe im Gegensatz zur „Agitationsleistung der Presse des vergangenen Systems" neben der allgemeinen Unterrichtung nur eine sachliche Urteilsgrundlage zu schaffen. Wie in seinem Entwurf beharrte Dovifat auch in seinem ersten Leitartikel darauf, daß die inhaltliche Priorität der Neuen Zeit bei der Gegenwart, besonders bei den Fragen des Wiederaufbaus zu liegen habe. Dovifat hielt es zwar für bedeutsam, die „seelischen und sittlichen Ursachen des Zusammenbruchs zu klären, die wahrhaft Schuldigen unerbittlich zu treffen und die Irregeführten überzeugend zu wandeln", um dann jedoch fortzufahren: „Aber sonst sollen alle seine Ziele entschieden nach vorwärts und nach aufwärts gerichtet sein." Und weiter unten hieß es, die Zeitung wolle „jede Satztype und jeden Papierbogen immer und einzig allein dem Aufbau der praktischen Hilfe und Leistung widmen", um der lähmenden Hoffnungslosigkeit entgegenzuarbeiten. In diesem Zusammenhang erneuerte Dovifat seine Kritik an der Verfaßtheit der Weimarer Demokratie und forderte als Konsequenz von der Presse, sich freiwillig eine Selbstbeschränkung aufzuerlegen. Die „falsche Demokratie einer vergangenen Zeit" habe das deutsche Volk in die Zerrissenheit getrieben, „aus der Hitler zur Macht kam". Dieser Zerrissenheit in der Vergangenheit, die für Dovifat von „4700 Tageszeitungen aus rund 125 Richtungen" geprägt war, wollte er in der Publizistik der Gegenwart die „Zusammenfassung auch politisch entgegenstehender Kräfte" entgegenstellen.
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. IV
Die „lebendigste, attraktivste und am besten geschriebene Tageszeitung in Berlin": Inhaltliche Schwerpunkte Zur Umsetzung seines anspruchsvollen Programms verblieben Dovifat nur wenige Wochen bis zu seinem erzwungenen Rücktritt im Oktober. In dieser Zeit galt die Neue Zeit, wie der damalige Mitarbeiter der amerikanischen Informationskontrolle Peter de Mendelssohn in einem Memorandum für seine Dienststelle vermerkte, als die lebendigste, attraktivste und am besten geschriebene Tageszeitung in Berlin.46 Zu einem ähnlichen Urteil gelangte Margret Boveri in ihren ursprünglich als Rundbriefe für ihre Freunde verfaßten Niederschriften aus dem August 1945: „Die Leitartikel sind ausgezeichnet und behandeln Probleme, die wirklich ernste und nachdenkenswerte Probleme sind. Die Überschriften reizen zum Lesen des Textes. Im Vergleich zu den anderen vier [gemeint sind offenbar die übrigen Berliner Zeitungsneugründungen] ist eine Menge Information enthalten, auch außenpolitisch, teils in Meldungen, teils in redaktioneller Verarbeitung. [...] Die Vorwürfe gegen den Nationalsozialismus sind erstens gut und richtig (im Gegensatz zu vielen in den anderen Zeitungen und in den ausländischen Sendern), zweitens würdig und ohne Selbsterniedrigung vorgetragen, kurzum, eine gute Sache."47 Für die Neue Zeit galt wie für die Berliner Presse im allgemeinen, daß sowohl Bewertungskategorien als auch praktische Hilfestellungen für die Bewältigung der Gegenwartsprobleme und den Wiederaufbau des wirtschaftlichen Lebens bereitgestellt werden mußten, daß hierin also ein wesentlicher Anteil publizistischer Arbeit zu liegen hatte. Die in den Konzepten entworfenen Vorstellungen über die Ziele und Aufgaben der Neuen Zeit hatten darüber hinaus aber Themenbereiche in den Mittelpunkt gerückt, die das besondere Profil der Zeitung stärker als die Auseinandersetzung mit Tagesfragen verdeutlichen und somit eine Akzentuierung gegenüber anderen Publikationen herbeiführten. Sie sollen daher 46
Im Originalwortlaut: „[...] by far most lively, attractive and best-written paper in Berlin [...]"· So Peter de Mendelssohn in seinem Memorandum vom 14.IX.1945, zitiert in: Harold Hurwitz: Die Eintracht der Siegermächte und die Orientierungsnot der Deutschen 1945—1946 (Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Bd. 3). Köln 1984, S. 93. 47 Margret Boveri: Tage des Überlebens Berlin 1945. München 1968, S. 275.
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im folgenden Abschnitt besonders hervorgehoben werden. Da war erstens die Suche nach dem richtigen Weg, um in angemessener Weise der Geschichte und den politischen Folgen der nationalsozialistischen Diktatur gerecht zu werden. Da war zweitens die christlich-demokratische Programmatik, über deren Inhalte innerhalb der Berliner Parteiführung laufend neu diskutiert wurde und deren einmal gefundenes Proprium auch nach längeren Auseinandersetzungen nicht frei von erneuten Veränderungen blieb. Für beide Bereiche galt, daß sie in einem engen Verhältnis zueinander standen, sich sogar voneinander ableiteten.
1. Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
Schon die ersten Nummern, in denen sich die Neue Zeit den Lesern präsentierte, stellten eben diese Bereiche in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Für den Beginn der publizistischen Aufklärungsarbeit über die nationalsozialistische Diktatur — von einer „Aufarbeitung" war noch nicht die Rede — bot die zeitliche Nähe der ersten Ausgabe zum 20. Juli die Gelegenheit, um im Gedenken an den gerade ein Jahr zurückliegenden mißlungenen Attentatsversuch auf den antinationalsozialistischen Widerstand zurückzublicken, zugleich aber den Bogen zu den politischen Zielvorstellungen der Union zu schlagen.48 Ein Artikel in der ersten Ausgabe der Neuen Zeit unterstützte den gerade vereinbarten Kurs der Gemeinsamkeit aller „antifaschistischen Parteien", indem er die Einheit der Männer „von ,rechts' und von .links'" in ihrem Kampf gegen die braune Diktatur besonders würdigte. Zugleich bemühte er sich aber darum, die christlich-soziale Grundlage vieler Beteiligter im allgemeinen und die politische Vergangenheit der Männer aus der Führungsgruppe der CDU im besonderen herauszustellen. Der Kreis der Widerstandskämpfer habe „Männer aller Schichten und Konfessionen des Volkes" umfaßt, deren Ziel der Frieden und ein demokratischer Staat gewesen seien. Erinnert wird an Mitglieder der christlichen Arbeiterbewegung wie Bernhard Letterhaus und Max Habermann, an Angehörige des ehemaligen Zentrums wie den früheren Rechtsberater der christlichen Gewerkschaften Josef Wirmer und den ehemaligen Württembergischen Staatspräsidenten Eugen Bolz und an den Jesuitenpater Alfred 48
Hier und im folgenden NZ, Nr. l, 22. erschien anonym.
.1945 („Um den 20. Juli"). Der Artikel
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Delp vom Moltke-Kreis. Besondere Erwähnung finden aber Andreas Hermes, Theodor Steltzer und Jakob Kaiser, die wie durch ein Wunder überlebt hätten und nun wieder in der politischen Aufbauarbeit stünden.49 Die bewußt gesuchte programmatische und personelle Kontinuität der CDU zum antinationalsozialistischen Widerstandskampf wird somit zum Programm für die Union: „Die Gedankenwelt, der Opfergeist und die Gemeinsamkeit des Leidens derer, die Deutschland vor dem Sturz in den tiefsten Abgrund zu bewahren suchten, gehören mit zu den wirkenden Kräften, die das politische Werden und Wollen der »Christlich-Demokratischen Union Deutschlands* geformt haben. Sie verbindet in ihrem Programm die Wiederanknüpfung an die christliche Kultur des Abendlandes mit den großen politischen und menschlichen Grundsätzen sozialen und demokratischen Wollens, dieses besten deutschen Gutes, das Hitler sich unterfing, vernichten zu wollen." Der Artikel über die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 stand am Anfang einer Folge von inhaltlich und methodisch ähnlich aufgebauten Artikeln und begründete ein Konzept, das typisch war für den Weg der Neuen Zeit, die Leser mit Ereignissen und Vorgängen der letzten Jahre vertraut zu machen. Ein derartiges Konzept verfolgte den Zweck, einer politischen Legendenbildung über die nationalsozialistische Herrschaftspraxis und die Verantwortung für den Krieg und dessen Ergebnis vorzubeugen.50 Vor allem vor dem Hintergrund der politischen Biographien der Unionsmitglieder erscheint dieses Konzept auch durchaus überzeugend. Berichte über die zahlreichen Kriegsverbrecherprozesse boten die Gelegenheit, kursorisch Fakten über das nationalsozialistische Regime zu vermitteln. Hierzu rechnet auch das Bemühen der Neuen Zeit, — etwa aus Anlaß der ersten Prozesse gegen Protagonisten des na49
Dieser Ansatz, die Führungsgruppe der Union mit ausführlichen Berichten von Aktivitäten im Widerstand politisch aufzuwerten, wurde am Monatsende in der ersten Folge einer dann allerdings nicht fortgeführten Serie von Porträtskizzen von „Persönlichkeiten aus allen Gebieten des heutigen öffentlichen Lebens" wieder aufgegriffen (NZ, Nr.8, 31. .1945 [„Jakob Kaiser"]). 50 So lautete in einem dieser Beiträge die abschließende Wertung: „Es wird Aufgabe der neuen deutschen Demokratie sein, den einwandfreien geschichtlichen Tatbestand des nationalsozialistischen Zusammenbruchs sowie die ihm zugrunde liegende Verantwortung nicht ein zweitesmal nach den demagogischen Bedürfnissen der Schuldigen wahrheitswidrig entstellen zu lassen." NZ, Nr. 6, 28.VII.1945 („Zusammenbruch ohne Legende"). Einen ähnlichen Beitrag verfaßte Rudolf Pechel für die NZ, Nr. 37, 2.IX. 1945 („Revision der deutschen Legende").
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tionalsozialistischen Herrschaftssystems — über die Hintergründe und die Wirkungsweise der Diktatur aufzuklären.51 Derartige Berichte konnten zugleich dazu genutzt werden, neue Wertvorstellungen gegenüber den Wesensmerkmalen des Unrechtsstaats freizulegen oder zu entwikkeln. Aber auch knappe Nachrichten über soziale Hilfsmaßnahmen für ehemalige Konzentrationslager-Insassen waren auch ohne moralisierenden Unterton geeignet, Interesse für die Opfer des Systems zu wecken, auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen und so die historische Verantwortung der Deutschen zu beschreiben.52 Quantitativ nahmen die Artikel, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzten, einen erheblichen Anteil am redaktionellen Gesamtprodukt ein. Qualitativ waren ihnen jedoch nicht selten Grenzen wegen fehlender Hintergrundkenntnisse gesetzt — ein Mangel, für den nicht nur die Autoren und Redakteure der Neuen Zeit, sondern in hohem Maß auch die überwiegend nur wenig kommentierten Meldungen der ausländischen Agenturen verantwortlich waren. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die erste große Gelegenheit einer eingehenden Betrachtung, die sich Anfang August 1945 bei einer großaufgemachten Ankündigung der baldigen Einrichtung eines Nürnberger Militärtribunals anbot, mit einem Katalog oberflächlicher Fragen an die Hauptangeklagten weitgehend vertan wurde.53 In einer Fülle von Andeutungen und vagen Vermutungen artikulierten sich auf breitem Raum klischeehafte Vorstellungen von einer Bonzenwirtschaft, von Ministern und Parteifunktionären, deren erstes Ziel ihrer Politik die persönliche Bereicherung gewesen zu sein schien. Es waren Schilderungen, die andere, eher am Rande gelieferte Informationen unverhältnismäßig stark überlagerten. Nur beiläufig und noch dazu reduziert auf den Ver51
Als Beispiele für die Vielfalt in den Formen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sei auf folgende Beiträge der Neuen Zeit hingewiesen, so im Leitartikel: NZ, Nr. 8, 31. .1945 („Der Sportpalast"); NZ, Nr. 14, 7.Vm.l945 („,Bis zum bitteren Ende"'); im Hintergrundbericht auf Seite 3: NZ, Nr. 16, 9.VD1.1945 („Ohne Urteil hingerichtet"); NZ, Nr. 17, 10.VHI. 1945 („Die zerstörte Familie"); NZ, Nr. 33, 29.VIE. 1945 („Letzte Tage um Goerdeler"); in der Prozeßberichterstattung: NZ, Nr. 70, 11.X.1945 („Kramer leugnet jede Schuld"); im Feuilleton: NZ, Nr. 9, l.Vm. 1945 („Heimkehr aus dem Weltkriege"). 52 NZ, Nr. 5, 27.VE. 1945 („Hilfsaktion für die Opfer des Faschismus im Bezirk Zehlendorf"). 53 Hier und im folgenden: NZ, Nr. 10, 2. August 1945 („Kriegsverbrecher auch Volksverbrecher").
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antwortungsbereich des nationalsozialistischen Justizministers Otto Thierack brachte der Beitrag gerade in zwei Sätzen die Morde in den Konzentrationslagern zur Sprache. Dieser Umstand verdeutlicht, daß ein zentraler Bereich der nationalsozialistischen Verbrechen trotz des weitergehenden Kenntnisstandes vom Sommer 1945 noch nicht einmal annähernd in seiner besonderen Dimension erfaßt wurde. Der anonym veröffentlichte Leitartikel in derselben Ausgabe verstärkte darüber hinaus eine andere Tendenz des Beitrags über die Prozeßvorbereitungen in Nürnberg.54 Er unterschied bewußt zwischen einer vermeintlich kleinen Zahl von Hauptverantwortlichen und der breiten Masse der Mitläufer. Der Artikel, der noch einmal auf Äußerungen von Andreas Hermes Bezug nahm, verfolgte zunächst die Absicht, Zweifel darüber auszuräumen, daß die CDU die strenge Bestrafung für nationalsozialistische Verbrechen wünschte. So weitete Hermes in den Passagen, von denen die Neue Zeit an dieser Stelle berichtete, den Kreis der Täter weit über den engen Kreis der einstigen Führungsschicht aus und bezog unter anderen auch Angehörige der Justiz, der Wirtschaft und der militärischen Führung ein. Auf breitem Raum forderte der Artikel gegenüber den Tätern schnelle Verfahren und die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Dabei spielte es eine Rolle, daß nur nach den in der nationalsozialistischen Zeit gültigen Gesetzen geurteilt werden sollte, andererseits Straftatbestände nicht rückwirkend formuliert werden dürften. Ein ähnliches Vorgehen forderte auch der stellvertretende CDUVorsitzende Walther Schreiber in der Neuen Zeit. In einem Interview formulierte er den Wunsch, daß die Bestrafung der Nationalsozialisten „auf dem Boden des Rechts und nicht der Willkür erfolgen" solle.55 Denn es gehe nicht an, „aus dem Gefühl der Leidenschaft heraus die Demokratie dadurch zu kompromittieren, daß die unerträgliche Willkür der Hitler-Zeit mit umgekehrten Vorzeichen sich aufs neue Geltung verschafft". 56 Klare rechtliche Verhältnisse im Umgang mit den ehemaligen Nationalsozialisten seien erforderlich, damit die Aufbauarbeit nicht länger behindert würde.57
54
NZ, Nr. 10, 2. NZ, Nr. 5, 27. 56 Ebd. 57 Ebd. 55
.1945 („Gerechtigkeit ohne Rachsucht"). . 1945 („Aufbau des deutschen Rechtsstaates").
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Die von Andreas Hermes und Walther Schreiber in der Neuen Zeit ausführlich wiedergegebenen Forderungen boten ein Argumentationsmuster für die publizistische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Umgang mit der nationalsozialistischen Zeit im CDU-Organ und beschrieben zugleich einen Rahmen für die Arbeit der Redaktion. Die Berichterstattung der folgenden Monate über die jüngste Vergangenheit war vor allem von drei Leitvorstellungen geprägt: zum einen, daß es sich bei dem Kreis der Schuldigen und Mitläufer um eine relativ leicht erfaßbare Größe handelte, die sich klar von der übrigen Bevölkerung unterscheiden ließe, zum zweiten, daß der überwiegende Teil der Deutschen gegen seinen Willen am nationalsozialistischen Staat mitgearbeitet habe, in Wirklichkeit aber stets die Demokratie gewünscht habe und daher in kürzester Zeit wieder für die Demokratie gewonnen werden könne, und drittens, daß nach einer befristeten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zeit ein zügiger Übergang zu den Fragen der Gegenwart und Zukunft möglich sein werde. Eine erhebliche Einengung erfuhr die Berichterstattung dadurch, daß nicht nur von den Agenturmeldungen, sondern vor allem von der Presse der anderen Parteien, besonders derjenigen der SMAD, der KPD und des Magistrats, ein gewisser Standard im publizistischen Umgang mit der NS-Zeit vorgegeben wurde. Er spiegelte sich nicht zuletzt in einem geradezu inflationären Gebrauch eines spezifischen „antifaschistischen" Vokabulars. Diesem Anpassungsdruck schienen sich „bürgerliche" Politiker und Journalisten auch dann nicht entziehen zu können, wenn ihre persönliche Biographie Zweifel an der demokratischen Grundhaltung und weltanschaulichen Integrität eigentlich nicht zuließ. Der nicht selten undifferenzierte Gebrauch von Schlüsselbegriffen wie Konzentrationslager auch für die Bezeichnung von Gefangenen- und Internierungslagern wurde teilweise noch durch die Wortwahl der Agenturmeldungen unterstützt.58 Auf der anderen Seite erschien der Begriff Antifaschismus — und hierbei fanden sich Parallelen bei den anderen Zeitungen im sowjetischen Sektor Berlins — in seinen unterschiedlichen Wendungen nahezu überall dort, wo in irgendeiner Form die Ablehnung des Nationalsozialismus 58
So wurde der Begriff in einer Meldung von Allied Press für ein norditalienisches Sammellager verwendet, in dem Vittorio Mussolini im Sommer 1945 gemeinsam mit anderen italienischen Faschisten gefangengehalten wurde. NZ, Nr. 6, 28. . 1945 („Mussolinis Sohn und Neffe von Partisanen gefangen").
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betont werden sollte. Drückte der Begriff Antifaschismus somit eine gewollte Distanz auch gegenüber der Frage nach der Mitverantwortung des deutschen Bürgertums für die Entfaltung des Nationalsozialismus aus, so vergrößerte sich diese Distanz, wenn von Hitlerismus oder Hitlerdiktatur die Rede war. Aber auch hierin kam das Vorbild der übrigen Zeitungen, besonders der Linkspresse der sozialistischen Zeitungen, zur Hilfe.59 Damit wird eine zweite Funktion des journalistischen Konzepts der Neuen Zeit für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus deutlich. Es erwies sich als erforderlich für die politische Standortbestimmung der Union in der Nachkriegsordnung. Sowohl die Themenwahl als auch der geregelt erscheinende Gebrauch einer Sprache, die mit Lexemen und Begriffsketten aus der marxistisch-leninistischen Ideologie aufgeladen wurde, folgten dem Bedarf der ständigen Legitimierung der Union als Partner beim politischen Wiederaufbau. Denn zu den bestimmenden Merkmalen der Öffentlichen Kommunikation in der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft gehörte, daß neben der Kontrolle medialer Strukturen auch das semantische Feld frühzeitig von der sowjetischen Besatzungsmacht und der Kommunistischen Partei besetzt worden war.
2. Für die Union und gegen den Liberalismus. Die „Neue Zeit" als Parteizeitung Die Etablierung des Parteienspektrums der Weimarer Republik entsprach dem politischen Kalkül der sowjetischen Besatzungsmacht, zumal in Deutschland eine Basis für eine große sozialistische Partei in absehbarer Zeit nicht zu erwarten war. Dagegen war die Konstituierung der CDU als einer überkonfessionellen Partei und in der Breite des in ihr gebündelten politischen Spektrums so nicht erwartet worden.60 Der im 59
Von diesem Zusammenhang erfuhren die Leser der Neuen Zeit, wenn sie die ständigen Rubriken aufmerksam lasen, in denen die Meinung anderer Zeitungen in Auszügen wiedergegeben wurde; so im Artikel „Die Wahlen in der Weltmeinung". In: NZ, Nr. 7, 29.VII. 1945. 60 Vgl. Siegfried Suckut: Zum Wandel von Rolle und Funktion der ChristlichDemokratischen Union Deutschlands (CDUD) im Parteiensystem der SBZ/DDR (1945—1952). In: Hermann Weber (Hg.): Parteiensystem zwischen Demokratie und Volksdemokratie. Dokumente und Materialien zum Funktionswandel der Parteien
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Gründungsaufruf formulierte Anspruch, eine Sammlungsbewegung aller bürgerlichen Kräfte zu sein, widersprach grundlegend dem Konzept der sowjetischen Militärregierung und der deutschen Kommunisten, das die erwarteten Gegensätze im „bürgerlichen Lager" als eine Grundbedingung ansah, um sich im Frühling und Frühsommer 1945 auf die zeitlich begrenzte Einführung eines „antifaschistisch-demokratischen Regimes" einzulassen.61 Eine zweite Belastung bestand in einem persönlichen Konflikt, den der erste CDU-Vorsitzende Andreas Hermes gerade in der Gründungsphase der Partei als Ernährungsstadtrat mit dem Berliner Oberbürgermeister Arthur Werner austrug und der Ende Juli mit dem Rücktritt aus dem Berliner Magistrat endete.62 Die Belastung des Verhältnisses zwischen der soeben gegründeten Union und der SMAD erhöhte den Druck auf die Neue Zeit, die Partei in der Konsolidierungsphase publizistisch zu stützen und in der ganzen Breite ihrer Berichterstattung über die Ziele der Union zu informieren. Vor diesem Hintergrund erstaunt das oben bereits skizzierte Konzept nicht, das alle Möglichkeiten nutzte, die CDU über die antinationalsozialistische Vergangenheit einzelner Mitglieder zu legitimieren. Dagegen unternahm die Neue Zeit keine Anstrengungen, um die sowjetische Sorge vor einer bürgerlichen Einheitspartei zu zerstreuen. So gehörte es zu der Berichterstattung über die Union, mit einer Anzahl von Nachrichten auf die wachsende Akzeptanz der Partei hinzuweisen. Der Charakter einer Sammlungsbewegung wurde sogar ausdrücklich betont, wenn mitgeteilt wurde, daß Angehörige regionaler Splitterparteien — genannt wurde die frühe Gründung einer Nationaldemokratischen Partei und einer Jungdemokratischen Partei — dem Gründungsaufruf
und Massenorganisationen in der SBZ/DDR 1945—1950 (Mannheimer Untersuchungen zu Politik und Geschichte der DDR). Köln 1982, S. 117—128, hier: S. 118 f. 61 Manfred Koch: Blockpolitik und Parteiensystem in der SBZ/DDR 1945—1950. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37/84 (15.IX.1984), S. 3—14, hier: S. 5 f. 62 Die Auseinandersetzung zwischen Hermes und Werner erfuhr ihre Zuspitzung in der außerordentlichen Magistratssitzung vom 27. . 1945, abgedruckt in: Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46 (wie Anm. 13), S. 244—276 (Dok. 17). Auf ein Rücktrittsgesuch des abwesenden Hermes reagierte der Magistrat auf Drängen der kommunistischen Mitglieder mit der Bitte an die Besatzungsbehörden, Hermes von seinem Amt als Leiter der Ernährungsabteilung abzuberufen, und lehnte den Weg der Vermittlung ab.
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der CDU gefolgt seien.63 Mit Namenslisten von neuen Mitgliedern sollte „eine wesentliche Ausdehnung der politischen Spannweite der Christlich-Demokratischen Union über politische Parteien wie auch über alle Konfessionen hinweg" dokumentiert werden.64 Ein anderer Weg, die Politik der Union zu unterstützen, bestand darin, Werte zu vermitteln, die zugleich zu Werten der Partei profiliert werden sollten. Als Schlüsselthema erhielt das Thema Familie hierbei besonders viel Raum. Am 10. August 1945 bot ein ausführlicher Bericht über die Zerstörung der Familie in der Zeit des Nationalsozialismus eine Gelegenheit, um erstmals aktiv für den Schutz der Familie in der Gegenwart zu werben.65 Für den anonymen Autor des Artikels stand nämlich fest, daß „in der Gemeinschaft von Eltern und Kindern die wirklichen moralischen, geistigen und seelischen Grundwerte der menschlichen Gesellschaft beheimatet" seien. In der erklärten Absicht, „die Wirkungskraft der Familie überhaupt wieder herzustellen", verwies er auf die verheerenden Folgen, wenn die Eltern ihren Einfluß auf die Erziehung ihrer Kinder verlören. So erschien ihm ein Zugriff des Staates auf die Jugend erst wirksam durch den Verlust einer Sphäre, „in der nur die Luft des gegenseitigen Vertrauens, des Vorlebens, der herzlichen Aussprache, der ständigen und freien kritischen Kontrolle jeder Handlung und jedes Gesprächs herrschte". Der Artikel forderte aber ebenso deutlich den Einfluß der Kirche auf die Erziehung zurück, indem er dessen Verlust in der nationalsozialistischen Zeit wenigstens gleichrangig als die zweite erhebliche Ursache für die verheerende Wirksamkeit staatlicher Einflüsse auf die junge Generation benannte. Der Anteil von Emil Dovifat an der Auseinandersetzung mit dem Programm der Union ist wesentlich leichter zu fassen, als es bei seiner Mitwirkung am Themenkomplex, der die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zeit in den Mittelpunkt stellte, der Fall zu sein scheint. Während er zum Thema Nationalsozialismus keinen einzigen namentlich gezeichneten Leitartikel verfaßt hat, äußerte er sich seit seiner Mitwirkung am Gründungsaufruf in der Neuen Zeit ebenso wie bei öffentlichen Parteiveranstaltungen geradezu kontinuierlich zur Programmatik der neuen Partei. 63
NZ, Nr. 3, 25. . 1945 („Die Christlich-Demokratische Union als Sammelbekken"). M Ebd. 65 Hier und im folgenden nach: NZ, Nr. 17, 10. .1945 („Die zerstörte Familie").
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Dennoch vertrug sich das publizistische Konzept von Dovifat, das sachliche Information an die Stelle von Propaganda stellte, nur begrenzt mit den Aufgaben einer Parteizeitung. So erschien ein Leitartikel, der explizit auf die Aufgabe der Neuen Zeit als Parteizeitung einging, erst in der zweiten Nummer vom 24. Juli 1945 unter dem Titel „Warum christlich? Warum Union?". Anders als der erste und alle nachfolgenden Leitartikel, waren die Ausführungen anonym erschienen. Lassen Korrekturspuren in einem noch erhaltenen Manuskript wenigstens eine Mitarbeit von Dovifat an dem Beitrag vermuten,66 so scheint bedeutsamer, daß er in wesentlichen Teilen seine in der früheren Diskussion vorgegebene Linie weiterverfolgte. Dazu gehörte wiederum die Absage an eine Wiederbelebung der Weimarer Republik. Der neue Staat sei nicht gewillt, „jene falsche Demokratie zu wiederholen, die den Weimarer Staat den antidemokratischen Feinden" ausgeliefert habe. Besonders eindringlich fiel daher das Bekenntnis zur Demokratie aus, das die Union mit allen anderen Parteien verbinde. Der zweite Akzent lag auf der Zusicherung, daß das Bekenntnis zum Christentum nicht im konfessionellen Sinn, sondern als Bekenntnis zu einer moralischen Größe — zu einer „Geistesheimat" — zu verstehen sei, die im Unterschied zu den Parteien und Gewerkschaften dem Nationalsozialismus widerstanden und darüber hinaus die Grundlagen der europäischen Kultur geschaffen habe. Bewußt wurde die CDU nicht als Partei, sondern als Sammlungsbewegung vorgestellt, die „auf dem Boden jener gemeinsamen weltanschaulichen Werte erfolgen"67 sollte, „die die Grundsubstanz und Wesensmerkmale der abendländischen Kultur" ausmachten. Die Weise, mit der das Bekenntnis zum Christentum verallgemeinert wurde und die es ausdrücklich erlaubte, auch den sozialistischen und kommunistischen Gegner noch einzubeziehen,68 definierte bewußt einen unverbindlich breiten Konsens und verfolgte nicht nur den Zweck, Bedenken vor einem Wie66
In: ACDP, —012, Nr. A—0920. Das Wort „gemeinsamen" hatte Dovifat im Manuskript handschriftlich ergänzt. 68 So hieß es: „Die Physiognomie unseres Kontinents ist nun einmal durch das Christentum geprägt, auch wenn die geistige Heimat vieler und gewiß nicht schlechter Europäer nicht an bestimmte konfessionelle Lehren und Kirchen gebunden ist. Auch sie bleiben stets an die Auseinandersetzung mit der christlichen Geisteswelt gebunden" (Hervorhebung im Original). Eine andere Anspielung, die sich noch im Manuskript fand, war nicht in den Satz übernommen worden: „Darum bekennen wir uns zum Christentum als geistigen [sie] Urheimat aller Europäer. Darum sind wir eine Union, um uns nicht abzusondern, sondern einzuordnen." 67
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dererwachen des alten Dualismus zwischen Staat und Kirche zu zerstreuen. Wichtiger war, daß auf diese Weise die Präzisierung der politischen Standortbestimmung der Union innerhalb des neuen Parteienspektrums unterstützt werden konnte. Die Union beheimate — so wurde ausdrücklich formuliert — „ebenso die liberalen Kreise jenseits aller Konfessionen". Eingeschlossen wurden hierin auch „ausdrücklich" die jüdischen Mitbürger, die bereits einen „aktiven Anteil an der Arbeit der Union" nähmen. Union bedeute Sammlung — so wurde erneut betont — und diese umfasse alle „antifaschistischen Kräfte, soweit sie nicht in den Programmen der KPD und SPD ihre politische Heimat finden". Die Absage an die Konfessionalität war somit auch erheblich mehr als das bloße Aufgreifen von Bestrebungen, wie sie schon am Anfang des Jahrhunderts und erneut in den frühen zwanziger Jahren mit dem Ziel einer überkonfessionellen Öffnung der alten Zentrumspartei verfolgt worden waren. Es war eine Kampfansage an die Liberaldemokratische Partei, mit deren Vertretern es unmittelbar in der Gründungsphase ja noch vereinzelte Gespräche gegeben hatte, mit dem Ziel der Schaffung einer gemeinsamen Partei — Gespräche übrigens, die auf lokaler Ebene noch keineswegs abgeschlossen waren.69 Mit Formulierungen wie in der Feststellung, „die Union beheimatet ebenso die liberalen Kreise jenseits aller Konfessionen, wie der Unionsaufruf sich auch ausdrücklich an die jüdischen Mitbürger wendet", entfernte sich der Artikel von dem in dieser Frage unverbindlichen CDU-Gründungsaufruf und versuchte, die Union als die Partei aller bürgerlichen Kräfte zu profilieren. Beide Gesichtspunkte, sowohl das Verhältnis der Union zum Liberalismus als auch die Frage nach der Rolle des Christentums im Staat griff Dovifat in der folgenden Zeit in mehreren Leitartikeln auf. Sein Verständnis von der Rolle des Liberalismus im neuen Staat stellte er schon eine Woche später in einer besonders prononcierten Weise vor.70 Sein Versuch, jeweils eine nützliche und eine ablehnenswerte Form des Liberalismus zu beschreiben und entsprechende Kategorien antonymisch gegenüberzustellen, geriet dabei zu einer nahezu pauschalen Ablehnung einer zunächst am Individuum orientierten Geisteshaltung. Für Dovifat, 69
Vgl. hierzu: Ekkehart Krippendorff: Die Gründung der Liberal-Demokratischen Partei in der Sowjetischen Besatzungszone 1945. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 8 (1960), S. 292—299; Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus, Bd. l (Anm. 22), S. 268—270. 70 Hier und im folgenden nach: NZ, Nr. 7, 29.VIL1945 („Wo steht der Liberale?").
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der den Liberalismus in seinen Ursprüngen zwar als ein „großes geistiges Prinzip" würdigte, die Entwicklung des Liberalismus im 19. und frühen zwanzigsten Jahrhundert wegen des Hangs zum Individualismus und der angeblichen Frontstellung gegenüber dem Christentum aber scharf verurteilte, hatte eine liberale Grundeinstellung nur noch dann eine Existenzberechtigung, wenn sie konstruktiv für die Gemeinschaft sein konnte: „Wer die liberale Grundhaltung und ihr individualistisches Streben nicht zum Anlaß individualisierender Abspaltung nimmt, dem alten Laster der liberalen Welt, sondern zur Entfaltung bester persönlicher Kräfte zur zupackenden Nothilfe und friedlichen Neuordnung der Welt, der gehört in die neue, in die christliche Demokratie. Wer freien Gewissens ehrfürchtig die religiösen Ueberzeugungen auch in ihren kirchlichen Bindungen anerkennt und den hier für das Gemeinschaftsleben ausgelösten tragenden Kräften freudig zur Mitarbeit die Hand reicht, der gehört in die neue, in die christliche Demokratie. Wer die humanitären Gedanken des Liberalismus so vertritt, daß sie ihre ethische Führungskraft wirklich in breitesten Volkskreisen durchsetzt, daß sie Wollen und Handeln frei und selbstverantwortlich mitbestimmen, der gehört in die Reihen der neuen demokratischen und christlichen Kämpfer." Für Dovifat mußte sich auch der liberale Mensch auf der Grundlage des Christentums bewegen. Als Vorbilder nannte er Friedrich Naumann und Max Weber, deren „Freunde und Schüler" sich „heute in der Einheit christlichen und demokratischen Wollens" befänden. „Demokratische Volksnähe" und „christliche Verantwortung" sollten die Voraussetzung für die politische Arbeit darstellen. Mit dieser Einstellung unterschied sich Dovifat nicht unwesentlich von seinen bisherigen Äußerungen, ebenso aber auch von der Meinung der übrigen Mitglieder des Gründerkreises, besonders derjenigen, die früher der DDP angehört hatten. Die Maxime einer ethischen Fundierung des Staatslebens, die von jedem einzelnen unterstützt werden müsse, war immerhin Bestandteil aller Parteiprogramme und wurde auch von den Liberaldemokraten gefordert.71 Die wichtigste Botschaft des Leitartikels war damit eher eine künstlich gesuchte Abgrenzung gegenüber der LDP, die auch in gewisser Weise mit dem Kurs korrespondierte, den die Liberaldemokraten ge71
Mit dieser Forderung trat auch Wilhem Külz in der Parteizeitung der LDP an die Öffentlichkeit: „Eine demokratische Staatsethik als beherrschende Macht für das deutsche Volk ist nur zu erreichen, wenn demokratische Gesinnungsethik den inneren politischen Gehalt des Menschen ausmacht." (Der Morgen, Nr. 8, ll.Vm.1945 [„Unechte und echte Demokratie"]).
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genüber der CDU — wenigstens nach außen hin — vertreten hatten. Immerhin hatte der Gründungsentwurf der LDP in seiner ersten Fassung wegen der darin enthaltenen religionskritischen Formulierungen sogar das Mißfallen der an einer breiten überparteilichen Zusammenarbeit interessierten beiden Linksparteien hervorgerufen.72 Und noch Ende Juli 1945 wurde in der LDP-Führung die Ansicht vertreten, daß es sich bei der CDU nur um „ein getarntes Zentrum mit demokratischem Anhängsel" handele, dem gegenüber die Namenswahl „LiberalDemokratische Partei" schon allein zur Abgrenzung erforderlich gewesen sei.73 Die prononcierte Betonung des christlichen Charakters der CDU war sicherlich wenig dazu geeignet, jene Vermutungen zu zerstreuen, die eine ideologische Nähe der Union zur Tradition der alten Zentrumspartei beinhalteten.74 Andererseits mußte Dovifat erkennen, daß die Äußerung jenes Verdachts mit der wachsenden politischen Konfrontation, in deren Mittelpunkt die Diskussion über die von sowjetischer Seite geforderte Bodenreform stand, leicht in die publizistische Auseinandersetzung einbezogen werden konnte. Denn zu dieser Auseinandersetzung gehörte es schon bald, auf bewährte Feindbilder der Weimarer Zeit auch oder gerade dann zurückzugreifen, wenn deren Konnotation durch die nationalsozialistische Propaganda längst eine andere Qualität erhalten hatte. So ist es zu verstehen, daß Dovifat unter der Überschrift „Wir und das Zentrum" es als ein „bereitwilliges Mißverstehen" bezeichnete, den von der Union gewählten Verzicht auf eine Kontinuität zur Zentrumspartei bewußt zu leugnen.75 Dovifat hatte sich längst auf die Spielregeln einer vor allem im linken Lager bevorzugten publizistischen Kampfform eingelassen, als er derartige Vorwürfe in eine lange Kontinuität der „Mobilisierung der konfessionellen Gegensätze im deutschen Staatsleben" stellte, 72
Die umstrittene erste Fassung des Gründungsaufrufs ist abgedruckt bei: Ossip K. Flechtheim (Hg.), Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945. Bd. 2, Nr. 123. Vgl. auch Suckut, Blockpolitik in der SBZ/DDR 1945—1949 (wie Anm. 31), S. 569, Anm. 5. 73 Krippendorff, Die Gründung (wie Anm. 69), S. 293 f. 74 Auf dieser Vermutung stützten sich auch taktische Überlegungen, wie sie in der LDP in einer vertraulichen Instruktion für die Ortsgruppenbildung am 24. Juli 1945 angestellt wurden. Sie ist abgedruckt in: Brigitte Itzerott: Die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD). In: Weber (Hg.), Parteiensystem (wie Anm. 60), S. 186—188 (Nr. 83), vgl. besonders S. 186 f. 75 Hier und im folgenden nach: NZ, Nr. 49, 16.IX.1945.
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die vom Kulturkampf der Bismarckära bis hin zum nationalsozialistischen Kirchenkampf gereicht habe. Dieser Vorwurf kulminierte in der Feststellung: „Wer solche Irrtümer verbreitet, der spekuliert darauf, Restbestände der Goebbelspropaganda für sich zu mobilisieren, der sucht gleichzeitig auch kirchenfeindliche Instinkte, wie sie sich hinter all diesen Behauptungen verbergen, wachzurufen und die natürliche Auseinandersetzung des öffentlichen Lebens, die auf Einigung und nicht auf Entzweiung ausgeht, gefährlich zu vergiften. Er mobilisiert im antifaschistischen Deutschland den üblen Bodensatz faschistischer Agitation." Diese Ausführungen richteten sich nicht allein gegen Vorbehalte gegenüber der Union, die auf liberaler Seite noch lange Zeit bestehen blieben. Sie widersprachen vor allem einem besonders gern benutzten Argument einer anwachsenden CDU-Kritik, wie sie in den von der Besatzungsmacht direkt oder indirekt kontrollierten Zeitungen in einem zunehmenden Maß verbreitet wurde.76 Neben den oben angeführten Vorbehalten der SMAD gegenüber der Union mögen vor allem zwei weitere Aspekte zu dieser Kritik beigetragen haben, zum einen der Umstand, daß die Neue Zeit — gemessen an den übrigen Parteizeitungen — sich noch einen relativ hohen Anteil an politischer Selbständigkeit erhalten hatte, zum zweiten der vergleichsweise gute Absatz der Neuen Zeit, der es im Herbst 1945 als einziger der im Berliner Ostsektor erschienenen Zeitungen gelang, ihre Auflage vollständig zu verkaufen.77 Typisch für die Leitartikel, die Dovifat für die Neue Zeit unter seinem Namen verfaßt hatte, war gewesen, daß sie fast ausschließlich Themen von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung behandelten. So stammten die Stellungnahmen zu den aktuellen politischen Tagesfragen eben nicht von ihm, sondern von Politikern wie Otto Gerigk, der die Leitartikel zum Potsdamer Abkommen, zur japanischen Kapitulation und zur Londoner Außenminister-Konferenz schrieb,78 und dem Berliner CDULandesvorsitzenden Karl Brammer, der neben einer Fülle von Beiträgen
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Hierzu gehörte vor allem das SMAD-Organ Tägliche Rundschau, die im Auftrag des Magistrats herausgegebene, aber von der KPD kontrollierte Berliner Zeitung und das KPD-Organ Berliner Volkszeitung. 77 Hurwitz: Demokratie und Antikommunismus, Bd. 3 (wie Anm. 46), S. 99. 78 NZ, Nr. 13, 5. .1945 („Großmut und Kriegsgesetze"); NZ, Nr. 22, 16. . 1945 („Das Tor zum Frieden"); NZ, Nr. 45, 12.IX.1945 („Von Potsdam nach London"); alle drei Artikel wurden mit „igk" gezeichnet.
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für die dritte Seite und für das Feuilleton auch Leitartikel zu verschiedenen Tagesproblemen wie der Situation in Berlin verfaßte.79
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Die Neue Zeit im Kräftespiel von SMAD, KPD und CDU Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den übrigen Parteien war eine der wesentlichen Bedingungen für die Genehmigung der CDU durch die SMAD. Dennoch herrschte auch nach der Gründung der „Einheitsfront", der die Union von Anfang an gemeinsam mit KPD, SPD und LDP angehörte, Unklarheit darüber, wie sich die verordnete Zusammenarbeit auf die politische Arbeit der Union auswirken würde. Vor dem Hintergrund der ersten gemeinsamen Sitzungen des Parteienblocks rief die Neue Zeit am 26. Juli zur gegenseitigen Toleranz der in der Einheitsfront vertretenen unterschiedlichen politischen Richtungen auf.80 Es war ein Appell, der sich wohl auch an die bürgerlichen Leser der Neuen Zeit richtete. Der Akzent der Ausführungen lag aber auf der an die anderen Parteien gerichteten Forderung, der CDU die Verfolgung eines eigenen Programms zuzugestehen: „Man müsse Verständnis [gjewinnen für die besonderen Voraussetzungen, von denen aus andere Menschen an die politische Arbeit gehen. Aber ebenso erwarte die Union Achtung und Verständnis für den eigenen Ausgangspunkt aus der Welt christlicher Werte."81 Nach der in der Neuen Zeit vertretenen Meinung schien eine Antwort auf die „Fragen nach Inhalt und Methoden des Wiederaufbaues einer echten Demokratie" in dieser Phase-„offenbar bewußt zunächst zurückgestellt" worden zu sein.82 Derartige Appelle an die Verständigungsbereitschaft und die — verglichen mit anderen Redakteuren — persönliche publizistische Zurückhaltung von Emil Dovifat konnten nicht verhindern, daß sich die wachsende Kritik der sowjetischen Militärregierung an der CDU-Führung zugleich auf das publizistische Zentralorgan der Union und damit auf die Person des Chefredakteurs konzentrierte. Seine Tochter vermerkte 79
So in der NZ, Nr. 60, 29.IX.1945 („25 Jahre Groß-Berlin"). NZ, Nr. 4, 26. . 1945 („Die Einheitsfront der Parteien"). 81 Ebd. 82 Ebd. 80
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allein im August vier sowjetische Beschwerden gegenüber der Neuen Zeit in ihrem Tagebuch.83 Darüber hinaus wurden einige Artikel mit Auflagen versehen oder ihr Abdruck erheblich verzögert wie der einzige Leitartikel, den Dovifat im August verfaßt hatte.84 Die russische Kritik an der Neuen Zeit wurde im September und im Oktober zunehmend auch von den der Militärverwaltung unterstellten deutschen Behörden aufgegriffen und vorangetrieben. Am 4. September kam es zu einer Aussprache mit Otto Winzer, KPD-Mitglied und zu jenem Zeitpunkt Leiter der Abteilung Volksbildung im Magistrat, über die Haltung der Zeitung. Dabei forderte Winzer — so notierte Dovifat in seinen Kalender —- eine „entschiedenere .antifaschistische' Haltung der ,Neuen Zeit'".85 Zu einem ersten größeren Konflikt kam es, als die Neue Zeit zehn Tage nach der Unterredung in einem Artikel Kritik an der Steuerpolitik des Magistrats äußerte. Der Autor, der Rechtsanwalt Gerhard Frenzel, hatte die Kompetenz der Stadtbehörden angezweifelt, in Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs Reichssteuern für die Bewohner der Stadt zu erheben, zumal hierdurch Doppelbesteuerungen entstehen könnten, wenn ein Steuerpflichtiger bereits an eine andere Behörde Gelder abgeführt habe.86 Karl Maron, stellvertretender Oberbürgermeister und Mitglied der KPD, machte sogleich in der nächsten Magistratssitzung deutlich, daß seine Partei derartige kritische Töne nicht mehr hinzunehmen bereit sein würde: Kritik müsse positiv sein, aber „die Kritik, die in der letzten Zeit von gewisser Seite an der Arbeit des Magistrats geübt wird, ist durchaus unfruchtbar und geeignet, die Aufbauarbeit des Magistrats und den Aufbauwillen der ganzen Bevölkerung zu hemmen".87 Der Artikel der Neuen Zeit würde dem Magistrat vorwerfen, daß „alle seine Anordnungen ohne rechtliche Grundlagen" seien. 83
So am 7. .1945, 17. .1945, 21. .1945, 23.Vm.1945. Der einzige — namentlich gezeichtete — Artikel erschien schließlich unter dem Titel „Die Jugend in unseren Tagen". Nach Dorothee Dovifats Notizen war der Artikel am 11. August 1945 verfaßt, aber nicht — wie offenbar vorgesehen — am folgenden Tag abgedruckt worden (Dorothee Dovifat, Tagebuch, 11.VIII.1945 und 12.Vm.1945). Er erschien erst in der NZ, Nr. 25 vom 19.Vm.1945. 85 Abschrift der Kalendernotizen, 4.IX.1945. 86 NZ, Nr. 46, 13.IX.1945 („Gesetzgeber: Magistrat Berlin"). 87 Protokoll der Magistratssitzung vom 17.IX.1945. In: Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46 (wie Anm. 13), S. 426-^41 (Dok. 29), hier: S. 440. Die Wortbeiträge wurden im Protokoll teils in indirekter Rede, teils wörtlich wiedergegeben. 84
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Schärfer als in der Magistratssitzung fiel die Kritik der KPD an der Netten Zeit in einem internen Papier von kommunistischen Magistratsmitgliedern aus. Unter der Zwischenüberschrift „Verstärkung der Angriffe seitens bürgerlicher Kreise" formulierten die Autoren zunächst eine kurze Inhaltsangabe, in der die Aussage Gerhard Frenzels deutlich entstellt wurde.88 Danach resümierten sie, es könne sich nur „um eine bewußte Herabsetzung der Arbeit des Magistrats handeln, die wahrscheinlich in enger Verbindung mit den Maßnahmen der englisch-amerikanischen Besatzungsbehörden steht".89 Die „Offenheit dieses Angriffs läßt auf Fortsetzung und Steigerung dieser Kampagne in der nächsten Zeit schließen". Emil Dovifat bekam die Folgen der kommunistischen Kritik an der Neuen Zeit zu spüren, als am 22. September, wiederum in einem Gespräch, „ein neuer Disput über die Haltung des Blatts" folgte.90 Zwei Artikel, die schon einen Tag später in der Neuen Zeit erschienen, wurden von Sowjetmacht und Magistrat dann zum Anlaß genommen, um den Kurs gegen Dovifat erheblich zu verschärfen. Dovifat selbst hatte in einem Leitartikel zum Privateigentum eine Position eingenommen, die — im Einklang mit der CDU-Führung — der radikalen Bodenreformpolitik der SMAD in gewisser Weise entgegenstand, wenigstens aber eine gemäßigtere Vorgehensweise forderte.91 So war durch den Druck der Militärbehörde erst am 13. September 1945 vom Einheitsfrontausschuß eine Resolution zur Bodenreform verabschiedet worden,92 in der nicht 88
Hier und im folgenden nach: Parteiinterner Bericht kommunistischer Magistratsmitglieder über die Entwicklung und politische Lage in Berlin (2. Septemberhälfte 1945). In: Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46 (wie Anm. 13), S. 447—460 pok. 31), hier: S 459. Der Bericht wurde von Karl Maron, Arthur Pieck und Hans Jendretzky unterzeichnet. 89 Der Bericht unterstellte der Neuen Zeit, die Politik der westalliierten Militärverwaltungen zu unterstützen, denen vorgeworfen wurde, durch gegenläufige Verwaltungsentscheidungen die Autorität des Magistrats zu untergraben und damit vor allem den kommunistischen Magistratsvertretern in der Öffentlichkeit zu schaden (ebd., S. 460 f.). 90 Abschrift der Kalendernotizen, 22.IX.1945. 91 NZ, Nr. 55, 23.IX.1945 („Das Privateigentum"). Zum Verhältnis der CDU zur Bodenreformpolitik der SMAD s. Hermes: Die Christlich-Demokratische Union und die Bodenreform (wie Anm. 26), passim. 92 Hier ist Suckut zuzustimmen, wenn er feststellt, daß die Einheitsfront zunächst die Funktion wahrnahm, den von der SMAD getroffenen Schlüsselentscheidungen noch eine nachträgliche Legitimation zu verschaffen; Siegfried Suckut: Zu Krise und
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nur „die restlose Enteignung der Kriegsverbrecher und aktivistischen Nazis" gefordert wurde. Die Formulierung, auch der „Besitz der großen Feudalherren" müsse aufgeteilt werden, schloß nämlich eine Unterscheidung nach dem Grad der politischen Belastung aus und machte es möglich, auch willkürliche Enteignungen vorzunehmen.93 Zwei Faktoren hielt Dovifat daher im Umgang mit Eigentum für wichtig, auf der einen Seite eine Form von Sozialbindung, mit der Privatbesitz auch künftig gerechtfertigt werden könne, nämlich die Unterordnung des Eigentums unter die höhere Verantwortung für die Allgemeinheit. Dafür bestand Dovifat auf der anderen Seite auf einer rechtlichen Sicherung des Eigentums, ohne die eine „rechte Ertragsleistung" auf die Dauer nicht zu erbringen sei.94 Dovifat wandte sich gegen den Weg der Enteignung, ohne allerdings diesen Begriff zu verwenden: „Wenn das Privateigentum einfach durch Gewalttat auffliegt und so seine Ertragfähigkeit für die Gemeinschaft mindert, so ist der Fehler ebenso groß wie im gegenteiligen Falle, wo Privateigentum falsch verwaltet wird [...]." Für Dovifat war Privateigentum eine „naturrechtliche Gegebenheit", die in der menschlichen Natur tief verwurzelt sei. Auch der Mißbrauch sei noch kein Grund, den „an sich richtigen Grundsatz [...] widernatürlich um[zu]bringen". Dovifat berief sich in seinem Artikel ausdrücklich auf das Bekenntnis zum Eigentum, wie es bereits im Gründungsaufruf der CDU vertreten wurde.95 Dieses war jedoch noch in Unkenntnis der von der sowjetischen Besatzungsmacht angestrebten Bodenreform und der zu einem noch späteren Zeitpunkt geplanten Industriereform verfaßt worden. Die Entscheidung, am Ende des Monats September an eine programmatische Vorgabe aus dem Juli zu erinnern, traf Dovifat dem-
Funktionswandel der Blockpolitik in der Sowjetisch Besetzten Zone Deutschlands um die Mitte des Jahres 1948. Dokumentation. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 674—718, hier: S. 680. 93 „Erklärung der Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien" vom 13.IX.1945. In: Suckut (Hg.), Blockpolitik in der SBZ/DDR 1945—1949 (wie Anm. 31), S. 89 f., Zitat auf S. 89. 94 Hier und im folgenden nach: NZ, Nr. 55, 23.IX.1945 („Das Privateigentum"). Hervorhebungen im Original. 95 Er zitierte die Passage: „Wir bejahen das Privateigentum, das die Entfaltung der Persönlichkeit sichert, aber an die Verantwortung für die Allgemeinheit gebunden bleibt." (Vgl. den Abdruck des Aufrufs in: Weber [Hg.], Parteiensystem [wie Anm. 60], S. 130).
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nach offenbar aus taktischen Gründen.96 Er sicherte seine Ausführungen damit nämlich durch Formulierungen ab, die seinerzeit in dieser Form von der Besatzungsmacht genehmigt worden waren. Jedoch ist zu vermuten, daß Dovifat dieses Mittel auch aus einem zweiten Grund wählte, nämlich um innerhalb der Union auf diejenigen Parteimitglieder Druck auszuüben, für die eine gemeinsame Arbeit mit den übrigen Parteien einen Vorrang vor der Durchsetzung von Prinzipienfragen besaß, wie es in der Tendenz besonders bei den Mitgliedern des Landesverbands Sachsen der Fall gewesen war.97 Der zweite Artikel, der ebenfalls auf der ersten Seite derselben Ausgabe plaziert wurde, war anonym erschienen, wurde aber später dennoch Dovifat persönlich vorgehalten.98 Der Artikel griff eine längst verbreitete Kritik an der Politik der SMAD und des Magistrats auf, denen vorgeworfen wurde, mit dem System der Haus-, Straßen- und Blockobleute eine Institution zu pflegen, deren Aufgaben als unterste Kontroll- und Informationsinstanz der Behörden und deren Praktiken an die Blockwarte des NS-Systems erinnerten.99 Besonders die Besatzungsbehörden der USA hatten hier eine klare Position eingenommen und im amerikanischen Sektor die Betätigung der Obleute untersagt — ein Vorgang, der zu erheblichem Konfliktstoff beim Magistrat geführt hatte. 96
Hierfür spricht übrigens auch, daß in Dovifats eigenem Entwurf zu dem Gründungsaufruf der Akzent stärker als in der später beschlossenen Fassung auf der öffentlichen Kontrolle des Eigentums lag; so hatte die entsprechende Passage bei ihm gelautet: „Das Privateigentum ist zu schützen, bleibt aber in seiner Nutzung der Gemeinschaft unterstellt [...]" („Aufruf der .Deutschen [Demokratischen] Aufbaupartei'", o.D., in: ACDP, 1—171, Nr. 002/1). 97 In einer Stellungnahme gegenüber der Reichsleitung, die Leo Herwegen für den CDU-Provinzialverband Sachsen/Anhalt verfaßt hatte, wurde betont, daß die Union sich einen Widerstand gegen die Bodenreform in der von der SMAD gewünschten Form nicht länger leisten könne, da sonst die Gefahr bestünde, jeden politischen Einfluß zu verlieren (der auf den 4.IX. 1945 datierte Text ist abgedruckt in: Hermes, Die Christlich-Demokratische Union und die Bodenreform [wie Anm. 26], S. 115—122). Eine entsprechende Positionsbeschreibung lieferte auch Professor Hugo Hickmann als Vertreter des sächsischen Landesverbands auf der „Sitzung des Gründerausschusses und der Vertreter der Landesverbände der sowjetischen Besatzungszone" vom 21. .1945 (ACDP, VE—011, Nr. A—2179). 98 NZ, Nr. 55, 23.IX.1945 („Herzensdemokratie oder Blockwalterton?"). 99 Vgl. hierzu Hurwitz: Demokratie und Antikommunismus, Bd. l (Anm. 22), S. 238 f.; sowie ders.: Die Eintracht der Siegermächte (wie Anm. 77), S. 188—190; Wolfgang Paul: Kampf um Berlin, München 1962, S. 64 f.
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Vor allem die kommunistischen und sozialdemokratischen Vertreter sahen in den Obleuten ein „Organ der direkten Fühlungnahme zwischen Stadtverwaltung und Bevölkerung" und zugleich einen wesentlichen „Weg zur Demokratisierung und Umerziehung des deutschen Volkes".100 Darüber hinaus würden erhebliche finanzielle Ersparnisse erreicht werden, wenn die Obleute Verteilungs- und Verwaltungsaufgaben für die Stadt übernähmen.101 Allerdings wurde die Kritik an den Obleuten auch von Magistratsmitgliedern geäußert. Sie kritisierten deren „Machthunger" und bemängelten besonders, daß von ihnen „Übergriffe" ausgegangen seien.102 Der Artikel in der Neuen Zeit bemerkte nun zu diesem Problem, es gebe noch immer Menschen — hervorgehoben wurden besonders die Hausobleute („Hausvertrauensmänner") —, für die die Gewaltanwendung die wirksamste Methode sei, „um den, der aus der Reihe tanzen will, zur Räson zu bringen"; davon, „daß wir alle gleichberechtigt sind und niemand sich herausnehmen darf, dem ändern im Befehlston entgegenzutreten, davon scheint man bis jetzt nichts zu wissen". Sowohl das KPD-Organ Berliner Volkszeitung als auch die von der SMAD herausgegebene Täglichen Rundschau reagierten mit heftigen Angriffen gegen Dovifat.103 Sie bedienten sich ausgewählter Zitate von Dovifat aus Publikationen, die während der Zeit der Diktatur entstanden oder überarbeitet worden waren, um ihren Verfasser Dovifat als überzeugten Anhänger des nationalsozialistischen Systems darzustellen.104 100
Schreiben von Oberbürgermeister Dr. Werner an Generalmajor Parks vom 22.VHI.1945. In: Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46 (wie Anm. 13), S. 357—359 (Dok. 22), hier: S. 358. 101 Protokoll der Sitzung des Magistrats vom 10.IX. 1945. In: Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46 (wie Anm. 13), S. 402—422 (Dok. 27), hier: S. 410—413. 102 Ebd., S. 441 f. So der stellvertretende Abteilungsleiter Martin Schmidt (KPD) und Probst Heinrich Grüber (parteilos). Grüber sah vor allem die Gefahr, daß die Bevölkerung in den Obleuten die nationalsozialistischen Blockwarte erblicken könnte, und forderte eine stärkere „Auslese [...] nach demokratischen Gesichtspunkten" (ebd., S. 412). 103 Deutsche Volkszeitung, Nr. 91, 26.IX.1945 („Wer ist Herr Emil Dovifat?"); Tägliche Rundschau, Nr. 117, 27.IX.1945 („Im Spiegel des Tages. Der Kampf gegen Demokratie unter dem Deckmantel einer .Herzensdemokratie'"). 104 Hierzu gehörten vor allem auch später noch häufig zitierte Passagen aus der Zeitungslehre. Zur Bedeutung dieser Formulierungen s. besonders den Beitrag von Bernd Sösemann in diesem Band.
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Während Dovifats Artikel zum Privateigentum nicht einmal erwähnt wurde, nahm sich der Beitrag in der Täglichen. Rundschau statt dessen den Blockwalter-Artikel vor, machte Dovifat für ihn verantwortlich, um dann die im Artikel enthaltenen Aussagen zur Demokratie in ihr Gegenteil zu verkehren.105 Letztlich war es unerheblich, ob die im Blockwalter-Artikel bemängelten Zustände bereits seit den Erfahrungen mit den AntifaAusschüssen, die noch im Mai/Juni 1945 mit nationalsozialistischen Methoden gegen Nationalsozialisten vorgegangen seien, auch von Vertretern der Berliner Stadtverwaltung schon seit längerem in ähnlicher Weise gerügt wurden.106 Denn, wie in dem internen KPD-Papier ausgeführt worden war, galt inzwischen der Grundsatz, daß eine öffentliche Kritik, noch dazu wenn sie aus den Reihen der bürgerlichen Parteien kam, nicht mehr hingenommen werden durfte, um die Vorherrschaft der Partei in der Berliner Stadtverwaltung nicht noch weiter zu gefährden.107 In ähnlichen Fällen wurde sie üblicherweise als „unfruchtbar und geeignet, die Aufbauarbeit des Magistrats und den Aufbauwillen der ganzen Bevölkerung zu hemmen", eingestuft.108 Die scharfe Reaktion in den Presseorganen der KPD und der sowjetischen Militärregierung entsprach diesem Grundsatz. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, daß der Blockwalter-Artikel hier nur einen Vorwand zum Eingreifen geliefert hat.109 Den eigentlichen Anlaß für das 105
Die Tägliche Rundschau griff die folgende Passage heraus: „Aber hier zeigt sich, daß wir einer Generation angehören, deren Väter und Vorväter daran gewöhnt waren, ihr Zusammenleben auf Befehl und Gehorsam zu gründen (diese primitivste Form des Zusammenhalts, die genau das Gegenteil von Demokratie ist)." Die Tägliche Rundschau bewertete diese Aussagen wie folgt: „So ist also nach Meinung des Herrn Dovifat die Demokratie eine Gemeinschaftsform, die auf einer Nichtbefolgung von Befehlen und Ungehorsam basiert." Das deutsche Volk solle also „im Rahmen seiner Kräfte die Befehle und Anweisungen der Behörden sabotieren". Es sei nicht das erste Mal, daß Dovifat versuche, „in der einen oder anderen Form [...] gegen die in Deutschland bestehenden Behörden Stellung zu nehmen" und die „Scherben des zerschlagenen Systems" unter seinen Schutz zu nehmen. 106 Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus. Bd. l (wie Anm. 22), S. 238 f. 107 Parteiinterner Bericht (wie Anm. 88). 108 Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus. Bd. l (wie Anm. 22), S. 238 f. 109 Hier sei auch darauf hingewiesen, daß die SMAD in den von ihr unterstützten Medien ebenso wie an anderen wichtigen Positionen des kulturellen Lebens durchaus wirklich politisch belastete Personen duldete, vgl. hierzu Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus, Bd. 3 (wie Anm, 46), S. 91.
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Vorgehen gegen die Neue Zeit gaben dagegen Entwicklungen auf zwei Ebenen, die von der SMAD als Probleme für die eigene Politik erkannt worden waren und nun korrigiert werden sollten: Auf der publizistischen Ebene war der — gemessen an den Möglichkeiten der Ost-Zeitungen — relative große Erfolg der Neuen Zeit zu verzeichnen. Auf dieser Ebene setzte schon im Spätsommer 1945 ein Verdrängungskampf zugunsten der von der SMAD massiv unterstützten Linkspresse ein. Publizistisch wie ökonomisch leitete er eine langfristige Schwächung der Neuen Zeit ein. Die Monopolisierung der veröffentlichten Meinung war nicht das Ergebnis des Kalten Krieges, sie gehörte von Anfang an zur medienpolitischen Linie in der sowjetischen Zone. Auf einer politischen Ebene wurde zum ersten Mal deutlich, daß der sowjetische Versuch, mit der Etablierung eines Parteienspektrums, das äußerlich an die Weimarer Republik erinnerte, zugleich Einfluß auf die Entscheidungsbildung bürgerlicher Politiker auszuüben, ohne repressive Gewalt nicht umzusetzen war. Die Funktion der Neuen Zeit als Parteiorgan, vor allem ihre besondere Nähe zur Berliner CDU-Spitze mit ihrer kritischen Haltung zur Bodenreform — einem Kernstück im Konzept der von der SMAD eingeleiteten Umgestaltung der Gesellschaftsordnung in Ostdeutschland — machte das Blatt automatisch zu einem Faktor dieser sowjetischen Politik gegenüber den Parteien. Die Absetzung des Chefredakteurs der Neuen Zeit, die in ihrem Ablauf bereits die wesentlichen Züge späterer „Säuberungsmaßnahmen" trug, war Bestandteil eines abgestuften Instrumentariums, mit dem Druck auf die CDU„Reichsleitung", insbesondere aber auf Andreas Hermes und Walther Schreiber ausgeübt werden sollte. Ein kurzfristiger Konsens zwischen CDU und KPD, der sicherlich nicht zufällig am Tage des Rücktrittsgesuchs von Emil Dovifat zwischen Andreas Hermes und Wilhelm Pieck gefunden wurde, kam mit der Vereinbarung, sich künftig in der Presse zu schonen, lediglich der Gewährung einer Bedenkzeit gleich.110 Der Rücktritt, um den Dovifat selbst an jenem 12. Oktober 1945 Andreas Hermes ersucht hatte,111 verzögerte sich noch um einige Tage. Schwierigkeiten bereitete die Nachfolgefrage. Gegenüber Rudolf Pechel, der erst seit kurzer Zeit der Redaktion der
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Dieser Vorgang ist überliefert im Nachlaß Wilhelm Pieck. In: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisation der ehemaligen DDR im Bundesarchiv, Zentrales Parteiarchiv, NL 36/722. 111 Abschrift der Kalendernotizen, 12.X.1945.
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Neuen Zeit angehörte, gab es offenbar noch Widerstand innerhalb der Redaktion, als — in Absprache mit der SMAD — am 19. Oktober 1945 der Rücktritt von Emil Dovifat vom Amt des Chefredakteurs bekannt gegeben wurde.112 Mit diesem erzwungenen Rückzug waren für Dovifat die publizistischen Aktivitäten keineswegs beendet, auch wenn Äußerungen in der Presse der ostdeutschen CDU nun kaum noch möglich waren, ohne deren Existenz zu gefährden. Daß es andererseits die Neue Zeit nach dem Fortgang ihres Chefredakteurs keineswegs leichter hatte, das belegt die kurze Amtszeit des Nachfolgers Rudolf Pechel ebenso wie die anhaltend repressive Behandlung der Zeitung durch die sowjetische Zensur.113
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Schreiben von Andreas Hermes an Generalleutnant Bockoff vom 15.X.1945 (im Privatbesitz von Dr. Dorothee von Dadelsen). Dorothee Dovifat notierte hierzu in ihrem Tagebuch: „10 Uhr in der Redaktion. Hermes sagt den Herren der Redaktion, daß Vater zurücktreten muß...Es gibt eine Palastrevolution, sehr öde Stimmung in der Redaktion (Man will Pechel als Nachfolger von Dovifat nicht)" (19.X. 1945; ähnlich in der Tendenz auch die übrigen Eintragungen vom 16. bis zum 20.X.1945). 113 Hierin ist der auf Aussagen von Johann Babtist Gradl und Wolfgang Paul gestützten Feststellung Benedikts (Dovifat [wie Anm. 2], S. 38), die Zeitung habe nach Dovifats Weggang zunächst äußere Erfolge zu verzeichnen gehabt, nicht zu folgen. Vgl. hierzu die postum in Auszügen wiedergebenen Erinnerungen von Wilhelm Gries an seine Zeit als Chefredakteur der Neuen Zeit, in: Der Tagesspiegel, Nr. 15335, 23. .1995 („Der Zensor .befahl' die Schlagzeile").
„Wahrheit Wahrheit und Lüge Lüge nennen können". Öffentliche Informationsleistungen als Thema der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft Emil Dovifats. Rekonstruktionsversuch und Kritik BARBARA BAERNS
Das Interesse an Medienwirkungen auf Rezipienten, das jahrzehntelang dominierte1, hat verschüttet, daß die Zeitungswissenschaft und die Publizistikwissenschaft, die Vorläufer der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen öffentlicher, meist journalistischer Informationsleistungen von Anfang an thematisierten und behandelten. Sie hat auch Emil Dovifat beschäftigt, zuerst in seiner Antrittsvorlesung, 1928. In Abgrenzung zur insofern naiven Betrachtungsweise anderer Disziplinen2 entfaltet Emil Dovifat 1
Dies trifft auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Emil Dovifat und seinem Nachfolger Fritz Eberhard Anfang der 60er Jahre zu, die überwiegend über den Wirkungsaspekt geführt wurde. Vgl. Fritz Eberhard: Thesen zur Publizistikwissenschaft. In: Publizistik (Konstanz), 6. Jg. (1961), S. 259—266. — Emil Dovifat: Ergebnisse der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik (Konstanz), 7. Jg. (1962), S. 78—81. — Emil Dovifat: Aufgaben der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik (Konstanz), 9. Jg. (1964), S. 347 f. 2 „Wir sehen ... ein seltsames Zusammenfließen von geistigen, technischen und wirtschaftlichen Kräften, die innerhalb der Zeitung zu einer Einheit werden. Alle Fehler, die in der Benutzung der Zeitung zu wissenschaftlichen Zwecken unterlaufen können, sei es, daß sie den Historikern als Quelle der Ereignisse oder als Beleg für die Stärke der jeweiligen Meinungsbildung dient, sei es, daß sie zur Erforschung irgendwelcher im öffentlichen Leben bedeutsamer, kultureller und wissenschaftlicher Vorgänge und Erscheinungen herangezogen wird, wo immer Fehler gemacht werden, beruhen sie darin, daß man in dem Zusammenklang dieser drei Faktoren, des geistigen, des technischen und des wirtschaftlichen, einen der Faktoren falsch einsetzt, oder deren Beziehungen untereinander mißversteht... Ist erst einmal die Zeitung derart selbst erkannt, bleibt der Zeitungswissenschaft Zeit genug, mit Lust und Freude und dann von gesichertem Boden aus Ausflüge in benachbarte Gebiete zu unternehmen, die man m.E. heute nur fälschlicher Weise in den Bereich der Zeitungswissenschaft einbezieht oder denen man, ebenso irrtümlich und zwecklos, die Zeitungswissenschaft dienstbar macht. Gibt es doch sogar Auffassungen, die aus der Zeitungswissenschaft
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diese Frage sogar als ein zentrales und besonderes Erkenntnisinteresse: „Alle beschäftigen sich mit der Zeitung nur darum, weil sie das Leben auch in den ihnen jeweils naheliegenden Gebieten spiegelt. Die Zeitungswissenschaft aber interessiert zunächst nicht dieses Spiegelbild, sondern der Spiegel selbst und die Gesetze der Spiegelung."* Dieselben Sätze im sinngemäß gleichen Kontext finden sich in Dovifats Grundlegung seiner zweibändigen Zeitungswissenschaft, 193l4, und — als Selbstzitat — noch in seinen Überlegungen zur „Erweiterung der zeitungskundlichen zur allgemein-publizistischen Lehre und Forschung", die 1934 herauskamen5. In seinem letzten wissenschaftlichen Werk, im Handbuch der Publizistik, das 1968 erschien, formulierte Dovifat die Frage so: „Das Studium der publizistischen Vorgänge ist ... kein .heiteres wissenschaftliches Spiel', ... sie [die Publizistikwissenschaft, B. B.] muß Wahrheit Wahrheit und Lüge Lüge nennen können, dies zumal in einer Zeit, wo die Lüge Weltmacht geworden ist"6. „Die wissenschaftliche Publizistik hat die Wege zu zeigen, die der praktischen Publizistik offen sind"7. Schon dort wird offensichtlich nach Gesetzmäßigkeiten — und „Unregelmäßigkeiten" — publizistischer Prozesse gesucht. Ein Forschungsproblem, das sich daraus ergibt, konkurrierende Theorieansätze bis in die Gegenwart hinein zu bearbeiten. Und ein Problem des Alltags, das uns gegenwärtig erneut beschäftigt. Die Erscheinungsdaten der Diskussionsbeiträge zeigen zudem an, daß sich Dovifat unter den Rahmenbedingungen drei verschiedener politischer Systeme mit den Möglichkeiten und Grenzen, meist tagesbezogener, öffentlicher Information befaßt hat. gerne eine soziologische oder historische Hilfswissenschaft machen möchten. Auch die Psychologie und Soziologie der Presse, ihre Stellung zum Staat, zur Wirtschaft, zur Kunst und zu allen erdenklichen Lebensgebieten, zu denen sie kraft ihrer Universalität in Fühlung tritt, bietet Themen von größtem Reiz für jeden ernsten Forscher, und dennoch sind sie erst in zweiter Linie zu bearbeiten. Allen voran geht immer die Erkenntnis der Zeitung selbst." (Emil Dovifat: Wege und Ziele der zeitungswissenschaftlichen Arbeit. Berlin und Leipzig 1929, S. 9 f.). 3 Ebd., S. 10 (Hervorhebung im Original). 4 Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft. Band 1: Allgemeine Zeitungslehre. Berlin, Leipzig 1931, S. 5 f. 5 Emil Dovifat: Die Erweiterung der zeitungskundlichen zur allgemeinpublizistischen Lehre und Forschung. In: Zeitungswissenschaft (Berlin, Leipzig), 9. Jg. (1934), S. 12—20, siehe S. 13 f. (Hervorhebung im Original). 6 Emil Dovifat: Handbuch der Publizistik. Bd. 1. Allgemeine Publizistik. Berlin 1968, S. 3 f. (Hervorhebung im Original). 7 Ebd., S. 4.
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Dies lädt zu einer im wahren Wortsinne historisch-systematischen Betrachtung seines Gesamtwerks ein: Auf der Suche nach Konturen des Dovifatschen Ansatzes will ich erstens die Entwicklung der skizzierten Problemstellung, des Themas, und zweitens der Bearbeitungsweise, der Methode, entfalten. Drittens wird der historische Zusammenhang berücksichtigt. Auf diesem Wege scheint es möglich, die Frage „Was bleibt heute von Dovifats wissenschaftlichem Werk?"8 genauer zu beantworten als die in erster Linie biographisch angelegten personenbezogenen Betrachtungen, die Jubiläen und Festtage bisher üblicherweise hervorbrachten. Denn die Frage nach der Person tritt einerseits hinter die Frage nach dem Wissensstand zu einem konkreten Forschungsproblem und andererseits hinter die Frage nach der Reflexion von Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisgrenzen, nach der historischen Erfahrung unserer Wissenschaft, zurück. Der Rekonstruktionsversuch stützt sich auf das publizierte Gesamtwerk Emil Dovifats9. Seine unveröffentlichte Dissertation10 und auch die zugänglichen Dissertationen, die Dovifat als Erstgutachter betreute, wurden erfaßt11. Entsprechend der Fragestellung kamen im einzelnen 8
Klaus-Ulrich Benedikt: Was bleibt heute von Dovifats wissenschaftlichem Werk? Zum 100. Geburtstag von Emil Dovifat. In: Publizistik (Konstanz), 35. Jg. (1990), S. 482—484. — K[ai] S[truthoff]: Dovifat-Workshop. Wo Licht ist, ist auch Schatten. In: in medias res (Berlin), 4. Jg. (1991), Nr. 7, S. 3. 9 Durchgesehen wurden die „Gedruckten Werke", die Benedikt verzeichnet hat. Vgl. Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist. Mainz 1986, S. HTV—LXV (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte: Reihe B, Forschungen 42); sowie Emil Dovifat. Die publizistische Persönlichkeit. In Memoriam Emil Dovifat zum 100. Geburtstag am 27. Dezember 1990. Hrsgg. von Dorothee von Dadelsen. Mit einem Vorwort von Otto B. Roegele. Berlin, New York 1990, ein Band, der nicht nur Nachdrucke enthält, sondern auch ausgewählte Manuskripte aus Dovifats Nachlaß publiziert. 10 Emil Dovifat: Die öffentliche Meinung in Sachsen um das Jahr 1840. Phil. Diss. Leipzig (1918). (Maschinenschriftlich vervielfältigt). 11 Presse-Dissertationen an deutschen Hochschulen 1885—1938. Auf Grund der Jahresverzeichnisse der deutschen Hochschulschriften und der Verzeichnisse für die Ostmark und das Protektorat Böhmen bearbeitet von Fritz Franzmeyer. Hrsgg. von Walther Heide. Leipzig 1940. Nebst Nachträgen 1—5, 1939—1943. Leipzig 1941— 1944. — Volker Spiess: Verzeichnis deutschsprachiger Hochschulschriften zur Publizistik 1885—1967. Berlin 1969. — Gunnar Roters, Bernd Meyer und Jana Galinowski: Berliner Hochschulschriften Publizistik und Informationswissenschaft. Hrsgg. von den Freunden der Publizistik e.V. Berlin 1993. — Siehe auch Benedikt, Dovifat (wie Anm. 9), S. 200—203.
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die Arbeiten besonders in Betracht, die das publizistische Geschehen von einem Ereignis oder vom Urheber einer Information über mögliche Zwischenträger bis zur potentiellen massenmedialen Verwertung als Nachricht thematisieren, legt man ein zeitliches Ablaufschema zugrunde. Legt man den redaktionellen Arbeitsprozeß zugrunde, dann wurden die Arbeiten besonders berücksichtigt, die das Geschehen in den Phasen der Informationssammlung und/oder Informationsaufnahme als Voraussetzung der Weiterverarbeitung und Verbreitung als Nachricht behandeln. Denn dieses Raster steckt das Forschungsfeld der Informationsverarbeitung durch das Mediensystem ohne theoretische Vorannahmen12 zwar grob, aber zunächst genau genug ab.
