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German Pages 302 Year 2023
André Häger André Gorz und die Verdammnis zur Freiheit
Edition Politik Band 47
André Häger (Dr.), geb. 1980, lehrt Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg.
André Häger
André Gorz und die Verdammnis zur Freiheit Studien zu Leben und Werk
Inauguraldissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald. Disputation: 23.11.2016 Dekan: Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlmann Erstgutachter: Prof. Dr. Hubertus Buchstein Zweitgutachter: Prof. Dr. Harald Bluhm
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© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839439821 Print-ISBN 978-3-8376-3982-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3982-1 Buchreihen-ISSN: 2702-9050 Buchreihen-eISSN: 2702-9069 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
Vorwort und Danksagung | 7 A. Einleitung | 9
I. Einblicke in die Forschung | 10 II. Exposition der These | 21 III. Methodische Reflexion | 27 IV. Zum Aufbau der Arbeit | 34 B. Die Verdammnis zur Freiheit | 39
I. Was ist Existentialismus? | 39 II. Existentialistische Motive | 45 III. Existentialistisches Denken beim späten Gorz | 61 C. Bemerkungen zum Leben | 79
I. Literarische Fiktion oder Autobiographie? | 79 II. Kindheit und Jugend | 85 III. An der Seite Dorines | 100 IV. Der Journalist und das Schreiben | 121 V. Der Freitod | 134 D. Zwei Studien zum Denkraum | 143
I. Adieux au Sartre? | 143 II. Das Verhältnis zu Marx und zum Marxismus | 164 E. Zwei Studien zum Werk | 213
I. Die Hinwendung zur Ökologie | 213 II. Die Analyse und Kritik der Wissensökonomie | 239 F. Schüler oder Meister? | 265 Literaturverzeichnis | 269
Briefwechsel | 269 Gespräche und Hörfunk-Features | 273 Schriften von André Gorz | 274 Literatur | 279
Vorwort und Danksagung
Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner im April 2016 an der Universität Greifswald eingereichten Dissertationsschrift. Sekundärliteratur zu André Gorz, die im Jahr 2016 oder danach erschienen ist, wurde in der vorliegenden Studie nicht mehr berücksichtigt. Zahlreiche Personen haben mich dabei unterstützt, die Idee zu diesem Buch zu entwickeln, zu präzisieren und schließlich zu realisieren. Der erste Dank geht an meinen akademischen Lehrer Harald Bluhm, der die Betreuung wie Zweitbegutachtung der Arbeit übernahm und auf dessen Rat und Unterstützung ich in allen Phasen des Projektes bauen konnte. Sein steter Zuspruch, seine nie erlahmende Diskussionsbereitschaft, später dann, im Fortgang der Beschäftigung, seine Ermutigungen wie kritischen Nachfragen und sein Vertrauen hatten großen Anteil am Gelingen dieser Arbeit. Hubertus Buchstein, an dessen Greifswalder Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte ich im Herbst 2008 eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter angetreten habe, hat die Entstehung meines Forschungsprojektes ebenfalls begleitet. Für die hervorragende Arbeitsatmosphäre an seinem Lehrstuhl sowie insbesondere im Greifswalder Kolloquium, das ich als besonderen Ort der intellektuellen Begegnung und Bereicherung in Erinnerung behalten werde, danke ich ihm ebenso wie für die Erstbegutachtung meiner Arbeit. Auf Anregung von Harald Bluhm besuchte ich im Sommer 2011 Rainer Land, der André Gorz persönlich kannte. Diese Begegnung war der Beginn einer Reihe von Gesprächen, in denen ich wertvolle Einsichten erfahren habe. Für den herzlichen Empfang und die Gesprächsbereitschaft danke ich Rainer Land, Otto Kallscheuer, Stefan Meretz, Claus Leggewie, Erich Hörl, Daniel Cohn-Bendit, Dick Howard und Hans Leo Krämer. Für die großzügige Bereitstellung und Überlassung von Briefen bin ich insbesondere Stefan Meretz und Erich Hörl verbunden. Claus Leggewie vermittelte den Kontakt zu Wolfgang Stenke, der so
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freundlich war, mir das Skript eines Hörfunk-Features des WDR aus dem Jahr 1986 zur Verfügung zu stellen – auch hierfür vielen Dank. Dem Wiener Stadt- und Landesarchiv bin ich für die Übermittlung von hilfreichen Informationen, Susanne Fritsch-Rübsamen für die persönliche Betreuung vor Ort und per Schriftverkehr verpflichtet. Dienliches Material habe ich auch durch Forschungsaufenthalte am Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine (IMEC) in Frankreich erhalten. Den MitarbeiterInnen möchte ich für die freundliche Unterbringung und Unterstützung sowie für ihre Nachsicht gegenüber meinem Fränzösisch danken. Eine großzügige Förderung habe ich durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung erhalten, die mir nicht nur ein Promotionsstipendium gewährte, sondern auch den Besuch der École Internationale Alliance Française in Paris sowie die Forschungsaufenthalte am IMEC ermöglichte. Neben den MitarbeiterInnen des Studienwerkes gilt mein Dank hier insbesondere Axel Rüdiger. Der abschließende und wichtigste Dank gebührt zwei Frauen: Carina Beck und meiner Tante Astrid Häger. Und das für ausdauerndes Korrekturlesen und Tilgen von orthographischen Ungereimtheiten ebenso wie für die aus ihrer sorgfältigen Lektüre hervorgegangenen Anregungen, ohne die viele Passagen in unzugänglicher Gestalt geblieben wären. Gleichwohl, und wie man zu sagen pflegt: für den Inhalt des Nachstehenden bin ich allein verantwortlich. Das Buch möchte ich meinen Eltern widmen. Halle, im August 2017 André Häger
A. Einleitung
Das Ziel dieser Arbeit ist, die Ideen von André Gorz zu ordnen. Zentral ist dabei die Frage, wie sich seine Ideen sinnvoll ordnen lassen. Das intellektuelle Schaffen von Gorz systematisch zu erfassen ist ein schwieriges Unterfangen, denn er wirkte als Philosoph, Journalist, Politikstratege und Literat;1 sein Gesamtwerk ist ebenso umfangreich wie breit gefächert und umfasst so unterschiedliche Bereiche wie Moral, Ökologie, Arbeit, Wissen und Liebe. Doch im Epizentrum seines Denkens – so die zentrale These der Arbeit – steht ein existential-philosophisches Freiheitsdenken, das in der Formel ›Verdammnis zur Freiheit‹ Gestalt gewinnt. In seinem Werk ist die existentialistische Grundhaltung von Gorz jedoch nicht durchgängig augenscheinlich. Vielmehr erhält der existentialistische Denkansatz in vielen seiner Schriften einen politisch-praktischen Anstrich und kommt in kritischen Zeitdiagnosen wie gesellschaftspolitischen Entwürfen zum Ausdruck. Lässt man sich aber von dem politisch-praktischem Augenschein nicht irreführen und setzt bei den existentialistischen Motiven seines Denkes an, so die Grundüberlegung der nachstehenden Ausführungen, findet sich ein weit reichender Schlüssel zum Verständnis seines Lebens wie Werkes.
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Im Folgenden verwende ich zwecks besserer Lesbarkeit das generische Maskulinum. Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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I.
E INBLICKE
IN DIE
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Gorz wird wenig,2 dafür aber auf divergierende Weise gedeutet. Die einen erklären ihn zu einem Erben der Phänomenologie, andere, vor allem in Frankreich, sehen in ihm einen politischen Ökologen, in Deutschland liest man ihn vornehmlich vor einem marxistischen Hintergrund und aus dezidiert marxistischer Perspektive werden seine Ideen als »Apologie der Klassenkollaboration« abgetan (Sève 1978: 78). Die Skizze des Forschungsstandes und einiger Desiderata ist konzentriert auf das Ordnen der verschiedenen Interpretationen seines Werkes zu Grundrichtungen von Deutungen und darin involviert auf das Identifizieren von offenen Fragen und Problemen. Vorangestellt sind Verweise auf aktuellste Bezüge. Dass ein aktuelleres, wenngleich nicht wirklich ausgeprägtes, Interesse an Gorz besteht, ist insbesondere in Deutschland und in Frankreich zu beobachten. In Frankreich sind ab den 2000er Jahren verschiedene Schriften erschienen, die Gorz’ intellektuelles Schaffen würdigen.3 Ein Band besonderer Art liegt mit der von Christoph Fourel (2009) herausgegebenen Textsammlung vor, in der neben einigen französischen Autoren auch wichtige Gesprächspartner aus Belgien und Italien zu Wort kommen. Beigestellt sind unveröffentlichtes Material sowie Raritäten von Gorz; so seine frühe und noch mit Gerhart Horst4 gezeichnete Auseinandersetzung mit Kafka und dem Problem der Transzendenz (Gorz 1945) sowie sein Brief an Che Guevara (Gorz 1968a). Eine weitere Würdigung in Frankreich hat der ausgewiesene Sartre-Kenner Michel Contat (2009) mit seinem Kommentar vorgelegt. Contat, ein enger Freund des hier interessierenden Autors, kommentiert aus persönlicher Nähe und legt den Akzent auf ausgewählte Aspekte des intellektuellen Schaffens sowie Lebens von Gorz, wobei insbesondere die Beziehung zu seiner Frau Dorine akzentuiert wird. Mit einem von Ralf Zwengel (2009) herausgegebenen Sammelband und einer von Hans Leo Krämer (2013a) erstellten Dokumentation über einen Kon2
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Für einen der seltenen Überblicke zum politischen Denken der Gegenwart aus Frankreich, der neben berühmten Denkern wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu auch André Gorz Platz einräumt, vgl. Altwegg/Schmidt 1987. Die Würdigung von André Gorz in Frankreich kann gar mittels eines Kuriosums angezeigt werden: Wer nämlich in Paris weilt und über die Muße zum Flanieren entlang der Seine verfügt, dabei das weltberühmte Musée d’ Orsay passiert und dann weiter Richtung Eiffelturm spaziert, der wird sich auf der von der Stadt jüngst eingeweihten »Promenade des Berges de la Seine André Gorz« befinden. Den Hinweis hierauf verdanke ich Hans Leo Krämer, Gespräch mit A.H. am 25. Februar 2014 in Prag. Gerhart Horst ist der bürgerliche Name von André Gorz.
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gress in Saarbrücken lässt sich eine aktuellere deutschsprachige Rezeption ausmachen. Für das angesprochene Interesse steht mit der deutschen Ausgabe der zuerst in Frankreich erschienenen Schrift von Arno Münster (2008) eine Gesamtdarstellung mit Auskünften zu Leben und Werk bereit. Allerdings lässt diese Darstellung in zwei Punkten Wünsche offen. Erstens ist die Auseinandersetzung mit Gorz eine einführende und keine grundlegende Interpretation von Leben und Werk. So bleiben nicht nur markante Facetten der Biographie ausgespart, sondern auch mit zentralen Begrifflichkeiten wird sich nur andeutungsweise auseinandergesetzt. Und zweitens ist diese Schrift nicht ganz frei von Fehlern.5 Beide Punkte münden in den Befund: Mit Blick auf dienliche Auskünfte zu Leben und Werk von Gorz besteht im deutschen Sprachraum noch Nachholbedarf. Eine erste Grundrichtung von Gorz-Deutungen repräsentieren Autoren wie der US-Amerikaner Dick Howard (2013) und der Engländer Finn Bowring (2000). Beide Autoren heben den philosophischen Bezug zur existentiellen Phänomenologie hervor. Schon der Titel von Bowrings Studie, »André Gorz und das Sartreanische Erbe« (Ü.d.Verf.)6, ist dafür typisch. Hier werden Gorz’ frühe Schriften und damit sein Operieren im Feld der Philosophie, sprich, der existentiellen Phänomenologie, nicht nur als Ausgangspunkt seines Denkens begriffen, sondern »Gorz’ Background in existentieller Phänomenologie« (Bowring 2000: viii; Ü.d.Verf.)7 und seine Nähe zu Sartre werden als entscheidend für sein gesamtes Werk verstanden. Howard, der Gorz seit Mitte der 1960er Jahre persönlich kannte und ihn nie aus den Augen verlor (vgl. u.a. Howard 2002: 170), äußerte sich umfassender in einem auch im Deutschen zugänglichen Aufsatz (Howard 2013). Zwar folgt auch er hier der Klassifikation von Gorz als Vorläufer und Vordenker linker
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In den Ausführungen finden sich immer wieder Fehler, die die Lektüre der Schrift teilweise erschweren. Das betrifft vor allem die Handhabung der Literatur, die stellenweise irreführend ist. Über Seiten hinweg tauchen Zitate auf, die in den Fußnoten angegeben werden mit »André Gorz, Reform und Revolution, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1971, S. 208-209« (Münster 2008: 71-75). Eine Veröffentlichung mit einem derartigen Seitenumfang sucht man in deutscher Sprache vergeblich. Auch die Angabe, dass Gorz’ Schrift Métamorphoses du travail (1988) in deutscher Sprache als Kritik der ökonomischen Vernunft im Jahr 1967 erschienen sein soll, ist unrichtig (vgl. Münster 2008: 37). Hierbei dürfte es sich um eine Verwechselung mit Jean-Paul Sartres Schrift Kritik der dialektischen Vernunft handeln, die im Jahr 1967 in deutscher Fassung im Rowohlt Verlag erschienen ist, vgl. Sartre 1960b. Im Original: André Gorz and the Sartrean Legacy. Im Original: »Gorz’s background in existential phenomenology«.