I Perspektive und Anschauungen „In der Zeitung nimmt die ganze Vielfältigkeit des öffentlichen Lebens Formen an, die exakter Beobachtung zugänglich sind ... Aber: ist dieses Bild richtig?"13 Auf dem dargestellten Wege gerät, gleichsam als erster Befund, in den Blick, daß Dovifats Frühwerk das hier interessierende Problem nicht nur artikuliert, sondern auch Aspekte seiner Erforschung systematisch erläutert. Die erste zusammenhängende Darstellung der Forschungsperspektive findet sich in der Antrittsvorlesung14, die zweite, verkürzt und präzisiert, in der Einleitung zur „Zeitungswissenschaft"15. Mit dem genannten Beitrag zur Erweiterung der Zeitungs- zur Publizistikwissenschaft, was zuvor als Fernziel avisiert worden war16, brechen diese Überlegungen ab. Sie enthalten im einzelnen die folgenden Gesichtspunkte:
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Öffentlichkeitsarbeit als Determinante journalistischer Informationsleistungen. Thesen zur realistischeren Beschreibung von Medieninhalten. In: Publizistik (Konstanz), 24. Jg. (1979), S. 301 — 316, s. S. 309. 13 Dovifat, Wege und Ziele (wie Anm. 2), S. 8. 14 Ebd., S. 10—15. 15 Dovifat, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 4), S. 5—8 (Die Aufgabe der Zeitungswissenschaft). 16 Dovifat, Erweiterung (wie Anm. 5), S. 7 f.
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„Gegenstand der Zeitungswissenschaft ist die Zeitung, insbesondere die ihr innewohnende Wechselwirkung geistiger, wirtschaftlicher und technischer Kräfte."17 „Die Ergründung dieser Wechselwirkung gibt der Zeitungswissenschaft die Forschungsrichtung und macht sie zu einem Arbeitsgebiet völlig selbständiger Art."18 „Die Zeitungswissenschaft kann keine dieser Kräfte allein betrachten ... Sie hat immer und überall die Dreiheit dieser Kräfte zu untersuchen, die im Zeitungsblatt Tag für Tag zur Einheit werden."19 „Die Universalität ihrer Stoffwahl [gemeint ist die der Zeitung, B. B.] ... interessiert zunächst die Zeitungswissenschaft nicht."20 „Die Beziehungen der Zeitung zur Umwelt ... gehören in das Arbeitsgebiet der Zeitungswissenschaft nur dann, wenn aus dieser Umwelt wesensverändernde Einflüsse auf die Zeitung wirksam werden."21 DieMethode „ist... keineswegs nur geisteswissenschaftlich bestimmt."22 17
Dovifat, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 4), S. 5 (Hervorhebung durch die Verfasserin, B. B.). — Vgl. ferner Anm. 2 sowie „Die Zeitungswissenschaft sieht in der Zeitung eine Einheit geistiger, wirtschaftlicher und technischer Kräfte und erkennt eine ihrer Hauptaufgaben darin, die Wechselwirkung dieser Kräfte zu untersuchen" (Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft und Werbelehre. In: Zeitungs-Verlag 30 (1929), S. 80 f., s. S. 81 [= Sonderheft Werbung]). — Vielfache Wiederholungen auch in der Formulierung: Geistiger, wirtschaftlicher, technischer „Faktor"; geistige Zielsetzung, wirtschaftliche Erwerbsidee, nachrichtenfördernde Verkehrsaufgabe; geistige Grundlage, wirtschaftliche Grundlage, technische Voraussetzung etc. 18 Explizit: Emil Dovifat: Lehrmethoden der Zeitungswissenschaft. In: Beiträge zur Zeitungsforschung und Zeitungskunde. Festgabe für Wilhelm Waldkirch zum 60. Geburtstage. Heidelberg 1930, S. 29—33, s.S. 30. Implizit: Dovifat, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 4), S. 6. (Hervorhebung durch die Verfasserin, B. B.). 19 Ebd., S. 5 (Hervorhebung durch die Verfasserin, B. B.). — Dovifat, Lehrmethoden (wie Anm. 18), S. 30. — Dovifat, Wege und Ziele (wie Anm. 2), S. 8. 20 Dovifat, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 4), S. 5 (Hervorhebung durch die Verfasserin, B. B.). „In der Zeitung sammelt sich das .öffentliche Leben' gleichsam wie in einem Brennpunkt. Exakter Beobachtung kann es hier zugänglich werden, sobald die Zeitung selbst in ihrer Eigengesetzlichkeit voll erkannt ist. Erst dann kann sie auch in alle anderen wissenschaftlichen Forschungen als konkreter Faktor eingesetzt werden" (Dovifat, Wege und Ziele [wie Anm. 2], S. 10). 21 Dovifat, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 4), S. 5. Dieser Gesichtspunkt fehlt in der Antrittsvorlesung. 22 Siehe auch: „Nach der Methode der zeitungswissenschaftlichen Arbeit sollte füglich erst am Ende der Darstellung gefragt werden", ebd. Frühere Aussagen zur Methode lauten: „Der amerikanische Journalismus bietet in seiner kurzen, ungehemmten
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Nach den Regeln der Wissenschaft, in „voraussetzungsloser Unabhängigkeit"23 auf der Suche nach „objektiven Maßstäben"24, wird so erstens Transparenz der thematisierten Vorgänge als Erkenntnisgewinn angestrebt. Sie dient anwendungsbezogen, zweitens, dem Fortschritt der anderen Wissenschaften, dem Fortschritt des Rechts und der Berufspraxis im engeren Sinne. Die Befunde ermöglichen darüber hinaus eine Berufsethik und moralisches Handeln: — Die Zeitungswissenschaft kann „brauchbare Ergebnisse zur Verfügung stellen, nach denen nicht nur die anderen Disziplinen ihre Beziehungen zur Zeitung positiv untersuchen, sondern ebenso alle Lebensgebiete ihre Stellung zur Zeitung einrichten und entwickeln können."25
und lebensprühenden Entwicklung die beste Möglichkeit, die Methode der Zeitungskunde zu erproben. Diese in sich durchaus selbständige Methode betrachtet die Zeitung als einen geistig-wirtschaftlichen Organismus, gebunden an den Tag, an öffentliche Pflichten und geschäftliche Notwendigkeiten." (Emil Dovifat: Der amerikanische Journalismus. Mit einer Darstellung der journalistischen Berufsbildung. Berlin und Leipzig 1927, S. 9; zitiert nach: Emil Dovifat: Der amerikanische Journalismus. Hrsgg. von Stephan Ruß-Mohl. Berlin 1990 [= Abhandlungen und Materialien zur Publizistik 13]). — „Diese Methode wird nicht rein geisteswissenschaftlicher Natur sein. Dazu sind die volks- und privatwirtschaftlichen und selbst die technischnaturwissenschaftlichen Kräfte im Organismus der Zeitung viel zu stark. Fest steht aber, daß die Methode der Zeitungswissenschaft sehr exakt, sehr gründlich und sachgebunden sein wird. In keiner Weise hat sie ihr Wirken irgendwie auf äußere Erfolge anzulegen, also etwa mit rhetorischen oder feuilletonistischen Reizen Scheinbarkeiten vorzuzaubern, hinter denen jeder gründliche und wissenschaftliche Kritiker in leere Luft greift. Der lebensvolle Organismus der Zeitung selbst und ihr Charakter als aktuelle Gegenwartserscheinung, der durch empirische Beobachtung nahezukommen ist, wird andererseits verhüten, daß die Methode auf allzu abseitige Wege gerät." (Dovifat, Wege und Ziele [wie Anm. 2], S. 11). 23 Ebd., S. 11. 24 Ebd., S. 14 f. 25 Dovifat, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 4), S. 6. „Sie [die Zeitungswissenschaft, B. B.] hat die Aufgabe, das Wissen von der Zeitung all denen zu vermitteln, die irgendwie mit der Zeitung im öffentlichen Leben zusammen wirken. Ihre Zahl wächst von Tag zu Tag und der Idealzustand wäre dann erreicht, wenn jeder Leser zu ihnen rechnete." Ebd., S. 7 f. — Vgl. auch Dovifat, Wege und Ziele (wie Anm. 3), S. 11 ff.
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— „Die Zeitungswissenschaft [muß] für die Neugestaltung des Presserechtes die festen und tragfähigen Begriffsgrundlagen schaffen."26 — Die Zeitungswissenschaft schafft die Voraussetzungen für den Praktiker, „die Größe und Gefährlichkeit des Instruments" zu erkennen, „das ihm später anvertraut sein wird. Hier [sie!] beginnt dann die ethische Auswirkung ernsten zeitungswissenschaftlichen Strebens"; denn die Wissenschaft dient so „auch der Vervollkommnung und Veredelung der Praxis."27 In diesen Rahmen fügen sich Dovifats Annäherungen an die empirische Wirklichkeit ein. Sie bedienen sich nicht nur des historischen und alltäglichen Beispiels als Beleg und Illustration „theoretischer" Lehrbuchbetrachtungen, sondern beispielsweise auch der Glosse, der Randnotiz, der Medienkritik, um das thematisierte Wechselspiel, dies im Hinblick auf das Produkt, sinnfällig zu machen. Eine „Plauderei" zum unabänderlichen Gegensatz von Geist und Technik, welchen einerseits der Redakteur und andererseits der Metteur personifizieren, und zu seinen Folgen veranschaulicht Dovifats Argumentationsweise: „Der Gegensatz Redakteur — Metteur [ist] eine unabänderliche Notwendigkeit ... Wir machen nicht einmal den Versuch, diesen Gegensatz wegzuleugnen oder etwa beiden Teilen gut zuzureden, sie möchten Friede miteinander schließen. Dies letztere beileibe gar nicht, denn dieser Friedensschluß ginge auf Kosten der Zeitung ... Im Redakteur und Metteur treffen die beiden Grundfaktoren aufeinander, die sich im Zeitungswesen vermählen: Geist und Technik. Daraus erklärt sich der Gegensatz.... Der Metteur soll wissen, daß der Redakteur in der Vorbereitung des Manuskripts so aktuell und gegenwartsfrisch wie möglich sein muß, daß böse und gänzlich unerwartete Zufälligkeiten ihm oft schwer zu schaffen machen und daß es kaum einen geistigen Arbeiter gibt, der so unter Druck arbeitet 26
„Diese Begriffsgrundlagen festzustellen ist ihre Aufgabe, nicht die Lösung der mit der Neugestaltung selbst zusammenhängenden rechtswissenschaftlichen Fragen." Dovifat, Wege und Ziele (wie Anm. 2), S. 13. 27 Ebd., S. 8 (Hervorhebung durch die Verfasserin, B. B.). — „Gewiß ist es nicht Aufgabe der Zeitungswissenschaft, ethische Grundsätze herauszuarbeiten oder berufliche Verpflichtungen aufzustellen, aber diese sehr notwendige Nebenwirkung wird sich aus jedem ernsthaften Studium gerade der modernen journalistischen Probleme ohne weiteres ergeben. Die Praxis wird dann davon den Nutzen haben." Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft und journalistische Berufsbildung. In: Zeitungswissenschaft, 3. Jg. (1928), Nr. 5/6, S. 75.
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und trotzdem der Öffentlichkeit gegenüber mit soviel Verantwortung belastet ist. Der Redakteur aber soll sich vor allem merken, daß der Metteur kein Zauberkünstler ist, daß er nicht hexen kann, daß die Umwandlung des redaktionellen Produktes in das geistig-technische Endprodukt Zeitung ein Ineinandergreifen komplizierter technischer Vorgänge verlangt, die nur nach ganz bestimmten Gesetzen sich abwickeln und auch im tollsten Strudel aktuellen Geschehens ihre Zeit und ihre Ruhe brauchen. Es ist kein Zweifel, daß Redakteur und Metteur sich auch bei voller Erfassung ihrer gegenseitigen Lebensbedingungen weiter bekämpfen werden. ... Er [der Kampf, B. B.] geht um die Höchstleistung auf beiden Seiten!"28 Das vorherrschende Untersuchungsobjekt — und, neben dem Einfluß Karl Büchers, möglicherweise sogar Stimulans dieser Betrachtungsweise29 — stellt aber das amerikanische Pressesystem dar. Dovifat beobachtet dort: — Auswirkungen des Climax-First-Prinzips auf die Nachricht (Wechselwirkung der Faktoren Technik und Geist)30, 28
Emil Dovifat: Redakteur und Metteur. Ursache und Folge eines gottgewollten Gegensatzes. Eine Plauderei. In: Deutsche Presse, 18. Jg. (1928), S. 290 f. 29 Nach einem längeren Aufenthalt in den USA, März 1925 bis Mai 1926, veröffentlichte Emil Dovifat im Organ des Reichsverbandes der deutschen Presse e. V. eine dreiteilige Serie über das Nachrichtenwesen in Amerika. Vgl. Emil Dovifat: Das Nachrichtenwesen in Amerika. I. Die Bedeutung der Nachricht. In: Deutsche Presse, 16. Jg. (1926), Nr. 24, S. l—4; Emil Dovifat: Das amerikanische Nachrichtenwesen. . Die amtliche Informationsarbeit. — Die Nachrichtenagenturen. In: Deutsche Presse, 16. Jg. (1926), Nr. 26, S. l—4; Emil Dovifat: Das amerikanische Nachrichtenwesen. . Die redaktionelle Verarbeitung der Nachricht. In: Deutsche Presse, 16. Jg. (1926), Nr. 27, S. l—4. Sie bildete den Grundstock der Monographie „Der amerikanische Journalismus", die 1927 erschien (wie Anm. 22). Dieser Band ist Karl Bücher gewidmet. Zum Einfluß Karl Büchers vgl. Otto B. Roegele: Vorwort. In: Dovifat, Persönlichkeit (wie Anm. 9), S. 7—17, s. S. 8. 30 Die formale Gestaltung der Nachricht nach den Regeln des Climax-First-Prinzips hat Dovifat in Amerika offensichtlich erst kennengelernt: „Jede Nachricht zerfällt in drei Teile. Der erste Absatz soll alle wesentlichen Tatsachen in kürzester Form enthalten. Die späteren Absätze bringen die Einzelheiten, die weniger wichtigen immer am Schluß, so daß nicht nur der eilige Leser schon aus der Lektüre der ersten Zeilen das nötigste erfährt, sondern auch der Umbruchredakteur am Ende der Nachricht beliebig streichen kann. Innerhalb der Absätze selbst wiederum kann die Pointe am Ende oder am Anfang stehen. Jede dieser Formen ist, wie alles in Amerika standardisiert und wird sogar graphisch dargestellt ... Über die Anwendung dieser verschiedenen
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— Auswirkungen der industrialisierten arbeitsteiligen Produktion auf das Nachrichtenprodukt (Wechselwirkung der Faktoren Geist, Wirtschaft, Technik)31, — Auswirkungen des auf Wettbewerb bauenden Wirtschaftssystems auf Funktion und Leistung der Nachricht im einzelnen und auf die öffentliche Informationsleistung insgesamt (Wechselwirkung der Faktoren Geist und Wirtschaft, implizit der Technik)32. Formen sind unter Benutzung psychologischer und stilistischer Grundsätze Bücher geschrieben worden. Das ganze sei hier nur kurz erwähnt, um einen Begriff zu vermitteln, wie sehr der amerikanische Journalist jeden Arbeitsvorgang seines Handwerkes erforscht, festgelegt und typisiert hat." Dovifat, Das Nachrichtenwesen in Amerika I (wie Anm. 29), S. 4. 31 Jeder Arbeiter in diesen Nachrichtenabteilungen der amerikanischen Tagespresse ist eingespannt gleich einem Maschinenteil in den Wettbewerb der Nachricht um den Geschäftserfolg. Sehr treffend bezeichnet man die Nachrichtenabteilung großer Blätter als ,The News-Machine'. Im Räderwerk dieser riesigen Maschine ist der Einzelne, mag er nun Reporter oder Copy-reader sein, oder sonst irgend einen der einzelnen mannigfaltigen Arbeitsvorgänge erfüllen, ohne Selbständigkeit und ohne publizistische Verantwortung. Der eine besitzt die Findigkeit, die Nachricht aufzuspüren, der andere die Fixigkeit sie zu übermitteln, der dritte prägt die äußere Form, der vierte den inneren Ausbau, der fünfte die typographische Aufmachung, und jeder bewegt sich nur in seinem engen Kreise. Der einzelne Arbeitsvorgang, obgleich er geistiger Natur ist, wird so dennoch mechanisiert und schließlich tritt die Folge allzuweit getriebener Arbeitsteilung ein: der Überblick über das Gesamtwerk geht verloren. Damit aber auch die journalistische Selbständigkeit und das Gefühl für eigene Unabhängigkeit und Verantwortung. Der ganze Apparat gehorcht unbedingt und kritiklos den Befehlen eines einzelnen und ist nach allen Seiten manövrierfähig. In Deutschland sind die Redakteure auf ein bestimmtes publizistisches Programm verpflichtet und ihr Zusammenarbeiten mit dem Verleger regelt sich durch die vertraglich festgestellte Pflicht zur Wahrung öffentlicher Interessen durch die Zeitung. Das alles fällt in Amerika völlig fort. Redaktions- und Nachrichtenabteilung arbeiten auf Anweisung von oben genau so, wie die gewaltigen Rotationsmaschinen durch den Druck auf einen Knopf ihr donnerndes Werk beginnen. Für Unternehmungen, denen die Aufgabe gesetzt ist, nach freier Überzeugung öffentlichen Interessen zu dienen, ja überhaupt für geistige Unternehmungen ist das eine quälende, eine unwürdige Tatsache." Emil Dovifat: Das amerikanische Nachrichtenwesen (wie Anm. 29), S. 3. — Die Nachrichtenmaschine ist im übrigen das Phänomen, das Dovifat in seiner Monographie zum amerikanischen Journalismus im wesentlichen beschäftigt. Gleichlautende bzw. sinngemäße Ausführungen beanspruchen etwa ein Viertel des Bandes. 32 „Die Nachricht hat ... in erster Linie den Leser zu gewinnen. Sie hat ihren Käufer anzulocken und ihm zuzusagen. Danach wird sie zielbewußt gestaltet. Nicht allein, daß man das rein gegenständlich Packende der neuen Tatsache in den Vordergrund
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schiebt, was ganz selbstverständlich wäre, man arbeitet vor allem das menschlich Fesselnde, das persönlich Ergreifende, Spannende oder Anregende heraus und tut das selbst auf Kosten der sachlichen Vollständigkeit. Nicht nur in der lokalen Berichterstattung ..., sondern auch in der hohen Politik sucht man den Leser irgendwie an den Instinkten zu fassen: an der Neugier, der Sentimentalität, der Prüderie, der Selbstgerechtigkeit. Die Lektüre soll den Leser leicht und angenehm sein Urteil finden lassen ... .Hinein mit dem Leser in die Nachricht' sagte mir ein alter journalistischer Routinier und strich aus einem langen Kabelbericht über den englischen Generalstreik knappe Sätze, die von der eigentlichen inneren Begründung des Streiks sprachen, um den lokomotivführenden Lord und die drohende Säuglingsnot an die erste Stelle zu bringen. Ein Riesendampfer, der mit einer recht beträchtlichen Fracht europäischer Berühmtheiten jüngst in New York eintraf, fiel herab in untere Spalten und Winkel der Morgenpresse, weil an Bord eine junge deutsche Auswanderin just in dem Augenblick gestorben war, als die Anker sanken. Diese tragische Geschichte des ,toten deutschen Mädchens' gab den Blättern eine dicke Kopfzeile und lange Berichte, die mit dem Namen und der Herkunft der unglücklichen Deutschen begannen und schließlich den Nervenzusammenbruch ausführlich schilderten, den die Schwester der Toten erlitt, als sie am Pier die Todesnachricht erfuhr. Zu welchen weiteren Taktund Geschmacklosigkeiten dieses System führt, braucht hier nicht näher dargelegt zu werden. Sein schwerster sachlicher Fehler ist eine recht oft zu beobachtende Vernachlässigung der eigentlich treibenden Ursachen und Kräfte neuer Ereignisse. Um beim Beispiel des Streiks zu bleiben. Menschliche und persönliche Nebensächlichkeiten führen den Leser zu einem billigen Urteil. Die eigentlichen, nicht immer leichten und angenehmen tieferen Ursachen des Streiks und ihre sozialen und wirtschaftlichen Quellen sind weniger berücksichtigt. Es ist das alles umgekehrt wie in Deutschland, wo mit der Nachricht viel zu sehr Politik gemacht wird und nicht nur der Meldung oft die politisierende Glosse beigegeben ist, sondern die politische Einstellung auch häufig Klarheit und Wahrheit des Tatsachenberichtes trübt. Derartiges wiederum ist in Amerika verpönt. Nicht aus Tugend, sondern aus Diensteifer in der Leserwerbung. Dem Leser soll eine von jeder politischen Beeinflussung freie und unbedingt zuverlässige Nachricht geboten werden. Große Blätter haben deshalb die Nachrichtenabteilung News Department von der politischen Leitung (Editorial Department — Department of opinion) völlig getrennt und beide Abteilungen einander gleichgeordnet ... Jeder Nachrichtenmanager rühmt als erstes die völlige politische Unparteilichkeit seines Dienstes. Er versteigt sich zu dem plakathaft groben Grundsatz: .Zeitungsnachricht und Wahrheit sind zwei Worte für den gleichen Begriff. Jede Parteimeinung, jede Stellungnahme ist auf die redaktionelle Seite (Editorial Page) gebannt. In dieser so geforderten, sachlichen und politischen Unabhängigkeit seines Nachrichtendienstes, in der Findigkeit und Gewandtheit seiner Reporter, die jedes die Öffentlichkeit nur irgendwie interessierende Ereignis sofort in ganzer Breite erkunden und darstellen, sieht der amerikanische Zeitungsmann unbedingten Schutz gegen Geheimniskrämerei jeder Art und eine Voraussetzung der Freiheit und Selbstbestimmung des Landes. Die Zeitung ist ihm die ständige und unausgesetzte Kontrolle der
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Im Vergleich mit Deutschland wird so eine andere Möglichkeit systematisch und auch historisch herausgearbeitet. Denn sie gilt als fortschrittliche Phase der Entwicklung. In bezug auf Deutschland wird sie im übrigen gleichzeitig abgelehnt und befürchtet33. Öffentlichkeit." Dovifat, Das Nachrichtenwesen in Amerika I (wie Anm. 29), S. 2. (Hevorhebungen des Verfassers). 33 Konkurrenzkampf „hat das Werden der amerikanischen Presse ebenso stark bestimmt, wie der Kampf der Meinungen und die Parteizersplitterung den Typ der deutschen Presse geprägt hat. Die parteipolitische Presse in unserem Sinne ist in Amerika schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts überwunden. Das geschah in dem Augenblick, als man erkannte, daß es ein sehr gutes Geschäft sein kann, eine Zeitung zu machen, und daß es zum Gelingen des Geschäftes zunächst einer Lesermasse bedarf. Diese Lesermasse wurde ausschließlich durch die Nachricht gewonnen ... Das entsprechende Anzeigengeschäft folgte nach und brachte den Weizen erst zum Blühen ... So ist in Amerika die Nachricht viel weitgehender als bei uns Quelle des geschäftlichen Erfolgs. Ihre formale und inhaltliche Durcharbeitung steht daher drüben weit mehr im Mittelpunkte der Redaktionsarbeit als bei uns." (Emil Dovifat: Das Nachrichtenwesen in Amerika I [wie Anm. 29], S. l [Hervorhebungen des Verfassers]). — „Die Lösung der Frage, ob unser Pressewesen der sogenannten .amerikanischen Entwicklung' entgeht oder nicht, wird keineswegs allein davon abhängen, ob sich bei uns die erforderlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen, z. B. im Massenabsatz und dem amerikanischen Reklamebetrieb herausbilden werden, oder ob sie ausbleiben. Eine gewisse weitere Entwicklung und Hervorhebung der Nachricht wird sich, wie das Wachsen des Straßenverkaufs unserer Zeitungen zeigt, auch bei uns nicht vermeiden lassen. Die typische amerikanische Entwicklung des mechanisierten Nachrichtengewerbes und der entsprechend gefährlichen Auswirkungen auf das publizistische Ziel wird jedenfalls nur dann aufzuhalten sein, wenn alle, die dazu berufen sind, die Geistigkeit der deutschen Presse erneut in den Vordergrund stellen. Geistigkeit oder Geschäft? Um diese Frage geht der zeitungspolitische Streit der nächsten Zukunft." (Emil Dovifat: Das amerikanische Nachrichtenwesen [wie Anm. 29], S. 3 f. [Hervorhebungen des Verfassers]). — Die Verquickung der öffentlichen Aufgabe mit privaten Interessen sieht Dovifat in Deutschland einerseits in der Generalanzeigerpresse und ihren Nachfolgern (vgl. u.a. Emil Dovifat: Die Anfänge der Generalanzeigerpresse. In: Archiv für Buchgewerbe und Gebrauchsgraphik, 65. Jg. [1928], Heft 4 [Sonderheft zur Pressa], S. 163—184) und andererseits in der Vermischung von redaktionellem Text und Anzeigen: „Der Werbeinhalt ist ... im Journalismus und in der Reklame immer und überall gänzlich verschieden, und es ist das letzte und höchste Interesse der beiden Lebensgebiete, dies deutlich und inständig und unausgesetzt hervorzukehren. Ob der Journalismus im Meinungskampfe steht und Nachrichten sammelt und vermittelt, überall sind allgemeine, sind öffentliche Interessen Ausgangspunkt und Gegenstand seiner Arbeit. Wo aber die Reklame auftritt, ist zunächst immer ein privates Interesse Ausgangspunkt der Werbehandlung. Ihr allgemeiner, d. h. in diesem Falle ihr volkswirtschaftlicher Nutzen ist erst vom Werte des dargebotenen Gegenstandes und von
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der Zweckmäßigkeit und Treffsicherheit der Werbeform abhängig. Ihr privatwirtschaftliches Ziel wird auch von anderen im Wettbewerb umworben ... In diesem natürlichen und notwendigen Wettkampf gibt es nun einen gänzlich regelwidrigen Fechterkniff, der illoyal und gefährlich ist. Er schädigt mit unsauberen Mitteln den ehrlich Kämpfenden und ruiniert und verfälscht dazu das ganze Werbesystem. Er besteht darin, daß die Werbung, die privaten Zielen dient, ihren Reklamecharakter verkappt und journalistische Formen annimmt. Das heißt: statt des vorhandenen privatwirtschaftlichen Werbeziels wird ein Werbeziel allgemeinen öffentlichen Interesses vorgespiegelt. Die Anzeige strebt in den redaktionellen Teil, möchte im journalistischen Kleid erscheinen, an dem der Leser sonst erkennt, daß es sich um öffentliche Interessen handelt. Die Anzeige möchte in der Werbung für privatwirtschaftliche Ziele öffentlichen Vorspann haben, will also genau dasselbe, was sonst im kaufmännischen Leben scharf verpönt ist: die Subvention eines im Wettbewerb stehenden Privatbetriebes mit öffentlichen Mitteln. Nein, der Vergleich hinkt nicht! Es ist falsch zu sagen, die Zeitung empfange aus dem Inseratenteil erst eigentlich die wirtschaftlichen Lebenskräfte für den Ausbau der redaktionellen Dienste und habe daher diesem Anzeigenteil fügbar zu sein. Auch der Staat empfängt aus der Wirtschaft die Mittel, seinen Behördenbetrieb zu finanzieren, ohne daß damit schon eine Bevorzugung einzelner dekretiert werden könnte. Gewiß sind redaktioneller Teil und Anzeigenteil seit dem Aufkommen der modernen Tageszeitung untrennbar miteinander verknüpft. Sie sind zusammen ein organisches Ganzes, das leugnet niemand, aber sie sind nur lebensfähig, weil beide Teile streng getrennt gehalten werden und nur funktionell ineinander greifen. Miteinander vermengt, geht das Ergebnis, geht die Zeitung zugrunde." (Emil Dovifat: Publizistik, Journalistik u[nd] Reklame. In: Festschrift zur Jahreshauptversammlung Berlin 1929 Deutscher Reklame Verband e. V. Hrsgg. vom Deutschen Reklameverband e. V. Berlin 1929, S. 11—16, s. S. 13 f. [Hervorhebungen des Verfassers]). — „Die Zeitungswissenschaft geht in ihrer Betrachtung keineswegs allein von der geistigen Arbeit der Zeitung aus. Sie sieht in der Zeitung eine Einheit geistiger, wirtschaftlicher und technischer Kräfte und erkennt eine ihrer Hauptaufgaben darin, die Wechselwirkung dieser Kräfte zu untersuchen ... Zeitungswissenschaftliche Behandlung heischen ohne Zweifel auch jene jüngst von Verlegern und Redakteuren mit gleicher Schärfe zurückgewiesenen Versuche, auf dem Wege über das Anzeigengeschäft auch die redaktionellen Spalten dem Reklameinteresse dienstbar zu machen. Versuche dieser Art sind übrigens auch werbetechnisch gefährlich, weil sie in illoyaler Weise öffentlichen Vorspann für private Interessen suchen und, radikal fortgesetzt, schließlich die Zeitung selbst, also den besten Werbeträger vernichten würden. Es ist zeitungswissenschaftlich längst nachgewiesen, daß für den Anzeigenkunden der Anzeigenraum desjenigen Blattes am wertvollsten ist, das durch seine publizistische Freiheit und Unabhängigkeit seinen Lesern unbedingt vertrauenswert ist. Der redaktionelle Teil der Zeitung dient öffentlichen, d. h. allgemeinen Interessen. Im Anzeigenteil stehen private Interessen nebeneinander und oft untereinander im Wettbewerb. Gewinnt einer von ihnen die Hilfe des redaktionellen Teils, d. h. gelingt es ihm, dort Eingang zu finden und damit trotz privaten Charakters öffentliches
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Umwelteinflüsse, Auswirkungen von Außeninteressen auf das Produkt, behandeln die Amerikastudien ambivalent und am Rande. Dovifat lobt einerseits die Informationspolitik der amerikanischen Regierung: „Die amerikanischen Behörden haben längst die bürokratischen Hemmungen überwunden, die unsere deutschen Ämter im Verkehr mit der Presse oft an erfolgreicher Arbeit hindern. Der täglich ausgegebene Nachrichtenstoff ist erstaunlich."34 Und er kritisiert andererseits „die große und glänzend bezahlte Kunst" der sogenannten „Press agents" oder „News agents", „freien Raum im redaktionellen Teil zu erhalten und ... einer oft ganz privaten Angelegenheit den Stempel des öffentlichen Interesses aufzudrücken."35 Die Stellung der Presseagenten, meist Interesse vorzuspiegeln, so ist das nicht nur illoyal gegenüber dem übrigen Wettbewerb, sondern auch irreführend für die Leser und schließlich — allgemein geübt — vernichtend für die Zeitung. Das ist auch nicht anders, wenn potente Anzeigenkunden mit Boykottandrohung glauben, in den redaktionellen Teil hineinregieren und dort bestimmte Meinungen vortragen oder unterbinden zu können. Sie mögen Zeitungen meiden, deren redaktionelle Richtung ihnen unsympathisch ist, aber sie dürfen sich nicht kraft ihrer Anzeigenaufträge zum Gesinnungsdiktator aufwerfen. Von dieser schärfsten Form der Beeinflussung leiten sich in vielfältigen Nuancen die anderen milderen, aber nicht weniger gefährlichen ab. Darunter nicht zuletzt die .Beleuchtungsproben', die Einladung von Zeitungsleuten zu Festfeiern und Empfängen gelegentlich rein privatwirtschaftlicher Gründungen. Bei bunter Vermengung der Meinungswerbung des redaktionellen Teils mit der Privatwerbung des Anzeigenteils geht — das kann nicht oft genug wiederholt werden — schließlich beider Wirkung verloren und die Zeitung findet den in diesem Falle verdienten Untergang." (Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft und Werbelehre. In: Zeitungs-Verlag, 30. Jg. [1929], S. 80 f., s. S. 81 [Hervorhebungen des Verfassers]). 34 Dovifat, Das amerikanische Nachrichtenwesen (wie Anm. 29), S. 1. 35 Dovifat, Der amerikanische Journalismus (wie Anm. 22), S. 207. — „Schon Washington hatte im Unabhängigkeitskrieg seinen Preßagenten. Das ganze Zeitalter der parteigebundenen Presse hat ,Press agents' zu politischen Zwecken ständig verwandt ... Doch die Zeit des Preßagenten wirtschaftlicher Unternehmungen kam erst, als man auch hier begriffen hatte, wie wichtig es für das Unternehmen war, günstig im öffentlichen Urteil zu stehen. Zuerst haben das die Eisenbahnen eingesehen. Sie haben die Einrichtung des Preßagenten einem anderen Unternehmen nachgebildet: dem Zirkus. Der Zirkus hat die Taktik ,to get free newspaper space* zum ersten Male in großem Maßstab angewandt. Durch seine Festzüge durch die Stadt und seine Straßenausstellungen unter Leitung seines Preßagenten hatte der Zirkus Barnum solches Aufsehen erregt, daß darüber berichtet werden mußte. Das war die beste Reklame. Schauspielerinnen, Sportgrößen, Filmsterne kannten längst diese Kunst. Sie stellten sich in den Mittelpunkt eines Skandals, eines Raubes, einer Geistergeschichte, einer Ehescheidung." (Ebd., S. 207 f.). — Das Problem der „Press agents" wird nicht in der
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gelernte Journalisten, die vorher — wie ein Richter — der Öffentlichkeit und danach — wie ein Rechtsanwalt — einer privaten Sache dienten, sei in Amerika „kaum mehr" umstritten: Ihre Beiträge gälten als vollständig, zuverlässig und somit unentbehrlich, sie könnten der auflagenschwachen Presse mehr bieten, als diese durch kleine Reporterstäbe selbst ermittelten, sie arbeiteten aus einem Wust von Nebensächlichkeiten den Kern klar und verständlich heraus, sie vereinfachten schwierige und komplizierte Zusammenhänge, sie seien „journalistisch oft ausgezeichnet und in jedem Falle kostenfrei."36 Dovifat verweist dagegen auf „die Tatsache", daß sich diese Tätigkeiten „wie ein Sieb zwischen die Zeitung und die Nachrichtenquelle" legten, ein Bild, das er in der „Zeitungswissenschaft", 1931, noch einmal aufnimmt37. Der Presseagent „hält den Reporter in seiner freien Arbeit auf. Er gibt ihm die voll vorbereitete Nachricht, d. h. nur den Teil der Nachricht, an deren Veröffentlichung ihm und seinen Beauftragten gelegen ist ... Die [in Amerika, B. B.] vielgerühmte .öffentliche Kontrolle' macht er unmöglich. Er läßt den Reporter nicht mehr zur Tatsache selbst vordringen."38 Dovifat belegt diese Tätigkeiten im vorliegenden Zusammenhang mit dem Wort Propaganda und das Ergebnis dieser Tätigkeiten mit dem Wort Meinungsbeeinflussung·, „Nachrichtenwerte in die Welt zu setzen", die Zeitungen nicht ignorieren könnten, gilt als (erfolgreiche) Technik39. Wer nun versucht, Dovifats Verständnis von „Nachrichtenwerten" detaillierter zu entfalten, kommt nicht umhin, sich mit seiner Theorie der Nachricht auseinanderzusetzen. Sie wird in der „Einführung in die Zeitungswissenschaft" zum ersten Mal begründet. Demnach stellen „Nachrichten ... Mitteilungen über neue im Existenzkampf des Einzel-
Serie der „Deutschen Presse", wohl aber in der Monographie zum amerikanischen Journalismus behandelt, dies am Ende des Bandes, S. 207—212. 36 Dovifat, Der amerikanische Journalismus (wie Anm. 22), S. 208—210. 37 Ebd., S. 209. — Siehe auch Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft. Bd. . Praktische Zeitungslehre. Berlin, Leipzig 1931, S. 42. 38 Dovifat, Der amerikanische Journalismus (wie Anm. 22), S. 209. 39 „Auf dem Wege über die Nachricht wird der Preßagent ein Meister der Meinungsbeeinflussung ... Der rechte Mann erzwingt die Aufnahme seiner Propaganda. Er zwingt die Zeitung in seine Dienste, indem er Nachrichtenwerte in die Welt setzt, um die die Zeitung nicht herumkann. Er faßt sie an ihrer größten Schwäche: alles nehmen zu müssen, was der Lust und den Lüsten des Lesers dient. Und prompt erreicht er seinen Zweck." Ebd., S. 209 f.
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nen und der Gesellschaft auftauchende Tatsachen"40 dar. Als Wesensmerkmale der Nachricht gelten — erstens das Interesse des Empfangenden („Für den Menschen, der stets sich selbst in den Mittelpunkt der Dinge stellt, gewinnt eine Mitteilung immer dann Nachrichtencharakter, wenn die Beziehung zu seinen Lebensinteressen irgendwie herstellbar ist")41, und - zweitens die Neuigkeit, d. h. die Schnelligkeit der Übermittlung, mit Dovifat „immer die Voraussetzung für den Wert der Nachricht"42. Übrigens auch eine Determinante der Kosten43. 40
Dovifat, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 4), S. 17. Ebd., S. 17 u. 18. — Dovifat argumentiert an Beispielen, statt Kategorien zu bilden: „Die Vielfältigkeit des öffentlichen Lebens hat heute gewiß diese Wesensvoraussetzung der Nachricht stark gemildert, doch bleibt ihre Natur immer irgendwie mit diesem Existenzkampf verbunden und darin liegt ihre Bedeutung. Im Eingeborenendorfe gibt Trommellärm das Nachrichtenzeichen für den Einbruch wilder Tiere, das Herannahen des Feindes u. a. m. Auch die kleinste politische Nachricht hängt heute noch irgendwie mit dem Existenzkampf des Einzelnen oder der Gesellschaft zusammen und erhält dadurch ihren Wert. Gelegentlich gewinnt auch heute noch diese Bindung der Nachricht eine monumentale Anschaulichkeit. Man denke an die Nachrichten des 31. Juli und 1. August 1914 oder die in der Inflationskrise des Jahres 1923 oft über Hunger und Durst entscheidende Nachricht: ,Dollarkurs'. Das sind Gipfelpunkte. Aber von ihnen abwärts bis hinab in das gewöhnlichste Alltagsleben bleibt jede Nachricht irgendwie mit den lebenswichtigen Interessen bestimmter Gruppen der Gesamtheit verquickt. Das gilt ebenso für den Börsenkurs wie für die Wetternachricht, für die Parlamentsberichte wie für die Meldung vom Eisenbahnunfall, die Sturmmeldung und die Seuchenabwehr. Auch Mitteilung von gesellschaftlichen Ereignissen, von Urteilen und Verurteilungen, Beförderungen, Bankrotten, Erfolgen und Mißerfolgen der lieben Mitmenschen: für den Menschen, der stets sich selbst in den Mittelpunkt der Dinge stellt, gewinnt eine Mitteilung immer dann Nachrichtencharakter, wenn die Beziehung zu seinen Lebensinteressen irgendwie herstellbar ist. In dieser Eigenart der Nachricht wurzelt auch der Leseanreiz jeder Sensationsberichterstattung, die immer irgendwie an Instinkte appelliert. Hier ist die Spekulation auf das Interesse des .eigenen Ich' oft kaum verschleiert. So gibt die Nachricht ganz allgemein dem Menschen Kunde von der Fortentwicklung der Dinge und Menschen, die um ihn sind, daß er sich vorsieht, sich einrichtet oder abfindet. Daß er sich .darnach richtet*. Durch das persönliche Interesse also, das sie im Empfänger erweckt, erhält die Nachricht ihren Wert, wird sie auch ein Gegenstand, der als Ware gesammelt, befördert und gewerbsmäßig oder zu Werbezwecken abgesetzt und verbreitet wird." (Ebd. S. 18 f.). 42 Ebd., S. 17 u. 20. 41
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— Drittens gilt die Mitteilung durch einen dritten, das heißt (!) die subjektive Beeinflussung, als ein wesentliches Kennzeichen44. Und als Fehlerquelle45. Dovifat hebt fünf Fehlerursachen hervor. Er beschreibt erstens sogenannte technische Ursachen von Schreib- und Hörfehlern, zweitens sogenannte psychophysische Ursachen (später heißt das: Ursachen, die auf seelisch-körperlichen Anlagen beruhen), welche beispielsweise für Fehlbeobachtungen des Augenzeugen sorgten, so daß sie immer der Ergänzung und Berichtigung durch den Vergleich bedürften, drittens die Notwendigkeit schneller Übermittlung nicht abgeschlossener Vorgänge entsprechend dem Redaktionsschluß, viertens die stilistische Gestaltung und Aufmachung des einzelnen Beitrags sowie, fünftens, der Zeitung insgesamt. Die Effekte werden hier sämtlich als subjektive Fehler typisiert: „Alles mischt der Nachricht subjektive Elemente auch dann bei, wenn der Berichterstatter sich müht, so .objektiv' wie möglich zu berichten. Die von den verschiedensten Seiten an die Presse immer wieder gerichtete Aufforderung, .objektivsachlich' zu berichten, ist eine Unmöglichkeit. Die Zeitung ist auch in ihrem Nachrichtenteil ein durch und durch subjektives Unternehmen. Auch der ehrlichste und beste Wille, objektiv zu sein, läßt sie günstigenfalls subjektiv-wahrhaftig sein. Mehr kann sie nicht erreichen."46 Allerdings erwartet er durch Pressevielfalt so etwas wie ein Korrektiv47. Wie beim Vergleich der Augenzeugenaussagen. 43
Ebd., S. 21. Ebd., S. 17. 45 Ebd., S. 24. 44
46
Ebd., S. 24 f. Diese Position hat Dovifat auch in der berufspolitischen Diskussion zur Pressefreiheit vertreten: „Demgegenüber muß aus der Kenntnis der Zeitungspraxis ebenso wie aus der Beobachtung der Zeitungen vieler Länder darauf hingewiesen werden, daß die Fixierung des objektiven Tatbestandes gewiß für jede Zeitung eine sehr erstrebenswerte Aufgabe ist, daß sie aber schon aus journalistisch-technischen und erst recht aus psychologischen Gründen einfach unmöglich ist. Was der verantwortungsbewußte Journalist anstrebt und was ihm sicher in vielen Fällen gelingt, ist subjektive Wahrhaftigkeit; einen objektiven Tatbestand in protokollarischem Sinne festzulegen, entspricht weder seiner Aufgabe noch in den meisten Fällen seinem Willen. Wir gehen in der theoretischen Betrachtung der Nachricht heute so weit, sie von vornherein darzustellen als eine Mitteilung, die subjektiven Einflüssen des Mitteilenden in starker Weise ausgesetzt ist. Gerade diese subjektive Dehnungsfähigkeit der Nachricht wird ja auch im politischen Meinungskampfe weitgehend genutzt und wird wirksam bis in die Wahl der Drucktype und in das Temperament der typographischen Aufmachung. In jedem Falle also ist diese Subjektivität eine Tatsache. Gerade
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Im Gegensatz zum unbewußt subjektiven Journalismus sieht Dovifat das oben als Propaganda bezeichnete Phänomen in seiner „Grundlegung der Zeitungswissenschaft" als Ausdruck bewußter Subjektivität, als Nachrichtenpolitik („Die bewußte Anwendung der Nachricht zum Zwecke der Meinungsbildung heißt Nachrichtenpolitik")48; doch wird die genaue Auseinandersetzung mit diesem Phänomen in den Praxisteil verbannt („Die Darstellung der Nachrichtenpolitik im einzelnen ist Sache der praktischen Zeitungslehre")49. „Nachrichtenpolitik" gilt dort als „die bewußte Beeinflussung der Öffentlichkeit durch einseitige Verbreitung bestimmter Nachrichtengruppen und die Verschleierung oder Verheimlichung anderer Nachrichtengruppen"50. Der Tatsachencharakter der Nachricht trete also zurück. Als Anwendungsgebiet der Nachrichtenpolitik gilt „das gesamte öffentliche Leben, Politik und Wirtschaft, Kunst und Kultur"51 (vgl. Abb. 1). Für den „Erfolg der nachrichtenpolitischen Arbeit", einerseits, hänge „alles davon ab, daß im rechten Augenblick das rechte Ereignis in der rechten Nachrichtenform verbreitet wird"52. In der „praktischen Nachrichtenarbeit" der Zeitung, andererseits, gilt der Umgang mit Nachrichtenpolitik als „eine der schwierigsten Aufgaben ... überhaupt"53. Daneben wird aber behauptet, daß die Zeitungen selbst, sei es „im Dienste ihrer weltanschaulichen Bindung", sei es im Dienst der „Wünsche ihrer Massenieserschaft" nachrichtenpolitisch arbeiteten54. Versucht man das bisher Dargestellte vorläufig zusammenzufassen, dann wird unterstellt, daß Regelmäßigkeiten medialer Informationsverarbeitung bestehen, hier zunächst einmal für die Zeitung: Gesetze der dadurch aber zeigen die Zeitungen ja die Vielfältigkeit und Mannigfaltigkeit der Meinungsformung und Meinungskämpfe in Deutschland, denen sie dadurch im besten Sinn und Zweck der Preßfreiheit anschaulichen Ausdruck geben". Vgl. Emil Dovifat: „Der autoritäre Staat und die Freiheit der Presse". In: Der Arbeitgeber. Zeitschrift der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, 22. Jg. (1932), S. 527—529, s. S. 527. 47 Ebd. 48 Dovifat, Zeitungswissenschaft (wie Anm. 4), S. 25 f. 49 Ebd., S. 26. 50 Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft . Praktische Zeitungslehre. Berlin, Leipzig 1931,5.34. 51 Ebd. (Hervorhebung des Verfassers). 52 Ebd., S. 35. 53
Ebd., S. 34. 5t Ebd.
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Spiegelung generieren bestimmte Inhalte. Sie prägen das Produkt und sind ihm gleichsam immanent, — ohne daraus ohne weiteres wieder abgeleitet werden zu können. Dennoch ist es möglich, diesen Gesetzen auf die Spur zu kommen. Sie ergeben sich aus der Eigenart der Zeitung, welche das Zusammenspiel der Faktoren Geist, Wirtschaft und Technik täglich ausbildet. Das Zusammenspiel unterliegt seinerseits bestimmten und bestimmbaren gesellschaftlichen Regelungsmechanismen, in der Terminologie Dovifats sind das wesensverändernde Umwelteinflüsse. Der besondere Charakter dieses Zusammenspiels und seine besonderen Auswirkungen auf das Produkt werden am Beispiel, wie am Pressewesen der USA, beschrieben und entfaltet. So wird deutlich, daß „arbeitsteilige Spezialisierung, Technologie und Ökonomie nicht nur die rein produktionstechnischen, sondern auch die sogenannten geistigen Tätigkeiten" bestimmen, was Franz Ronneberger zu demselben Zusammenhang, allerdings vierzig Jahre später, formuliert hat55. Die unter unserer Leitfrage zudem, wenn nicht gar in erster Linie, interessierende Frage nach dem referentiellen Bezug der Berichterstattung kommt zu kurz. Aber Dovifat klammert sie nicht, was er gesagt hatte, aus. Denn die Möglichkeit, „einen objektiven Tatbestand in protokollarischem Sinne festzulegen" und so objektiv darzustellen56, wird grundsätzlich verneint. Dem stünden die subjektiven Einflüsse durch den Mitteilenden entgegen, die Dovifat nicht nur psychologisch begründet, sondern bis in die, meines Erachtens durchaus objektivierbare, formale Gestaltung der Zeitung hinein zunächst sehr weit faßt. Was ausgeklammert wird, ist die systematische Betrachtung der Beziehung zwischen den Tatsachen und den Darstellungen. Darauf weist die diffuse Behandlung der Phänomene, die hier Nachrichtenpolitik heißen, hin. Das bestätigt Dovifats Zeitungsdefinition, die — etwa im Gegensatz zu Otto Groth — lediglich die Merkmale jüngstes Gegenwartsgeschehen (Aktualität), kürzeste regelmäßige Folge (Periodizität) und breiteste Öffentlichkeit (Publizität) verknüpft57. Auch ein besonderes Verständnis von Öffentlichkeit fängt, was denkbar wäre, dieses Defizit nicht auf58.
55
Franz Ronneberger: Vorwort des Herausgebers. In: Manfred Rühl: Die Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System. Bielefeld 1969, S. 8—-12, s. S. 8 (= Gesellschaft und Kommunikation 1). 56 Dovifat, Der autoritäre Staat (wie Anm. 46), S. 527. 57 Vgl. Dovifat, Zeitungswissenschaft I (wie Anm. 4), S. 9 ff. versus Otto Groth: Die unerkannte Kulturmacht. Grundlegung der Zeitungswissenschaft (Periodik). Band 1.
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II
Zur Reichweite der Methoden — Zwei Dissertationen und ein wissenschaftlicher Beitrag, der nicht entstand Ich möchte versuchen, dieselbe Problematik unter überwiegend methodischen Gesichtspunkten noch einmal aufzurollen. Dazu ziehe ich zwei Dissertationen zum Themenfeld heran. Sie sind gleichfalls Anfang der dreißiger Jahre entstanden. Die eine, von Karl Mannheim und Max Horkheimer betreut59, hat Dovifat öffentlich heftig kritisiert. Die andere wurde offenbar an Dovifat herangetragen. Er wird in der Publikation als Erstgutachter genannt, und der Soziologe Alfred Vierkandt wird als Zweitgutachter bezeichnet, was der Aktenlage nicht entspricht60. Darüber hinaus kommen postum veröffentlichte Notizen61 zu einem wissenschaftlichen Beitrag, den Dovifat — aus politischen aber meines Erachtens auch aus methodologischen Gründen — auf den dargestellten Fundamenten damals nicht hätte vollenden können, in den Blick. In seiner Rezension der Frankfurter Untersuchung bemängelt Dovifat zunächst erneut, daß „andere Disziplinen" „sorglos" diesmal mit dem Thema „Weltanschauung und Presse" umgingen; dies gelte vor allem für die Soziologie, „obgleich die Mahnung eines ihrer Bahnbrecher, Max Webers, es bedürfe noch sehr eingehender Studien über die Wirtschaftsstruktur der Zeitung, ehe ihre geistige Auswirkung klarzustellen sei, noch lange nicht erfüllt ist"62. Berlin 1960, S. 344 ff. (Neuntes Kapitel: Der logische Gehalt der vier Merkmale). — Soweit ich sehe, hat Dovifat durchgehend an seiner Definition festgehalten. 58 Dovifat, Zeitungswissenschaft I (wie Anm. 4), S. 84 ff. 59 Wilhelm Carle: Weltanschauung und Presse. Eine Untersuchung an zehn TagesZeitungen. Als Beitrag zu einer künftigen Soziologie der Presse. Phil. Diss. Frankfurt am Main 1931. 60 Vgl. Handgeschriebenes Gutachten vom 10. Juli 1932 zur Dissertation Johannes Bernhard Bußmanns [sie!], Humboldt-Universität zu Berlin. Universitätsarchiv. Philosophische Fakultät Nr. 744, Blatt 102 R versus Hans Bussmann: Untersuchungen über die Presse als Machtform (Phil. Diss. Berlin 1932). Berlin 1933, S. 55. 61 Emil Dovifat: Der Nachrichtenschock. Eindrücke und Erfahrungen über die Anlage, die Durchführung und Folgen des Reichstagsbrandes. Ein Urteil vom publizistischen Standpunkt. Als Manuskript aus dem Nachlaß veröffentlicht. In: Dovifat, Persönlichkeit (wie Anm. 9), S. 46—52. 62 [Emil] Dovifat: Zeitungskunde. Weltanschauung und Presse. In: Zeitungs-Verlag, 33. Jg. (1932), S. 45 f., s. S. 45.
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Die Dissertation selbst versteht sich als einen Beitrag zur Wissenssoziologie, und sie fragt nach den „Quellen, ... an denen die Dynamik des gesellschaftlichen Bewußtseins sichtbar wird"63. Auf der Suche nach Manifestationen des normalerweise konkret nicht Faßbaren stößt der Autor unter anderem auf die Presse, „die wir gemeinhin als Ausdruck der .öffentlichen Meinung' bezeichnen"64. An zwei Ereignissen, die „wie kaum sonst ... die Gegensätze der politischen und moralischen Auffassungen in konzentriertester Form in der Presse zum Ausdruck gebracht" hätten65, werden die Äußerungen von zehn Printmedien66 im Hinblick auf ihre weltanschaulichen Grundhaltungen überprüft. Fünf vorher ermittelte Weltanschauungstypen67 bilden dafür den Maßstab. Des weiteren wird untersucht, welche Beziehungen zwischen der Denkhaltung der einzelnen Zeitung und der ihrer Leser bestehen: „Worauf es uns ankommt, ist zu zeigen, wie bestimmte Zeitungen zu einem ganz bestimmten Fall sich geäußert haben, und wir wollen weiter feststellen, auf welche Schichten mit diesem bestimmten Verhalten eingewirkt wurde. Für unsere Untersuchung stehen die Vorgänge selbst, wie ihre Kritik durch die Presse, außerhalb einer politischen oder moralischen Wertung. Es kommt uns allein auf soziologische Feststellungen an."68 Die Betrachtungsweise bleibt zirkulär. Denn der Verfasser rekonstruiert einerseits schon den Ablauf der ausgewählten Ereignisse aus der Presse, und zwar überwiegend aus der „Frankfurter Zeitung" und aus der „Kölnischen Zeitung". Diese sind das Attentat auf den damaligen Reichsaußenminister Dr. Walther Rathenau, am 24. Juni 1922, und der sogenannte Steglitzer Schülerprozeß im Februar 1928, ein Strafrechts63
Carle, Weltanschauung (wie Anm. 59), S. 8. Ebd., S. 9. 65 Ebd., S. 10. 66 „Wir haben ... 7 politische Tageszeitungen und zwar je ein Blatt kommunistischer (Rote Fahne), sozialdemokratischer (Vorwärts), demokratischer (Berliner Tageblatt), katholischer (Germania), volksparteilicher (Kölnische Zeitung), deutschnationaler (Kreuz-Zeitung) und nationalsozialistischer Prägung (Völkischer Beobachter), ferner je eine Vertretung von Handel und Industrie (Deutsche Bergwerkszeitung), der Landwirtschaft (Deutsche Tageszeitung) sowie der .überparteilich-nationalen' Presse (Lokalanzeiger), also insgesamt 10 Tageszeitungen zur Untersuchung ausgewählt." (ebd., S. 9 f.). 67 Als Weltanschauungstypen gelten 1. das konservativ-aristokratische, 2. das katholisch-klerikale, 3. das liberal-demokratische, 4. das völkisch-nationale und 5. das marxistisch-sozialistische Prinzip (ebd., S. 14 ff.). 68 Ebd., S. 73. 64
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verfahren gegen den 18jährigen Abiturienten Paul Krantz, der des Mordes angeklagt und freigesprochen worden war. Sie werden dann erneut „im Spiegel der Presse" betrachtet. Andererseits sind Leserzahlen und auch Lesermerkmale, wie politische Einstellungen, wiederum aus Auflageziffern sowie aus Organisations- und Besitzstrukturen der Zeitungen erschlossen, statt getrennt ermittelt und erfaßt. Im Ergebnis liefert die Untersuchung mit Hilfe von Einzelbeobachtungen folgende Anhaltspunkte zur, sagen wir, Leser-Blatt-Bindung: (1) Es gibt keine einheitliche „öffentliche Meinung", sondern nur eine Vielfalt verschiedener Ansichten. Auch die gleiche Schicht ist in den meisten Fällen verschiedenen, teilweise entgegengesetzten pressevermittelten weltanschaulichen Einflüssen ausgesetzt. (2) Nicht allein der Wille einer Partei, eines Verlages oder eines Redakteurs bestimmt die Haltung eines Blattes, sondern auch die Rücksichtnahme auf die Wünsche der Leser: „Die Tagespresse, auch die politische, bringt nur dort eine eindeutige, weltanschauliche Haltung zum Ausdruck, wo eine homogene Leserschicht dies gestattet."69 Am häufigsten zeigt sich diese Rücksichtnahme bei Äußerungen zu tagesbezogenem politischen und wirtschaftlichen Handeln, am wenigsten häufig bei Äußerungen zu Problemen der Ethik und Moral. (3) „Das Verhalten jeder Zeitung ist soziologisch hinreichend erklärbar, ohne daß den Parteien, den Interessentengruppen, den Verlegern oder den Redakteuren irgendwie bewußte Verbreitung von Unwahrheiten unterstellt werden muß."70 Es ist die Rücksichtnahme auf einen sozial differenzierten Leserkreis, die dafür sorgt, daß Stellungnahmen relativiert, heterogene Denkstile vermischt, verbindliche Stellungnahmen durch unverbindliche Abstraktionen ersetzt, Umstände verschwiegen werden. Die Argumente der einzelnen Zeitungen stellen zudem nicht immer eine gradlinige, konsequente Denkhaltung dar, sondern sie widersprechen sich oft in wichtigen Fragen. Die Arbeit zielt also auf die Beziehung zwischen Medien und Rezipienten. Dovifat liest und kritisiert sie als einen Beitrag zum Kommunikator und zum Medium. Und der genügt, schon was die inhaltsanalytische Methode betrifft, nur bedingt seinen Ansprüchen. Aber die 69 70
Ebd., S. 181. Ebd., S. 182.
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zirkuläre Betrachtungsweise stört Dovifat nicht, und dies unterstreicht, was ich oben ausführte: „Als Methode dient ... die vielfach in zeitungswissenschaftlichen Seminaren geübte sogenannte synoptische Zeitungslektüre. Sie stellt die Äußerungen bestimmter Blätter über bestimmte Vorgänge nebeneinander und kommt so zu einer praktisch zu belegenden Charakterprobe der einzelnen Blätter ... Alles ... an ... zwei isolierten Fällen! Das ist der Grundfehler des Buches, den alle Hingabe an die Sache und alle Kunst soziologischer Sektion nicht wettmacht: die Weltanschauung eines Blattes läßt sich unmöglich an Hand von zwei Einzelfällen und wenigen Artikeln darüber klarmachen und erst recht lassen sich daraus keine Erkenntnisse ziehen, die reif wären, zu allgemeinen Regeln verdichtet zu werden ... Die Untersuchung läßt den für jede Zeitungsbetrachtung unerläßlichen Grundsatz außer acht: jede Zeitungsbetrachtung ist eine Massenbetrachtung, freilich nicht einer Masse im soziologischen Sinne, sondern einer Masse journalistischer Arbeiten, aus der Kleinarbeit und den wechselnden Stimmungen und Bedingungen jedes Tages erwachsen zur publizistischen Gesamtleistung eines Jahres, vieler Jahre! So wie Haltung, Wuchs und Art eines Baumes niemals aus einem seiner Jahrringe, sondern nur aus deren Vielheit in der Gestalt des Stammes erkannt werden können, so kann die weltanschauliche Grundrichtung einer Zeitung nur in Betrachtung der Vielzahl der Lebensgebiete gewonnen werden, die sie kraft ihres universellen Charakters umfaßt, und in der Betrachtung dieser Lebensgebiete für längere Fristen, damit die Fehler vorübergehender Tageseinflüsse personeller und sachlicher Zufälligkeiten ausgeschaltet sind ... Es fehlt hier, wie auch in der Schilderung der einzelnen Blätter, einfach an genügend zeitungsfachlichen Kenntnissen und Erfahrungen. Die Fehler sind häufig und oft kraß. So z. B., wenn es bei der Schilderung der katholischen Presse heißt, der Augustinusverein sorge für ,die entsprechende Ausbildung und Normierung des Nachwuchses'; oder der Verfasser wundert sich, daß die .Deutsche Bergwerkszeitung' von dem Steglitzer Schülerprozeß gar keine Notiz nimmt, und äußert dazu: ,Wir können daraus entnehmen, daß Probleme der Jugenderziehung und der Sittlichkeit ganz außerhalb des Gesichtswinkels eines schwerindustriellen Wirtschaftsblattes liegen.' Für diese selbstverständliche Tatsache brauchte wirklich kein soziologisches Buch geschrieben zu werden. Vielleicht wundert sich der Verfasser auch darüber, daß die .Deutsche Bergwerkszeitung' kein Feuilleton bringt, keine Theaterkritik und keinen Sportteil, vielleicht kommt er so dahinter, daß
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dieses Blatt in die Reihe der von ihm gewählten Zeitungen gar nicht hineingehört."71 Die mangelnde zeitungsfachliche Vorbereitung der Arbeit habe dann auch dazu geführt, daß der Verfasser „nicht an einer einzigen Stelle die gerade für die weltanschauliche Deutung eines Blattes entscheidend wichtige nacbrichtenpolitische Haltung" ermittele72. Diese Untersuchung, die sich seines Erachtens auf Ausdehnung, Auswahl, Aufmachung des Berichts, des Unterstreichens, Abschwächens oder Auslassens bestimmter Teile hätte einlassen müssen, wäre nach Dovifats Ansicht für die Aufgabe des Verfassers ertragreich gewesen. „Die viel zu schmale Basis der Arbeit und ihre fehlenden zeitungskundlichen Voraussetzungen haben so dazu geführt, daß auch das .soziologische Fazit' ... meist nur Gemeinplätze soziologisch formuliert."73 Wollte man Dovifats Korrekturvorschlag aufnehmen und Aspekte der Gewichtung verschiedener Aussagen als Ausdruck verschiedener Weltanschauungen erheben, dann fehlte der Hinweis auf ein Tertium comparationis, ein Äquivalent für die in der vorliegenden Untersuchung über das Ereignis vermittelte Interpretationsfolie. Jüngere Untersuchungen fragen beispielsweise, wer zu Wort kommt, und dies wäre aus soziologischer Perspektive möglicherweise sogar angemessen74. Jüngere Untersuchungen rekonstruieren beispielsweise die Summe der Aussagen oder Argumente in der Gesamtberichterstattung, und sie vertrauen darauf, daß die Berichterstattung der einzelnen Zeitung in Relation zur Gesamtberichterstattung positioniert werden kann75. Da einerseits auch hier nicht bekannt ist, wer hätte zu Wort kommen können, und da andererseits auch hier nicht zum Ausdruck kommt, welche Aussagen oder Argumente möglich gewesen wären, sind diese Lösungsansätze ebenfalls zurückzuweisen; aber das Problem, das haben sie besser erkannt. Wollte man Dovifats Korrekturvorschlag umsetzen, fiele des weiteren auf, daß für eine Untersuchung der Nachrichtenpolitik der einzelnen Zei71
Dovifat, Weltanschauung (wie Anm. 62), S. 46. Ebd., S. 45 f. 73 Ebd., S. 46. 74 Vgl. Günther Rager: Publizistische Vielfalt in der Region? Ein inhaltsanalytischer Vergleich regionaler Tageszeitungen und des Kurpfalz-Radios. In: Media Perspektiven (Frankfurt am Main), 19. Jg. (1981), S. 224—239 u. a. 75 Klaus Schönbach: Trennung von Nachricht und Meinung. Empirische Untersuchung eines journalistischen Qualitätskriteriums. Freiburg, München 1977 (=AlberBroschur Kommunikation 5) u. a. 72
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tungen jetzt dieselben Indikatoren vorgeschlagen werden, die vorher unbewußt subjektive Einflüsse des Vermittlers beschrieben, welche trotz allen Bemühens um subjektive Wahrhaftigkeit nicht auszuschließen seien. Allerdings verspricht die zweite Dissertation, die diskutiert werden soll, „eine exacte Darlegung dieses Phänomens, für welches die Fachliteratur den Terminus .Nachrichtenpolitik' führt"76, weshalb wir den Einwand aufschieben. Hans Bussmanns „Untersuchungen über die Presse als Machtform" gehen von der Überlegung aus, daß der moderne Staat ohne die Presse nicht mehr denkbar sei, und sie wollen „die Machtausübung mittels der Presse als Werkzeug und die Ausübung der Macht durch die Presse selbst" aufspüren77. Dieser Verfasser distanziert sich von vornherein „von der Unzahl historischer Untersuchungen, die ein bestimmtes politisches, wirtschaftliches oder geistiges Ereignis und seine Reflexe in der Presse ,und* in der öffentlichen Meinung erörtern"78. Und auch von der tiefergehenden Frage, ob die Presse Spiegel oder Urheber oder Multiplikator der öffentlichen Meinung sei, und wie man erklären solle, daß Volksbewegungen ohne gleich starke Presse dennoch entstünden, sieht er ausdrücklich ab. In Anlehnung an Karl Jaspers, nicht an Emil Dovifat, liegt das besondere Erkenntnisinteresse auf der „die Ereignisse nachschaffenden Kraft" der Presse. Sie wird als zentrales Wirkprinzip betrachtet79. Und Bussmann will zeigen, „wie die Presse in ihrer funktionellen Position als abhängiger Mittler, mit einem Material, das geformt — formen soll, ihre Aufgabe erfüllt"80. De facto betrachtet er den Selektionsprozeß, in den die Zeitung als Medium81 eingebettet ist. Der sorgt für die Reduktion der unendlichen 76
Bussmann, Machtform (wie Anm. 60), S. 20. Ebd., S. 51. 78 Ebd., S. 12. 79 „Die Wirkung der Presse ist immer nur gleichsam durch einen Umweg, eben den der Lektüre zu erzielen: die Lektüre der Ereignisse aber ist nie das Erleben der Ereignisse. Die Kontinuität der Lektüre jedoch gibt der Presse jene nachschaffende Kraft, die fast zu einer schaffenden Kraft zu werden scheint. Die Zeitung .scheint noch einmal zu schaffen, indem sie aus eigener Sachnähe in das Bewußtsein der Zeit bringt, was sonst wirkungsloser Besitz einzelner bliebe... Sie ist das geistige Dasein unseres Zeitalters als das Bewußtsein, wie es in den Massen sich verwirklicht.'" (ebd., S. 14 f.). 77
80 81
Ebd., S. 20.
„Jede Zeitung will also Vermittlerin sein zwischen den Ereignissen der Zeit und den Menschen, die hierüber etwas erfahren wollen ... sie gilt als Medium, durch welches hindurch die Zeit zum Menschen dringt, persona gleichsam: das, wohindurch es
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Zahl der Ereignisse in der Zeit auf ein Endliches, der ist institutionalisiert, denn er läuft kontinuierlich ab, und der führt zu „vorgeformtem Material": „Das Material ist vorgeformt, weil es, auch abgesehen von jeder Textredaktion, ausgewählt ist, es ist vorgeformt, weil das nicht vorhandene, unterdrückte Material das übermittelte in seiner Qualität bestimmt hat."82 Auf der Suche nach den Selektionskriterien83 skizziert der Verfasser zunächst die Rahmenbedingungen der Selektion. Demnach steht und fällt die Auswahl erstens mit der Verfügung über den Ort des Geschehens84. Die Auswahl ist zweitens durch den Stand der Technik und, werden die Kostenträger berücksichtigt, implizit auch durch die Wirtschaftsordnung bestimmt. Die Auswahl ist drittens von der jeweiligen Staatsform abhängig; denn die Auswahl unterliegt dem Wertmaßstab aller derjenigen Instanzen, die über den Nachrichtenstoff zu entscheiden haben. In Ländern mit diktatorischen Staatsformen wirkt aber nur eine Instanz, in allen übrigen Ländern wirken verschiedene Kräfte auf den Vorgang ein und gewährleisten die Chance, verschiedene Perspektiven zur Geltung zu bringen. In einem weiteren Schritt werden als Selektionsbedingungen der Nachrichtenbüros, der Agenturen, die geographische Lage, die Einwirkung der Regierung, die weltanschauliche Bindung, die Anlehnung an Finanzgruppen diskutiert. Und schließlich widmet sich der Verfasser der „Fortsetzung und Spiegelung"*5 des vierfachen Wahlakts der Nachrichtenbüros in der einzelnen Zeitung. An der Berichterstattung über das Ergebnis der Reichspräsidentenwahlen am 13. März 1932, ein wegen seines Zahlencharakters eindeutiges Ereignis, das allen Medien tönt. Die Zeitung ist für einen großen Teil der Menschheit die Erscheinungsform der Ereignisse; das Mittel, wodurch er von ihnen erfährt; das Medium, wohindurch sie gehen müssen, um erkannt zu werden." Vgl. ebd., S. 22. — Geht man von Dovifats Zeitungsdefinition aus, die der Verfasser erst in seinen Schlußbemerkungen zitiert (ebd., S. 49 f.), dann hat er zwar oberflächlich nur anders gewichtet: Die Zeitung vermittelt (!) jüngstes Gegenwartsgeschehen in kürzester regelmäßiger Folge der breitesten Öffentlichkeit. Aber de facto und zwischen den Zeilen versteckt geht es um einen Paradigmawechsel: „Das Prinzip der Zeitung (ist) die ständige Vermittlung von Tatsachen in der Öffentlichkeit." (ebd., S. 25). 82 Ebd., S. 31. 83 „Wer aber trifft die Auswahl und nach welchen Prinzipien erfolgt sie?" (ebd., S. 23). 84 „Der Schmelzprozeß, dem ein Ereignis unterworfen wird, bis es als Nachricht erscheint, beginnt in vielen Fällen bereits im Augenblick seines Geschehens. Der Ort, an dem es geschieht, bestimmt sehr oft die erste Formung." (ebd., S. 26). 85 Ebd., S. 31.
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gleichmäßig „zugeströmt" ist, wird gezeigt, wie „die Macht der Zeitung ... zum großen Teil darauf [beruht], daß sie Dinge umformt, die der Leser für nicht-umformbar hält, weil sie ihm als Konkreta gegeben werden"86. Der Verfasser diskutiert die Prinzipien (1) Kommentar durch Selektion, (2) Typographische Formung durch Aufmachung, Umfang und Plazierung, (3) Verdichtung durch Herausstellen einer zentralen Aussage in der Schlagzeile und (4) Auswahl des Bezugs, der Relation der Aussage, in der Schlagzeile. Diese Formungsprinzipien ließen den Zeitungen bei der Publizierung von Tatbeständen einen weiten Spielraum, ohne gegen die Wahrheit verstoßen zu müssen. Dies treffe sogar für die — auf den ersten Blick verwirrende — Vielfalt unterschiedlicher Relationen in den Schlagzeilen zu (vgl. Abb. 2). „Sämtliche Überschriften stehen mit der Wahrheit in Übereinstimmung. Eine Vergleichung der einzelnen Schlagzeilen mit dem Zahlenmaterial beweist diese Behauptung, nur daß es sich bei der einen Überschrift um den prozentualen Anteil handelt, bei der anderen um die Wählerzahlen, ein drittes Mal um den Stimmenzuwachs einer Partei, usw."87 Bussmann geht dann noch auf Kontrollmöglichkeiten des Wahrheitsgehaltes der Nachrichten durch den Rezipienten ein. Durch Vergleich verschiedener Agenturen und durch Vergleich verschiedener Zeitungen würden solche Möglichkeiten theoretisch zwar eingeräumt, ihre Realisation sei aber praktisch unwahrscheinlich88. Er stellt auf dieser Grundlage schließlich fast triumphierend heraus, „daß weit mehr Möglichkeiten in der Nachrichtenpolitik liegen als die zuständige Literatur erwähnt"89. Aber wie sollen wir das Dargestellte unter den Gesichtspunkten des Einwands, von denen wir ausgegangen waren, begreifend Was ist hier in
86
Ebd., S. 38 f. Bussmann datiert hier fälschlich auf den 1. März 1932. Ebd., S. 40 f. 88 „Die kritische Denkweise kann nur dort angewandt werden, wo die dargebotenen Fakten nachprüfbar sind. Die Universalität des Zeitungsinhaltes steht jedoch über dem Fachwissen des einzelnen Lesers und entzieht sich zum größten Teil seiner Kontrolle. Hierbei sei noch ganz abgesehen von der Schwierigkeit, das nicht vorhandene Material zu eruieren. Die gemeldeten Ereignisse pflegen im allgemeinen einer Prüfung ihres Wahrheitsgehaltes standzuhalten; die Wirkungsmöglichkeiten mit Hilfe der oben erwähnten stilistisch-typographischen Formungen berühren nicht die Wahrheit der Nachrichten ... Der Leser ist also nolens volens gezwungen, den größten Teil seiner Zeitungslektüre ungeprüft hinzunehmen, wobei aber bemerkt werden muß, daß diese Hinnahme noch keineswegs Zustimmung zu bedeuten braucht." (ebd., S. 50 f.). 89 Ebd., S. 39. 87
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seiner Entstehung entfaltet und durchschaubar geworden? Die wahre Nachricht oder die Abweichung? Die bewußte Manipulation oder der unbewußte Fehler im subjektiv wahrhaftigen Optimum journalistischer Leistung? Der Begriff Nachrichtenpolitik bleibt zweideutig. Immerhin legt der Text implizit nahe, daß wohl auch der Wissenschaftler ohne Zugang zu den unvermittelten Tatsachen am On des Geschehens nicht weiterkommt. Was sagt Dovifat zu dieser Arbeit? Sie „treibt meist in theoretischer Konstruktion einige vornehmlich soziologisch gefundene Feststellungen zu bestimmten allgemeinen Regeln. Sie überbrückt so durch eine in vielem originelle aber auch etwas eigenwillige Darstellung ein Gebiet, das die exakte Forschung erst zu erschließen begonnen hat. Es wäre besser und mehr gewesen, wenn der Verfasser sich auf die gründliche Erarbeitung eines Einzelgebietes eingestellt hätte. Es ist aber nicht zu verkennen, daß er selbständig argumentiert und eine gewisse Sicherheit und Reife des Urteils zeigt."90 Das ist alles. Soweit sie vorliegen, kann ich auch an Dovifats Schriften dieser Zeit91 nicht nachvollziehen, inwieweit er sich mit Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen, mit Reichweiten und Spielräumen der Zeitungs- und Publizistikwissenschaft selbst auseinandersetzte. Allerdings blieb sein Werk von diesen Fragen nicht unberührt. Dafür steht der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, in Dovifats Worten „der Nachrichtenschock"92. Die Aufklärung des Reichstagsbrandes93 hat die Geschichtswissenschaft bis in die achtziger Jahre hinein kontrovers beschäftigt. Heute 90
Gutachten Emil Dovifats (wie Anm. 60). Für biographische Details vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 9), S. 10 ff. Folgt man einigen Andeutungen Benedikts, sollte es sich lohnen, den Nachlaß Dovifats zu seinen Lehrveranstaltungen unter diesen Gesichtspunkten genauer auszuwerten. Vgl. ebd., S. 126 ff. sowie S. 162—164. 92 Dovifat, Nachrichtenschock (wie Anm. 61), S. 46. 93 Bekanntlich ist das Reichstagsgebäude durch Brandstiftung zerstört worden. Der niederländische Rätekommunist und Anarchist Marinus van der Lubbe wurde als Tatverdächtiger gefaßt und gab die Brandstiftung zu. Hitler und seine Regierung schrieben sie den Kommunisten zu. Sie diente als Anlaß für die Notverordnung des Reichspräsidenten zum Schütze von Volk und Staat am 28. Februar 1933, die „zur Abwehr kommunistischer Gewalttaten" die wichtigsten Grundrechte außer Kraft setzte, die Kommunistische Partei und ihre Presse in Deutschland verbot und ihre Mitglieder der Verfolgung aussetzte. Im Reichstagsbrandprozeß vom 21. September bis zum 23. Dezember 1933 vor dem Reichsgericht in Leipzig wurde van der Lubbe als Täter verurteilt, die übrigen Angeklagten, wie der KPD-Reichstagsabgeordnete 91
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dominiert dort die Annahme, daß es sich um einen „einfachen Kriminalfall" handelt, den die Nationalsozialisten für ihre Zwecke instrumentalisierten94. Aus dem „nachgelassenen Rohmanuskript für ein Gutachten, geschrieben als Zeitzeuge und auf Grund langer Forschung ergänzt am 3.2.1967", das ich hier einbeziehe, spricht, Emil Dovifat hielt den Reichstagsbrand für eine Art synthetisches Ereignis, das die NSDAP im Rahmen des Wahlkampfes für die am 5. März angesetzten Reichstagswahlen skrupellos inszenierte und als Pendant zum „Tag der erwachenden Nation" am Vorabend der Wahl systematisch und sorgfältig geplant hatte: „Der Reichstagsbrand ist eine planmäßig mit Raffinement und Konsequenz durchgeführte und mit anderen Aktionen kombinierte Aktion, die Wahlen vom 5. März 1933 nicht nur zu einem großen nationalsozialistischen Erfolg zu machen, sondern gleichzeitig scheinrechtlich auch endgültig die Apparatur diktatorisch in die Hand zu bekommen"95. Beides sei leider gelungen, und Millionen deutscher Staatsbürger seien dieser mit überlegener massenpsychologischer Berechnung durchgeführten Aktion aufgesessen. Das posthum veröffentlichte Manuskript skizziert das politische und publizistische Geschehen ab 30. Januar bis zum Ende des Reichstagsbrandprozesses am 23. Dezember 1933. Es stützt die Annahme einer großangelegten Kampagne. Die Suche nach der Aufklärung des Ereignisses und der Nachricht darüber tritt hinter die Auseinandersetzung mit der Aktion, mit der Durchführung der Kampagne und mit ihren Auswirkungen zurück.
Ernst Torgier und Georgi Dimitroff, später Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, freigesprochen. — Auf der anderen Seite sprachen Gerüchte und auch Indizien dafür, daß der Reichstagsbrand von Mitgliedern der NSDAP verursacht worden war. Sie wurden unter der Regie des kommunistischen Verlagschefs Willi Münzenberg zusammengetragen und noch 1933 im Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror als erste antifaschistische Schrift der Editions du Carrefoure in der Pariser Emigration veröffentlicht und illegal in Deutschland verbreitet. 94 Vgl. zuletzt: Uwe Backes, Karl-Heinz Janßen, Eckhard Jesse, Henning Köhler, Hans Mommsen und Fritz Tobias: Reichstagsbrand — Aufklärung einer historischen Legende. München 1986. — Siehe auch die m. E. hervorragende Kurzdarstellung des komplizierten Sachstandes, in: Hans Mommsen: Reichstagsbrand 1933 — was ist Wahrheit, was Legende. In: Berliner Zeitung (49), 27./2S. Februar 1993, S. 62. 95 Dovifat, Nachrichtenschock (wie Anm. 61), S. 46.
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III
Erkenntnisgrenzen und offene Fragen der Publizistikwissenschaft Befragt man die späteren Texte daraufhin, wie sie Erfahrungen einer Orientierungskrise reflektieren und einbinden, dann gerät zunächst einmal in den Blick, daß der Reichstagsbrand in Dovifats Zeitungslehre als ein Lehrbeispiel dient. Dort nimmt er das Ereignis zuerst 1944 verklausuliert im Kapitel Nachrichtenpolitik (!) auf: „Für den Erfolg der nachrichtenpolitischen Arbeit auf die allgemeine Politik hängt also alles davon ab, daß im rechten Augenblick das rechte Ereignis in der rechten Nachrichtenform verbreitet wird. (Sogenannte ,AugenblickskrafV der Nachrichten.) Krass wirksame Nachrichteninhalte, eindrucksstark im rechten Augenblick verbreitet, vermögen die Meinungen der Öffentlichkeit entscheidend zu beeinflussen und ihrer politischen Willensbildung eine jähe Richtung zu geben. (Sogenannte .Schockwirkung* der Nachricht.) Gewandte sichere Politiker haben diese nachrichtenpolitischen Mittel oft angewandt. Ihre Wertung gehört zu den schwierigsten Kapiteln in der sehr umstrittenen Moral des öffentlichen Lebens."96 Seit der dritten neubearbeiteten Auflage des Jahres 1955 heißen die entsprechenden Passagen sinngemäß übereinstimmend und unter ausdrücklicher Berufung auf den Reichstagsbrand so: „In der großen Politik erhebt sie [die Nachrichtenpolitik, B. B.] die Lüge zu einer Weltmacht... Besonders wirkungsvoll wird die Nachrichtenpolitik da, wo sie in Ausnutzung aktueller Situationen stoßweise aktuelle Wirkungen technisch erzielt. Es entsteht dann der sogenannte Nachrichtenschock. Gleich einer Welle stürmt er durch das öffentliche Meinen und erzielt gewisse, oft falsche, aber von den Interessierten bewußt herbeigeführte Massenentscheidungen ... Einer der größten Nachrichtenschocks in der modernen Geschichte ist der von Hitler angezettelte Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, der den Kommunisten in die Schuhe geschoben wurde. Er begründete die diktatorische ,Notverordnung zum Schütze von Volk und Staat' vom 28. Februar 1933 und beeinflusste die letzten demokratischen Wahlen ... stark zugunsten der Nationalsozialisten. .Nachrichtenschocks', freilich weniger dämonisch und oft harmloser Herkunft, sind 96
Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische Grundlagen — Nachricht, Meinung, Politische Willensbildung — Sprache und Form. 2., neubearbeitete Auflage. Berlin 1944, S. 102.
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z. B. in Wahlkämpfen üblich. In einer freien, demokratischen Öffentlichkeit werden sie bald aufgeklärt und überwunden. Sich ihrer taktischen Möglichkeit immer bewußt zu sein, ist eine Voraussetzung des politisch arbeitenden Menschen."97 Der Begriff Nachrichtenpolitik, auf der einen Seite, subsumiert jetzt expressis verbis fließende Übergänge von leichten Tendenzen durch sprachliche Fassung, Auswahl, Reihenfolge und graphische Wertung bis hin zum gewaltsamen Ausschluß alternativer Unterrichtungsmöglichkeiten98. Nachrichtenpolitik gilt zuletzt als ein Phänomen der mittelbaren im Gegensatz zur unmittelbaren Ansprache^. Als Nachrichtenpolitik der Interessenten benennt Dovifat seit 1955 den Bereich Public Relations (vgl. Abb. 1). Die Nachrichtendefinition, auf der anderen Seite, wird durch Überarbeitung und Reduktion der Liste subjektiver Fehlermöglichkeiten präzisiert (vgl. Abb. 3). Allerdings distanziert sich Emil Dovifat schon in der Besatzungszeit vom „angelsächsischen Standpunkt", nicht nur eine wahrhaftige^ sondern darüber hinaus eine absolut sachliche, wahre Unterrichtung durch strikte Trennung von Nachricht und Kommentar gewährleisten zu können100. Zusätzliche Erkenntnisse zum redaktionellen Filter erwartet er seit 1967 von der weiteren Forschung. Sie soll den amerikanischen Gatekeeper-Ansatz aufnehmen101. Die verschiedenartigen Gesellschaftssysteme hat Dovifat insbesondere unter Gesichtspunkten der Pressefreiheit seit seiner Dissertation als Interpretationsfolie und auch als Determinanten der interessierenden Prozesse generell berücksichtigt102. Dennoch liegt dem Gesamtwerk Emil Dovifats auch nach 1945 eine funktionale Differenzierung von Interessentenaussagen einerseits und journalistischen Darstellungen im Gesamtinter-
97
Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische und rechtliche Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. 3., neubearbeitete Auflage. Berlin 1955, S. 60 f. 98 Dovifat, Handbuch der Publizistik (wie Anm. 6), S. 86—90. 99 Ebd., S. 85. 100 Emil Dovifat: Demokratische Grenzen der Propaganda. In: Der Student, 1. Jg. (1947), Heft 3, S. 7. 101 Emil Dovifat: Zeitungslehre I. 1. Band. Theoretische und rechtliche Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. 5., neubearbeitete Auflage. Berlin 1967, S. 67 f. 102 Zuerst: Dovifat, Meinung in Sachsen (wie Anm. 10), passim. Zuletzt: Dovifat, Handbuch der Publizistik (wie Anm. 6), passim.
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esse andererseits, ein Aspekt, den meines Wissens zuerst Franz Ronneberger103 diskutierte, fern104. Der Publizistikwissenschaft weist Dovifat gleichzeitig und kontinuierlich „lebenswichtige Bedeutung"105 für das Funktionieren und für den 103
Franz Ronneberger: Kommunikationspolitik I. Institutionen, Prozesse, Ziele. Mainz 1978, S. 161 (= Kommunikationswissenschaftliche Bibliothek 6). — Siehe auch Franz Ronneberger: Legitimation durch Information. Düsseldorf, Wien 1977 (= Internationale Essays zur PR-Forschung). 104 Im Gegenteil: „Es ist eine alte Weisheit, daß falsche Nachrichten schneller und weiter laufen als die Berichtigungen, die hinterher geschickt werden. Darauf beruht ein Teil jener Technik, die im politischen Kampf frischweg verleumdet und weiß, daß keinerlei Dementi das wegwischt, was immer hängenbleibt. Aber in der allgemeinen Technik der öffentlichen Unterrichtung über politische Vorgänge wird echte politische Information sehr oft Deformation, das heißt, die Nachrichtengebung amtlicher Stellen kommt beim simplen Staatsbürger wesentlich anders an, als man sich das oben denkt oder beabsichtigt und als es im öffentlichen Interesse zweckmäßig ist. Art. 5 des Bundesgesetzes bestimmt ausdrücklich, daß jeder Staatsbürger das Recht hat, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Eine solche Quelle ist die Presse. Ihre Freiheit ist im Bundesgesetz ausdrücklich festgelegt. Ihre sachliche Information ist also Pflicht der Regierung. Sie wird im öffentlichen Interesse Grenzen dieser Unterrichtung ziehen. Dies zu achten und anzuerkennen, gerade auch durch eine Presse, die im übrigen eine weitgehende Unterrichtung unbedingt verlangen muß, ist eine Selbstverständlichkeit. Hier zu unterscheiden, was öffentlich herausgebracht werden muß und was dazu noch nicht reif ist, bleibt die wahre Kunst politischer Information. In demokratisch erfahrenen Ländern wird diese Kunst vollendet beherrscht. Bei uns ist es noch nicht so weit. Sonst käme es nicht vor, daß Ministerreden in schweren Verstümmelungen wiedergegeben werden oder kurze Nebenbemerkungen leitender Persönlichkeiten in lauten Interviews erscheinen. Unerläßlich ist sachlicher Ausgleich zwischen der Nachrichtenquelle und der Nachrichtenverbreitung, Zusammenarbeit zwischen Presse und Regierung auf der Grundlage echten Vertrauens. So bedarf der leitende pressepolitische Beamte einer Regierung, der sogenannte .Pressechef, des vollen und uneingeschränkten Vertrauens der leitenden Männer, insbesondere aber der letz[t]lich entscheidenden politischen Persönlichkeiten. Auch der innere Ausgleich und die Abstimmung der Nachrichtenstoffe untereinander ist seine Aufgabe. Ohne diese Leistung geht bei der Schwierigkeit, auf allen Tastaturen der öffentlichen Meinung[s]- und Willensbildung zu spielen, so mancherlei schief, das dem Ansehen jeder noch so wohlmeinenden Regierung auf die Dauer lebensgefährlichen Abbruch tut. Je eher die Vertreter der Presse und Rundfunk sich mit den maßgebenden politischen Behörden in dieser Aufgabe finden, um so sicherer erhält der Staatsbürger die ihm nach Artiker [sie!] 5 zustehende Unterrichtung. Je weniger seine politische Information Deformation ist, um so richtiger wird seine politische Entscheidung sein." Vgl. E[mil] D[ovifat]: Information, nicht Deformation. In: Der Tag, Nr. 23, 27. Januar 1950, S. 2.
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Erhalt demokratischer Systeme zu. Aber zu speziellen Problemen autonomer wissenschaftlicher Urteilsfindung äußert er sich selten106. Seit Dovifats Beitrag zur Erweiterung der Zeitungs- zur PublizistikWissenschaft, und doch nicht motiviert durch die Erweiterung, lassen sich daneben Akzentverschiebungen in den zentralen Fragestellungen beobachten: Die Suche nach Spiegelungsgesetzen und das Bemühen um Transparenz der vermittelten Inhalte weichen dem Interesse an Gesetzen der „geistigen Beeinflussung und Willensbildung"107. Das Interesse an 105
Emil Dovifat: Ein unterschätztes geisteswissenschaftliches Problem. In: Deutsche Rundschau, 83. Jg. (1957), S. 698—702, s. S. 702. 106 Ich sehe dies ansatzweise in folgenden Texten: „Schon die rein beschreibende und die historische Methode steht hier vor einer Fülle von Aufgaben. Ehe man überhaupt beginnt, kausale Verknüpfungen zu suchen, muß man damit anfangen, die publizistischen Erscheinungen selbst in ihrer äußeren Gestalt und in ihrem Auftreten zu beobachten. Hier hat neben den grundsätzlichen Ergebnissen ihres Fachgebietes zunächst die deutsche Zeitungswissenschaft wertvolle Vorarbeiten geleistet... Allerdings ist die publizistische Methode — d. h. die wissenschaftliche Wesensbetrachtung, die den publizistischen Prozeß in seinen inneren Zusammenhängen aufzeigt und allgemein gültige Gesetze, Regeln, Typen und Normen des publizistischen Geschehens entwickelt — meist nicht angewandt, sie konnte auch nicht angewandt werden, teils weil darauf die Verfasser aus ihrer Sicht gar nicht ausgingen, teils weil diese Methode noch nicht entfaltet oder auch, wie jede Methode, umstritten war. Vor allem aber lag es daran, daß jede publizistische Erscheinung in ihrer oft scharfen Dynamik, der bunten Vielzahl ihrer Formen, der oft unübersehbaren Breite ihrer Materialmassen, ihrer manchesmal auch irreführenden Maskierung schon für die reine deskriptive Deutung alle Kräfte und allen Fleiß beanspruchte." (Emil Dovifat: Publizistik. In: Werner Schuder [Hrsg.]: Universitas Litterarum. Handbuch der Wissenschaftskunde. Berlin 1955, S. 329—341, s. S. 331). — „Hier wird in der Betrachtung publizistischer Vorgänge auch das wissenschaftliche Urteil aus den allgemeinen Menschenrechten bestimmt und aus der Überzeugung von der Ehre und der Würde jedes Einzelnen. Doch ist das Urteil nicht immer so leicht wie bei diesen krassen Gegensätzlichkeiten. Sie da schon zu erkennen, wo die Wolle gefärbt wird, schon in den ersten Anfängen die publizistische Natur klar zu unterscheiden, das ist die komplizierte Aufgabe der Wissenschaft von der Publizistik." (Emil Dovifat: Publizistik als Wissenschaft. Herkunft — Wesen — Aufgabe. In: Publizistik, 1. Jg. [1956], S. 3—10. Zitiert nach: Dovifat, Persönlichkeit [wie Anm. 9], S. 19—29, s. S. 28 f.). 107 Dovifat, Erweiterung (wie Anm. 5), S. 13 ff. — Emil Dovifat: Allgemeine Publizistik und Demokratie. In: Colloquium, 1. Jg. (1947), Heft 3, S. 21—23, s. S. 23. — Emil Dovifat: Das Studium der Publizistik. In: Mitteilungen für Studenten und Dozenten der Freien Universität Berlin, 1. Jg. (1949), Heft 6 (August), unpaginiert (Universitas Litterarum): „Publizistik ist jede öffentlich bedingte und öffentlich bewirkte geistige Beeinflussung und Leitung, die auf dem Wege der Gesinnung durch freie
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den Eigenarten der Mittel der Nachrichtengebung weicht dem Interesse an den Möglichkeiten und Grenzen der „Mittel publizistischer Führung"108. Der Blick auf eine an den Folgen interessierte Handlungsethik weicht gesinnungsethischen Überlegungen und Ausführungen109. Im Zuge dieser Entwicklung wird die Leitfrage der vorliegenden Untersuchung rhetorisch110 immer wieder offengehalten. Aber das Forschungsinteresse im engeren Sinne weicht davon ab.
Überzeugung das Handeln der Menschen zu lenken und zu bestimmen sucht." — Dovifat, Publizistik (wie Anm. 106), S. 329: „Unter Publizistik verstehen wir jede öffentlich bedingte und öffentlich bewirkte geistige Unterrichtung und Leitung, die mit Gesinnungskräften durch Überzeugung zu Tun und Handeln führt." — Dovifat, Handbuch der Publizistik (wie Anm. 6), S. 5: „Publizistik ist jede öffentlich bedingte und öffentlich geübte geistige Einwirkung auf die Öffentlichkeit, um diese ganz oder in ihren Teilen durch freie Überzeugung oder kollektiven Zwang mit Gesinnungskräften über Wissen und Wollen im Tun und Handeln zu bestimmen." 108 Dovifat, Erweiterung (wie Anm. 5), S. 17. — Emil Dovifat: Rede und Redner. Ihr Wesen und ihre politische Macht. Leipzig 1937, S. 33 (= Meyers kleine Handbücher 8). — Emil Dovifat: Rundfunkwissenschaftliche Aufgaben der deutschen Universitäten. In: Rundfunkarchiv, S. 41—44, s. S. 41. Etc. vgl. Anm. 105. 109 Einerseits: Emil Dovifat: Die publizistische Persönlichkeit. Charakter, Begabung, Schicksal. In: Gazette, 2. Jg. (1956), S. 157—171 u. a. Andererseits: Dovifat, Ein unterschätztes Problem (wie Anm. 105), passim. — Dovifat, Aufgaben (wie Anm. 1), u. a. 110 Dies geschieht auch in anderen Formulierungen, vgl. beispielsweise: „Sie [die Publizistikwissenschaft, B. B.] muß Lüge Lüge und Fälschung Fälschung nennen können und deren Technik studieren und darstellen." (Dovifat, Ergebnisse [wie Anm. 1], S. 80).
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Abb. 1: Aspekte zur Nachrichtenpolitik, die in der „Praktischen Zeitungslehre" EmilDovifats behandelt werden (1931—1976)
1931«
I Die Praxis der Nachrichtenarbeit [...] 3. Nachrichtenpolitik (1) Wesen und allgemein politische Wertung (2) Die Organisation der Nachrichtenpolitik a) Die Presseabteilung der Reichsregierung b) Die Pressestellen der Länder und Gemeinden c) Die Nachrichtenpolitik der Interessenten d) Die journalistischen Folgen der nachrichtenpolitischen Organisation
1937(2)
Die Nachricht in der Zeitung [...] 4. Die Nachrichtenpolitik a) Wesen und Aufgaben der Nachrichtenpolitik b) Die Presseabteilung der Reichsregierung im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda c) Die Nachrichtenpolitik der Interessenten
1944P)
Die Nachricht in der Zeitung [.·.] 4. Die Nachrichtenpolitik a) Wesen und Aufgabe der Nachrichtenpolitik b) Die Presseabteilung der Reichsregierung, die Pressearbeit der Partei und der Behörden c) Nachrichtenpolitik der Interessenten
1955
Die Nachricht [.·.] _ 3. Die Nachrichtenpolitik a) Nachrichtenstellen, Pressestellen und -ämter b) Die Nachrichtenpolitik der Interessenten — „Public Relations"
« Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft II. Praktische Zeitungslehre. Berlin, Leipzig 1931, S. 33^3. (2) Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. Berlin, Leipzig 1937, S. 97—107. (3) Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische Grundlagen — Nachricht, Meinung, Politische Willensbildung — Sprache und Form. 2., neubearbeitete Auflage. Berlin 1944, S. 98—109. (4) Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische und rechtliche Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. 3., neubearbeitete Auflage. Berlin 1955, S. 97—105.
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(5) Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische und rechtliche Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. 4., neubearbeitete Auflage. Berlin 1962, S. 95—105). (6) Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische und rechtliche Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. 5., neubearbeitete Auflage. Berlin 1967, S. 108—115. (7) Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische und rechtliche Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. 6., neubearbeitete Auflage von Jürgen Wilke. Berlin, New York 1976, S. 139—147.
Abb. 2: Wahl des deutschen Reichspräsidenten am 13. März 1932 — Gegenüberstellung des vorläufigen amtlichen Endergebnisses und der Berichterstattung darüber (Schlagzeilen ausgewählter Tageszeitungen) Vorläufiges amtliches Endergebnis Abgegebene Stimmen insgesamt: Davon erhielten: Hindenburg Hitler Thälmann Duesterberg
37 685 036 18 654 690 11 341 360 4 982 939 2 558 938
(49,6 %) (30,1 %) (13,2 %) (6,8 %)
Schlagzeilen ausgewählter Tageszeitungen (Montagsausgaben) 1. Hindenburg bleibt! 2. Hindenburg knapp unterlegen. 3. Das Volk will Hindenburg. 4. Volksmehrheit gegen Hindenburg. 5. Hitler geschlagen! 6. Hindenburgs Niederlage. 7. Klare Kräftebestätigung der NSDAP. 8. Hindenburg bleibt — Hitler geschlagen Laßt Zahlen sprechen! 9. Hitler gewinnt 5 Millionen Stimmen Laßt Zahlen sprechen! 10.Die Nationalsozialisten sammeln über 11 Millionen Wähler um Hitler. l I.Hitlers Niederlage! 12.11 341 360 Stimmen für Hitler. Quelle: Hans Bussmann: Untersuchungen über die Presse als Machtform. Berlin 1933, S. 39 f. (Zur Datierung der Präsidentenwahl s. Anm. 86).
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Barbara Baerns Abb. 3: Die Fehlerquellen der Nachricht nach Emil Dovifat (1955—1968)
Die Fehlerquellen der Nachricht ergeben sich 1. aus physiologischen Fehlern der Berichtenden (Verhören, Versehen, Übersehen), 2. aus technischen Fehlern der Übertragung (Schreibfehler, Satzfehler, Übertragungsstörung) , 3. aus der [natürlichen]^) psychologischen Einstellung der Berichtenden zum Ereignis (zustimmend, autoritativ oder verächtlich®). „Damit sind die Fehlerquellen bezeichnet, die auch bei starkem Streben zur Wahrhaftigkeit gar nicht auszuschalten sind. Dann erst beginnt die bewußte Nutzung der Nachricht zu ganz bestimmten Zwecken und die Technik, Nachrichten zu unterschlagen, um zu verhüten, daß sie wirken^) ... Dies ist ein in der Politik, ja im ganzen öffentlichen Leben täglich geübter Vorgang. Wir nennen ihn Nachrichtenpolitik." Quelle: Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische und rechtliche Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. 3., neubearbeitete Auflage. Berlin 1955, S. 61. W[ ] Einschub 1968: Emil Dovifat: Handbuch der Publizistik. Band 1. Allgemeine Publizistik. Berlin 1968, S. 87. (2) Änderung des Klammerausdrucks 1962: „Zustimmend, ablehnend, gefühlsmäßig erfaßt, gleichgültig, verständnislos, kritiklos usw." (vgl. Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische und rechtliche Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. 4., neubearbeitete Auflage. Berlin 1962, S. 67). — Änderung des Klammerausdruck 1968: „Zustimmend — ablehnend, suggestiv erfaßt — kritisch ablehnend, gefühlsmäßig engagiert — gleichgültig, flüchtig, gedankenlos oder bedenkenlos ablehnend usw." (vgl. Emil Dovifat: Handbuch der Publizistik. Band 1. Allgemeine Publizistik. Berlin 1968, S. 87). ß) Erweiterung 1967: „Nicht vermeiden läßt sich aber auch bei gewissenhafter Trennung von .facts' und .comments' eine Auswahl aus dem überreichen Angebot. Die Amerikaner bezeichnen den Redakteur denn auch anschaulich als .gatekeeper', als Torhüter, der die Nachrichten auf ihrem Weg in die breite Öffentlichkeit .durchläßt'. Wie das Sieben erfolgt, müßte noch untersucht werden. Deutsche Untersuchungen leiden oft unter dem Mißtrauen, daß ein Filtern der Nachrichten immer verdächtiger Interessenpolitik diene. .Gatekeeping' heißt aber noch nicht immer bewußte Verbreitung oder Hintanstellung bestimmter Nachrichten zu einem anderen Zweck als dem der übersichtlichen Information. Die bewußte Nutzung der Nachricht
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zu ganz bestimmten Zwecken und die Technik, Nachrichten zu unterschlagen, um zu verhüten, daß sie wirken, setzt erst jenseits der Fehler der Informationsarbeit aus sachlichem Bemühen ein." (Vgl. Emil Dovifat: Zeitungslehre I. Erster Band. Theoretische und rechtliche Grundlagen — Nachricht und Meinung — Sprache und Form. 5., neubearbeitete Auflage. Berlin 1967, S. 67 f.).
Standardwerk oder Materialsammlung ohne wissenschaftlichen Anspruch? Emil Dovifats „Zeitungslehre" und die Entwicklung der Zeitungswissenschaft in Deutschland JÜRGEN WILKE
I Emil Dovifats zweibändige „Zeitungslehre" in der handlichen Sammlung Göschen ist in den fünfziger und sechziger Jahren „längst zum »klassischen4 Bestand der fachkundlichen Studienliteratur"1 der deutschen Zeitungs- und Publizistikwissenschaft gerechnet worden und damit gleichsam zu einem ihrer Standardwerke avanciert. Hierbei handelte es sich um sein erfolgreichstes Werk, mit ihm wirkte er am meisten in Wissenschaft und Praxis, aus ihm informierten sich mehrere Generationen von Studierenden und bereits im Beruf tätigen Journalisten über die Grundlagen ihrer Arbeit. Keine andere Publikation hat den Autor in vergleichbarer Weise bekannt gemacht, und keine andere wird bis heute derart mit ihm identifiziert. Doch als Dovifat im Jahre 1967 die gerade in fünfter Auflage erschienenen Bände an seine einstige Schülerin Elisabeth Noelle-Neumann übersandte, schrieb er in einem Begleitbrief dazu: „Die Hefte erheben keinen wissenschaftlichen Anspruch, sie sind — eine qualvolle Arbeit — konzentrierte Materialsammlungen mit gelegentlichen Bemühungen, lesbar zu sein."2 War es bloße rhetorische Bescheidenheit, die den Verfasser dazu veranlaßte, selbst die Bedeutung seines meistverbreiteten Werkes herabzumindern und allenfalls seine Lesbarkeit noch als Vorzug 1
Alfred Frankenfeld: Rezension Emil Dovifat Zeitungslehre I und (1955). In: Publizistik l (1956) S. 60 ff. Hier S. 60. 2 Brief Emil Dovifats an Elisabeth Noelle-Neumann vom 20.2.1967 (Original im Katalog der Dovifat-Bibliothek im Institut für Publizistik der Universität Mainz). Dovifat bittet die Adressaten darin, „die Bändchen ja nicht zu lesen. Es steht nichts drin, was Sie nicht wüßten".
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auszugeben? Oder war es das Gespür dafür, daß die Bände dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht mehr standhielten, gleichwohl als Materialsammlungen noch Nutzen versprachen? Zwischen beiden Urteilen, die hier zitiert werden, liegt das Spannungsfeld, in dem die Rolle der Dovifatschen „Zeitungslehre" für die Entwicklung der deutschen Zeitungswissenschaft zu untersuchen und zu bestimmen ist.
II Im Jahre 1928 war Emil Dovifat, zu diesem Zeitpunkt Chefredakteur der Tageszeitung „Der Deutsche", an die Berliner Friedrich-WilhelmsUniversität berufen und dort zum Direktor des Deutschen Instituts für Zeitungskunde bestellt worden. Qualifiziert hatte er sich für diese Berufung durch sein 1927 erschienenes, aus einem Studienaufenthalt in den Vereinigten Staaten hervorgegangenes Buch „Der amerikanische Journalismus".3 Zuvor hatte er — sieht man von der Dissertation (1918) ab — eine Reihe von Zeitungsbeiträgen und Fachartikeln sowie einen zusammenfassenden Überblick „Die Zeitungen" (1925) in der Reihe „Die deutsche Wirtschaft und ihre Führer" veröffentlicht.4 Darin waren — als Folie auch in der Spezialstudie über den amerikanischen Journalismus gegenwärtig — die Grundanschauungen Dovifats und die Perspektiven, unter denen er die Zeitung sah, vorgeprägt. Doch die akademische Lehre, die er mit der Berufung aufnahm, erforderte eine andere, bis dahin nicht vorhandene Systematisierung des Gegenstandes. Die nächste größere Veröffentlichung Dovifats erschien 1931. In diesem Jahre kamen in der Sammlung Göschen des Verlages Walter de Gruyter (Berlin und Leipzig) zwei Bände des Verfassers unter dem Titel „Zeitungswissenschaft" heraus.5 Diese gaben den Stoff wieder, den er — auf zwei Semester verteilt — in seiner Vorlesung behandelte. Zugleich wurde die Darstellung durch den Charakter der Buchreihe mitbestimmt, 3
Vgl. Emil Dovifat: Der amerikanische Journalismus. Stuttgart 1928.— Neuausgabe hrsg. von Stephan Ruß-Mohl. Berlin 1990. 4 Vgl. Emil Dovifat: Die Zeitungen. Gotha 1925 (= Die deutsche Wirtschaft und ihre Führer Bd. ET, 1. Teil). 5 Vgl. Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft I. Allgemeine Zeitungslehre. . Praktische Zeitungslehre. 2 Bde. Leipzig 1931.
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in welche die beiden Bände aufgenommen wurden. Die Sammlung Göschen wollte „in Einzeldarstellungen eine klare, leichtverständliche und übersichtliche Einführung in sämtliche Gebiete der Wissenschaft und Technik ... geben; in engem Rahmen, auf streng wissenschaftlicher Grundlage und unter Berücksichtigung des neuesten Standes der Forschung bearbeitet, soll jedes Bändchen zuverlässige Belehrung bieten".6 Schon das handliche Format und der begrenzte Umfang ließen die Zielsetzung erkennen, lehrbuchartig, aber für den allgemeinen Gebrauch einen Überblick zu bieten, ohne doch auf wissenschaftliche Solidität zu verzichten. Dovifats Bände besaßen in der gleichen Reihe bereits einen Vorläufer. Im Jahre 1907 waren in der Sammlung Göschen ein Bändchen „Das moderne Zeitungswesen (System der Zeitungslehre)", im Jahr darauf (1908) ein Bändchen „Das deutsche Zeitungswesen" erschienen.7 Verfasser war beidemal Dr. Robert Brunhuber, Redakteur der „Kölnischen Zeitung". Er gliederte seine beiden Bände in je zwei Teile zu je zwei Abschnitten. Im ersten Teil des ersten Bandes behandelte er das „Objekt" (Die Zeitung) und das „Subjekt" (Der Journalist) des Zeitungswesens. Im zweiten Teil befaßte er sich mit dem Verhältnis von Kultur und Presse sowie dem von Staat und Presse. Im zweiten Band wandte er die gleiche Stoffgliederung speziell auf das deutsche Zeitungswesen an. „Trotz wissenschaftlicher, populärwissenschaftlicher Zielsetzung", so urteilte Otto Groth, „schlägt bei Brunhuber stark das Journalistische durch."8 Gleichwohl hatte, wie er einräumte, mit diesen Bänden „die Zeitungskunde — ein weiterer Schritt zu ihrer Anerkennung als .Wissenschaft' ... — zum ersten Male Aufnahme in eine jener bekannten Sammlungen [gefunden], die zur allgemeinen Belehrung und zur Einführung Übersichten aus allen Wissenschaften geben wollen".9 Übrigens folgte nur wenige Jahre später ein Band über das Zeitungswesen (Verfasser: Hermann Diez) auch in der Reihe „Aus Natur und Geisteswelt" (bei Teubner), die mit der Sammlung Göschen in Wettstreit stand.10
6
Nach der Selbstdarstellung im Gesamtverzeichnis der Sammlung Göschen. Vgl. Robert Brunhuber: Das moderne Zeitungswesen (System der Zeitungslehre). Leipzig 1907.— Ders.: Das deutsche Zeitungswesen. Leipzig 1908. 8 Otto Groth: Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft. Probleme und Methoden. München 1948. S. 314. 9 Ebd. S. 311. 10 Vgl. Hermann Diez: Das Zeitungswesen. Leipzig, Berlin 1910. 2. Aufl. 1919. 7
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Vorläufer gab es für die „Zeitungslehre" folglich schon. Aber die Entwicklung des Zeitungswesens wie auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm waren doch vorangeschritten und erforderten einen tieferreichenden und zugleich systematischeren Zugriff. Seine Intention war, so sagte Dovifat selbst, „das weite Gebiet in knapp formulierten Grundsätzen zu fassen, die wichtigste Literatur beizugeben und so neben einem Leitfaden auch eine Allgemeineinführung in die Disziplin zu bieten ... Es ist die Aufgabe der Büchlein, für größere Werke die rechte Lesefreude vorzubereiten".11 Dabei verfolgte Dovifat mit den beiden Bänden durchaus das Ziel, die Zeitungswissenschaft als „selbständige unabhängige Disziplin" zu konstituieren, „eigen und eigengesetzlich «12
Dies war, obwohl die Zeitungswissenschaft inzwischen an einigen Universitäten Fuß gefaßt hatte, Anfang der dreißiger Jahre noch keineswegs der Fall, wie die Diskussion auf dem Siebenten Deutschen Soziologentag im Herbst 1930 gerade erst gezeigt hatte, bei der Ferdinand Tönnies das berüchtigte Wort von der „Hühner- und Entenwissenschaft" hatte fallen lassen.13 Selbstbewußt trat Dovifat dieser Auffassung in der Einleitung zum ersten Band der „Zeitungswissenschaft" entgegen: „Die Zeitungswissenschaft ist also keineswegs ein Teil der Soziologie oder der Geschichte, der Staatswissenschaften, der Privatwirtschaft oder der Werbelehre. Sie kann auch nicht arbeitsteilig von jeder dieser Disziplinen in einem Teil gepflegt werden. Das hieße den lebendigen Körper .Zeitung' in soziologische, literarische, wirtschaftliche und psychologische Stücke zerreißen. Erst recht kann die Zeitungswissenschaft unmöglich von einer anderen Disziplin als deren Hilfswissenschaft betrieben werden."14 Was Dovifat hier forderte, ohne es bereits so zu nennen, war eine „integrierende Wissenschaft",15 und zwar bis ins Methodische hinein.
11
Emil Dovifat: Zeitungskunde. In: Jahresbericht für deutsche Geschichte 7 (1931) S. 356—361. Hier S. 358. 12 Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft I (1931) S. 6. 13 Vgl. Verhandlungen des Siebenten Deutschen Soziologentages vom 28. September bis 1. Oktober 1930 in Berlin. Tübingen 1931 (= Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie . Bd.) S. 9—80. Hier insbesondere S. 72. 14 Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft I (1931) S. 6. 15 Vgl. Otto B. Roegele: Die Zeitungswissenschaft im Streite der Fakultäten. In: Publizistik 11 (1966) S. 390—398.
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Den in der Erstausgabe noch im Untertitel der Göschen-Bände auftretenden Begriff „Zeitungslehre" gebrauchte Dovifat für „die Darstellung der zeitungswissenschaftlichen Ergebnisse".16 Der erste Band sollte den theoretischen Teil enthalten: „Er entwickelt allgemeine Grundregeln, die in einigen beschränkten Fällen bis zur Allgemeingültigkeit von Gesetzen erhärtet werden. Er gibt die tragende Konstruktion des ganzen Systems, belegt mit Beispielen aus Geschichte und Praxis ,.."17 Dem zweiten Band, sozusagen der angewandten Zeitungslehre gewidmet, ist „die Darstellung der praktischen Zeitungsarbeit vorbehalten, wobei die Theorie nicht nur anordnet und umrahmt, sondern sich auch zu bewähren hat. So wird eine ständige Nachprüfung der allgemeinen Grundregeln aus dem bewegten Bereich jüngster Entwicklung möglich".18
III In der Tat lag die Bedeutung von Dovifats „Zeitungslehre" in zwei, für die Konstituierung jeder Wissenschaft — und auch der Zeitungswissenschaft — grundlegenden Dingen. Zum einen lieferte er eine Taxonomie, eine Bestimmung der wesentlichen Grundbegriffe. Berühmt und über Jahrzehnte hinweg immer wieder zitiert sind seine Definitionen, z. B. der Zeitung („Die Zeitung vermittelt jüngstes Gegenwartsgeschehen in kürzester regelmäßiger Folge der breitesten Öffentlichkeit."19), der Nachricht („Nachrichten sind Mitteilungen über neue, im Existenzkampf des Einzelnen und der Gesellschaft auftauchende Tatsachen."20) oder der Nachrichtenagentur („Nachrichtenbüros sind Unternehmungen, die mit schnellsten Beförderungsmitteln Nachrichten zentral sammeln, sichten und festen Beziehern weiterliefern"21). In diesen einprägsamen, plastischen Definitionen gipfelte Dovifats besondere Formulierungskunst. Der geisteswissenschaftlichen Denktradition gemäß, aus der er stammte, schuf er Realdefinitionen, die zugleich schon Aussagen über die Wirklichkeit (ihr Wesen) machen und nicht bloß der Verständigung über den Begriffsge16
Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft I (1931) S. 6. Ebd. S. 6 f. 18 Ebd. S. 7. 19 Ebd. S. 9. 20 Ebd. S. 17. 21 Emil Dovifat: Zeitungslehre I. 2 Bde. Zweite, neubearb. Aufl. Berlin 1944. 1. Bd. S. 69. 17
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brauch dienen (wollen), wie es — nach dem Vorschlag der neueren Wissenschaftstheorie — Nominaldefinitionen tun. Die Eigenart jener Definitionen erschwert es übrigens, sie zugleich als zweckmäßige Operationalisierungen zu verwenden. Zum zweiten entwirft Dovifat die für die Konstituierung einer Wissenschaft wichtige Systematik des Sachgebiets. Bemühungen um eine solche Systematik hatte es schon vorher gegeben, in der journalistischen Praktikerliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie auch bei Robert Brunhuber. Doch handelte es sich dabei nur um Ansätze. Dovifat ging über diese hinaus, indem er die Zeitung aus der ihr „innewohnenden Wechselwirkung geistiger, wirtschaftlicher und technischer Kräfte"22 erklärte und diese „Dreiheit der Kräfte" zum Gliederungsprinzip seiner Darstellung wählte. Unter dieser Überschrift handelt Dovifat — nachdem er den Grundbegriff der Zeitung erläutert hat — im ersten der beiden Göschen-Bände die Nachricht, die Meinung sowie Wirtschaft und Technik des Zeitungsbetriebs ab. Schließlich erörtert er noch die Beziehungen zwischen Zeitung und Öffentlichkeit, darunter auch die „Macht der Presse", wohlgemerkt: in Anführungszeichen gesetzt. Im zweiten Band beschreibt Dovifat dann die aktuelle Situation der Presse und geht insbesondere auf die Ausübung des journalistischen Berufs ein. Zu den Grundgedanken der Dovifatschen Zeitungslehre, wie sie sich schon in der Erstauflage der Göschen-Bände von 1931 finden, gehört nicht nur die Idee vom Zusammenwirken von Geist, Wirtschaft und Technik im Zeitungsunternehmen. Wenn man dabei von einer Theorie sprechen will, so handelt es sich um eine solche normativer, präskriptiver Art. Als normativ hat man seinen Ansatz später immer wieder bezeichnet.23 So sehr Dovifat seine Darstellung mit historischen Beispielen und aus eigenen Erfahrungen im Journalismus belegt und belebt hat, so mündet sie doch immer wieder in die Formulierung von Ansprüchen, ja Postulaten. Exemplarisch sei hier folgender „Grundsatz der Zeitungsethik wie des Zeitungsgeschäfts" zitiert: „Die Zeitung wird zur Vertretung öffentlicher Interessen von der Öffentlichkeit gerufen und macht sie zu ihrem ideellen Ziel ebenso wie zu ihrem geschäftlichen Inhalt. Sie sündigt also sowohl gegen ihre berufliche Pflicht wie gegen die geschäft22
Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft I (1931) S. 5. Vgl. Lutz Hachmeister: Publizistik als normative Elitetheorie. Emil Dovifat (1890—1969). In: ders.: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland. Berlin 1987. S. 79—129. 23
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liehe Zweckmäßigkeit, wenn sie das öffentliche Interesse nur vorschützt, wenn es ihr nur Deckmantel ist privaten Eigennutzes und persönlicher Machenschaften. "24 Charakteristisch ist hierbei, daß die ideelle und die geschäftliche Seite der Zeitung nicht als zwingende Gegensätze betrachtet werden, sondern als etwas, was sich durchaus zweckmäßig verbindet. Dovifat kannte die in der Zeitung widerstreitenden Kräfte sehr wohl, war aber von der Möglichkeit überzeugt, diese fruchtbar zum Ausgleich zu bringen. Das schloß Fehlentwicklungen — vor allem im Sensationsjournalismus — nicht aus, gegen die er (zeitlebens) Front machte. Die Gesinnung als normatives Leitprinzip der Zeitungsarbeit sah er durch Sensationsmache bedroht, was den Ruf nach der journalistischen Verantwortung begründete.25 Daß Dovifats Zeitungslehre seinen Vorgängern überlegen war und daß seine Göschen-Bände sich durch umfassende Sachkenntnis auszeichneten, wurde von der Fachwelt sofort anerkannt. Doch es fehlte auch nicht an Einwänden. Erich Everth, der Nachfolger seines Lehrers Karl Bücher in Leipzig und Verfasser eines großen Buches über „Die Öffentlichkeit in der Außenpolitik von Karl V. bis Napoleon" (1931), bemängelte in einer Rezension im Fachorgan „Zeitungswissenschaft", daß Dovifat die Beziehungen der Zeitung zur Umwelt ausdrücklich aus seiner Darstellung ausgeschlossen hatte. Dem hielt Everth entgegen: „Zum Wesen jeder Einrichtung wie auch jedes Menschen gehört mit in allererster Linie seine Wirkung; ja die Kraft und Art seiner Wirksamkeit bestimmt auch Art und Grad seiner Wirklichkeit. Wenn man diese Energien und Erfolge der Zeitung, die positiv und negativ sein können, vernachlässigt, kann man nie ein Bild davon bekommen, wie sie im Leben steht, und das gehört eben auch, nicht am wenigsten, zu ihrem eigenen Leben. Überläßt man aber diese wichtigen Untersuchungen anderen Disziplinen, so wird man weiter erleben, was man schon erlebt hat, daß sie das nicht leisten, entweder weil sie sich dafür nicht interessieren oder weil sie die Zeitung nicht genügend kennen."26 Damit stießen hier zwei un-
24
Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft (1931) S. 93 f. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Gesinnung und Verantwortung. In: Kurt Koszyk/Volker Schulze (Hrsg.): Die Zeitung als Persönlichkeit. Festschrift für Karl Bringmann. Düsseldorf 1982. S. 23—28. 26 Erich Everth: Rezension Emil Dovifat Zeitungswissenschaft (1931). In: Zeitungswissenschaft 6 (1931) S. 186—188. Hier S. 188. Vgl. dazu auch Hans Bohr25
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terschiedliche Vorstellungen von der Zeitungswissenschaft aufeinander: Die auf die Binnenanalyse konzentrierte Konzeption Dovifats — „Sie untersucht nicht dieses Spiegelbild, sondern den Spiegel selbst und die Gesetze der Spiegelung"27 — und die an den Außenwirkungen — dem „Ausstrahlen der Zeitung in das öffentliche Leben"28 — interessierte Konzeption Everths. Diese Seite hatte Dovifat aber keineswegs ganz gemieden, ja sich gerade hier (im Abschnitt über öffentliche Meinung z. B.) auf das Feld der Spekulation begeben. Dies war nicht anders möglich zu einer Zeit, in der sich bestimmte Fragen noch der sozialwissenschaftlichen Prüfung entzogen. Ein Gespür hierfür mochte vielleicht Dovifats Zurückhaltung mit begründen.
IV Emil Dovifats Bände in der Sammlung Göschen wurden nach kaum mehr als einem Jahrfünft 1937 bereits in einer Neuauflage herausgebracht.29 Sie trugen jetzt beide den Titel „Zeitungslehre I". Damit bildete der Untertitel der Erstausgabe jetzt den Haupttitel, was die Lehrbuchhaftigkeit noch unterstreichen und hervorheben mochte, daß es sich eher um eine Dogmatik praxisbezogenen Wissens als um eine theoretisch-wissenschaftliche Untersuchung handelte. Entscheidender war aber vermutlich noch etwas anderes. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war in Deutschland auch die Zeitungswissenschaft — und nicht ohne Grund gerade sie — in den Sog der propagandistischen Ziele des neuen Staates geraten. Dieses Interesse zeigte sich zumal darin, daß ein Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 30. April 1935 neue „Richtlinien für das Studium der Zeitungswissenschaft" vorgab. Danach war folgender Vorlesungsplan verordnet:30
mann/Arnulf Kutsch: Pressegeschichte und Pressetheorie. Erich Everth (1878—1934). In: Publizistik 24 (1979) S. 386—403. 27 Emil Dovifat: Zeitungswissenschaft I (1931) S. 5 f. 28 Erich Everth a. a. O. S. 188. 29 Emil Dovifat: Zeitungslehre I. 2 Bde. Leipzig 1937. 30 Ebd. 1. Bd. S. 38 f.
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1. Die publizistischen Führungsmittel. Psychologie und Technik der publizistischen Führung ... 2. Die Geschichte des Zeitungswesens 3. Zeitungslehre I: Theoretischer Aufbau und praktische Arbeit 4. Zeitungslehre II: Politischer Einsatz und öffentliche Wirkung 5. Das Zeitungswesen im Ausland A. Zeitschriftenwesen B. Das neue Presserecht Der Inhalt von Dovifats Göschen-Bänden sollte jetzt offenkundig den dritten Teil dieses Vorlesungsplans abdecken, weshalb sie beide die Zählung „I" aufwiesen. Ausdrücklich fügte der Verfasser der nächstfolgenden Neuauflage der Bände 1944 den Hinweis hinzu: „Die sehr bedeutsamen Fragen, wie sich nun die neue Zeitung im einzelnen zum Staate und zur Partei, also zu den großen politischen Führungsmächten verhält, ebenso die besonders entscheidenden Fragen der Wirkungsforschung der Zeitung und ihre Beziehungen zum Leser, sind im ministeriellen Lehrplan einer besonderen Vorlesung (Zeitungslehre II) zugewiesen und daher in den vorliegenden Bändchen nicht dargestellt."31 Die spätere Zählung der Auflagen der Göschen-Bände setzte übrigens nicht mit der ursprünglichen Ausgabe von 1931, sondern erst bei der Ausgabe von 1937 ein (mit dem Übergang zum Haupttitel „Zeitungslehre"). Die Bände mit dem Erscheinungsjahr 1944 tragen demnach den Vermerk „Zweite, neubearbeitete Auflage". Weitere Auflagen folgten dann nach dem Kriege: Eine dritte 1955, eine vierte 1962 und eine fünfte 1967. Die Nachkriegsauflagen numerierten dann jeweils die beiden Bände mit „I" und „II". Eine sechste, von mir selbst stark überarbeitete Auflage kam dann noch 1976 heraus. Nach Angaben des Verlages Walter de Gruyter dürften Dovifats Göschen-Bände in den dreißiger Jahren jeweils in einer Auflage von 1500 Exemplaren erschienen sein.32 Unklar bleibt das Schicksal der (zweiten) Auflage 1944. Es ist nämlich ungewiß, in welchem Umfang diese Auflage, die auch als „Feldpostausgabe" bezeichnet wird,33 in der Spätphase des Zweiten Weltkriegs, kurz vor dem militärischen Zusam31
Emil Dovifat: Zeitungslehre I (1944) S. 5. Nach mündlicher Mitteilung des langjährigen Verlagsangestellten Jürgen Gärtner. 33 Klaus-Ulrich Benedikt: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist. Mainz 1986. S. 152. 32
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menbruch, überhaupt noch ausgeliefert wurde. Immerhin ist der Band in einzelnen (Bibliotheks-)Exemplaren nachgewiesen. Doch der überwiegende Teil der Bestände ist wahrscheinlich der Kriegseinwirkung (Brand des Verlagsgebäudes) zum Opfer gefallen. Auch nach dem Zusammenbruch dürften etwa erhalten gebliebene Bände nicht mehr angeboten worden sein. Als Bücher aus der Kriegszeit hätten die alliierten Besatzungsmächte ihre Verbreitung kaum hingenommen. Zudem taucht in einem Verlagsprospekt aus den fünfziger Jahren der Titel mit der Jahreszahl 1937 auf, jedoch ohne Preisangabe. Das läßt darauf schließen, daß die Bände bis zur dritten, neubearbeiteten Auflage 1955 (Spätjahr 1954) nicht mehr zu haben waren. Höhere Auflagen hatten die GöschenBände erst in der Nachkriegszeit. Mit wachsenden Studentenzahlen und der einsetzenden Expansion des journalistischen Berufsfeldes vermehrte sich der Absatz, was eine rasche Auflagenfolge (drei in zwölf Jahren) möglich machte. Erst jetzt konnte die Dovifatsche Zeitungslehre, zumal keine vergleichbaren Publikationen vorhanden waren, ihre volle Breitenwirkung in der Ausbildung durch Wissenschaft und journalistische Praxis entfalten. Kaum einer, der damals das Fach Publizistikwissenschaft an der Universität studierte und es heute lehrt, dürfte die Bände seinerzeit im Studium nicht benutzt haben.
V Die verschiedenen Auflagen der „Zeitungslehre" miteinander zu vergleichen interessiert im wesentlichen aus zwei Gründen bzw. unter zwei Gesichtspunkten. Zum einen ist zu fragen, inwieweit sich dieses Werk inhaltlich verändert hat, ob und inwieweit der Verfasser seine Darstellung „fortgeschrieben" und neue wissenschaftliche Erkenntnisse in sie aufgenommen hat. Zum zweiten lehrt ein Vergleich der verschiedenen Auflagen, ob und in welchem Maße sich der Autor Emil Dovifat dem Wandel der politischen Verhältnisse angepaßt hat. Letzteres steht insbesondere im Zusammenhang der sehr kontrovers diskutierten Frage nach der Rolle Dovifats im Dritten Reich.34 Stand er in Distanz zum Nationalsozialismus, war er gar ein Opponent, oder war er ein willfähriger 34
Vgl. dazu Klaus-Ulrich Benedikt a. a. O.— Ferner: Lutz Hachmeister a. a. O. S. 100 ff.— Otto Köhler: Wir Schreibmaschinentäter. Journalisten unter Hitler — und danach. Köln 1989. S. 21 ff.
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Mitläufer, der sich instrumentalisieren ließ und der dem Gedankengut der damaligen Machthaber möglicherweise Vorschub leistete? Gerade diese letztgenannte Frage läßt sich allerdings nicht aus der „Zeitungslehre" allein beantworten, sondern nur aufgrund einer Prüfung von Dovifats Handeln und Publizieren in diesen Jahren insgesamt. Sowohl zum wissenschaftlichen wie politischen Aspekt der Veränderungen der „Zeitungslehre" ist in der Literatur schon einiges gesagt worden.35 Der stärkste Wandel im Inhaltlichen zeigt sich zwischen den — auch im Titel unterschiedenen — Ausgaben von 1931 und 1937. In der Einleitung zum ersten Band der letzteren kündigte Dovifat an, „den neu abgegrenzten Stoff völlig umgearbeitet, weitgehend ganz neu gestaltet und mehr als bisher auf die praktische Vorbildung"36 ausgerichtet zu haben. Dabei wurde vor allem die Gliederung des Materials umstrukturiert, was offenbar den Erfordernissen des neuen Lehrplans entsprach. Zwar blieb es bei drei großen Kapiteln in jedem Band. Aber bestimmte Teile wurden umgestellt und auch anders zusammengefaßt. Das erste Kapitel hieß von jetzt an „Die Einheit des Zeitungsunternehmens" und handelte außer der Gegenstandsbestimmung auch die Rolle der tragenden Persönlichkeiten (Schriftleiter und Verleger) ab. Das zweite Kapitel vereinigte alles, was zur Nachricht gehört, also nicht nur Definition, sondern auch das Wirtschaftliche und Organisatorische, das zunächst im zweiten Band stand. Das dritte Kapitel des ersten Bandes war jetzt „Meinung und Überzeugung in der Zeitung" überschrieben und enthielt auch die Ausführungen zu den Formen des journalistischen Ausdrucks. Im zweiten Band folgten in der Ausgabe von 1937 die Kapitel über die Schriftleitung sowie — ursprünglich im ersten Band untergebracht — über „Technik und Wirtschaft im Zeitungsbetrieb". Den Abschluß bildete ein kurzer Abschnitt zur Zukunft des Zeitungswesens. Die hiermit geschaffene Stoffgliederung hat Emil Dovifat nicht nur in der weiteren Kriegs-, sondern auch in den Nachkriegsauflagen nahezu unverändert beibehalten. Sie hatte sich von der Sache her offenbar bewährt, so daß er daran nicht rühren mochte. Was er darstellen wollte, fand darin seinen festen Platz und brauchte nur „aktualisiert" zu werden. Kleinere Änderungen betrafen allenfalls den Sprachgebrauch. So wurde der Begriff „Die Schriftleitung", der infolge der Deutschtümelei im Dritten Reich üblich war, seit der dritten Auflage (1955) durch „Die Redak35
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Vgl. ebd. Emil Dovifat: Zeitungslehre I (1. Bd.) (1937) S. 5.
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tion" ersetzt. In dieser wurde dem ganzen ein Abschnitt „Die Zeitung im öffentlichen Leben" vorangestellt, in dem sich Dovifat gewissermaßen von der Nazi-Zeit und der Instrumentalisierung der Zeitung in der Diktatur distanzierte. In der Ausgabe von 1962 trat ein weiteres „Vorwort" hinzu, um die Zeitungslehre als Teil der Allgemeinen Publizistik und in ihrem Verhältnis zu den jüngeren Massenmedien einzuordnen. Bei der Umarbeitung der Ausgabe, die 1937 erschien, blieben — nach einer Schätzung des Dovifat-Biographen Benedikt — 70 Prozent des Textes der Erstausgabe erhalten.37 Bei der Herstellung der Nachkriegsausgaben war der Anteil identischer Textpassagen eher noch größer. Was jetzt wegfiel, waren die auf die Situation der Presse im Dritten Reich bezogenen Passagen, insbesondere die zur damaligen Rechtslage, aber auch eine Reihe sonstiger einschlägiger Stellen, die überholt oder inzwischen inopportun waren. Wenn gleichwohl große Teile weiter Bestand haben konnten, so spricht dies doch für den sachlichen Gehalt der Göschen-Bände als „Materialsammlungen". Die Veränderungen in den Nachkriegsauflagen der „Zeitungslehre" hielten sich folglich in Grenzen. Das neue Presserecht mußte eingearbeitet werden, womit generell einherging, die Aufgabe der Presse in der Demokratie zu verdeutlichen. Bemerkenswert ist ferner, daß mit der Auflage von 1955 einige Seiten über den Leser hinzutraten, die allerdings etwas willkürlich am Schluß dem Abschnitt „Technik und Wirtschaft im Zeitungsbetrieb" angehängt wurden.38 Immerhin war dies der bescheidene Versuch, die Systematik der „Zeitungslehre" zu ergänzen und etwas stärker die schon von Everth als Defizit beklagte „Ausstrahlung" der Zeitung nach außen mit einzubeziehen. Im übrigen wurden die Nachkriegsauflagen der „Zeitungslehre" vor allem (nur) durch einzelne Fakten, neue Daten und weitere Literaturangaben ergänzt. Doch selbst dies geschah eigentlich nur punktuell. Hier fehlte es zudem an Sorgfalt. Mit Recht kritisierte Walter J. Schütz in einer Rezension der 1962er Auflage, die Fußnoten böten „zwar Belege und ergänzende Literaturhinweise in erfreulich großer Zahl, enthalten aber neben vielen Willkürlichkeiten der Zitierweise auch eine ganze Reihe von unrichtigen, verstümmelten oder sich widersprechenden Quellenangaben ,.."39 37
Vgl. Klaus-Ulrich Benedikt a. a. O. S. 152. Emil Dovifat: Zeitungslehre. 2 Bde. 3. neubearbeitete Aufl. Berlin 1955. 1. Bd. S. 139 ff. 39 Walter J. Schütz: Rezension Emil Dovifat Zeitungslehre I und (1962). In: Publizistik 8 (1963) S. 642. 38
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Konzeptionell blieb die „Zeitungslehre" über die verschiedenen Auflagen hinweg ziemlich konstant. Ihre Grundgedanken und die einmal gefundene Strukturierung blieben weitgehend erhalten. Dovifats Anschauung vom Wesen der Zeitung hat sich nicht verändert, wenngleich die politischen Verhältnisse andere Akzente zur Folge hatten. Und die deutsche Zeitungswissenschaft tat auch wenig, was zu einer weiterreichenden Umarbeitung der „Zeitungslehre" gezwungen hätte. Das gilt zumal für die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, die sich dieses Konzeptes durchaus zu bedienen suchte.40 Die Feststellung ist aber auch für die frühe Nachkriegszeit zutreffend, in der die akademische Zeitungswissenschaft in der Bundesrepublik eher stagnierte, von gewissen Ansätzen bei Walter Hagemann vielleicht abgesehen. Erst die Rezeption der lange außerhalb des deutschen Blickfeldes liegenden, sozialempirisch orientierten amerikanischen Kommunikationsforschung hätte zu einem Überdenken führen müssen. Benedikt glaubt zwar, dergleichen bei der Auflage von 1967 dann feststellen zu können: „Er [d. h. Dovifat] reicherte den Text mit wesentlich mehr und mit ausführlicheren Fußnoten an und baute vor allem in die Fußnoten sozialwissenschaftliche Erkenntnisse ein, um den psychologischen Hintergrund seiner Lehrsätze zu belegen. Dazu griff er auf demoskopisch-statistische und soziologischtheoretische Erkenntnisse zurück ..."41 Aber diese Behauptung erweist sich bei genauerer Nachprüfung doch als übertrieben. Schon daß hier vor allem von Fußnoten die Rede ist, weist darauf hin, daß der Text selbst von dieser Rezeption ziemlich unberührt blieb. (Übrigens hatte Dovifats Schüler Kurt Reumann bei dieser „Bearbeitung" mitgewirkt.) Erstaunlich ist das Ausmaß der Konstanz von Dovifats „Zeitungslehre", weil sie in drei verschiedenen politischen Systemen gebraucht wurde und den Umbruch zwischen Systemen totalitärer und demokratischer Art überstand. Damit war sie in symptomatischer Weise eingebunden in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Entworfen in der ungefestigten, stets bedrohten und schließlich gescheiterten Demokratie der Weimarer Republik, erschienen zwei Auflagen der „Zeitungslehre" unter der nationalsozialistischen Herrschaft und nach dem Zweiten Weltkrieg nochmals drei in der demokratisch verfaßten Bundesrepublik (von der sechsten, nicht mehr vom Verfasser selbst verantworteten Auflage 40
Vgl. dazu auch die Rezension von Karl d'Ester. In: Zeitungswissenschaft 12 (1937) S. 242 f. 41 Klaus-Ulrich Benedikt a. a. O. S. 156.
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abgesehen). Wie — und dies ist die Frage nach dem politischen Aspekt der Veränderung der „Zeitungslehre" — hat Dovifat diese Übergänge „bewältigt"? Daß Emil Dovifat die Ausgabe der Göschen-Bände 1937 auf den ministeriellen Lehrplan abstellte, wurde schon gesagt. Aber die Anpassung betraf nicht nur Gliederung und Aufbau, sondern erstreckte sich auch auf den Inhalt der „Zeitungslehre". Dies war schon in der Auflage von 1937 der Fall, verstärkte sich aber unter den Kriegsumständen 1944 noch. Schier unvermeidlich war, auf das 1934 in Kraft getretene Schriftleitergesetz einzugehen. Und auch das Verbot der Kunstkritik, die durch die „Kunstbetrachtung" zu ersetzen war, hat Dovifat nicht nur wiedergegeben, sondern geradezu gerechtfertigt, wenn er vom Kampf gegen die „Ich-Tyrannei des Kritikers"42 sprach. Noch problematischer erscheinen jene (Um-)Formulierungen, mit denen Dovifat im Nationalsozialismus der Zeitung die Aufgabe attestierte, „in geschlossener Führung zur inneren Einheit des Volkes"** beizutragen. Die „Meinungsbildung" wurde zur „Willensbildung" erhoben, aus der „Meinungsstilform" die „Führungsstilform" gemacht.44 Ähnliche Wendungen finden sich mehrfach, wobei kritische Bemerkungen über die Presse der liberal-demokratischen Staaten und deren „doktrinäre" Pressefreiheit hinzu kommen. Schließlich fehlt es nicht an direkten Zitaten von Joseph Goebbels, Max Amann oder Hitler selbst. „Für die Arbeit der Zeitung sehr klärend ist die Begriffsbestimmung des Politischen, die Adolf Hitler gegeben hat",45 so heißt es einmal. Aber was er dann zitiert, ist ein vergleichsweise unverfänglicher Sachverhalt. An der Bewertung solcher Aussagen und Zitate scheiden sich die Geister. Muß man sie als zwangsläufige oder gar bereitwillige Zugeständnisse, ja als Zeichen des Einverständnisses begreifen, zumal wenn im Denken in Kategorien der „Führung" gewisse Affinitäten zu bestehen scheinen? Oder war es der unvermeidliche Tribut, ohne den die „Zeitungslehre" und anderes zu publizieren nicht mehr möglich war? Und wo verläuft die Grenze zwischen bloßer Schilderung und dem Sichidentifizieren? Wie immer ist es schwierig, Formulierungen, die unter den Bedingungen einer Diktatur gemacht wurden, nachträglich ange42
Emil Dovifat: Zeitungslehre I (1944) Bd. 2. S. 71. Emil Dovifat: Zeitungslehre I (1944) Bd. 1. S. 57. 44 Ebd. S. 128. 45 Emil Dovifat: Zeitungslehre I (1944) Bd. 2. S. 39.
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messen nachzuvollziehen und einzuordnen. Und einzelne „Stellen" können auch durch das Gesamtverhalten einer Person relativiert werden. Schließlich darf man sonstige und zumal ambivalente Aussagen nicht übersehen, die in einer Diktatur einen ganz anderen Signalwert innegehabt haben können. Immerhin steht in der Auflage der „Zeitungslehre" von 1944 auch noch folgender Satz: „Eine Presse, die nur diktatorischen Anordnungen gehorcht und in dem Ausdruck ihres Führungswillens nicht ebenso wie der Staat das Vertrauen des Volkes besitzt, könnte gefährlicher werden, als die Presse liberal-demokratischer Prägung es je gewesen ist."46 Und war es unter den damaligen Verhältnissen nicht vielsagend, wenn Dovifat in bezug auf die berufsständische Ordnung des Journalismus davon sprach, „daß jeder in ihrem weiteren Bereich Tätige sich ganz und gar einordnet, aber dann auch im Dienst für die Gemeinschaft die Bewegungsfreiheit erhält, die für jede geistige Leistung unerläßlich ist."47 Nach den Worten von Klaus-Ulrich Benedikt hat Dovifat die „Stellen, die 1944 auf die damals aktuellen politischen und journalistischen Bedingungen Bezug nahmen, ... im Jahre 1955 größtenteils getilgt; zum kleineren Teil ließ er sie als Kontrast stehen."48 In einer Anmerkung zu dieser Neuauflage nannte der Verfasser jetzt selbst die zweite Auflage von 1944 eine „verhältnisbedingt aus Zitaten gearbeitete Darstellung des Pressesystems im Hitler-Regime ..., mit den negativen Vorzeichen zwischen den Zeilen, die damals verständlich waren, aber heute aus dem Zusammenhang gerissen oft mißverstanden werden."49 Wenn er davon sprach, totalitäre Systeme hätten das Wesen der Zeitung umgekehrt, so richtete sich das 1955 nicht nur (im Rückblick) gegen die Nationalsozialisten, sondern auch (aktuell) gegen die Verhältnisse, wie sie die Sowjets in Deutschland in der von ihnen besetzten Zone hatten entstehen lassen (und mit diesen hatte Dovifat selbst seine Erfahrungen gemacht). Dagegen stellte er jetzt programmatisch an den Anfang der „Zeitungslehre" die Sätze: „Im öffentlichen Leben der freien Welt ist die Zeitung somit ein Mittel sachlicher Unterrichtung und unabhängiger Meinungsbildung. Sie ist ein Organ der Demokratie, deren Aufstieg sie immer mitbestimmt und deren Niedergang sie immer mitverschuldet."50 Vielleicht 46
Emil Dovifat: Zeitungslehre I (1944) Bd. 1. S. 20. Ebd. S. 45. 48 Klaus-Ulrich Benedikt a. a. O. S. 154. 49 Emil Dovifat: Zeitungslehre (1955) 1. Bd. S. 6. Anm. 1. 50 Ebd. S. 6. 47
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lag im letzteren andeutungsweise auch das Eingeständnis einer eigenen Schuld. Daß Dovifats „Zeitungslehre" in den fünfziger Jahren mit vergleichsweise geringen Veränderungen neu aufgelegt und „ohne große Mühe"51 an die neuen politischen Verhältnisse angepaßt werden konnte, hat Benedikt auf ihren politischen Charakter zurückgeführt, „indem sie die politische Aufgabe der Presse in jeder Staatsform zu rechtfertigen wußte."52 Diese Erklärung erscheint mir jedoch unbefriedigend, zumindest nicht hinreichend. Wenn der Wandel der Neuauflagen „mit so geringen Mitteln"53 zustande kommen konnte, so lag dies zunächst einmal daran, daß die Göschen-Bände großenteils relativ ideologiefreie Unterrichtung über das Zeitungswesen enthielten. Es hatte sich ja nicht um ein Lehrbuch des nationalsozialistischen Journalismus gehandelt. Große Passagen konnten daher nahezu identisch beibehalten werden. Und auch wenn die politische Zielrichtung sich änderte, zu einer Revision seiner Grundanschauungen von der Zeitung sah sich Dovifat nicht veranlaßt.
VI Daß Dovifats „Zeitungslehre" nach dem Zweiten Weltkrieg drei weitere Auflagen erlebte, ohne daß sich in Systematik und Sachgehalt sehr viel änderte, hatte nicht zuletzt mit der besagten Stagnation in der deutschen Zeitungs- und Publizistikwissenschaft jener Jahre zu tun. Zudem waren die Göschen-Bände als Einführungsliteratur geradezu konkurrenzlos. Erst mit der Rezeption der anglo-amerikanischen Kommunikationsforschung setzte hier seit Mitte der sechziger Jahre ein Wandel ein, durch den die alte „Zeitungslehre" sehr rasch als überholt gelten mußte. Wesentliche Impulse gingen dazu von Gerhard Maletzkes Buch „Psychologie der Massenkommunikation" (1963) sowie von der Berufung der Dovifat-Schülerin Elisbeth Noelle-Neumann an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (1964/65) aus. Sie leitete eine wissenschaftliche und methodische Neuorientierung ein, die große Ausstrahlung in der Bundesrepublik gewann und entscheidend zu einem Umbruch in der Disziplin beitrug. 51
Klaus-Ulrich Benedikt a. a. O. S. 155. Ebd. 53 Ebd. 52
Standardwerk oder Materialsammlung?
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Der Wandel der Publizistikwissenschaft zu einem sozialwissenschaftlich fundierten, mit empirischen Methoden der Datenerhebung arbeitenden Fach vollzog sich explizit oder implizit im Gegensatz zur Normativität, welche die „Zeitungslehre" durchzog. Dovifat selbst hielt dagegen an seinem normativen Ansatz fest, nicht zuletzt wohl vor dem Hintergrund der erst kurz zurückliegenden historischen Erfahrungen. Im ersten Jahrgang der Fachzeitschrift „Publizistik" schrieb er 1956 über seine Disziplin: „Als Geisteswissenschaft nimmt sie ernstes Wahrheitsstreben und objektive Wertungsnormen für sich in Anspruch. Sie ist dazu doppelt gehalten bei dem von heftigster Subjektivität und wilden Leidenschaften durchtobten Objekt ihrer Forschung. Die erschweren das sachliche Urteil, sie machen es aber auch nur möglich, wenn die Disziplin sich zu einem normativen Urteil bekennt. So wie der Arzt gesunde und kranke Keime unterscheidet, muß auch die wissenschaftliche Betrachtung publizistischer Vorgänge zwischen Wahrheit und Lüge, Freiheit und Zwang unterscheiden und die Dinge deutlich beim Namen nennen."54 Und noch 1964 formulierte er: „Es versteht sich von selbst, daß sich bei der Gesinnungsnatur aller publizistischen Vorgänge, von der simplen Nachrichtenübermittlung bis zur großen publizistischen Aktion, das Fach keineswegs wertfrei forschen, geschweige denn lehren kann.... Die normative Natur unserer Disziplin ist also unerläßlich."55 Mit dieser Auffassung stand Dovifat zunehmend konträr zur Fachentwicklung. Keine deutlichere Formulierung des Gegensatzes ist denkbar, als wenn man dazu Fritz Eberhard, Dovifats Nachfolger in der Vertretung des Faches an der Freien Universität Berlin, zitiert. Er schrieb 1961: „Die Publizistikwissenschaft ist eine werturteilsfreie Wissenschaft im Sinne von Max Weber. Sie hat sich nicht darum zu kümmern, ob ein Ziel — sei es im Bereich der Politik oder der Ästhetik — wertvoll und daher erstrebenswert ist. Sie hat nur festzustellen, wie die publizistischen Mittel im Hinblick auf gegebene Ziele wirken, welche also, wenn ein Ziel erreicht werden soll, eingesetzt werden müssen."56 Je mehr sich die Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus mit der aus ihr fol-
54
Emil Dovifat: Publizistik als Wissenschaft. In: Publizistik l (1956) S. 3—10. Hier
S. 9. 55
Emil Dovifat: Aufgaben der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 9 (1964) S. 347 f. Hier S. 347. 56 Fritz Eberhard: Thesen zur Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 6 (1961) S. 259—266. Hier S. 264.
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genden Methodik durchsetzte, desto mehr wurde Dovifats normativem Ansatz der Boden entzogen. Dovifats „Zeitungslehre" hatte, worauf schon der Titel deutlich hinweist, einen stark praktischen Zuschnitt. Darin lag ja gerade ihr besonderer Wert, nämlich in der geglückten Verbindung einer profunden Vertrautheit mit dem Handwerk des Journalisten und dem Bemühen, solche Erfahrungen in systematischer Erkenntnis zu ordnen und zu durchdringen. Dieses Vorgehen hat man später als „Praktizismus" kritisiert. Vornehmlich Manfred Rühl, der einem systemtheoretischen Denken verpflichtet ist, hat sich gegen Dovifat als „maßgebenden Vertreter des journalistischen Praktizismus" gewandt.57 Er nimmt Anstoß an dessen essentialistischer Begriffsbildung, an der Betonung der personalen Aspekte des Journalismus und spricht von einer „stark idealisierten Journalismusidee". Fragwürdig sei das Operieren mit intuitiven Ideen und Metaphern, während Aussagen auf einem höheren Abstraktionsniveau fehlten. „Nicht die systematische Beobachtung und die empirisch testende Analyse journalistischer Zusammenhänge sind ihr [d. h. der praktizistischen Forschung] Gegenstand als vielmehr die Ausbreitung des aufgespürten Einzelfalles, die Hervorhebung des Kuriosums und die Wiedergabe der Anekdote."58 Kritisiert wurde Dovifat schließlich, weil man in ihm — nicht ohne Grund — einen Vertreter der sogenannten „Begabungsideologie" sah, d. h. der Auffassung, daß man zum Journalisten „geboren" sein müsse. „Die journalistische Begabung*, so hieß es dazu unmißverständlich in der „Zeitungslehre", „liegt gleich der künstlerischen in der Persönlichkeit. Sie kann durch Studium und Erfahrung zur Entfaltung gebracht werden, ist jedoch nicht anzulernen oder zu erarbeiten."59 Daß man einer solchen Auffassung gerade in der journalistischen Praxis anhing, hat die Bemühungen zu einer verbesserten, akademischen Journalistenausbildung in Deutschland allzulange behindert. Daran änderte sich erst etwas, als man von der „Begabungsideologie" abzugehen begann. Ohne dies wäre es kaum zum Ausbau der akademischen Journalistenausbildung in Deutschland seit den siebziger Jahren gekommen.
57
Manfred Rühl: Journalismus und Gesellschaft. Bestandsaufnahme und Theorieentwurf. Mainz 1980. S. 25 u. ff. 58 Ebd. S. 34. 59 Emil Dovifat: Zeitungslehre (1955) 1. Bd. S. 30.
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Noch eine weitere Angriffslinie auf Dovifats „Zeitungslehre" kam hinzu. Merkwürdigerweise entstammte sie ihrerseits normativen Theorien. Die mit der Studentenbewegung der sechziger Jahre vordringenden neomarxistischen Ansätze machten zwangsläufig auch vor der Analyse der Massenmedien nicht halt.60 Sie behaupteten die Dominanz der ökonomischen Motive im Zeitungsbetrieb, die Dovifat nur als ein Element neben den geistigen und technischen Kräften gelten ließ. Die Zeitung wurde zum kapitalistischen Unternehmen und der Verleger zu einer Figur gestempelt, dem es allein auf „Gewinnmaximierung" ankomme, der die journalistische Freiheit bedrohe und die Manipulation der öffentlichen Meinung im Sinne seiner eigenen Interessen betreibe. Unter solchen Vorzeichen mußte Dovifats Auffassung vom Zeitungsverleger, wie er sie auch in der „Zeitungslehre" entworfen hatte, konservativ, wenn nicht „reaktionär" erscheinen. Den Einwänden gegen Dovifats „Zeitungslehre", so zutreffend sie in vielerlei Hinsicht sind, muß man zunächst mit historischer Gerechtigkeit begegnen. Entworfen wurde sie Anfang der dreißiger Jahre, als es die Systemtheorie noch nicht gab und auch die Ansätze der empirischen Sozialwissenschaft — trotz älterer Traditionen — nur rudimentär vorhanden waren.61 Dovifat selbst entstammte im wesentlichen einer geisteswissenschaftlichen Studienrichtung (Germanistik, Geschichte), seine zeitungswissenschaftliche Bildung hatte er vor allem durch Karl Bücher erhalten, der seinerseits der historischen Schule der Nationalökonomie angehörte. Bedingt waren dadurch die Bedeutung des literarischen und historischen Beispiels in Dovifats Darstellung ebenso wie das Gewicht, das der Erklärung des Zeitungsbetriebs als Wirtschaftsunternehmen zukam. Auch wenn die „Zeitungslehre" später als unzureichend empfunden wurde, so war sie doch Ausdruck einer bestimmten disziplingeschichtlichen Situation gewesen. Einen erheblichen Anteil an der Herausbildung der Zeitungswissenschaft im 20. Jahrhundert in Deutschland wird man ihr und ihrem Verfasser nicht absprechen können. Überdies muß man prüfen, ob nicht doch in Dovifats eigener Theorie mehr vorwärtsweisende Ansätze und bedenkenswerte Überlegungen enthalten sind, als es auf den ersten Blick und unter dem Deckmantel 60
Vgl. z. B. Horst Holzer: Massenmedien und Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 1969. 61 Vgl. dazu Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Paul F. Lazarsfeld. Die Wiener Tradition der empirischen Sozial- und Kommunikationsforschung. München 1990.