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ökologischer Politik, jedoch stellt er, im Unterschied zur ersten Deutungsrichtung, entschiedener auf die philosophischen Voraussetzungen des gesamten Denkens bei Gorz ab. In seiner Relektüre der Schriften von Gorz, die bei Le traître (1958), La Morale de l’histoire (1959) und den spät veröffentlichten Fondements pour une morale (1946-1955)8 ansetzen, tritt die existentielle Phänomenologie als Basis des Denkens von Gorz ebenso hervor, wie verdeutlicht wird, dass ohne Philosophie auch kein Verständnis des Politischen, das in kritischer Differenz zur empirisch-faktischen Politik steht, gewonnen werden kann. In dieser Perspektive bilden ein philosophisches Konzept von Autonomie und Freiheit das Zentrum von Gorz’ Arbeiten. Ähnlich wie Howard setzt auch Bowring seinen Schwerpunkt. Er hat innerhalb des angelsächsischen Sprachraums die wichtigste Gesamtdarstellung vorgelegt. Neben einer Besprechung der Neuen Linken in Frankreich, wo Gorz bereits im Titel auftaucht (Hirsh 1981), liegen mit der Schrift von Adrian Little (1996) sowie der von Conrad Lodziak und Jeremy Tatman (1997) noch weitere Gesamtdarstellungen vor. Indessen Little wie auch Lodziak und Tatman über einführende Auskünfte zu Leben und Werk von Gorz nicht hinauskommen, legt Bowring den Akzent entschieden auf die existentielle Phänomenologie. Auch er definiert diese als Basis des Gorz’schen Denkens, stellt aber neben Jean-Paul Sartre noch einen anderen Referenzautor heraus. Gorz’ Werk verdanke nämlich nicht nur »viel dem Existentialismus von Sartre«, sondern habe »auch viel gemeinsam mit der Phänomenologie Merleau-Pontys« (Bowring 2000: 186; Ü.d.Verf.).9 Für Bowring (2000: viii; Ü.d.Verf.)10 ist Gorz »einer der eloquentesten und spannendsten Sozial-Denker« unserer Zeit, der vor allem durch seinen engen Bezug zu den genannten Referenzautoren als ein existential-philosophischer Denker zu begreifen sei. Gorz’ Verständnis von Arbeit, seine ökologische Kritik der Wachstumsorientierung, sein Problem mit dem habermasiani-
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Diese Schrift wurde erst im Jahr 1977 bei Galilée veröffentlicht. Das Zitat entstammt dem Afterword: A Conservation with André Gorz. Hier äußert Finn Bowring gegenüber Gorz im Original und in vollem Wortlaut: »I have shown in my book how your work owes a great deal to the existentialism of Sartre, but that your thinking also has much in common with Merleau-Ponty’s phenomenology.« Vor allem aufgrund Merleau-Pontys Schrift Phénoménologie de la perception wird dessen Phänomenologie als eine der Wahrnehmung verstanden, vgl. Merleau-Ponty 1945. Äußerte sich Gorz (1958: 285 und 287) zunächst zu Merleau-Ponty und insbesondere zur genannten Schrift überaus positiv, so sparte er, wie Dick Howard (2013: 65; Anm. 33) bemerkt, »mit Verweisen auf Merleau-Ponty nach dessen Streit und Bruch mit Sartre«. Dieser Aspekt ist bei Bowring nicht thematisiert. 10 Im Original: »one of the most eloquent and exciting social thinkers«.
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schen Denkansatz und vieles andere mehr seien genuin existential-phänomenologische Themen. Erst die Erhellung von Gorz’ geistiger Herkunft aus der existentiellen Phänomenologie ermöglicht nach Bowring (2000: ix; Ü.d.Verf.)11 »ein reichhaltigeres Verständnis« von dessen Werk. Wiewohl diese Schrift eine der besten Darstellungen über den in Rede stehenden Autor repräsentiert, haftet ihr das Manko der Unvollständigkeit an, da das Spätwerk des Gorz’schen Wirkens zu jenem Zeitpunkt noch nicht vorlag. Vor allem Thematiken, wie sie Gorz mit jüngeren Fragestellungen bezüglich der Wissensökonomie aufgeworfen hat, bleiben zwangsläufig bei Bowring unberücksichtigt. Eine zweite Grundrichtung von Gorz-Deutungen, die in gewisser Weise für Frankreich typisch ist, repräsentieren Autoren wie Françoise Gollain (2000; 2014), Enzo Lesourt (2011) und der bereits amgeführte Arno Münster (2008). Gollain hebt darauf ab, dass Gorz ein Theoretiker der politischen Ökologie sei, dessen zentrale Problemstellung die Arbeit »als dominantes Organisationsprinzip unseres Lebens« ist (Gollain 2000: 7; Ü.d.Verf.).12 Folgerichtig bedarf Gollain einer breiten Definition von politischer Ökologie, um Gorz’ Kritik der Arbeit in den Rahmen der Ökologie stellen und ihn als Denker der politischen Ökologie verhandeln zu können. Dies gelingt, indem Ökologie mit Rekurs auf Ivan Illich als ein Humanismus verstanden wird,13 wobei politische Ökologie als Kampf für die Öffnung der Ökonomie gegenüber der Biosphäre und für die Erhaltung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung von Individuen und Gruppen gegen den Ausbau der ökonomischen Logik und der technokratischen Macht entwickelt wird. Gorz zeichnet sich in dieser Perspektive als geistiger Verwandter Illichs und Theoretiker eines Öko-Sozialismus aus, welcher Heteronomie als konstitutiv für die gesellschaftliche Arbeit erkennt. Seine Kritik der Arbeit ziele auf eine Verteidigung der Autonomie der Individuen und kulminiere im gesellschaftlichen Entwurf eines Öko-Sozialismus, der durch eine Neugewichtung von Arbeit und Leben, von Heteronomie und Autonomie, gekennzeichnet ist. Vor ein paar Jahren ist eine weitere, kleinere, Schrift von Gollain (2014) erschienen, die Gorz wiederum als politischen Ökologen einführt und seine Gedanken zum ÖkoSozialismus im Ausgang seiner Kritik der kapitalistischen Arbeitsteilung darlegt, indes massive Arbeitszeitverkürzung sowie Aufbau einer Gesellschaft der freien Zeit – und nicht der Freizeit – als zentrale Aspekte seines Öko-Sozialismus herausgestellt werden.
11 Im Original: »a richer understanding«. 12 Im Original: »comme principe organisateur dominant de notre vie«. 13 Bei Gollain heißt es: »L’écologie est un humanisme« [»Die Ökologie ist ein Humanismus«] (Gollain 2000: 47; Ü.d.Verf.).
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Auch Enzo Lesourt (2011) deutet Gorz als politischen Ökologen. Für Lesourt erkennt Gorz in der politischen Ökologie ein probates Mittel, um seinem »existentialistischen Weg eine politische Konstitution zu geben« (Lesourt 2011: 23; Ü.d.Verf.).14 Obgleich die existential-philosophischen Bezüge hier stark gemacht werden, erscheinen sie als bloße Vorrede zur politischen Ökologie. Um Gorz’ Denken durch das Prisma der politischen Ökologie betrachten zu können, muss auch Lesourt einen äußerst breiten konzeptionellen Rahmen der politischen Ökologie etablieren. Dabei ist er darauf bedacht, zu entwickeln, dass politische Ökologie im Zusammenhang mit Gorz nicht auf eine Verteidigung von Umwelt, Klima oder Biosphäre reduziert werden kann. Vielmehr müsse »die politische Ökologie als Rückeroberung des Subjekts« (Lesourt 2011; Ü.d.Verf.)15 verstanden werden. Erst mit einem solchen Verständnis kann er Gorz’ Denkweg als einen von Jean-Paul Sartre zu Ivan Illich interpretieren, als werkgeschichtlichen Pfad, der vom existential-philosophischen Freiheits- und Subjektdenken zur Konkretisierung dieses Denkens in der politischen Ökologie führe. Lesourts interpretatorischer Skizzierung eines geradlinigen Denkweges von der Existentialphilosophie zur politischen Ökologie widerspricht Arno Münster (2008) in seiner Einführung zu Leben und Werk. Gorz ist zwar auch für Münster primär ein Vertreter der politischen Ökologie, wird neben Illich gar als »deren Haupttheoretiker« genannt (Münster 2008: 23). Doch bevor er Haupttheoretiker der politischen Ökologie wurde, so Münster (2008: 58), »erfolgt in André Gorz’ Denken eine Wende«. Seine in unterschiedlichen Fassungen entwickelte These lautet: Gorz’ Denken habe sich »im Schatten Sartres« entwickelt, sei sukzessive aus diesem herausgetreten und münde schließlich durch die Wende zum ÖkoSozialismus in ein »autonomes Werk« (Münster 2008: 22). Akzentuiert wird dabei ein »philosophisch-politischer Kurswechsel«, der in den 1970er Jahren beobachtet wird, und zwar anhand »der Weigerung Gorz’, auf den promaoistischen Kurs von Sartre und Simone de Beauvoir einzuschwenken« und anhand seiner »eindeutigen und entschiedenen Hinwendung zur politischen Ökologie« (Münster 2008: 22f.). Eine zweite Grundrichtung von Gorz-Deutungen, die insbesondere in Deutschland vorgetragen wird, liest ihn stärker vor einem marxistischen Hintergrund. Hier setzt man zumeist bei der ersten in deutscher Sprache erschienenen
14 Im Original und in vollem Wortlaut: »L’écologie politique est, pour lui, le moyen de donner une constitution politique à son cheminement existentialiste«. 15 So der Untertitel der Schrift, der im Original lautet: »l’écologie politique comme reconquête du sujet«.