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einer „vormodernen" Begrifflichkeit den Anschein hat. Wenn die „Zeitungslehre" von Beginn an so stark auf die „Wechselwirkung" der die Zeitung konstituierenden geistigen, technischen und wirtschaftlichen Kräfte abhebt, so kann man darin bereits das Modell eines systemtheoretischen Denkens erkennen, insofern Systeme als Gebilde begriffen werden, deren Elemente in wechselseitiger Abhängigkeit stehen. Ohne über diesen abstrakten Begriff zu verfügen, scheint er hier doch „intuitiv" erkannt. Und wenn Dovifat an die amerikanische Journalistenregel „Keep readers in mind!" mahnte, so sprach er im Grunde von „Rückkopplung", ohne diesen kybernetischen Terminus zu gebrauchen (oder nur zu kennen). Zudem war er mit manchen seiner Erfahrungen, wie empirische Untersuchungen bestätigten, der Realität näher als bestimmte, von ideologischen Vorannahmen ausgehende „Theoretiker". Dovifat verstand es jedenfalls, die SpannungsVerhältnisse deutlich zu machen, unter denen die Zeitung entsteht, ohne dabei auf einseitige Verabsolutierungen zu verfallen. Ferner mehren sich in den letzten Jahren die Anzeichen, daß der gänzliche Verzicht auf normative Fragen der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft nicht gut bekommen ist. Die Renaissance des Themas journalistische Berufsethik macht dies deutlich. Sicher wird man dabei nicht mehr so einfach moralisierend vorgehen können, wie Dovifat dies tat. Aber in der Dringlichkeit, mit der man sich diesem Thema zuwenden muß, kann man sich durch ihn ermutigt sehen. Schließlich: Auch wenn man Dovifat für die „Begabungsideologie" (mitverantwortlich machen kann, so hat er sich doch große Verdienste um die Journalistenausbildung in Deutschland erworben, nicht nur als Universitätslehrer im engeren Sinne, sondern auch durch Initiativen in der journalistischen Weiterbildung.
VII Im Jahre 1976, sieben Jahre nach Emil Dovifats Tod, erschien eine letzte, sechste Auflage seiner „Zeitungslehre" in der Sammlung Göschen.62 Ich selbst habe sie dafür grundlegend neu bearbeitet; und einige Bemerkungen dazu sollen deshalb am Schluß dieses Beitrags stehen. Als der Verlag Walter de Gruyter deswegen an Elisabeth Noelle-Neumann 62
Vgl. Emil Dovifat: Zeitungslehre. 2 Bde. 6., neubearbeitete Auflage von Jürgen Wilke. Berlin, New York 1976.
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und über sie an mich herantrat, habe ich sehr gezögert. Ja es bedurfte eines ziemlichen Durchringens, um diese Aufgabe anzupacken. Denn sie war undankbar, um nicht (mit Dovifats eingangs zitierten Worten) zu sagen „qualvoll". Denn ich war mir der Notwendigkeit bewußt, daß man es nicht bei einer weitgehend identischen Fassung wie bei den Vorauflagen bewenden lassen konnte. Um eine dem fortgeschrittenen Entwicklungs- und Problemstand angenäherte Darstellung zu erhalten, war eine tiefgreifende Überarbeitung erforderlich. Sie konnte sich nicht auf die Beifügung aktueller Daten und neuer Literatur beschränken, sondern ganze Passagen mußten aufgrund umfangreicher Recherchen neu geschrieben werden. Daß dies im Rahmen der alten „Zeitungslehre" geschah, machte die Zwiespältigkeit aus und hatte zur Folge, daß es im Ergebnis nicht ohne Kompromisse abging. Die kritische Aufnahme dieser Neuauflage bestätigte den Zwiespalt denn auch vollauf.63 Die Überarbeitung erfolgte in der Überzeugung, daß die „Zeitungslehre" immer noch eine (abermals Dovifat!) „konzentrierte Materialsammlung" darstellte, ja eine Hinführung zum Zeitungswesen bot, in die man sich einlesen konnte. Insofern bildete die Neubearbeitung den (vorläufigen) Ersatz für ein ausstehendes, dem mittlerweile erreichten Stand der Publizistikwissenschaft entsprechendes Lehrbuch. Zwar gab es seinerzeit schon eine Reihe neuer lexikalischer Werke und eine zunehmende Zahl von Spezialstudien. Aber eine systematische Einführung in die Systematik der Zeitung (wie auch der anderen jüngeren Medien) fehlte. Und diese fehlen heute merkwürdigerweise immer noch. Es ist, wie mir scheint, ein fortdauerndes Desiderat der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, daß sie keine medienspezifischen Lehrbücher (und auch kaum solche zu anderen Teil-Sachgebieten) hervorgebracht hat. Die Publizistikwissenschaft hat sich gewissermaßen in die Einzelforschung oder in Aufsatzsammlungen „geflüchtet", zeigt aber keinen Mut zur Synthese. Das ist einerseits zu begrüßen, weil Einzelforschung die Grundlage jeder (vorschnellen) Synthese ist oder sein sollte. Auch überblickt der einzelne natürlich immer weniger größere Gesamtgebiete. Doch bleibt das Desiderat bedauerlich. Zur Disziplinbildung gehört, daß eine Wissenschaft auch ihre eigenen Lehrbücher hervorbringt. Indessen fehlt der Publizistikwissenschaft bis heute ein ähnliches Werk, wie es die „Zeitungslehre" darstellte. Dovifat schuf noch eine Synthese und trug
63
Vgl. die kritische Rezension von Manfred Rühl. In: Publizistik 22 (1977) S. 212 f.
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damit zur Disziplinbildung bei. Noch hat die Publizistikwissenschaft etwas nachzuholen, was er ihr vorgezeichnet hat.
Schatten auf dem Bilde Emil Dovifats HERBERT KUNDLER
I
Manche zählen Emil Dovifat zu denjenigen, die im Rahmen des gerade noch Möglichen Distanz zum NS-System erkennen ließen, andere verurteilen seine an Bewunderung grenzende Würdigung der rhetorischen Fähigkeiten des Demagogen Hitler. Wie auch immer man sein Verhalten wertet, man sollte seinen Weg durch das Dritte Reich nicht isoliert von der Haltung der akademischen Kollegenschaft sehen. Die Anpassung einer großen Zahl, ja wahrscheinlich der Mehrheit deutscher Hochschullehrer an den damaligen „Zeitgeist" ist kein Ruhmesblatt unserer Universitäten. Wer die Heraufkunft des NS-Staates und dessen Praktiken nicht miterlebt hat und nun nachträglich über ein Wissen verfügt, das die schlimmsten Vorahnungen, die sich mit dem Aufbau der „Neuen Ordnung" verbanden noch bei weitem übertrifft, beurteilt vieles anders als die Zeitzeugen. Bei diesen wiederum ist zu unterscheiden zwischen denen, die schon deshalb Feinde des Nationalsozialismus waren, weil der NS-Staat ihnen Kampf, Eliminierung und Ausrottung angesagt hatte, und jenen, die nicht vom Tage der Machtergreifung an vor ihrer Ausmerzung standen. Ich bin ein Zeitzeuge der ersten Art; mir liegt wenig daran, Dovifat aus der Fülle derer herauszugreifen, die in Lehre und Forschung moralisch versagten oder ins Zwielicht gerieten. Solche Verstrickungen beschäftigen mich heute eher unter dem Aspekt, mit welcher Selbstgerechtigkeit manche die Hochschullehrer aus der ehemaligen DDR in den Anklagezustand versetzen. Doch nun sind wir nolens volens aus kalendarischen Gründen aufgefordert, zum 100. Geburtstag Dovifats über ihn nachzudenken, und es ergeht mir so, wie es Ortega in seiner rund sechzig Jahre zurückliegenden Vorlesungsreihe „Was ist Phi-
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losophie?" gesagt hat: „Sobald mein Denken anfängt zu existieren, fängt auch sein Objekt, das Gesehene, an zu existieren."1 Was ist das Gesehene und zunehmend Vergessene? In „Die deutsche Opposition gegen Hitler", einer bereits im Juni 1948 zunächst in den USA erschienenen Arbeit, die sich von oberflächlichen Vereinfachungen fern hält, beklagt Hans Rothfels, daß 1933 ein Aufstand der Geistigen ausblieb. Signale wie die Bücherverbrennung, die antisemitische Hetze, die Verfolgung von Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftlern, fürwahr, sie hätten Anlaß genug geboten; statt dessen dienten humanistisch gebildete, in der bürgerlichen Vorstellungswelt von Recht, Ordnung und Wohlanständigkeit erzogene deutsche Professoren sich reihenweise der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft" an, die einen Teil des Volkes als Unpersonen ausgliederte. Wie Recht hat Rothfels, wenn er schreibt, nur mit einem Gefühl der Scham könne man sich der Erfindung „deutscher Mathematik" und der vielen anderen Erscheinungsformen geistiger Prostitution erinnern. Als „unzweifelhaft wahr" erscheint es ihm, daß manche Richtungen im deutschen akademischen Leben einem übersteigerten Nationalismus vorgearbeitet hatten, zur Anarchie der Werte beitragend, wenngleich auch jene zu nennen seien, die sich nicht unterwarfen und sich „intakt hielten", führende Männer in Philosophie und Erziehungswissenschaft, in Geschichte und Jurisprudenz, in den philologischen Fächern, in Nationalökonomie und Physik. Rothfels machte nur wenige „Alte Kämpfer" an den Universitäten aus, doch „die Gleichschaltung des akademischen Lebens ging mit einer beschämenden Hast vor sich und kam oft der tatsächlichen Erzwingung, an der es nicht gefehlt haben würde, mit unnötigen Verbeugungen zuvor."2 Auch Karl Dietrich Bracher gelangt in „Die deutsche Diktatur" zu der Feststellung, daß den neuen Machthabern nach 1933 an den Universitäten „innere Schwäche, Wunschdenken und Verführbarkeit entgegenkamen, eine erschreckende Anfälligkeit für die Manipulationskünste und Drohungen des Nationalsozialismus". Er sieht ein „tief gestörtes Verhältnis von Macht und Geist, von Politik und Wertdenken" in einer überwiegend konservativ-nationalen Professorenschaft, die auf eine „ak1
Jose Ortega y Gasset: Was ist Philosophie? München: Deutscher Taschenbuchverlag 1967, S. 199. 2 Hans Rothfels: Die deutsche Opposition gegen Hitler — eine Würdigung. Krefeld: Scherpe Verlag 21951, S. 44^46.
Schatten auf dem Bilde Dovifats
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tionsdurstige Studentenschaft" mit frühen Sympathien für die Nationalsozialisten einwirkte.3 Seine Einschätzung ist der von Wolfgang Abendroth in einem Aufsatz „Die deutschen Professoren und die Weimarer Republik" sehr nahe: „Die ,unpolitisch'-antidemokratische Ideologie der Universitäten konnte ohne jede Schwierigkeit in die faschistische umschlagen, die vielen vor dem 30. Januar 1933 noch als zu .plebejisch* erschien und als zwar für die Studenten, nicht aber für arrivierte Hochschullehrer angemessen galt [...] Der ,normale' Professor der Weimarer Periode war also Gegner der Demokratie und auch der Weimarer Reichsverfassung. Er war kein Faschist oder Nationalsozialist. Aber er vermittelte seine Vorurteile an eine Studentenschaft, die sie in aktives Handeln umsetzte."4 Empirisch lassen solche Gesamteindrücke sich schwerlich nachweisen. Jedoch habe ich 1973 in einem Essay über „Faschistoides Verhalten" darauf hingewiesen, daß faschistische Prädispositionen durchaus systemunabhängig in das Selbstverständnis einer verunsicherten Mittelklasse einzufließen vermögen, wenn diese den Möglichkeiten erfolgreicher Selbstentfaltung in der Gesellschaft nicht mehr vertraut; die potentielle Identifikation erstreckt sich unabhängig von moralischen Wertungen auf jedwedes Herrschaftssystem, das autoritär vorgibt, über ein in der ideologischen Substanz unwandelbares Offenbarungswissen zu verfügen, aus dem heraus es einen gewissermaßen mit „höheren Weihen" ausgestatteten Herrschaftsanspruch ableitet und radikal durchsetzt. Dem faschistoiden Typ geht es nicht primär um Überzeugungen und die Orientierung auf überpersönliche Ideale, sondern um die Risikoabsicherung und Fürsorge, deren man durch Unterordnung und Loyalitätsbeteuerungen teilhaftig wird; er weiß, daß er durch solches Wohlverhalten sogar Macht über intelligentere und dynamischere Menschen erwerben kann und sich ihm mithin Aufstiegschancen öffnen, die sich ihm auf Grund seiner Fähigkeiten und seiner charakterlichen Defizite schwerlich er-
3
Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1967, S. 290—292. 4 Wolfgang Abendroth, in: Jörg Tröger (Hg.): Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 1984, S. 23 f.
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schlössen hätten.5 Man wird gewiß nicht fehlgehen in der Annahme daß neben den national-konservativen Bewußtseinshaltungen auch der schiere Opportunismus der gekennzeichneten Art die Situation an den Universitäten im NS-Staat wesentlich mitbestimmte. Vor diesem, hier nur in Umrissen ins Gedächtnis zurückgerufenen Hintergrund und Milieu sind Position und Wirken Dovifats während des Dritten Reiches zu sehen; es ist diese makabre Szenerie, die es verständlich werden läßt, warum ehemalige Studenten Dovifats wie Elisabeth Noelle-Neumann bekunden, ihn als einen akademischen Lehrer empfunden zu haben, der sich vom herrschenden System und dessen Ungeist nicht wirklich hatte vereinnahmen lassen.
II In der Tat paßte Dovifat aus sittlich-religiösen Gründen nicht in den Nationalsozialismus hinein. Er hat dies anfangs zum eigenen Nachteil deutlich werden lassen. Als ein Beispiel dafür mag gelten, daß er sich von einer Resolution distanzierte, die sich für die Ausschaltung der jüdischen Zeitungsmacher in Ostdeutschland aussprach. Ein Märtyrer des Widerstands ist er aber dann nicht geworden. Der vorübergehenden Suspendierung vom Amte folgte schon bald die Wiedereinstellung. Angesichts dessen fragt man sich, auch direkt bezogen auf die Inhalte seines Faches und auf seine verbandspolitischen Aktivitäten: Was mag in ihm vorgegangen sein, als er den Lehrstuhl wiedereinnahm? Im Rahmen des sogenannten Reichskulturkammergesetzes war am 22. September 1933 die „Reichspressekammer" geschaffen worden. Der Reichsleiter der Presse der NSDAP, Max Amann, übernahm die Präsidentschaft des Zeitungsverlegerverbandes und trug dafür Sorge, daß in den Jahren 1933/34 1473 Verlegern die Aufnahme in die Kammer verweigert oder ihr Ausschluß aus der Kammer verfügt wurde.6 Das Reichsschriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 gab dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, die Möglichkeit, durch Kontrolle der Berufsliste sämtliche unerwünschten Redakteure zu 5
Herbert Kundler, in: R. Kurzrock (Hg.): Ideologie und Motivation. Berlin: Colloquium Verlag 1973, S. 148 f. 6 Peter de Mendelssohn, in: 100 Jahre Ullstein 1877—1977. Bd. 3. Berlin: Ullstein Verlag 1977, S. 203 f.
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entfernen, namentlich Journalisten jüdischer Abstammung, Liberale und Linke aller Schattierungen.7 Damit war die wirtschaftliche und geistige Beherrschung der Presse durch den Nazistaat gesichert, wenige Monate, nachdem durch die Unterstellung des Reichsrundfunks unter Goebbels auch dieses Medium gleichgeschaltet worden war. Man kann nicht umhin, sich vor Augen zu führen, daß für einen mit der staatsfreien Presse der Weimarer Republik aufgewachsenen Fachmann der Publizistik und des publizistischen Verbandswesens — nicht zuletzt als solcher hatte Dovifat Statur gewonnen — ein ganzes Lehrgebäude einstürzen mußte, wenn das gesamte plurale System einem Amann und einem Goebbels ausgeliefert wurde und dies in der skrupellos in aller Öffentlichkeit verkündeten Absicht, jegliche Kritik an Partei und Staat zu unterbinden und Weltanschauung und Politik des Nationalsozialismus jederzeit rechtfertigen und rühmen zu lassen. Konnte, durfte man da im Amte bleiben? Das Nazi-Regime sah in Dovifat keinen treuen Gefolgsmann, wenngleich auch er nun zwischen den „Ariern" und der „jüdischen Rasse" unterschied; in der äußeren Anpassung an Sprache und Inhalte der NSIdeologie und ihres Führerkultes ging Dovifat fortan sehr weit. Ob dies nur zu seinem Schütze geschah und aus dem höheren Interesse heraus, insgesamt einen sittlichen Einfluß auf die Studenten ausüben zu können, und ob die „camouflage" ihn in schwere Gewissensnöte stürzte, können Außenstehende nicht beurteilen. Der Aussagewert späterer Selbstzeugnisse ist begrenzt. Außerdem handeln Menschen nicht in jeder Situation und zu jedem Zeitpunkt ausnahmslos konsequent.
III Ob wir es nun Zeitungskunde oder Zeitungswissenschaft nennen: Mit dem zunehmenden Umfang und der sich mehrenden Bedeutung öffentlicher Kommunikation in einer sich pandemokratisch wandelnden Welt wurde es unabdingbar, den Gegenstand in die akademische Forschung und Lehre einzubeziehen. Dies wäre früher oder später auch ohne Dovifat geschehen; die Ansätze dafür waren ja, nicht zuletzt in Leipzig — 1916 hatte der Nationalökonom Karl Bücher das Leipziger Institut für Zeitungswissenschaft gegründet — bei Dovifats Berufung längst vorhan7
Ebd.
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den und an verschiedenen Orten weiterentwickelt worden. Zweifellos hat er dem Fach, auch durch seine verbands- und kirchenpolitischen Aktivitäten, zu vermehrter Resonanz verhelfen. Dabei mag förderlich gewesen sein, daß er in einer Periode drastischen gesellschaftlichen Umbruchs eine stabilisierende Einflußmacht journalistischer Eliten postulierte, denen er Meinungsführung und durch sie bewirkte Willensbildung als primäre Aufgabe zumaß. Obwohl er die Gesinnungsorientiertheit publizistischer Arbeit für eine Grundvoraussetzung hielt, blieb er selbst in der Kundgebung seiner eigenen Gesinnung sehr allgemein und wenig geneigt, der logischen Funktion der Wertmaßstäbe und Begriffe, deren er sich bediente, methodisch nachzugehen, was der oft gerühmten rhetorischen Brillanz zugute gekommen sein mag. Jedoch war dies ein um so gravierenderes Manko, als er das akademische Lehramt in einer Zeit der Pervertierung der Werte und Begriffe neuerlich übernommen hatte, einer Zeitperiode, in der, folgt man Ortega, unter den Marken des Syndikalismus und des Faschismus erstmals ein Menschentypus erschien, der darauf verzichtete, Gründe anzugeben und Recht zu haben, und der sich, aus der Versenkung auftauchend, gleich einem vertikalen Eindringling in die Kultur unmittelbar in die direkte Aktion begab, ausgestattet mit Gemeinplätzen, die nur auf dem kahlen Felde der geistigen Trägheit Hinnahme und Jubel finden konnten. So sind denn „Meinungsführung" und durch sie ausgelöste Willensbildung als Dovifat'sche Vorgaben publizistischen Handelns in ihrer Loslösung von der realen Situation der Heraufkunft und Machtergreifung des Nationalsozialismus nahezu Leerformeln im Angesicht der Herausforderung, das brutal negierte Niveau des abendländischen Kulturprozesses und eine humane Daseinsorientierung durch die Wirkungsmacht von Publizistik zu wahren und zu verteidigen. Wie beliebig sich das Postulat einer gesinnungsorientierten Meinungsführung umsetzen ließ, machte Joseph Goebbels 1938 auf einem Reklamekongreß in Wien deutlich: „Wenn wir Deutschen heute Propaganda sagen, dann meinen wir ehrlichste Verkündung bester Wahrheit. Wenn wir Propaganda machen, dann sind wir Künder vollbrachter Taten, erlebter Leistungen und gesteckter Ziele. Für uns ist Propaganda Erziehungsarbeit, ist Formung der öffentlichen Meinung, nicht für heute und morgen allein, nein, unsere Propaganda soll wirken auf Jahrzehnte, auf Generationen, um in späteren Zeiten noch lebendig fortzuwirken. Welch ein Unterschied des Inhalts nun im gleichen Worte bei den anderen: die Vor-
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Stellung versteckter politischer Wühlarbeit, lichtscheuer Betriebsamkeit politischer Hasardeure. Bei uns aber ist festliche Repräsentation des Staates und der Partei ebenso Aufgabe der Propaganda wie die Betreuung der Kulturgüter der Nation und ihre Heranführung an die breiten Massen des Volkes. Wir lassen durch Propaganda unsere ganze Nation teilnehmen am politischen Geschehen, wir vermitteln ihnen das Verständnis für werdende und gewordene Gesetze, wir wecken sein soziales Gewissen und sein nationales Ehrgefühl. Wir zeigen ihm die Wurzeln seiner Kraft im Ahnenerbe und im Brauchtum seiner Väter. Das alles und vieles darüber hinaus verstehen wir unter dem Begriff der politischen Propaganda.8 Auch die im Ansatz elitäre Rolle, die Dovifat dem meinungsbildenden Journalisten zuweist, ließ sich nur allzu leicht in die Argumentation der braunen Machthaber einbringen. In einer nicht zur Veröffentlichung freigegebenen Rede erklärte Adolf Hitler am 10.11.1938 in München vor Chefredakteuren der deutschen Presse: „Ich höre so oft auch heute noch: das sind so liberalistische Rückstände, die Frage, die mir vorliegt — ja, soll man das nicht etwa doch jetzt einmal dem Volk anheimstellen? Ja, meine Herren, wissen Sie, ich bilde mir doch ein, daß ich einiges geleistet habe, jedenfalls mehr als mancher Schuhmacher und mancher Kuhhirt. Trotzdem kann es natürlich sein, daß ich mich mit den anderen Herren, die ebenfalls viel geleistet haben, über die Beurteilung eines Problems nicht ganz einig werde. Sicher ist aber, daß eine Entscheidung ja nun gefällt werden muß; ganz unmöglich ist es, daß sich die Fällung dieser Entscheidung, über die wir alle nicht ganz ins Klare kommen — die dann den Sennerinnen und den Wildbauern und den Schuhmachern in die Finger zu geben. Das ist unmöglich. Es spielt daher auch gar keine Rolle, ob eine solche Entscheidung ja letzten Endes ganz richtig ist — das ist gänzlich uninteressant: Entscheidend ist, daß hinter eine solche Entscheidung die ganze Nation wie eine geschlossene Truppe tritt. Das muß eine Front sein, und was dann an der Entscheidung nicht ganz richtig ist, wird gut gemacht durch die Geschlossenheit, mit der die 8
Joseph Goebbels, zit. nach Herbert Kundler/Ruprecht Kurzrock: „Denn das Volk ist dumm..." Eine Dokumentation zum Menschenbild totalitärer Propaganda. Berlin: Landesbildstelle 1960, S. 10.
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ganze Nation dahintersteht. Das ist wichtig in den kommenden Jahren, meine Herren. Nur so werden wir das Volk, ich möchte sagen, von einem Zweifel befreien, der das Volk nur unglücklich macht. Die breite Masse will ja gar nicht, daß sie belastet werde, die breite Masse hat einen einzigen Wunsch: daß sie gut geführt wird, und daß sie der Führung vertrauen kann. Und daß die Führung selber nicht streitet, sondern diese Führung geschlossen vor sie hintritt. Glauben Sie mir, ich weiß es ganz genau, im deutschen Volk wird nichts mit einer größeren Freude gesehen, als wenn ich zum Beispiel — sagen wir, an so einem Tag wie am 9. November, nun, auf der Straße gehe, und da stehen nun neben mir alle meine Mitarbeiter, und das Volk sagt: das ist der, und das ist der, und das ist der, und das ist der. Und die Menschen fühlen sich so geborgen bei dem Gedanken: Die halten alle zusammen, sie folgen alle dem Führer, und der Führer hält zu allen diesen Männern, — das sind unsere Idole! Vielleicht wird mancher Intellektuelle das gar nicht begreifen, aber diese kleinen Menschen da draußen, die sehen in all den Leuten, die da zusammen auftreten, irgendwie ein Objekt ihres Vertrauens. An die Leute hängen sie sich. Wenn sie nun vor sich so das Bild sehen, daß der Führer da kommt mit all den Leuten an seiner Seite, das beruhigt die Menschen derartig und macht sie so glücklich — sie wollen das sehen! Das Volk ist immer glücklich, wenn einige so zusammenhalten oben — das erleichtert so dem Volk gegenüber das Zusammenhalten. Das müssen Sie aber im ganz Großen verstehen, daß wir alles tun müssen, um dem Volk diesen Eindruck zu erhalten und zu bewahren. Es muß die Überzeugung bekommen, daß die Führung oben richtig handelt, und daß hinter dieser Führung alle stehen. Dann ist es auch der Führung psychologisch sehr leicht, in kritischen Situationen sich durchzusetzen."9 Dovifats Kriterien waren zu allgemein, als daß seine Beschreibung der Aufgaben des Journalismus deren Bindung an einen demokratischen Pluralismus als ein Essential hätte deutlich machen können. Alle diesbezüglichen Bemerkungen bleiben, vergegenwärtigt man sich die Brisanz des Gegenstandes, recht blaß. Als Beispiel dafür mag das folgende Zitat gelten, das allerdings manchem Leser auch eine positivere Interpretation als denkbar erscheinen lassen wird. 9
Ebd., S. 8 f.
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„Die normative Natur unserer Disziplin ist [...] unerläßlich. Selbstverständlich schließt sie rein zweckgebundene, etwa parteipolitische Verengung aus. Aber sie vollzieht sich immer und hat sich von jeher — seit der Antike — auf der Grundlage weltanschaulicher Haltungen vollzogen. Sie sollte das in liberaler Toleranz, wenn auch in deutlicher Haltung auch Systemen gegenüber tun, die das Gegenteil vertreten."10 Dovifat hat, will mir scheinen, die publizistische Szene phänomenologisch zu erfassen getrachtet und deskriptiv Erhebliches geleistet. Aus dem Geist der Aufklärung ist er nicht hervorgegangen. Dies hatte biographische Gründe. Dem Katholizismus des Apothekersohnes lag es näher, in bedeutenden Publizisten Verbreiter säkularen Offenbarungswissens zu sehen, das für ihn fast selbstverständlich aus einem nationalkonservativen, sozial orientierten Staats- und Gesellschaftsverständnis kam. Seine Weltoffenheit hielt ihn nicht davon ab, deutsches Leistungsvermögen in Wissenschaft, Wirtschaft und Publizistik mit nationalem Überschwang zu preisen. Das Streben nach Internationalität, wie es im linken Lager aus der Vorstellung der Klassensolidarität entstanden war — wobei man die Akzeptanz in der Arbeiterschaft allerdings nicht überschätzen darf, blieb ihm wesensfremd. Der Dovifat keineswegs fernstehende spätere Kanzler Heinrich Brüning besaß in seinem ordnungspolitischen Denken und in der Identifikation mit der Frontgeneration des I. Weltkrieges durchaus faschistoide Züge. Die Notverordnungsdemokratie war ihm kein großes Ärgernis. Später, als Emigrant in den USA, lehnte er es ab, die ihm von den Einwanderungsbehörden vorgelegte Frage „Are you loyal to the Allied cause of war?" zu bejahen — lieber Hitler ertragen und auf die Heraufkunft eines anderen Deutschland warten, das aus dem Geschichtsprozeß hervorgehen würde, als den Krieg zu verlieren. Ich bin persönlich 1950 Zeuge dieses Bekenntnisses geworden. Dies war das geistig-politische Klima, das, ebenso wie die in der Zentrumspartei entwickelten Vorstellungen, Dovifat während der Weimarer Republik umgeben hatte. Ich weiß nicht, wie er die Frage nach seinem Verhältnis zu den Mächten der Anti-Hitler-Koalition beantwortet hätte; die Antwort wäre gewiß auch davon abhängig gewesen, wieviel man als von den Aktivisten des NS10
Emil Dovifat: Aufgaben der Publizistikwissenschaft, in: Publizistik 9 (1965), H. 4, S. 347. — Zur Zeit der Veröffentlichung bestand keine Notwendigkeit verdeckten Argumentierens.
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Systems mit Mißtrauen bedachter Professor der Zeitungswissenschaft über Konzentrationslager, Holocaust und den Terror des Reichssicherheitshauptamtes wußte und wissen wollte. Beim Studium von Akten des Nürnberger Juristenprozesses an der Harvard Law School habe ich aus der Feder hochrangiger Beamten des NS-Systems erstaunliche Einlassungen vor Augen gehabt. Wie Ernst Fraenkel in seinem in den späten dreißiger Jahren in den USA veröffentlichten Werk „The Dual State" vermutet hatte, wurden die schlimmsten Verbrechen des NS-Systems unter Umgehung der offiziellen staatlichen Zuständigkeiten mit einem beträchtlichen Grad von Geheimhaltung begangen, so daß zumindest dem Ausmaß nach zahlreiche Staatsverbrechen sich tatsächlich als „Nacht und Nebel-Aktionen" vollzogen. Dennoch, Haßerfülltheit und moralische Verkommenheit des NS-Systems standen in der Zeitung, und über das Berufsbild des „Schriftleiters" und dessen Funktionen im NS-Staat konnte gerade ein Emil Dovifat keine Zweifel haben. Helmuth von Moltke, der, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, am 23. Januar 1945 hingerichtet wurde, schrieb im März 1943 an seinen einflußreichen britischen Freund Lionel Curtis: „In Norwegen oder Polen, in Griechenland, Jugoslawien oder Holland hat die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dieselbe Gesinnung. In Deutschland und in geringerem Maße in Frankreich ist das anders. Dort gibt es viele, die vom Dritten Reich profitiert haben und wissen, daß mit dem Ende des Dritten Reiches auch ihre Zeit zu Ende geht [...] Dann gibt es Leute, die nur als Gegengewicht zu dem vom Ausland auf Deutschland ausgeübten Druck die Nazis unterstützt haben und sich jetzt nicht ohne weiteres aus der Verstrickung befreien können. Selbst wo sie davon überzeugt sind, daß die Nazis Unrecht haben, meinen sie, dieses würde durch uns früher zugefügtes Unrecht aufgewogen. Außerdem gibt es, von Goebbels' Propaganda unterstützt, eine dritte Auffassung: wenn wir diesen Krieg verlieren, werden wir von unseren Feinden lebendig aufgefressen. Deshalb müssen wir dies mit Hitler durchstehen und können ihn erst danach los werden [...] Diese Ansichten werden Sie ebenso entschieden ablehnen wie ich, jedoch muß man sie als politisch wirksam in Rechnung stellen."11
11
Helmuth James Graf von Moltke: Briefe. Berlin: Henssel Verlag 1971, S. 24 f.
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Diese Einschätzung des politischen Meinungsbildes dürfte, wir können es nur vermuten, nicht fern von dem gewesen sein, was auch ein Mann wie Do vif at während der Kriegsjahre empfunden haben mag; immer wieder muß man im übrigen darauf verweisen, daß diejenigen, denen Hitlers totalitärer Führerstaat samt dem bombastischen NSMythos als geradezu unbegreifliche Deformation der politischen Kultur erschien, aufs äußerste durch die internationale Akzeptanz verunsichert worden waren, die das nationalsozialistische Deutschland als Veranstalter der Olympischen Spiele 1936 in Berlin gefunden hatte. Schließlich kann auch nicht außer acht bleiben, welche Rolle die offizielle Haltung der Katholischen Kirche für das Verhalten des Katholiken Dovifat gespielt haben dürfte. Karl Dietrich Bracher hat die beklagenswerte Entwicklung in wenigen Sätzen zusammengefaßt: „Mit ihrer Politik gegen ,Rom' gelang es den Nationalsozialisten, obwohl selbst vielfach katholischer Herkunft und wie Hitler Bewunderer der autoritären Organisation der katholischen Kirche, an populäre Strömungen des Antikatholizismus anzuknüpfen [...] Um so schwerer wog die Tatsache, daß sich die katholische Kirche unmittelbar nach Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes von der Zentrumspartei zurückzog und in direkten Verhandlungen, unter Preisgabe der politischen Organisationen, ihren Bestand zu wahren versuchte. Am 28. März 1933 revidierte die Fuldaer Bischofskonferenz die bislang ablehnende Haltung zum Nationalsozialismus. Bei aller Kritik an ,bestimmten religiös-sittlichen Irrtümern' glaubte sie im Blick auf Hitlers christlich-nationale Erklärungen ,das Vertrauen hegen zu können', daß ihre bisherigen ,Verbote und Warnungen nicht mehr als notwendig betrachtet zu werden brauchten'. Und um dieselbe Zeit tauchte der bisherige Zentrumsführer Prälat Kaas in Rom auf und begann, Hand in Hand mit Papen, Verhandlungen um ein Reichskonkordat, das beiden Seiten Vorteile versprach [...] Auch die fortdauernden Übergriffe gegen katholische Organisationen hinderten nicht, daß die Verhandlungen rasch vorangetrieben und am 8. Juli 1933, drei Tage nach der Auflösung des Zentrums, abgeschlossen wurden. Der Vatikan unter der Verhandlungsführung des Kardinalstaatssekretärs Pacelli (nachmals Pius XII.) konzidierte die Ausschal-
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tung der politischen und sozialen Organisationen und die Anerkennung des Regimes [...]"12 In „Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus" hat Karlheinz Descbner berichtet, wie der Kirchenrechtler Prof. Kaas als Vorsitzender der Zentrumspartei Hitler „aufrichtige Segenswünsche und die Versicherung unbeirrter Mitarbeit" übermittelte, die Auflösung des Zentrums forderte und unwillige Katholiken damit beschwichtigte, daß es nicht darauf ankomme, wer regiere, solange nur die Ordnung gewahrt bleibe. Auch erinnert Deschner an die Erklärung der Bayerischen Bischöfe vom 6. Mai 1933, in der, längst ist es vergessen, die geistige, sittliche und wirtschaftliche Erneuerung durch das Regierungsprogramm Hitlers gerühmt und die Forderung aufgestellt wurde, daß niemand sich grollend aus Entmutigung und Verbitterung der großen Aufbauarbeit entziehen solle.13 Wer, wie Dovifat, mit der Hierarchie der Katholischen Kirche aufgewachsen war, wird deren beschämendes Abrücken von den eigenen politischen Wirkungsmöglichkeiten im Rahmen der Zentrumspartei und die Anerkennung Hitlers bis hin zur Bejahung des Regierungsprogramms des NS-Staates ebenso als Rechtfertigung empfunden haben wie die Haltung der vielen national-konservativen akademischen Kollegen. Wahrscheinlich liegt hier die Antwort auf die zuvor gestellte Frage, wie Dovifat es angesichts der rigorosen Gleichschaltung von Presse und Rundfunk fertigbrachte, nach der Suspendierung in den Lehrsaal zurückzukehren. Die Darstellung solcher vermuteten Zusammenhänge vermag indes letztlich nicht auszuräumen, daß ein Lehrer der Publizistik sich zu jeder Zeit fragen lassen muß, welchen Stellenwert die Menschenrechte und die Solidarität mit den willkürlich Unterdrückten und Verfolgten für ihn besitzen. Es ist auch nicht so, als ob das katholische Milieu den Kurs der Anpassung rundum begünstigt und auf Dauer festgeschrieben hätte. Man denke an Bernhard Lichtenberg, nach dem I. Weltkrieg Stadtverordneter der Zentrumsfraktion in Berlin, 1932 Dompfarrer und Domprobst an der St. Hedwigs-Kathedrale. 1941 protestierte er in einem Schreiben an den Reichsärzteführer Dr. Conti im Reichsministerium des Inneren 12
Karl Dietrich Bracher, a.a.O., S. 419 f. Karlheinz Deschner in: Karl Corino (Hg.): Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus. Hamburg: Hoffmann und Campe 1980. S. 27 f. 13
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gegen die Tötung von Geisteskranken. Er prangerte die Untaten nicht theologisch als Verstoß gegen die heiligen zehn Gebote an, sondern als Mord nach § 211 RStGB oder zumindest als Begünstigung eines Verbrechens wider das Leben durch die Strafverfolgungsbehörde. Lichtenberg sprach von der „Last der Mitwisserschaft" und informierte die Reichskanzlei, die Reichsministerien und die Gestapo. Auch wies der Domprobst eine Beschwerde der Reichsregierung gegen das Verhalten der katholischen deutschen Bischöfe auf der Fuldaer Bischofskonferenz von 1941 zurück: „In rebus fidei et morum" bedürften die katholischen Bischöfe keinerlei Bevormundung; sie seien in diesem Felde selber Lehrer und Führer und hätten selbst der rechtmäßigen Obrigkeit ein warnendes ,Halt' zuzurufen. Lichtenberg wurde wegen Kanzelmißbrauches und Vergehens gegen das Heimtückegesetz am 22. Mai 1942 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, vor allem wegen einer Abendandacht vom 29. August 1941, die mit einem Gebet schloß, in welchem er die Worte sprach: „Laßt uns nun beten für die Juden und die armen Gefangenen in den Konzentrationslagern, vor allem auch für meine Amtsbriider."14 Nach der Gefängnishaft in Berlin-Tegel wurde er in das Konzentrationslager Dachau verbracht und starb am 3. November 1943 auf dem Transport. Schon angesichts der nationalsozialistischen „Sippenhaft" mußte ein Familienvater wie Dovifat doppelt und dreifach überlegen, ob und mit welchem Gefährdungsgrad er Widerstand leisten könne und dürfe. Dies gilt auch für viele andere: Dennoch stehen uns als Leitbilder jene vor Augen, die dem Terrorregime bis zur letzten Konsequenz entgegentraten. Legion ist die Zahl der während des Naziregimes in öffentlichen Ämtern tätigen Deutschen, von denen man nicht weiß, ob sie, als in eine böse Zeit Hineingeborene, in unlösbare Verstrickung gerieten, die ihnen vorzuwerfen Torheit oder Heuchelei wäre, oder ob sie, mehr oder minder gut gelitten von den braunen Machthabern, möglicherweise sogar gefährdet, das ihnen abverlangte Einverständnis mit dem NS-System mit durchaus geringeren inneren Vorbehalten simulierten — wenn es denn Simulation war —, als post festum vorgebracht. Einen Schlüssel zur jeweiligen Antwort gibt das Nachher: Ob es einer als Verpflichtung empfand, die im Lande verbliebenen Überlebenden des Widerstandes gegen den NS-Staat und die in die Emigration Getriebenen im eigenen beruflichen Wirkungskreis an der Neugestaltung Deutschlands zu beteiligen, 14
Annedore Leber in Zusammenarbeit mit Willy Brandt und Karl Dietrich Bracher: Das Gewissen steht auf. Mainz: v. Hase und Köhler 1984, S. 157 f.
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sie aufzufinden, sie zur Mitarbeit einzuladen und angemessen zu fördern. In unvertretbarem Ausmaß wurde dies den Alliierten überlassen, obgleich auch diese keineswegs jeden gerne zurückkehren sahen. Es hat den Anschein, als zähle Dovifat zu den Männern, die in ihrem etablierten Bezugsystem verharrten und keinen herzlichen Blick nach draußen richteten, auf die Emigranten, die eigentümlicherweise nie „Heimatvertriebene" genannt wurden.
IV
Vielleicht klärt der Workshop zum 100. Geburtstag Dovifats, ob der Schein trügt. Meine Fragen sind exemplarischer Natur. Hat Dovifat je versucht, Redakteure der deutschsprachigen jüdischen Zeitung „Aufbau" aus New York für Lehraufträge am Publizistischen Institut der Freien Universität Berlin zu gewinnen? Wurde Peter de Mendelssohn, Verfasser des Standard-Werkes „Zeitungsstadt Berlin" gewonnen, Hans Wallenberg, Ullstein-Mann und Ex-Chefredakteur der nun schon legendären „Neuen Zeitung"? Gab es Bemühungen um den „Weltbühnen"-Redakteur Walter Karsch? „Der Tagesspiegel" wurde dessen Forum, wie er auch Erik Reger seine Spalten öffnete. Und hat Dovifat Arbeiten vergeben über die NS-Publizistik, über die Berichterstattung zu den Urteilen des Volksgerichtshofes, über die publizistische Behandlung der Bekennenden Kirche im Dritten Reich, über das Bild der Geschwister Scholl im NS-Staat und in der Nachkriegspresse? Ich habe nicht nachgeforscht. Wäre es so, mein Bild von Dovifat würde sich ein wenig aufhellen. So ist mein Fazit, daß Emigranten und Experten der Alliierten weitgehend das ersetzt haben, was eine deutsche Zeitungswissenschaft nach den zwölf Jahren des Hitler- und Goebbelsstaates überzeugend hätte leisten müssen: Die Namhaftmachung derer, die nun mit Herausgeberlizenzen und Redakteursverträgen auszustatten waren, wenn es darum ging, den Ungeist zu überwinden. Er war ein Mann seines Faches, geprägt von den Strömungen der Zeit, mit einem Faible für ordnungspolitische Regelungen, vom Rhetorischen fasziniert, von der Notwendigkeit geistiger Führung in der Gesellschaft überzeugt, aber seltsam fern dem moralischen Impetus und der Solidarität, die die Schranken äußerer Ordnung und die Konventionen des Regelverhaltens durchbrechen. Wie man öffentliche Kommunikation strukturiert und umsetzt —- es erfüllte und beflügelte ihn. Die huma-
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ne Dimension, so scheint es mir, vermochte er nicht zu objektivieren. Ich habe die Auseinandersetzung mit ihm darüber nicht gesucht. Ein Problem der Disparität der politischen Erlebniswelt.
Nachtrag Am 12. November 1948 hat Emil Dovifat Gelegenheit, im Sender RIAS in einer Reihe „Berliner Forum" über die Gründung eines neuen Institutes für Publizistik zu sprechen.15 Seine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Publizistik beschränkt sich auf wenige Sätze. Prof. Dr. Emil Dovifat: Berliner Publizistik, 12.11.1948 „In diesen Tagen sind die ersten Mitteilungen über die Gründung der neuen freien Universität durch die Blätter gegangen. Dabei hat sich auch eine Nachricht gefunden, daß diese neue Universität ein Institut für Publizistik haben wird. Was heißt das? Das heißt, daß die Wissenschaft in Lehre und Forschung sich mit den Mitteln der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung beschäftigt. Diese öffentliche politische Meinungs- und Willensbildung und die dazu gegebenen Mittel — also Presse, Rede, Rundfunk, Film — bezeichnen wir generell als Publizistik. Publizistik ist also die in öffentlichen Angelegenheiten geübte Unterrichtung und Führung, die auf dem Wege der Gesinnung durch Überzeugung zur Tat, zum Handeln führt, selbstverständlich in absoluter Freiheit von Beeinflussung, im demokratischen Sinne des heutigen Staates. Die Mittel nun, die zu diesem Zweck angewandt werden können, sind außergewöhnlich mannigfaltig: mannigfaltig in ihrer Technik, schwierig in ihren einzelnen psychologischen Besonderheiten. Eines der ältesten Mittel ist die Rede, aber auch die Presse gehört zu den älteren Mitteln. Zu den jüngeren hingegen gehören Mittel wie der Rundfunk und der Film. Ich möchte mich heute besonders der Presse zuwenden. Wir haben in Berlin 17 Tageszeitungen, wir haben eine bunte Fülle von Meinungsäußerungen mannigfaltigster Art, die in vielen Blättern ihren Nieder15
Emil Dovifat: Berliner Publizistik. Vortrag im RIAS am 12. November 1948, in: Hans Herz: Berliner Forum. Hg. vom RIAS Berlin, 2 (1949), H. l, S. 26 f.
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schlag finden. Vor dem Jahre 1933 hatten wir in Berlin 75 Tageszeitungen. Das waren die vielen kleinen Vorortblätter, die diese große Zahl bedingten. Am Ende des Hitlerregimes waren noch ganze vier vorhanden. Heute sehen wir eine bunte Mannigfaltigkeit der Meinungsäußerungen, der Mitteilungsmöglichkeiten, der Zeitungstypen in Berlin. Aber der Berliner hat doch politischen Instinkt genug, und auch der einfache Mann begreift durchaus, welche große grundsätzliche Unterscheidung sich publizistisch zwischen den einzelnen Zeitungen ergibt, ob sie nun im Ostsektor lizenziiert sind, oder ob sie Lizenzen der Westsektoren tragen, ob sie also Blätter sind, die von der sowjetischen Lizenziierung ihren Ursprung nehmen oder von westlichen Lizenzen. Die Unterscheidung ist nicht nur in der Nachricht gegeben, sie ist auch selbstverständlich in der Meinungsäußerung gegeben. Nachrichtenmäßig insofern, als absolute Freiheit der Nachrichtengebung, also die Möglichkeit für die Nachrichtengebung, Nachrichtenbüros in der ganzen Welt zu benutzen, den sowjetisch lizenziierten Blättern nicht gegeben ist. Dort werden Sie im wesentlichen von ganz bestimmten, meist sowjetisch beeinflußten und geführten Unternehmungen die Nachrichten finden, und auch die Nachrichtenverarbeitung wird dadurch bestimmt sein. Hingegen finden Sie in den westlich lizenziierten Blättern eine Freiheit der demokratischen Gebung von Nachrichten sowohl als auch von Meinungen. Dabei ist natürlich — das ist in einem besetzten Lande eine Selbstverständlichkeit — noch eine gewisse Überwachung gegeben, jedoch wird dort die demokratische Freiheit weitgehend entwickelt. Zum Beispiel von der ostsektoralen Seite ging die Beschränkung der Zeitungsverbreitung zuerst aus, und zwar mit aller Energie und mit allen Mitteln, sei es bis zum direkten Verbot und nachher durch eine geschickte Verklausulierung in Form von Vertragsunterbrechung. — Also eine Beschränkung des Zeitungsvertriebs, die man von der westsektoralen Seite her zunächst nicht kannte. Denn das ist eine Forderung der Publizistik, daß sie sich in absoluter Freiheit entwickeln kann, und es ist zu hoffen, daß in absehbarer Zeit sich diese absolute Freiheit generell in Deutschland ergeben wird. Diese Seite der Publizistik knüpft also an die Unterrichtung der Öffentlichkeit an. Die politische und die gesinnungsmäßige Führung, diese Gesinnungsbindung des Publizisten, ist in Deutschland ja nun in besonderer Weise gegeben. Wir haben einmal in Deutschland die Tatsache, daß wir — im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, die ei-
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ne glückliche demokratische Vergangenheit haben, die wir nicht aufweisen können, — ein komplizierteres Parteisystem haben, als es etwa in Amerika oder auch in England der Fall ist, wo nur wenige Parteien um die Macht miteinander kämpfen. Bei uns hat seit jeher zum großen Teil die gesinnungsmäßige Entscheidung der Blätter eine große Rolle gespielt. Heute haben wir durch die verschiedenen Formen der Lizenzerteilung Parteizeitungen, die also direkt an ein parteipolitisches Bekenntnis anknüpfen und von ihm ihren Ausgang genommen haben, und dieses politische Bekenntnis finden wir als Parteiprogramm nun publizistisch verfochten. Wir haben andere Blätter, die nicht an feste, parteipolitische Grundlinien gebunden sind. Aber was als eine Forderung der Publizistik zu gelten hat, ist, daß man klar die Richtung einer Zeitung erkennt und daß man weiß, welches die Persönlichkeiten sind, die eine Zeitung tragen. Denn das ist das Gefährliche gewesen in der Zeit vor 1933 und erst recht nach 1933: daß das Zeitungswesen mit verkapptem Visier kämpfte, daß Blätter Menschen gehörten, von denen man gar nicht wußte, daß sie Zeitungseigentümer waren. Ja, wir haben in manchen Städten und sogar in Berlin zeitweilig die Tatsache erlebt, daß einem Mann einer politischen Gruppe nicht nur eine, sondern mehrere Zeitungen, vielleicht sogar in ihrer Richtung nuancierte Zeitungen gehörten; daneben haben wir die Typen absoluter Geschäftszeitungen gehabt, die von 1919 aus absoluter Demokratie ihren Wandel durchgemacht haben bis zu einem Verfall in die Ideen und die Ideologien der Hitlerherrschaft. Da nicht wieder hinzukommen, ist eine demokratische Grundvoraussetzung der künftigen Publizistik: daß also eine Sicherheit darüber besteht, welches Blatt zu welcher Grundauffassung gehört, welche Persönlichkeiten darin schreiben und welche politischen Machtträger auch wirtschaftlich dieses Blatt zu beeinflussen in der Lage sind. Daß also — noch einmal zusammengefaßt — mit offenem Visier gekämpft werden kann, ist die Natur der publizistischen Arbeit."
„Der amerikanische Journalismus" Zur Aktualität von Dovifats Frühwerk* STEPHAN RUSS-MOHL
I Einführung „Geht die deutsche Presse der .Amerikanisierung' entgegen oder nicht?" Die Leitfrage, die Emil Dovifat 1927 seiner Studie über den amerikanischen Journalismus vorangestellt hatte, schien nach dem Zweiten Weltkrieg vielen Beobachtern der Medienszene endgültig und eindeutig beantwortet. Die amerikanischen Besatzer besehenen dem westlichen Teil Deutschlands die Pressefreiheit und, zusammen mit ihr, Normen wie die Trennung von Nachricht und Meinung, die an die Stelle ideologielastiger kontinentaleuropäischer Traditionen des Journalismus traten. Später stießen die amerikanischen Vietnam-Reportagen, die schonungslos mit der eigenen Regierung abrechneten, und die investigativen Recherchepraktiken in Europa auf Bewunderer. In zähem Ringen brachten Carl Bernstein und Bob Woodward einen Präsidenten zu Fall — ein Vorgang, der nicht zuletzt auch deshalb bemerkenswert bleibt, weil Chefredakteur und Verlagsleitung der Washington Post über Monate hinweg dem Reporterduo bei seinen Recherchen die erforderliche Rückendeckung gewährten.1
* Aktualisierte und gekürzte Fassung meines Beitrags zum gemeinsam mit Bernd Sösemann verfaßten Einleitungsessay „Zeitungsjournalismus in den USA. Ein Rückblick auf Dovifats Frühwerk", in: Stephan Ruß-Mohl (Hrsg.): Emil Dovifat: Der amerikanische Journalismus, Berlin: Colloquium Verlag, 1990 (Neuauflage [NA]), S. IX—XLm. 1 Vgl. Cose, Ellis: The Press. Inside America's most powerful newspaper empires — from the newsrooms to the boardrooms, New York: Morrow & Co, 1989, S. 62 f.
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Heute sind es neue Präsentationsformen, die sich zunächst in den USA durchgesetzt haben und inzwischen auch die Medienberichterstattung auf dem alten Kontinent zu prägen beginnen: der durchmagazinierte, von Unterhaltungselementen durchtränkte Hörfunkjournalismus, in dem Wortbeiträge nur noch im 3-Minuten-Takt vorkommen; die zweifelhafte Errungenschaft der Fernseh-Newsshows; und inzwischen auch vermehrt „Fernsehen gedruckt" — Zeitungen und Nachrichtenmagazine in Farbe, mit bunten Info-Grafiken, großflächigen Photos und überdimensionierten Wetterkarten. Pate stand bei diesen Veränderungen im optischen Outfit der Presse, die sich inzwischen auch bis in Deutschlands letztes Provinznest verbreitet haben, ein Blatt, das erst zu Beginn der 80er Jahre neugegründet worden war: USA Today, die erste amerikanische Tageszeitung, die — vom Wall Street Journal als Wirtschaftszeitung einmal abgesehen — in den USA überregional von Küste zu Küste zu haben war. Bei all dem handelt es sich um prägende, trendsetzende Formen und Spielarten der Medienberichterstattung, die wohl auch belegen, daß das zu Ende gehende „Amerikanische Jahrhundert" auch ein Jahrhundert der amerikanischen Massenmedien war. Der in den USA praktizierte Journalismus, insbesondere die dortigen Berufsnormen, sind zu einer Bezugsgröße, zu einer Art Meßlatte geworden, auf die sich weltweit Medienschaffende und Medienkritiker beziehen. Auf den ersten Blick hat sich also seit 1945 viel im deutschen Journalismus verändert, was sich als Annäherung an amerikanische Standards oder Praktiken werten läßt. Parallel dazu haben sich Mediensystem und Journalismus in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland stürmisch weiter entwickelt; langfristige Entwicklungstrends ebenso wie eher kurzlebige Modewellen in Amerika schlugen jeweils auf die Entwicklung in Deutschland durch.
II Dovifats Fragestellungen — noch immer aktuell Um so mehr erstaunt es, daß Dovifats Werk „Der amerikanische Journalismus" noch immer ein spannendes und wichtiges Buch ist, vorausgesetzt, man liest es mit der entsprechenden Selektivität. Seine Arbeit ist keine im heutigen Sinne empirisch-komparative Studie. Die Elle, an der
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Dovifat den amerikanischen Journalismus maß, war jedoch allemal dessen deutsches Pendant — und das macht sein Werk für den Leser hierzulande um ein vielfaches fruchtbarer und interessanter als viele der zahllosen „Textbooks", die amerikanischen College-Studenten Grund- und Orientierungswissen zum selben Thema vermitteln sollen. Dovifats Buch ist nicht nur ein historisches Dokument; es ist mehr als ein knapper Rückblick auf die Anfänge des amerikanischen Journalismus und eine üppige Momentaufnahme der Gegebenheiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das mag daran liegen, daß sich zwar die heutige Ausgangssituation im Vergleich mit den zwanziger Jahren völlig verändert hat, aber gleichwohl ähnliche Frage- und Problemstellungen die Diskussion um Journalismus prägen — erstaunlicherweise in den USA ebenso wie in der Bundesrepublik Deutschland. Unweigerlich stellt sich bei der Lektüre in bezug auf mancherlei Aufgeregtheiten in der aktuellen Diskussion um Journalismus und Medienpolitik ein „Dejä vu"Erlebnis ein: Vieles schon mal dagewesen. Um nur die wichtigsten Punkte zu nennen, die damals wie heute die Gemüter bewegen: (1) Die fortschreitende Pressekonzentration war und ist ein Thema, das unter Medienexperten auf ihre Folgen für den Journalismus und das Gemeinwesen hin debattiert wird.2 (2) Unter „Eingeweihten" war und ist die Besorgnis um die wachsenden Beeinflussungsmöglichkeiten der Medienberichterstattung durch Öffentlichkeitsarbeit groß. Auch wenn Begrifflichkeiten wie Public Relations oder News-Management noch nicht „erfunden" waren, so hatte Dovifat doch bereits ein empfindsames Sensorium für die Gefahren entwickelt, die eine zunehmende Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit für das amerikanische Zeitungswesen und einen unabhängigen Journalismus bringt.3 (3) Wenn Dovifat — ganz aus der deutschen und europäischen Tradition des politischen Journalismus heraus — im amerikanischen Nachrichtenjournalismus „das Fehlen jeglichen eigenen Urteils" beklagt, „an dessen Stelle Urteile fremder, mehr oder weniger beteiligter Per2 3
Dovifat 1990 NA, S. 183 ff. Dovifat 1990 NA, S. 115.
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sonen treten"4, so formuliert er damit schon früh den zentralen Einwand gegen die „Scheinobjektivität" des amerikanischen Prinzips der Trennung von Nachricht und Meinung. Auch heute noch wird diese Spielart der Berichterstattung, bei der sich der Autor letztlich hinter einer zu zitierenden Quelle versteckt, genau an diesem Punkt kritisiert.5 (4) Der schonungslose Umgang mit Opfern von Katastrophen oder Verbrechen, aber auch mit Politikern, insbesondere in Zeiten des Wahlkampfs, hat Tradition im amerikanischen Journalismus: „Die Auskundschaftung ... geschieht rücksichtslos mit allen nur möglichen persönlichen Mitteln. Kein Winkel seines (des Politikers, srm) Privatlebens bleibt unerforscht" — diese Sätze sind nicht etwa erst nach Watergate oder der Affäre um die Amouren des Präsidentschaftsaspiranten Gary Hart geschrieben; sie stammen bereits aus Dovifats Feder.6 (5) Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wurde die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Medien und der Ethik des Journalismus bereits von Dovifat lebhaft diskutiert7 — Fragen, die nach seiner Emeritierung lange in den Hintergrund gedrängt schienen und erst in jüngster Zeit von der Publizistikwissenschaft wiederentdeckt wurden.8
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Dovifat 1990 NA, S. 108 f. Kepplinger, Hans Mathias: Instrumentelle Aktualisierung, in: Massenkommunikation. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Nr. 30/ 1989, S. 199—220. 6 Dovifat 1990 NA, S. 163. Vgl. hierzu auch Müller-Vogg, Hugo: Präsidentschaftschancen für das Jahr 2024 schon verspielt. Der Enthüllungseifer der amerikanischen Journalisten, in: FA2 v. 1.10.1988, S. 3. 7 Dovifat 1990 NA, S. 151 ff. 8 Vgl. etwa: Boventer, Hermann: Ethik des Journalismus. Zur Philosophie der Medienkultur, Konstanz: Universitätsverlag, 1985 (2. Aufl.); Rühl, Manfred/Saxer, Ulrich: 25 Jahre Deutscher Presserat. Ein Anlaß für Überlegungen zu einer kommunikationswissenschaftlich fundierten Ethik des Journalismus und der Masserikornmunikation, in: Publizistik Bd. 26/1981, S. 471 ff.; Haller, Michael/ Holzhey, Helmut (Hrsg.): Medien-Ethik. Beschreibungen, Analysen, Konzepte für den deutschsprachigen Journalismus, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1992; Bentele, Günter: Wirklichkeitsrekonstruktion. Zur Objektivität und Glaubwürdigkeit von Medien, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995; Ruß-Mohl, Stephan: Der I-Faktor. Qualitätssicherung im amerikanischen Journalismus — Modell für Europa? Osnabrück/Zürich: Edition Interfrom, 1994. 5
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(6) Heute wie damals verblüfft die Fülle des Nachrichtenstoffs9, den amerikanische Zeitungen anzubieten haben.10 Nach wie vor fällt aber auch der Mangel an internationaler Berichterstattung auf und wird beklagt. Ja selbst Washington ist oftmals — nicht nur geographisch gesehen — weit weg: Auch die nationalen, also innenpolitischen Nachrichten fallen in den meisten Massenmedien der USA knapp aus. Vor allem die Zeitungen sind geblieben, was sie immer waren: lokale Informationsmedien. Die Marktlücke, die sie füllen, ist — ironisch und treffend zugleich — mit dem Leitmotto der in Jacksonville, N.C. erscheinenden Daily News zu umschreiben: „The only Newspaper in the World That Gives a Damn about Jacksonville, N.C."11. Schon Do vif at unterstrich die vorwiegend lokale Bedeutung auch sehr großer Blätter und hob die einflußreiche Position des jeweiligen City Editor, also des Lokalchefs hervor.12 Er beobachtete bereits den auch heute noch charakteristischen Trend zu sublokaler Berichterstattung: Bezirksweise seien „kleine Blätter aus dem Boden geschossen, deren Lebenselement die Reportage aus dem gesellschaftlichen Leben einiger Straßenzüge ist"13. (7) Auch was die investigative Tradition des amerikanischen Journalismus anlangt, läßt sich der Bogen mühelos von den Muckrakers, die schon Teddy Roosevelt beschimpft hat, hin zu den WatergateRechercheuren spannen. Allerdings hat diese Spielart des Journalismus in den USA wohl nie die prägende Rolle gespielt, die ihm von manchen seiner deutschen Propagandisten gerne zugeschrieben wird. Er war auch jenseits des Atlantik immer nur Randerscheinung im Mediengewerbe, ohne daß seine Verdienste um die politische Hygiene
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An einem normalen Werktag ist z.B. bei der Los Angeles Times ein Umfang von 180 Seiten nicht außergewöhnlich. Das Anzeigengeschäft erzwingt hier geradezu eine Ausweitung des redaktionellen Angebots — und gerät in Konflikt mit den Interessen der Leser: „No time to read" ist der häufigste Grund, der den Marktforschern der Los Angeles Times für Abbestellungen genannt wird (vgl. Ruß-Mohl, Stephan: ZeitungsUmbruch. Wie sich Amerikas Presse revolutioniert, Berlin: Argon Verlag, 1992, S. 46 ff.). 10 Dovifat 1990 NA, S. 86. 11 Bates, Stephen (ed.): If no news, send rumors. Anecdotes of American Journalism, St. Martin's Press, zit. n. Krolik, Richard: As Bob Considine Once Said, in: Washington Journalism Review, Jan./Feb. 1990, S.60. 12 Dovifat 1990 NA, S. 79, S. 106 u. S. 113. "Dovifat 1990 NA, S. 91.
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deshalb geschmälert werden sollten.14 Immerhin, Dovifats Beobachtung, wonach einzelne Geschichten — mehr als bei uns üblich — im Teamwork erarbeitet werden15, dürfte weiterhin Gültigkeit haben. (8) Es gab und gibt produktiven Streit um die Präsentationsformen und um die zunehmende Oberflächlichkeit des Journalismus. Zwar hatte in den zwanziger Jahren die Hamburger-Kette McDonalds ihren Siegeszug noch nicht angetreten, und damit ließ sich auch der damalige Trend noch nicht mit der Wortschöpfung vom Fast Food Journalism einfangen. Indes schrieb bereits Dovifat, das „Baumaterial", aus dem die Zeitungsseiten erstellt würden, sei „von Jahr zu Jahr buntscheckiger geworden".16 Auf die heutige Entwicklung bezogen, hätte man keinerlei Anlaß, ihm zu widersprechen. (9) Fast schon wie das Credo moderner Marketing-Experten liest es sich, wenn Dovifat berichtet, wie in der redaktionellen Arbeit auf Leserbedürfnisse eingegangen werde: „Nicht die Rücksicht auf die Anzeigenkunden, sondern auf den Leserkreis bestimmt daher die redaktionelle Haltung. Nur der Leserkreis gibt dem Inseratenraum seinen Wert, und je größer der Leserkreis wird, um so höher kann nicht nur der Preis der Anzeigen und damit der Gewinn steigen, sondern umso unabhängiger wird auch der redaktionelle Teil. Es muß also alles daran gesetzt werden, den Leser zu verwöhnen."17 (10) Wenn bei Dovifat die Rede ist von „erstaunlichen technischen und organisatorischen Fortschritte(n), die der amerikanischen Presse heute noch vor der europäischen den Vorsprung geben"18, könnte dieser Satz ebensogut zu Beginn der neunziger Jahre niedergeschrieben sein — nur daß er sich dann eben auf ganz andere Druck-, Datenverarbeitungs-, Kommunikations- und wohl auch Managementtechniken zu beziehen hätte als 1927.19 14
Vgl. Ruß-Mohl 1994, S. 36 ff. m.w.N. Dovifat 1990 NA, S. 113 f. 16 Dovifat 1990 NA, S. 133. 17 Dovifat 1990 NA, S. 84 f. 18 Dovifat 1990 NA, S. 42, Hervorhebung: srm. 19 Vgl. zur Vernetzung der Tageszeitung mit Telekommunikationstechniken: Telecommunications & Newspapers, Editor & Publisher, Special Section v. 6.3.1993; Road to the Future, in: The Freedom Forum, May 1994; zu den Management-Techniken insbesondere: Fink, Conrad C.: Strategic Newspaper Management. An Approach to the 1990s, New York N.Y.: Random House Inc., 1988; Giles, Robert H.: Newsroom Management. A Guide to Theory & Practice, Detroit MI: Media Management Books 15
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(11) Die Kontroversen um die Professionalisierung des Journalismus dauern an — und damit auch Meinungsverschiedenheiten um den „rechten" Weg in den Beruf hinein, also um Aus- und Fortbildungsprogramme.20 (12) Daß „die eigentliche Kraft..., die den Reporter zur Höchstleistung treibt", die Konkurrenz sei21 — auch diese Erkenntnis Dovifats gilt im amerikanischen Journalismus unvermindert fort. Zwar mag es auf Amerikas Zeitungsmarkt heute kaum noch im klassischen Sinne Wettbewerb geben: Es dominiert längst der Ein-Zeitungs-Kreis, und nur in wenigen Metropolen stehen Tageszeitungen noch in direkter Konkurrenz. Trotzdem scheint es nach wie vor zu gelingen, in den meisten Journalisten das Gefühl des Wettbewerbsdrucks und damit auch einen sehr amerikanischen, fast schon sportlichen Kampfgeist wachzuhalten — sei es durch intermediäre Konkurrenz, sei es mit Formeln, wie sie etwa der Verleger des Wisconsin State Journal ausgibt: „Wir konkurrieren gegen die Nicht-Leser."22 (13) Last not least fasziniert der Hinweis Dovifats auf eine vermutete Zyklizität medialer Entwicklungen: „Sehr häufig muß die Verwirklichung eines neuen Gedankens gegen den Willen oder die Meinung oft überwiegender Teile der Gesellschaft eingeleitet werden. Für solche Ziele zu kämpfen, war immer Aufgabe der Gesinnungspresse. Sie wird auch im Zeitalter großkapitalistischer Zeitungsorganisation unentbehrlich sein. Die Geschichte der modernen Zeitung ist noch zu kurz, als daß ein regelmäßiger Wechsel zwischen Geschäfts- und Gesinnungspresse festgestellt werden könnte"23. Gewiß, unsere heutigen, von der Systemtheorie und vernetzten Regelkreisen inspirierten Modelle sind um ein vielfaches komplexer, als daß sich noch irgendwer von Regelmäßigkeiten zu reden getraute; der Gedanke, daß Themen und Formen der Berichterstattung ebenso wie die öffentliche Meinung zyklischen Schwankungen unterliegen, ist indes aktuell geblieben.24 Inc., 1988; Lavine, John M./Wackman, Daniel B., Managing Media Organizations: Effective Leadership for the Media, New York N.Y.: Longman, 1988. 20 Dovifat 1990 NA, S. 217 ff. 21 Dovifat 1990 NA, S. 110; vgl. auch S. 133. 22 Gespräch des Verfassers mit James Burgess v. 21.6.1989. 23 Dovifat 1990 NA, S. 64, Hervorhebung: srm. 24 Vgl. Luhmann, Niklas: Öffentliche Meinung, in: ders.: Politische Planung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1975 (2. Aufl.); Downs, Anthony: Up and Down with
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III
Aktuelle Entwicklungen im amerikanischen Zeitungsjournalismus Die skizzierten Beobachtungen verleihen also Dovifats Schrift fraglos weiterhin selektiv Aktualität. Weitaus weniger aussichtsreich dürfte es dagegen sein, kontrastierend dazu auflisten zu wollen, inwieweit sich in den letzten 70 Jahren die medialen und gesellschaftlich-sozialen Ausgangsbedingungen verändert haben, vor deren Kulissen sich die Journalismus-Diskussion jeweils abspielt. Sie lassen sich im hier vorgegebenen Rahmen beim besten Willen nicht nachzeichnen, ja wahrscheinlich nicht einmal skizzieren. Ein paar Stichworte mögen also zur Orientierung genügen: Mehrere technologische „Revolutionen" haben zu einer Medienvielfalt und damit zu Ausprägungen intermedialer Arbeitsteilung geführt, wie sie Mitte der zwanziger Jahre noch gänzlich unvorstellbar gewesen sind. Dem klassischen Medium Zeitung, mit dem Dovifat sich noch allein befassen konnte, ist inzwischen eine Rolle zugewachsen, die vornehmlich komplementär zum Fernsehen zu sehen ist. Dabei ist allerdings auch die Bandbreite des auf dem Zeitungsmarkt Gängigen größer geworden: Sie reicht in den USA auf der überregionalen Ebene inzwischen von Blättern wie der New York Times25 und dem Wall Street Journal bis hin zu jenem neuen Zeitungs-Typus, den USA Today verkörpert. Die beiden erstgenannten Blätter stehen dabei für eine Spielart des Zeitungsjournalismus, der ganz bewußt auf Eliten zielt. Es wird ein sich immer weiter spezialisierender Informationsjournalismus gepflegt und darüber hinaus auf Hintergrund-Analysen gesetzt, die das Fernsehen Ecology. The „Issue Attention Cycle", in: The Public Interest 28/1972, S. 28 ff.; Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung — unsere soziale Haut, Frankfurt/M. u. a.: Ullstein, 1982 (NA); Ruß-Mohl, Stephan: Reformkonjunkturen und politisches Krisenmanagement, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1981 sowie ders.: Konjunkturen und Zyklizität in der Politik: Themenkarrieren, Medienaufmerksamkeits-Zyklen und „lange Wellen", in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft Nr. 23/1993: Policy-Analyse, S. 356—370. 25 Die New York Times hat ihr ursprünglich auf den Großraum New York begrenztes Verbreitungsgebiet ausgeweitet und wird heute auch in Chicago und an der Westküste gedruckt.
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nicht zu bieten vermag.26 Damit geht zwangsläufig eine Abwendung vom allzu strikt gehandhabten Prinzip der Trennung von Nachricht und Meinung, vom bloßen He said-she said-journalism einher. Die Orientierung hin zu verstärkter Nachrichtenanalyse erfolgt in den USA im übrigen interessanterweise unter dem Stichwort der „Europäisierung" — und damit unter einem Vorzeichen, das Dovifats Leitfrage „Geht die deutsche Presse der Amerikanisierung entgegen oder nicht?" umkehrt. So wird etwa bei der New York Times diskutiert, ob nicht in der auf Hintergrund-Analyse angelegten Komplementärrolle, die das Fernsehen auch den führenden amerikanischen Tageszeitungen zugewiesen hat, mehr Platz sein sollte für interpretierenden Journalismus; ausgerechnet der Winzling unter den Qualitätszeitungen dieser Welt, die Neue Zürcher Zeitung, scheint hier den Weg zu weisen. Die andere Möglichkeit, auf die Herausforderung des Fernsehens zu reagieren, verkörpert USA Today. Das Blatt offeriert dem eiligen Leser, ohne auf knappe und durchaus seriöse Information zu verzichten, Leichtverdauliches in einem in Europa noch unbekannten Mix. Im Grunde genommen werden — von der Aufmachung, den Präsentationsformen und vom Unterhaltungswert her betrachtet — TV-Programme eher dupliziert als ergänzt.27 Noch größer ist die Spannweite auf der Ebene der Lokal- und Regionalzeitungen: Das eine Ende des Spektrums markiert ein Blatt wie die Los Angeles Times mit Millionen-Auflage, das sich in seiner journalistischen Qualität inzwischen mit der New York Times messen kann und sich, einmal abgesehen von seinem auf Südkalifornien begrenzten Einzugsgebiet, von diesem Weltblatt wohl in erster Linie dadurch unterscheidet, daß es auf Grund seines schier unbegrenzten Anzeigenaufkommens die noch satteren Gewinne einfährt. Am anderen Ende lokale Klein- und Kleinstzeitungen, wie es sie auch schon zu Dovifats Zeiten gab. Indes trügt die Vielfalt des Lokalen. Die Eigentumsverhältnisse, und daran ist nicht zuletzt die amerikanische Steuergesetzgebung schuld, haben sich in den letzten 60 Jahren nahezu umgekehrt: Die Konzern-Ketten — wie bereits angedeutet, schon zu Dovifats Zeiten Anlaß zur Beunru26
Porter, Bruce: The ,Max' factor at the New York Times. Max Frankel has given the country's premier paper more than a face-lift, in: Columbia Journalism Review, Nov./Dec. 1988, S. 29 ff. 27 Vgl. Prichard, Peter: The Making of McPaper. The Inside Story of USA Today, Kansas City, New York: Andrews, McMeel & Parker 1987.
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higung für Zeitungsexperten28— sind unaufhaltsam weiter im Vormarsch: „Im Jahr 1930 gab es 311 Tageszeitungen in den USA im Konzerneigentum, 1651 Zeitungen waren unabhängig. Die konzerneigenen Zeitungen hatten einen Anteil von 16 Prozent an der Gesamtauflage ... Ende 1986 berichtete presstime, daß inzwischen 1217 Tageszeitungen konzerneigen sind. Übriggeblieben sind noch 440 unabhängige Zeitungen. Das heißt, 73 Prozent der amerikanischen Tageszeitungen sind in der Hand von Konzern-Ketten, die insgesamt 80 Prozent der Auflage kontrollieren."29 Das größte Zeitungshaus der USA, Gannett Inc., herrscht inzwischen allein über 92 Tageszeitungen; an zweiter Stelle rangiert Knight Ridder mit 31 Tageszeitungen.30 Mißt man dagegen die Marktanteile der einzelnen Häuser, so nehmen sie sich im Vergleich zum Marktführer der Bundesrepublik eher bescheiden aus: Bei Gannett sind es 9,6 Prozent, bei Knight Ridder 5,6 Prozent.31 Die Axel Springer AG kontrollierte dagegen vor der deutschen Vereinigung knapp 27 Prozent und 1997 noch 23,7 Prozent des bundesdeutschen Tageszeitungs-Marktes, gefolgt von der WAZ-Gruppe mit im Jahr 1989 6 Prozent und heute 5,9 Prozent Marktanteil.32 Die dominante Stellung der amerikanischen Chains im Nachrichtengeschäft läßt sich jedoch an solchen Indikatoren kaum ablesen: Die beherrschende Position auf dem Informationsmarkt erwächst ihnen längst nicht mehr allein aus der verkauften Auflage — sondern daraus, daß nur wenige große Häuser die Nadelöhre des Nachrichtengeschäfts kontrollieren: die Agenturen und News Services, die die Vielzahl der mittleren und kleineren Medienbetriebe bedienen. Alarmierend sind mit Blick auf die Zeitungszukunft andererseits auch die sich rapide verändernden Nutzungsgewohnheiten des Publikums. Dovifat publizierte sein Werk zur Blütezeit des Zeitungsjournalismus. Heute, unter der Konkurrenz des Fernsehens, prophezeien Kulturpessimi28
Dovifat 1990 NA, S. 201 ff. McClatchy, C.K.: How Newspapers Are Owned — And Does It Matter?, in: Nieman Reports Vol. XLE, No. 2, Summer 1988, S. 19—24 (Übersetzung: srm). 30 Newspaper Association of America: Facts About Newspapers '97, Reston VA 1997, S. 22. 31 Eigene Berechnungen, bezogen auf den Auflagenanteil; Datenbasis: Newspaper Association of America, ebd., S. 13 und S. 22. 32 Vgl. Röper, Horst: Zeitungsmarkt 1997: Leichte Steigerung der Konzentration, in: Media Perspektiven 7/1997, S. 367 f. 29
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sten wie Neil Postman den Niedergang der Lesekultur.33 Dies ist zwar angesichts satter Zuwachsraten auf dem amerikanischen Bücher- und Zeitschriftenmarkt keineswegs ausgemacht34, aber immerhin scheint die gute alte Tageszeitung in bedrohlicher Weise gefährdet: — Insgesamt vermeldet die Branche kaum noch Auflagensteigerungen; der Absatz von Tageszeitungen stagnierte seit Beginn der achtziger Jahre auf einem Level von 62—63 Millionen Exemplaren; seit Beginn der neunziger Jahre ist er deutlich rückläufig, 1993 wurde die magische 60-Millionen-Grenze erstmals seit drei Jahrzehnten unterschritten.35 In den meisten Regionen nimmt dagegen die Zahl der Haushalte sehr viel schneller zu als die Zahl der Zeitungsleser — es schrumpft also der Bevölkerungsanteil, der von der Tagespresse erreicht wird: 1970 waren noch 77,6 %, 1996 dagegen nur noch 58,8 % aller Erwachsenen täglich Zeitungsleser.36 Die Zahl der Nichtleser bzw. der nur sporadischen Leser ist also von etwas über einem Fünftel auf deutlich mehr als ein Drittel angestiegen.37 — Die Haushalte in den USA werden immer kleiner, der Trend zu Einoder Zwei-Personen-Haushalten nimmt zu.38 Deshalb haben sich die Haushalte in den USA schneller als die Bevölkerung vermehrt. Von 1960 bis 1990 ist die Zahl der Haushalte von 52 Millionen auf über 94 Millionen angestiegen, also um über 80 Prozent. Die Tageszeitung, die noch Ende der sechziger Jahre — statistisch betrachtet — nahezu jeden US-Haushalt erreichte, ist somit inzwischen nur noch in knapp zwei Drittel aller Haushalte präsent.39 — Das Interesse bei der nachwachsenden Generation läßt rapide nach: Seit den achtziger Jahren hat die Tageszeitung bei jungen Erwachse33
Postman, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt/M.: S. Fischer, 1985 (4. Aufl.). 34 Shaw, David: Young People read, but papers aren't No. 1 choice, in: Los Angeles Times v. 16.3.1989, S. 13. 35 Garneau, George: Reaching Potential Readers, in: Editor & Publisher v. 7.5.1994, S. 11—12. 36 Newspaper Association of America: Facts About Newspapers '97, Reston VA
1997. 37
Garneau 1994, S. 11. Bogart, Leo: The State of Newspapers. Paper Prepared for Conference „The Future of News", Woodrow Wilson International Center, Washington (MS), 11.5.1989, S. 18. 39 Bogart 1989, passim. 38
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nen große Akzeptanzschwierigkeiten.40 Zu Beginn der siebziger Jahre lasen 50 Prozent der Männer und 38 Prozent der Frauen im Alter von 18—29 Jahren täglich Zeitung; zwanzig Jahre später, im Jahr 1991, waren es nur noch 32 Prozent der Männer und 22 Prozent der Frauen dieser Altersgruppe.41 Auch die Nutzungszeiten schrumpfen bei den jungen Leuten ganz besonders. Sie wissen also mit der Tageszeitung oft nichts anzufangen. — Das „gender gap" wächst: Vor zwanzig Jahren haben in den USA angeblich noch mehr Frauen als Männer Zeitung gelesen.42 Seit dem Ende der achtziger Jahre deutet sich in den USA jedoch in der umgekehrten Richtung ein sogenanntes gender gap an, eine geschlechterspezifisch wachsende Kluft in der Nutzung der Tageszeitung: Die Frauen sind inzwischen berufstätig und bewältigen ihren Alltag mit mehr Selbstbewußtsein und größerer Selbständigkeit; dennoch ist ihr Anteil an der Zeitungsleserschaft eher rückläufig. Und auch hier sind es in erster Linie die jungen Frauen, die der Zeitung den Rücken kehren: Während in der erwachsenen Bevölkerung insgesamt 65,3 Prozent der Männer und 60,2 Prozent der Frauen regelmäßig Zeitung lesen — die Geschlechter-Differenz also 5,1 Prozent beträgt, ist sie in der Altersgruppe der 18 bis 24jährigen allein in den zwei Jahren von 1990 bis 1992 von 7,9 auf 12,5 Prozent hochgeschnellt.43 Die Gründe für die Abwendung von der Tageszeitung sind vielfältig: Sie rühren ebenso aus sozio-demographischen Veränderungen, aus verändertem Freizeitverhalten und der Vervielfältigung der Freizeitangebote wie aus Langzeit-Wirkungen des Fernsehens.444 40
Vgl. mit genaueren Daten: Ruß-Mohl 1992, S. 17 ff. Simms, Mary Lou: How to get kids, tweens, teens and twentysomethings to find value in our papers. A look at some winning strategies, in: ASNE Bulletin, January/ February 1993, S. 14—23. 42 Schmidt, Karen/Collins, Colleen: Showdown At Gender Gap. Newspapers are scrambling to find new ways to attract women readers, in: American Journalism Review, July/August 1993, S. 39-^2. 43 Newspaper Association of America/Simmons Market Research Bureau Inc.: The Daily and Sunday Newspaper Audience, Reston, VA. 1993, S. V; Carter, Margaret G.: Dailies' Gender Gap Widens, in: Presstime, May 1993, S. 20; vgl. ferner: Schmidt/Collins 1993, S. 39-^2; Hansen, Susan: Reconcilable Differences? With women readers leaving in droves, lip service alone won't get them back, in: Newsinc., September 1992, S. 22—28. 41
44
Vgl. Ruß-Mohl 1992, S. 17 ff.
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Um die abhanden gekommenen Leser zurückzugewinnen, sind in den amerikanischen Zeitungshäusern die Marketing-Experten im Vormarsch. So segensreich ihr Engagement einerseits sein mag, um Zeitungen zielgruppengerechter und damit leserfreundlicher zu gestalten, so zweischneidig ist andererseits, was sie tun. Mit dem Rüstzeug, das die Marktforschung liefert, erwachsen den Verlegern eben nicht nur neue Möglichkeiten, Zeitungen entsprechend den Leserbedürfnissen zu gestalten. Es wächst auch der Druck und die Versuchung, vermehrt den Wünschen der Inserenten Rechnung zu tragen.45 Der redaktionelle Teil verkomme so immer mehr zum Anzeigenumfeld, lautet die Klage. Zwar ist die Trennung von Redaktion und Anzeigen-Abteilung, zu Dovifats Zeiten eine historische Errungenschaft, bislang noch gesichertes und auch hochgehaltenes Prinzip in der Alltagsroutine der Zeitungsproduktion. Längst sind die Medienbetriebe selbst so mächtig geworden, daß sich über das Anzeigengeschäft kaum unmittelbar Druck auf einzelne Redaktionen ausüben läßt — Ausnahmen mögen vorkommen, bestätigen aber allenfalls die Regel. Die Gefahr droht von anderswo: Nicht was im einzelnen, aber wie und über welche Themenfelder die Presse berichtet, wird von der Werbewirtschaft auf immer subtilere Weise mitgesteuert, wenn sich in den Zeitungshäusern die Marketing-Strategen weiterhin durchsetzen. Paradoxerweise gilt das für Qualitätsprodukte, die — wie die New York Times — die journalistischen Maßstäbe setzen, fast ebenso wie für jene drittklassigen Gazetten, die längst zu cash cows, zu reinen Renditeobjekten degeneriert sind.46 Doch nicht nur die Nutzungsgewohnheiten haben sich verändert, nicht nur die Medien und Zeitungen selbst haben sich in — mitunter atemberaubendem Tempo — weiterentwickelt. Auch all jene Initiativen und Institutionen, die zum journalistischen Tagesgeschäft eher Distanz halten, dafür aber mittelbar um so nachhaltiger die Möglichkeiten und Maßstäbe des Journalismus prägen, haben sich differenziert. Dovifat hatte bereits ein untrügliches Gespür für die Bedeutung, die derlei Infrastrukturen für die Professionalisierung des Journalismus haben — und er schildert sie entsprechend ausführlich, angefangen beim Wirken der 45
Vgl. Hoyt, Michael: When the Walls come Tumbling Down, in: Columbia Journalism Review March/April 1990, S. 35 ff. Zitiert wird dort Stuart Ewen mit der Zuspitzung: „As journalism becomes more marketing oriented, the task of a journalist and an advertiser becomes more and more similar." (S. 37). 46 Vgl. Ruß-Mohl 1992, S. 114 ff.
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journalistischen Berufsverbände und Clubs bis hin zur Aus- und Fortbildung.47 Er berichtet von mehr als 100 Institutionen, die sich bereits Mitte der 20er Jahre in den USA in diesem Bereich tummelten.48 Dieses infrastrukturelle Netzwerk hat sich inzwischen bis hin zur Unübersichtlichkeit weiterentwickelt.49 Die USA haben bis heute ihren Vorsprung, was die Quantität und wohl auch die Qualität der für Journalisten bestimmten Aus- und Weiterbildungsangebote anlangt, gegenüber den europäischen Ländern halten, wenn nicht ausbauen können.
IV
Zusammenfassende Würdigung Vor dem Hintergrund des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts besehen, ist es gleichwohl geradezu frappierend, wie viele von Dovifats Beobachtungen noch immer aktuell sind — trotz des Tempos, in dem sich Medienrealitäten verändern und Innovationen im Mediensektor überschlagen. Trotz der wissenschaftlichen Absicht, die Dovifat mit seinem Werk verband, wird man ihm allerdings kaum unrecht tun, wenn man vor allem auf die journalistischen Qualitäten seiner Arbeit verweist: Der sichere Blick fürs Wesentliche verbindet sich bei ihm aufs angenehmste mit Anschaulichkeit: Die Anekdoten, die Dovifat einzustreuen weiß, sind kaum je Selbstzweck — sie illustrieren vielmehr wichtige Sachverhalte und Entwicklungen: Was Papierknappheit bedeutet, wird sinnlich wahrnehmbar, wenn vor und während des Revolutionskriegs im 18. Jahrhundert die Lumpensammler ausschwärmen, um den Rohstoff für die Zeitungsherstellung zu gewinnen.50 Und was Aktualitäts-Wettbewerb heißt, wird klarer, wenn man dessen skurrile Blüten vor Augen geführt bekommt: Bereits Ende des 18. Jahrhunderts, so berichtet Dovifat, sei in Philadelphia zum ersten Mal ein Blatt zweimal täglich herausgekommen 47
Dovifat 1990 NA, S. 181 und S. 215 ff. Dovifat 1990 NA, S. 225. 49 Vgl. Ruß-Mohl 1994; ferner das Themenheft „The Making of Journalists", Gannett Center Journal No. 2, Vol.2/Spring 1988; Becker, Lee B. et al.: The Training and Hiring of Journalists, Norwood N.J.: Ablex, 1987. 50 Dovifat 1990 NA, S. 19. 48
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— „doch das war nur ein Bluff. Beide Blätter wurden gleichzeitig auf einen Bogen gedruckt, auseinandergeschnitten und zu verschiedenen Tageszeiten ausgetragen. Eine derartige Intensivität der Produktion hätte auch die Drucktechnik noch gar nicht gestattet."51 Der für Dovifat so charakteristische Hang zur Personalisierung mag ebenso aus seiner journalistischen Prägung herrühren. Seine wissenschaftlichen Nachfahren haben ihm diese Vorgehensweise vielfach als unwissenschaftlich vorgehalten — und sind dabei selbst in dem Bemühen, Systemstrukturen, Funktionen und Prozesse dingfest zu machen, oft übers eigentliche Ziel hinausgeschossen. Persönlichkeiten degenerierten zu Rollenträgern, handelnde Akteure wurden zur „mitgeschleppten Randbedingung"52. Bei Dovifat dagegen bleiben bzw. werden die Pioniere des amerikanischen Zeitungsjournalismus lebendig — Benjamin Franklin, Andreas Hamilton, Peter Zengen, Thomas Paine, Samuel und John Adams in der Phase der kolonialen Pionierpresse; Alexander Hamilton und Thomas Jefferson als führende Repräsentanten der frühen Parteipresse an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert; James Gordon Bennett d. Ä. und sein Sohn als die erfolgreichen Promotoren der Penny-Presse von 1835 an; später Horace Greeley, Karl Schurz und Joseph Medill als Vertreter eines neuen Gesinnungsjournalismus·, und — last not least — Edward Wyllis Scripps, William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer, die den Siegeszug der Geschäßspresse vollendeten und — wohl unumkehrbar — in der Zeitungsproduktion die „Entwicklung zur großkapitalistischen Betriebsform" anleiteten.53 Gewiß, Mitte der zwanziger Jahre war — jedenfalls im Vergleich zur heutigen Situation — die Materiallage noch überschaubar. Der auf Akribie pochende Wissenschaftler wird gleichwohl nicht gänzlich zu Unrecht einwenden, es sei, gemessen an den üblichen wissenschaftlichen Gepflogenheiten, ein ziemlich waghalsiges Unterfangen gewesen, nach einem kurzen USA-Aufenthalt über den amerikanischen Journalismus ein Buch schreiben zu wollen. Und er wird stirnrunzelnd monieren, daß Dovifat nicht immer detailgenau recherchiert hat.54 51
Dovifat 1990 NA, S. 44. Fach, Wolfgang: Demokratie und Effizienz. Referat beim 3. Konstanzer Verwaltungsseminar v. 28.—30.10.1976 (MS). 53 Dovifat 1990 NA, S. 13 ff. und S. 183 ff. 54 Z. B. sind Vornamen wahllos abgekürzt (E.W. Scripps, S. 104; H.L. Mencken, S. 236) oder fehlen ganz (Medill, S. 74); mitunter sind auch Vor- oder Nachnamen 52
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Andererseits wäre es verfehlt, würde man bei einem Mann wie ihm im Zusammenhang mit einem solchen Buchprojekt allein wissenschaftliche Erkenntnisinteressen vermuten. Dovifat war, und das hat nicht zuletzt sein Biograph Klaus-Ulrich Benedikt in aller Deutlichkeit herausgearbeitet, sehr viel mehr als nur ein Hochschullehrer. Er war immer auch Publizist und betrieb als solcher journalistische Standespolitik, ja Medienpolitik; er war ein engagierter Vorkämpfer journalistischer Aus- und Weiterbildung und, wenn es um die Etablierung der Zeitungswissenschaft als akademischer Disziplin ging, auch kämpferischer Wissenschaftspolitiker.55 Es wäre naiv, sein Buch über den amerikanischen Journalismus nicht auch im Kontext von ihm erstrebter und betriebener Veränderungen des deutschen Journalismus zu sehen. Wie sehr es Dovifat um die Anerkennung der Zeitungswissenschaft als Fach ging, wird schon im zweiten Absatz des Vorworts deutlich. Dort reklamiert er für die Zeitungskunde eine „in sich durchaus selbständige Methode"56 — ohne daß freilich dieser Anspruch bis auf den heutigen Tag von ihm selbst oder irgendeinem anderen Zunftgenossen eingelöst hätte werden können. Gleichwohl ist davon auszugehen, daß Dovifats etwas vollmundige Wortwahl ebenso wohlüberlegt wie zielstrebig erfolgte. Ohne eine solche eigenständige Methode auszuweisen, war es in der damaligen Zeit noch schwieriger als heute, eine junge Disziplin im universitären Fächerkanon zu verankern. Ein zweiter Wink mit dem Zaunpfahl, nun endlich auch in Deutschland mehr für die Zeitungswissenschaft zu tun, findet sich im Schlußteil. Dort betont Dovifat, wie „an amerikanischen Universitäten die geschichtliche Entwicklung der Presse viel mehr vom eigentlich zeitungswissenschaftlichen Standpunkte aus betrachtet (wird) und nicht — wie vielfach in Deutschland — rein historisch, rein wirtschaftlich, rein kulturell."57 falsch geschrieben Qosef Pulitzer, S. 186; Scipps-Howard, S. 193); Bennett der Altere wird mit dem Jüngeren verwechselt und ersterem zugeschrieben, er -habe Morton Stanley nach Afrika auf die Suche nach Livingstone geschickt (S. 59) — ein gravierender Schnitzer, da es sich bei dieser Mission immerhin um das erste, weltbewegende Exempel von Aktionsjournalismus handelte. 55 Benedikt, Klaus-Ulrich: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B, B. 42), Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1986. 56 Dovifat 1990 NA, S. 9. 57
Dovifat 1990 NA, S. 230.
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Wissenschaftliche Werke brauchen indes oftmals einige Jahre, um Wirkungen zu entfalten — und insoweit standen die Zeichen der Zeit für Dovifats Amerikanischenjournalismus nicht eben günstig. Persönlich hat das Buch ihm zwar gewiß entscheidend weitergeholfen: Ohne diese Veröffentlichung hätte er kaum je den an der Berliner Universität neueingerichteten Lehrstuhl erhalten. Darüber hinausgehende journalismusund wissenschaftspolitische Impulse konnte das Werk dagegen kaum entfalten — dafür war die Zeitspanne zwischen der Erstveröffentlichung und der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu kurz. „Geht die deutsche Presse der Amerikanisierung entgegen oder nicht?" Dovifats Leitfrage von 1927 hat indes wenig von ihrer Aktualität eingebüßt, und sie läßt sich noch immer nicht klar beantworten. Einerseits gibt es gewiß so etwas wie weltumspannende kulturelle Vereinheitlichungs-, vielleicht sogar Nivellierungstendenzen. Sie sind indes womöglich weniger von der Vormachtstellung Amerikas als von jenem ökonomisch-technischen Kalkül geprägt, das ubiquitär die industriegesellschaftliche Entwicklung bestimmt. Andererseits wirken diesem Trend zur Rationalisierung vielfältige Kräfte entgegen, die eher auf eine Wahrung, wenn nicht Verstärkung nationaler und regionaler Identitäten und Besonderheiten zielen. Zum facettenreichen Bild kultureller Beeinflussung gehören immer solche Gegenströmungen. So gab und gibt es in bezug auf das Mediensystem nicht nur bei uns Warnungen vor einer Amerikanisierung, sondern eben auch jenseits des Atlantik die Beobachtung einer Europäisierung des Journalismus.58
58
Vgl. zuletzt: Dennis, Everette E.: The re-Europeanization of the U.S. media, in: The Freedom Forum Media Studies Center Communique, October 1994, S. 2.
Emil D o vif at und das Institut für Publizistik ANDREAS KÜBLER für Marianne
Einführung Als Mitarbeiter des Berliner Instituts für Publizistik über dieses Thema zu schreiben, heißt auch 25 Jahre nach des Gründers Tod, sich bei den Recherchen zwangsläufig zwischen alle Stühle zu setzen. Ehemalige Kolleginnen und Kollegen Dovifats als Zeitzeugen heranzuziehen bedeutet unter anderem, sich mit platten Anfeindungen bis hin zu apologetischen Anekdoten auseinanderzusetzen. Bestimmte Geschichten tauchen immer wieder auf. Das verleitet dazu, sie als „höchst wahrscheinlich" anzunehmen, wenngleich die Vorstellung schwer fällt, daß die beiden rüstigen Rentner Dovifat und Eberhard des Nachts über die Flure des Instituts huschen und sich gegenseitig die Türschilder von ihren Büros abschrauben. Die Urteile über den älteren Schrauber schwanken von „prächtig" bis „despotisch". Dabei bleibt ein Bodensatz zurück, der in der Person Emil Dovifat Extremes vereint. Die Quellenlage ist glücklicherweise ergiebig genug, so daß den Zeitzeugen kein allzu großes Gewicht zufallen muß. Wie zu allem Dovifatschen Wirken bietet auch zu dessen universitärem Schaffen nach 1945 die Biographie von Benedikt weit mehr als nur ein chronologisches Gerüst.1 Neben weiteren wissenschaftlichen Beiträgen, die im Anmerkungsapparat aufgeführt sind, gibt zu diesem Thema eine Vielzahl von Quellen Auskunft, die im Nachlaß überliefert sind — Briefe, Berichte und Manuskripte — oder im Institut archiviert sind, zum Beispiel Vorlesungsverzeichnisse, Hausarbeiten und
1
Benedikt, Klaus-Ulrich: Emil Dovifat. Ein katholischer Hochschullehrer und Publizist (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Bd. 42). Mainz 1986.
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Chroniken. Ebenso ist der Blick in die Zeitungs- und Zeitschriftenarchive der fünfziger und sechziger Jahre für das Thema gewinnbringend.2
II Das Institut zwischen Auflösung und Neubeginn Das Institut für Zeitungswissenschaft in Berlin hatte im wesentlichen den Krieg unbeschadet überstanden. Zwar war das Gebäude in der Karlstraße durch einen Minenvolltreffer am 12. August 1944 zerstört worden, wobei die gesamte Einrichtung sowie die photo- und filmtechnische Ausrüstung verloren gegangen waren; doch waren neunzig Prozent der wertvollen Buch- und Aktenbestände zuvor nach Lynow bei Baruth ausgelagert worden oder befanden sich unbeschädigt im Keller der Karlstraße.3 Nach dem Umzug in die Hessische Straße konnte dann trotz anhaltendem Luftkrieg und vier schweren Bombentreffern ein „regelmäßiger Seminarbetrieb" im Wintersemester 1944/45 durchgeführt werden.4 Auch die „Feldbetreuung" klappte einwandfrei. So wurden die 2
Ein Großteil der hier zitierten Zeitungsartikel wird im Anmerkungsapparat nur den Titel der jeweiligen Zeitung und das Erscheinungsdatum, nicht aber die laufende Nummer und die Seitenzahl nennen. Dies entspricht den Angaben des Archivs des Senders Freies Berlin, dessen Mitarbeitern hier gedankt sei. Eine aufwendige Suche nach den einzelnen Nummern der verschiedenen Periodika stand in keinem Verhältnis zum wissenschaftlichen Ertrag, weshalb hier darauf verzichtet wurde. An dieser Stelle gilt der Dank auch Beatrice Gräfin zu Lynar, die in gewohnter Professionalität diesen Beitrag einfühlsam redigierte. 3 Diese Angaben finden sich im „Arbeits- und Lagebericht des .Instituts für Zeitungswissenschaft an der Universität Berlin"', erstellt von Dovifat im März 1945; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Nachlaß (im folgenden NL) Dovifat 92, .31/ , S. 1. 4 Ebd. Der Bericht nennt für das Wintersemester (im Anmerkungsapparat im folgenden WiSe; für Sommersemester SoSe) 1944/45 folgende Veranstaltungen Dovifats für die 68 eingeschriebenen Studierenden: Die Hauptvorlesung „Zeitungslehre I", die öffentliche Vorlesung über das Thema „Die Mittel der publizistischen Führung im Wandel der Geschichte", ein einführendes Vorseminar, ein Mittelseminar über die „Publizistik und Propaganda im Kriege" und ein Oberseminar über „Die Sprache in der Publizistik". Der wissenschaftliche Mitarbeiter Dr. Ernst Herbert Lehmann bot eine Vorlesung zur „Geschichte des Zeitschriftenwesens" und die Übung „Grundbegriffe des Pressewesens" an (ebd., S. 2). Zur Arbeitsfähigkeit des Instituts im Krieg ir-
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an der Front kämpfenden 110 Studenten des Instituts „durch Rundbriefe, denen mehrmals kurze, in Leitgedanken zusammengefasste Vorlesungsergebnisse beilagen, mit dem Fache in Verbindung gehalten. Ausserdem wurde gelegentlich anderes Studienmaterial übermittelt, so die in 3. Auflage erschienene ,Zeitungslehre von Prof. Dovifat [...]. Seit Ende 1944 wird zusammen mit der Gaustudentenführung der Feldpostbrief ^Publizistik' herausgegeben und versandt."5 Zu Beginn des Sommersemesters 1945, für das Dovifat sechs Veranstaltungen angeboten hatte, rückte die Rote Armee ein. Hatte das Institut den Krieg noch halbwegs unversehrt überstanden, so brach nun das Chaos herein: „Zur Zeit parken wieder russische Kolonnen im Hofe des Instituts. In den vergangenen Tagen und Nächten sind die Bestände wieder durchwühlt worden. Eine Schreibmaschine wurde entwendet und Bücher und Akten entnommen." So Dovifat in seinem „Bericht über die Lage des »Instituts für Zeitungswissenschaft an der Universität Berlin' und die notwendige Sicherung seiner Bestände" vom 10. Juli 1945.6 Das Gebäude in der Hessischen Straße wurde als russisches Stabsgebäude genutzt, „sämtliche Akten und Büchereibestände sowie alle wertvollen Sammlungen [wurden] durch Zivilarbeiter in die Keller der Nachbarhäuser geworfen, wo sie z. T. der Witterung und Diebstählen ausgesetzt sind".7 Noch im Sommer 1945 gelang es Dovifat, die Bestände aus dem Außenlager in Lynow und aus den Kellern in der Hessischen Straße zusammenzuführen. 8 Dazu wurden ihm neue Räume im Anthropologischen Institut in der Ihnestraße in Dahlem zugewiesen, die er mit seinem Mitarbeiterstab bezog: seinen beiden Assistenten Fritz Eisheuer und Edith Lindner, seiner Sekretärin, einer Bibliothekarin, einem Amtsgehilren alle bislang erschienenen Selbstdarstellungen; so wird durchgängig davon gesprochen, daß „aufgrund der Kriegsereignisse [...] eine geregelte Arbeit nicht mehr möglich" war und daß „das Archiv [...] während des Krieges fast vollständig verloren gegangen" ist. Hier zitiert aus: Barthenheier, Günter/Hoffmann, Werner (Hgg.): IfP 1948—1978. Eine Dokumentation zum 30jährigen Bestehen des Instituts für Publizistik (Pressedienst Wissenschaft FU Berlin 1/1978). Berlin 1978, S. 8. 5 Ebd., S. 5; Hervorhebung im Original. 6 NL Dovifat 92, K.31/IV, S. 3. 7 Bericht vom 2. Juli 1945; NL Dovifat 92, K.31/I, S. 1. 8 Dabei handelte es sich um ca. 8.000 Bände der Institutsbücherei sowie 70.000 Zeitungs- und Zeitschriftenstücke und den umfangreichen Bestand des Archivs: Bild- und Ausschnittssammlungen, Konferenzprotokolle und Geheimdienste der Pressepolitik der Jahre 1933—45 und ca. 3.000 Dias; s. Bericht vom 10. Juli 1945, NL Dovifat 92, K.31/IV., S. 2.
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fen, vier studentischen Hilfskräften und einer Putzfrau.9 Als dieser Umzug gerade abgeschlossen war, mußte sich Dovifat auch privat nach neuen Räumen umsehen: Sein Haus in der Charlottenburger Straße in Zehlendorf mußte er am 29. August 1945 für das amerikanische Militär räumen. Erst mehr als drei Jahre später sollte er dort wieder einziehen dürfen.10 Nachdem sich am 1. September 1945 der Zehlendorfer Bürgermeister schriftlich für Dovifat eingesetzt hatte, konnte er wenigstens seine umfangreiche Privatbibliothek aus dem besetzten Haus retten.11 Trotz solcher Leumundserklärungen hatte es Dovifat schwer, bei den entscheidenden Stellen für die Wiederbegründung seines Instituts zu werben. Am 10. Juli 1945 hatte er in dem von ihm verfaßten Bericht zur Lage des Instituts noch selbstbewußt erklärt: „Durch die Person seines Leiters und die gesamte Grundeinstellung ist das Institut während der nationalsozialistischen Zeit in seiner politischen Aktivität beiseite getreten."12 Nach einer dreitägigen Internierung durch die Amerikaner13, nach der Räumung seines Hauses Ende August und nachdem er auf Intervention der Sowjets den Chefredakteursposten bei der „Neuen Zeit" im Oktober 1945 verloren hatte, schwand sein selbstbewußtes Auftreten immer mehr. Als die Sowjetische Militär-Administration (SMAD) nun auch noch alle sechs von Dovifat vorgeschlagenen Seminare für das Wintersemester 1945/46 abgelehnt hatte, standen die Chancen für die Neugründung eines Instituts unter seiner Leitung schlecht. Längst schon verhandelten andere über seinen Kopf hinweg über den Neuaufbau des Instituts: Hauptbeteiligter war hierbei der „Verband der Deutschen Presse" (VdP), der dem FDGB angehörte und bis 1947 sowjetzonal gleichgeschaltet wurde.14 Der Vorsitzende des VdP, Paul Ufermann15, 9
Ebd., S. 3. In der Zwischenzeit wohnte er in der Zehlendorfer Knesebeckstraße. 11 Unter anderem schreibt der Bürgermeister: „[...] Dovifat [...] besitzt eine der bekanntesten Bibliotheken für Zeitungswissenschaft. Für diese Bücherei ist ihm durch Räumung seines Hauses jeder Zugriff entzogen und er somit in seiner wissenschaftlichen Arbeit und Aufbauarbeit lahmgelegt. Herr Professor Dr. Dovifat ist der in Deutschland führende Fachmann und auch als solcher im Auslande mehrfach anerkannt. Wir bitten, ihm im Interesse der Wissenschaft jede Erleichterung und Hilfe zu gewähren"; NL Dovifat 92, .31/ . 12 NL Dovifat 92, K.31/IV, S. 1. 13 Vom 31. Juli bis 2. August 1945. 14 Zur Geschichte des Verbandes der Deutschen Presse s. bes. Leo, Johannes: Freie Presse im freien Berlin. 10 Jahre Presseverband Berlin. Eine Rückschau. Berlin 1958. 10
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plante mit dem Rektor der Humboldt-Universität16 maßgeblich den Neuaufbau des Instituts. Dabei sollten, was auch Dovifats Bestreben war, das Institut für Rundfunkkunde und Fernsehrundfunk und das Institut für Zeitungswissenschaft zu einem „Institut für Publizistik" zusammengelegt werden. Es war nicht als „reines Universitätsinstitut"17 konzipiert. Die finanziellen Mittel sollten von der SMAD, der Universität, dem Berliner Magistrat, der Arbeitsgemeinschaft der Zeitungsverleger und dem VdP zur Verfügung gestellt werden.18 Der Akzent sollte eindeutig auf der Aus- und Fortbildung von Journalisten, weniger auf der Publizistikforschung liegen: „Zu diesem Zweck muss die politische Linie von den demokratischen und antifaschistischen Parteigruppen überwacht und bestimmt werden [...]. Die Frage der Vorbildung wäre im Einvernehmen mit der Universität und dem .Verband der Deutschen Presse' sowie der Arbeitsgemeinschaft der Verleger zu behandeln, die Frage der Fortbildung mit den zuletzt genannten beiden Organisationen allein."19 Dovifat paßte sich den Gegebenheiten an. Mit seiner Vita konnte er unter den veränderten politischen Bedingungen nicht mehr auf die Leitung des Instituts hoffen. So war er zu Konzessionen bereit, die seinen Idealen und seinen politischen Überzeugungen zuwiderliefen: Um doch noch eine Chance auf den Lehrstuhl für „Allgemeine Publizistik" zu haben, schlug Dovifat am 15. Februar 1946 in einem Brief an Paul Ufermann vor, die Leitung mit einem Kommunisten zu teilen: „Für die Verwaltung und Betreuung der Aufgaben im einzelnen möchte ich jedoch einen jüngeren Kollegen gewinnen, der [...] als mein Vertreter die politischen und die Vor- und Fortbildungsangelegenheiten des Instituts unmittelbar bearbeitet. [...] Z. B. würde ich vorschlagen, dazu Herrn Dr. Gerhard Dengler zu gewinnen, der zurzeit bei dem sächsischen Blatt der 15
Paul Ufermann, schon vor 1933 in der SPD und im Reichsbund der deutschen Presse aktiv, arbeitete nach 1945 für die in Ost-Berlin erschienene SPD-Zeitung „Das Volk"; 1946 trat er der SED bei und wurde Chefredakteur des SED-Blattes „Vorwärts". 16 Im Januar 1946 war die Friedrich-Wilhelms-Universität in Humboldt-Universität umbenannt worden. 17 Aus dem undatierten Memorandum „Zum Neuaufbau des Instituts für Zeitungswissenschaft"; NL Dovifat 92, K. 22. 18 Auch bis 1945 gab es nur private Rechtsträger des Instituts, zuletzt die „Deutsche Gesellschaft für Zeitungswissenschaft". 19 Memorandum „Zum Neuaufbau" (wie Anm. 17).
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KPD, der .Sächsischen Volkszeitung' in Dresden als Kulturpolitiker tätig ist [...]: Herr Dengler gehört zu den Kollegen, die heute aus meinem Schülerkreise in der KPD tätig sind. Er war lange in der Sowjet-Union und hat dort als Mitglied der Gruppe Seydlitz die marxistische Akademie besucht. Über seine politische Eignung werden seine Dresdner Mitarbeiter und Vorgesetzten nur Gutes zu berichten haben."20 Immer wieder sah sich Dovifat genötigt, seine Aktivitäten in den vergangenen zwölf Jahren zu rechtfertigen. So auch in seinem Schreiben an Ufermann: „Immerhin glaube ich, durch meine heute in allen antifaschistischen Parteien tätigen Schüler und durch meine internationalen Verbindungen nach fast 25jährigen Erfahrungen auf diesem Gebiet, am Aufbau des Kommenden das Meinige leisten zu können. Die gegen mich in der Öffentlichkeit vorgebrachten Vorwürfe sind zu grotesk als daß es sich lohnt, ihnen entgegen zu treten. Sie sind verbitternd, wenn ich meine sehr beweiskräftig erwiesene Kampfstellung und die daraus erwachsenen schweren persönlichen Benachteiligungen in Betracht ziehe. In der kleinen, Ihnen schon vor einigen Wochen überreichten Feststellung über meine Person finden Sie die Belege [...] für die Tatsache, daß es nur meine Absicht war, die Arbeit des Instituts für die nun beginnende und wieder bewegungsfähige Tätigkeit durch das Hitlerregime durchzubringen."21 Mit dieser Art der Verteidigung stand Dovifat — zumindest den SEDKadern gegenüber — auf verlorenem Posten. Er ahnte seine geringen Chancen und kalkulierte den Verzicht auf die Leitung ein, um wenigstens dem von ihm begründeten Institut ein Überleben zu ermöglichen: „Zum Schluß darf ich Sie bitten, meine persönliche Angelegenheit hinter der sachlichen zurückzustellen. Wenn es nicht möglich ist, meine Person als Leiter des Instituts durchzusetzen, so muß das Institut und seine sachliche Zielsetzung unter allen Umständen erhalten bleiben. [...] Natürlich bitte ich unter keinen Umständen um die Beibehaltung meiner Leitung, wenn das Vertrauen der führenden Männer der Presse nicht zu erringen ist."22 Unter den gegebenen Umständen war es nicht zu erringen. Dovifat blieb zwar bis 1947 formal Ordentlicher Professor für Zeitungswissenschaft, doch wurden ihm von der SMAD vier aufeinanderfolgende Semester lang keine Vorlesungen und Übungen genehmigt, 20 21
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NL Dovifat 92, K.22, S. 2; Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd.; Hervorhebung im Original.
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so daß kein Lehrbetrieb stattfand. Im April 1947 wurde die Zahlung seines Professorengehalts, das er bis dahin regelmäßig erhalten hatte, ohne Angabe von Gründen eingestellt. Die Kündigung wurde jedoch nie ausgesprochen. Ein zermürbender und erniedrigender Abschnitt in Dovifats Leben hatte ein klägliches Ende gefunden. Es ging aber nicht nur seine Hoffnung verloren, an der Humboldt-Universität lehren zu können: Der vollständige, seit 1928 zusammengetragene Archiv- und Bibliotheksbestand des ehemaligen Instituts für Zeitungswissenschaft, mit dem Dovifat und sein Mitarbeiterstab gutgläubig in den sowjetischen Sektor zurückgezogen waren23, wurde von der Sowjetischen Militäradministration konfisziert und dem Deutschen Institut für Zeitgeschichte einverleibt.24 Die Bindungen an Berlin waren weitgehend gelöst, viele Erwartungen hatten sich zerschlagen. Dovifat bemühte sich in den kommenden Monaten um eine Anstellung an den Universitäten in Aachen, München, Göttingen und Köln. Die Verhandlungen in Aachen im Wintersemester 1946/47 und in Köln im Frühjahr 1948 blieben im Vorfeld stecken, da Dovifat auf ein persönliches Ordinariat bestand, für das er keine Zusage erhielt. In Göttingen wurde Dovifat im Sommer 1947 zwar einmütig von der Philosophischen Fakultät als Gründungsdirektor eines Instituts für Zeitungswissenschaften vorgeschlagen. Doch das niedersächsische Kultusministerium verweigerte die Zustimmung wegen politischer Bedenken.25 In München dagegen standen die Chancen besser. Ende 1946 war Karl d'Ester von seinem Lehrstuhl für Zeitungswissenschaft suspendiert worden, da ihm Verstrickung mit dem Nationalsozialismus vorgeworfen wurde.26 Ulrich Wirth27, der bei d'Ester promovieren wollte, 23
In die Breite Straße in Berlin-Mitte. Prägnant beurteilt Dovifats erster Nachkriegsassistent Friedrich-Wilhelm Medebach diese einschneidende Maßnahme: „Damit war eine fast zwanzigjährige Aufbauund Forschungsarbeit vernichtet" (Medebach, Friedrich: Das Berliner Institut für Publizistik. In: Publizistik als Wissenschaft. Sieben Beiträge für Emil Dovifat zum 60. Geburtstag. Hg. vom Institut für Publizistik an der Universität Münster [Studien zur Publizistik 1]. Emsdetten 1951, S. 81). 25 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 185 f. u Ebd. 27 Ulrich Wirth, Jahrgang 1918, studierte 1939 und 1940 in Berlin Neuere Geschichte, Literaturwissenschaft und Zeitungswissenschaft. Nach Krieg und Gefangenschaft setzte er sein Studium in München von 1948 bis 1950 fort und schloß es mit einer Promotion über „Die möglichen Leistungen der neuzeitlichen Presse im Dienste des Friedens" bei Karl d'Ester ab. Von 1951 bis 1958 war er parlamentarischer Korre24
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war so plötzlich seines Doktorvaters beraubt. Er entsann sich Emil Dovifats, bei dem er in den ersten Kriegsjahren vier Semester studiert hatte und von dem er wußte, daß er nun auf der Suche nach einer Professur war. Wirth fuhr nach Berlin und suchte Dovifat in seiner Zehlendorfer Wohnung auf. Der war von der Aussicht, ein Ordinariat in München zu erhalten, sehr angetan und sagte unter der Voraussetzung zu, daß die amerikanische Militärverwaltung zustimme. Erst dann wollte er sich offiziell bewerben. Für die Zwischenzeit bot ihm die Philosophische Fakultät der Münchner Universität die kommissarische Vertretung des verwaisten Lehrstuhls an und ersuchte ihn um Gastvorlesungen.28 Doch ehe es dazu kam, war der inzwischen als „unbelastet" eingestufte d'Ester zurückgekehrt. Während Wirth den Groll seines Doktorvaters zu spüren bekam, hatte sich für Dovifat abermals eine Chance zerschlagen.29 In der Zeit bis zur Gründung der Freien Universität Berlin war Dovifat aber nicht nur auf der Suche nach einer neuen Anstellung. Er engagierte sich zwischen 1945 und 1948 sowohl politisch wie journalistisch und wissenschaftlich. So war er im Juni 1945 einer der Gründer der CDU. In enger Zusammenarbeit mit Jakob Kaiser und Eduard Spranger verfaßte er zahlreiche Denkschriften, die der jungen Partei programmatisch den Weg wiesen. Etwa alle zwei Wochen hielt Dovifat auf CDUVeranstaltungen Reden, gleichzeitig half er bei der Vorbereitung mehrerer Wahlen im Herbst 1946. Von Mitte 1946 bis Ende 1947 betreute Dovifat das Hauptreferat „Politische Bildung und Werbung" der CDU. In dieser Funktion bot er vor allem Kurse und Rednerlehrgänge an, in spondent der „Süddeutschen Zeitung" in Bonn. Anschließend wurde er Chef vom Dienst beim Bundespresseamt, bis er dort 1970 die Leitung der Zentralredaktion übernahm. Seit seiner Pensionierung 1983 lebt Ulrich Wirth in Bonn. Die folgenden Informationen erhielt der Verfasser in einem Telephongespräch mit Dr. Wirth am 21. August 1995. 28 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 186. 29 Bemerkenswert ist, wie später diese existentielle Krise Dovifats und seine zahlreichen Versuche, einen Lehrstuhl außerhalb Berlins zu erhalten, in apologetischen Artikeln anläßlich seines 25jährigen Professur-Jubiläums dargestellt wurden: „Und er blieb in Berlin, hart am Brennpunkt des Geschehens, auch als sich in Westdeutschland die Verhältnisse längst normalisiert und man den Professor von dort aus mit mancher einträglichen Professur zu locken versuchte" (Ein Leben aus der Verantwortung. Dr. Emil Dovifat 25 Jahre Professor. In: „Echo der Zeit" 45 [8.11.1953]). Und im Artikel „Mehr als Professor" in „Der Tag" vom 1.11.1953: „Westdeutsche Universitäten boten ihm manche Pfründe in Gestalt einträglicher Lehrstühle — er blieb in Berlin und baute auf, ganz von vorn [...]."
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denen er Vertreter der Orts-, Kreis- und Bezirksgruppen der CDU rhetorisch, politisch und organisatorisch auf bevorstehende Wahlen vorbereitete.30 Seit April 1947 leitete er die CDU-Bildungsstätte in Blankenburg am Harz und fuhr über Monate regelmäßig von Berlin aus dorthin, um Seminare zu den Grundsätzen der Union, der Gestaltung von Wahlreden und zu politischen Einzelthemen abzuhalten. Journalistisch war er zwischen 1945 und 1947 vor allem für das CDUOrgan „Neue Zeit" tätig. Die Aufgabe des Chefredakteurs, die er vom 22. Juli bis 20. Oktober 1945 innehatte, füllte ihn restlos aus.31 Später trat er vor allem mit seinen wöchentlichen Kommentaren im Berliner Rundfunk hervor, bis auch hier die ostzonale Zensur im Januar 1948 ein Verbot verhängte. Mit ehemaligen Redakteuren der „Neuen Zeit" gründete Dovifat in West-Berlin Anfang 1948 die Zeitung „Der Tag", an deren Konzeption er wesentlich beteiligt war.32 In der journalistischen Bildungsarbeit war er mit einigen Seminaren und Vorlesungen aktiv. So erhielt er im Sommer 1946 vom Berliner Magistrat die Einladung, Kurse für Nachrichtenfachleute und Pressereferenten abzuhalten. In der Volkshochschule Tempelhof bot er ab Januar 1947 an zehn Abenden eine Arbeitsgemeinschaft „Wesen und Technik der Zeitungsarbeit mit schriftlichen Übungen" an.33 Vom Wintersemester 1947/48 bis zum Wintersemester 1948/49 hielt er je eine Vorlesung am Berliner Hochschulinstitut für Wirtschaftswissenschaften zum Thema „Die Presse und ihre Aufgaben in Handel und Wirtschaft". Seine wissenschaftliche Tätigkeit in den direkten Nachkriegsjahren war eher untergeordneter Natur. 1947 beteiligte er sich mit einem Beitrag über die Lage der deutschen Presse am „Handbuch der Lizenzen Deutscher Verlage, Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlage", zu dem er den Anstoß gegeben hatte.34 Ansonsten beschränkte sich seine publizistikwissenschaftliche Arbeit auf den Wiederaufbau eines Archivs, nachdem alle über den Krieg geretteten Bestände in Ost-Berlin beschlagnahmt worden waren. Nur die Handbibliothek, einige Zeitschriftenbände und Dovifat selbst bildeten 1947 den Torso eines PhantomInstituts, das sich in seiner Zehlendorfer Wohnung befand. Viele ehemalige Studenten und Mitarbeiter halfen bei der Beschaffung von Archiva30
S. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 219. Ebd., S. 18. 32 Ebd., S. 21. 33 Ebd., S. 220. 34 Ebd., S. 186 f. 31
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lien; einer von ihnen war Hans Pappenheim, der damals in einem Kriegsumsiedlerlager im Kreis Westprignitz interniert war. Aus einem Brief an Dovifat vom 24. März 1947 geht hervor, wie mühsam der Aufbau des Archivs voranging und auf welche Quellen zurückgegriffen werden mußte: „Auch sonst war die Zeit nicht ganz verloren, da ich in Erfurt im Lager und hier Kameraden von USA-Lagern traf, die mir Exemplare von deutschen K[riegs]g[e]f[angenen]-Lagerzeitungen zur Ansicht zeigten, die ich für unser Zeitungsarchiv bearbeiten konnte. So kamen noch 10 neue Blätter des italienischen .Raumes' und — um Vergleichsmöglichkeiten zu haben — einige Blätter aus Frankreich zutage. Auch eine Titelseite schenkte mir ein Kamerad. In der Anlage darf ich Ihnen das Material überreichen."35 Der Widerstand gegen die sowjetzonalen Eingriffe in die HumboldtUniversität wuchs ständig. Lehrende und Studierende wehrten sich vergeblich gegen die politische Einflußnahme der SED und die Angriffe auf die Unabhängigkeit von Lehre und Forschung. Als im April 1948 drei Studenten aus politischen Gründen von der Universität relegiert worden waren, wurde die Forderung nach einer wahrhaft freien Universität laut. Dovifat hielt sich zurück: Während ein Gründerkreis von 40 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung tagte und der dreizehnköpfige „Vorbereitende Ausschuß" im Sommer 1948 ins Leben gerufen wurde, bemühte sich Dovifat noch immer um eine Wiedereinstellung an der Humboldt-Universität.36 Er reichte Gutachten und Ehrenerklärungen von Kollegen ein, schickte Zeugnisse und füllte Fragebögen aus.37 Zu den Mitbegründern der Freien Universität Berlin gehörte Dovifat jedenfalls nicht.38 Erst als er am 8. September 1948 vom Vorbereitenden Ausschuß zur Mitarbeit eingeladen worden war, engagierte sich Dovifat und erkannte neue Möglichkeiten auch für sein Institut. Ab Oktober 1948 bemühte er sich um den Aufbau eines zeitungs35
Kopie des Briefes im Besitz des Verfassers. Auch dies wird später in einem Nachruf auf Dovifat fernab der historischen Wahrheit verklärt: „Dovifat war einer der ersten, der mit den gegen einen sich schon wieder installierenden Totalitarismus protestierenden Studenten die Universität Unter den Linden verließ" (Voß-Dietrich, Valeska: Für ihn war die Publizistik niemals graue Theorie. Professor Emil Dovifat gestorben. In: „Die Welt" vom 10.10.1969). 37 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 187. 38 Dies behauptete Dovifat später nicht nur selbst, sondern fand auch allgemeine Verbreitung in der Publizistik bis heute. Vgl. hierzu besonders Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 187, Anm. 549. 36
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wissenschaftlichen Instituts und den Lehrauftrag für Publizistik. Am 13. November 1948 schließlich wurde Dovifat als ordentlicher Professor an die kurz zuvor gegründete Freie Universität Berlin berufen. Das Institut bekam fünf Räume im damaligen Hauptgebäude der FU in der Dahlemer Boltzmannstraße 3 zugewiesen. Dovifat führte als erweiterten Begriff den Namen „Institut für Publizistik" ein und begründete später diese „Erweiterung der ,Zeitungslehre' zur allgemeinpublizistischen Lehre" mit „der harten politischen Erfahrung der agitatorischen Überwältigungsformen, die das Hitlerregime aufbrachte. Ihre wissenschaftliche Bearbeitung wurde damals, aus naheliegenden Gründen, unterbunden."39 Trotz des neuen Begriffs „Publizistik" und obwohl fortan auch intensiv die Bereiche Film und Rundfunk behandelt wurden, entsprachen doch Gliederung und Aufbau dem alten „Institut für Zeitungswissenschaft", dessen Schwerpunkt auf dem Pressewesen gelegen hatte40. Der Neuanfang war beherrscht von Improvisation: „Es war ein gewagtes Unterfangen, während der schwersten Zeit der Blockade Berlins den Aufbau eines solchen Instituts buchstäblich aus dem Nichts zu wagen, denn weder waren eine Bibliothek, noch ein Archiv, noch irgendwelches Lehrmaterial oder gar Einrichtungsgegenstände vorhanden."41 Fragmente einer Lehrmittelsammlung erstellte Dovifat aus seiner 39
Dovifat, Emil: Ergebnisse der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 7 (1962), S. 78; vgl. auch den grundlegenden Artikel, in dem Dovifat die Publizistik als normatives geisteswissenschaftliches Fach definiert, übrigens der erste Artikel in der Fachzeitschrift „Publizistik": Dovifat, Emil: Publizistik als Wissenschaft. In: Publizistik l (1956), S. 3—10; vgl. hierzu auch Boguschewsky-Kube, Sigrid: Der Theorienstreit zwischen Publizistik und Zeitungswissenschaft. Ein Paradigmenproblem (tuduvStudien: Reihe Kommunikationswissenschaften, Bd. 5). Phil. Diss. München 1989; hierin besonders das Kapitel 4.2.1.1.: Normative Publizistikwissenschaft (ebd., S. (A— 73), in dem „Dovifat mit seiner Kommunikator-zentrierten Führungslehre [...als] der erste Vertreter des publizistischen Ansatzes" bezeichnet wird (ebd., S. 64). 40 Vgl. Barthenheier/Hoffmann, IfP (wie Anm. 4), S. 9; vgl. auch Medebach, Institut (wie Anm. 24), S. 82, der bestätigt, daß „alle Abteilungen [...] nach dem Vorbild des alten Instituts aufgebaut wurden"; s. auch Benedikt, Klaus-Ulrich: Das Berliner Institut für Zeitungskunde/Zeitungswissenschaft. In: vom Bruch, Rüdiger/Roegele, Otto B. (Hgg.): Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Biographisch-institutionelle Stationen der deutschen Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1986, 105—141. 41 Medebach, Institut (wie Anm. 24), S. 82. Im verklärenden Rückblick schildert Dovifat diese Zeit des Aufbruchs in einer Sondernummer des „FU-Spiegel" zum 15jährigen Jubiläum der Freien Universität 1963: „Es begann eine wunderschöne Zeit:
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Privatbibliothek, erst nach und nach konnte sie durch Spenden von Verlagen oder mit zeitungswissenschaftlicher Literatur aus den Berliner Antiquariaten erweitert werden. „Beträchtliche Bibliotheksbestände wurden zum Teil unter abenteuerlichen Umständen aus der Ostzone herbeigeschafft und aus dem Westen gestiftet", so Dovifat in einem Beitrag 1950 für das Verbandsorgan „Katholische Deutsche Akademikerschaft".42 Journalisten schenkten Zeitungen und Zeitschriften, Rundfunkanstalten überließen dem Institut technische Apparate.43 Das „Information Center" und die internationalen Vertretungen stifteten kontinuierlich Material zu einer Sammlung für das ausländische Pressewesen.44 Von Beginn an wurde der Aufbau eines neuen Archivs forciert, auch hier übernahm Dovifat die Struktur des zeitungswissenschaftlichen Instituts der Vorkriegszeit: Zeitungsausschnitte wurden nach Forschungsgebieten sortiert, eine historisch-topographische Sammlung angelegt, je ein Exemplar aller laufenden Zeitungen der jungen Bundesrepublik gesammelt.45 Im Wintersemester 1948/49 nahm Dovifat den Lehrbetrieb für 64 Immatrikulierte mit Vorlesungen zur „Allgemeinen Publizistik" und zur „Geschichte des Zeitungswesens" auf. Auch die Tradition der „Publice"Veranstaltungen — Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten, die regelmäßig mittwochs von 12 bis 13 Uhr stattfanden — setzte Dovifat mit Beginn des ersten FU-Semesters fort: „Das aktuelle Ereignis in Presse, Rundfunk und Film" las er bis zum Sommersemester 1960 insgesamt zehnmal. Außerdem bot er 1948/49 die „Einführung in die zeitungswissenschaftliche Arbeit" und Seminare zur „Kulturpolitik in der Zeitung"
das Leben aus dem Kopf — aber vor einer spannend interessierten Hörerschaft. Anfangs stand sie noch oder saß am Boden, dann versah sie sich — sozusagen individuell mit Sitzgelegenheiten. Mit den Stühlen ging man von Hörsaal zu Hörsaal. Rede und Gegenrede unter solchen Umständen, bei Kerzenlicht in unbeheizten Räumen sind unvergeßlich für Studenten und Professoren." Zit. n. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 194. 42 Zit. n. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 188. 43 Vgl. Barthenheier/Hoffmann, IfP (wie Anm. 4), S. 9. 44 Vgl. Medebach, Institut (wie Anm. 24), S. 83. 45 Als „Abfallprodukt" des Archivs wurden auch Artikel über die Freie Universität ausgeschnitten. Da die Hauptaufgabe der FU-Pressestelle darin bestand, solche Berichte zu dokumentieren, für die Universität zu sprechen und Ansprechpartner der Presse zu sein, lag es nahe, Dovifat die Leitung der Pressestelle zu übertragen, was im SoSe 1949 auch geschah.
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sowie über den „Erlebnisbericht (Reportage) im Rundfunk" an.46 Ein gleichbleibendes Schema von drei, manchmal auch vier Vorlesungen und meist fünf Seminaren pro Semester bestimmte Dovifats Lehre an der FU: Einführungsvorlesung mit begleitendem Proseminar, ein oder zwei monothematische Vorlesungen plus Mittelseminar zu einem Aspekt der Publizistik und die oben erwähnte Publice-Vorlesung. Außerdem ein, manchmal zwei Oberseminare als journalistische Praxisübung und ein Doktorandenseminar. Bis zum Sommersemster 1959 war Dovifat alleiniger Vertreter seiner Disziplin an der Freien Universität.47 Lediglich Pro- und Mittelseminare führte er seit dem Wintersemester 1951/52 mit Unterstützung seiner jeweiligen Assistenten durch.48 1950 waren bereits 135 Studierende im Hauptfach immatrikuliert49, bis zum Wintersemester 1960/61 pendelte die Anzahl zwischen 100 und 15050. Die Räume in der Boltzmannstraße reichten bald schon nicht mehr aus. Vom November 1950 bis zum Wintersemester 1954/55 teilten sich die Publizisten mit 46
S. hierzu und im folgenden die Vorlesungsverzeichnisse vom WiSe 1948/49 bis zum SoSe 1969, die sich im Besitz des Berliner Publizistik-Instituts befinden. 47 Nur Hans Cürlis entlastete Dovifat mit seinem Angebot zur Filmwissenschaft, die 1950 — erstmals an einer deutschen Hochschule — „unter Leitung des bekannten Prof. Dovifat" (s. Bericht dazu in: „Die Welt" vom 20.1.1951) als Studienfach im Lehrplan aufgenommen wurde. Vom SoSe 1955 bis zum WiSe 1960/61 war eine Veranstaltung von Cürlis pro Semester auch im Vorlesungsverzeichnis der Publizistik aufgeführt: Ohne Unterbrechung hielt Cürlis die stets gleichlautende Vorlesung „Einführung in die Filmkunde (unter besonderer Berücksichtigung der publizistischen Formen)". Eine Initiative zur Gründung eines eigenen „Instituts für Filmkunde" aus ERP-Mitteln, die Dovifat ab 1956 betrieb, wurde 1959 abgelehnt. In diesem Institut sollten Filme archiviert und Produktionen des östlichen Auslandes beobachtet werden (vgl. Benedikt, Dovifat [wie Anm. 1], S. 87). 48 1949 traten die ersten beiden Nachkriegsassistenten ihren Dienst bei Dovifat an: Friedrich-Wilhelm Medebach und Karl-Heinz Salzmann. Doch erst im WiSe 1959/60 bot eine seiner Assistentinnen, Annelore Lippe, ein Seminar in eigener Regie an; im darauffolgenden Semester leiteten auch Günter Kieslich und Elisabeth Löckenhoff je ein Mittelseminar. 49 S. Barthenheier/Hoffmann, IfP (wie Anm. 4), S. 9. Von den 90 Bewerberinnen und Bewerbern, die sich zum WiSe 1950/51 um eine Zulassung bemühten, wurden wegen der schwierigen finanziellen Lage der Freien Universität nur elf aufgenommen (vgl. Medebach, Institut [wie Anm. 24], S. 83). Als Nebenfach konnte Publizistik zwar von Anfang an studiert werden, doch erst im SoSe 1964 wurde eine Prüfungsordnung verabschiedet und so das Nebenfachstudium ordentlich eingerichtet. 50 S. Graphik „Entwicklung der Studentenzahlen seit 1948" in: Barthenheier/Hoffmann, IfP (wie Anm. 4), S. 13.
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dem Institut für Politische Wissenschaften eine Villa in der Gelfertstraße 11, dann wurde das Institut für Publizistik im Henry-Ford-Bau in der Garystraße untergebracht, wo es bis zum Sommersemester 1968 blieb. Von dort zog das Institut in eine eigene Villa in die Hagenstraße 56 am Roseneck51.
III Das Institut in der Konsolidierungsphase: Lehre zwischen Anspruch und Wirklichkeit Dovifat sah es als eines seiner wichtigsten Ziele, im Rahmen der Fachdisziplin die zwölf nationalsozialistischen Jahre und das Versagen der demokratischen Presse besonders nach 1930 zu berücksichtigen. Dahingehend äußerte er sich jedenfalls wiederholt öffentlich: Bereits einen Tag vor seiner offiziellen Berufung sprach Dovifat anläßlich der Neugründung des Instituts für Publizistik im RIAS am 12.11.1948 über diese Akzente: „Aber was als eine Forderung der Publizistik zu gelten hat, ist, daß man klar die Richtung einer Zeitung erkennt und daß man weiß, welches die Persönlichkeiten sind, die eine Zeitung tragen. Denn das ist das Gefährliche gewesen in der Zeit vor 1933 und erst recht nach 1933: daß das Zeitungswesen mit verkapptem Visier kämpfte, daß Blätter Menschen gehörten, von denen man gar nicht wußte, daß sie Zeitungseigentümer waren. [...] daneben haben wir die Typen absoluter Geschäftszeitungen gehabt, die von 1919 aus absoluter Demokratie ihren Wandel durchgemacht haben bis zu einem Verfall in die Ideen und die Ideologien der Hitlerherrschaft. Da nicht wieder hinzukommen, ist eine demokratische Grundvoraussetzung der künftigen Publizistik [...]."52
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Die meisten Diensträume befanden sich in den siebziger Jahren in zwei angemieteten Etagen eines Hauses in der Rüdesheimer Straße l, in dem auch ein Großteil der Lehrveranstaltungen abgehalten wurde — bis die Baupolizei dies wegen Einsturzgefahr verbot (vgl. Hoffmann, Alexander von: Schlußbemerkungen eines Spätaufklärers. Abschiedsrede am 12. Februar 1988. Stadthagen 1988, S. 11). Vom Roseneck und vom Rüdesheimer Platz zog das Institut 1982 auf das Gelände der alten PH nach Lankwitz in die Malteserstraße, wo es sich noch heute befindet. 52 Dovifat, Emil: Berliner Publizistik. In: Herz, Hans (Hg.): Berliner Forum, 2. Jg., Heft 1/1949, S. 27. Die vom RIAS Berlin alle zwei Monate herausgegebene Broschüre
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Regelmäßig behandelte er diese Thematik in Vorträgen vor den „Freunden der Publizistik"53. Auf der Eröffnungsversammlung am 18.11.1949 hielt er die Festrede über „Die wissenschaftliche Publizistik in der Praxis". Die Auseinandersetzung Dovifats mit der jüngsten Vergangenheit und die zukünftige Rolle der Publizistikwissenschaft fand Beachtung in der Presse des darauffolgenden Tages: Dovifat „maß es der publizistischen Wissenschaft als eine Aufgabe zu, zu erforschen, wie ein Volk in seiner Willensbildung geführt und leider auch verführt werden könne. Hätten die Deutschen mehr von den Gesetzen der Massenführung gewußt, hätten sie in den letzten zwölf Jahren sicher besser Agitation von Wahrheit unterscheiden können."54 Drei Wochen später war Dovifat abermals Redner bei den „Freunden der Publizistik". Selbstkritisch merkte er an, daß „die Generation der Fünfzig- bis Sechzigjährigen [...] versagt" habe und bekannte: „Wir konnten dem Nationalsozialismus nicht paroli bieten [...]. Auch Severing und Brüning haben zugegeben, mit der publizistischen Bewältigung der Nationalsozialisten nicht fertig geworden zu sein. Wenn in den Jahren vor 1933 der breiten Oeffentlichkeit das Gefühl dafür vermittelt worden wäre, was echte Demokratie und was häßliche Demagogie ist, vielleicht wären die Deutschen dann nicht auf einen Hitler hereingefallen."55
„Berliner Forum" war ein die gleichnamige Sendereihe begleitendes Druckerzeugnis, in dem alle Sendemanuskripte veröffentlicht wurden. 53 Die „Freunde der Publizistik" waren als erste studentische Vereinigung vom Berliner Magistrat im November 1949 zugelassen worden und stellten im Gegensatz zum wiederauflebenden Korporationswesen „eine neue Form studentischen Gemeinschaftslebens auf der Grundlage beruflichen Zusammengehörigkeitsgefühls" dar, so Rektor Redslob in seiner Festansprache anläßlich der Eröffnungsversammlung der „Freunde der Publizistik" am 18.11.1949 (zit. n. der Berichterstattung in: „Der Tag" vom 19.11.1949). Dovifats Studenten, die die Organisation gegründet hatten, wollten mit den „Freunden der Publizistik" ein Bindeglied zwischen Wissenschaft und journalistischer Praxis ins Leben rufen. Sie luden regelmäßig Wissenschaftler und Berufsvertreter zu Vorträgen ein und halfen bei der Vermittlung von Stellen und Volontariaten (s. hierzu: Berger, Lieselotte: Freunde der Publizistik. In: Mitteilungen für Dozenten und Studenten 2 [1949], H.9 vom 7.11.1949 und Benedikt, Dovifat [wie Anm. 1], S. 194 f.). 54 In: „Der Tag" vom 19.11.1949. 55 Aus der Rede Dovifats am 9.12.1949 in der Deutschen Hochschule für Politik vor den „Freunden der Publizistik", zit. n. einem Zeitungsbericht über die Veranstaltung im „Kurier" vom 10.12.1949.
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Nach der Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit Ende 1948 wurde Dovifat auch von anderen Verbänden und Vereinen regelmäßig zu Vorträgen eingeladen, in denen er sich kritisch und selbstkritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte. Und regelmäßig berichteten die Printmedien darüber, so über seine Rede vor der „Gesellschaft der Freunde der Natur- und Geisteswissenschaften" über die „Mittel der publizistischen Massenführung im Wandel der Staatsformen", in der er das Versagen der Presse in den Jahren 1930 bis 1933 kritisierte: „Obwohl die demokratischen Kräfte die bedeutendsten und am meisten verbreiteten Organe besaßen, sei die Oeffentlichkeit der Redekunst Adolf Hitlers erlegen"56. Den Worten ließ Dovifat auch die Tat folgen: Als die Bundesregierung unter Ludwig Erhard einen Gesetzesentwurf in den Bundestag einbrachte, der die Verjährung von NS-Verbrechen am 8. Mai 1965 vorsah, protestierten 153 Professorinnen und Professoren der Freien Universität in einem offenen Brief: „Der Gedanke, daß von diesem Zeitpunkt an Furchtbares, was vor 1945 geschehen ist, ungeahndet bleiben soll, ist unerträglich".57 Dieses Schreiben richtete sich direkt gegen den Entwurf der CDU/FDP-Regierung und unterstützte indirekt den SPDGesetzesvorschlag des Rechtsexperten Adolf Arndt, der eine Verlängerung der Verjährungsfrist und eine generelle Regelung für Mord und Völkermord vorsah. Den Protestbrief unterzeichneten u.a. Helmut Gollwitzer und Emil Dovifat. Doch trotz solchen Engagements und aller öffentlichen Bekundungen Dovifats, die publizistikwissenschaftliche Auseinandersetzung um die jüngste Vergangenheit voranzutreiben, behandelte er in der Lehre den Nationalsozialismus nur marginal. Der hier folgende Blick auf Vorlesungen und Seminare, die Dovifat an der Freien Universität gehalten hat, sollen zum einen dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nachgehen und zum anderen einen Überblick geben über Dovifats umfangreiches Lehr-Repertoire. Bereits Themen und Titel seiner Universitätsveranstaltungen lassen vermuten, daß Dovifat gegenüber der Methode und der Lehrtätigkeit vor 1945 keine wesentliche Akzentverschiebung vorgenommen hat.58 56
Zit. n. dem Bericht in: „Der Tagesspiegel" vom 11.2.1949. Zit. n. dem Bericht in der „Berliner Morgenpost" vom 3.3.1965. 58 Vgl. Benedikt, der dazu schreibt: „Auch wenn Dovifat die Inhalte des Faches fortentwickelte, so blieb er doch methodisch konservativ: beschreibend und wertend, sich stützend auf Geschichte, Philologie und Volkswirtschaftslehre (oder Wirtschaftsgeschichte). Psychologische Aspekte hat Dovifat normativ eingesetzt, sozialwissen57
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Eine Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse ergibt, daß Dovifat nach 1948 bis zum Ende seiner Lehrtätigkeit nicht ein einziges Mal den Nationalsozialismus in den Mittelpunkt einer Veranstaltung stellte. Auch das Feld der Propaganda thematisierte er nur am „Rundfunk in der SBZ" (Mittelseminar im WiSe 1960/61) und in einem übergeordneten Rahmen: „Die Gewalt der Lüge in der Propaganda" (Oberseminar im SoSe 1959). Eine Publice-Vorlesung beschäftigte sich mit der „Technik der publizistischen Führung im demokratischen und totalitären Staat" (SoSe 1950 und WiSe 1950/51), und auch in den übrigen Vorlesungen wurde die Zeit von 1930 bis 1945 lediglich gestreift. In den regelmäßig durchgeführten Vorlesungen „Zur allgemeinen Publizistik" setzte er in 39 Nachkriegssemestern59 sich immer wiederholende Schwerpunkte60. schaftliche Erkenntnisse nur zur inhaltlichen Bestätigung seines Lehrgebäudes benutzt" (Benedikt, Klaus-Ulrich: Was bleibt heute von Dovifats wissenschaftlichem Werk? Zum 100. Geburtstag von Emil Dovifat. In: Publizistik 35 [1990], S. 483). 59 Dovifat bot ununterbrochen seit dem SoSe 1948 bis zum WiSe 1966/67 Veranstaltungen an. Krankheitsbedingt fiel die angekündigte Vorlesung „Die deutsche Sprache in der praktischen Publizistik" im WiSe 1967/68 aus. Die Lehre nahm er danach nicht mehr auf. Bis zum WiSe 1960/61, dem letzten Semester als kommissarischer Leiter des Instituts, hielt er regelmäßig Vorlesungen und Seminare. Danach bot er — mit Ausnahme der fortlaufenden Doktorandenseminare — nur noch einmal, im WiSe 1961/62, ein Seminar an. Dagegen war er mit seinen Standardvorlesungen zur Geschichte der Publizistik, zur Sprache, zum Feuilleton und zur Zeitschrift noch bis zum SoSe 1967 einmal pro Semester in der Lehre vertreten. Insgesamt führte Dovifat zwischen 1948 und 1962 in 27 Semestern — abzüglich des SoSe 1961, als Fritz Eberhard Leiter des Instituts wurde — 63 Seminare in Eigenregie durch, jene also nicht mitgerechnet, die er in Zusammenarbeit mit seinen jeweiligen Assistenten anbot. In der Zeit von 1948 bis 1967 hielt er außerdem 82 Vorlesungen. Als ein „typisches" Semester des Instituts für Publizistik sei hier beispielhaft das Lehrangebot des SoSe 1955 aufgeführt (Hervorhebungen im Original): „Vorlesungen: Allgemeine Zeitschriftenlehre (Deutschland und Ausland), Dovifat; Staatliche Macht und publizistische Freiheit — eine Darstellung der Beziehungen zwischen Staat und Publizistik, Dovifat; Das aktuelle Ereignis in Presse, Rundfunk und Film (für Hörer aller Fakultäten), Dovifat; Einführung in die Filmkunde (unter besonderer Berücksichtigung der publizistischen Formen), Cürlis; Publizistische Probleme des Ostraumes, Dovifat; Proseminar. Einführung in die Publizistik, Dovifat; Mittelseminar I: Die Zeitschrift im Werden politischer und geistiger Bewegungen, Dovifat mit Assistent Dr. Medebach; Mittelseminar H: Das Problem der Massenführung in der Publizistik, unter besonderer Berücksichtigung der Massenagitation, Dovifat mit Assistent Dr. Hildebrandt;
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Auch das Seminarangebot Dovifats nach 1948 unterschied sich kaum von dem vor 194561. Neben den regelmäßigen Einführungen in die Allgemeine Publizistik und den praktischen Übungen62 wurden in Mittelund Oberseminaren „Nachrichtenwesen und Kommentar im Rundfunk" (SoSe 1949), „Staat und Presse" (WiSe 1949/50), „Geschichte und aktuelle Probleme der Nachrichtenpolitik" (SoSe 1950), „Die Karikatur als publizistische Form" (SoSe 1950), „Die Aufgabe der Kunstkritik" (SoSe 1951), „Die feuilletonistische Haltung in Rede, Schrift und Bild" (SoSe 1953), „Die Technik der Massenführung und der Meinungsforschung" (SoSe 1957), „Aufgaben und Grenzen der Pressefreiheit" (WiSe 1958/59), „Publizistische Betrachtungen an Fernsehsendungen" (SoSe 1960), „Rundfunk in der SBZ" (WiSe 1960/61), „Positive und negative Werte der Bildpublizistik" (WiSe 1960/61) u.v.m. thematisiert.
Oberseminar. Die Publizistik des Bildes, Dovifat; Doktorandenseminar, Dovifat." 60 „Geschichte der Publizistik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart", „Wesen und Systematik der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung", „Kulturpolitische Aufgaben der deutschen Publizistik", „Publizistische Probleme des Ostraumes" und »Die Sprache in der deutschen Publizistik". Zur Zeitungskunde wechselten sich die bereits vor 1945 gehaltenen Vorlesungen „Allgemeine Zeitungslehre" und „Pressewesen des Auslandes" ab. Außerdem las Dovifat alle zwei Jahre „Deutsche Sprache in der praktischen Publizistik" und im Dreijahresturnus „Allgemeine Rundfunklehre" und „Bild und Film im politischen Kampf" (im Rahmen dieser Vorlesung zeigte Dovifat auch Ausschnitte des NS-Propagandafilms „Jud Süß", worüber in der „Depesche" vom 13.2.1959 berichtet wurde) bzw. „Die Publizistik durch Bild und Film". Andere Vorlesungsthemen wurden nur zwei- bzw. dreimal nach 1948 behandelt: „Staat und Publizistik" (SoSe 1952), „Methoden der wissenschaftlichen Betrachtung publizistischer Aktionen" (WiSe 1952/53, SoSe 1956, SoSe 1959), „Der Feuilletonismus als publizistisches Mittel" (SoSe 1954, WiSe 1957/58) und „Die großen Redner in Geschichte und Gegenwart" (SoSe 1959, WiSe 1961/62). 61 Treffend formuliert Benedikt: „Insgesamt unterschieden sich Dovifats Lehrveranstaltungen von seiner Arbeit während des Dritten Reiches und davor nur in der Ausweitung des Stoffes auf ,alle publizistischen Mittel'. Das Konzept der Veranstaltungen, der Aufbau des Studiums und die Gestaltung der Vorlesungen und Seminare [...] hatte Dovifat kaum verändert." Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 193. 62 31 der 63 Seminare, die Dovifat zwischen 1948 und 1962 anbot, waren „Einführungen in die Allgemeine Publizistik" (14) und Übungen (17) „zur publizistischen Form", „zur deutschen Publizistik", „zur Sprache der Zeitung", „zur redaktionellen Arbeit", „zur Kulturpolitik in der Zeitung", „zur graphischen Gestaltung der Zeitung" usw.
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In den Seminaren gab Dovifat den Leitfaden vor, indem er je nach Größe der Pro-, Mittel- und Oberseminare ca. zehn bis zwanzig Referate vergab, die für die inhaltliche Ausgestaltung sorgten. So lassen sich anhand der Referatsthemen Rückschlüsse auf die Akzentsetzung in den jeweiligen Seminaren ziehen63. Ein Abgleich von Referats- und Seminarthemen unter diesem Gesichtspunkt bestätigt, daß sich nicht nur die Titel, sondern auch die Inhalte der einzelnen Seminare nach 1948 nur wenig von denen vor 1945 unterschieden. Dovifats Erfahrungen mit der Publizistik in zwölf nationalsozialistischen Jahren flössen nur am Rande in sein Lehrprogramm ein und bildeten keinen eigenen Akzent: Das Oberseminar „Erscheinungsformen der Publizistik im demokratischen und im totalitären Staat" (SoSe 1952) verzichtete völlig auf den Blick in die jüngste Vergangenheit und beschäftigte sich vor allem mit der DDR. Nur selten wurden Referate zum Nationalsozialismus vergeben: „Das politische Lied als Einzelproblem der wissenschaftlichen Publizistik", ein Mittelseminar des WiSe 1951/52, schlug einen Bogen vom „Lied vor Walther von der Vogelweide und die Kreuzzugslieder" über „Die publizistischen Merkmale und Wirkungen in den Liedern der Landsknechte und der Türkenkriege", „Das politische Lied in der Burschenschaftsbewegung", „Die Lieder des [ersten] Weltkrieges" bis zum „publizistischen Lied in der totalitären [kommunistischen] Propaganda". Nur eines der zwölf Referate hatte „Das Lied als publizistisches Mittel in der Zeit von 1933 bis 1945" zum Thema. Auch unter den 19 Referaten des Oberseminars „Die feuilletonistische Haltung in Rede, Schrift und Bild" (SoSe 1953) findet sich — trotz der Ergiebigkeit der nationalsozialistischen Propaganda für dieses Thema — nur eines, das eine Goebbels-Rede analysierte64. Um seinen Studenten die Auswirkungen des Totalitarismus auf die Publizistik zu zeigen, zog Dovifat die DDR Nazideutschland vor. Unter dem Mittelseminarthema „Der Feuilletonismus als ästhetische und politische Form" (WiSe 1959/60) wurden drei Referate zur DDR-Presse vergeben, u.a. „Feuilletonismus in der totalitären Welt: Die Zeitungen der SBZ"; eines behandelte die Nazi-Diktatur: „Feuilletonistisch-politische Form im Hitlerregime". Zwischen 1948 und 1962 bot Dovifat die zwei oben erwähnten 63
Die Referatsthemen aller Seminare der fünfziger und sechziger Jahre sind in der Fachinformationsstelle Publizistik (IPM Massenkommunikation) an der FU Berlin archiviert. 64 „Deutschland unter dem Hammer", gehalten am 25.2.1930 in Magdeburg.
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Seminare zur „Propaganda" an. Einzig in dem Oberseminar mit dem Titel „Die Gewalt der Lüge in der Propaganda" (SoSe 1959) bildete die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einen von zwei Schwerpunkten: Neben sieben Referaten zur deutschen und zur alliierten Propaganda des Ersten Weltkriegs wurden sieben Themen aus dem Bereich der nationalsozialistischen Propaganda gewählt: „Die Macht der Lüge im Hitler-Regime: Der Reichstagsbrand", „Georgi Dimitrov und der Reichstagsbrand-Prozess", „Die Lüge in der nationalsozialistischen Propaganda während der tschechoslowakischen Krise 1938/39", „Begründung des Feldzuges gegen Polen", „Begründung des Westfeldzuges", „Die Begründung des Krieges gegen Dänemark und Norwegen", „Die Begründung des Feldzuges gegen die Sowjetunion in der nationalsozialistischen Propaganda"65. Das Gros der Dovifatschen Seminare setzte sich nicht mit dem Ende der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Zeit auseinander, obwohl — mit Ausnahme der Übungen zur journalistischen Praxis — viele Seminartitel dies hätten nahelegen können, zum Beispiel Dovifats Oberseminar „Aufgaben und Grenzen der Pressefreiheit" (WiSe 1958/59): Die Referatsthemen weisen hier eine zeitliche Lücke auf zwischen dem „Reichspressegesetz von 1874" und dem „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953". Summa summarum hat Do vif at nach 1948 gut tausend — sich von Semester zu Semester teilweise wiederholende — Referate in seinen Seminaren vergeben. Weniger als zwanzig davon beschäftigten sich mit der nationalsozialistischen Problematik und diese meist im Rahmen einer übergeordneten Thematik. Aus den Titeln der Seminare und den darin behandelten Referatsthemen ergibt sich vor allem erneut das Verständnis Dovifats von einem normativ geprägten Gesinnungsjournalismus, den er in Seminaren zum Beispiel zu „Charakter und Wesensveranlagung der publizistischen Persönlichkeit" (SoSe 1949), zu „Kritik und Kritiker" (WiSe 1959/60) und über „Positive und negative Werte der Bildpublizistik" (WiSe 1960/61) seinen Studentinnen und Studenten vermittelte und der in Referaten wie „Grundtriebe und Eigenschaften der Masse,
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Neun weitere Referate wurden zu Themen aus unterschiedlichen Epochen gehalten, zum Beispiel „Die Lüge in der Lehre Macchiavellis", „Die Lüge in der Politik von Karl V. bis Napoleon", „Die Vorbereitung der Chruschtschow-Aktion gegen Berlin in der Ostpresse" usw.