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Schrift Stratégie ouvrière et néocapitalisme (1964)16 an und betrachtet das Fruchtbar-Machen des Gehalts eines undogmatischen Marxismus für die Praxis der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen als für das Œeuvre zentral. So kann Gorz als Marxist und »Theoretiker der Arbeiterbewegung«, der »über ›neue Strategien‹ der Arbeiterbewegung im ›Spätkapitalismus‹« nachdenkt (Altvater 2009: 99), identifiziert werden, der dann aber mit »seinem Ketzer-Buch ›Abschied vom Proletariat‹ […] überraschend aus der ›Sankt-Marx‹-Kirche« im Jahr 1980 austritt (DER SPIEGEL 1981: 222) und eine »Revision bisheriger [marxistischer] Positionen« vornimmt (Horch/Reindl 1989: 235).17 Eine solche Deutung repräsentieren prominent Axel Honneth (1989) und Oskar Negt (1989). Honneth wie Negt haben in der Festschrift von Claus Leggewie und Hans Leo Krämer (1989) anlässlich des 65. Geburtstages von André Gorz dessen Denken reflektiert.18 »In seiner langjährigen Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk«, so die besagte Deutung bei Honneth (1989: 101), »hat Gorz schrittweise den geschichtsphilosophischen Rahmen der Marxschen Theorie verlassen, die Arbeiterexklusivitätsthese preisgeben und am Ende ein erweitertes Konzept der menschlichen Identitätsvoraussetzung aufsuchen müssen.« Wie Honneth legt auch Negt (1989) den Akzent auf diesen spezifischen Weg, wobei er ein Verfrachten des dialektisch-materialistischen Denkens zugunsten eines kritischen Individualismus in Adieux au prolétariat (1980) und damit einen Bruch im Werk von Gorz prononciert und kritisiert. In »Abschied vom Proletariat stecken so viel Invektiven gegen Marx, gegen die Hegelsche Dialektik, gegen den Traditionszusammenhang des Sozialismus« (Negt 1989: 64f.), dass bei Gorz ein »Rückfall in einen moralischen Idealismus, der sich auf die Schwer16 Zu Deutsch: Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus, vgl. Gorz 1964a. Die Schrift ist erstmals 1967 ins Deutsche übersetzt worden. 17 Die Verwunderung über diese Abkehr vom Marxismus wird besonders deutlich im Protokoll einer Arbeitstagung mit dem Titel Abschied vom Proletariat? Eine Diskussion mit und über André Gorz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB 1983). Dieses Tagungsprotokoll ist auch deshalb zu erwähnen, weil hier ein ausgesprochen aufschlussreiches Interview mit Gorz von Rainer Maischein und Martin Jander enthalten ist, das sein Freiheits- und Entfremdungsverständnis thematisiert. Aufgrund des informativen Gehalts ist dieses Interview nun auch ins Französische übertragen und in die Textsammlung von Christophe Fourel aufgenommen worden, vgl. die französische Angabe unter Gorz 1983b. 18 Des Weiteren sind hier bekannte Autoren wie Paul Ricœur und Claus Offe vertreten. Während sich Ricœur (1989) mit dem Denkweg Hannah Arendts vom Philosophischen zum Politischen beschäftigt und sich kaum die Mühe macht, Gorz’ Fragestellungen ernst zu nehmen, widmet Offe sich mit seinen Koautoren der Idee eines garantierten Grundeinkommens, vgl. Mückenberger/Offe/Ostner 1989.
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kraft der Verhältnisse nicht mehr einläßt« ausgemacht wird (Negt 1989: 67). Negt betont dabei jedoch »den Kampf eines sozialistischen Theoretikers«, dessen »Verabschiedung vom Proletariat […] von Melancholie und Trauer getragen« sei (Negt 1989: 66f.). Wiewohl Gorz in dieser Perspektive als Marxist a. D. verhandelt wird, sehen ihn viele deutsche Autoren weiterhin, auch nach Adieux au prolétariat, im Umfeld der Marx’schen Theorie agieren. Zu nennen ist vor allem Micha Brumlik (2009: 39), der Gorz fortwährend, bis in seine letzten Schriften hinein, »in einer beinahe orthodox marxistisch wirkenden Manier« gefangen sieht. Für Brumlik (2009: 42) ist Gorz ein in »Widerspruch von kritischem Intellektuellen und sozialistischem Träumer« arretierter Denker, der sich nie wirklich von Marx und vom Marxismus loseisen konnte. Zu einem ähnlichen Befund, wenngleich auf umsichtigere Art und Weise,19 kommt Matthias Bohlender (2013: 71), der auch in Gorz’ späten Texten noch »den Hegelschen Marx und die Beschwörung seiner dialektischen Figur der ›Negation der Negation‹« heraushört. Gorz komme immer wieder auf das Register der Marx’schen Gesellschaftskritik zurück. Das gelte für seine »Kritik der Lohnarbeit« wie für »seine Dauersuche nach einem neuen historischen Subjekt (von der Nicht-Klasse der Nichtarbeiter bis zu den Hackern), das das Proletariat beerben« soll. Folgerichtig ist für Bohlender bei Gorz ein durchgängiger Bezug zu Marx vorhanden. Seine marxistischen Kritiker bestreiten hingegen einen ernsthaft marxistischen Gehalt des Denkens von Gorz, wodurch er ebenfalls vor einem marxistischen Hintergrund gedeutet wird – allerdings auf konträre Weise. Sie disqualifizieren seine Ideen als Pseudomarxismus und kleinbürgerliche Kapitalismuskritik, so exemplarisch bei Reiner Eckart (1978). Parallel und zeitgleich hat Lucien Sève (1978: 78), der Gorz’ Auffassungen als »Apologie der Klassenkollaboration« abtut, dies in Frankreich artikuliert. Insbesondere steht in dieser Perspektive Gorz’ These aus den 1960er Jahren zur Kritik, dass nicht die Verelendung, sondern die Entfremdung Haupttriebkraft in Richtung Sozialismus ist. Dem hält Joachim Israel (1972: 308) entgegen, nicht die Entfremdung mache die Arbeiter sozialistisch, sondern erst klassenbewusste Arbeiter könnten Entfremdung als solche erfahren. Vor allem Sève hat sich als scharfer Gorz-Kritiker hervorgetan, der mit seinen Bemerkungen all jene herausfordert, die bei Gorz einen Bezug zu Marx und zum Marxismus auszumachen glauben. Er erkennt in seinem gesamten Denken, und ungeachtet Adieux au prolétariat, »ein Abrücken vom Marxismus übelster 19 Die Formulierung »umsichtig« meint hier, dass Bohlender als einer der wenigen Autoren im deutschsprachigen Raum neben dem Marx’schen auch explizit auf das Sartre’sche Erbe von Gorz’ Denken verweist.
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Art« (Sève 1978: 77). Gorz, der »Jean-Paul Sartre in seinen Ansichten sehr nahesteht« (Sève 1978: 70), bringe mit seinem abstrakten Humanismus die Linke von den »klassenmäßigen Zielen des Gemeinsamen Programms ab« (Sève 1978: 79). Sein humanistisch-kommunitärer Sozialismus, der »völlig utopisch auf der ›Autonomie der Individuen und der Selbstverwaltung der Gruppen‹« aufruht (Sève 1978: 79), sei eine Verballhornung des Marxismus. »Was Gorz auch dazu meinen mag«, der Übergang zum Sozialismus sei keine »einfache ›Hoffnung‹«, sondern eine »historische Notwendigkeit« und für den PCF20 Theoretiker Sève gibt es »keinen zentraleren Gedanken im Marxismus« (Sève 1978: 79f.). Ein Gedanke freilich, der Gorz vollkommen fremd sei. Attackiert wird auf diese Weise eine Überschätzung der Rolle von Marxens Ideen bei Gorz, die für Sève nicht nur kaum vorhanden sind, sondern auch – sofern vorhanden – von diesem äußerst verzerrt verstanden und wiedergegeben werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Deutungen von Gorz sind vielfältig und divergierend. Er wird als Erbe der existentiellen Phänomenologie, Theoretiker der politischen Ökologie, Marxist bzw. Renegat des Marxismus und, wie die marxistischen Kritiker betonen, Pseudomarxist identifiziert. Welche Deutung man präferiert, hat erhebliche Folgen für das Ordnen des Denkens von Gorz. Zudem lassen sich aus der Zusammenschau der Deutungen einige Desiderata und Problemstellungen gewinnen. Ein erstes Desiderat betrifft die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen des Denkens von Gorz. Zwar ist diese Leerstelle in der gesamten bisherigen Forschung augenfällig, aber insbesondere innerhalb der Deutung von Gorz als Erben der existentiellen Phänomenologie hat dies besondere Relevanz. Folgt man nämlich der Deutung, der zufolge Gorz als ein existential-philosophischer Denker zu verstehen ist, dann muss, statt der einseitigen Suche nach den philosophischen Spuren bei Gorz, auch die existentielle Dimension dieses Denkers als wichtig angesehen werden; mit den Worten Albert Camus’: Man sollte berücksichtigen, dass »ein gewisses Verhältnis zwischen der Gesamterfahrung eines Künstlers, seinem Denken + seinem Leben […] und dem Werk [besteht], das diese Erfahrung widerspiegelt« (zit. n. Wroblewsky 1999: 181). Zwar nutzen Howard (2013) wie Bowring (2000: 1-10) biographische Einsichten – Howard schon deshalb, weil sein Text aus längerer Freundschaft heraus verfasst ist –, wirklich entwickelt werden dabei aber die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen des Gorz’schen Werkes nicht. Dass man das Vernachlässigen der Lebensgeschichte Bowring wie Howard nicht wirklich zum Vorwurf machen kann, sei allerdings
20 Parti communiste français (PCF), die kommunistische Partei Frankreichs.
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festgehalten.21 Dennoch bleibt zu konstatieren: Die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen des Gorz’schen Werkes sind bisher kaum erforscht worden.22 Neben diesem Desiderat lässt sich im Rahmen der existential-philosophischen Lesart ein weiteres anzeigen. Arno Münster, der Gorz gerade nicht primär als Sartianer, sondern als politischen Ökologen verstanden wissen will, hat, wenngleich nur andeutungsweise, auf die Spannungen und Dispute zwischen Sartre und Gorz hingewiesen. Und genau im Hinblick auf diese Spannungen und Dispute erscheint vor allem die Deutung von Gorz als Erben der existentiellen Phänomenologie, die, neben der Nähe zu Merleau-Ponty, insbesondere die zu Sartre betont, verdächtig stumm. Was trennte Gorz vom zeitweilig promaoistischen Sartre – eine Trennung, die in der Äußerung Daniel Cohn-Bendits explizit wird: »Sartre mit der ›Gauche prolétarienne‹, das war Gorz ein Grauen, das war für ihn absurd«?23 Ist »Gorz’ Weigerung, auf den promaoistischen Kurs von Sartre« einzuschwenken (Münster 2008: 22), der einzige Disput in dieser Beziehung? Wie verhielt sich Gorz zum »Ultra-Bolschewismus« von Sartre (MerleauPonty 1955: 115)? Und wie zum »›Dritte-Welt‹-Sartre« (Cohen-Solal 1985: 601) und dessen militanten Botschaften des Es-muss-getötet-werden?24 Thematisiert
21 Howard hat einen Beitrag, keine Monographie verfasst, warum er die Lebensgeschichte von Gorz nur verkürzt darstellen kann. Anders ist es bei Bowring. Er hat eine Monographie verfasst. Das allerdings zu Lebzeiten von Gorz. Und wahrscheinlich war es der Respekt vor der verhandelten und noch lebenden Person, die Bowring veranlasst haben, die Lebensgeschichte auf wenigen Seiten abzuhandeln und es bei der Nennung der zentralsten biographischen Angaben bewenden zu lassen. 22 Einen beachtenswerten Versuch, einige der lebensgeschichtlichen Voraussetzungen des Werkes von Gorz auszubreiten, hat Claus Leggewie (1989) in seinem Beitrag zur Festschrift unternommen, die er und Hans Leo Krämer anlässlich des 65. Geburtstages von Gorz herausgegeben haben. Gleichwohl bemerkt Leggewie dazu: »Ich habe meine biographischen Äußerungen zu Gorz als Ansätze zu einer Biographie verstanden. Ich war da sehr vorsichtig, weil viele der Informationen nicht verifiziert sind. Genaugenommen habe ich die Informationen von Gorz eins zu eins als seinen Lebensentwurf übernommen, ohne etwa in Wien gewesen zu sein, um die Angaben zu überprüfen« (Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen). 23 Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel. Die ›Gauche prolétarienne‹ war eine 1968 gebildete und wohl die berühmteste Gruppe des französischen Maoismus. Das publizistische Organ dieser Gruppe war die Zeitschrift La Cause du peuple, deren Chefredakteur Sartre im Jahr 1970 wurde. 24 Im Kontext des bewaffneten Kampfes der algerischen Front de Libération Nationale, kurz FLN, für die Unabhängigkeit Algeriens von der Kolonialmacht Frankreich ließ Sartre beispielsweise im Vorwort zu Frantz Fanons (1961) Les damnés de la terre verlauten: Es »muß getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf
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man Gorz primär als einen Sartrianer, der sich dessen »phänomenologischer Ontologie« nicht nur in seinem Frühwerk verbunden fühlt,25 wie es bei der Deutung von Gorz als Erben der existentiellen Phänomenologie anklingt, so besteht bei einer solchen sartreianischen Interpretation die Gefahr des Verdrängens derartiger Fragen. Jedenfalls sind solche Erkundungen weder bei Bowring noch bei Howard explizit angestellt.26 Mir scheint, dass Münsters Hinweis auf die Dispute zwischen Sartre und Gorz, die nach seiner These in einen philosophischpolitischen Kurswechsel münden, genauer geprüft werden muss, um das Verhältnis, auch das schwierige, der beiden angemessen beurteilen zu können. Überdies lässt sich resümieren: Auch das Deuten von Gorz vor einem marxistischen Hintergrund wirft durchaus zu klärende Fragen auf. Ist Gorz durchgängig als Marxist zu qualifizieren (Brumlik 2009) oder tritt er mit Adieux au prolétariat (Gorz 1980) als Renegat des Marxismus auf (Negt 1989) bzw. ist ihm bereits vor besagter Schrift eine Häresie gegenüber dem Marxismus eigen, wie aus marxistischer Perspektive kritisiert (Sève 1978)? Mit derlei Fragen, die Divergenz herausstellen, ist angezeigt, dass sein Verhältnis zu Marx und zum Marxismus im Rahmen dieser Arbeit erneut zu prüfen ist. Die Frage nach den Bezügen zu Marx und zum Marxismus, die im Zusammenhang mit dem marxistischen Thematisieren von Gorz aufkeimt, ist nicht abwegig, schließlich war seine Auseinandersetzung mit Marx massiv. Doch besitzt sein Denken tatsächlich eine marxistische Tiefengrundierung? Eine solche Frage, so scheint es mir, muss in den Fokus der Betrachtung gerückt werden, weil man so auch Zugriff auf die diskussionswürdige These von Oskar Negt (1989) erhält. Negt, der Gorz als einen Marxisten liest, betont, wie bereits erwähnt, einen Bruch mit dem Marxismus in dessen Werk, den er mit der Gorz’schen Schrift Adieux au prolétariat verbunden sieht. Im Zuge der Bestimmung des Verhältnisses von Gorz zu Marx und zum Marxismus soll auch über diese Behauptung Klarheit gewonnen werden. Die Behauptung einer prinzipiellen Wende, eines Bruches lässt sich überdies innerhalb der Deutung von Gorz als politischem Ökologen prononcieren. Erneut gilt es hier Arno Münster (2008) ins Feld zu führen. Die Hinwendung zur politieinmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen« (Sartre 1961: 20). 25 Sartres Philosophie als »phänomenologische Ontologie« zu bezeichnen, kann durch den Untertitel Essai d’ontologie phénoménologique seines Hauptwerkes L’être et le néant gerechtfertigt werden, vgl. Sartre 1943. 26 Bowring (2000: 7) wie Howard (2013: 65; Anm. 33) erwähnen lediglich, und dies äußerst knapp, die Meinungsverschiedenheit zwischen Gorz und jenem Sartre, der nach 1968 mit dem Maoismus sympathisiert.
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schen Ökologie ist für ihn nicht nur Resultat eines Abschieds von Sartre, sondern zugleich ein philosophisch-politischer Kurswechsels. Demnach rückt ab den 1970er Jahren und im Zuge der Bekanntschaft mit Ivan Illich, mit dem Gorz zu jener Zeit im engen Austausch stand, die Ökologie beständig ins Zentrum des Gorz’schen Nachdenkens wie Schaffens. Augenfällig bei einer solchen Deutung ist dies: Sie ist verdächtig stumm in Fragen seiner Naturauffassung. Die Natur ist nämlich nach Gorz, und zwar im Gegensatz zu der Auffassung vieler Vertreter der politischen Ökologie, »für den Menschen nicht gut. Sie ist kein Garten, der eigens für ihn angepflanzt worden ist« (Gorz 1977a: 20). 27 Eine solche Auffassung der Natur irritiert für mein Dafürhalten das Interpretieren von Gorz als politischen Ökologen und regt dazu an, die Hinwendung zur politischen Ökologie und dabei insbesondere die These vom Kurswechsel genauer in den Blick zu nehmen. Schließlich offenbart die Zusammenschau der Deutungen zwei unterschiedliche Brüche, die im Werk von Gorz ausgemacht werden. Der identifizierte Einschnitt im Denken, der innerhalb der Lesart als politischer Ökologe hervortritt, stellt auf den Einzug des neuen und fortan beständigen Themas der Ökologie in den 1970er Jahren ab, jener beim Deuten vor marxistischem Hintergrund auf eine Anfang der 1980er und mit der Schrift Adieux au prolétariat vollzogene Abwendung vom Marxismus. Diese zeitlich wie thematisch völlig verschiedenen Betonungen eines Bruches, womit Einschnitte an ganz unterschiedlichen Stellen des Werkes herausgestellt werden, werfen die Frage nach Diskontinuitäten im Denken von Gorz auf. Gibt es noch weitere Verschiebungen im Denken? Sind Diskontinuitäten und Verschiebungen im Schaffen von Gorz bloß darlegbar oder können diese auf Spezifisches zurückgeführt werden? Kann gar für deren Zustandekommen eine systematische Argumentation dargeboten werden, und zwar jenseits vom Vielerlei etwaiger kontextueller Erwägungen? In der bisherigen Forschung wurden lediglich spezifische Einschnitte im Gorz’schen Denken identifiziert, soweit ich sehe aber noch nicht grundsätzlich die Bedeutung und der Stellenwert befragt, die Diskontinuitäten und thematischen Verschiebungen im Werk von Gorz einnehmen.
27 Die Naturauffassung von Gorz scheint mir inkompatibel mit den Ansprüchen von einigen politischen Ökologen, die etwa fordern, »endlich eine Politik der Natur zu betreiben; endlich das öffentliche Leben so zu verändern, dass die Natur berücksichtigt wird; endlich die Produktionsweise den Anforderungen der Natur anzupassen; endlich durch eine maßvolle und nachhaltige Politik die Natur vor menschlicher Zerstörung zu schützen« (Latour 1999: 9f.). Derlei Forderungen im Namen der Natur sind Gorz fremd.
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Meine Interpretation bestreitet generell die exorbitanten Reden vom Bruch wie vom Kurswechsel und stellt demgegenüber eher auf Kontinuität ab, ohne thematische Diskontinuitäten und Verschiebungen auszublenden. Trotz allerhand Veränderungen im Denken ist Gorz für mich primär und durchgehend ein existentialistisch orientierter Denker, der auch noch in seiner letzten Schaffenphase in einem theoretischen Rahmen agiert, der durch existential-philosophische Motive maßgebend strukturiert ist.
II.
E XPOSITION
DER
T HESE
Gorz ist ein Denker, so meine leitende These, der mit existentialistischem Gestus nicht nur gedacht, sondern bisweilen gelebt hat, wobei sein existentialistischer, in vielen Punkten an Sartre angelehnter, Denkansatz in seinem Werk vornehmlich zeitdiagnostisch ausgemünzt und über praktisch-politische Erörterungen realisiert ist. Mit Howard und Bowring teile ich die Einschätzung, dass Gorz’ Denken auf einer philosophischen Grundlage aufruht, die als existentielle Phänomenologie näher qualifiziert werden kann.28 Auf den Überlegungen dieser beiden Autoren aufbauend, schlage ich generell und allgemein vor, Gorz weder vor einem marxistischen Hintergrund noch als Theoretiker der politischen Ökologie zu deuten, sondern ihn existential-philosophisch zu lesen. Spezifischer möchte ich mit der genannten These, die einen biographischen, einen kontextuellen und einen systematischen Aspekt besitzt, in fünf Problemkreise intervenieren. Der erste Problemkreis betrifft die Lebensgeschichte von Gorz. Hier kommt der biographische Aspekt meiner These zum Zug, nämlich, dass der in Rede stehende Protagonist nicht nur mit existentialistischem Gestus gedacht, sondern mitunter auch gelebt hat. Dabei setze ich bei der Einsicht an, dass wenn »die existentialistische Philosophie tatsächlich vor allem eine Philosophie [ist], die betont: die Existenz geht dem Wesen voraus, dann muß sie gelebt werden, um wirklich aufrichtig zu sein. Als Existentialist leben heißt bereit sein«, diese Philosophie nicht allein »in Büchern durchzusetzen« (Sartre 1946a: 178).
28 Zur Phänomenologie im Allgemeinen und zur existentiellen im Besonderen sowie zu den Eigenheiten und Tendenzen der französischen Phänomenologie vgl. Waldenfels 1983. Zu den neueren Schattierungen der Phänomenologie in Frankreich vgl. Gondek/Tengelyi 2011.
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Dieser Einsicht folgend behaupte ich, dass anhand markanter Facetten von Gorz’ Leben – beispielsweise das Namen-Wechsel-Dich-Spiel, das ausgesprochen neurotische Verhältnis zum Gesprochenen und die strikte Vorliebe für das Geschriebene, der Umgang mit den Krankheiten seiner Frau Dorine oder auch der Freitod – gezeigt werden kann, dass existentialistische Motive auch in die Lebensgeschichte eingesickert sind. Auch aus biographischer Perspektive, so soll bei diesem Aspekt der These pointiert werden, lässt sich das Bild eines Existentialisten zeichnen, der die Sartresche Philosophie »ernster nahm als es Sartre selbst getan hat«.29 Der zweite Problemkreis thematisiert die Beziehung zwischen Sartre und Gorz und stellt spezifisch auf Spannungen und Dispute innerhalb dieses Verhältnisses ab. Hier greift der kontextuelle Aspekt der These, der Bezüge zu anderen Autoren wie Protagonisten des Zeitgeschens in den Blick nimmt und in der Behauptung hervortritt, dass Gorz ein eng mit dem Denken Sartres in Verbindung stehender Theoretiker ist. Kontextuell problematisiere ich zunächst die These eines philosophisch-politischen Kurswechsels, der sich in den 1970er Jahren vollzogen haben soll und festgemacht wird an der Weigerung von Gorz, auf den promaoistischen Kurs von Sartre einzuschwenken sowie an seiner Hinwendung zur politischen Ökologie. Entgegen der Einschätzung eines solchen Kurswechsels schlage ich vor, die politische und die philosophische Dimension klar auseinanderzuhalten. Gezeigt werden kann dann, dass Gorz die politischen Eskapaden und Zuspitzungen Sartres nicht schülerhaft mitvollzogen hat, zu dessen Freiheitsphilosophie jedoch stets eine enge Beziehung unterhielt. Der dritte Problemkreis wird durch die Frage des Verhältnisses von Gorz zu Marx und zum Marxismus aufgespannt, die ebenfalls unter dem kontextuellen Aspekt meiner These verhandelt wird. Entgegen vielen Auffassungen ist Gorz für mich kein Marxist im engeren Sinn; seine Beziehung zum Marxismus war stets »ambivalent«,30 weshalb man ihn auch nicht primär marxistisch interpretieren sollte, obwohl die Auseinandersetzung mit Marx’schen Denkfiguren einen zentralen Aspekt seines Schaffens ausmacht. Dennoch: Einige Schriften von Gorz versperren, oder besser, entziehen sich schlichtweg der marxistischen Lesart. Texte wie Fondements pour une morale (Gorz 1955), Le traître (Gorz 1958) oder auch Lettre à D (Gorz 2006) können nicht mit einer marxistischen Lesart angemessen verstanden werden. Gewissermaßen gewinnt die marxistische Lesart nur Kohärenz, weil sie einige Schriften außer Acht lässt, genauer: weil sie die 29 Diese Worte äußerte Otto Kallscheuer über André Gorz, Gespräch mit A.H. am 04. Juli 2011 in Bonn. 30 Bei Gorz (1990: 8) heißt es: »Mein Verhältnis zu Marx war von Anfang an ambivalent«.