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psychologische, soziale, wirtschaftliche und biologische Herkunft"66 und Dutzenden von Referaten zur publizistischen Führung der Massen — zum Beispiel „Die Tat als Mittel publizistischer Führung"67 — zum Ausdruck kommt. Auch ein Blick auf die von Dovifat an der FU betreuten Magisterarbeiten und die 121 Nachkriegs-Doktorarbeiten offenbart keine andere thematische Schwerpunktverteilung.68 Dovifats in diversen Festansprachen und öffentlichkeitswirksamen Vorträgen formulierte Zielvorgabe, die zwölf nationalsozialistischen Jahre und das Versagen der demokratischen Presse in der Weimarer Republik in seiner Lehre zum Thema zu machen, ist Dovifat selbst nicht gefolgt. Erst sein Nachfolger Fritz Eberhard setzte mit seinem ersten Proseminar — „Die Berliner Tagespresse nach 1918" (SoSe 1961) — den Schwerpunkt eindeutig auf die Jahre 1930 bis 1945: Sechzehn der 22 vergebenen Referate behandelten die nationalsozialistische Problematik, u.a. „Die »Pressefreiheit' in der NS-Zeit", „Die Bücherverbrennung 1933 im Feuilleton der Berliner Tageszeitungen", „Die Olympischen Spiele im Leitartikel der Berliner Tageszeitungen", „Der Beginn des 2. Weltkrieges 1939 in der Berliner Tagespresse" und ein heikles Thema, das bislang am Institut für Publizistik nicht behandelt worden war: „Die Berliner Massenpresse zum Thema .unbewältigte Vergangenheit* 1960/61"69. Fortan wurde die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Publizistik zu einem festen Bestandteil der Lehre des Berliner Instituts, jeweils ungefähr die Hälfte der Referatsthemen in den entsprechenden Seminaren behandelten die Zeit von 1933 bis 1945. 66
Im Oberseminar „Übung zur Massenpsychologie und Meinungsforschung" (WiSe 1951/52). 67 Im Proseminar „Einführung in die Allgemeine Publizistik" (WiSe 1951/52). 68 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 202 und Roters, Gunnar: Berliner Hochschulschriften Publizistik und Informationswissenschaft. Hg. von den Freunden der Publizistik e.V. Berlin 1993. 69 Ein zeitgeschichtliches Phänomen, zu dem Dovifat in öffentlichen Vorträgen durchaus Stellung bezog, so zum Beispiel vor der Jungen Union am 12.2.1961, wo er über die „unbewältigte Vergangenheit" anläßlich einer Vorführung des schwedischen Dokumentarfilms „Mein Kampf" — ein Film über den Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft — sprach. Dovifat führte aus, daß eine Sache dann bewältigt sei, „wenn sie ohne jede Beschönigung in ihrer harten Wahrhaftigkeit bekannt ist, wenn der einzelne und das Volk gewissensmäßig dazu Stellung genommen haben und wenn das Wissen vorhanden ist, welche Dämme zu bauen sind, damit sich solches nicht wiederholt". In: „Echo der Zeit" vom 26.2.1961, wo Dovifats Rede in einem knapp SOzeiligen Artikel zusammengefaßt ist.
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Als der 68jährige Dovifat zum 31. März 1959 emeritiert wurde, war noch kein Nachfolger in Sicht. Das lag zum einen am fehlenden publizistikwissenschaftlichen Nachwuchs, der entweder den Krieg nicht überlebt hatte, nach der Nazi-Diktatur als belastet eingestuft worden war oder im praktischen Journalismus Fuß gefaßt hatte; zudem wurden Dovifats eigene Vorschläge nicht berücksichtigt: Sein Wunschnachfolger Hans Ludwig Zankl, Zeitungswissenschaftler mit normativem Ansatz wie Dovifat, wurde von der Fakultät genauso abgelehnt wie seine Schüler Wilmont Haacke und Elisabeth Noelle-Neumann. Auch die beiden Assistenten Friedrich Medebach und Günter Kieslich, deren Habilitationen am Institut nicht zustande gekommen waren, scheiterten in der Nachfolgefrage am Widerstand der Fakultät. Ende der fünfziger Jahre war die Diskussion so festgefahren, daß selbst das Fortbestehen des Instituts nicht mehr sicher war. So wurde überlegt, das Institut für Publizistik aufzulösen und als Abteilung in das Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaften der FU Berlin einzugliedern.70 Es lag aber auch an politischen und persönlichen Entscheidungen, daß zwei Jahre lang kein Ruf erging und daher Dovifat die Leitung seines Lehrstuhls weiterhin kommissarisch innehatte. So konnten sich die Mitglieder der Philosophischen Fakultät lange nicht einigen, ob Kontinuität oder Neuorientierung der Maßstab für die Berufung sein sollten. Schließlich setzten sich die Vertreter der neuen Linie um Wilhelm Weischedel und Helmut Gollwitzer durch, die die Existenzberechtigung der Freien Universität nicht mehr allein in ihrer antikommunistischen und weitgehend regierungskonformen Haltung sahen: Zum 1. April 1961 wurde Fritz Eberhard als Honorarprofessor zum kommissarischen Leiter des Instituts für Publizistik ernannt. Für eine ordentliche Verbeamtung war der 65jährige Eberhard, der bereits im Wintersemester 1960/61 seine Lehrtätigkeit aufgenommen hatte, zu alt. Als Hellmut von Rauschenplat 1896 in Dresden geboren, gehörte er in den zwanziger Jahren dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund an, war unter seinem Decknamen Fritz Eberhard im Nazi-Deutschland Untergrundpublizist, dann als BBC-Mitarbeiter Exilant in London, nach dem Krieg SPD-Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag und von 1949 70
Vgl. hier u.a. einen Brief Hans Bohrmanns an Karl Bringmann vom 12.2.1991 (Kopie im Besitz des Verfassers), der auch auf die Verdienste der damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter Elisabeth Löckenhoff und Peter Heilmann im Kampf um den Fortbestand eines selbständigen Fachstudiums der Publizistik hinweist (ebd., S. 2).
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bis 1958 Intendant des Süddeutschen Rundfunks.71 Obwohl Eberhard kein ausgewiesener Empiriker war, gab es nach 1961 eine Neuakzentuierung der Schwerpunkte am Institut für Publizistik: Statt der geisteswissenschaftlichen Orientierung des historisch-normativen und gesinnungsethischen Verständnisses Dovifats stand in Lehre und Forschung nun die sozialwissenschaftliche Ausrichtung der empirischen Kommunikationsforschung mit den Implikationen des Max Weberschen Wissenschaftsbegriffs im Vordergrund. Erstmals in Deutschland förderte Eberhard die Rezeption der amerikanischen Massenkommunikationsforschung.72 Eine größere Zäsur in politischer und wissenschaftlicher Hinsicht war kaum vorstellbar. Kein Wunder also, daß Dovifat sich heftig gegen Eberhard als Nachfolger wehrte, sah er doch „in dessen Händen [...] nicht nur sein Lebenswerk, sondern auch das ganze Fach bedroht."73 Im Vorfeld der Berufung hatte es in verschiedenen Presseorganen eine üble Hetzkampagne74 gegen Eberhard und die philosophische Fakultät gegeben: Während Teile der Berliner Presse die Auszeichnung Dovifats mit dem Großen Bundesverdienstkreuz anläßlich seiner Emeritierung ausführlich würdigten75, begegneten sie der Berufung seines Nachfolgers mit Angriffen und Sarkasmus: „Die Freie Universität hat einen neuen Unglücksfall zu verzeichnen. Als Nachfolger des Zeitungsprofessors Dr. Dovifat wird sie mit dem abgewählten Intendanten des Süddeutschen Rundfunks, Dr. Fritz Eberhardt76, als dessen Nachfolger beglückt. Die Zeitungsverleger haben in ihrem Organ klar gesagt, was sie davon halten, da E., soweit bekannt, bisher nicht mit Veröffentlichungen von wissenschaftlicher Bedeutung über zeitungswissenschaftliche Themen be71
S. Barthenheier/Hoffmann, IfP (wie Anm. 4), S. 11. Vgl. ebd., S. 9. 73 Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 192. 74 Nicht nur Blätter der politischen Rechten — wie der „Rheinische Merkur", die „Neue Bildpost", „Der Reichsruf" und der „Deutsche Studentenanzeiger" —, sondern auch der Heimatvertriebenen — wie das „Ostpreußenblatt" — bezeichneten die Berufung Eberhards z.B. als „ungerechtfertigte Dekorierung eines .Verzichtpolitikers'" (Bohrmann, Hans: Elisabeth Löckenhoff im Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin [1952—1985]. In: Geserick, Rolf/Kutsch, Arnulf [Hgg.]: Publizistik und Journalismus in der DDR. Acht Beiträge zum Gedenken an Elisabeth Löckenhoff [Kommunikation und Politik, Bd. 20]. München usw. 1988, S. 27). 75 S. zum Beispiel „Die Welt" vom 24.5.1961 und „Der Tag" vom 21. und vom 24.5.1961. 76 Der Name wird in dem Artikel durchgängig falsch geschrieben. 72
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kannt wurde. Ironisch meint der .Zeitungsverlag', es bleibe, da Dr. Eberhardt über 60 Jahre alt sei, nur zu wünschen, daß er dies in der kurzen, ihm zur Verfügung stehenden Zeitspanne noch nachholt. Bleibt anzumerken, daß Eberhardt Zeit seines Lebens an chronischem Linksdrall leidet. Die Berufungspolitik ist bei der FU eben keine Glücks-, sondern eine Unglückssache."77 Dovifat wurde vielfach beschuldigt, an dieser Hetzkampagne beteiligt gewesen zu sein; eine Behauptung, die sich weder beweisen noch entkräften läßt.78 Jedenfalls mußte sich Dovifat deswegen auf einer außerordentlichen Fakultätssitzung am 29. Juli 1961 vor seinen dreißig erschienenen Kollegen rechtfertigen. Das Protokoll hält fest, Dovifat „selbst sei an der gegen Herrn Eberhardt79 geführten Kampagne völlig unbeteiligt, er habe auch seinerzeit die Berufung Herrn Eberhardts zum Honorarprofessor empfohlen, wenn auch nur für das Gebiet des Rundfunk- und Fernsehwesens."80 In derselben Sitzung wurde auf der Grundlage zweier Gutachten eine Erklärung verabschiedet, die den Vorwurf der prokommunistischen und antideutschen Haltung Eberhards und die „Angriffe, die überwiegend von obskuren Presseorganen geführt worden sind"81 entkräften sollte. In dieser Erklärung heißt es u.a.: „Herr Eberhard wurde nach eingehender Prüfung auf Grund einstimmiger Beschlüsse der Berufungskommission und der Fakultät berufen. Beide Gremien waren und sind der Überzeugung, daß Herr Eberhard nicht nur ein vielseitig bewährter Mann der Praxis in dem so überaus umfangreichen und wissenschaftlich nachwuchsarmen Gebiet der Publizistik ist, sondern auch dem Rang seiner Persönlichkeit nach eindeutig die Gewähr für eine erfolgreiche Tätigkeit in Forschung und Lehre bietet. 77
In: „Montagsecho" vom 10.7.1961. Über die persönliche, politische und fachlich angespannte Situation im Zuge der Nachfolgediskussion schreibt Hans Bohrmann: „Es mag dahingestellt bleiben, ob die Gegnerschaft eher diffusen allgemeinen Urteilen oder Vorurteilen entsprang, oder ob präzise beschreibbare Differenzen aufgrund unterschiedlicher Beurteilung wissenschaftlicher Fragen oder von Dovifats Tätigkeit während des Nationalsozialismus an der Berliner Universität, vielleicht auch politische Differenzen insgesamt, grundierend eine Rolle gespielt haben mögen" (Bohrmann, Löckenhoff [wie Anm. 74], S. 19 f.). 79 Auch im Protokoll findet sich dieser Namensfehler durchgängig. 80 Vgl. Freie Universität Berlin 1948—1973. Hochschule im Umbruch. Teil : 1957—1964. Auf dem Weg in den Dissens pokumentation der FU Berlin Nr. 14/73 vom 15.3.1974). Dokument 293, S. 131. 81 Ebd. 78
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Diese Überzeugung gründet sich nicht zuletzt auf ein ausführliches Manuskript über Fragen der Demoskopie, das der Fakultät vor der Berufung vorgelegen hat und dessen Erscheinen bevorsteht. Herr Eberhard hat in den Jahren 1933 bis 1937 gegen den Nationalsozialismus aktiv Widerstand geleistet. Als überzeugter Vertreter einer freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratie im Gegensatz zum Nationalsozialismus und Kommunismus hat er sich auch in der Zeit der Emigration in London unter schwierigen Verhältnissen bewährt. Er hat sich insbesondere mit größtem Nachdruck gegen die von Lord Vansittart damals geforderte dauernde Aufteilung Deutschlands gewandt. Da dies der klare Inhalt seiner politischen und literarischen Tätigkeit sowohl in der Emigration als auch vorher und nachher gewesen ist, wendet sich die Fakultät mit aller Entschiedenheit gegen die grundlose Diffamierung dieses ihres Mitglieds.«82 Dovifat, der im Kampf um die Berufung seines Nachfolgers schließlich unterlegen war, muß auf der Fakultätssondersitzung einen wahren Eiertanz vollführt haben. Nach seiner persönlichen Rechtfertigung und Verteidigung unternahm er einen Versuch, die Erklärung, die den Berliner Rundfunksendern, den großen Berliner Tageszeitungen und den an den Angriffen beteiligten Zeitungen übergeben werden sollte, zu kürzen. Dies wurde von der Fakultät als „unzweckmäßig bezeichnet"83 und abgelehnt. Auf derselben Sitzung erklärte Dovifat „seine Absicht, das Organ der Zeitungsverleger, das sich an den Vorwürfen gegen die Fakultät, nicht jedoch an denjenigen gegen die politische Haltung Herrn Eberhardts beteiligt hat, zum Abdruck der Gegenerklärung zu bewegen"84. Der Erklärung der philosophischen Fakultät wurde in Rundfunk und Presse kaum Beachtung geschenkt. Dovifats Leib- und Magenblatt „Der Tag" gelang es dagegen, durch eine Kürzung und Umstellung sowie eine durchgängige Übertragung des Textes vom Indikativ in den Konjunktiv den Inhalt der Erklärung soweit zu entstellen, daß nicht eine Ehrenbekundung, sondern eine Distanzierung übrigblieb: „Eberhard habe gegen den Nationalsozialismus aktiv Widerstand geleistet, heißt es weiter. In seiner Londoner Emigration habe er sich ,mit größtem Nachdruck gegen die von Lord Vansittart damals geforderte dauernde Auftei-
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lung Deutschlands gewandt'."85 Dem fügt „Der Tag" — nun wieder im Indikativ — einen Absatz hinzu, wodurch das Gegenteil dessen erreicht wurde, was mit der Erklärung der Fakultät beabsichtigt war: „Seit 1922 ist Eberhard [...] Mitglied der SPD. Während seiner Londoner Emigration schrieb er ein Buch mit dem Titel ,Wie Hitler besiegt werden kann', in dem der Autor für den Fall des Sieges über Hitler die totale Entindustrialisierung Deutschlands empfiehlt. In den vergangenen Jahren hat Eberhard mehrfach Artikel in den neutralistisch orientierten .Blättern für deutsche und internationale Politik' geschrieben. Die von der Fakultät erwähnte Kritik bezieht sich auch auf die fachliche Qualifikation des Dozenten, der bisher weder einen Lehrstuhl inne hatte, noch bemerkenswerte wissenschaftliche Arbeiten verfaßt hat."86 Ob die in der Einführung erwähnte Anekdote mit den abgeschraubten Türschildern stimmt, ist nicht sicher. Fest steht jedenfalls, daß Dovifat seinem Nachfolger aus dem Weg ging, seine Anwesenheit am Institut nach 1961 stark reduzierte und die Zusammenarbeit mit Eberhard ablehnte, die dieser seinerseits ohnehin nicht suchte.87 In einer Würdigung Eberhards anläßlich seines 100. Geburtstags am 2.10.1996 spricht Stephan Ruß-Mohl das Verhältnis Dovifats zu Eberhard an: „Der katholisch-konservative Übervater der Zeitungswissenschaft [...] begegnete dem unsteten, ebenso progressiven wie impulsiven Eberhard eher feindselig."88 Fortan disputierten die beiden so verschiedenen Exponenten ihrer Disziplin vor allem in der von Dovifat mitbegründeten Fachzeitschrift „Publizistik" über ihre Wissenschaftsansätze. Dabei stand Eberhard mit seiner Forderung nach einer Publizistik Wissenschaft, die nicht „zu einer normativen Wissenschaft ausarten" dürfe, sondern eine „werturteilsfreie Wissenschaft im Sinne von Max Weber" sein sollte, und die „sich nicht darum zu kümmern [habe], ob ein Ziel — sei es im Bereich der Politik oder der Ästhetik — wertvoll und daher erstrebenswert ist"89, anfangs beinahe allein gegen Dovifat, seine Schüler und etablierten Kollegen anderer Institute, die auf ihrem Wissenschaftsverständnis be85
In: „Der Tag" vom 6.8.1961. Ebd. 87 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 192. 88 Ruß-Mohl, Stephan: Roter Baron. Kleine Hommage für Fritz Eberhard, Politiker und Publizist. In: „Die Zeit" vom 4.10.1996; vgl. auch ders.: Unbequemer Wegbereiter. Erinnerungen an Fritz Eberhard. In: „Aviso" 18 (Dezember 1996), S. 4. 89 Eberhard, Fritz: Thesen zur Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 6 (1961), S. 264. 86
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harrten.90 Dovifat wehrte sich in seinem Beitrag „Ergebnisse der Publizistikwissenschaft"91 gegen die Thesen Eberhards. Vor allem die Kritik an einer fehlenden Behandlung der Empirie — Eberhard nannte dies „auf der Landkarte .Publizistik' [...] große weiße Flächen"92 — wies er mit einem Hinweis auf eigene Publikationen zurück: „Dem Ruf nach .empirischer Forschung' scheint mir [...] z. B. in den Pressehandbüchern, die das Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin erarbeitet hat, Folge gegeben zu sein. Hier ist die Grundlage einer Pressestatistik nicht nur entwickelt, sondern auch angewandt."93 Außerdem wies Dovifat in diesem Zusammenhang auf die „publizistische Dissertation" seiner Doktorandin Elisabeth Noelle aus dem Jahre 1940 hin, die „Theorie und Technik der Meinungsforschung erstmalig"94 nach Deutschland gebracht 90
S. bes. Haacke, Wilmont: Publizistik — Handwerk oder Kunst? In: Publizistik 6 (1961), S. 3—7 (hierin ein vehementes Plädoyer für den Gesinnungspublizisten, zum Beispiel: „Im Idealfalle aber wendet sich der Publizist im Namen der Allgemeinheit vor der Öffentlichkeit an die Gesamtheit. [...] Faßt man den Begriff so weit, dann erkennt man in jedem begabten Menschen, der irgend eines der älteren Kommunikationsmittel wie die Zeitschrift oder eines der modernen wie das Fernsehen gebraucht, um sich mit dessen Hilfe für von ihm verfochtene Ideen an die Öffentlichkeit zu wenden, einen Publizisten" [S. 3 f.]); Feldmann, Erich: Die Publizistik als angewandte Kulturwissenschaft. Emil Dovifat zum 70. Geburtstag gewidmet. In: Publizistik 6 (1961), S. 67—80 (hierin zum Beispiel: „Die gewaltige geistige Rüstung der totalitären Mächte zur Beeinflussung und Lenkung der Massen durch Druck und Bildkünste sollte uns endlich bestimmen, ihr eine eigene publizistische und kulturelle Rüstung entgegenzusetzen. Diese kann nicht ohne eine Wissenschaft von der Strategie und Taktik der Medienkommunikation durchgeführt werden. Eine solche Wissenschaft in ihrer Pragmatik fruchtbar zu machen und nicht der Kontemplation der Theoretiker zu überlassen, ist die junge Generation der Forscher aufgerufen, die ihrer idealen Mission selbstlos dienen [...]" [ebd., S. 79]); Prakke, Hendricus Johannes: Thesen zu einer neuen Definition der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 6 (1961), S. 81—84 (hierin zum Beispiel: „Bei der reinen Massenkommunikationsforschung werden aber sowohl die historischen Perspektiven als auch die von publizistischen Persönlichkeiten bestimmten kleinen, aber wirkungsvollen Vorgänge der Meinungs- und Willensbildung vielfach vernachlässigt" [S. 83]). 91 In: Publizistik 7 (1962), S. 78—81. 92 Eberhard, Thesen (wie Anm. 89), S. 265. 93 Dovifat, Ergebnisse (wie Anm. 39), S. 79. 94 Ebd., S. 80; Hervorhebung im Original. Vollends begeistert war Dovifat aber wohl nicht über die Richtung, die seine Musterschülerin einschlug, denn Mitte der sechziger Jahre fragte er Frau Noelle-Neumann „leicht vorwurfsvoll": „Müssen Sie denn immer an die Wirkung der Massenmedien denken?" So Elisabeth NoelleNeumann in einem Vortrag anläßlich ihrer 25jährigen Lehrtätigkeit am Mainzer In-
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hatte. Dovifat behandelte in seiner Verteidigung also nur die Symptome, nicht aber die Ursachen; mit dem grundlegend anderen Wissenschaftsverständnis Eberhards setzte er sich nicht auseinander. Die Meinungsforschung hatte Dovifat — um sich „bei der Weite und Größe unserer Disziplin nicht zu zersplittern — bisher und mit gutem Erfolg der Sozialforschung überlassen. Der Verfasser [Dovifat] teilt hier die von Kurt Koszyk vertretene Auffassung: Unser Fach ist eine Geisteswissenschaft. "95 Besonders heftig übte Dovifat Kritik an Eberhards Forderung nach einer „wertfreien Publizistik-Wissenschaft" und beharrte auf seinem normativen Ansatz: „Ein Rückfall auf die .Werturteilsfreiheit', in die Argumente Max Webers, liegt nach den geistigen Konflagrationen, die hinter uns liegen, sicher nicht einmal im rechtgedeuteten Sinne von Webers eigener Überzeugung und Haltung. Wie viel schlagender hätte die deutsche Wissenschaft gegen die aufkommenden Hitlerdoktrinen gekämpft, wäre die Werturteilsfreiheit ihr nicht hemmend im Wege gestanden."96 Harsch und deutlich wies Dovifat auch die Kritik Eberhards an seiner Begriffsdefinition der Publizistik zurück: „Solche Begriffe haben wir in leicht faßlicher Anschaulichkeit gegeben und ertragen den Spott hypertrophisch ,wissenschaftlicher' Blindpräger."97 Ein weiterer rascher Schlagabtausch zwischen Eberhard und Dovifat erfolgte zwei Jahre später. Dovifat, der sicher auch die Erfolge Eberhards wachsam verfolgte, war nun etwas moderater und erklärte sich bereit, die empirische Sozialforschung als eine Methode der Publizistik zu akzeptieren. Ja, er bezeichnete sie sogar „für Anlauf und Ablauf der publizistischen Aktion" als „bedeutsam".98 Doch in der Frage des normativen Ansatzes und der Gesinnungsprägung blieb er kompromißlos: „Es versteht sich von selbst, daß bei der Gesinnungsnatur aller publizistischen Vorgänge, von der simplen Nachrichtenübermittlung bis zur großen publizistischen Aktion, das Fach keineswegs wertfrei forschen, geschweige denn lehren kann."99 Eberhards Replik darauf: „Als Vertreter stitut (zit. n. Vocke, Harald: Zurück zur Ethik von Dovifat. Das Resümee der Publizistik-Forscherin Elisabeth Noelle-Neumann als Programm für das katholische Deutschland. In: „Deutsche Tagespost" vom 4.11.1989). 95 Dovifat, Ergebnisse (wie Anm. 39), S. 80. 96 Ebd. 97 Ebd., S. 79. 98 Dovifat, Emil: Aufgaben der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 9 (1964), S. 348. 99 Ebd.; Hervorhebungen im Original.
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der Publizistikwissenschaft darf ich meines Erachtens nur theoretische Sätze ansprechen, keine praktischen Forderungen stellen."100 Auf Dovifats Frage nach dem Stellenwert der Empirie für die Publizistikwissenschaft schrieb Eberhard: „Meine Antwort: Es geht in erster Linie um Wesen und Wirkung von Massenkommunikationsmitteln"101, Theoriebildung und die Sammlung empirischer Daten bedingten sich dabei gegenseitig. Noch viele Jahre später wird in der „Publizistik" dieser Disput über zwei unvereinbare Disziplinansätze in gleicher Heftigkeit geführt: 1966 verteidigte Günter Kieslich Dovifats Überzeugung und kritisierte Eberhard: Dovifats Wissenschaftsdisziplin „verpflichtet ihn selbst zur Mitgestaltung des öffentlichen Lebens im Sinne seiner Definition der Publizistik. , Werturteilsfreien' Wissenschaftlern, die — in Anknüpfung an Max Weber — dieses Engagement als .unwissenschaftlich' disqualifizieren möchten, hält Dovifat das Wort von Wilhelm v. Humboldt entgegen: ,Die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt, bildet auch den Charakter um/ Dovifats Wissenschaft stammt aus dem Innern! [...] Emil Dovifat wird weiter versuchen, das von ihm als richtig Erkannte mit »Gesinnungskräften durch Überzeugung zu Tun und Handeln* zu führen."102 Weitere drei Jahre später, kurz vor seinem Tod, ergriff Dovifat selbst noch einmal das Wort. Er hatte die vergangenen Jahre mitansehen müssen, wie sich „sein" Institut auf andere Wege begegeben hatte und sich weit von seinem wissenschaftlichen Verständnis von der Disziplin entfernt hatte. Ändern konnte er daran nichts mehr. Und er hatte resigniert, seine Nachfolger immer wieder mahnend an die Notwendigkeit von Gesinnung und normativer Betrachtung des Fachs zu erinnern. Doch aus Sorge um „die Sprache unseres Faches" schrieb er 1969 einen Beitrag unter diesem Titel.103 Er bedauerte die „sprachlichen Unverständlichkeiten", die dem Fach neuerdings unterliefen, und forderte, daß „allgemeine publizistische Erkenntnisse allgemein verständlich verbreitet"104 werden müßten. In diesem Zusammenhang kritisierte er die neuen Begriffe der Publizistikwissenschaft und nannte als Beispiele „Kommunikator" statt Zeitung, „Rezipient" statt Leserschaft und „Interdepen100
Eberhard, Fritz: Grenzen der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 9 (1964), S. 349. 101 Ebd., S. 348. 102 Kieslich, Günter: Emil Dovifat 75 Jahre. In: Publizistik 11 (1966), S. 69 f. 103 In: Publizistik 14 (1969), S. 5—8. 104 Ebd., S. 8.
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denz" statt gegenseitiger Wechselwirkung.105 Hierin sah Do vif at „eine gewisse Unaufgeschlossenheit, eine Art sprachliche Vermummung"106 einiger Vertreter des Fachs. Sein Credo: In der wissenschaftlichen Publizistik bewirkt „die Sprache in der Mehrzahl der Mittel die eigentliche Aussage. Sie ist dort das Element aller Aktionen. Sie ist es selbst dann noch, wenn das wissenschaftliche Fach Publizistik in neuer Entwicklung weniger auf die geisteswissenschaftliche, mehr auf die empirischsoziologische (mathematische?) Systematik ausgeht und fast ausschließlich die publizistische Wirkung ermittelt. Aber auch das mit Hollerithmaschine und Computer gewonnene Ergebnis muß verständlich an den Mann gebracht werden."107 Wie die Gegenwart zeigt, wurde Dovifat auch hier nicht erhört. Die Sprache der heutigen Kommunikationswissenschaftler hat sich weiter „ausdifferenziert" und ist nur noch für die Schar der Fachvertreter verständlich; eine Publice-Vorlesung in dieser Diktion würde heute wohl keine tausend freiwilligen Zuhörer wie bei Dovifat mehr finden.
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Ansehen.) Ausstrahlung und Auswirkung Der Blick auf Seminartitel und -themen hat zwar gezeigt, daß Dovifat seine Studentinnen und Studenten kaum mit der Zeit von 1930 bis 1945 konfrontiert hat; gleichzeitig ist aber auch deutlich geworden, welch breites Spektrum er in der Lehre vermittelte: Dovifat hielt Seminare und Vorlesungen zum praktischen Journalismus, zum Zeitungs- und Zeitschriftenwesen, zu Rundfunk, Film und Fernsehen, zur Rhetorik; aber auch zum Presserecht, zur Meinungsforschung, zur Kommunikationsgeschichte, zu Technik und Ökonomie, zum Wissenschaftsjournalismus und zur Öffentlichkeitsarbeit; zu Forschungsbereichen also, um die sich heute am Berliner Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft neun Professorinnen und Professoren in getrennten Arbeitsbereichen bemühen.
105 106 107
Ebd., S. 6. Ebd., S. 5. Ebd.; Hervorhebung im Original.
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Vielseitig waren auch Dovifats außeruniversitäre Aktivitäten, die alle im Zusammenhang mit seiner Professur standen: Neben der parteipolitischen ist vor allem seine umfangreiche journalistische Tätigkeit von Bedeutung. Benedikt nennt 268 „gedruckte Werke", darunter größtenteils Artikel für Zeitungen und Zeitschriften, die Dovifat zwischen 1945 und 1969 verfaßt hat.108 Er schrieb für beinahe alle ihm gesinnungsverwandten Blätter109, die ihn darum baten — also weder für den „Spiegel" noch für den „Stern", die er als „nihilistisch" brandmarkte, für mitschuldig an den rechtsradikalen Tendenzen der späten sechziger Jahre hielt und die er als „größte Gefahr für die Demokratie"110 bezeichnete. So schrieb Dovifat 1962 tiefbesorgt an den Ministerialdirektor im Bundespresseamt, Werner Krueger: „Bitte kämpfen Sie, wo Sie können gegen die Elemente des Nihilismus und der Auflösung, mobilisieren Sie die verantwortliche Kritik, aber tun Sie es bitte mit Härte, Wahrhaftigkeit u[nd] Entschlossenheit. Ein guter Teil der Presse ist in die Psychose der Spiegelaffäre abgerutscht. Bitte arbeiten Sie dem entgegen. Wer, wie ich, den Niedergang der Weimarer Demokratie aus mangelnder Staatsliebe und einer nur negativen Kritik erlebt hat, der ist über gewisse Erscheinungen geradezu erschrocken, wie sie sich heute wieder zeigen."111 Im selben Brief würdigt Dovifat — in Abgrenzung zur „Spiegel"-Machart — einen „eindrucksvollen Bildband": „Das ist eine tüchtige Leistung u[nd] nachdem man sich in Deutschland fast daran gewöhnt hat, daß Photographen — getreu dem .Spiegelgeist' — im wesentlichen in die Kloake oder auf den Müllhaufen photographieren, haben wir hier ein ganz positives Buch."112 In einem anderen Brief an Krueger wirft er dem „Spiegel" vor, dieser sei an der Entstehung und Entfaltung der Staatsverdrossenheit beteiligt, und er bedauere es nun um so mehr, daß ausgerechnet ein ehemaliger 108
Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. LIU—LXV. Benedikt merkt an, daß die Zeitungsartikel „kaum je vollständig erfaßt werden können", da Dovifat „nur einen Teil seiner Artikel namentlich zeichnete" (Ebd., S. XXXV). 109 Die Palette reicht vom „Mitteilungsblatt seiner Kriegskameraden über das hochspezialisierte, berufsständische Fachorgan [...] oder das weite Spektrum der katholischen Presse bis zu überregionalen Tages- oder Wochenzeitschriften [...], das Mitteilungsblatt der Jungen Union, das Programmheft einer Volkshochschule oder das Organ der Görres-Gesellschaft" (ebd., S. 41 f.). 110 Dovifat an Löffler am 28.2.1968; zit. n. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 90. 111 Brief Dovifats an Krueger vom 24.12.1962; Hervorhebungen im Original. Kopie des Briefes im Besitz des Verfassers. 112 Ebd.; Hervorhebung im Original.
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„Spiegel"-Redakteur, Conrad Ahlers, Nachfolger von Krueger im Bundespresseamt geworden sei. Er beendet den Brief mit den Worten: „Aber schon in der hl. Schrift ist ja aus einem Saulus ein Paulus geworden."113 Ebenso harsch kritisierte Dovifat den „Stern". Die betroffenen Blätter revanchierten sich mit Schmähungen. So zum Beispiel der damalige Chefredakteur des „Stern", Henri Nannen, in seinem polemischen und verletzenden Leitartikel vom Oktober 1958: „[...] in diesem Presserat fungiert an verantwortlicher Stelle der Berliner Professor Dovifat, den seine Studenten Professor Doof nennen. Nicht ganz zu Unrecht, wie mir scheint, wenn man bedenkt, daß sich hier der gleiche Mann ein pressepolitisches Amt anmaßt, der einmal geschrieben hat: ,Die Presse ist ein Führungsmittel des nationalsozialistischen Staates'."114 Auch der „Spiegel" reagierte mit Sticheleien auf Dovifats „Nihilismus-Kritik" und sparte nicht mit Anspielungen auf seine Publikationen vor 1945: „Emil Dovifat [...] hat seine Veröffentlichung aus dem Jahre 1937 über ,Rede und Redner' entnazifiziert und trägt sie im Sommersemester 1959 in einer auf den neuesten Stand gebrachten Fassung als Vorlesung über die .Großen Redner in Geschichte und Gegenwart' vor."115 Nicht nur journalistisch und parteipolitisch, sondern auch gremienund verbandspolitisch war Dovifat Zeit seines Lebens tätig.116 Treffend
113
Brief an Krueger vom 10.1.1967. Kopie im Besitz des Verfassers. Im „Stern" 11 (1958), Heft 41 (11.10.1958), S. 6. 115 In: „Der Spiegel" 13 (1959), Heft 22 (27.5.1959), S. 78. 116 So war er sechs Jahre Mitglied im Verwaltungsrat des NWDR (1948—1954), zwei davon als Vorsitzender (1950—1952); sechs Jahre Vorsitzender des SFBRundfunkrates (1953—1959); außerdem war er aktives Mitglied im „Studienkreis für Presserecht und Pressefreiheit" (1956—1969), in der „Deutschen Studiengesellschaft für Publizistik" (1957—1969), in der „Internationalen Gesellschaft für Publizistik" (1951—1955), in der „Deutschen Gesellschaft für Publizistik" (1952—1969), in der „Deutschen Wochenschau GmbH" (1956—1969), der „Deutschen Gesellschaft für Kommunikationsforschung" (1953—1968), dem „Zentralkomitee der deutschen Katholiken" (1959—1967) und in der „Gesellschaft Katholischer Publizisten Deutschlands". Kuratoriums-, Ehren- oder einfaches Mitglied war Dovifat auch im „Institut für Film- und Fernsehrecht", in der „Deutschen Vereinigung junger Publizisten", im „Verein Union Presse", in der „Jury der Internationalen Filmfestspiele" (s. hierzu den Bericht in der „Neuen Zeitung" vom 1.5.1951), in der „Berliner Typographischen Gesellschaft", in der „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Berlin e.V.", in der „Berliner Gesellschaft für Internationale Verständigung e.V.", in der „Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft" und diversen weiteren Vereinigungen 114
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beurteilt Benedikt diese Wirkungspalette: „Sein Amt als Professor der Publizistik hat Dovifat auch als publizistische Aufgabe, als Verpflichtung, journalistisch tätig zu sein, empfunden und gelebt"117, und: „Die Breite dieses Engagements war ihm [...] wichtig, um den Kontakt zu den verschiedenen publizistischen Mitteln nicht zu verlieren und deren Entwicklung — soweit möglich — mitzugestalten."118 In diesem Zusammenhang muß die Tätigkeit Dovifats an anderen Instituten und Hochschulen gesehen werden. Bereits am 15. Januar 1949 wurde die Deutsche Hochschule für Politik wiederbelebt, die am selben Tag mit der Freien Universität Berlin das Institut für Politische Wissenschaften gründete, das im Gegensatz zur lehrenden Hochschule nur der Forschung dienen sollte119 und das sich über drei Jahre lang mit dem Institut für Publizistik die Villa in der Gelfertstraße teilte. Einen ständigen Lehrauftrag für Publizistik an der Deutschen Hochschule für Politik übernahm Dovifat am 1. November 1949 und blieb für dieses Arbeitsgebiet allein zuständiger Dozent. Hier bot er Vorlesungen und Übungen zur allgemeinen Publizistik und zur Rhetorik an.120 Doch seine Lehrtätigkeit blieb nicht auf Berlin beschränkt. Vom ersten Nachkriegssemester an bereiste Dovifat nicht nur im Rahmen seiner parteipolitischen und katholischen Bildungsarbeit Deutschland und das Ausland: Bereits die ersten „Semesterferien" nutzte Dovifat, um am 12. März 1949 für drei Wochen auf Einladung der „Newman-Association" nach England zu reisen, wo er mehrere Vorträge in London und wie zum Beispiel dem „Aktionsausschuß für den Wiederaufbau des GutenbergMuseums in Mainz" (vgl. Benedikt, Dovifat [wie Anm. 1], S. 84—88). 117 Ebd., S. 42. 118 Ebd., S. 88. 119 Vgl. ebd., S. 188 f.; das Institut für Politische Wissenschaften wurde 1959 als Otto-Suhr-Institut (OSI) der FU eingegliedert. Auch am OSI hielt Dovifat Vorlesungen zur Publizistik, so zum Beispiel im Rahmen der den Entwicklungsländern gewidmeten Sondervorlesungsreihe, an der sich Dovifat mit dem Vortrag „Die junge Publizistik in den Entwicklungsländern" beteiligte (vgl. den die Rede paraphrasierenden Bericht im „Tagesspiegel" vom 14.2.1960) und darin Verständnis für Zensurmaßnahmen im Zuge der politischen Entwicklung zeigte: „Wenn man in Indonesien, das seit dem Vorjahr eine gelenkte Demokratie ist, die Presse gelegentlich hart reglementiere, oder wenn Nasser die Presse der Vereinigten Arabischen Republik von allen ihm nicht genehmen Elementen .befreit' habe, so sei doch die Demokratie nach englischem Muster das Ziel dieser Regierungen. Die Situation in diesen Ländern sei mit der in Deutschland im Jahre 1933 nicht zu vergleichen" (ebd.). 120 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 189.
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Birmingham über die Lage der katholischen Kirche in Deutschland und über den katholischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus hielt.121 Vortragsreisen unternahm er noch bis weit in seine siebziger Lebensjahre auf Einladung von Verleger- und Journalistenvereinigungen und von katholischen Bildungswerken. Herausragend sind hier seine Forschungsreisen nach Kanada zu nennen122, die er nach seiner Emeritierung unternahm, um sich am Aufbau eines dortigen Hochschulinstituts für Publizistik zu beteiligen: Nachdem er schon 1959 die Gründungskommission an der katholischen Universität Ottawa erfolgreich beraten hatte, wurde ihm im Jahr darauf die Ehre zuteil, den Festvortrag über „Die publizistischen Mächte in der Verteidigung der Freiheit" bei der Eröffnungsveranstaltung des neuen Instituts für Kommunikationslehre zu halten. Er blieb im März und April 1960 in Kanada, bot am neuen Institut eine insgesamt 22stündige Vorlesung für rund 80 Studierende über „Theorie et pratique d'un Systeme scientifique des communications"123 an und hielt in mehreren kanadischen Städten Vorträge über totalitäre Publizistik und die politische Lage Berlins; Vorträge, in denen er wiederholt das „unmenschliche System in der Zone"124 anprangerte.125 Eine weitere Studienreise führte Dovifat im März 1961 nach Kopenhagen und Aarhus, wo er auf Einladung des dänischen „Studienkreises für Pressefreiheit" „Probleme der internationalen Presse und der Entwicklung und Methodik der Publizistik an den großen Universitäten der Welt" behandelte126 und in der Kopenhagener Handelshochschule über „Die Presse der Welt in ihren politischen und journalistischen Formen" sprach.127 Dovifat war nicht nur im Inland populär, sondern auch als die maßgebliche Stimme der deutschen Publizistik im Ausland als Vortragender begehrt. Als Vertreter für die „Gesellschaft Katholische Publizi121
S. Bericht über den bevorstehenden Aufenthalt in der „Welt" vom 24.2.1949; vgl. auch Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 231. 122 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 190 f. 123 S. ebd., S. 190; die Vorlesung entsprach in etwa der deutschen Einführungsveranstaltung zur „Allgemeinen Publizistik". 124 Zit. n. ebd., S. 191. 125 Über diesen Aufenthalt verbreitete dpa landesweit Berichte; bereits eine Vorankündigung der Reise erschien unter der Überschrift „Gastspiel in Kanada" am 9.3.1960 im „Abend". 126 Vgl. Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten 78 (1.5.1961), S. 376. 127 S. „Der Tag" vom 9.3.1961.
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sten Deutschlands" sprach Dovifat auf den Weltkongressen der katholischen Presse 1954 in Paris über die „Sendung und Zukunft der katholischen Presse in der Welt" und 1957 in Wien zum Thema: „Die katholische Presse im Meinungskampf der Gegenwart"128. Nicht nur durch solch außenwirksame Reisen wie nach England, Kanada, Dänemark, Frankreich und Österreich gewann unter Dovifats Leitung „das Institut für Publizistik in den fünfziger Jahren jene internationale Orientierung, die im Dritten Reich nicht möglich war"129, wie Benedikt zu Recht urteilt. Häufig trat Dovifat auf international besetzten Foren und Tagungen auf, war wissenschaftlicher Betreuer ausländischer Gäste und regelmäßig Vertreter seiner Disziplin bei den jährlichen Universitätswochen der Freien Universität, wo er öffentliche Vorträge hielt, zum Beispiel 1952 über „Die Rolle des Emotionalen in der Massenführung"130 und 1959 über „Pressefreiheit und Schutz der Ehre und Intimsphäre"131. In den fünfziger Jahren erstellte Dovifat einige Gutachten für das im Aufbau befindliche Bundespresseamt. Lange Zeit gab es dort keine festgelegten Strukturen, das Amt bestand lediglich aus der Nachrichtenabteilung und dem Chef vom Dienst. Als nach nur zwei Jahren bereits der vierte Leiter des Bundespresseamts gesucht wurde, überlegten Adenauer und die CDU-Fraktion im Bundestag, wer nach den vielen Fehlbesetzungen geeignet sein könnte. Schließlich kam Dovifat als Nachfolger von Heinrich Brand ins Gespräch132 und wurde von Werner Krueger, der vor dem Krieg bei Dovifat studiert hatte und seit 1951 stellvertretender Amtschef im Bundespresseamt war, offiziell vorgeschlagen133. Nach anfänglicher Begeisterung wurde Dovifat aber aus drei Gründen abgelehnt: Erstens sei der damals über Sechzigjährige „zu alt und unbe-
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S. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 234. Ebd., S. 190. 130 S. die umfangreiche Zusammenfassung seiner Rede im „Telegraf" vom 1.11.1952. 131 S. hierzu den Bericht im „Telegraf" vom 7.1.1959. 132 Walter J. Schütz vermutet, daß Adenauer selbst schließlich Dovifat vorgeschlagen hat. Der Bundeskanzler habe Dovifat gut gekannt und ihn in einem „informellen Gespräch" gefragt, das die beiden während eines Zusammentreffens bei Jakob Kaiser oder anläßlich des Katholikentages 1951 geführt haben könnten, ob er als Chef des Bundespresseamtes bereit stehen würde; so Schütz in einem Telephongespräch mit dem Verfasser am 25.7.1994. Dovifat, „der viel von Pflichterfüllung hielt", so Schütz weiter, habe wohl ernsthaft über das Angebot nachgedacht. 133 So Ministerialdirigent a. D. Werner Krueger in einem Telephongespräch mit dem Verfasser am 1.8.1994. 129
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weglich" für dieses Amt, zweitens sei er „zu sehr Wissenschaftler" gewesen und habe „Politik nicht richtig verkaufen können"; drittens hätte es „Ärger" wegen Dovifats Lebenslauf im Nationalsozialismus geben können.134 Neben den schon geschilderten Tätigkeiten war Dovifat in den fünfziger Jahren auch in der beruflichen Weiterbildung wieder aktiv: ab 1951 für die „Zeitungsfachlichen Fortbildungskurse" in Düsseldorf, seit 1954 in Kursen und Tagungen für Schullehrer, denen Dovifat Grundkenntnisse zur Publizistik vermittelte.135 Die einwöchigen „Zeitungsfachlichen Fortbildungskurse" entsprachen organisatorisch und inhaltlich weitgehend den Berliner Vorkriegskursen unter Dovifats Leitung und wurden anfangs alljährlich im Herbst in Düsseldorf von 100 bis 200 Journalistinnen und Journalisten belegt. Später kamen noch dreiwöchige Volontärskurse, Lehrgänge für Redakteure von Fachzeitschriften und Kurse für Verlagskaufleute hinzu. Dovifat oblag von 1951 bis 1967 ein Großteil der Planung und Vorbereitung und die wissenschaftliche Leitung, außerdem übernahm er pro Kurs bis zu drei Referate und hielt fast immer die Eröffnungsworte.136 Neben dem Düsseldorfer Angebot veranstaltete Dovifat 1958 in Berlin einen journalistischen Fortbildungskurs in Zusammenarbeit mit dem Presseverband Berlin. Außer Dovifat und seinen Assistenten referierten auch der Regierende Bürgermeister Willy Brandt und der Senator für Volksbildung, Joachim Tiburtius.137 Andere Fortbildungskurse unter Dovifats Leitung richteten sich an ausgewählte journalistische Berufsgruppen: Mit Karl Bringmann, dem Chefredakteur und Geschäftsführer der Katholischen Nachrichtenagentur, entwickelte Dovifat Lehrgänge über Formen und Fragen der katholischen Publizistik, die unter dem Motto „Öffentliche Meinungs- und Willensbildung" standen und der Fortbildung, Information und Zusammenarbeit katholischer Journalisten dienen sollte. Jeweils eine Woche leitete Dovifat diese Lehrgänge im März 1955 und im April 1956 im Münchener „Newman-Haus".138 Die einzelnen Vorträge, die Dovifat auf Einladung von Vereinen, Verbänden, Unternehmen und Institutionen hielt, werden sich nie vollständig zusammenstellen lassen. Themen und Inhalte der überlieferten Vorträge verdeutlichen pointiert Dovifats fachliche Schwerpunkt- und 134
Ebd.
135
Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 191 und S. 221.
136
S. ebd., S. 222 f. S. ebd., S. 224. 13 " Ebd., S. 223 f. 137
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Zielsetzung. Als publizistikwissenschaftliche Kapazität und rhetorisches Vorbild wurde er zu verschiedensten Anlässen eingeladen, auf denen er das Institut nach außen repräsentierte, so zum Beispiel zu einem Vortrag vor dem „Deutschen Sprachverein", wo er sich zum „beredten Anwalt des Zeitungsdeutsch" aufschwang139; zum Eröffnungsvortrag der graphischen Ausstellung „Schrift überall" der „Meisterschule für Graphik und Buchgewerbe Berlin" im Rathaus Schöneberg140; und aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens der „Kölnischen Rundschau" im Frühjahr 1956, als er den Festvortrag über „Die Pflicht der Zeit und der Zeitung" hielt und dabei drei Gefahren der Zeit anprangerte, die „durch die Zeitung zu überwinden" seien — und die als Ausdruck eines normativen und gesinnungsgeprägten Verständnisses von der Disziplin als Dovifats Credo zu deuten sind141: „Die erste Gefahr [...]: müde Resignation einerseits, mutloses Gehenlassen in geistigen und politischen Bezirken oder ebenso zynische Verurteilung und Aburteilung jedes ehrlichen Strebens, überkritische Nörgelfreude gegen jede ehrliche Arbeit. [...] Die zweite Gefahr: die übersteigerte und irreführende Sensation. [...] Den nüchtern und opfermütig still schaffenden Leistungen der Werktätigen und dem schlicht und anspruchslos tätigen Heldentum des Alltags werden sie [die Blätter der Boulevardpresse; der Verf.] niemals gerecht, obgleich eben hier sich oft wahre Sensationen auftäten und die wirklichen Leistungen der Nachkriegszeit recht eigentlich erbracht wurden. [...] Die dritte Lebensgefahr der demokratischen Publizistik aber ist die rein kritisch-negative Ueberkritik. [...] Die Kritik als Selbstzweck, oder deutlich gesprochen: als Mittel der Auflagensteigerung und des Verlagsprofits. Diese Form endet heute vielfach im leeren Nihilismus. [...] Diese Art von Publizistik ist — gewollt oder nicht — die wirksamste Wühlarbeit, ein neues totalitäres Regime herbeizuführen. [...] Dem entgegenzuarbeiten ist vor allem die Aufgabe der gesinnungsmäßig bekennenden Presse, wie sie nach offen kundgetanen politischen Grundsätzen, sittlichen Normen und religiösen Ueberzeugungen wirksam wird."
139
S. Bericht im „Telegraf" vom 29.4.1955. S. Bericht im „Telegraf" vom 11.11.1956. 141 Hier und im folgenden wird aus Dovifats Rede zitiert, die knapp drei Jahre später in der „Kölnischen Rundschau" vom 31.12.1958 in einem gut 250-Zeilen-Artikel auszugsweise abgedruckt wurde mit dem Hinweis: „Was der Leiter des Instituts für Zeitungswissenschaft [sie!] und für allgemeine Publizistik damals sagte, ist von zeitloser Gültigkeit". 140
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Das publizistische Spannungsfeld zwischen der demokratischen, staatstragenden „ernsten Presse" und der in Dovifats Augen destruktiven „Massenpresse mit ihren Publikationen über Prinzessinnen"142 gehörte zu seinen wichigsten Anliegen, und er machte es häufig in Aufsätzen und Festvorträgen zum Thema.143 Auf der Podiumsdiskussion über das Verhältnis von Justiz und Presse vor dem Elften Deutschen Richtertag in Kassel betonte Dovifat, er „sei geneigt, manche Presseerzeugnisse nicht unter publizistischen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern vielmehr ins Gehege der Freizeitbeschäftigung zu versetzen."144 Bildhafter titulierte Dovifat ein anderes Mal die Massenblätter als „kleine Köter".145 Selbst in einem Festvortrag zum 40jährigen Bestehen des „Berufsverbands katholischer Fürsorgerinnen" in Berlin nutzte Dovifat die Gelegenheit, die „ständig steigende Sensationsgier der öffentlichen Meinung" und die diese Gier bedienende Massenpresse zu kritisieren: „Was ist denn schon Grace Kelly gegenüber einem ganzen Leben hingebender Fürsorge für den Nächsten!"146 Doch sah er auch entlastende Momente für die Massenpresse: „Dovifat fand sowohl für die illustrierten Zeitungen mit ihren mehr oder minder .formvollendeten' und dementsprechend leicht bekleideten Frauengestalten und Mädchenköpfen auf dem Titelblatt wie auch für die Sensationspresse Worte der Rechtfertigung. Die Menschen sind nun einmal so. Es werden eben so viele Verbrechen begangen und Skandale an die Oeffentlichkeit gebracht. Schuld daran ist nicht die Presse, sondern die Menschen sind schuld."147 Das Spannungsfeld zwischen seriöser Publizistik und Sensationspresse war aber nur einer von zwei Schwerpunkten in Dovifats öffentlichen Vorträgen: Bei jeder nur möglichen Gelegenheit prangerte er die kom142
So Dovifat auf einer Podiumsdiskussion in Kassel, zit. n. einem Bericht im „Tagesspiegel" vom 20.10.1963. 143 Bereits in den zwanziger Jahren kritisierte Dovifat heftig die Sensationspresse und geißelte die seiner Meinung nach entartete Berichterstattung über die Sexualprozesse nach dem [Ersten] Weltkrieg (vgl. Dovifat, Emil: Die Auswüchse der Sensationsberichterstattung. Stuttgart 1930). 144 In: „Der Tagesspiegel" vom 20.10.1963. 145 In seinem Vortrag auf den Universitätstagen der FU 1959, zit. n. dem Bericht im „Telegraf" vom 7.1.1959. 146 Zit. n. dem Bericht im „Kurier" vom 23.4.1956. 147 Bericht des „Volksblatts" vom 29.3.1956 über Dovifats Universitätsvorlesung „Kulturelle Werte und Unwerte in der deutschen Publizistik"; Hervorhebung im Original.
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munistische Propaganda der totalitären DDR an; ob es sich nun um Vortragsreisen im Ausland handelte148 oder um Reden in Deutschland, zum Beispiel zum Tag der deutschen Einheit 1957: »Der bekannte deutsche Zeitungswissenschaftler ließ an Stelle einer Gedenkrede zum 17. Juni Dokumente sprechen, Ausschnitte aus Filmen und Rundfunkansprachen aus der Ostzone, die in erschütterndem Maße aufzeigten, wie die Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs durch ständige Massenpropaganda von oben und der unausgesetzten Beobachtung eines jeden einzelnen unter ihnen in Unfreiheit gehalten werden. [...] Durch wirtschaftlichen, kulturellen, beruflichen und politischen Druck würden die Menschen dort gezwungen, sich zu tarnen. Es gebe in ihrem Leben keinen privaten Lebensraum mehr, ja es gebe dort überhaupt keinen unpolitischen Raum. Wer ihn für sich beanspruche, sei ein Volksfeind. Die Propaganda in Presse, Rundfunk und Wochenschau, jede Formung von Meinung, geschehe in einseitiger Schwarz-Weiß-Technik."149 Für Dovifat war die Presse der kommunistischen Staaten „nach Chruschtschow nur der .Transmissionsriemen' vom Willen der Partei zum Volk"150. Auf der vierten — und letzten — Arbeitstagung der „Internationalen Gesellschaft für Publizistik", die Emil Dovifat vom 5. bis 7. März 1955 in Berlin ausrichtete151, hielt er eine von seinem überzeugten Antikommunismus getragene Ansprache über „Das Problem der Freiheit in der totalitären Welt" und nahm sich nacheinander Zeitungen, Zeitschriften, Nachrichtenagenturen, Rundfunk und Kino der DDR als abschreckendes Beispiel vor: „Der einfache Mann in der ,DDR' ist von oben her einer unausgesetzten propagandistischen Strahleneinwirkung aller publizistischen Medien ausgesetzt. Diese einseitige Beeinflussung 148
In Kanada ließ er sich 1960 über das „unmenschliche System in der Zone" aus (s. Anm. 125). 149 So der zusammenfassende Bericht über Dovifats Auftritt vor dem Ortskuratorium Köln „Unteilbares Deutschland" in der „Kölnischen Rundschau" vom 20.6.1957. 150 Bericht des „Tagesspiegel" vom 25.6.1961 über ein Podiumsgespräch im Berliner Amerika-Haus zum Thema: „Presse und Funk in einer freien Gesellschaft". Die Gesprächsrunde unter Dovifats Leitung setzte sich zusammen aus Peter Dreyer, Korrespondent des „New York Journal of Commerce"; Sebastian Haffner als BerlinKorrespondent des englischen Sonntagsblattes „Observer"; William L. Stearman, amerikanischer Presse-Attache in Bonn; Matthias Waiden als stellvertretender Chefredakteur des SFB. 151 Vgl. Anschlag, Dieter: Wegbereiter im Exil. Kurt Baschwitz: Journalist und Zeitungswissenschaftler (Journal für Publizistik & Kommunikation, Reihe Exkurse, Nr. IV). Münster 1990, S. 84—88.
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und die strenge Isolierung führen zu einer Zwangsausrichtung. Selbst aus der Schule wird über die Kinder die Propaganda ins Elternhaus getragen, denn auch die Schule ist Mittel der einheitlichen Beeinflussung der Öffentlichkeit. Jedes Fach, jede Unterrichtsstunde ist durchsetzt mit Propaganda. [...] Ein ausgesprochener radikaler Militarismus wird in allen diesen propagandistischen Wirkungsräumen systematisch verbreitet, maskiert mit dem Verwände westlicher Angriffsabsichten. Gleichzeitig setzt in zwangsweise zusammengebrachten Grosskundgebungen ein künstlich heraufgetriebener, übersteigerter Beifall und ein künstlich hervorgerufener Enthusiasmus ein, der bei aller Unnatürlichkeil doch so stark ist, dass niemand gegen den Strom schwimmen kann. Dabei werden die kommunistischen Doktrinen als unantastbare Wahrheiten vorgetragen und alle Gegenargumente diffamiert und beseitigt. [...] Zwischen der propagandistischen Bestrahlung von oben und dem terroristischorganisierten Druck von unten zerbricht die Freiheit des einzelnen"1*2 Seinen Reden ließ Dovifat auch die Tat folgen: 1959 war er mit rund hundert Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Franz-Josef Strauß und Ludwig Erhard Mitbegründer des Komitees „Rettet die Freiheit" in Köln. Initiator war Rainer Barzel; die Vereinigung wollte „angesichts der Bedrohungen durch den Bolschewismus, durch nationalistische und rassische Radikalismen in ständigem Wirken die Bevölkerung, auf die inneren und äußeren Gefahren für die freiheitliche Staats- und Lebensordnung aufmerksam' machen und ihren Willen zur Verteidigung der politischen und geistigen Freiheit wachhalten."153 In seinen Überzeugungen war Dovifat unbestechlich, hartnäckig, kämpferisch — aber auch einseitig, manchmal blind, was ihm neben allem Lob gerechtfertigte öffentliche Kritik einbrachte: „Vor der Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise sprach Professor Dr. Emil Dovifat über ,Wesen und Mittel öffentlicher Meinungsbildung in Ost und West'. Mit vollendeter Rhetorik und eingestreuten Bonmots verstand es der Referent, seine rund dreihundert Zuhörer für das interessante Thema zu gewinnen. [...] Leider hörte man kein Wort von den Lautsprecherwagen an der Sektorengrenze, kein Wort von Schaden und Nutzen mancher Plakate an der 152
Der Vortrag ist auszugsweise mit anderen Dokumenten der Tagung gebunden und ohne Titel unter der Signatur B 1329 in der Bibliothek des Berliner Instituts für Publizistik archiviert. Hervorhebungen im Original, Zitat auf S. 4 des Redemanuskripts. 153 Bericht der „Badischen Neuesten Nachrichten" vom 21.2.1959 über die Gründungsveranstaltung in Köln.
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Mauer. Hier sind wichtige aktuelle Ereignisse gegeben, die dringend einer Erläuterung bedurft hätten."154 Bei aller zutreffenden Kritik an der DDR-Presse steckte auch gezielte Polemik in Dovifats Worten, die in seiner tiefliegenden antikommunistischen Gesinnung begründet lag. Kein Wunder also, daß seine öffentlichen Auftritte auch in Ost-Berlin genau verfolgt wurden und jeder lapsus linguae genüßlich breitgetreten wurde: Unter der Überschrift „Klein-Dovi" schrieb die „Berliner Zeitung": „Viel Gelächter erntete der Westberliner Zeitungswissenschaftler Prof. Dovifat (CDU), als er Donnerstag abend auf einem Forum im Amerikahaus auf die Frage eines Studenten antwortete: ,Es gibt bei uns nur eine große Nachrichtenagentur, und das ist [das] D NB'. Das DNB war die Nachrichtenagentur der Nazis. Erst später verbesserte sich Dovifat und nannte den ADN für die DDR und DPA für Westdeutschland."155 Neben den umfangreichen journalistischen Veröffentlichungen Dovifats und den zahlreichen Sammelbandbeiträgen, Artikeln für Festschriften und Lexika156 sind mit Hilfe der jeweiligen studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter nach 1948 einige Publikationen erschienen, die den Ruf des Instituts festigten. Dazu gehören die jeweilig erweiterten und überarbeiteten Auflagen der zweibändigen „Zeitungslehre"157 in der Sammlung Göschen, mehrere Auflagen der „Blätter zur Berufskunde: Journalist"158 und die in mehreren Abteilungen veröffentlichte wissen-
154
Bericht im „Tagesspiegel" vom 9.12.1961. „Berliner Zeitung" vom 24.6.1961; den „Freudschen Versprecher" leistete sich Dovifat auf der bereits oben zitierten Podiumsdiskussion zum Thema „Presse und Funk in einer freien Gesellschaft". Am Leipziger Institut für Journalistik der KarlMarx-Universität wurde 1962 sogar eine üble Schmähschrift gegen Dovifat als Dissertation angenommen (Raabe, Hans-Joachim: Emil Dovifats Lehre von der Publizistik. Phil. Diss. Leipzig 1962, als Manuskript gedruckt), in der er als „Hitlerfaschist" dargestellt wird. Das darin enthaltene Kapitel „Die endgültige Gestaltung und Durchsetzung der Lehre Dovifats im Zeichen des Bonner klerikal-militaristischen Regimes" (ebd., S. 113—173), in dem Dovifats „unmittelbare[m] Beitrag zur Vertuschung des imperialistischen Charakters des westdeutschen Pressewesens" nachgegangen wird (ebd., S. 139—153), gibt über den Wert dieser Publikation am besten Auskunft. 156 S. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. LIV—LXV. 157 Berlin 31955, 41962, 51967; seine Kritiker warfen ihm später nicht ganz zu Unrecht vor, die Überarbeitung hätte vor allem dem Zweck gedient, die „Zeitungslehre" zu entnazifizieren. 158 Blätter zur Berufskunde: Journalist. Bielefeld 21960,31962, «1968. 155
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schaftliche Reihe „Zeitung und Zeit". Die drei Ausgaben der Handbücher zur „Deutschen Presse" in den Jahren 1954, 1956 und 1961 und das „Handbuch der Auslandspresse", 1960 erschienen unter maßgeblicher Mitarbeit von Elisabeth Löckenhoff.159 Seine letzten zehn Lebensjahre widmete Dovifat vor allem dem „Handbuch der Publizistik". Die Gliederung des Handbuchs entwickelte er mit seinem Assistenten Günter Kieslich bereits 1959.16° Finanzielle, zeitliche und redaktionelle Probleme verzögerten die Fertigstellung immer wieder.161 1968 schließlich konnte der erste Band ausgeliefert werden. Im Februar 1969 lag bereits der zweite vor, am 16. Juli 1969 konnte der letzte Band in Druck gehen. Ein druckfrisches Exemplar konnte ihm noch kurz vor seinem Tod am 8. Oktober 1969 überreicht werden. Benedikt schreibt, „Dovifat starb in dem Bewußtsein, sein Lebenswerk vollendet zu haben."162 Weitere als die hier aufgeführten Werke veröffentlichte Dovifat allerdings nicht während seiner Zeit an der Freien Universität. Das liegt vor allem darin begründet, daß er nicht nur Wissenschaftler war, sondern auch immer Journalist blieb — hunderte Artikel und öffentliche Auftritte zeugen davon. Dennoch fällt auf, daß seine größeren eigenständigen Publikationen — „Die Zeitungen", „Der amerikanische Journalist", die „Zeitungslehre" und das umstrittene Buch „Rede und Redner" — alle aus der Zeit vor 1945 stammen. Dovifat selbst sagte rückblickend, daß vor allem die Arbeit an den Handbüchern „auf Kosten eigener wissen-
159
Vgl. Bohrmann, Löckenhoff (wie Anm. 74), S. 21. Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 196. 161 Bereits in der Planungsphase hatte sich Dovifat um eine Teilfinanzierung des Handbuchs durch das Bundespresseamt bemüht. Der dortige stellvertretende Amtschef, Ministerialdirigent Werner Krueger, verwandte sich bei den entscheidenden Stellen für Dovifat. Zwischen 1960 und 1966 wurden ihm mit der Begründung, die Handbücher der Publizistik seien im öffentlichen Interesse, dreimal Gelder bewilligt. Wie Krueger in einem Telephongespräch mit dem Verfasser am 1.8.1994 mitteilte, wurde für die finanzielle Unterstützung kein fester Etatposten eingerichtet, sondern die Beträge aus dem Titel 300 — „der sogenannten .Pulverkiste', aus der .Extras' bezahlt wurden", so Krueger, — vergeben. Nachdem mehrere Jahre seit der Planung vergangen waren, stellte Winfried B. Lerg empört die Frage: Wo bleibt das Handbuch der Publizistik? (In: Publizistik 9 [1964], S. 354—359): „Als vorläufiger Einsendeschluß war der 15.3.1961 genannt worden. Solche Daten pflegen zwar meist nur erst eine geplante Fiktion zu sein, doch übers Jahr gingen immerhin eine Anzahl von Beiträgen ein. Mit dem Satz wurde jedoch bis heute noch nicht begonnen" (ebd., S. 355). 162 Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 197. 160
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schaftlicher Veröffentlichungen"163 gegangen war. Und Günter Kieslich entschuldigt seinen ehemaligen Chef: „Ein so engagierter Wissenschaftler und Publizist kann seine Erfüllung nicht im Schreiben kluger Bücher oder in seiner Studierstube finden."164 Auch Karl d'Ester fand in der Festschrift für Emil Dovifat rechtfertigende Worte: „Es erbt sich im akademischen Leben Deutschlands wie eine ewige Krankheit die Ansicht fort, daß der Wert eines Gelehrten nach der Zahl der von ihm herausgebrachten Bücher einzuschätzen sei. Dieser Maßstab wird zumeist bei Berufungen auf Lehrstühle angewandt. Das war berechtigt, als das Buch meist noch die einzige Form war, in der sich das Wissen eines Forschers dokumentieren konnte, mittels der ein Professor zur gelehrten Welt sprach. [...] Es ist wahrlich meist bedeutend schwieriger, ein wissenschaftliches Institut zu schaffen — als ein Buch zu schreiben [...]."165
V Würdigungen und Kritik der Zeitgenossen Gut zwei Jahre nach Gründung des Instituts für Publizistik bot sich der erste Anlaß zu einer öffentlichen Würdigung Dovifats: am 27.12.1950 beging er seinen 60. Geburtstag; ein Tag, der in der Presse Beachtung fand. Dpa verbreitete ein „in herrlichen Worten gehaltenes Glückwunschtelegramm" Bundeskanzler Adenauers an Dovifat.166 Vor allem die Berliner Presse portraitierte den Jubilar je nach Einstellung kühl-sachlich bis apotheotisch. Eher zurückhaltend formulierte der „Tagesspiegel": „Seine in Buchform erschienenen Darlegungen über den amerikanischen Journalismus, über die Rhetorik, seine vielfach umstrittenen Bände über Zeitungslehre in der Sammlung Göschen, das Handbuch der Weltpresse und das der deutschen Tagespresse, für die Dovifat als Herausgeber fungierte, zeigen einen Spezialisten in seiner Werkstatt, in der er bis heute noch nicht allzu viele Gehilfen gefunden hat."167 163
So Dovifat in einem Brief an Prakke vom 8.6.1965; zit. n. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 190. 164 Kieslich, Dovifat (wie Anm. 102), S. 70. 165 d'Ester, Karl: Emil Dovifat, der Mensch und das Werk. In: Publizistik als Wissenschaft (wie Anm. 24), S. 4 f. 166 Vgl. „Der Tag" vom 28.12.1950. 167 „Der Tagesspiegel" vom 24.12.1950.
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„Der Tag" fand 73 Zeilen lang salbungsvolle Worte für seinen Mitbegründer, wie: „Wer Emil Dovifat kennt, weiß, daß sein Wirken weit über den akademischen Rahmen des Wissenschaftlers, des Forschers und Lehrers hinausreicht, um in der Öffentlichkeit Nutzanwendung und damit Erfüllung zu finden. [...] Denn er hat seinen Auftrag nie allein auf dem Katheder und in der Studierstube zu erfüllen gesucht. Doppelt begabt mit rhetorischen und schriftstellerischen Fähigkeiten, fühlte er sich seit seiner Jugend dem publizistischen ,Drang in die Öffentlichkeit* verantwortungsvoll verpflichtet. [...] Es folgten die Jahre eines methodischen Mühens an seinem Berliner Institut, das unter ihm Weltgeltung erlangte. [...] So verließ er nicht Berlin, als 1945 alles zusammenbrach, und folgte nicht den Angeboten westdeutscher Universitäten [sie!]. Er wurde Mitbegründer der Union, er ging zu den Menschen der Zone und redete in zahllosen Versammlungen zu ihnen, um sie durch die Überzeugungskraft seines Wortes aufzurichten und ihnen zu helfen, den äußeren Zerfall nicht auch zum inneren Chaos werden zu lassen."168 Zum 60. Geburtstag wurde Dovifat auch die Würdigung seiner Kollegen zuteil: Walter Hagemann zeichnete für die Herausgabe der Festschrift „Publizistik als Wissenschaft"169 verantwortlich und schrieb „zum Geleit": „Was Emil Dovifat für den Aufbau der publizistischen Wissenschaft lehrend und forschend bis heute geleistet hat, gehört weit über den Bereich des Faches und der Universität der Öffentlichkeit an. Daraus erwächst auch für die Öffentlichkeit die Verpflichtung, diesem Mann ihre dankbare Anerkennung zu zeigen."170 In derselben Festschrift veröffentlichte Karl d'Ester seinen Beitrag „Emil Dovifat, der Mensch und das Werk"171 und würdigt seinen Kollegen: „Es sei dem weltweiten, begeisterten Vorkämpfer einer theoretischen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Presse, Emil Dovifat, vergönnt, noch viele Jahre an seinem hervorragenden Platz in bester Gesundheit weiter zu wirken zum Wohle der deutschen Jugend, der deutschen Presse und ihrer Wissenschaft und zum Heile des deutschen Volkes! Quod Deus bene vertat!"172 Assistent Friedrich Medebach, der 1939 bei Dovifat promoviert hatte, trug zur Ehrung seines Chefs den Aufsatz „Das Berliner Institut für Pu-
168
„Der Tag" vom 24.12.1950. S. Anm. 24. 170 Ebd., S. . 171 Ebd., S. 3—8. 172 Ebd., S. 8. 169
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blizistik" bei173 und verleiht seiner Bewunderung mit folgenden Worten Ausdruck: „Es ist der Stolz aller Mitarbeiter und der Berliner Studenten, alle Kraft einzusetzen, um die Tradition des ehemaligen Deutschen Instituts für Zeitungskunde an der Freien Universität Berlin fortführen zu können unter dem Manne, der diese Tradition selbst verkörpert: unserem Lehrer und Meister Emil Dovifat."174 Walter Hagemann beabsichtigte übrigens schon 1949/50, diese Festschrift zu Dovifats 60. Geburtstag „ausdrücklich als Vorausexemplar einer neuen Fachzeitschrift"175 der Publizistikwissenschaft zu konzipieren. Einige Querelen, die die Fachvertreter untereinander ausfochten, verzögerten dieses Projekt aber immer wieder, so daß die „Publizistik" als Fachorgan erst 1956 unter Mitwirkung von Emil Dovifat, Günter Kieslich und Walter Hagemann ins Leben gerufen werden konnte.176
173
Ebd., S. 77—84. Ebd., S. 84. 175 Haacke, Wilmont et al: 25 Jahre „Publizistik". In: Publizistik 25 (1980), S. 474. 176 Vgi Anschlag, Wegbereiter (wie Anm. 151), S. 83. Zu diesen Querelen zählen zum Beispiel Hagemanns und d'Esters Kontroverse um „die reine Lehre und den Namen des Fachs" (Haacke, 25 Jahre [wie Anm. 175], S. 474), aber auch ein methodischer Streit zwischen Hagemann und Dovifat, der sich noch über die ersten Ausgaben der neuen Fachzeitschrift erstreckte. Diese Kontroverse verdeutlichte erneut, daß Dovifat an seiner alten Begriffswelt festhielt, auch wenn sich neue Definitionen in der Publizistik flächendeckend durchzusetzen begannen: In einer von Hagemanns Münsteraner Institut durchgeführten Erhebung der deutschen Tagespresse von 1954 wurde unterschieden nach selbständigen publizistischen Einheiten, die als „Zeitungen" gezählt wurden, und nach „Ausgaben", die Mantelteile anderer Blätter übernahmen. Nach dieser Definition zählte Hagemann für Deutschland 225 Zeitungen mit 1.500 Ausgaben. Dovifat empörte sich über diese „Begriffsumschreibung" und zählte nach wie vor — auch in seinen Handbüchern zur deutschen Presse — 1.500 Zeitungen (s. Dovifat, Emil: Was ist eine „Zeitung", was ist eine „Ausgabe"? Zu den Grundbegriffen in der Erhebung des Publizistischen Instituts der Universität Münster über die deutsche Tagespresse. In: Publizistik l [1956], S. 105—107). Er meinte zwar auch, daß den 225 Zeitungen, die in allen wesentlichen Teilen publizistisch selbständig gestaltet seien, ein „besonderer Rang" zukommen solle. „Deshalb aber den 1.275 anderen publizistischen Unternehmungen generell den Ehrennamen ,Zeitung' strittig zu machen und sie nur zu .Ausgaben' zu degradieren, ist in dieser Verallgemeinerung nicht berechtigt" (ebd., S. 106). Vgl. zum Thema auch Hagemann, Walter: Die moderne Presse. In: Publizistik l (1956), S. 316; ders.: Gibt es noch eine Tagespresse? Erscheinungsweise und Erscheinungshäufigkeit der heutigen deutschen Zeitungen. In: Publizistik 2 (1957), S. 195—205; Dovifat, Emil: Dankt die Presse ab? In: Publizistik 2 174
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Ein weiterer Anlaß, Dovifat öffentlich zu würdigen, war sein 25. Professorenjubiläum im Jahre 1953, zu dem die Freie Universität ihm einen Empfang in der Neuen Mensa in Dahlem bereitete.177 Die Festansprache hielt Karl Brammer, der Vorsitzende des Berliner Presseverbandes, der die Bedeutung Dovifats für die Entwicklung des deutschen Pressewesens würdigte und ihm „vor allem für seinen unerschrockenen scharfen Kampf für die Freiheit Berlins und der Ostzone dankte"178. Persönliche Glückwünsche erhielt er auch von Kanzler Adenauer, Jakob Kaiser, dem damaligen Regierenden Bürgermeister Schreiber und dem DGBVorstand Berlins.179 „Ehrerbietig gedachte"180 Dovifat in seiner Dankesrede seinen eigenen Lehrern und Vorbildern: Friedrich Naumann, Carl Sonnenschein und Karl Bücher. Negative Stimmen gab es nicht. Die acht Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg waren offenbar eine zu kurze Zeitspanne, um sich kritisch mit Dovifats Tätigkeit im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Die Dovifat gewogene Presse überschlug sich förmlich in Huldigungen und Dankesbekundungen. Sie würdigte seine „umfassende und profunde Gelehrsamkeit" in dem komplexen Wissensbereich der Publizistik, „in den Historic, Soziologie, Psychologie, Wirtschaft, Technik und Kunst, Politik und Philosophie hineinspielen [...], dazu die Ueberzeugungskraft der Persönlichkeit, Temperament und Ethos einer verantwortungsbewußten publizistischen Gesinnung, erwachsen, bewährt und immer wieder, auch heute noch, erneuert in journalistischer Praxis."181 Die Apotheosen waren meist getragen von menschelnden Geschichten: „Wer ihn kennt, wunderte sich deshalb nicht, daß der Professor schon kurz nach dem Zusammenbruch täglich von der Zehlendorfer Wohnung zur Stadtmitte radelte, um dort eine Zeitung aufzubauen. Radelte — trotz der schweren Beinverwundung des ersten Weltkrieges. Später kam noch ein Autounfall hinzu. Enorme Willenskraft! [...] Nein, keine Zeit für Hobbies. Nur seit einigen Jahren manchmal für zwei Enkelkinder. Und für eine gute Flasche Rhein-
(1957), S. 206—208; Hagemann, Walter: Nochmals: Abdanken? In: Publizistik 3 (1958), S. 26—30. 177 S. Bericht im „Tagesspiegel" vom 10.11.1953. 178 In: „Volksblatt" vom 7.11.1953. 179 S. „Der Tag" vom 7.11.1953; vgl. auch die Berichte im „Tagesspiegel" vom 6.11.1953 und in der „Neuen Zeitung" vom 6.11.1953. 180 In: „Volksblau" vom 7.11.1953. 181 In: „Volksblatt" vom 6.11.1953.