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Betrachtung bei der ersten in deutscher Sprache erschienenen Schrift Stratégie ouvrière et néocapitalisme (Gorz 1964a) ansetzt und vor der Szenerie dieser Schrift die Rede vom Bruch entfaltet, der sich im Zuge der Niederschrift von Adieux au prolétariat (Gorz 1980) vollzogen haben soll. Dabei übersieht man nämlich, dass Gorz im Grunde in der Schrift Adieux au prolétariat lediglich eine Kritik am Marxismus wiederholt, wie er sie bereits in den 1950er Jahren in Fondements pour une morale und insbesondere La Morale de l’histoire (Gorz 1959) ausgebreitet hat – in jenen frühen Schriften also, die keine Übertragung ins Deutsche gefunden haben. Ich werde die Frage nach dem Verhältnis zu Marx und zum Marxismus in meiner Darstellung dahingehend auflösen, als dass ich Gorz von seinem Selbstverständnis als existentialistischen Kritiker der »klassische[n] Konzeption des Marxismus« (Gorz 1976: 116) her begreife. Mit dem Herausstellen des Kritikers des Marxismus, dem ein selektiver Zugriff auf Marx’sche Motive eigen ist,31 bestreite ich zugleich den von Negt (1989) akzentuierten marxistischen Bruch im Schaffen von Gorz. Letztgenannter ist für mich gar nicht explizit als Marxist zu verstehen, warum auch die Rede vom marxistischen Bruch nicht greift. Die Übernahme von Marx’schen Motiven ist, wie ich behaupte, äußerst partiell und beschränkt sich auf Gedankengänge, denen Marx explizit die Thematik der Freiheit eingeschrieben hat und die aufgrund dieser Beschaffenheit mit existentialistischen Überlegungen harmonisiert werden können. Von daher gilt es in diesem Problemkreis Gorz als einen Denker auszuweisen, dem eine ›existentialistische Marxinterpretation‹ eigen ist. Im vierten Problemkreis, bei dem es spezifisch um die Beurteilung der Hinwendung zur politischen Ökologie geht, ändert sich die Gewichtung der These. Sie verlagert sich vom vordergründig kontextuellen Aspekt hin zum systematischen. Bevor ich mein Anliegen bezüglich der Hinwendung zur politischen Ökologie darlege, möchte ich kurz in den systematischen Aspekt der These einführen. Der systematische Aspekt hebt auf die Verbindung zwischen Gorz’ existentialistischem Denkansatz und seinem politisch-praktischem Denken ab. Ich behaupte, dass es zwischen den zu unterschiedlichen Zeiten und Themen verfassten Schriften, die sein Werk bilden, einen tragenden Zusammenhang gibt, der wesentlich über das existentialistische Problem des Subjektes zu begreifen ist. Um diesen Kern kreisen die Konzepte von Gorz. Sein Werk ist dennoch politischpraktisch, und zwar schon deshalb, weil die Mehrzahl seiner Schriften in konkrete politische Forderungen wie Arbeitszeitverkürzung, Einführung eines Grund31 Wenn man so will, folge ich den marxistischen Kritikern von Gorz, bei deren Lesart allerdings die Polemik überwiegt. Zwar lese ich wie diese Gorz als Häretiker des Marxismus, aber eben nicht mit der polemischen Stoßrichtung wie sie Lucien Sève (1978) anschlägt.
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einkommens etc. münden. Derlei politische Forderungen können als Ergebnisse seiner zetetischen Suche nach Wegen verstanden werden, die ein Mehr an Subjektivität und Freiheit in Aussicht stellen. Sie sind aber insbesondere, so will ich mit dem systematischen Aspekt meiner These akzentuieren, ein Artikulieren von existentialistischen Motiven auf politisch-praktischem Gebiet. Gorz kennzeichnet, dass er existentialistische Überlegungen vermittels sozial-politischer Erörterungen realisiert.32 Dazu tritt er primär als Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft auf, beziehungsweise arrangiert mit der Maske des Kapitalismuskritikers das Einschleusen von existentialistischen Auffassungen. Sein Denken kreist um die Aufgabe, einen Horizont für die Neugestaltung der Gesellschaft zu eröffnen, in der die Menschen zu bewussten Subjekten ihrer Handlungen werden und sich ihrer Freiheit bedienen. Dieses Denken hat einen philosophischen Kern, insofern es vordringlich auf die Frage des Subjektes bezogen ist.33 Die Beantwortung der gestellten Aufgabe muss sich aber praktisch erweisen, »[w]eil die Lösung der Probleme der Existenz draußen liegt […], weil die Freiheit draußen liegt, bei den Dingen, mit deren Hilfe sie sich freimachen kann und ohne die sie nicht existiert« (Gorz 1958: 94). Gorz ist für mich obendrein ein politisch-praktischer Denker, der seinen existentialistischen Denkansatz in konkrete Entwürfe und Interventionen überführt, die auf die Veränderung der als unfrei empfundenen kapitalistischen Gesellschaftsordnung zielen. Und genau in diesem Sinne verstehe ich auch die Hinwendung zur politischen Ökologie, die Gorz in den 1970er Jahren vollzieht. Hier zeigt sich der an realen Verhältnissen interessierte Denker, der seinen existentialistischen Denkansatz im zu jener Zeit hoch politisierten Feld der Ökologie in Anschlag bringt und über eine kritische Zeitdiagnose wie einen konkreten gesellschaftlichen Zukunftsentwurf realisiert. Diese Hinwendung ist von keiner Sorge um die Natur getragen, ganz zu schweigen von dem Anspruch der politischen Ökologie, »endlich eine Politik der Natur zu betreiben« (Latour 1999: 9). Im Gegenteil: Statt um genuin ökologische Themen geht es hier, wie ich behaupte, um das genuin existential-philosophische Thema der Freiheit, das in gesellschaftspolitischen Erörterungen aufgeht und sich in einer Problemdiagnose wie in einem Entwurf einer gesellschaftlichen Lösungsstrate32 Eine derartige Charakteristik seines Denkens hat Gorz selbst bestätigt. Gegenüber Rainer Maischein und Martin Jander äußert er im Herbst 1983: »ich empfinde mich als einen verunglückten Philosophen, der seine ursprünglich philosophischen Überlegungen über scheinbar politische oder soziologische Themen einzuschmuggeln versucht« (Gorz 1983b: 163). 33 Die Verbindung der philosophischen Frage des Subjektes mit politisch-pratischen Implikationen ist trefflich im Titel eines Textes angezeigt, der Das Subjekt steht links lautet, vgl. Gorz 1993.
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gie niederschlägt – mit anderen Worten: Der Akzent liegt hier nicht auf Natur-, Umwelt- und Klimaschutz, sondern auf Autonomie, Subjektivität und Moral. Mit dieser Behauptung argumentiere ich summa summarum gegen Stellungnahmen, die in Gorz’ Hinwendung zur Ökologie eine »ökologische Wende in seinem Denken« (Münster 2008: 63) erblicken. Der fünfte und letzte Problemkreis ist gekennzeichnet durch die allgemeinere Frage nach der Bedeutung von Diskontinuitäten im Gorz’schen Schaffen, die manche Interpreten als Brüche im Denken ausgeben. Im Zuge der Entfaltung des systematischen Aspekts meiner These möchte ich innerhalb dieses Problemkreises darauf aufmerksam machen, dass Annahmen von Brüchen auf einen existentialistischen Denker wie Gorz nur schwerlich anzuwenden sind. Der Philosophie Sartres, die als Leitlinie von Gorz’ eigenen Überlegungen angesehen werden kann, ist die Untreue sich selbst gegenüber, der Verrat an ›gehätschelten‹ Überzeugungen und Selbstbildnissen als Imperativ eingeschrieben. Da Sartre und Gorz den Philosophen selbst als Existierenden verstehen, ihn also zu einem unter vielen machen, gilt für sie wie für jeden Existierenden: »Der Existierende ist das, was er nicht ist, und nicht das, was er ist. Er ›nichtet‹ sich. Er ist nicht Koinzidenz mit sich« (Sartre 1948b: 269). Um also Gorz’ Theorieproduktion zu verstehen, sollte man an die Stelle des Wortes Existierender in diesem Zitat seinen Namen setzen. Dann steht dort nichts anderes, als dass Gorz bemüht ist, nie an einem Denkort dogmatisch zu verharren; dass er im Unterschied zu anderen Intellektuellen nicht in seine Ideen verliebt ist; dass er sich nicht scheut, gegen sich selbst zu denken und Überlegungen, die sich als nicht praktikabel erweisen, als »Blödsinn« zu verwerfen.34 So widerruft er seine Vorschläge zu einer dualistischen Wirtschaft und zu den Tauschkreisen. Selbst sein langjähriges Eintreten für ein Grundeinkommen unterzieht er einer Revision.35 Mehr und mehr davon
34 In einem persönlichen Schreiben heißt es: »Ich habe in meinem langen Leben viel Blödsinn geschrieben« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 22. April 2004). 35 Mit dem Grundeinkommen, so Gorz’ späte pessimistische Intention, wird die Figur des individuellen Warenkonsumenten gefestigt, die einer totalen Abhängigkeit ausgesetzt ist. Die Individuen würden per Grundeinkommen nämlich dafür bezahlt, dass sie konsumieren, wodurch sie so funktionieren, wie es die gesellschaftliche Ordnungsmacht haben will. Diese pessimistische Sicht auf das Konzept des Grundeinkommens klingt bereits in L’immatériel an, vgl. Gorz 2003: 96-103. In einem persönlichen Schreiben (Brief von Gorz an Exner, geschrieben am 10. August 2006), heißt es noch etwas vorsichtig: »Ihre Kritik an den meisten Vorstellungen vom Grundeinkommen teile ich durchaus«. In dem Text Seid realistisch – verlangt das Unmögliche revidiert Gorz dann seine Auffassung zum Grundeinkommen grundlegend, vgl. Gorz 2007b. In einem persönlichen Schreiben (Brief von Gorz an Exner, geschrieben am 13. Januar
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überzeugt, dass der Kapitalismus ein Grundeinkommen zu integrieren und nach seiner Logik funktionieren zu lassen versteht, distanziert er sich von dem Konzept, das mit seinem Namen eng verbunden ist. Was ich damit zu bedenken gebe, ist, dass eine werkszentrierte Fahndung nach Diskontinuitäten und Brüchen – die ja innerhalb der Disziplin der politischen Ideengeschichte36 recht anerkannt ist und durch methodische Reflexion zu überzeugen weiß – sich im Œuvre von Gorz leicht verläuft. Diskontinuitäten sind nämlich direkte Folge seiner existentialistisch fundierten Theorieproduktion. Brüche und Kurswechsel im Denken von Gorz herauszustellen, sei es nun im Zuge der Hinwendung zur politischen Ökologie oder durch die Rede von einer plötzlichen Abkehr vom Marxismus im Laufe der Niederschrift von Adieux au prolétariat, heißt demnach, die existentialistische Fundierung seines Denkens nicht ausreichend zu gewichten oder gar zu übersehen. Konkret interveniere ich in diesen Problemkreis, indem ich die letzte Schaffensphase von Gorz, die ja bisher kaum erforscht ist, zum Gegenstand einer spezifischen Untersuchung mache. Damit geht die folgende Überlegung einher: Wenn sich auch in der letzten Phase des Werkes, bei der es vordergründig um das politisch-praktische Gebiet der Wissensökonomie, deren Analyse und Kritik geht, existentialistische als die taktgebenden Motive ausweisen lassen, also als 2007), heißt es dazu: »Der Artikel hier […] ist eher eine Diskussion mit einigen Gegnern und mit mir selbst. Er entspricht nicht mehr dem, was Sie von mir erwarteten. Gegenüber der (auch hier zitierten) Stellungnahme im 2000 bei Suhrkamp erschienenen Band […] habe ich meine Meinung geändert. Das kam schon am Ende von ›Wissen, Wert u. Kapital‹ zum Ausdruck. Die wenigsten bemerkten es«. Bei dem im Jahr »2000 bei Suhrkamp erschienenen Band«, handelt es sich um die deutsche Ausgabe von Misères du présent, wo Gorz noch die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens fordert, vgl. Gorz 1997a: 113-134. 36 In der akademischen Ideengeschichte kann von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden, im Zuge dessen die Fahndung nach Brüchen und Diskontinuitäten im Leben und Werk eines Autors an Akzeptanz gewann. »Die Konzepte der Cambridge School (um Quentin Skinner und John Pocock), Diskursanalyse Foucaultscher oder anderer Provenienz und moderne Begriffsgeschichte in den Bahnen von Reinhart Koselleck gelten als neue Paradigmen« der politischen Ideengeschichte (Bluhm 2006: 10). Mit den hier angesprochenen methodischen Konzepten wird nicht nur die Fahndung nach Brüchen und Diskontinuitäten vornehmlich betrieben, sondern auch kontinuitätszentrierte Untersuchungen zum Leben und Werk eines Autors hinterfragt. Für eine Untersuchung, die Annahmen zur Kontinuität im Leben und Werk eines Autors zurückweist und auf Diskontinuitäten und Brüche abhebt sowie als Beispiel für die im Fach zunehmende Beliebtheit diskontinuitätszentrierter Studien gelesen werden kann vgl. die eindrucksvolle Darstellung der politischen Theorie und Biographie von Robert Michels durch Timm Genett (2008).
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Motor und Kompass des Theoretisierens über eine gesellschaftliche Entwicklung, in der Wissen eine entscheidende Stellung zukommt, dann kann von fundamentalen Einschnitten im Denken, von tiefgreifenden Brüchen und Kurswechseln kaum die Rede sein. Und das deswegen, weil so ein gewichtiger Hinweis auf eine durchgehende Thematik im Werk exponiert ist, die den späten Gorz, der sich etwa für die Praxis der Freien Softwarebewegung und für Hacker interessiert, mit jenem verbindet, der am Beginn seines intellektuellen Schaffens das Werk Sartres studiert und dessen theoretische Überlegungen auf sich selbst anwendet. Meine leitende These, mit der ich spezifisch in die fünf aufgeführten Problemkreise intervenieren möchte, beteht also aus drei miteinander verzahnten Teilen: Erstens, einem biographischen, dessen Gehalt sich in der Behauptung gewinnt, dass Gorz auch zuweilen mit konsequent-existentialistischem Gestus gelebt hat; zweitens, einem kontextuellen, womit auf die enge Beziehung zu Sartre und dessen Freiheitsphilosophie abgehoben wird und schließlich drittens, einem systematischen, wodurch ich bekräftige, dass seine politisch-praktischen Überlegungen, Problemdiagnosen und Lösungsstrategien, die er über die Jahre seines intellektuellen Schaffens entwickelt, weiterdenkt oder auch verwirft, aus einer existentialistisch-subjekttheoretischen Tiefenschicht seines Denkens hervorgehen, die bis in die letzte Schaffenphase den fruchtbaren Boden seines Theoretisierens bildet. Montiert man alle drei Versatzstücke zusammen, kann die bereits zu Beginn dieses Punktes genannte These formuliert werden: Gorz ist ein Denker, der nicht nur mit existentialistischem Gestus gedacht, sondern bisweilen auch gelebt hat, wobei sein existentialistischer, in vielen Punkten an Sartre angelehnter, Denkansatz in seinem Werk vornehmlich politisch-praktisch ausgemünzt ist, sprich über kritische Zeitdiagnosen und konkrete gesellschaftliche Entwürfe realisiert wird.
III.
M ETHODISCHE R EFLEXION
Zur Entfaltung meiner Leitthese nutze ich eine interpretative Herangehensweise, die biographische, kontextuelle und systematische Gesichtspunkte zur Ausleuchtung von Gorz’ Leben und Werk kombiniert. Eine derartige Vorgehensweise, die auf Leben und Werk eines Autors gerichtet ist, und somit auch als biographische Werkinterpretation verstanden werden kann, offenbart, dass die Darstellungen aus Perspektive einer personalisierten Ideengeschichte erfolgen. Allerdings wird an der personalisierten Ideengeschichte, bei der im »Mittelpunkt des Interesses der einzelne Denker oder Intellektuelle« steht (Mohr 1997:159), vehement Kritik
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geübt. Die wichtigsten Einwände werden nachfolgend holzschnittartig diskutiert, um in der Konfrontation mit den methodischen Problemen meine Herangehensweise zu präzisieren.37 Die Kritik an der personalisierten Ideengeschichte lässt sich mit vier Einwänden akzentuieren. Ein Einwand zielt auf die bloße Inblicknahme der großen Denker und wird äußerst greifbar mittels der pejorativen Formulierungen »Gipfelgespräch« oder auch »Höhenkammforschung« vorgetragen;38 ein anderer sensibilisiert für die Falle der sogenannten »biographischen Illusion« (Bourdieu 1990);39 ein weiterer, prominent durch die Cambridge School dargelegt,40 streicht kritisch die Überbetonung der Texte bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Kontexte an und der vierte Einwand stellt auf die dekuvrierende Nachfrage Was ist ein Autor? ab (Foucault 1969b).41 Die personalisierte Ideengeschichte, so wird kritisiert, scheint davon auszugehen, dass Ideengeschichte »als eine Art Gipfelgespräch zu betreiben« sei, »als ein Dialog der großen Geister« (Münkler 2003: 114) und »daß so etwas wie ein ›Denken‹ im Sinne von rationaler Durchdringung eines Sachverhalts, von Originalität, von argumentativer Kraft, geistiger Frische, von Weitsicht etc. immer an einzelne wenige Individuen gebunden bleibt« (Mohr 1997: 159). Bereits Friedrich Nietzsche wies auf die Gefahr hin, die mit einer so verstandenen Ideenge-
37 Einen einführenden Überblick über den Methodenkanon der politischen Theorie und Ideengeschichte bietet Zapf 2013. Zu dieser Thematik vgl. auch Hidalgo/ Höntzsch/Salzborn 2012. Eine kritische Diskussion der methodischen Konzepte der politischen Ideengeschichte bietet Bluhm/Gebhardt 2006. 38 Die personalisierte Ideengeschichte als »Gipfelgespräch« wird vor allem mit Friedrich Meinecke in Verbindung gebracht. Bei ihm heißt es: »Die Untersuchung politischer Gedanken darf niemals losgelöst werden von den großen Persönlichkeiten, den schöpferischen Denkern; dort an der hochgelegenen Quelle und nicht in der breiten Ebene der sogenannten öffentlichen Meinung, der kleinen politischen Tagesliteratur muß man sie zunächst zu fassen suchen« (zit. n. Münkler 2003: 114; Fn. 8). 39 Für kritische Nachfragen bezüglich der Relevanz von Biographischem bei ideengeschichtlichen Forschungen vgl. Mohr 1997: 196-199. 40 Zur ausführlichen Darstellung des Konzeptes der Cambridge School in deutscher Sprache vgl. Muslow/Mahler 2010 sowie Asbach 2002 und Hellmuth/Ehrenstein 2001. 41 Für eine instruktive Auseinandersetzung mit Foucaults Konzept von Ideengeschichte vgl. Bohlender 2006. Ratschläge für methodisches Vorgehen im Anschluss an Michel Foucault bietet Keller 2007: 42-52. Für umfangreichere Einblicke in das, was man in Fortführung der methodologischen Überlegungen Foucaults Diskursanalyse nennt vgl. Keller/Hirseland/Schneider/Vierhöver 2006.
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schichte verbunden ist.42 Der mittels der Formulierung »Gipfelgespräch« auf den Punkt gebrachte Einwand ist für die vorliegende Arbeit kein nichtiges Problem, verweist doch meine These durchaus auf die Bestrebung, die Geschichte von Gorz’ Denken nicht unwesentlich von einem herausgehobenen Denker her zu strukturieren, nämlich Sartre. Überdies bestand die Absicht, Gorz’ Verhältnis zu Marx zu erörtern. Es ist also doppelt angezeigt, dem Problem des »Höhenkamms« gegenüber sensibel zu sein. Gorz uneingeschränkt in ein »Gipfelgespräch« mit Marx und Sartre zu verwickeln, heißt nämlich, »die niederen Bergkuppen oder gar die Täler und Senkungen außer Betracht« zu lassen (Münkler 2003: 114) und »nur einzelne geschmückte Facta« seines Denkens herauszustellen (Nietzsche 1874: 26), ohne dass eine annähernd realistische Rekonstruktion seines Lebens wie Werkes zu erwarten wäre. Bei der anstehenden Erörterung des Lebens und Werkes von Gorz ist also zunächst angezeigt, die Brennweite der Betrachtung nicht bloß auf die Gipfel Sartre und Marx einzustellen. Vielmehr gilt es, die Brennschärfe zu variieren, um auch die »niederen« Bergkuppen, etwa Simone de Beauvoir bzw. Friedrich Engels, oder gar die »Täler« und »Senkungen«, sprich den Personenkreis um Sartre bzw. französische Marxisten wie Louis Althusser, in den Blick nehmen zu können. Überdies ist es im Falle Gorz’ angebracht, bis in den Talgrund herabzuschreiten, sprich in die Intimität seiner Biographie, da viele seiner Überlegungen einen direkten Bezug zu seiner persönlichen Geschichte aufweisen.43 Gerade wer sich mit André Gorz’ Werk beschäftigt und zu einem angemessenen Verständnis desselben gelangen will, wird seine Biographie reflektieren müssen. Und dies allein schon deshalb, weil mit Le traître und Lettre à D. zwei autobiographische Schriften Bestandteil seines Werkes sind. Mit diesen beiden Schriften ist angezeigt, dass sein Denken von einem Hang zur Selbstthematisierung durchzogen ist. Angenommen wird in vorliegender Arbeit, dass bei der Selbstthematisierung explizit Spuren zum Verständnis seines Gesamtwerkes gelegt sind. Gleichwohl besteht dabei die Gefahr, einer kohärenten Erzählung zu erliegen und in jene Falle zu tappen, die Pierre Bourdieu die Täuschung der »bi42 Bei Nietzsche heißt es: »ganze grosse Theile [der Ideen] werden vergessen, verachtet, und fliessen fort wie eine graue ununterbrochene Fluht, und nur einzelne geschmückte Facta heben sich als Inseln heraus: an den seltenen Personen, die überhaupt sichtbar werden, fällt etwas Unnatürliches und Wunderbares in die Augen, gleichsam die goldene Hüfte, welche die Schüler des Pythagoras an ihrem Meister erkennen wollten« (Nietzsche 1874: 26). 43 So äußert beispielsweise Gorz gegenüber Marc Robert: »Ohne Sartre hätte ich wahrscheinlich nicht die Instrumentarien gefunden, um das, was meine Familie und die Geschichte mir angetan hatten, zu bedenken und zu überwinden« (Gorz 2005a: 8).