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wein."182 Auch „seine Gattin, die sich durch ihre soziale Mitarbeit mit Recht den Namen ,Mutter der Studenten' erworben hat, [hatte] berechtigten und beglückenden Anteil"183 an der Ehrung. Auch zum 65. Geburtstag wurde in Fach- und Tagespresse vielfach gewürdigt, daß Dovifat das Verdienst zukommt, die Zeitungskunde zur Publizistik erweitert und als Wissenschaft verankert zu haben. Die Palette reichte diesmal von huldvoll184 bis vorsichtig kritisch: „Seine methodische, rednerische, organisatorische Begabung kam auch immer wieder den Berufsverbänden zugute. [...] Natürlich stößt man bei der Betrachtung seiner bisherigen Tätigkeit auch auf einige Ärgernisse, wie man überhaupt ihm nicht auf allen seinen Wegen zu folgen vermag."185 Dovifats 70. Geburtstag fand ein besonders großes Presseecho. „Das Geheimnis seiner Popularität" — die ihm 1959 beinahe eine Nominierung als Nachfolger des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss eingebracht hätte186 — „dürfte in seinem leicht ironisch-konzilianten Wesen, in seinem feurigen Idealismus liegen und in seiner Begeisterung für die Jugend, die in ihm ein Vorbild erblickt."187 Allerdings klingen viele der Würdigungen zum Siebzigsten wie ein Schwanengesang auf den ein Jahr zuvor emeritierten, aber immer noch tätigen Professor, an dessen Institut bereits sein designierter Nachfolger Eberhard lehrte. Während zum Fünfundsechzigsten die Wünsche im Vordergrund standen, daß er sich der Arbeit „für seine Wissenschaft, für Generationen von Studenten, aber nicht zuletzt für Presse und Rundfunk [...] hoffentlich noch lange widmen wird"188, herrschten nun vielfach verklärende Rückblicke vor: „Dankbar gedenken seine Schüler ihres Mentors, der ihnen als Erzieher und Ratgeber das berufliche Handwerkszeug und die geistige Zielsetzung gegeben hat."189 Seine fortdauernde Lehrtätigkeit mißachtend, schrieb „Die Welt", daß Dovifat die Publizistik am Dahlemer Institut
182
In: „Der Tag" vom 1.11.1953. In: „Volksblatt" vom 7.11.1953. 184 S. „Der Tag" vom 25.12.1955. 185 In: „Telegraf" vom 28.12.1955. 186 Vgl. Bohrmann, Löckenhoff (wie Anm. 74), S. 20. 187 Fahrenkrug, Arthur: Emil Dovifat. Der „Zeitungsprofessor" aus Berlin — Ein Wissenschaftler des Journalismus. In: Interpress Kultur (Internationaler Biographischer Pressedienst Nr. 229 vom 9.12.1960). Hamburg 1960. 188 In: „Der Tag" vom 25.12.1955. 189 In: „Montagsecho" vom 27.12.1960. 183
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„bis zu seiner Emeritierung als Forscher und Lehrer vertreten" hatte.190 In einem Glückwunschtelegramm nannte Bundeskanzler Adenauer Dovifat „den Altmeister der deutschen Zeitungswissenschaft und den aufrechten verdienstvollen Vorkämpfer einer Erneuerung des deutschen Zeitungswesens"191. Bundespräsident Lübke schrieb ihm zum Siebzigsten: „In Ihnen verehrt eine ganze Publizistengeneration einen Mentor, der sich durch hervorragende wissenschaftliche Leistungen und sein mannhaftes und unerschütterliches Eintreten für die Freiheit des Geistes ausgezeichnet hat."192 Seine Fachkollegen aus dem In- und Ausland würdigten Dovifat zu seinem 70. Geburtstag mit einer umfangreichen Festschrift, die von Günter Kieslich und Walter Schütz redigiert worden war.193 In 25 Beiträgen wird die ganze Spannweite der Publizistik untersucht; die Autoren sind neben den Lehrstuhlinhabern der Publizistik- oder PresseInstitute in Amsterdam (Kurt Baschwitz), München (Hanns Braun), Leuven (Urbain de Voider), Rom (Francesco Fattorello), Wilhelmshaven (Wilmont Haacke), Paris (Jacques Kayser), Dortmund (Kurt Koszyk), Wien (Marianne Lunzer-Lindhausen) und Münster (Hendricus Johannes Prakke) auch Vertreter der Presse und Weggefährten wie Elisabeth Noelle-Neumann, Theo Fürstenau, Kurt Fischer, Martin Löffler, Edgar Stern-Rubarth und Andreas Thommen. Die Festschrift wurde pünktlich zu Dovifats Geburtstag fertiggestellt und veröffentlicht — noch bevor in Berlin die rufschädigende Nachfolgedebatte richtig in Gang gekommen war und sich Eberhard und Dovifat aus dem Weg gingen. In der Festschrift für Dovifat zeichnet jedenfalls auch Fritz Eberhard für einen Beitrag verantwortlich.194 190
In: „Die Welt" vom 27.12.1960. Zit. n. dem Bericht im „Kurier" vom 27.12.1960. 192 Ebd.; vgl. auch weitere Berichte zu Dovifats 70. Geburtstag, zum Beispiel im „Tagesspiegel" vom 28.12.1960; in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 27.12. 1960; im „Echo der Zeit" vom 1.1.1961. 193 Publizistik. Festschrift für Emil Dovifat. Bremen 1960. 194 Eberhard, Fritz: Warum Hörerforschung? Und wie? In: Ebd., S. 32—40. Auch Dovifat beteiligte sich später an der Festschrift zu Fritz Eberhards 70. Geburtstag mit einem Beitrag über die zerstörerische Kraft von chemischen Drogen auf die Persönlichkeit bei Gehirnwäsche und Verhören vornehmlich im kommunistischen Machtbereich, was einerseits der Gesinnung Dovifats entsprach, andererseits aber auch als Spitze gegen den Sozialisten Eberhard verstanden werden konnte: „Die völlige Vernichtung der geistigen Freiheit und Unabhängigkeit eines Volkes könnte damit herbeigeführt werden. Eine solche Überwältigung, überraschend ausgeübt, wäre dann die 191
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Als Dovifat 75 Jahre alt wurde, hatte er sich bereits weitgehend aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen; zwar leitete er noch bis 1967 die zeitungsfachlichen Fortbildungskurse in Düsseldorf, war aber kaum noch am Berliner Institut anzutreffen, betrieb seine diversen Mitgliedschaften meist passiv und widmete beinahe seine ganze Zeit der Herausgabe der drei Handbuchbände zur Publizistik. Die Würdigungen in der Presse anläßlich seines 75. Geburtstages fallen daher nicht besonders originell aus und beziehen sich meist auf Jahre zurückliegende Verdienste. Dem „Kurier" fällt nicht nur nichts Neues ein, er dokumentiert dies auch noch recht erbärmlich: „Sein bisheriges Leben, seine Erfolge, seine vielen Ehrungen, all dies ist, in regelmäßigen fünfjährigen Abständen von der Zeitungswelt verbreitet worden."195 Auch Günter Kieslich greift in seinem „Publizistik"-Beitrag zu Dovifats 75. Geburtstag auf Altes zurück, zitiert ausgiebig das Geleitwon aus der Festschrift zum Sechzigsten aus dem Jahre 1950 und ergänzt: „In den seitdem vergangenen 15 Jahren hat Emil Dovifat im Bereich der Universität und in der Öffentlichkeit so weitergearbeitet, als ob es für ihn keine verdiente Muße und kein Altern gäbe. Es scheint daher nicht gut möglich, dem über seine Verdienste schon bei anderen Gelegenheiten Gesagtes noch etwas Neues hinzuzufügen — ohne in schwärmerische Rhetorik zu verfallen."196 Einzig erwähnenswert schien zu sein, daß Dovifat mit seinen 75 Jahren weit weniger hinfällig war als seine Altersgenossen: „Das Erstaunliche an diesem Mann [...] ist eben seine vitale Unermüdlichkeit, sein Schaffensdrang, seine unverändert anhaltende menschliche Beweglichkeit, die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, die Fülle der Stimme."197 Allerdings genaue Umkehr des geistigen Prozesses Publizistik, wäre das Ende der Publizistik, auch den Massen gegenüber. Durch die chemische Überwältigung der Person in der Persönlichkeit zu publizistischer Ausbeute ist sie leider schon gegeben als die schwerste Erniedrigung der .Würde des Menschen' und der unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechte' (Art. l GG)." Dovifat endet, seinen althergebrachten — und Eberhard entgegengesetzten — wissenschaftlichen Ansatz von der publizistischen Disziplin aufs neue beschwörend mit den Worten: „Die Publizistikwissenschaft als eine normative und nicht wertfreie Disziplin hat das warnend und vorausschauend auszusprechen" (Dovifat, Emil: Das Ende der Publizistik. Die psycho-chemische Überwältigung. In: Publizistik 11 [1966], S. 221—225; hier: S. 223; Hervorhebungen im Original). 195 In seinem Porträt „Professor — Politiker — Publizist" vom 27.12.1965. 196 Kieslich, Dovifat (wie Anm. 102), S. 69. 197 Im „Kurier" (wie Anm. 195); ähnlich die Geburtstagsporträts im „Abend" vom 27.12.1965 und in der „Welt" vom 28.12.1965, wo Bundespräsident Lübkes Tele-
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deutete sich 1965 — dem allgemeinen Trend der aufkommenden Studentenbewegung folgend, die nationalsozialistische Vergangenheit nicht weiter zu verharmlosen oder zu verdrängen — auch an, daß der Lebenslauf Dovifats zwischen 1933 und 1945 nun — wenn auch noch sehr dezent — kritischer thematisiert wurde als bislang: „Sein politisches Engagement führte ihn in der Nazizeit an die Front des katholischen Widerstandes. Man entfernte ihn zweimal aus seinem Lehramt. Es gibt da auch einige Ärgernisse und .Fehlleistungen', aber ohne Zweifel über1VSQ * 1* '* «1Q wiegen die positiven. Zu Lebzeiten erfuhr Dovifat noch einmal ein großes Presseecho, als er die ersten beiden Bände des „Handbuchs der Publizistik" herausgab. In diversen Rezensionen wurde gewürdigt, daß er mit ihnen „noch einmal fundiert und mit Vehemenz in die Auseinandersetzung um die Publizistik als Wissenschaft ein[greift] und [...] gleichzeitig die seit langem bedauerte Lücke in den Systemfragen dieses Fachs" schließe.199 Dovifat gramm — „Dovifat dürfe seinen Geburtstag in dem frohen Bewußtsein begehen, daß sein Lebenswerk reiche und vielfältige Früchte getragen habe" — wiedergegeben wird. Auch das „Echo der Zeit" vom 2.1.1966 erging sich in Routine und zitierte hauptsächlich Dovifats „Zeitungslehre". 198 In: „Telegraf" vom 28.12.1965. Rolf Seeliger, der zur selben Zeit an seiner „Dokumentation über die Braune Universität" arbeitete, versuchte dagegen, Dovifat als nationalsozialistischen Schreibtischtäter zu überführen (Seeliger, Rolf [Hg.]: Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute. Dokumentation mit Stellungnahmen IV [Dokumentenreihe Heft 4]. München 1966). Ihm verweigerte Dovifat die angefragte „Mitarbeit" und versuchte — allerdings wenig glaubwürdig —, sich in die Nähe des deutschen Widerstandes zu rücken: „Das Recht der akademischen Jugend, über die Haltung ihrer Lehrer während des Hitlerregimes unterrichtet zu sein, ist selbstverständlich [...]. Das von Ihnen privat angewandte Verfahren, Textzitate aus ihrer Bedeutung herauszulösen, die damals ganz anders gemeint und ganz anders verstanden wurden als heute in einer freien Welt, ist irreführend [...]. Sie übergehen die Tatsachen, aus denen selbst die Zitatfetzen zu begreifen sind, die ganz einfach die Deckung abgaben, hinter der sich unsere Opposition und unser Widerstand vollzog. In dieser Opposition habe ich gestanden" (ebd., S. 80). Karl-Heinz Brinkmann faßte später in einem Satz sehr treffend das Für und Wider zusammen: „Wegen seines Eintretens für die Freiheit des religiösen Bekenntnisses wiederholt gemaßregelt, in den Vorlesungen von der Gestapo überwacht, hat Dovifat in Wort und Schrift Konzessionen an die braunen Machthaber gemacht, die ihm seine Kritiker später vorhielten" (Brinkmann, Karl-Heinz: Nestor der deutschen Publizistik. Zum Tode von Professor Emil Dovifat. In: „Der Tagesspiegel" vom 10.10.1969). 199 Renfordt, Karlheinz: Was ist und wozu dient Publizistik? In: „Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 18.9.1968.
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beharrte auch im Handbuch der Publizistik auf seinem normativen und gesinnungsethischen Ansatz und handelte sich dadurch gerechtfertigte Kritik ein: „Eine Reihe prominenter Fachvertreter widersprechen Dovifats Charakterisierung der Publizistik als normativer Disziplin, und sie können manches Argument gegen diese Auffassung vorbringen, weil man bei der Beurteilung publizistischer Vorgänge nicht ohne weiteres auf eine feste Wertskala zurückgreifen kann [...]."20° Auch wurde beklagt, daß bei der „Darstellung der Massensituation doch noch ein genaueres Eingehen" auf die Sozialpsychologie fehle201; genau in diesem Beharren Dovifats, die Publizistik vor allem geistes- und nicht sozialwissenschaftlich zu betrachten, lag der Grund, warum das „Handbuch" für die nachwachsende Studentengeneration so schnell überholt war. Ein anderer Rezensent deutete dies an: „Was aber fehlte, war eine [...] Gesamtdarstellung aller publizistischen Mittel und Erscheinungsformen, die dem heutigen Stand entspricht, bei denen es allerdings zu bedenken gilt, daß sie weiterhin ständigen Entwicklungen und Veränderungen unterworfen sind und bleiben werden."202 Nach all dem, was überliefert ist, waren die Studierenden bei Dovifat vor allem eins: Rezipienten. Nach Zensur und Nazi-Diktatur nahmen sie alles ihnen vermittelte Wissen begierig auf. Theoretische oder methodologische Grundsatzdebatten gehörten nicht zum Seminarprogramm: „Die lernbegierige Studentengeneration der ersten Stunde war [...] Dovifats idealer Partner. Die Bewunderung für den .Meister' schuf eine lebendige Gemeinschaft von Schülern und Lehrern [...]."203 So genügten in den Prüfungen meist auch ordentlich rezitiertes Wissen aus den Veranstaltungen oder auswendig gelernte Lehr- und Merksätze aus der „Zeitungslehre".204 Dovifats Bild von der „publizistischen Persönlichkeit"205, die durch ihr öffentliches Wirken andere zu Tun und Handeln bewegt und qua Autorität und Gesinnungsethik wissenschaftlich und urteilend führt, machte er zum Maßstab eigenen Handelns gegenüber seinen Studentinnen und Studenten. Auch was die Geschlechterrol2
°° Ebd.
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Ebd. In: „Telegraf" vom 31.8.1968. 203 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 194. 204 Vgl. ebd., S. 203. 205 S. zu diesem programmatischen Zentralbegriff die postume Publikation: Dovifat, Emil: Die publizistische Persönlichkeit. Hg. von Dorothee von Dadelsen. Berlin, New York 1990. 202
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len anging, war Dovifat eher ein Vertreter eines traditionellen Verständnisses. Wenn er schon frühzeitig geraten hatte, „im eigenen Interesse [...] sollte die Frau darauf verzichten, Rednerin zu sein"206, so galt er auch an der Freien Universität „nicht als besonderer Förderer von Frauen in der Wissenschaft", so Hans Bohrmann, der fortfährt: „Vielmehr sind eine ganze Reihe von wenig erfreulichen Aussprüchen überliefert, in denen er Studentinnen, die ihn zahlenmäßig gesehen gerne als Doktorvater wählten, vor allem der Kategorie .fleißig' zurechnete."207 Auch als Vorgesetzter war Dovifat ein klassischer Vertreter der Ordinarienuniversität, der seine studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter zwar hegte und sie privat nach Hause einlud208, sie im Institut aber mit allen anfallenden Arbeiten — vom Versenden und Auswerten der Fragebögen für die Handbücher der deutschen Presse bis hin zum Zusammenstellen der Ergebnisse und Vorbereiten seiner Vorlesungen und Seminare — so stark beanspruchte, daß einige über die „Sklavenarbeit" stöhnten209, ihn dabei aber respektierten und mit Hochachtung von ihm als „Unser Chef" oder einfach „Unser Alter" sprachen.210 Diese Komplexität der Persönlichkeit sprach im späteren Rückblick Dovifats ehemalige studen-
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Dovifat, Emil: Rede und Redner. Ihr Wesen und ihre politische Macht. Leipzig 1937, S. 69. Sehr pauschalierend und undifferenziert schreibt Dovifat weiter: „Auch die Stimme der Frau ist rednerisch ungünstig. In der Erregung wird sie spitz, überschlägt sich, und die Leute lachen. Frauen in fanatischen Reden sind abstoßend und höchst unerfreulich" (ebd.). Die Rolle, in der Dovifat sie am liebsten hatte, fügt er an: »Frauen sind die dankbarsten Zuhörer" (ebd., S. 70). 207 Bohrmann, Löckenhoff (wie Anm. 74), S. 20. 208 Seine letzte Assistentin, Katharina Comoth, berichtet in einem verklärenden Rückblick anläßlich der Enthüllung einer Gedenktafel an Dovifats Haus in Zehlendorf: „Es ist wahr, hier bin ich als Studentin ein- und ausgegangen. Im Arbeitszimmer auf der Gartenseite im ersten Stock stand ein Gebirge von Recherchen, die Zeugen seiner Bildung mit ausgewählten, hochgenauen Worten wie publice, publica, Publikum" (Comoth, Katharina: Zur Erinnerung an Emil Dovifat. Vorgetragen am 11.7.1990 anläßlich der feierlichen Enthüllung der Gedenktafel für Emil Dovifat [...] am Haus Charlottenburger Str. 2. Abgedruckt in: Im Göhltal. Zeitschrift der Vereinigung für Kultur, Heimatkunde und Geschichte im Göhltal 47 [1990], S. 69). 209 Vgl. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 189. 210 Vgl. das „Porträt der Woche", das die „Badischen Neuesten Nachrichten" am 16.8.1958 Dovifat widmeten.
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tische Hilfskraft Rheinwart Hinkel an: „Von ihm habe ich viel über die Widersprüchlichkeit im Menschen gelernt."211 Einig waren sich alle Zeitgenossen über Dovifats imposantes Auftreten, seine beeindruckende Persönlichkeit und seine überwältigenden rhetorischen Fähigkeiten, die selbst seine Kritiker später anerkennend würdigten. So Lutz Hachmeister: „Was von ihm nach seinem Tode vielen Zeitgenossen in Erinnerung blieb, war weniger seine spezifische Form von Theorie, sondern seine Erscheinung, seine Persönlichkeit. Besonders die von ihm gehaltenen Vorlesungen über aktuelle politische Ereignisse im Spiegel der Medienberichterstattung waren selbst für Zuhörer, die politisch mit dem Christdemokraten wenig übereinstimmten, offenbar beeindruckende Erlebnisse [...]."212 Das lautere Interesse an den Inhalten sei dabei gelegentlich übertroffen worden von der Freude am „Unterhaltungswert" Dovifatscher Rhetorik.213 Diese Publice-Vorlesungen hielt Dovifat einmal wöchentlich im Audimax der Freien Universität ab, und nach eigenem Bekunden hätten daran regelmäßig „mehr als 1.000 Zuhörer"214 teilgenommen. Tatsächlich war die Popularität Dovifats so groß, daß kaum ein Student — gleich welcher Fachrichtung — 211
So Hinkel, der ehemalige langjährige Archivar des Berliner Instituts für Publizistik, auf dem Workshop, der anläßlich Dovifats 100. Geburtstag veranstaltet wurde; zit. n. Struthoff, Kai: Dovifat-Workshop: Wo Licht ist, ist auch Schatten. In: „in medias res" 7 (1991), S. 3; „in medias res" ist der von einer studentischen Redaktion im Rahmen eines praxisorientierten Seminars erstellte Newsletter des Berliner Instituts für Publizistik. 212 Hachmeister, Lutz: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland (Beiträge zur Medientheorie und Kommunikationsforschung, 25). Berlin 1987, S. 117. 213 So Benedikt, Werk (wie Anm. 58), S. 483. Benedikt weiter: „Die wissenschaftliche Seriosität dieser Vorlesung wiederum war nicht unumstritten. Die Assistenten ironisierten die Publice-Vorlesung über publizistische Führung' als .Menschen, Tiere, Sensationen' — schon allein der damals ungewöhnlichen multimedialen Präsentation mit Dias, Filmausschnitten, Tonaufnahmen wegen; das war mehr als leiser Spott, war fast schon Spiegel der methodischen Kritik an Dovifat, die ihm Oberflächlichkeit unter glänzender Fassade vorwarf" (ebd.). Als Student der Volkswirtschaft besuchte Günter Schneider, später Bezirksstadtrat und Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, Ende der fünfziger Jahre die Publice-Vorlesung. „Da mußte man einfach mal hin, das gehörte dazu", so Schneider im Gespräch mit dem Autor am 29.1.1997. Ohne Vorwurf, aber leicht ironisch bezeichnet er die Dovifatsche Darbietung als „Märchenstunde" — „zu der ich aber gerne hinging, da bekam man was geboten". 214 Dovifat, Emil: Grundsätze journalistischer Fachbildung. In: Publizistik 5 (1960), S. 68.
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von den dreißiger bis zu den sechziger Jahren seine öffentlichen Vorlesungen versäumte. Ein offenes Fach mit fließenden Grenzen lag ganz in Dovifats Sinn: Seiner Meinung nach dienten die Publizistik-Lehrstühle „ja nicht allein der publizistischen Bildung. Ein guter Teil ihrer Arbeit dient dem Interesse der Studenten verwandter Gebiete oder allgemein staatsbürgerlicher Bildung [...]. Vorlesungen und Seminare der Publizistik werden vor allem von Soziologen, Nationalökonomen, Staats- und Kommunikationswissenschaftlern [sie!] zur Abrundung ihres Wissens vom öffentlichen Leben besucht."215 Otto B. Roegele sieht hier das große Verdienst Dovifats: „Im übrigen denke ich heute, nachdem ich mit Unzähligen aus allen möglichen Berufen und Fächern darüber gesprochen habe, daß Dovifats Bedeutung für unser Fach, wie immer man es nennen möge216, hauptsächlich in der fachübergreifenden Wirkung seiner Lehrtätigkeit bestanden hat. Wer in Berlin studierte und die Nase im Wind hatte, ging mindestens einige Male in Dovifats Vorlesung und bekam dort vielleicht keine Wissenschaft, sicherlich aber die Erkenntnis mit, daß in den Massenmedien eine Lebensmacht heraufgekommen ist, die nicht unbeachtet bleiben darf."217 Ulrich Wirth218, der in den ersten Kriegsjahren vier Semester bei dem seiner Meinung nach „wahnsinnig eitlen" Dovifat studiert hatte, bestätigt ebenfalls aus eigener Erfahrung die starke Resonanz der PubliceVorlesungen, mit denen Dovifat „regelmäßig das Auditorium Maximum der Universität Unter den Linden füllte."219 Das sei stets eine „große Schau dieses glänzenden Redners" gewesen — besonders „im Gegensatz zu dem Stubengelehrten d'Ester"220, bei dem Wirth nach dem Krieg promoviert hatte. Seine rhetorische Fähigkeit ist wohl die bestechendste Eigenschaft Dovifats gewesen: Ob in der Presse, in Interviews mit Zeit215 216
Ebd.
Roegele selbst ist Professor der Zeitungswissenschaft. Roegele in einem Brief an Stephan Ruß-Mohl vom 11.11.1987; im Besitz des Instituts für Publizistik. Auch Karl-Heinz Wolf bekräftigte den hohen Stellenwert der Publice-Vorlesung in seinem Nachruf auf Dovifat: „Wer in den ausgehenden zwanziger und dreißiger Jahren in Berlin studierte, sei es Jurisprudenz, Medizin oder Psychologie, jeder hat ,seinen Dovifat' gehört. Dies setzte sich auch in den fünfziger Jahren [...] fort. Dovifat repräsentierte wie kaum ein anderer eine Art .Studium generale'" (In: „Publik" vom 17.10.1969). 218 S. Anm. 27. 219 So Wirth in einem Telephongespräch mit dem Verfasser am 21.8.1995. 220 Ebd. 217
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zeugen oder in wissenschaftlichen Betrachtungen, überall wird von „seiner hinreißenden Beredsamkeit"221 gesprochen: „Rhetorisch außerordentlich begabt, mit einer mächtigen durchdringenden Stimme ausgestattet, auf alles rasch reagierend, wirkt er ungewöhnlich anziehend auf seine Zuhörerschaft."222 Auch wenn man die teilweise apotheotischen Portraits von ihrem Pathos befreit, so scheint diese herausragende Eigenschaft des „rhetorisch ungemein begabte[n] Mann[es]"223, dessen „rhetorische Eskapaden [auch im 75. Lebensjahr] begeistern"224, im allgemeinen Konsens seiner Zeitgenossen gelegen zu haben: „Im Kolleg wie in der Volksversammlung erinnert er an Meister der antiken Rhetorik. Der Nachwuchs aller Gebiete des öffentlichen Lebens lauscht ihm."225 „Der Tag" schreibt anläßlich des 25jährigen Professorenjubiläums über die Qualitäten seiner Rede: „Hier ist das echte Pathos des Rhetorikers angesiedelt, das ihn sicherlich zu einem noch besseren Redner als Schreiber werden läßt. Sarkasmus und Ironie stehen ihm zur Verfügung; er weiß sie souverän einzusetzen, und er tut es, oft schonungslos."226 Einige Volontäre, die bei Dovifat die zeitungsfachlichen Fortbildungskurse in Düsseldorf besuchten, waren so beeindruckt von „,seiner rednerischen Brillanz und seinem Humor* [...], daß sie bei ihm zu studieren beschlossen."227 Bei diesen schmeichelnden Aussagen fällt auf, daß kaum je über den Inhalt eines Vertrages berichtet wird. Kam es in der Presse zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung, so wurden hier meist gelungene Anekdoten, sarkastische Spitzen, Bonmots oder sonstige geistreiche Aper£us — also wiederum nur Bestandteile des rhetorischen Rüstzeugs — zum Besten gegeben. Vielfach steckte hinter dieser höchsten rhetorischen 221
Im „Volksblau" vom 25.12.1960. In: „Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 27.12.1960. 223 Im „Telegraf" vom 25.12.1960. 224 Im „Abend" vom 27.12.1965. 225 In: „Montagsecho" vom 20.8.1951. 226 In: „Der Tag" vom 1.11.1953. 227 Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 223. Auch Hans Bohrmann, der Ende der fünfziger Jahre verschiedene Möglichkeiten der Berufsausbildung und des Studiums abwog, bekam durch einen Vonrag Emil Dovifats „den entscheidenden Anstoß, tatsächlich ein Studium der Publizistik an der Freien Universität aufzunehmen. Insofern habe ich auch persönlich Emil Dovifat viel zu danken" (Bohrmann in seinem Brief an Bringmann vom 12.2.1991 [wie Anm. 70], S. 1). Als Dovifats studentische Hilfskraft bearbeitete Bohrmann später das Register zur 3. Auflage des Handbuchs der deutschen Presse. 222
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Reife offenbar nur wenig Substanz.228 Wer sich von dem grandiosen Auftreten Dovifats nicht beeindrucken ließ, stellte — wie Herbert Kundler — ernüchternd fest, daß sich kaum etwas „mit nach Hause nehmen ließ".229 So verfolgte Kundler einen 55minütigen Redebeitrag Dovifats vor dem Plenum des Deutschen Journalistentags in Hamburg am 9. April 1964230: „Bei jeder konkreten Aussage, die es sich gelohnt hätte zu zitieren, wollte ich einen Strich machen. Jede Fastenpredigt hätte 15 bis 20 Striche bekommen. Dovifats Rede dagegen keinen einzigen. Sowas hatte ich noch nie erlebt."231 Auch Gerd H. Pelletier, heute Korrespondent des Westdeutschen Rundfunks, hatte während seines Studiums am Berliner Institut für Publizistik in den Jahren 1956 bis 1958 ähnliche Erfahrungen gemacht: „Rhetorisch brillant; aber einen anderen bleibenden Eindruck hat er bei mir nicht hinterlassen."232 Zuvor hatte
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Häufig seien Studenten bei den Publice-Vorlesungen nur am „gesellschaftlichen Wert dieses Universitäts-Ereignisses" interessiert gewesen (Benedikt, Werk [wie Anm. 58], S. 483). Auch der letzte Dekan des Fachbereichs Kommunikationswissenschaften, Gernot Wersig, bestätigte diese These bei seiner Abschiedsrede als Dekan am 12.4.1995: „Er [Dovifat] war auch selbst ein faszinierender Redner, der häufig aus wenig wissenschaftlicher Substanz eine spannende Veranstaltung machte" (Wersig, Gernot: Erbe und Mitgift des Fachbereichs Kommunikationswissenschaften. Als Manuskript von den „Freunden der Publizistik" gedruckt und verteilt. Berlin 1995, S. 1). 229 Herbert Kundler im Gespräch mit dem Verfasser am 18.10.1996. 230 Dovifat redete über „Der Journalist unserer Zeit — Wandlungen des Berufsbildes". Wer mehr erwartet hatte als das Stichwort „normativer Gesinnungsjournalismus" und die altbekannten Voraussetzungen für eine „publizistische Persönlichkeit", der wurde tatsächlich enttäuscht. In seinem Vortrag bedauerte Dovifat, daß nur neun Prozent der Gesamtauflage der Tagespresse „noch eine parteipolitisch markante Bekenntnisflagge hochgezogen hat. Der kämpferische Gesinnungsjournalismus alten Stils [...], wie er sich zwischen politisch nicht einmal grundsätzlichen Gegnern, wie etwa Theodor Wolff und Georg Bernhard, entzündete, ist fast verschwunden" (die Rede ist auszugsweise abgedruckt in: Der Journalist 14 [1964], Heft 5, S. 4—8). 231 Kundler im Gespräch (wie Anm. 229). 232 Hier und im folgenden: Gerd H. Pelletier in einem Telephongespräch mit dem Verfasser am 21.6.1994. Auch Lutz Erbring, heute Professor für Empirie am Berliner Institut, besuchte während seines Studiums 1958 die Publice-Vorlesung im übervollen Audimax der FU und bestätigt andere Zeitzeugen fast wortgleich: „Diese Veranstaltung hatte einen gewissen Unterhaltungswert und war deshalb bei den Studenten sehr beliebt, es war immer sehr munter, und es war eigentlich ziemlich egal, was er da erzählte. Er war ein guter Rhetoriker, und es machte daher einen gewissen Spaß, zuzuhören. Von dauerhaften Wirkungen kann man in meinem Fall aber nicht sprechen.
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Pelletier am Institut für Publizistik in Münster Studien. Der Vergleich mit dem dortigen Lehrstuhlinhaber fällt allerdings deutlich zugunsten Dovifats aus: „Gegenüber dem reinen Scharlatan, dem schrecklichen Herrn Hagemann, war Dovifat extrem konservativ — aber gekonnt. Seine Vorträge haben wir mit innerer Ehrfurcht ertragen." Pelletier und seine damaligen Kommilitonen stellten aber auch Fragen nach Dovifats Tätigkeit vor 1945: „Wo war der eigentlich im Nationalsozialismus? Er vermittelte uns den Eindruck, als lehre er nahtlos seit dreißig Jahren dasselbe. Da war kein neuer Wind drin nach 1945. Aber wir waren damals ja noch nicht so aufmüpfig wie die 68er, wir brachten Dovifat Respekt und Achtung entgegen. Allerdings war er für unsere Verhältnisse verdammt konservativ und vertrat etwas wenig von dem, was wir von einer vorwärts blickenden Universität erhofften."233 Als die Studenten dann „aufmüpfig" wurden, hatte sich Dovifat schon weitgehend aus dem Lehrbetrieb zurückgezogen. Ihm, dem klassischen Vertreter der alten Ordinarienuniverstität, hätte viel Kritik gegolten. Umgekehrt fehlte auch Dovifat jegliches Verständnis für die 68er Generation. Die führenden Köpfe der Studentenbewegung waren für Dovifat nur eine „kleine Gruppe törichter, verführter Lärmmacher, die unser Ansehen [d.h. dasjenige der Freien Universität] untergraben."234
VI
Postume Wertungen nach 1969 „Er war bis in seine letzten Arbeitstage allem Neuen zugewandt — aber er war skeptisch gegen das Neue, das nur neu sein will. Auch das Neue wollte er an den Werten gemessen sehen, die nicht vergehen dür-
Ich weiß überhaupt nicht mehr, was er erzählt hat" (Lutz Erbring im Gespräch mit dem Verfasser am 23.8.1995). 233 Hans Bohrmann, der kurz nach Pelletier am Berliner Institut für Publizistik studiert hatte, bestätigt dessen Aussagen: „Ich habe [...] zu einer Zeit bei ihm studiert, als der Höhepunkt der Aufbauarbeiten überschritten war. Und als Dovifat — in meiner Perspektive — dringend notwendige Neuorientierungen des Faches nicht mehr aufgenommen hat" (Bohrmann an Bringmann [wie Anm. 70], S. 4). 234 Dovifat in einem Brief an Luise Albertz vom 16.12.1966; zit. n. Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1), S. 194.
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fen [,..]."235 Als Dovifat am 8.10.1969 starb, war vieles von seinem Lebenswerk bereits überholt. Der normative Ansatz, den Erich Klausener in der Beerdigungsansprache als prägenden Bestandteil in Dovifats Dasein hervorhob, hielt „dem Neuen" nicht mehr stand. An die Stelle der geisteswissenschaftlichen Ausrichtung der Disziplin war die sozialwissenschaftliche getreten. Statt historisch-normativ wurde die Publizistik nun empirisch betrachtet. Und der Begriff „Publizistik", den Dovifat beharrlich durchgesetzt und über Jahrzehnte verteidigt hatte, wurde mehr und mehr verdrängt durch den amerikanisch geprägten der „Kommunikation". Die Freie Universität, zu deren Mitbegründern er sich später ungerechtfertigterweise zählte, war nicht mehr die wissenschaftliche Hochburg des antikommunistischen Abwehrkampfes, sondern linker Vorreiter einer kritischen Generation, die selbst vor den Fundamenten der Bundesrepublik keinen Respekt zu haben schien und schonungslos die eigenen Eltern mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontierte. Und das von Dovifat aufgebaute geisteswissenschaftliche Institut hatte sich seit 1961 unter den Sozialwissenschaftlern Fritz Eberhard und Harry Pross236 vom Gründungsgedanken so weit entfernt, daß Dovifat schließlich seine umfangreiche Fachbibliothek nicht „seinem" Berliner Institut vermachte, sondern sie dem Mainzer Institut für Publizistik schenkte. In dessen Leiterin Elisabeth NoelleNeumann, Dovifats wohl prominentester Schülerin, die ihrem Lehrherrn bereits zu dessen Lebzeiten ein Denkmal errichtet hatte237, erblickte er am ehesten seine Traditionsträgerin. Auch sein publizistisches Testament, das „Handbuch der Publizistik", hatte nur für jene noch einen Nutzwert, die wie er die publizistische Aktion als eine „Gesinnungstat" verstanden, die in den Angesprochenen nicht nur Meinen und Wollen, sondern auch Tun und Handeln auslösen solle. Denn um diese Kernpunkte dreht sich der Inhalt des Handbuchs, das ihn als Vermächtnis nur so lange überdauerte, wie das „System Dovifat" die Publizistikwissenschaft dominierte. Dies wurde in einem Nach235
So Erich Klausener in seiner Ansprache bei der Begräbnisfeier für Dovifat am 15.10.1969; abgedruckt in: Publizistik 14 (1969), S. 379. 236 Harry Pross wurde im WiSe 1968/69 Leiter des Instituts und blieb es bis zur Abschaffung der alten Fakultäten und der Neugründung der Fachbereiche im WiSe 1970/71. 237 Die bronzene Portraitbüste Emil Dovifats von Dorothea Schaper-Bartels wurde im Februar 1967 im Institut für Publizistik der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz aufgestellt.
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ruf auf Dovifat bereits angedeutet: „Seit 1968 erscheint als Sammelwerk zahlreicher Verfasser das dreibändige .Handbuch der Publizistik', das das Dovifatsche System der Publizistikwissenschaft zusammenfaßt und seine redigierende Hand weniger denn seine Planung bei der Herausgabe erkennen läßt."238 An anderer Stelle, in der Rezension des dritten Bandes durch Manfred Steffens in der „Frankfurter Rundschau", wird noch deutlicher, daß das Handbuch nur für Dovifats Anhänger von Interesse war, kaum aber für jene, die der aktuellen, der sozialwissenschaftlichen Definition von Publizistik nahestanden. Unter der Überschrift „Bekenntnis zur gesinnungsbestimmten Publizistik"239 urteilte Steffens: „Aber wer sich, selber Publizist, über bestimmte Stichworte der theoretischen oder praktischen Publizistik informieren will, bleibt auf recht spartanische Register angewiesen [...]. Deshalb erweckt der Titel .Handbuch der Publizistik* auch falsche Erwartungen, denn es handelt sich im Grunde nicht um ein Handbuch, sondern um eine .totale' Darstellung aller publizistischen Erscheinungsformen und ihrer Problematik, und zwar aus der subjektiven Sicht Dovifats und seiner zahlreichen Mitarbeiter." Der Nachruf der Freien Universität Berlin im hauseigenen Mitteilungsblatt war distanziert, formal korrekt, aber unpersönlich ausgefallen und erweckt ebenfalls den Eindruck, daß Dovifats Ära mit ihm zu Ende gegangen sei240: „Hier bestand Gelegenheit, die Arbeit des alten Instituts für Zeitungskunde wieder aufzunehmen [...]. Die Freie Universität Berlin verliert in ihm einen Gelehrten, dessen Name mit der Wissenschaft von der Publizistik untrennbar verbunden ist, der sich durch den Aufbau des Instituts für Publizistik und den entschlossenen Zusammengriff von Publizistik als Wissenschaft und Praxis große Verdienste erwarb."241 238
In: Mitteilungsblatt für Dozenten und Studenten der Freien Universität Berlin vom 1.12.1969,5.782. 239 In: „Frankfurter Rundschau" vom 4.12.1969. 240 Diesen — ungezeichneten — Nachruf zu verfassen, lag in den .Dienstobliegenheiten des damaligen geschäftsführenden Assistenten am Institut, Hans Bohrmann (Bohrmann an Bringmann [wie Anm. 70], S. 3). 241 Mitteilungsblatt (wie Anm. 238), S. 782; vgl. auch die Todesanzeige der Freien Universität im „Tagesspiegel" vom 12.10.1969, die neben den Anzeigen der Familie und der katholischen Kirchengemeinde abgedruckt war. Die Namen prominenter Politiker, Universitäts- und Kirchenvertreter der über 200köpfigen Trauergemeinde werden vor allem in den Berichten über das Requiem und die Beerdigungsfeier am 15.10.1969 in der „Welt" vom 16.10.1969 und im „Tagesspiegel" vom 16.10.1969 wie-
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Mit Dovifat wurde nicht nur eine der „aussterbenden Vaterfiguren unter den deutschen Professoren"242 zu Grabe getragen, sondern auch sein Verständnis der Disziplin: Sein Moralismus habe ihn daran gehindert, in den letzten Jahren am Institut den Anschluß an die aufkommende Wissenschaft von der Kommunikation zu finden, so Wolf, der fortfuhr: „So konnte er nach dem seinerzeitigen Erkenntnisstand, ohne ausreichende Methodik, ohne zu wissen, ob es sich um eine philosophische oder eher um eine statische Disziplin handeln werde, nur Ansätze bieten, die wohl eher mit dem Begriff .Zeitungskunde' als mit dem einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin umschrieben werden."243 Auch im Fachorgan „Publizistik", das vor allem seines Mitbegründers und Autors gedenkt, wurde die Frage aufgeworfen, was von Dovifats ideellem Nachlaß seinen Tod wohl überdauern werde. Wilmont Haacke als Verfasser des dortigen Nachrufs implizierte, daß es allzuviel nicht werde sein können: „Mit gleicher Intensität tragen Dovifats Bücher seine ebenso eindringliche wie ärgerliche Predigt weiter, die fünf Jahrzehnte hindurch unverändert lautete: .Publizistik ist Tat'. Diese Grundidee seiner publizistischen Lehre hat er in seinen größeren Veröffentlichungen unentwegt geäußert [...]. Damit erhebt sich die Frage, ob man die weithin verstreudergegeben. Weitere Nachrufe mit unterschiedlichen Akzenten auf seine Tätigkeiten in der Journalisten-Weiterbildung, der Erstausbildung, der Wissenschaftstheorie, der partei- und der kirchenpolitischen Bildungsarbeit seien hier in Auswahl genannt: Roegele, Otto B.: Emil Dovifat. In: „Rheinischer Merkur" vom 17.10.1969, der „das wissenschaftliche Credo Dovifats" als „theoretisches Gerüst der deutschen Meinungsund Gesinnungspublizistik seit Schubart, Marx und Görres" würdigt; Brinkmann, Nestor (wie Anm. 198); Voß-Dietrich, Publizistik (wie Anm. 36); Anonym: Emil Dovifat. In: „Das Parlament" vom 25.10.1969; Anonym: Emil Dovifat. In: „Die Welt" vom 10.10.1969. „Der Spiegel" blieb sich mit einem sarkastischen Nachruf selbst treu: „Schwankend zwischen Publizistik und Statistik, doch geprägt von der Gesinnungspresse des vorigen Jahrhunderts, zählte der Berliner Publizistik-Professor sein Fach zu den .normativen Disziplinen'. So würdigte der rheinische Apothekersohn und gelernte Nationalökonom die ,zügige Lustigkeit' des TV-Stammtischlers Werner Höfer und tadelte die .nihilistische Grundhaltung' des SPIEGEL [...]. Als Publizist (.OstseeZeitung') wie als Publizistik-Wissenschaftler (.Wesen und Aufgabe einer deutschen Heimatzeitung') sehnte sich der Professor zeitlebens nach einer .Zeit der geistigen Sonnenwärme'" (In: „Der Spiegel" 23 [1969], Nr. 42 [13.10.1969], S. 240). 242 Wolf, Karl-Heinz: Glaube an die Zeitung. Emil Dovifat gestorben. In: „Publik" vom 17.10.1969. 243 Ebd., wenngleich Wolf konzidiert, daß Dovifat „in seinen letzten Jahren längst über seine .ehemalige Zeitungskunde' hinausgewachsen", er „allerdings auch immer mehr nicht Kommunikationsforscher, sondern Publizist geworden" sei.
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ten Studien aus seiner Feder nachträglich sammeln und veröffentlichen sollte?"244 Als Frage und nicht als Angebot ließ er die Möglichkeit einer Herausgabe bis dato schwer zugänglicher Schriften Dovifats im Raum stehen: „Wer schafft zu seinem achtzigsten Geburtstag, der 1970 in Berlin Freunde und Schüler, Gegner und Kritiker hätte vereinen sollen, nun nach seinem Dahinscheiden — auch im Interesse der sich inzwischen in vielfältige Richtungen verzweigenden Disziplin — aus Dovifats Studien einen Parallelband zu Karl Büchers .Gesammelten Aufsätzen zur Zeitungskunde' (Tübingen 1926) ?"245 Wie die Geschichte zeigt, war das Interesse an einem solchen Band nicht vorhanden; „neue Wege [führten] zu neuen Ufern"246, wie Haacke formulierte. Und diese Wege entfernten sich von Dovifat. Erst zwanzig Jahre später, zu seinem 100. Geburtstag, wurden einige seiner Aufsätze und Reden in einem Band vereint. Die Herausgabe übernahm jedoch auch hier nicht ein Fachkollege, sondern Dovifats Tochter Dorothee von Dadelsen.247 Während der zwanzig dazwischenliegenden Jahre — von 1970 bis 1990 — war Dovifat kaum ein Thema in der deutschen Publizistik. Institut und Fach standen unter dem Einfluß von Nachfolgern, die sich als solche nicht verstanden wissen wollten, seinem Disziplinansatz nicht folgten und seine Errungenschaften weitgehend verleugneten.248 Alexander von Hoffmann etwa, der von 1974 bis 1988 am Berliner Institut Medienpraxis lehrte, bezeichnete Dovifat als „einen, der nichts Spektakuläres, Originelles oder Wegweisendes geschrieben hat. Als Grundlage für
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Haacke, Wilmont: Abschied von Emil Dovifat. In: Publizistik 14 (1969), S. 382. « Ebd.
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Ebd. Dovifat, Persönlichkeit (wie Anm. 205).
Treffend formuliert Stephan Ruß-Mohl: „Von den Söhnen entthront zu werden, ist für allzu beherrschende Vaterfiguren kein ganz ungewöhnliches Schicksal [...]. Fritz Eberhard [...] hatte anderes im Sinn, als Dovifats wissenschaftliches Erbe zu pflegen; und überhaupt nahm das ganze Fach eine Entwicklungsrichtung, die sich sehr weit vom Ziehvater entfernte. Die linke Avantgarde wußte mit dem katholischen, in der CDU verwurzelten Konservativen nichts anzufangen; und die nachrükkende Forschergeneration mochte nicht auf Dovifats geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden beharren, seine Befangenheit gegenüber der .eintrocknenden mathematischen Empirie' nicht mehr teilen" (Ruß-Mohl, Stephan: Emil Dovifat wiederentdeckt. Erst die wissenschaftliche Enkel-Generation vermag sich ihm wieder unbefangen zu nähern. In: Die Zeit 44 [23.10.1987]).
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die Forschung der achtziger Jahre war er völlig ungeeignet."249 In seinen Veranstaltungen nannte Hoffmann Dovifats Literatur „als historisch erste zum Thema, aber nicht als wichtigste."250 Nur noch selten wurde Dovifat zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung: Als zum Beispiel der „Verein Union Presse" 1979 den „Emil-Dovifat-Preis" für herausragende Leistungen von Redakteuren der Regionalpresse erstmals auslobte, setzte eine kurze, aber heftige Debatte ein. Während Elisabeth Noelle-Neumann der Überzeugung war, daß, „wer mit dem EmilDovifat-Preis ausgezeichnet wird, [...] verbunden [ist] mit dem Namen eines Fürsten"251, assoziierte die linke Presse säkularisierter: „Der Name des Preises weist [...] in eine Richtung, die Schlimmes befürchten läßt. Der stark rechtslastige Professor Dovifat [...] hatte in seinen Veröffentlichungen während der Nazizeit faschistische und rassistische Ideologie vertreten und propagiert [...] und einen widerlichen Preisgesang auf den Nazismus angestimmt."252 Erst mit der aspekt- und materialreichen Dissertation Benedikts253 1986 wurde eine seriösere und differenziertere Diskussion über Dovifat wieder belebt, ja es erfolgte sogar „ein Prozeß der Rückbesinnung".254 249
Hoffmann in einem Gespräch mit dem Verfasser am 22.8.1995; vgl. auch Hoffmann, Schlußbemerkungen (wie Anm. 51). Differenzierter und nuancierter bringt Gernot Wersig, der seit dem WiSe 1969/70 am Institut für Publizistik lehrt, die Bedeutung Dovifats für die Lehre und Forschung der achtziger Jahre zum Ausdruck: „Die Neuanfänge der frühen 80er Jahre waren [...] eigentlich keine Neuanfänge, sondern Konsolidierungen der verschiedenen Entwicklungsstränge der Berliner Publizistik: Die Differenzierungen von Kommunikationsgeschichte und Kommunikationsökonomie (und jetzt auch in Richtung Kommunikationsrecht und -politik) sind konsequente Weiterentwicklungen der Dovifat-Schwerpunkte [...]" (Wersig, Gernot: Publizistik im Wandel. Vortrag anläßlich der Preisverleihung der „Freunde der Publizistik" für die beste Examensarbeit am 14.7.1994 in Berlin-Lankwitz. Maschinenschriftliches Manuskript im Besitz des Verfassers; das Zitat steht auf S. 1). 250 Hoffmann im Gespräch mit dem Verfasser am 22.8.1995. 251 Zit. n. Hachmeister, Lutz: Diese besondere Art der Verklärung. Emil Dovifat und seine „wissenschaftlichen Enkel". In: „Der Tagesspiegel" vom 31.10.1987. 252 Unter der Überschrift „Rechtslastiger Professor Dovifat soll geehrt werden". In: „Die Wahrheit" vom 26.7.1979. 253 Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1). 254 So Stephan Ruß-Mohl in seiner Benedikt-Rezension (Ruß-Mohl, Dovifat [wie Anm. 248]); ein ehemaliger Weggefährte Dovifats in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, Karl Bringmann, freute sich, „daß unter der jüngeren Generation der Publizistik-Wissenschaftler und der Praktiker das Verständnis und damit die Anerkennung des Dovifat'schen Systems wieder wächst" (Bringmann, Karl: Der Altmeister
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Allerdings war die Zeit noch nicht so weit, daß sich „die wissenschaftliche Enkel-Generation wieder unbefangen"255 Dovifat zu nähern vermochte, wie Ruß-Mohl glaubte. Im Gegenteil, es setzte eine sich rasch polarisierende Debatte mit den alten Vorurteilen und einer wenig differenzierten Auseinandersetzung mit Dovifats Vergangenheit im Nationalsozialismus ein. Ruß-Mohl, dessen Rezension nicht mehr und nicht weniger war als eine größtenteils positive Bewertung der Biographie Benedikts, stand als Galionsfigur einer Dovifat-Renaissance plötzlich im Kreuzfeuer der Kritik: „Dem Berliner Professor, einem indirekten Dovifat-Nachfolger", der sich „nach den Dovifatschen Formeln [zurücksehnt]", wurde eine „Verklärung [...] des Nestors" unterstellt.256 Alexander von Hoffmann wertete in seiner resignierenden Abschiedsrede vom Institut am 12.2.1988 diese „Verklärung" Dovifats durch seinen jüngeren Kollegen Ruß-Mohl257 als ein „Indiz für den neuen Geist, in Wahrheit ein alter Geist"258, der am Institut wieder eingezogen sei. Die Gräben zwischen zwei politischen Gesellschaftssystemen und unterschiedlichen methodischen Ansätzen waren aufgerissen. Und wieder einmal mußte Dovifat als Katalysator eines „Stellvertreterkrieges" herhalten. Hoffmann bezichtigte Ruß-Mohl mit seiner Benedikt-Rezension der „Geschichtsklitterung" und nannte ihn einen „Epigonen", der „sich die Geschichte zurechtschreiben" würde259: „Man kennt das, die Pose des politischen Enkels, die ,Gnade der späten Geburt', die es u. a. erlaubt, den deutschen Faschismus zu verharmlosen und dessen Helfern ganz
der Publizistik. Der hundertste Geburtstag Emil Dovifats. In: „Rheinische Post" vom 27.12.1990). 255 Ruß-Mohl, Dovifat (wie Anm. 248). 256 Hachmeister, Verklärung (wie Anm. 251). Die Besprechung der BenediktDissertation sei Ruß-Mohl zu einer „undifferenzierten Eloge [mißraten], die notwendige Maßstäbe historisch-kritischer Betrachtung vermissen läßt", so Hachmeister weiter. In seiner Replik, die als Leserbrief am 22.11.1987 im „Tagesspiegel" abgedruckt wurde, wehrte sich Ruß-Mohl gegen die verzerrenden Interpretationen Hachmeisters und trieb die Diskussion voran: „Gibt es nicht — gerade jetzt — Anlaß auch für die Publizistikwissenschaft, über journalistische Ethik, in Dovifats Worten: über journalistische Gesinnung neu nachzudenken?" 257 Ruß-Mohl war erst zweieinhalb Jahre zuvor, am 1.8.1985, für das Arbeitsgebiet Journalistik und redaktionelle Organisation des Berliner Instituts für Publizistik berufen worden. 258 Hoffmann, Schlußbemerkungen (wie Anm. 51), S. 18. 259 Ebd., S. 10.
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.unbefangen' Denkmäler zu errichten."260 Noch bevor Hoffmann diese anklagenden Worte ausgesprochen hatte, zeigte sich Ruß-Mohl „als .Newcomer* in der Zunft ein wenig [irritiert], wie schnell man bei dem Versuch, einem Mann ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dessen Weltanschauung ich sicher nicht teile, gleich .mitverschubladisiert' wird. Ich hätte nicht gedacht, daß Dovifat noch heute so polarisierend wirkt."261 Warum begrenzte sich die Debatte so schnell auf Dovifats Vergangenheit im Nationalsozialismus? Jene, die von den Kritikern als „Nachfolger Dovifats" bezeichnet wurden, greifen auch heute noch auf Dovifats Werke zurück, bezeichnen seine Lehre und Forschung nicht als gänzlich veraltet, geben eine über sechzig Jahre zurückliegende Publikation Dovifats als Nachdruck heraus und ehren ihn an seinen Gedenktagen öffentlich. An ihrer Seite stehen prominente Zeitgenossen von Dovifat, die ihn respektieren und teilweise verehren; dazu gehören viele ehemalige Kollegen, Assistenten, Doktoranden, Studenten. Auf der anderen Seite stehen Fachvertreter, die alle Traditionslinien zur Dovifatschen Theorie und Praxis von Lehre und Forschung bewußt ablehnen und Dovifats Werk allenfalls als Zeitzeugnis der deutschen Medienlandschaft der zwanziger bis sechziger Jahre sehen.262 Für sie lohnt es nicht, sich überhaupt fachlich mit Dovifat auseinanderzusetzen, und schnell wird jener, der sich mit Dovifat heute noch beschäftigt oder gar über ihn publiziert, der Zeitverschwendung bezichtigt.263 Zwischen „Verteidigern" und „Kritikern" besteht also gar keine gemeinsame Gesprächsbasis. So werden die Versuche der Verteidiger, das Lebenswerk Dovifats seriös zu analysieren und dort, wo es angebracht scheint, auch zu ehren, 260
Ebd., S. 9. Ruß-Mohl in einem Brief an Otto B. Roegele vom 24.11.1987; Kopie im Besitz des Verfassers. 262 Hans Bohrmann zum Beispiel, den alle Kritik an Dovifat „allerdings nicht hindert, seine Persönlichkeit nach wie vor eindrucksvoll zu finden" (Bohrmann an Bringmann [wie Anm. 70], S. 3), lehnte dessen philologische Methode in Lehre und Forschung ab und neigte Fritz Eberhards Betonung empirisch-sozialwissenschaftlicher Techniken zu. Auch Bohrmann betrachtet es für die heutige Forschung als wenig gewinnbringend, sich Dovifat zum Thema zu nehmen: „[...] er wäre für mich nur dann Gegenstand einer Darstellung, wenn ich einmal die Zeit haben sollte, eine zusammenfassende Untersuchung über die Geschichte von Zeitungs- und Publizistikwissenschaft von den 20er bis in die 50er Jahre zu verfassen" (ebd., S. 4). 263 So dem Verfasser geschehen in einem Gespräch mit Alexander von Hoffmann am 22.8.1995. 261
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mit Hinweisen auf die vermeintlich braune Vergangenheit des zu Ehrenden torpediert. Während sich Lutz Hachmeister trotz seiner zuweilen heftigen und ironischen Kritik noch an wissenschaftlichen Normen orientiert, lassen andere Kritiker mit zumeist polemischen Attacken an ihrer Unbefangenheit und Unvoreingenommenheit zweifeln. So zum Beispiel Otto Köhler. Er bemüht sich nicht, die zahlreichen DovifatZitate aus den verschiedenen Auflagen der „Zeitungslehre" und die Publikationen vor 1945 vergleichend im geistigen und politischen Umfeld zu sehen; er analysiert auch nicht, ob und wie weit Dovifat sich dem Unrechtssystem anbiederte, wo Camouflage und wo aus Überzeugung gewachsene nationalsozialistische Gesinnung nachzuweisen oder zumindest zu vermuten ist. Statt dessen stellt Köhler diese Zitate ins Umfeld seiner eigenen, vor Ironie triefenden Kommentierung, und seine — für ein journalistisches Produkt noch hinzunehmende — Polemik gerät zu einem unwissenschaftlichen Pamphlet. Für Köhler ist Dovifat offenbar der Prototyp des rechtslastigen, antisemitischen und opportunistischen Deutschen, der seine Meinungen und Taten dem jeweils vorherrschenden System anzupassen wußte und nach 1945 ungerechtfertigterweise wieder zu Rang und Ehren kam. Ein Paradestück Köhlerscher Interpretationskunst sei hier präsentiert: In der vierten Auflage der „Zeitungslehre" von 1962 ist fälschlicherweise das Wort „Bilanz" anstelle des Wortes „Brillanz" gedruckt. Köhler sieht darin eine Freudsche Fehlleistung: „Oh heiliger Freud, daß du dies nicht mehr miterleben durftest. Dovifat wollte, freundlich wie er im neuen Staat zu solchen Leuten [zu den jüdischen Dichtern Borne und Heine] zu sein hatte, ihnen Brillanz des Stils, der Farbe, der Bewegtheit, der Treffsicherheit vollendeter Form zugestehen. Doch die .gesinnungsmäßige Beurteilung' in ihm, die man ja nicht wechselt wie eine Staatsform, sie sagte ihm: Heine, Borne — das sind Juden, also Geld, also nicht Brillanz, sondern Bilanz."264 In der Folgezeit gab es einige äußere Anlässe, so Dovifats 20. Todestag265 und ein Jahr später seinen 100. Geburtstag, die diese Polarisierung beschleunigten und auch die wissenschaftliche „Enkel-Generation" spalteten.
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Köhler, Otto: Wir Schreibmaschincntäter. Journalisten unter Hitler — und danach. Köln 1989, S. 35. 265 S. die undifferenzierte Würdigung in der „Berliner Morgenpost" vom 8.10.1996.
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VII
Die wissenschaftliche Dovifat-Rezeption seit 1990 Die Fachvertreter, die an einem differenzierten Dovifat-Bild Interesse zeigten, hatten es schwer, nach den polemischen Attacken die Diskussion wieder auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen. Die Debatte hatte sich mittlerweile so sehr auf die Tätigkeit Dovifats zwischen 1933 und 1945 verengt, daß selbst anläßlich seines 100. Gebunstages die Jahre davor und danach offenbar kein Thema waren.266 Im „Tagesspiegel" erschien ein 95-Zeilen-Artikel, in dem nur ein einziger vierzeiliger Satz der Zeit nach 1945 gewidmet war. Der Autor, abermals Stephan Ruß-Mohl, bedauerte, daß Dovifat heute ständig mißbraucht werde, um an seinem Beispiel die vermeintliche geistige Nähe von Konservatismus und Nationalismus267 zu belegen.268 Neben Ruß-Mohl, Benedikt und dessen 266 Nur wenige — wie z.B. Benedikt — stellten zu dieser Zeit die richtigen Fragen: was für Gründe es heute noch gäbe, Dovifat zu ehren; was von ihm überhaupt noch einer Behandlung würdig wäre. Vgl. an dieser Stelle Benedikts systematische Wissenschaftskritik an Dovifats Werk anläßlich seines 100. Geburtstages. Benedikt fragt: „Was also bleibt von Dovifats Werk? Aus heutiger Sicht sind seine Definitionen, Beschreibungen und Theorien für die Praxis und Denkweise des Faches überholt. In Vorlesungen, Einführungsskripten und Repetitorien kommen sie nur als wissenschaftsgeschichtliche Fußnote vor. Ebenso hat die .Zeitungslehre' aufgehört, Standardwerk zur Prüfungsvorbereitung zu sein" (Benedikt, Werk [wie Anm. 58], S. 484). 267 Damit war auch Alexander von Hoffmann gemeint, der in seiner Abschiedsrede formuliert hatte, daß sich anhand journalistischer und anderer bruchloser „Erfolgskarrieren [...] im Faschismus wie in der Bundesrepublik [...] Erkenntnisse gewinnen [ließen] über die Kontinuität und Profitabilität bürgerlich-kapitalistischer Machtstrukturen vom Kaiserreich bis heute" (Hoffmann, Schlußbemerkungen [wie Anm. 51], S. 17 f.). 268 Vgl. Ruß-Mohl, Stephan: Nicht nach Goebbels' Pfeife getanzt. Zum 100. Geburtstag von Emil Dovifat, dem Nestor der deutschen Publizistik. In: „Der Tagesspiegel" vom 25.12.1990. Anläßlich des 100. Geburtstages werden entweder unkritische Hymnen der Weggefährten veröffentlicht (z.B. Bringmann, Altmeister [wie Anm. 254]) oder Würdigungen der katholischen Kirchenblätter mit einem entsprechenden Akzent (s. z.B. Eberle, Robert: Die ganze Öffentlichkeit war seine Aufgabe. Vor 100 Jahren wurde der Zeitungswissenschaftler Emil Dovifat geboren. In: Katholische Kirchenzeitung für das Bistum Berlin vom 23.12.1990; oder auch Brecher, August: Emil Dovifat. Nestor der deutschen Publizistik — Führer im deutschen Katholizismus — Er wurde vor 100 Jahren am 27. Dezember 1890 in Moresnet geboren. In: Kirchenzeitung für das Bistum Aachen vom 16.12.1990, S. 24 f.) oder eben Beiträge,
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Doktorvater Roegele bemühte sich fortan auch Bernd Sösemann verstärkt um eine wissenschaftliche Annäherung an Dovifat.269 1990 wurde er von der Wissenschaftssenatorin beauftragt, ein Gutachten zu erstellen über den „Vorschlag, die Grabstätte Emil Dovifats als Ehrengrabstätte anzuerkennen"270; ein Vorschlag, den Sösemann befürwortete, nachdem er in seiner wissenschaftlichen Analyse zu der Überzeugung gekommen war, Dovifat habe sich zwischen 1933 und 1945 — bis auf einige „fragwürdige Zitate [...] sowie die problematische Auffassung von der politischen Funktion der Presse als jeweiliger .Ausdruck ihrer Zeit'"271 — keines Unrechts schuldig und sich als Wissenschaftler, Medienpolitiker, Lehrer für journalistische Weiterbildung und „für die weitere Öffentlichkeit Berlins"272 verdient gemacht. Nach einer Gedenktafel am Haus nun ein Ehrengrab: Während bei einem Teil der Presse nach den Jahren der kritischen Reflexion und dann des Desinteresses nun wieder ein unkritisches und undifferenziertes Dovifat-Bild vorherrschte273, ging einem anderen Teil die aufkomdie sich fast ausschließlich mit Dovifats Vergangenheit im Nationalsozialismus auseinandersetzen: Hierbei kann unterschieden werden zwischen solchen Beiträgen, die um wissenschaftliche Differenzierung bemüht sind wie der von Ruß-Mohl im „Tagesspiegel" und solchen, die die altbekannten „braunen" Zitatfetzen aneinanderreihen, um zu verunglimpfen; zur letzten Kategorie s. den Beitrag von Köpf, Peter: Das Elend der deutschen Zeitungswissenschaft. Ein „furchtbarer Hochschullehrer" wird 100 — Zeit fürs Quellenstudium. In: Publizistik und Kunst, Nr. 11 (November 1990), S. 28 f. 269 Als Kommunikationshistoriker des Berliner Instituts für Publizistik war Sösemann im Rahmen der Feierlichkeiten zu Dovifats 100. Geburtstag wiederholt um Beiträge gebeten worden. So zeichnete er am 11.7.1990 „Stationen eines engagierten Lebens" nach (s. Bericht in der „Berliner Morgenpost" vom 12.7.1990), als an Dovifats langjährigem Wohnhaus in Berlin-Zehlendorf eine Gedenktafel enthüllt wurde. Der Text der Gedenktafel lautet: „In diesem Hause lebte von 1929 bis 1969 Emil Dovifat / 27.12.1890—8.10.1969 / Der Publizistikwissenschaftler wurde 1928 Professor und Direktor des Deutschen Instituts für Zeitungskunde an der Friedrich-WilhelmsUniversität / Mitbegründer der CDU und der Freien Universität sowie Leiter des dortigen Instituts für Publizistik". 270 Sösemann, Bernd: Gutachterliche Äußerung. Berlin, 28.3.1990, S'. 1; Kopie dieses fünfseitigen Gutachtens im Besitz des Verfassers. 271 Ebd., S. 3. 272 Ebd., S. 1. 273 So würdigte die „Berliner Morgenpost" vom 8.10.1989 den „hochgeehrten" Dovifat anläßlich des 20. Todestages als Persönlichkeit ohne Makel, der „noch heute gültige Bücher zu diesem Themenkomplex [der deutsche und der amerikanische Journalismus] geschrieben" hat — was die Mehrheit der heute in der Publizistik Lehrenden
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mende Dovifat-Renaissance zu weit. Die links-alternative „taz" schrieb: „Vielen Angehörigen des Lankwitzer FU-Instituts für Publizistik ist die Ehrung Dovifats und insbesondere das Gutachten ihres Professors Sösemann etwas unheimlich. Einige Mitarbeiterinnen forderten in einer Resolution, wenigstens auch das Grab des direkten Dovifat-Nachfolgers am Institut, Fritz Eberhard, zu ehren. An den allzu unwägbaren Dovifat selbst mochten sie sich jedoch nicht herantrauen, zumal ihm niemand ernsthaft die Rolle des »Nestors der deutschen Zeitungswissenschaft* (Ruß-Mohl) streitig zu machen wagt [...]. So bleibt Dovifat für manche am Institut so suspekt wie das Verfahren zur Ehrung seines Grabes."274 Im selben Artikel wurden Sösemann und Ruß-Mohl — weitergehend als die bisherige „indirekte" Apostrophierung — als „Dovifats Nachfolger an der FU" bezeichnet. Fortan saßen sie beide als „Verklärer" des „legendären Lehrmeister[s] ganzer Journalistengenerationen"275 in einem Boot. Als der „taz"-Artikel auch noch in der Fachzeitschrift „medium" zum Abdruck kam276 und sich die Debatte um Dovifat immer noch weitestgehend emotional und befangen nur auf seine Zeit im Nationalsozialismus konzentrierte, forderte Ruß-Mohl in einem Leserbrief erneut zu einer differenzierteren Auseinandersetzung auf: „Wer Dovifats Wirken während der nationalsozialistischen Diktatur allein an seinen diesbezüglichen Äußerungen mißt, macht es sich viel zu einfach."277 Auch er fällte kein endgültiges Urteil — was wohl auch nie möglich sein wird —, doch er bemühte sich um eine mehrschichtigere Betrachtung als die gängige anders beurteilt und Dovifats Werke hauptsächlich als von historischem Wert für die Entwicklung der Disziplin sieht, Dovifats Vergangenheit in der nationalsozialistischen Diktatur wurde im selben Artikel undifferenziert und apologetisch dargestellt. Es wird der falsche Eindruck erweckt, Dovifat sei eine Art Widerstandskämpfer gewesen: „Sein Einsatz für die Freiheit des kirchlichen Lebens brachte ihm nach 1933 manches Ungemach. Aber sein zähes Durchsetzungsvermögen widerstand allen Anfeindungen". Vgl. auch den apotheotischen Artikel zum 100. Geburtstag in der „Aachener Volkszeitung" vom 22.12.1990, der weitgehend die Rede von Katharina Comoth wiedergibt (Comoth, Erinnerung [wie Anm. 208]). 274 In: „Die Tageszeitung" vom 11.5.1990. 275 Indem er hier Dovifat als „Legende" bestätigte, war Ruß-Mohl in seiner Benedikt-Rezension (Ruß-Mohl, Dovifat [wie Anm. 248]) übers Ziel hinausgeschossen und hatte wohl der eigenen „Verschubladisierung" als „Verklärer Dovifats" Vorschub geleistet. 276 In: medium 3 (1990), S. 83. 277 Ruß-Mohl, Stephan: Emil Dovifats Wirken im NS-Staat. In: medium l (1991), S. 77.
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Schwarz-Weiß-Malerei: „Es gibt noch immer viel Aufklärungsbedarf zu Dovifats Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus. Dovifat war zwar kein Held. Er war kein Widerstandskämpfer, der ins Exil ging. Er entschied sich dafür, in Deutschland zu bleiben und im Rahmen der engen Grenzen, die die Nazis Andersdenkenden zogen, publizistisch und wissenschaftlich weiterzuwirken. Aber Dovifat war eben auch kein Nazi. Wer in dieser — von Zensur und Verfolgung geprägten — Zeit öffentlich tätig sein wollte, kam allerdings um den gelegentlichen Kotau vor dem Regime nicht herum."278 Um eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung der Tätigkeit Dovifats während der nationalsozialistischen Diktatur bemühten sich Stephan Ruß-Mohl und Bernd Sösemann 1990, als sie anläßlich seines 100. Geburtstages Dovifats 1927 erschienenes Buch „Der amerikanische Journalismus" neu auflegten279: In ihrer Einführung280 beschäftigen sie sich ausführlich281 mit der Dovifat-Rezeption der jüngsten Vergangenheit und zeigen sich erschrocken über „die Reaktionen einiger weniger, die es ganz offensichtlich vorziehen, zu diffamieren statt zu differenzie278 279
Ebd.
Dovifat, Emil: Der amerikanische Journalismus (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 13). Hg. von Stephan Ruß-Mohl. Berlin 1990. In den Rezensionen wird der Faksimile-Reprint „als wissenschaftsgeschichtliches Dokument und als Sachbuch für den heutigen Leser, der sich über die Entstehungsbedingungen einer Medienmacht, die ihn bis ins Wohnzimmer verfolgt, orientieren will", gewürdigt (Roegele, Otto B.: Standardwerk wurde neu aufgelegt: Nachrichten made in USA. In: „Rheinischer Merkur" vom 5.4.1991) und als „durchaus ein kleines Ereignis" bezeichnet (Seewald, Berthold: Lang lebe der Leitartikel! Emil Dovifats Analyse des USJournalismus. In: „Die Welt" vom 13.4.1991): Ließ doch „Dovifats Credo, daß Journalismus sich vor allem in Meinungsbildung, nicht in der Nachrichtenvermittlung verwirklicht, [...] ihn zum Musterbeispiel einer überkommenen Vorstellung von Publizistik werden — oder zum Protagonisten einer Öffentlichkeit, die Goebbels beinahe zwangsläufig zum Opfer fallen mußte" (ebd.). Hans Bohrmann, der andere Forschungsdesiderata für vorrangiger hält, urteilt in Anspielung auf den Dovifat-Reprint: „Deshalb erscheinen mir auch einige in jüngster Zeit vorgenommene Aktualisierungen Dovifat'scher Publikationen nicht immer ganz zeitgemäß" (Bohrmann an Bringmann [wie Anm. 70], S. 4). 280 Ruß-Mohl, Stephan/Sösemann, Bernd: Zeitungsjournalismus in den USA — Ein Rückblick auf Dovifats Frühwerk. In: Dovifat, Journalismus (wie Anm. 279), S. IX— XLm. 281 Die Maßstäbe, die sie sich dabei selbst setzen, sind hoch: „Jede individuelle Verstrickung muß mit großer Akribie aus den Quellen erforscht werden" (ebd., S. XXXI).
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ren".282 Sie stellen dabei Episoden aus Dovifats Zeit im Nationalsozialismus ins zeitgenössische geistige, politische und soziale Umfeld. Anders ließen sich für „Nachlebende" diese Episoden auch nicht differenzieren und bewerten.283 Ruß-Mohl und Sösemann gelingt es, damit nachzuweisen, daß „es eine gravierende Fehleinschätzung darstellte, Emil Dovifat zum Handlanger des totalitären Systems oder zu einem seiner eifrigen Diener zu machen."284 Weit weniger schlüssig wirken allerdings die Versuche, Dovifats „rassistische Formulierungen, eine deutliche NS-spezifische Wonwahl und etliche überaus fragwürdige Zitate"285 zu begründen. Bei aller Akribie, die die Autoren ansonsten walten lassen, stellen sie hier wohlmeinende Behauptungen auf, ohne sie zu belegen286 — und bieten damit Angriffsflächen, derer sich Kritiker wie Otto Köhler bedienen, um diesen Versuch einer Gesamtwürdigung Dovifats zu schmälern.287 282
Ebd., S. XXXI; hier sind Lutz Hachmeister, Alexander von Hoffmann und Otto Köhler gemeint (vgl. ebd., S. XLH, Anm 73). 283 Z.B. beleuchten sie hier Dovifats vor Gericht dargebrachte Leumundserklärung für den ehemaligen „Vorwärts"-Redakteur Franz Klühs im Sommer 1934; dann die als mutig zu bezeichnende Rede Dovifats im Juni 1934 vor dem 32. Katholikentag; seine mit neun anderen — gegen 98 Befürworter — getragene Weigerung auf der Jahreshauptversammlung des „Reichsverbands der Deutschen Presse", die sogenannte „Gleichschaltung" mitzuvollziehen; schließlich Dovifats Unterstützung einer jüdischen Studentin bei deren Promotion im Jahre 1934 (vgl. diese und andere Beispiele ebd., S. XXXI—XXXIV). 284 Ebd., S. XXXVI. 285 Ebd., S. XXXV. 286 über die Passagen aus Dovifats 1937 erschienener Monographie „Rede und Redner" (wie Anm. 206), in denen er Hitler als Rhetor rühmt, urteilen Ruß-Mohl und Sösemann: „[...] nur wollte er jene Passagen anders verstanden wissen, nämlich als .Entlarvung' von Demagogie und Massensuggestion, als Warnung vor derartigen kollektiven Führungs- und Propagandamitteln" (Dovifat, Journalismus [wie Anm. 279], S. XXXV). Hier hätte — dem selbst gewählten hohen Anspruch der Autoren folgend (vgl. Anm. 281) — ein Beleg für diese Vermutung stehen sollen (s. jetzt den auch diese Passage erhellenden Beitrag von Bernd Sösemann in diesem Band). 287 Vgi Köhler, Otto: Publizistik ohne Ethik. Zum hundertsten Geburtstag von Emil Dovifat. In: „Die Zeit" vom 5.7.1991. In dieser Rezension über Ruß-Mohls und Sösemanns „Einführung" zum Dovifat-Reprint läßt sich Köhler sarkastisch über „den beachtenswerten Versuch [aus], Dovifats Ruf für die Nachwelt zu retten [...]. Die Herausgeber benötigen den Raum, um ausführlich darzulegen, daß das, was der Publizistik-Professor im .Dritten Reich* schrieb, so nicht gemeint war, wie es geschrieben stand."
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Von 1986 bis 1990 — von Benedikts Biographie bis zum AmerikaReprint — hatte sich die Diskussion um Dovifat weiter polarisiert und an Heftigkeit eher zugenommen. Diese Debatte war niemandem gerecht geworden — weder den Verteidigern noch den Kritikern, weder dem Institut noch der interessierten Öffentlichkeit; und vor allem nicht Emil Dovifat. Um die Auseinandersetzung wieder auf eine — sowohl thematisch als auch personell — breitere Basis zu stellen, luden Stephan RußMohl und Bernd Sösemann einige der mit Dovifat befaßten Fachkollegen anläßlich seines 100. Geburtstags nach Berlin zu einem Workshop ein.288 Am 31. Mai 1991 versammelte sich daraufhin „ein kleiner Kreis von Wissenschaftlern, Publizisten und Zeitzeugen"289, die verschiedene Facetten von Dovifats Wirken ansprachen: Neben dem sehr persönlich gehaltenen Eröffnungsvortrag von Elisabeth Noelle-Neumann trugen zwei weitere ehemalige Schüler Dovifats, Karl Bringmann und Gerd Heuer, mit ihren Erinnerungen eher zu einer weiteren Verklärung ihres „Meisters"290 bei. Der Workshop war aber vor allem geprägt durch die thematischen Vorträge zu unterschiedlichen Aspekten — von der „Verbandstätigkeit Dovifats in der Weimarer Republik", vorgetragen von Rudolf Stöber, bis zu den „offenen Fragen" Herbert Kundlers über Dovifats Rolle in der Nachkriegszeit.291 So war ein Ziel erreicht: Die Dis288
Ruß-Mohl verband damit die „Hoffnung [...], daß unser aller Dovifat-Bild womöglich mehr Tiefenschärfe erhält, wenn wir uns alle anstrengen, genau hinsehen und gegenseitig auf die blinden Flecken auf unseren optischen Sensorien, unseren Netzhäuten hinweisen" (Ruß-Mohl in seinen kritischen und selbstkritischen Begrüßungsworten auf dem Workshop; Kopie des Redemanuskripts im Besitz des Verfassers; das Zitat steht dort auf S. 7). 289 Struthoff, Dovifat-Workshop (wie Anm. 211), S. 3. 290 So die Diktion Bringmanns in seiner Würdigung (Bringmann, Karl: Ein Meister der Publizistik. Erinnerungen zum 100. Geburtstag von Emil Dovifat. In: „Die Zeitung" 19 [1991], Nr. l—2, S. 4); an anderer Stelle trägt Bringmann zur Festigung einer bestehenden Legende bei, die einer realistischen Grundlage entbehrt: Wie in Kapitel dieses Beitrags belegt, war Dovifat keinesfalls ein aktiver Mitbegründer der FU Berlin. Bringmann stilisiert ihn nichtsdestotrotz sogar zum Gründer: Dovifat, „[...] der in Berlin 1948 [...] die Gründung einer neuen .Freien Universität' schaffte" (Bringmann, Karl: 100. Geburtstag von „Meister" Dovifat. In: Communicatio Socialis 24 [1991], S. 82); vgl. auch Bringmann, Altmeister (wie Anm. 254). 291 Die meisten der seinerzeitig Vortragenden sind gleichzeitig Autoren dieses Sammelbandes, der ja das gedruckte Ergebnis des Workshops darstellt, weswegen hier auf die einzelnen Beiträge nicht näher eingegangen wird. Nur soviel zu Kundlers „offenen Fragen": Nein, Dovifat hat „die neue Publizistikwissenschaft an der FU Berlin den
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kussion war nicht mehr länger reduziert auf die verklärenden Apotheosen, noch beschränkt auf Dovifats Jahre zwischen 1933 und 1945; wenngleich die Frage, inwieweit Dovifat mit dem Nationalsozialismus verstrickt gewesen sei, ein Hauptanliegen des Workshops war. Allein schon die Anwesenheit Otto Köhlers, der sich später selbst als advocatus diaboli dieser Runde bezeichnete292 und mit zahlreichen Zitaten aus Dovifats Fundus angereist war, um dessen „braun gefärbte" Gesinnung und seinen Opportunismus nachzuweisen, mußte eine kontroverse Diskussion provozieren. So kam es schließlich auch zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen ihm und Bernd Sösemann, der dem Journalisten Köhler einen „undifferenzierten Umgang mit Zitaten"293 vorwarf und damit die Wertungen Köhlers entkräftete. Sösemann konnte anhand einiger — zum Teil bis dahin unbekannter — Archivmaterialien verbindlicher nachweisen, daß Dovifat vielfach — ihn auch persönlich gefährdende — Aktivitäten unternommen hatte, die seine Distanz zum NS-Regime belegen.294 Doch Köhlers Frage, wer Dovifat „dazu gezwungen [habe], im Dritten Reich das Buch Rede und Redner zu schreiben und Hitler darin
leidenschaftlichen Demokraten des antifaschistischen Widerstands" nicht ausdrücklich geöffnet (zitiert aus Kundlers Redemanuskript zum Workshop, das in Kopie im Besitz des Verfassers ist; hier S. 4); und nein, „für sich als Verpflichtung bejahte" er es auch nicht, „die Gegner des nationalsozialistischen Staates und die in die Emigration Getriebenen an der Neugestaltung Deutschlands im eigenen Wirkungskreis zu beteiligen, sie aufzufinden, herbeizuholen und ihnen Chancen der Entfaltung zu bieten" (ebd.). Es hätte Dovifat aus allen Lagern uneingeschränkte Ehrungen beschert, hätte er so gehandelt. Doch — wie fast alle anderen, die nicht emigriert waren und keine Kontakte zum „antifaschistischen Widerstand" hatten — tat er es nicht. Und ja, er verharrte wohl auch in seinem „etablierten Bezugssystem" und baute mit anderen konservativ gesinnten Demokraten — und nicht mit zurückgekehrten Sozialisten — eine konservative demokratische Partei und andere, dieser Gesinnung entsprechende demokratische Institutionen auf. Ihn heute deswegen zu verdammen ist mehr ein Beleg für eine erschreckende Selbstgerechtigkeit der Kritiker als ein Beweis einer wie auch immer gearteten „falschen Gesinnung" Dovifats. 292 Vgl. die süffisanten Kommentare zum Workshop bei Köhler, Publizistik (wie Anm. 287). 293 Zit. n. Struthoff, Dovifat-Workshop (wie Anm. 211), S. 3. 294 Vgl ebd.; s. hierzu auch die Zusammenfassung der Workshop-Ergebnisse bei Stöber, Rudolf: Emil Dovifat. Workshop des Instituts für Publizistik und Kommunikationspolitik der Freien Universität Berlin. In: Publizistik 36 (1991), S. 369; vgl. auch Anm. 299.
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derart positiv darzustellen"295, konnte durch die Diskussion nur differenziert, nicht aber abschließend beantwortet werden, so daß Jan Tonnemacher den Workshop treffend mit den Worten resümierte: „Wir sehen immer noch Licht und Schatten."296 Die Debatte blieb in vielen Aspekten kontrovers und polarisiert. Gleichzeitig waren aber auch alle Positionen auf dem Workshop so deutlich konturiert worden und hatten die Kontrahenten die Gelegenheit, sich auszusprechen, daß sich die öffentliche Diskussion um das Für und Wider bei Dovifat in den folgenden Jahren beruhigte. Zu seinem 25. Todestag 1994 erschienen nur wenige, meist artige Beiträge297, darunter eine persönlich gehaltene Würdigung von Elisabeth Noelle-Neumann, die bekennt, „daß Dovifat mein Leben entscheidend beeinflußt hat."298 Es bleibt abzuwarten, ob sich die Diskussion nun dauerhaft entspannt hat oder ob alte Ressentiments wieder aufbrechen, wenn der vorliegende Sammelband ediert ist. Seit 1994 hängen in der Bibliothek des Instituts für Publizistik299 die gerahmten Portraits von Emil Dovifat, Fritz Eberhard und Elisabeth Löckenhoff. Während neben Fritz Eberhards Photo ein tabellarischer 295
Zit. n. Struthoff, Dovifat-Workshop (wie Anm. 211); Hervorhebung im Original. 29 * Zit. n. ebd. 297 S. z.B. den Artikel im Instituts-Newsletter „in medias res" 13 (1994), S. 5. 298 Noelle-Neumann, Elisabeth: Erinnerungen an Emil Dovifat. In: „Die Welt" vom 8.10.1994. 299 Durchgängig wurde — der Einfachheit halber — im ganzen Beitrag für das Berliner Institut dieser Name gewählt, auch wenn er seit 1948 einige Male geändert wurde: Von 1948 bis 1970 gehörte das Institut für Publizistik der Philosophischen Fakultät an. Nach der Abschaffung der alten Fakultäten kamen durch die Neugliederung der Fachbereiche im Jahre 1970 die Informations- und Dokumentationswissenschaften hinzu, und der Name lautete — allerdings erst seit dem SoSe 1973 —: Institut für Publizistik und Dokumentationswissenschaft, das Mitglied des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften war. Anfang der achtziger Jahre gab es eine erneute Umstrukturierung: 1982 wurde der Fachbereich Kommunikationswissenschaften gegründet; der Studiengang Publizistik wurde fortan von drei Wissenschaftlichen Einrichtungen getragen: dem Institut für Publizistik und Kommunikationspolitik, dem Institut für Kommunikationssoziologie und -psychologic und dem Institut für Semiotik und Kommunikationstheorie. Bei einer erneuten Umstrukturierung wurde mit Wirkung zum 1.4.1995 der Fachbereich Kommunikationswissenschaften aufgelöst und als dritte Wissenschaftliche Einrichtung mit dem Namen Institut für Publizistikund Kommunikationswissenschaft dem Fachbereich Philosphie und Sozialwissenschaften I zugeordnet; s. auch Wersig, Erbe (wie Anm. 228).
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Lebenslauf ausliegt und über Elisabeth Löckenhoff der Beitrag von Hans Bohrmann300 Auskunft gibt, herrscht unter dem Dovifat-Bild gähnende Leere. Offenbar können sich die Entscheidungsträger nicht entschließen, ob sie eher den biographischen Anmerkungen der Kritiker Seeliger301, Hachmeister302 oder Köhler303 oder den vorteilhafteren Wertungen von Benedikt304 oder den Institutsmitgliedern Ruß-Mohl305 und Sösemann306 Glauben schenken sollen. Denn eine Glaubenssache scheint es allemal noch zu sein. So aber fehlen selbst Hinweise zu Dovifats Lebensdaten. Viele Studenten gehen an dem Bild vorbei. Den meisten sagt der Name Dovifat nicht mehr viel. Und die von Jahr zu Jahr verschiedenen, in der Studentenschaft kursierenden Flugblätter berufen sich meist nicht auf wissenschaftliche Untersuchungen zur Person. Das im Sommersemester 1997 aktuelle Flugblatt ist ein Pamphlet mit der Überschrift „Wer war Emil Dovifat".307 Dovifat wird es in keiner Weise gerecht; als ein „Zeitgeistdokument" soll es dennoch wiedergegeben werden: „Hier [in der Bibliothek des Berliner Instituts für Publizistik] hängt bereits seit einigen Jahren — auf Betreiben des Dr. Sösemann und seiner Gesinnungsgenossen — in der Nähe der Buchausgabe liebevoll eingerahmt ein Foto des Publizistikwissenschaftlers und Hitlerverehrers Emil Dovifat [...]. Es ist beschämend für alle progressiven Studenten und Professoren — von denen es gewiß auch am Institut für Publizistik nicht wenige gibt — das Foto des Mannes an einem Ehrenplatz zu erblicken, der die Nazidiktatur nicht unwesentlich mitprägte. Denn nicht sein Beitrag bei der Gründung des Instituts macht ihn zur Unperson, als vielmehr seine tragende Funktion im Hitlerfaschismus." Häufig liefern solch verzerrende Quellen aber die einzigen Informationen, die Erstsemesterstudenten der Publizistik über Dovifat erhalten. Das liegt unter anderem daran, daß viele der am Institut Lehrenden Dovifat nicht in ihr Einführungsrepertoire aufnehmen, was nur mit einem mangelnden Traditionsverständnis oder einer fehlenden „corporate iden300
Bohrmann, Löckenhoff (wie Anm. 74). Seeliger, Universität (wie Anm. 198). 302 Hachmeister, Publizistik (wie Anm. 212). 303 Köhler, Schreibmaschinentäter (wie Anm. 264). 304 Benedikt, Dovifat (wie Anm. 1). 305 Ruß-Mohl/Sösemann, Zeitungsjournalismus (wie Anm. 280). 306 Ebd.; oder auch Sösemann, Äußerung (wie Anm. 270). 307 Hierbei handelt es sich um die Kopie eines Artikels von Max Bair aus dem DKPBlatt „unsere zeit" vom 10.1.1997. 301
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tity" begründet werden kann. Und wird der Institutsgründer in einer Erstsemesterveranstaltung doch einmal genannt, dann fallen hauptsächlich Schlagworte wie: „Seine Definition von Publizistik war geprägt von einem elitär-archaischen Ansatz"308 — was in dieser Akzentuierung zwar nicht jeder Grundlage entbehrt, aber nicht undifferenziert im Raum stehen bleiben sollte. Symptomatisch für die verschiedenen Ansichten und Meinungen, die es am heutigen Berliner Institut gibt, war der „Bindestrich-Streit" Mitte der neunziger Jahre, als der Fachbereich Kommunikationswissenschaften aufgelöst wurde und der Studiengang Publizistik zum Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften kam. Bisher hatte es drei Wissenschaftliche Einrichtungen309 gegeben, die alle eigene Institutsbezeichnungen trugen. Nun sollten sie zu einer einzigen Wissenschaftlichen Einrichtung zusammengefaßt werden, für die ein neuer Institutsname gefunden werden mußte. Die Mitglieder der drei bisherigen Institute bildeten eine Strukturkommission, in der unter anderem auch der neue Name festgelegt werden sollte. Schnell gab es auch hier verhärtete Fronten: Ein Teil der Lehrenden und der damalige Dekan des Fachbereichs Kommunikationswissenschaften, Gernot Wersig310, forderten: „Das Fach soll sich wandeln zur .Publizistik- und Kommunikationswissenschaft' (als bisher einziges in Deutschland mit diesem Bindestrich)."311 Dagegen meinte neben anderen Stephan Ruß-Mohl, gerade in Zeiten der Neuorientierung dürfe der Hinweis auf die Tradition, auf die Wurzeln nicht fehlen. Mit der Einführung des Bindestrichs aber werde der von Dovifat geprägte Name „Institut für Publizistik" getilgt und aus der „Publizistik" die „Publizistikwissenschaft". Damit werde, so RußMohl, ein Stück Institutsidentität leichtfertig preisgegeben.312 Eine 308
So Lutz Erbring, Professor für Empirische Kommunikations- und Medienforschung am Institut für Publizistik, in seiner Einführungsvorlesung zur Publizistik am 25.10.1993. 309 S. Anm. 299. 310 Wersig ist seit 1995 geschäftsführender Direktor des neu formierten Instituts. 311 Wersig, Publizistik (wie Anm. 249), S. 1. 312 Ruß-Mohl selbst ruft nicht nur in seinen Lehrveranstaltungen den Namen des Institutsgründers regelmäßig in Erinnerung, sondern greift auch in der Forschung auf Dovifats Lehrsätze zurück. Dessen Anforderungskatalog an den Journalisten der sechziger Jahre (s. Dovifat, Blätter [wie Anm. 158]), spricht Ruß-Mohl auch in der Diskussion um den „Chefredakteur 2000" nicht die Aktualität ab: „Begabung, Bildung und Wissen, Nervenstärke, Belastbarkeit und hoher Arbeitseinsatz sind sicherlich Anforderungen, die auch heute noch jeder .Headhunter' auf der Suche nach einer Idealbesetzung einem Chefredakteur abverlangen würde" (Ruß-Mohl, Stephan: Führt die
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Mehrheit suchte diese Identität aber dennoch in der Zukunft: Am 8.6.1994 entschied die Strukturkommission, dem neuen Institut den Namen „Publizistik- und Kommunikationswissenschaft" zu geben. Das heutige Berliner Institut setzt sich aus acht Arbeitsbereichen313 zusammen. Auch wenn nur einige davon in einer direkten Traditionslinie zu Dovifat stehen314, so bleibt er doch für alle der Wiederbegründer des Instituts an der Freien Universität. Wie aber sehen sich die einzelnen Bereiche selbst, und wie stehen sie zu Dovifat? Dazu wurden alle Professorinnen und Professoren des Instituts interviewt. Die Antworten zu den einzelnen Fragen dieses Leitfadengesprächs werden im Anschluß an die „Schlußbetrachtung" auszugsweise wiedergegeben.315 Die verschiedenen Stimmen zu Dovifat aus den Arbeitsbereichen bedürfen keiner Kommentierung. Sie verdeutlichen in der direkten Gegenüberstellung die Facetten, die heute das Berliner Institut für Publizistik bilden, und dokumentieren, wie konträr Dovifat von den heute hier Lehrenden bewertet wird.
VIII Schlußbetrachtung Die Geschichte des Instituts für Publizistik in Berlin ist in den Jahren 1948 bis 1961 untrennbar verwoben mit Emil Dovifat. Er hat es gegründet, geformt, dreizehn Jahre lang geleitet und dadurch in dieser Zeit entscheidend geprägt. Tausende von Journalisten sind durch seine Schule gegangen und haben sich meist anerkennend seiner erinnert. Die in der Presse bis heute erscheinenden Apotheosen auf Dovifat stammen häufig aus ihrer Feder. Auch zahlreiche Publizistikwissenschaftler haben bei ihm studiert. Seine Persönlichkeit schätzen auch sie meist hoch. Von Diskussion um den Chefredakteur 2000 in die Sackgasse? In: Flöper, Berthold L./Raue, Paul-Josef [Hgg.]: Zeitung der Zukunft/Zukunft der Zeitung. Bilanz — Konzepte — Visionen. Bonn 1995, S. 98). 313 Und dem Studiengang Informations Wissenschaft. 314 Die Empirische Kommunikationsforschung setzt die Eberhard-Linie fort, Kommunikationstheorie und Semiotik berufen sich auf Harry Pross, und auch die Bereiche Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit gehen auf die Praxisansätze der siebziger Jahre zurück. 315 Die Tonbandaufzeichnungen der Interviews sind im Besitz des Verfassers.
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seinem wissenschaftlichen Ansatz haben sie sich jedoch inzwischen alle entfernt. Deshalb drängt sich die Frage auf, was übriggeblieben ist von Dovifat und seinem Werk, was heute noch tauglich ist für Lehre und Forschung oder Ehrungen. Die 1976 neuaufgelegte „Zeitungslehre" steht zwar noch heute in den Regalen der Redaktionsstuben, aber kaum mehr in den aktuellen Handapparaten der Publizistik-Institute. Andere Werke von Dovifat — wie das über den amerikanischen Journalismus von 1927 — erscheinen als Reprints oder werden allenfalls als Dokumente von kommunikationshistorischem Rang für die Entwicklungsgeschichte der Zeitungswissenschaft zur Publizistik herangezogen. Dovifats normativ geprägtes Verständnis von einer geisteswissenschaftlichen Publizistik war bereits vor seinem Tod nicht mehr zeitgemäß; wie auch sein Ansatz von der Publizistik als einer „Gesinnungstat". Spätestens seit den siebziger Jahren definierten die verschiedenen deutschen Institute für Publizistik oder Zeitungswissenschaft die Disziplin anders als Dovifat. Besonders am Berliner Institut wurde das Fach nach seinem Weggang schnell in eine andere Richtung gelenkt. Und auch als „Gründer der Freien Universität" sollte Dovifat in Zukunft nicht mehr geehrt werden, das Verdienst kommt anderen zu. Wie überhaupt mit einigen Legenden aufgeräumt werden konnte. Warum also ihn heute noch als Hochschullehrer der Publizistik würdigen316, ihn auszeichnen — mit Publikationen, Gedenktafeln, Ehrengrab und Festreden? Nun: Ihm kommt unbestreitbar das Verdienst zu, die Zeitungswissenschaft aus den Kinderschuhen zu einer reifen Disziplin und später zur Publizistik weiterentwickelt zu haben. Ein Großteil der heutigen Arbeitsbereiche am Berliner Institut läßt sich direkt auf seine Tätigkeit zurückführen, andere dagegen — wie zum Beispiel Empirie und Semiotik — wurden erst durch Dovifats Nachfolger angeregt. Ihm heute vorzuhalten, er sei zu einseitig und daher eben nicht der Gründungsvater aller verschiedenen Stränge gewesen, käme dem Vorwurf an die Gebrüder Wright gleich, sie hätten zwar ein taugliches Motorflugzeug geschaffen, aber eben nicht den Jumbo-Jet. Es stimmt: Dovifat hat nach 1948 nicht mehr viel Neues in der Publizistik angestoßen 316
Seine Verdienste um die Presse und den Aufbau von Rundfunkstrukturen und einer demokratischen Partei nach 1945, um den Katholizismus in Deutschland, die Aus- und Weiterbildung von Journalisten und deren Sozialversorgung u.v.m. wird ihm wohl niemand ernsthaft absprechen.
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und verharrte in seinem Lehr- und Denksystem. Mit 58 Jahren noch einmal institutionell von vorne anzufangen — was Dovifat 1948 mußte — fiel sicher nicht leicht. Und es gelang ihm nur durch Rückgriffe auf Altbewährtes. So war das „System Dovifat" schon überholt, bevor er ging. Eberhard, Pross und andere setzten andere Akzente und fügten neue Bausteine hinzu. Daß Dovifat aber den Grundstein gelegt hatte, kann niemand verleugnen. Roegeles Vergleich mit den Verdiensten Schubarts, Marx' und Görres' um ein theoretisches Gerüst der deutschen Meinungs- und Gesinnungspublizistik hinkt keinesfalls: Auch diese hatten in ihrer Zeit, aus ihrer Zeit und für ihre Zeit Wichtiges angestoßen, sind aber für die Lösung gegenwärtiger gesellschaftlicher, wissenschaftlicher oder sozialer Probleme kaum mehr geeignet. Dennoch werden sie aber zu allen runden Gedenktagen nach wie vor gewürdigt. Jene, die heute die rhetorische Frage stellen, was denn vom Werke Dovifats noch aktuell ist — und damit postume Ehrungen ablehnen —, sollten einmal selbstkritisch reflektieren, was von ihrem eigenen Schaffen ihren Tod wohl überdauert. Und Kritiker, die jede Ehrung Dovifats ablehnen — weil sie sich mit Blick auf seine Tätigkeit in der nationalsozialistischen Zeit verbiete — und die Debatte auf die Jahre von 1933 bis 1945 verengen, werden ihm jedenfalls nicht gerecht. Natürlich darf Dovifat nicht unkritisch auf einen Schild gehoben werden. Bei differenzierter Betrachtung zeigen sich nicht nur mutige Zeugnisse direkter oder indirekter Regimekritik, sondern vor allem seine kontinuierliche Präsenz an exponierter Stelle in der Reichshauptstadt und seine zahlreichen publizierten Kotaus. Dovifat war ein Patriot und etablierter Hochschullehrer, ein wertkonservativer Katholik. Er gehörte daher nicht per se zu jenen, die durch das NSRegime in den Untergrund oder ins Exil getrieben wurden wie Kommunisten und Sozialisten. Dovifat entschied sich für die Gratwanderung in Deutschland. Die Hochachtung gilt jenen, die den Widerstand aus Überzeugung wählten. Es ist aber selbstgerecht, Dovifat heute vorzuwerfen, daß er diesen Weg nicht beschritten hat. Wenn 1998 das fünfzigjährige Bestehen des Publizistik-Instituts in Berlin begangen wird, sollte Dovifat ohne Scheuklappen und Schaum vor dem Mund betrachtet werden. Eine Würdigung muß dabei nicht zur pauschalen Ehrung oder zur schnöden Mißachtung verkommen. Durch die kritische Auseinandersetzung der vergangenen Jahre und vielleicht auch anhand dieses Sammelbands wird es möglich sein, sich dann der Person des Institutsgründers unvoreingenommen und mit der nötigen Tiefenschärfe auf
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breiter Quellengrundlage zu nähern. Wobei „nähern" hier nicht mit „rückbesinnen" zu verwechseln ist, denn als Leitfigur der Gegenwart ist er ungeeignet. Vielmehr sollte Dovifat als Figur der neueren Geschichte wahrgenommen werden, die in ihrer Zeit einen Beitrag zur Entwicklung des Fachs geleistet hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
DOVIFAT UND SEINE „NACHFOLGER" Materialien zur Rezeption: Leitfaden-Interviews im Auszug Zusammengetragen von ANDREAS KÜBLER
/. Was wissen Sie konkret über Dovifat, und was assoziieren Sie mit ihm? Baerns1: Er war katholischer Publizist und erster Zeitungswissenschaftler in Berlin. Erbring2: Eines assoziiere ich mit Dovifat: Ich habe bei ihm in der Vorlesung gesessen, als ich 1958 in Berlin studiert habe. Diese PubliceVorlesung. Da habe ich ihm zu Füßen gesessen — aus Mangel an Sitzplätzen; zu Füßen gelegen habe ich ihm nicht. Göpfert3: Folgende Stichworte fallen mir vorrangig ein: Er war ein wesentlicher Zeitungswissenschaftler, nach dem Kriege hier an der FU tätig, gilt als einer der Väter des Instituts, umstrittene Persönlichkeit wegen seines Verhaltens während des Dritten Reiches. Haarmann4: Natürlich ist der Name Dovifat sofort präsent, wenn es um die Berliner Publizistik als Universitätsdisziplin geht. Darüber hin1
Prof. Dr. Barbara Baerns: Seit 1989 am Berliner Institut, Arbeitsbereich Öffentlichkeitsarbeit. Zuvor seit 1982 Professorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Das Interview wurde am 22.1.1997 geführt. 2 Prof. Lutz Erbring, Ph. D.: Seit 1986 am Berliner Institut, Arbeitsbereich Empirische Kommunikations- und Medienforschung. Zuvor seit 1972 Professor an der University of Michigan, zuletzt an der University of Chicago. Das Interview wurde am 23.8.1995 geführt. 3 Prof. Dipl.-Ing. Winfried Göpfert: Seit 1990 auf der Robert-Bosch-Stiftungsprofessur des Berliner Instituts, Arbeitsbereich Wissenschaftsjournalismus. Zuvor fast 20 Jahre Leiter der Wissenschaftsredaktion im Sender Freies Berlin. Das Interview wurde am 4.9.1995 geführt. 4 Prof. Dr. Herrmann Haarmann: Seit 1990 am Berliner Institut, Arbeitsbereich Historische Publizistik, Schwerpunkt Exilpublizistik. Zuvor sechs Jahre an der Universität Essen. Das Interview wurde am 30.1.1997 geführt.
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aus verbinde ich eine widersprüchliche Karriere mit diesem Namen. Da ich in Münster bei Prakke zu studieren begonnen habe, wurde die Berliner Publizistik und mit ihr Dovifat nur im Zusammenhang mit der Entwicklung des Faches erwähnt. Posner-Landsch5: Was mir zuerst zu Dovifat einfällt, ist dieses Institut, das er ja praktisch auf den Weg gebracht hat. Und dann — es tut mir leid — fällt mir sofort ein: Dovifat und „Drittes Reich". Es führt kein Weg vorbei. Und konkret fallen mir die Bücher ein, die er geschrieben hat. Und dort sehr konkret ein Ausdruck, mit dem er sich immer wieder beschäftigt hat, der ihn aber zu nichts geführt hat und ihn wirklich hätte in eine Richtung bringen können, die weiterentwickelbar war, nämlich: „Das Wesen der Publizistik". Davon hat er häufig geschrieben im Anschluß an alte Traditionen, aber er ist nicht weiter darauf eingegangen, es ist immer das numinose Etwas gewesen, was dann überhaupt nicht mehr zum Tragen kam. Und das zweite, was mir zu den Schriften einfällt, ist, daß er offensichtlich auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht davon abgewichen ist, daß Publizistik so etwas hat wie eine politische Leitfunktion. Er war ein fleißiger Sammler, ein sehr traditioneller Sortierer, er hat die Sachen in gängige Kategorien sortiert. Aber er war nicht kreativ, und er war mir auch nicht mutig genug. Ruß-Mohl6: Ich assoziiere mit Dovifat, daß er einer der Gründerväter unseres Fachs, sprich der Zeitungswissenschaft in Deutschland ist, ich assoziiere mit Dovifat, daß er bei der Erforschung des amerikanischen Journalismus Pionierleistungen erbracht hat. Ich assoziiere mit Dovifat eine Gratwanderung während des Dritten Reichs, und ich würde mit Dovifat auch assoziieren beträchtliche Beiträge beim Aufbau einer freien Presse nach 1945, die man vielleicht nicht unterschätzen sollte. Sösemann7: Eine der „Gründungspersönlichkeiten" der Publizistik als akademischer Disziplin, als Herausgeber eines bedeutenden Handbuchs und als Autor einer „Zeitungslehre". 5
Prof. Dr. Marlene Posner-Landsch: Seit 1980 am Berliner Institut, Arbeitsbereich Kommunikationstheorie und Semiotik. Zuvor Professorin an der Pädagogischen Hochschule Berlin. Das Interview wurde am 29.1.1997 geführt. 6 Prof. Dr. Stephan Ruß-Mohl: Seit 1985 am Berliner Institut, Arbeitsbereich Journalistische Praxis/Medienmanagement. Zuvor vier Jahre Fachreferent bei der RobertBosch-Stiftung. Das Interview wurde am 22.8.1995 geführt. 7 Prof. Dr. Bernd Sösemann: Seit 1985 am Berliner Institut, Arbeitsbereich Historische Publizistik. Zuvor seit 1975 am Historischen Seminar der Universität Göttingen. Das Interview wurde am 13.9.1995 geführt.
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Weiß8: Auf der einen Seite ist er der Vater eines der Haupt-PublizistikInstitute. Dann: die Enkelin oder Tochter von ihm ist für mich natürlich immer ein wichtiges Thema, das heißt die Beziehung Dovifat — Noelle-Neumann. Und sonst konkret eigentlich nur, daß er der Herausgeber des dreibändigen „Handbuchs für Publizistik" ist und der Autor der „Zeitungslehre". Zerdick9: Für mich ist Dovifat eigentlich mehr ein Mythos als eine Realität, und zwar deswegen, weil ich ihn persönlich nicht kennengelernt habe. Heute tut es mir leid, daß ich nie eine Vorlesung von Dovifat gehört habe. Von ihm habe ich nur die „Zeitungslehre" früher mal gelesen — ohne großen Gewinn für mich. Dann das Buch über den amerikanischen Journalismus. Und dann habe ich einiges über die Konflikte mitbekommen im Zusammenhang mit der Ehrentafel an Dovifats ehemaligem Wohnhaus. Weitere Stichworte: Die frühe Rolle als einer der ersten Publizistikwissenschaftler — wenn es denn stimmt. Die Aufbauarbeit in der Berliner CDU. Die letzte Facette: Er muß ein hervorragender Didaktiker und Rhetoriker gewesen sein.
2. Aufweiche Werke Dovifats greifen Sie heute noch zurück? Baerns: Wenn ich Literatur empfehle, dann die Antrittsvorlesung von 1928 und die aus dem Nachlaß überlieferte Interpretation des Reichstagsbrandes und seiner Folgen, obwohl sie historisch überholt ist. Ich halte diese Texte für Gegensätze im wahren Wortsinne. Erbring: Auf überhaupt keines; doch — nur manchmal — auf den „amerikanischen Journalismus" und auf die „Zeitungslehre" als Quellen für Belege über Vorstellung von Presse als Gesinnungs- und Führungs8
Prof. Dr. Hans-Jürgen Weiß: Seit 1994 am Berliner Institut, Arbeitsbereich Empirische Kommunikations- und Medienforschung. Zuvor seit 1986 Professor am Göttinger Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Das Interview wurde am 23.8.1995 geführt. 9 Prof. Dr. Axel Zerdick: Seit 1980 am Berliner Institut, Arbeitsbereich Ökonomie und Massenkommunikation. Zuvor seit 1975 Professor für Produktionstheorie an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin. Der achte Arbeitsbereich am Berliner Institut, der Arbeitsbereich Kommunikationspolitik und Medienrecht, wartet seit Jahren auf eine professorale Berufung, weswegen für diesen Bereich kein Interview geführt werden konnte.
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mittel. Die Bücher sind für die Geschichte des Faches noch interessant, aber als wissenschaftliche Werke nach 1945 überholt. Göpfert: Auf keine. Haarmann: Wenn überhaupt noch, dann auf seine „Zeitungslehre", um zu dokumentieren, welche Entwicklungssprünge die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft genommen hat. Posner-Landsch: Auf keines. Ruß-Mohl: Auf meiner Einführungsliteraturliste steht immer noch die „Zeitungslehre" von Dovifat in der Bearbeitung von Wilke, und in Hauptseminaren — wenn sie mit amerikanischem Journalismus zu tun haben — ist das gleichnamige Werk von Dovifat nach wie vor ein Basiswerk, auf das ich verweise. Und ansonsten finde ich — wenn man sich ein Bild von der Vielseitigkeit Dovifats machen will, daß der Band „Die publizistische Persönlichkeit", herausgegeben von seiner Tochter Dorothee von Dadelsen, eine Menge hergibt. Die anderen Sachen sind nicht mehr so furchtbar relevant. Sösemann: Fast alle Werke Dovifats stehen bei mir im Bücherregal, weil ich — unabhängig davon, ob ich Dovifat für die Lehre und Wissenschaft brauche — mich mit der Geschichte des Fachs und der Publizistik in Berlin beschäftige. Dann sind die Werke von Dovifat für mich Arbeitsmittel und Quellen. Weiß: Auf keine. Zerdick: Auf keine. Das liegt natürlich auch in meinem Fach begründet.
3. In welchem Zusammenbang lassen Sie den Namen Emil Dovifat in Ihren Seminaren und Vorlesungen fallen? Baerns: In der Einführung in die Grundlagen des Journalismus und der Öffentlichkeitsarbeit zum Beispiel geht es um Probleme der Informationsverarbeitung durch das Mediensystem, wie wir heute sagen. Dieses war in seinem Frühwerk ein zentrales Erkenntnisinteresse auch Emil Dovifats, was man heutzutage gar nicht mehr weiß. Das versuche ich zu vermitteln. Erbring: Den Namen lasse ich kaum noch fallen, nur wenn ich über journalistische Ethik und Berufsnormen zu sprechen komme, dann verweise ich nicht nur auf Schönbach oder La Röche, sondern auch auf Dovifat, sozusagen als Negativbeispiel — nicht als Person, aber seine
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journalistische Ethik ist grauenhaft, dieses Manipulieren des Publikums als legitimer Anspruch des Journalismus ist zu verurteilen. Göpfert: Dovifat tangiert nicht mein Arbeitsgebiet, deswegen erwähne ich ihn gar nicht. Haarmann: Da ich mich in meinen Seminaren und in den Vorlesungen in erster Linie mit kommunikationsgeschichtlichen bzw. -theoretischen Phänomenen beschäftige, fällt der Name Dovifat kaum noch. Posner-Landsch: Nur in historischen Zusammenhängen. Aber nicht, wenn es um die Fachgeschichte geht. Die ist wesentlich Geschichte des Gegenstandes und nicht Geschichte der Institutionalisierung. Sobald ich nur die Geschichte der Institutionalisierung dazusetze, was ja immer noch ein wesentlicher Parameter für Wissenschaftlichkeit ist, dann kommt Dovifat vor. Aber bei der Behandlung des Gegenstandes ist er nur bei den Übergängen von der Zeitungswissenschaft zur Publizistik zu nennen. Und da auch nur mit der Feststellung, daß er wohl das Wort „Publizistik" schon im Dritten Reich gebraucht hat. Mehr ist da nicht. In Einführungsveranstaltungen zur Kommunikationstheorie hat Dovifat nichts zu suchen. Ruß-Mohl: Bei Einführungsveranstaltungen und bei Seminaren, die sich mit dem amerikanischen Journalismus beschäftigen. Natürlich gehe ich auch auf „Rede und Redner" und ähnliches bei Dovifat ein. Man muß den Studis doch irgendwo ein Bild vermitteln, von den Schwierigkeiten, die man als Publizist im Umgang mit totalitären Regimes hat, und da ist Dovifat ein wunderbares Lehrbild. Sösemann: Am häufigsten fällt der Name Dovifat in den einführenden Veranstaltungen im Grundstudium, allein schon um den Kontext der Arbeit deutlich zu machen. Und dann meine ich, muß jeder Publizistikstudent doch ein paar Gründungsväter des Fachs und, wenn er in Berlin studiert, auch dieses Instituts kennen. Da steht Dovifat in einer Reihe, er ist nicht unser „Hausheiliger". Aber in Berlin studiert zu haben, ohne von Dovifat etwas gehört zu haben, wäre absurd. Also man muß, wenn man in Berlin studiert hat, Dovifat nicht nur dem Namen nach kennen, sondern auch etwas von ihm gelesen haben, und dafür bildet natürlich das „Handbuch" den ersten Ansatzpunkt. Weiß: Nur im Rahmen eines Gesamtüberblicks, der sich mit der Fachgeschichte befaßt. Dann ist für mich die Stelle wichtig, an der ein Teil der deutschen Wissenschaftler in die Emigration ging. Und was war mit den anderen Wissenschaftlern los? Da ist für mich Dovifat — nicht so sehr als Person, sondern vielmehr als Exempel — eigentlich das Beispiel,
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wie jemand über bestimmte Phasen — also Weimar, NS-Zeit, Nachkriegszeit — sozusagen das Mäntelchen immer ein Stück weiterdreht — wie es dem Zeitgeist entsprechend ist. Schon als ich ab 1972 als Assistent in München die üblichen Einführungsveranstaltungen übernommen habe, wo ich den allgemeinen Überblick über die Fachgeschichte gab, da habe ich dann Dovifats „Zeitungslehre" in den verschiedenen Fassungen wieder ausgebuddelt. Zerdick: Dann, wenn ich gelegentlich über Institutsgeschichte oder über Fachgeschichte rede. Und in dem Zusammenhang ist Dovifat für mich immer in der Dualität zu Eberhard drin. Mein Vorbild war immer Eberhard, soweit ich irgendwann mal was mit der Publizistik zu tun hatte. Dovifat war diskreditiert. Aber eher in dem Sinne: kann man verstehen, aber schön ist es nicht.
4. Zitieren Sie Dovifat in der Lehre: häufig, manchmal, selten, nie? Baerns: Manchmal, immerhin war er in unserer Disziplin einer der ersten, der versucht hat, Public Relations zu „begreifen" — obwohl er darin meines Erachtens gescheitert ist. Erbring: Selten, nur bei den oben erwähnten Gelegenheiten. Göpfert: Fast nicht. Bis auf wenige Beiträge, die Dovifat im Bereich des Wissenschaftsjournalismus geschrieben hat, zum Beispiel über die Medizinberichterstattung. Das ist ein historisches Dokument für die DovifatGeschichte, das hat von daher eine gewisse Bedeutung, aber für die Fachdiskussion heute hat es überhaupt keine Bedeutung. Er hat substantiell in dem erwähnten Beitrag nichts Wesentliches zur Medizinkommunikation beigetragen. Haarmann: Kaum — siehe die Antwort zur dritten Frage. Posner-Landsch: Nie. Ruß-Mohl: Relativ häufig, aber auch mit aus dem Grund, weil er der Gründungsvater unseres Instituts hier in Berlin war, und ich in diesem Sinne auch meine, man sollte ein bißchen Traditionspflege betreiben — man soll das nicht übertreiben, aber dort wo es sich anbietet, soll heißen, wo es einfach Leistungen gibt, die sich würdigen lassen von Dovifat, da tue ich das dann auch gerne. Sösemann: Manchmal. Weiß: Selten. Zerdick: Nie — aber wohlgemerkt, das ist ja keine Abwertung.
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5. Zitieren Sie Dovifat in der Forschung: häufig, manchmal, selten, nie? Baerns: Manchmal. Siehe hier die Antwort zur vierten Frage. Erbring: Null. Göpfert: Nein, nie. Haarmann: Ich komme aus einem ganz anderen wissenschaftlichen Feld; ich habe Theaterwissenschaft, Germanistik und Publizistik studiert. Übrigens eine günstige Voraussetzung für das, was ich jetzt am Berliner Institut zu vertreten habe: Kommunikationsgeschichte mit dem Schwerpunkt Exilpublizistik. Deshalb auch beschäftige ich mich bei meinen Forschungsprojekten nicht mit Dovifat. Gleichwohl sind einige seiner Überlegungen zum Journalismus immer noch bedenkenswert, wenn man heute verstärkt um die Profilierung des „Kulturjournalismus" als eigenständigen Bereich universitärer Ausbildung streitet. Posner-Landsch: Nie. Ruß-Mohl: Auch eher häufig — da wo es sich anbietet, also bei meinem Forschungsfeld amerikanischer Journalismus wird man bei dem, was ich veröffentlicht habe, immer irgendwo eine Referenz finden, die ist auch gerechtfertigt. Man muß historische Leistungen weiterhin würdigen, und die hat Dovifat in diesem Feld auch erbracht. Sösemann: Auch manchmal. Da hängt es vom jeweiligen Thema ab. Wenn ich über Gerichtsberichterstattung und Paul Schlesinger nachdenke, brauche ich ihn häufiger; wenn ich über Propaganda im Nationalsozialismus forsche, dann ist er für mich Quelle und Analytiker zugleich. Weiß: Nie. Zerdick: Nichts damit zu tun.
6. Welche Ideen Dovifats haben Sie fachlich beeinflußt?
Baerns: Die Zeitungswissenschaft bzw. Publizistikwissenschaft ist eine eigenständige Disziplin mit einer spezifischen Fragestellung. Erbring: Keine. Göpfert: Keine. Haarmann: Ich habe in Berlin bei Eberhard und dann bei Pross Studien; diese beiden so unterschiedlichen Wissenschaftler haben mich beeinflußt. Eberhard durch seine gesellschaftlich engagierte Haltung als Rundfunk-Praktiker und „dilettierender" Wissenschaftler, Pross als literarisch-
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publizistisch Gebildeter. Damals wußte ich nicht, daß „Eberhard" ein Pseudonym war, das er im deutschen Untergrund und dann während des Exils in England benutzte und unter dem er Rundfunk- und — in bescheidenerem Ausmaß — Publizistikgeschichte schreiben würde. Pross war dagegen ein Intellektueller, der insbesondere durch seine Methodenseminare — ich erinnere mich an ein Hauptseminar über den Empiriokritizismus — bei den Achtundsechzigern Furore machte. Posner-Landsch: Ideen keine. Aber seine Haltung im Dritten Reich hat mich beeinflußt, daß ich mir gesagt habe: So nicht! Publizisten müssen Rückgrat zeigen, und das erste, was wir den Studenten einziehen müssen, ist das Rückgrat und nicht den vorwegnehmenden Gehorsam. Ich habe also praktisch ex negativo gelernt; obwohl ich persönlich nicht sagen würde, hier ist der Punkt, wo Dovifat gefehlt hat. Es war so eine allgemeine Stimmung. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber ich hätte mir gewünscht, daß er gesagt hätte: Bis hierher und nicht weiter. Selbst um den Preis, daß er dann aus dem Amt geschieden wäre oder was auch immer. Dovifat ist sich nicht treu gewesen und war feige. Ruß-Mohl: Also, was ich für mich seit langem schon wiederentdeckt habe, das ist durchaus die „publizistische Persönlichkeit", das heißt das Ringen um die Einsicht, daß im Journalismus nicht alles irgendwie systembedingt ist, sondern doch sehr viel mit einzelnen, sehr konkreten Menschen, sprich Persönlichkeiten zu tun hat. Sösemann: Dovifat nimmt hier keinen exzeptionellen Platz ein, aber wenn ich überlege, wer das überhaupt tut in meinem Fall, wo es um Kommunikationsgeschichte geht, ist das auch etwas schwierig. Es gibt aus der Generation der „Gründungsväter" keinen Publizistikwissenschaftler mit historischen Interessen, der in meinen Forschungen besonders häufig vorkommt. Zerdick: Direkt sicher keine. Indirekt wahrscheinlich schon einige.
7. Welchen Einfluß hat das Wissen über Dovifat heute noch in Ihrer Lehre und Forschung? Baerns: Ich halte es für sinnvoll, dieses Wissen in Lehre und Forschung einzubringen, um Kontinuitäten und Brüche zu verdeutlichen. Erbring: Keinen. Außer im erwähnten Umfeld der Normen und Berufsethik.
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Göpfert: Tangiert mich nicht. Ich habe mir ja Gedanken über die Figur Dovifat gemacht, aber fachlich habe und sehe ich keine Berührungspunkte. Haarmann: Keinen. Posner-Landsch: Einen einzigen — das ist dann aber nicht Dovifat alleine — ich habe ja auch andere Leute gesehen, und ich sehe ja auch den heutigen Journalismus, und ich komme mehr und mehr zu der Überzeugung, Journalisten müssen wirklich einen ausgeprägten Charakter haben, um Journalisten zu sein — jedenfalls dort, wo sie journalistisch im Sinne von publizistisch arbeiten, also öffentlichkeitswirksam, und wo sie bewerten, beurteilen und sich auch zum Teil bekennen. Ja, da ist es ganz wichtig, daß sie Charakter haben. Ruß-Mohl: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist sehr lehrreich und jetzt wichtiger geworden vor dem Hintergrund, daß wir ähnliche Fälle in der Auseinandersetzung mit dem SED-Regime haben. Sösemann: Da verweise ich auf das schon Gesagte; auch hier nimmt er keinen herausragenden Platz ein. Weiß: Siehe hier die Antwort zur dritten Frage. Zerdick: Immer unter der Prämisse des Dualismus von Eberhard und Dovifat ist hier die exemplarische Bedeutung für die politischen Funktionen von Journalismus und von Medienstrukturen zu nennen.
8. Was sagt Ihnen heute das „Handbuch der Publizistik" noch?
Baerns: In den Zusammenhängen, die mich besonders interessieren, halte ich Dovifats Band l des „Handbuchs der Publizistik" für ärgerlich, das heißt pathetisch und rein deklamatorisch. Erbring: Nichts. Göpfert: Mein Arbeitsgebiet ist die moderne Wissenschaftskommunikation, da ziehe ich eine ganz andere Literatur zurate, und da gehört das „Handbuch" sicherlich überhaupt nicht dazu. Haarmann: Es ist ein historisches Dokument. Posner-Landsch: Nichts, ich brauche das „Handbuch der Publizistik" nicht. Ruß-Mohl: Ich greife darauf nicht zurück.
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Sösemann: Das „Handbuch" ist über weite Partien deutlich überholt, in anderen bietet es gute Ansätze — und die sind im Bereich der Zeitung natürlich stärker als bei den moderneren Medien zu finden. Weiß: Nichts. In München, wo ich Ende der sechziger Jahre studiert habe, stand in der Bibliothek das „Handbuch für Publizistik" an prominenter Stelle als Standardnachschlagewerk. Da habe ich je nach Bedarfslage mal herumgeschaut, ob es etwas für mich bringt. Aber ich würde sagen, die ganze Ansammlung auch der Leute, die dort geschrieben haben, die vertreten genau den Aspekt des Fachs, der für mich nicht so wichtig war. Zerdick: Das steht in der Bibliothek und irgendwo sonst. Das genügt.
9. Wie beurteilen Sie Dovifats Lehre vom Gesinnungsjournalismus? Baerns: Die hat er nicht durchgehend vertreten. Im Vergleich zum Frühwerk kann man, meines Erachtens nach dem Reichstagsbrand, bei Dovifat einen Wechsel der Perspektive nachweisen. Erstens: Die Suche nach Spiegelungsgesetzen und das Bemühen um Transparenz publizistischer Prozesse weichen dem Interesse an Gesetzen der „geistigen Beeinflussung und Willensbildung". Zweitens: Das Interesse an den Eigenarten der Mittel der Nachrichtengebung weicht dem Interesse an den Möglichkeiten und Grenzen der „Mittel publizistischer Führung". Drittens: Der Blick auf eine an den Folgen interessierte Handlungsethik weicht gesinnungsethischen Überlegungen und Ausführungen. Für unsere heutige Zeit halte ich eine Lehre vom Gesinnungsjournalismus für abwegig. Ich halte auch die Ethikdebatte, die seit einigen Jahren wieder hochkommt, für eine Ablenkung von zentralen Strukturproblemen. Erbring: Der Gesinnungsjournalismus ist ein Negativbeispiel, das eine Tradition kennzeichnet, die sich nicht auf Dovifat beschränkt. Ich zitiere mit dem gleichen Vergnügen auch den Pressekommentar von Löffler aus den siebziger Jahren. Göpfert: Es gibt Sparten, Ressorts und Aufgaben im Journalismus, wo man sehr sauber trennen muß und ich den Gesinnungsjournalisten rundweg ablehnen würde. Und es gibt eben die subjektiven Formen im Journalismus, wo ich Gesinnungsjournalismus in dem Sinne auch durchaus zulasse und mich auch daran freue und manchmal vermisse, daß zu wenig Gesinnungsjournalismus betrieben wird. Aber man muß sehr genau wissen, wo welches am Platze ist.
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Haarmann: „Gesinnungsjournalismus" ist ein Begriff, dem man inzwischen mit eindeutig pejorativen Vorzeichen begegnet. Gleichwohl kann auch dieser Begriff historisch begründet und durch konkrete Beispiele einer „Gesinnungspresse" — präziser würde ich von politischer oder Parteipresse sprechen — differenziert werden. Inwieweit heute bei Meinungsbildungsprozessen auch die Lancierung einer Gesinnung durch journalistische Arbeit intendiert ist, könnte man durchaus kontrovers diskutieren. Posner-Landsch: Interpretationsbedürftig. Mit Gesinnung kann ich auch eine niedere Gesinnung abdecken, wenn ich mir nur treu bleibe. Infolgedessen wären ja alle Taten im „Dritten Reich" Gesinnungstaten und folgerichtig gut und sanktioniert. Das kann eigentlich auch von Dovifat nicht gemeint gewesen sein — unterstelle ich ihm mal im positiven Sinne. Ruß-Mohl: Da passe ich jetzt mal. Sösemann: Dovifats Verständnis vom Gesinnungsjournalismus ist zeitbedingt, es erfaßt einen ganz bestimmten Typ von Journalismus, der historisch bedingt ist, gerade im deutschsprachigen Raum besonders scharf konturiert ist und der für mich deshalb ein historisches Phänomen ist. Weiß: Da will ich mich nicht äußern, das ist einfach nicht mein Feld. Zerdick: Damit habe ich mich nicht ernsthaft beschäftigt. Heute ist der Begriff negativ besetzt. Ob das Dovifat gerecht wird, weiß ich nicht.
10. Wie beurteilen Sie Dovifats normativen Ansatz? Baerns: Wessen Normen sollen durchgesetzt werden?... Erbring: Die Gesinnungspresse war ja der Normalfall der Presse in der Weimarer Zeit, die in Realität nicht sehr demokratisch war. Und Dovifat war auch nie Demokrat, zu keiner Zeit. So ist der normative Ansatz zeithistorisch bedingt. Am Ende des 20. Jahrhunderts können Normen in einem demokratischen System nur sein: Respekt für den Leser und für den Wähler und nicht Durchsetzung von katholischen, kommunistischen und was weiß ich für inhaltlichen Werten, deren Durchsetzung nicht Sache einer journalistischen Funktion der Gesellschaft ist, sondern eine Sache von Politikern und gesellschaftlichen Gruppen, die sich um inhaltliche Werte streiten, die auch alle normativ geprägt sind. Aber was den Journalismus dabei angeht, wenn er sich nicht als Kampfinstrument irgendeiner ideologischen Couleur verstehen will, für den Journalismus
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kann eigentlich nur die demokratierelevante Funktion der Herstellung von Öffentlichkeit und der Ermöglichung von Meinungsbildung beim Publikum verbindlich sein. Informationstransport ist dabei die Voraussetzung dafür, daß der Bürger sich seine Meinung bilden kann. Göpfert: Mit normativen Ansätzen wäre ich sehr vorsichtig, man muß das differenziert sehen, solche Normen müssen eigentlich mehr aus der Berufsprofession kommen und nicht von außen her. Haarmann: Bei Dovifat scheint der normative Ansatz — wenn man denn überhaupt so theoretisch dezidiert von „normativ" sprechen will — eher einem methodischen Selbstverständnis geschuldet, das Setzungen fast naiv vornimmt und von der Blässe reflektorischer Fundierung nicht angekränkelt wird. Posner-Landsch: Ich beurteile einen normativen Ansatz durchaus als positiv, aber nicht den Dovifatschen normativen Ansatz. Ich denke schon, wir brauchen in der Publizistik Werte. Das sind nicht nur publizistische Werte alleine, das sind allgemeinmenschliche Werte. An denen muß sich der Publizist messen lassen. Ruß-Mohl: Den wiederum halte ich schon für ganz wichtig. In dieser Verabsolutierung, wie Dovifat selber wissenschaftlich gearbeitet hat, halte ich ihn nicht für tragfähig; auch da greift die Gegenreaktion aber zu kurz und schüttet das Kind mit dem Bade aus, soll heißen, ich bin froh, daß wir inzwischen einen Rückbesinnungsprozeß haben, der zumindestens in die Richtung für mich läuft, daß man auch in der Publizistikwissenschaft wieder über die normativen Grundlagen nachdenkt und sich zumindestens klarmacht, daß man in der Ausbildung an den normativen Fragen nicht vorbeikommt. Ethik hat mit Ausbildung auf jeden Fall sehr viel zu tun. In diesem Sinne bin ich dann doch ein Dovifat-Jünger. Wenn ich auch sicherlich weniger klar in meinen ethischen Vorgaben, die ich machen würde, auf eine Linie zu bringen bin als Dovifat: weil ich eben kein Klerikaler, sondern ein Liberaler bin. Sösemann: Dovifat war gar kein ausgesprochener Theoretiker und kein großer Methodiker. Er hat sein Tun natürlich in dem Maß reflektiert, wie er es für seine Arbeit brauchte. Mit seinem normativen Ansatz steht er nicht allein auf weiter Flur. Ich kenne die Debatte auch aus der Germanistik und anderen geisteswissenschaftlichen Fächern. Weiß: Ich habe relativ starke Probleme überhaupt mit der Ethikthematik im journalistischen Umfeld und schaue immer wieder sehr erstaunt und irritiert darauf, wie ungeniert die Amerikaner vor allem mit diesem Thema umgehen, wo die Kriterien am eigenen Schöpf aus sich selbst
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herausgezogen werden. Ich habe durchaus Interesse an einer normativen Argumentation, zum Beispiel aus dem Kontext der kritischen Theorie heraus, würde aber die Kriterien für die Normen immer außerhalb des Journalismus oder Mediensystems suchen, sei es zum Beispiel im verfassungsrechtlichen Bereich. Zerdick: Ich bin generell ein großer Fan von normativen Ansätzen in der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre. Ich halte normative Komponenten in gesellschaftswissenschaftlichen Theorien für außerordentlich hilfreich.
11. Welchen Stellenwert hat Dovifats theoretischer Ansatz vom Fach heute noch für Sie?
Baerns: Dazu habe ich schon etwas gesagt: Ich halte es für interessant, welche Phänomene er in seiner Wissenschaftssprache nicht bearbeiten konnte. Erbring: Keinen. Göpfert: Keinen. Haarmann: Siehe hier die Antwort zur zehnten Frage. Posner-Landsch: Keinen. Ruß-Mohl: Rückfrage: Hat er einen theoretischen Ansatz gehabt? Einen geschlossenen wissenschaftlichen Ansatz sehe ich bei Dovifat nicht. An der Stelle verstehe ich Kolleginnen und Kollegen, die sagen, er hat gar nichts Bleibendes hinterlassen, wobei mir diese Kritik zu harsch ist. Sösemann: In meinem Beitrag habe ich ausgeführt, daß der Jubiläumsartikel Dovifats zum 80. Geburtstag der „Kölnischen Volkszeitung" einige für die Geschichte der öffentlichen Kommunikation bedeutsame theoretische Hinweise enthält. Weiß: Keinen. Zerdick: Keinen greifbaren.
12. Sind Sie sich bewußt, daß Sie auf dem Lehrstuhl von Emil Dovifat sitzen? Baerns: Den gab es schon nicht mehr, als ich bei seinem Nachfolger Fritz Eberhard studierte: als „erste Doktorandin, die promoviert hat", wie Eberhard schreibt, was immer das heißen mag. An der Beratung der
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Dissertation hatte im übrigen die spätere Professorin Dr. Elisabeth Lökkenhoff den allergrößten Anteil. Erbring: [Erhebt sich, guckt auf seinen Stuhl] Ja? — Das kann man so einfach nicht sagen. Der Lehrstuhl hat sich gespalten in viele Lehrstühle. Die Linie geht eher, wenn man die Einzelnachfolge betrachtet, bis zu Eberhard. Aber insofern tatsächlich auch über die Linie Eberhard bis zu Dovifat. Göpfert: Ja. Haarmann: Ich sitze nicht auf dem Dovifat-Lehrstuhl. Mein Arbeitsgebiet wurde an der Freien Universität Berlin mit meiner Berufung neu eingerichtet. Der Schwerpunkt Exilpublizistik innerhalb der Kommunikationsgeschichte widmet sich in erster Linie Gegenständen publizistisch-literarischer Tätigkeit während der Zeit des Nationalsozialismus. Das freie Wort wird allerdings nicht nur in der Neuzeit durch diktatorische Maßnahmen bedrängt; es scheint, daß zur Geschichte der Menschheit die Geschichte der Unterdrückung, Verfolgung, Vertreibung oder gar Tötung jener gehört, die das freie Wort führen oder veröffentlicht sehen wollen. Posner-Landsch: Nein, weil ich mit irgendwelchen Gedanken nicht Personen verbinde und weil ich auch mit Fächern nicht Personen verbinde und weil ich mich grundsätzlich nicht Personen verpflichtet fühle. Ruß-Mohl: Sehr bewußt! Wobei man sich darüber streiten kann, ob ich das ganz tue oder nur zu einem Drittel, weil ja dieser Lehrstuhl 1982 in drei Lehrstühle aufgespalten wurde. Aber von der ganzen Arbeitsplatzbeschreibung her würde ich doch sagen, daß mein Lehrstuhl derjenige ist, der zumindestens mehr als zu einem Drittel Dovifats Lehrstuhl ist. Und das empfinde ich durchaus auch als einen großen Schuh, in den man hineinwachsen mußte und sollte. Was nicht heißt, daß man nun das, was er gemacht und gelehrt und geforscht hat, das man das im Sinne einer Schule weitenragen müßte oder sollte. Die Traditionspflege erschöpft sich darin, wachzuhalten — und das bezieht sich auch auf Fritz Eberhard und andere Institutsgrößen, daß es diese Leute gab, und darauf aufmerksam zu machen, daß es das eine oder andere in ihrem Werk gibt, was uns auch heute noch eine Menge zu sagen hat. Sösemann: Durch die heutige Situation ergibt sich, daß eigentlich keiner von uns Berlinern sagen kann, er steht direkt und unmittelbar in der Nachfolge Dovifats. Der einzelne fühlt sich ihm unterschiedlich stark verpflichtet. Ich habe nicht die Breite des Ansatzes — Interesse schon, sonst hätte ich mich nicht in dieses Fach begeben. Aber ich verstehe
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meine Arbeit im Kreis von Kollegen selbstverständlich anders als Dovifat damals. Allein die Quantität erleichten es mir schon. Das, was Dovifat fast im Alleingang zu tun hatte, verteilt sich jetzt auf mehrere Schultern. Weiß: Nein. Ich sitze nicht auf dem Lehrstuhl von Dovifat. So groß kann der Stuhl gar nicht sein, daß da zehn, zwölf Leute drauf sitzen. Zerdick: Nein. Würde ich auch nicht wollen. Ich finde, daß es da klare Brüche gegeben hat zum Beispiel mit Eberhard, und an diesen Brüchen hänge ich auch.
13. Stehen Sie in der Tradition von Emil Dovifats Forschung und Lehre?
Baerns: So gefragt: Nein. Erbring: Nein. Selbst als Gründer sehe ich Dovifat ja nicht. Gründer des Zeitungswissenschaftlichen Instituts ist eigentlich Mohr. Dovifat war Assistent bei Mohr. Göpfert: Natürlich empfinde ich das als eine gewisse Tradition, daß ich hier sitze, aber inhaltlich würde ich das differenziert sehen. Das kann ja auch gar nicht anders sein, dafür ist die Zeit viel zu weit fortgeschritten, als daß man noch von einer inhaltlichen Tradition sprechen könnte. Historisch ja. Haarmann: Mitnichten. Ich sehe meine Forschungen und meine Lehre eher in der Linie einer kritischen Theorie, die Kommunikation als Voraussetzung und Ergebnis menschlicher Gesellschaft versteht. Insofern knüpfen meine Überlegungen eher bei der Frankfurter Schule und ihren Schülern an, als bei einer Tradition, die — zumal im Falle Dovifat — aus dem dunklen Schatten des deutschen Faschismus nie ganz heraustreten konnte. Posner-Landsch: Nein. Jeder sollte erst einmal seine eigene Tradition begründen. Denn das ist für mich Fortschritt der Wissenschaft und nicht: Ich knüpfe jetzt da an. Natürlich muß ich mich auseindersetzen. Ruß-Mohl: Inhaltlich nicht. Wenn es aber darum geht herauszuarbeiten, wie wichtig Aus- und Weiterbildung für Journalisten ist, dann ganz bestimmt doch. Sösemann: Das Wort „Tradition" ist zu wenig konturiert, als daß man diese Frage mit „Ja" oder „Nein" beantworten kann. Jedenfalls habe ich nicht in dem Bewußtsein hier angefangen, das Lebenswerk von Dovifat fortzusetzen, das wäre mir auch als große Anmaßung erschienen. Denn
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so breit wie das Interesse von Dovifat gelagert war, so breit wie er gearbeitet hat, so vielfältig — da kann er in unserer Zeit nicht von einer Person „fortgesetzt" werden. Ich stehe in der Tradition der historischen Fragestellungen, die Dovifat interessiert haben. Da überschneiden wir uns. Obwohl ganz klar ist, wenn ich sage, ich fühle mich in diesem einen Traditionsstrang, muß ich gleichzeitig sagen, daß ich ihn anders auffasse, interpretiere und umsetze in Lehre und Forschung als Dovifat. Aber jeder, der in Berlin ist, steht damit — ob er will oder nicht — in einer Tradition des Instituts, und dazu gehört Dovifat wie Eberhard und Löckenhoff. Weiß: Nein. Zerdick: Nein. Ich stehe in der medienpolitischen und medienethischen Tradition von Eberhard.
14. Warum würden Sie einer Umbenennung unseres Instituts in EmilDovifat-Institut zustimmen bzw. dieses ablehnen? Baerns: Ich sehe nicht ein, warum man ein Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in der inzwischen erreichten Differenzierung Emil-Dovifat-Institut nennen sollte. Erbring: Ich würde es ablehnen, weil Dovifat — mit Blick auf das schon Gesagte, was die journalistische Ethik angeht — eine Position vertritt, die ich für außerordentlich schädlich halte und mit der ich mich nicht identifizieren will und mit der ich auch das Institut nicht identifizieren will. Das ist das eine. Zum anderen ist es die Perspektive der „Produzentenseite", wo ich dann doch ein bißchen herummäkeln würde. Aus heutiger Sicht ist eine derartige Publikumsverachtung, die hinter Dovifats Prämissen steckt, auch kein Aushängeschild, unter dem ich heute Publizistikwissenschaft betreiben möchte. Göpfert: Das würde ich ablehnen, weil er zu umstritten ist und zu sehr polarisiert. Und ich glaube auch nicht, daß sein Verhalten in der NaziZeit geeignet ist, unbedingt als Vorbild zu dienen, und das hätte für mich schon eine große Vorbildfunktion, wenn man das ganze Institut nach ihm benennt. Haarmann: Eine Umbenennung nach Dovifat befürworte ich nicht. Posner-Landsch: Ich würde es ablehnen aus dem Kerngrund heraus, daß wir nicht Verbiegung zum Prinzip von Lehre machen dürfen. Und das wäre für mich ein symbolischer Akt, wo das sehr deutlich würde. Also
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dann würde ich sturmlaufen. Im Falle von Dovifat hielte ich es für unerträglich, wenn das Institut den Namen bekäme. Das ist durchaus anders zu sehen als Meinecke. Wenn man Wissenschaft in der entsprechenden Zeit sieht, hat Dovifat sicher seine Meriten, aber heute können wir nicht mehr auf ihn zurückgreifen, da er es nicht gewagt hat, nach dem Zusammenbruch 1945 seine eigene Position zu überdenken, neue Dinge zu denken und Perspektiven zu setzen in die Zukunft. Daß er in den fünfziger Jahren seine Bücher so belassen hat wie sie vorher waren, das ist ihm ganz eindeutig vorzuwerfen. Ruß-Mohl: Ich würde es eher für eine unglückliche Initiative halten, weil die Spannweite dessen, was wir betreiben, doch sehr viel größer ist als das, was Dovifat betrieben hat, und weil ich eben auch weiß, wie umstritten die Figur Dovifat nach wie vor im Blick auf die Gratwanderung im Dritten Reich ist. Also von mir aus wird es eine solche Initiative sicher nicht geben. Auf der anderen Seite, wenn es einen Mehrheitsbeschluß gäbe, hätte ich damit keine sonderlich großen Probleme. Sösemann: Das Fach Publizistik war — anders als das Fach Geschichte oder das Fach Politologie — in seinem Selbstverständnis nie etabliert und ist auch jetzt als Kommunikationswissenschaft noch nicht so scharf konturiert. Und dort, wo es so scharf konturiert ist, kann es sich um so weniger als Emil-Dovifat-Institut verstehen. Es ist heute nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar, Institute nach einzelnen Personen zu benennen. Dann müssen sie so unmittelbar noch in die Arbeit hineinwirken, daß die Beteiligten am Institut sich dort auch wiederfinden. Und das ist in der heutigen Zeit nicht mehr möglich — bei allen moralischen, wissenschaftlichen und persönlichen Qualitäten, die Dovifat hat. Grundsätzlich halte ich es aber für gut, derartige Diskussionen zu beginnen, weil sie dazu führen, sich der eigenen Position bewußter zu werden. Solche Diskussionen sind letztlich wichtiger als die Benennung nach einer Person. Denn die Benennung nach einer Person stellt zwar eine Profilierung, eine schärfere Konturierung dar, aber gleichzeitig auch eine Verengung. Weiß: Diese Wiederbelebungsversuche habe ich aus der Ferne verfolgt. Ich empfinde sie als Wiederbelebungsversuche am falschen Objekt. Ich sehe nicht die Eindeutigkeit in der Person, in der Arbeit und auch nicht in der Bedeutung aus heutiger Perspektive, als daß es sich lohnen würde, ihn aus Traditionsgründen wieder auszubuddeln. Da könnte ich mir ganz andere Namensgebungen vorstellen als eine, die auf ihn rekurriert. Ich würde dann schon solche Namen bei den großen Emigranten su-
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chen. Wenn man das Institut hier Lazarsfeld-Institut nennen würde, dann hätte ich keine Probleme. Zerdick: Nein. So kraß ablehnen, wie es nur irgend geht. Ich sage das ganz hart: Das ist wirklich pygmäen- und zwergenhaft. Wenn eine solche Nicht-Disziplin wie die Publizistik sich mit formalen Ähnlichkeiten versuchen wollte aufzuschwingen zu dem Niveau der Historiker oder Politologen — also zu einem Friedrich Meinecke in der Geschichte oder einem Otto Suhr in der Politikwissenschaft: das zählt! —, aber jemand, der als einziger bei irgendeinem Fach wie der Zeitungslehre gesagt hat, da müßte man auch mal darüber reden und der ja zurecht Jahrzehnte lang allein geblieben ist: den jetzt in eine vergleichbare Rolle reinzubringen, das wäre absurd. Anders bei Eberhard, das hatten wir ernsthaft überlegt, ob man das machen kann. Und Noelle-Neumann hatte dann den Vorschlag gemacht, das geht nicht, ihr könnt nicht nur Eberhard oder nur Dovifat wählen, wenn ihr sowas schon macht, dann macht „Dovifat/Eberhard", dann habt ihr beide Traditionen drin. Da konnten wir nur sagen, die würden sich wohl beide im Grab rumdrehen, wenn wir das machen, also geht das auch nicht.
15. Welche Wissenschaftler haben die entscheidenden Impulse gegeben für das heutige Profil des Instituts für Publizistik?
Baerns: Alle, die hier im Laufe der Zeit lehrten, haben sicher einen gewissen Einfluß. Dennoch denke ich, daß man das Profil der heutigen Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Berlin nicht allein aus der Berliner Szene, wenn ich das einmal so sagen darf, erklären kann. Erbring: Ich denke schon, daß Eberhard — nicht so sehr in dem, was er selber gemacht hat —, aber in dem, was er an Umfeld, an Förderung, an Offenheit hineingebracht hat für das Berliner Institut, sehr wichtig war. Ich würde das gleiche nicht von Pross sagen, obwohl sicherlich manche Leute das so sehen würden, aber da fehlt mir dann dort doch die wissenschaftliche Systematik, das ist mir zu viel Wortqualm, auch heute noch. Aber Eberhard hat gerade vor dem Hintergrund Dovifat eine Öffnung und eine Liberalität hineingetragen, die für das Institut wichtig war. Unabhängig davon, daß nach seinem Weggang eine ganze Zeit lang ziemlich wenig von dem, was er hineingetragen hat, hier anzutreffen war. In den siebziger Jahren war das Institut sicherlich kein Aushängeschild für die Liberalität von Herrn Eberhard, eher das Gegenteil.
Emil Dovifat und das Institut für Publizistik
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Göpfert: Damit habe ich mich nicht so auseinandergesetzt, als daß ich jetzt sagen könnte, ob es überhaupt eine Berliner Linie gibt. Mir erscheint sie in den fünf Jahren, in denen ich hier bin, eher sehr diffus und auseinandergerissen, also ich kann sie gar nicht erkennen. Und nach meinem heutigen Eindruck würde ich es verneinen, daß Dovifat, Eberhard oder Pross im Sinne einer Schulbildung wirksam gewesen sind. Haarmann: Für mich sind es Eberhard und Pross, die — weil so konträre Persönlichkeiten — das breite Spektrum dessen, was heute unter Berliner Publizistik firmieren kann, vorbereitet haben, ohne jedoch programmatisch darauf hingewirkt zu haben. Posner-Landsch: Pross. Und manche würden noch sagen Eberhard. Aber Eberhard hat für das Profil nichts beigetragen. Eberhard war immer schmückendes Beiwerk, aber wirklich gearbeitet hat Pross. Und die anderen nicht. Ruß-Mohl: Dovifat erstmal insofern, als es ohne ihn wahrscheinlich den ganzen Laden an der FU nicht gäbe. Pross mit Blick auf die Semiotik, in der er die Akzente gesetzt hat, die von bleibendem Wert sind. Und Eberhard selber hat zwar nicht als Empiriker gearbeitet, aber doch sehr stark die empirische Forschung angeregt und insofern auch sicherlich Spuren hinterlassen. Bis Mitte der achtziger Jahre hat das Institut dann nicht mehr sehr viel Profil gehabt; jedenfalls ist das von außen so wahrgenommen worden. Sösemann: Aus der Göttinger Perspektive war es Dovifat. Das heutige Profil ist schwer zu beurteilen von Personen, die an der jeweiligen Institution tätig sind. Wäre ich Außenstehender, dann würde ich sagen: das Institut hat nicht ein einziges, klares Profil. Vielleicht wird man das besser beurteilen können, wenn man noch einmal zehn Jahre wartet. Weiß: Das entscheidende Profil wurde wissenschaftspolitisch gegeben, indem hier in einer bestimmten Zeit massiv interveniert und das Institut umgestaltet worden ist. Es wäre Geschichtsklitterei, wenn man jetzt sagen würde, da gab es eine Wissenschaftstradition, die durch Kooptierung in einer bestimmten Art und Weise bewahrt oder fortgeschrieben worden ist. Das, was das Berliner Institut erlebt hat, ist eine Geschichte, die von ein paar einzelnen Wissenschaftlern geschrieben worden ist. Es gab Phasen mit bestimmten Prägungen. Und so würde ich mir auch mit Kritik und Respekt die Dovifat-Phase anschauen, die Eberhard-Phase, die Pross-Phase, die ja dann auch schon sehr stark von Diadochen geprägt war. Und dann in der Phase Mitte der achtziger Jahre, als das Institut ziemlich auf der Nase lag, gab es eine massive, durchaus auch konserva-
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Andreas Kühler
tive hochschulpolitische Rettungsaktion. Aber das hat mit einer Wissenschaftstradition nicht viel zu tun. Zerdick: Eberhard ist ganz klar; ganz wichtig. Eberhard steht für anständigen Journalismus und für Antikonzentrationsstrategien; das sind die Komponenten, die ich mit ihm in Verbindung bringen kann. Im Gegensatz zu Dovifat hat Eberhard durch sein persönliches politisches Vorbild gewirkt. Und Impulse jetzt für dieses Institut, so wie es heute real existiert? Schwer zu sagen. Die Facetten wurden von den einzelnen Personen weitergetragen. In der Form und im Inhalt verbunden mit theoretischer Reflexion — das ist Pross. Dann: Journalismus mit der Ausprägung kritischer Journalismus, Ausbildung, Weiterbildung — das ist Alexander von Hoffmann. Wobei er durch seine Lehre und andere Dinge mehr gewirkt hat als durch irgendwelche Bücher. Pressekonzentration — das war damals Aufermann. Klar: und auch Knoche und ich. Aber das ist alles eine dunkle Zeit. Und die beiden — Knoche und Aufermann —, die wirklich theoretisch was gemacht haben, sind rausgedrängt worden.
BILDTEIL
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Emil Dovifat im Jahr 1913
Enthüllung des Goerres-Denkmals in Koblenz 1928. Emil Dovifat legte im Namen des „Reichsverbandes der Deutschen Presse" einen Kranz nieder, dessen Schleife die Inschrift trägt: „ Unserem großen Vorbild/Die Deutschen Journalisten".
„Nach Wittenberg zur Lutherstadt — Nur mit Professor Dovifat", war das Motto der Studenten, als sie mit ihrem akademischen Lehrer am 27. Juli 1932 zu einem Ausflug aufbrachen.
Emil Dovifat mit seiner Ehefrau Käthe geb. Riemer (1.XL 1885—16.XII. 1971) im Jahr 1944
JFKEIE UNIVERSITÄT BERLIJV
WINTERSEMESTER 1948/49
VORBEMERKUNG
Das vorliegende Verzeichnis gibt Rechenschaft über das erste Semester, mit dem die Freie Universität Berlin am 15. November 1948 ihre Lehrtätigkeit begann. Der Druck konnte erst gegen Ende Februar des Jahresl949 abgeschlossen werden,da der Lehrplan nachträglich noch durch Vorlesungen neuberufener Dozenten erweitert wurde.DieVeröffentlichung hat somit in erster Linie historischen Wert: als Dokument einer Arbeit, die für die Wahrung der geistigen Freiheit Berlins gegen die Bedrohung durch die Blockade bedeutsam bleiben wird. Berlin-Dahlem, am 28. Februar 1949 FRIEDRICH MEINECKE
EDWIN REDSLOB
Rektor der Freien Universitit Beilin
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Vorbemerkung zum ersten Vorlesungsverzeichnis
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