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ographischen Illusion« nannte. Für Bourdieu besteht die Täuschung darin, »daß ›das Leben‹ ein Ganzes darstellt, eine kohärente und gerichtete Gesamtheit, die als einheitlicher Ausdruck einer subjektiven und objektiven ›Intention‹, eines ›Entwurfs‹ aufgefaßt werden kann und muß« (Bourdieu 1990: 75). Und genau diese Illusion könnte in den autobiographischen Schriften verbreitet sein. Genanntem Problem gegenüber sensibel zu sein, heißt, die »biographische Illusion« als kritisches Korrektiv der Deutung seiner Biographie einzubeziehen und da, wo es angebracht und möglich erscheint, die autobiographische Erzählung zu hinterfragen. Den Ansatz der Cambridge School vertreten insbesondere Quentin Skinner und John G. A. Pocock. Für beide gerät eine personalisierte Ideengeschichte dann ins problematische Fahrwasser, wenn sie »auf den Vorrang des Textes als alleiniger Schlüssel zur Bedeutung« pocht und »jeden Versuch einer Rekonstruktion des ›Gesamtkontextes‹ als ›im besten Fall überflüssig‹ von sich« weist (Skinner 1969: 21). Demgegenüber erhebt die Cambridge School die These, dass Äußerungen des menschlichen Geistes immer an die jeweilige Zeit und den dazugehörigen Kontext gebunden sind und dass das Verständnis eines Textes nur aus den »Kontexten, in denen diese Akte vollzogen wurden« (Pocock 1987: 128), angemessen rekonstruiert werden kann. Gemeint ist hier aber nicht ein sozioökonomischer Kontextualismus. Es ist vielmehr der sprachliche Kontext, der in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Erst die Fokussierung der Sprache erlaube, die authentische Bedeutung eines Textes zu erfassen, da diese Bedeutung im jeweiligen sprachlichen Erfassungshorizont der Zeit begründet liegt. Mit Auffassung der Cambridge School gesprochen, bewegt sich Gorz’ Denken in einem vorgegebenen Sprachsystem – einer »langue«, die vom individuellen Sprechakt, der »parole«, zu unterscheiden ist.44 Und folglich sei es dieses System, diese »langue«, die bei der Erkundung seines Werkes zuallererst untersucht werden muss. Das zentrale Anliegen der Cambridge School, der Kontextualismus, wird insofern in die eigene Herangehensweise integriert, als dass die Kontexte eruiert werden, in denen Gorz’ Texte eingebettet sind. Dabei verstehe ich in Anlehnung an Skinner und Pocock Kontext nicht primär sozioökonomisch, sondern quasi sprachlich. Das Wort »quasi« ist hier aber wichtig. Denn in leichter Variation zum Ansatz der Cambridge School hebe ich mittels des Begriffes »Denkraum« 44 Pocock unterscheidet zwischen »parole«, dem individuellen Sprechakt, und »langue« der kollektiven Sprache. Zentral ist für ihn, dass die individuelle Sprache eines Autors, also die »parole, sich aus dem Vorrat sprachlicher Möglichkeiten, der »langue« bedient. Der Grund, warum ihm bei seinen »Untersuchungen mehr an den Sprachen«, also an der »langue« »in denen Äußerungen vollzogen wurden, als an den Äußerungen selbst« gelegen ist (Pocock 1972: 129).
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auf eher philosophisch-politisch strukturierte Kontexte ab, wobei hier HistorischPolitisches ebenfalls beachtet wird. Darin erkenne ich zwei Vorteile. Erstens, umschiffe ich so das Stichwort »Sprache« und damit das Problem der sprachlichen Übertragungen, will sagen der Übersetzungen.45 Und zweitens, passe ich den geforderten Kontextualismus an den Forschungsgegenstand an – Gorz hat nämlich nicht in der frühen Neuzeit gewirkt und sich einer Sprache bedient, die uns heute weitgehend befremdlich erscheint, sondern im 20. und im frühen 21. Jahrhundert, warum hier keine verschüttete sprachliche Konvention zu Tage gefördert werden muss, um seine Texte zu verstehen. Folgt man dieser Argumentation, dann ist Gorz in viel engerem Rahmen zu kontextualisieren, als dies vor allem Pocock mit der Begrifflichkeit »langue« einfordert. Anstatt also die sprachliche Landkarte der Zeit, verstanden als »langue«, auszurollen, ist mir daran gelegen, den Denkraum zu eruieren, in welchem sein Theoretisieren situiert ist. Im Denkraum, so die allgemeine Überlegung zu diesem Begriff, findet Gorz jenes gedankliche Instrumentarium vor, mit dem er selbst zu theoretisieren – oder, um es in Anlehnung an den Ansatz der Cambridge School zu fassen, theoretisch zu sprechen – beginnt. Ferner zeichnen sich hier nicht nur die intellektuellen Bezugspunkte ab, zu denen das Denken von Gorz Verbindung unterhält, darüber hinaus werden im Denkraum zeitgebundene Aufgaben an ihn herangetragen, anhand derer sich sein Denken mit seiner ganz eigentümlichen Orientierung herausbildet. Wie schon erwähnt, ist dieser Denkraum keineswegs ausschließlich philosophisch strukturiert, sondern wird ebenso miterschlossen durch historischpolitische Kontexte wie dem Nationalsozialismus, dem heißen und kalten Krieg oder auch den Pariser Mai-Ereignissen im Jahr 1968. Auch die Arbeiten Michel Foucaults fordern die personalisierte Ideengeschichte heraus. Er kritisiert radikal die Prämisse dieser Vorgehensweise, nämlich das Konzept des Autors als schöpferisches Subjekt, »als raison d’être eines Werkes und Prinzip seiner Einheit« (Foucault 1969a: 199). Auf die Frage Was
45 Der Ansatz der Cambridge School, mit seiner Akzentuierung der Sprache, ist – meiner Meinung nach – gegenüber einem Problem besonders anfällig, das im Falle von Gorz’ Schriften schwerwiegend ist; nämlich dem Problem der Übersetzung vieler seiner Schriften vom Französischen ins Deutsche. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen. In einem persönlichen Schreiben (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben im September 1992), fügt er dem Wort »heraufzubeschwören«, die Anmerkung an: »und nicht ›beschwören‹, wie es in der Übersetzung des Verräters steht«. Zugespitzt formuliert: Gorz hat zwar ein französisches Buch mit dem Titel Le traître verfasst, dessen Übersetzung ins Deutsche unter dem Titel Der Verräter aber hat mit seiner Autorenschaft nichts gemein; hier verschwindet seine »parole« regelrecht, oder wird zumindest verzerrt.
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ist ein Autor? lässt er verlauten: »der Autor ist keine unendliche Quelle von Bedeutungen, die das Werk erfüllten, der Autor geht dem Werk nicht voraus. Es ist ein bestimmtes funktionelles Prinzip« (Foucault 1969b: 259f.; Fn. 15). Mit der Degradierung des Autors zur ideologischen Figur steht auch der Begriff des Werkes zur Disposition.46 Um den Problemen von Autor und Werk zu entgehen, müsste man nach Foucault von der Person André Gorz ablassen, um diesem Scheinsubjekt »seine Rolle als ursprüngliche Begründung zu nehmen und es als variable und komplexe Funktion des Diskurses zu analysieren« (Foucault 1969b: 259). Seine methodologischen, um den Begriff des Diskurses kreisenden, Überlegungen hier zur Anwendung zu bringen, hieße allererst, eine Gleichgültigkeit gegenüber dem, der spricht,47 also gegenüber Gorz zu entwickeln. Gleichwohl ein solcher Ansatz mit einer Arbeit, die sich insbesondere für die Person André Gorz, für sein Leben wie Werk interessiert, nicht wirklich vereinbar ist, lassen sich mit Foucault eine ganze Reihe von problematisierenden Fragen aufwerfen, die für die anstehende Untersuchung von Bedeutung sind: Denotiert der Name André Gorz einen Text, den er selbst unter diesem »Namen veröffentlicht hat, einen Text, den er unter [s]einem [zweiten] Pseudonym48 vorgestellt hat, einen anderen, […] der lediglich ein Gekritzel, ein Notizbuch, ein ›Papier‹ darstellt, auf die gleiche Weise? […] Muß man außerdem jeden Schmierzettel, jeden ersten Entwurf, Korrekturen und Durchstreichungen der Bücher hinzuzählen? Muß man die verworfenen Skizzen hinzufügen? Und welchen Status soll man den Briefen, den Anmerkungen, den berichteten Gesprächen, den von Hörern niedergeschriebenen Äußerungen, kurz: jenem ganzen Gewimmel sprachlicher Spuren geben« (Foucault 1969a: 37), 46 Bei Foucault heißt es: »Ist ein Werk nicht das, was derjenige geschrieben hat, der der Autor ist? Man sieht gleich die Schwierigkeiten, die sich ergeben: Wenn jemand kein Autor ist, könnte man sagen, dass das, was er geschrieben oder gesagt hat, das, was er in seinen Papieren hinterlassen hat, das, was man von seinen Äußerungen berichten kann, ›Werk‹ genannt werden könnte? […] Das Wort ›Werk‹ und die Einheit, die es bezeichnet, sind wahrscheinlich ebenso problematisch wie die Individualität des Autors« (Foucault 1969b: 240f.). Und an anderer Stelle bemerkt er: »Das Werk kann weder als unmittelbare Einheit noch als eine bestimmte Einheit noch als eine homogene Einheit betrachtet werden« (Foucault 1969a: 38). 47 Die Gleichgültigkeit gegenüber dem, der spricht, formuliert Foucault mit einem Satz Samuel Becketts: »›Was liegt daran wer spricht, hat jemand gesagt was liegt daran wer spricht?‹« (Foucault 1969b: 238). 48 Der bürgerliche Name von André Gorz war Gérard Horst. Neben dem Pseudonym André Gorz veröffentlichte er Texte unter Michel Bosquet, seinem zweiten Pseudonym.
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die André Gorz nach seinem Tod hinterlassen hat? Wie mit derlei Fragen umzugehen ist, die insbesondere die Handhabe des empirischen Materials betreffen, hat Foucault meines Wissens nie konkret beantwortet. Allerdings lässt sich mit Blick auf seine eigenen materialen Untersuchungen annehmen,49 dass er jeglicher Geschichtsschreibung bei der Rekonstruktion eines Geschichtsabschnittes das Heranziehen möglichst vieler und vielfältiger Quellen empfiehlt, um sie auf etwaige Muster und Zusammenhänge zu befragen. Diesem Gedanken folgend, orientiert sich die vorliegende Arbeit nicht allein an Gorz’ Werk, verstanden als seine publizierten Schriften. Und wenngleich nicht jedes Gekritzel und jeder Schmierzettel Bestandteil der Betrachtung sein kann, so wird dennoch versucht, dem Gewimmel sprachlicher Spuren, die Gorz hinterlassen hat, gegenüber sensibel zu sein. Zunächst hieß das, neben den Texten, die er unter seinem zweiten Pseudonym Michel Bosquet veröffentlichte, auch die zahlreichen Interviews in die Untersuchung einzubeziehen, die er im Laufe der Jahre gegeben hat. Freilich wäre die Formulierung, ›dem Gewimmel sprachlicher Spuren, die Gorz hinterlassen hat, gegenüber sensibel zu sein‹, nur eine allgemeine Phrase, wenn ich nicht die Möglichkeit gehabt hätte, zu Studienzwecken das Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine (IMEC) zu besuchen, wo der Nachlass von André Gorz verwaltet wird.50 Das hier archivierte Material – allein ein Briefarchiv mit Korrespondenzen aus vier Dekaden, dazu Notizen, Fotografien und Dokumente – enthält aber nicht die gesamte Korrespondenz.51 Briefe vor allem, die er selbst verfasst hat, sind überwiegend im Privatbesitz derer, mit denen Gorz im brieflichen Austausch stand. Entsprechend galt es, einige dieser Personen ausfindig zu machen und zu konsultieren, um auch die von Gorz verfassten persönlichen Schreiben intensiv studieren zu können. Überdies wird Michel Foucaults Kritik an der traditionellen Ideengeschichte insofern Folge geleistet, indem sich nicht allein auf die Äußerungen von Gorz selbst berufen wird; vielmehr wird sich diesen immer wieder zu entziehen versucht, um sie kritisch überprüfen zu können – z.B. durch das Einbeziehen staatlicher Dokumente wie Meldeunterlagen, Geburtsurkunde, Familienstammbaum etc. In diesem Zusammenhang gab es eine
49 Ich beziehe mich hier auf die Schriften Wahnsinn und Gesellschaft, vgl. Foucault 1961, sowie Die Ordnung der Dinge, vgl. Foucault 1966a. 50 Im Zuge der Materialsammlung gab es eine Forschungsreise im Sommer 2013 an das Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine (IMEC, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich). 51 Nicht alle Briefe befinden sich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine. Hier ist vor allem die Korrespondenz archiviert, die an ihn gerichtet war; persönliche Schreiben also, die Gorz nicht selbst verfasst hat.
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Forschungsreise nach Wien, um im Wiener Stadt- und Landesarchiv52 die von Gorz selbst gemachten Angaben zu seiner Person und seiner Familie, aber auch zu der Namensänderung sowie zu seinem Aufenthalt in Lausanne zu eruieren. Zudem wurden zusätzliche Quellen generiert, und zwar in Form von Gesprächen mit Personen, mit denen er in einem persönlichen Verhältnis wie Austausch stand. Und dies nicht allein deshalb, um die Anzahl derer zu erhöhen, die sprechen, sondern auch, um derart auf einer möglichst breiten, nicht allein vom Autor Gorz induzierten Materialbasis meine Betrachtungen fußen zu lassen. Die Gesprächspartner waren Hans Leo Krämer (Gespräch mit A.H. am 25. Februar 2014 in Prag), Dick Howard (Gespräch mit A.H. am 18. Februar 2013 in Paris), Daniel Cohn-Bendit (Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel), Erich Hörl (Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum), Claus Leggewie (Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen), Stefan Meretz (Gespräch mit A.H. am 04. August 2011 in Berlin), Otto Kallscheuer (Gespräch mit A.H. am 04. Juli 2011 in Bonn) und Rainer Land (Gespräch mit A.H. am 01. Juni 2011 in Schmarsow). Neben einer Sensibilität gegenüber den Problemen der personalisierten Ideengeschichte gewinnt meine interpretative Herangehensweise vor allem Gehalt durch dreierlei: Zum einen durch ein Interesse an der persönlichen Geschichte, was in einer Rekonstruktion einiger markanter Facetten seines Lebens kulminiert. Zweitens durch eine Kontextualisierung, die die intellektuellen Bezugspunkte aber auch das Zeitgebundene seines Denkens deutlich werden lässt. Schließlich durch eine Eruierung von Gorz’ zentraler Problemstellung und Systematisierung seines Theoretisierens. Erst im engen Zusammenhalten einer biographischen, kontextuellen und systematischen Perspektive, so die methodische Überzeugung, lässt sich Gorz’ Denken angemessen begreifen.
IV.
Z UM A UFBAU
DER
A RBEIT
Mein Argumentationsgang gliedert sich in sechs Schritte. 1. Am Beginn steht die Beschäftigung mit den Fragen, was es mit der Formel ›Verdammnis zur Freiheit‹ auf sich hat und was Existentialismus eigentlich ist (B). Für den durchschlagenen Charakter meiner dreiteiligen These, nämlich dass Gorz primär als ein existentialitisch orientierter Denker zu verstehen ist, scheint es mir geboten, mit einem Kapitel einzusteigen, das die Konturen des Existentia-
52 Wiener Stadt- und Landesarchiv (Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 8, Gasometer D, Wien 11, Guglgasse 14).
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lismus zur Geltung kommen lässt sowie zugleich die Palette existentialistischer Motive darlegt, die im Leben wie Werk von Gorz vielgestaltig auftauchen. Nach diesem systematischen Prolog, der die Tiefenstruktur des Denkens von Gorz freilegen möchte und der bereits das Vorhandensein von existentialistischem Denken beim späten, praktisch-politisch agierenden Gorz thematisiert, folgen fünf Studien, die in ihrer Stoßrichtung den oben herausgestellten Problemkreisen folgen und sich in drei größeren Kapiteln wiederfinden. Entsprechend meiner dreiteiligen These wie Herangehensweise thematisieren diese Kapitel Biographisches, Kontextuelles und Systematisches und tragen die Titel »Bemerkungen zum Leben« (C), »Zwei Studien zum Denkraum« (D) und »Zwei Studien zum Werk« (E). Jedes Kapitel sucht unter Gewichtung der jeweiligen Perspektive den korrespondierenden Aspekt der These darzustellen. Obgleich in jedem Kapitel vornehmlich aus einer Perspektive interpretiert und argumentiert wird, ist dem methodischen Postulat des engen Zusammenhaltens einer biographischen, kontextuellen und systematischen Perspektive insofern Folge geleistet, als dass die anderen beiden Blickwinkel hier ebenfalls eingenommen werden – aber eben mit minderer Priorisierung. 2. Im ersten der drei größeren Kapitel wird die Lebensgeschichte von Gorz thematisiert (C). Hinsichtlich des Aufbaus der Arbeit ist dieser Abschnitt eher locker strukturiert und er weist nur punktuell eine systematische Engführung auf. So wird die Biographie weitgehend erzählerisch rekonstruiert und nur einige markante Facetten seines Lebens systematisch befragt. Im strengen Sinn liegt hier also gar keine Studie vor, sondern eher eine aufgelockerte und bisweilen emphatische Vorstellung der Person, die im Fokus des Interesses steht. In diesem Kapitel, das den Titel »Bemerkungen zum Leben« trägt, wird die Frage nach dem Wahrheitsgehalt seiner selbstverbreiteten Lebensgeschichte aufgeworfen, Einblicke in die Kindheit und Jugend gegeben, das innige Verhältnis zu seiner Frau Dorine vorgestellt, der im Jahr 2007 gemeinsam vollzogene Freitod besprochen und vieles andere mehr. In Gänze gesehen, zielen die Ausführungen dieses Kapitels auf das Herausarbeiten des ersten Aspektes meiner These, nämlich, dass davon auszugehen ist, dass Gorz nicht nur mit existentialistischen Motiven theoretisch hantiert, sondern diese bisweilen auch gelebt hat. In überwiegend kontextualistischer Betrachtung analysiert das Kapitel »Zwei Studien zum Denkraum« philosophisch-politische, im Frankreich der Nachkriegszeit situierte und sich entwickelnde Kontexte von Gorz (D). Die leitende Frage, die die zwei hier platzierten Studien zusammenhält, ist, zu welchen intellektuellen Bezugspunkten das Denken von Gorz Verbindung unterhält und wie es sich innerhalb dieser Bezüge adäquat bestimmen lässt, wobei nachstehende Antwort – und damit der kontextuelle Aspekt meiner These – plausibilisiert
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wird: André Gorz ist ein eng mit der Philosophie Sartres in Verbindung stehender Denker, dem eine ›existentialistische Marxinterpretation‹ eigen ist. Zur Plausibilisierung der Antwort wird zweifach angesetzt. 3. Eine erste Studie widmet sich Zusammenhängen und Spannungen zwischen Sartre und Gorz. Die Ausführungen folgen der These, dass Sartre durchgängig das philosophische Idol von Gorz bleibt, wenngleich er sich von den politischen Verirrungen des ›Meisters‹, erinnert sei an stalinistische und maoistische Episoden, distanziert. Aufgezeigt wird, wie er an den Kerngedanken von Sartres Freiheitsphilosophie festhält und gerade dadurch von den politischen Eskapaden seines Lehrers Abstand nimmt (D.I). 4. Nach dieser Konfrontation wird neu angesetzt und in einer zweiten Studie Gorz’ Verhältnis zu Marx und zum Marxismus thematisiert. Im Rahmen der Erörterung dieses Verhältnisses wird der französisch-marxistische Denkraum näher betrachtet, in dem Gorz als Kritiker spezifischer Marxismen, dem eine ›existentialistische Marxinterpretation‹ eigen ist, bestimmt wird (D.II). Das spezifische Verdeutlichen des systematischen Aspektes meiner These erfolgt im Kapitel »Zwei Studien zum Werk«, wo ich mich dezidierter mit zwei Phasen aus Gorz’ Œuvre beschäftige (E). Diese Phasen sind die Hinwendung zur politischen Ökologie in den 1970er Jahren und seine Analyse und Kritik der Wissensökonomie, dem letzten großen Thema von Gorz. Das Verbindene der Beschäftigung mit diesen beiden Werkabschnitten ist die Behauptung, dass seine politisch-praktischen Überlegungen, ob nun hinsichtlich des ökologischen Themas oder jenem der Wissensökonomie, aus einer existentialistisch-subjekttheoretischen Tiefenschicht seines Denkens hervorgehen, dass es also existentialistische Motive sind, die das politisch-praktische Denken von Gorz anleiten. 5. Die erste Studie dieses Kapitels thematisiert die Werkphase der 1970er Jahre, wo Gorz das Thema der Ökologie beschäftigt, eine Beschäftigung, die an den Schriften Écologie et politique (Gorz 1975a) und Écologie et liberté (Gorz 1977a) festgemacht werden kann. Die Hinwendung zur Ökologie zu verfolgen, zielt nicht nur darauf ab zu zeigen, wie wirksam Gorz in ökologische Debatten eingebunden war, sondern insbsondere darauf, das Vorhandensein seiner existentialistischen Problemsicht bei der Beschäftigung mit dem ökologischen Thema zu demonstrieren (E.I). 6. Die letzte der fünf Studien widmet sich der späten Auseinandersetzung von Gorz mit dem Thema Wissen. Existentialistisch-subjekttheoretische Überlegungen, so versucht diese Studie zu umreißen, sind auch für seine letzte Schaffensphase wichtig, die bis Mitte der 2000er Jahre reicht und in deren Zentrum die Schrift L’immatériel (Gorz 2003) steht. Der existentialistisch-subjekttheoretische Grundansatz wird hier, wie ich in dem das Kapitel beschließenden Ab-
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schnitt skizzieren werde, im Rahmen einer Analyse und Kritik der Wissensökonomie wirksam gemacht (E.II). Das Buch schließt mit komprimierten Ausführungen, die als Resümee der Arbeit gelesen werden können. Die knappe Darstellung spiegelt die Grundstruktur der Betrachtung: nochmals wird lebensgeschichtlich angesetzt und über kontextuelle Aspekte zu den Schriften von Gorz vorgestoßen. Es geht hier aber nicht vordergründig darum, die gewonnenen Erkenntnisse der einzelnen Studien zum Leben und Werk zusammenfassen. Vielmehr werde ich im Mischverhältnis der drei Perspektiven der Frage nachgehen, ob Gorz als bloßer Schüler Sartres zu verstehen ist und im Zuge dessen meine existialistische Lesart pointieren (F). Abschließend sei zum Aufbau der Arbeit bemerkt: Es gibt zwar einen Argumentationsgang in Gänze, der versucht einen ›roten Faden‹ zwischen den Kapiteln und einzelnen Abschnitten zu spinnen, aber die jeweiligen Studien und auch mit Abstrichen die Quasi-Studie zur Lebensgeschichte sind als selbstständige entworfen, sie generieren und verfolgen je eine eigenständige These und können unabhängig voneinander, gleichsam selektiv und je nach Interessenlage, einer Lektüre unterzogen werden.
B. Die Verdammnis zur Freiheit
Was ist Existentialismus, welche spezifischen Motive sind mit diesem verbunden und inwiefern taucht dieses philosophische Denken beim späteren Gorz, der die existentialistische Frühphase seines Werkes hinter sich gelassen zu haben scheint und auf politisch-praktischem Feld agiert, noch auf? Um diesen Frageverbund zu beantworten, möchte ich im Folgenden zunächst ein paar allgemeinere Bemerkungen zum Existentialismus, genauer zum Sartreschen Existentialismus, platzieren (I), um in dem so gewonnenen Rahmen dann spezifische Motive auftreten zu lassen, die mit diesem Denken verbunden sind (II). Sodann möchte ich das Vorhandensein von existentialistischen Überlegungen beim späten Gorz zum Gegenstand der Betrachtung machen (III). Die These, die ich vor dem Hintergrund der Fragestellung wie im Zuge des dargetanen Vorgehens verfechten möchte, lautet, dass es einen exklusiven Zusammenhang zwischen dem Gorz’schen Schaffen und dem existentialistischen Denken gibt und dass auch der spätere Gorz, der in seinen Schriften vor allem politisch-praktisch und nicht länger vordergründig philosophisch argumentiert, mit existentialistischen Motiven vielgestaltig hantiert. Beide Aspekte, der existentialistische wie der politisch-praktische, gehören zu einem existentialistisch geschulten, praktisch interessierten und, vermittels seiner Schriften, politisch intervenierenden Denker, der das existentialistische Erwägen und Argumentieren nie hinter sich gelassen hat.
I.
W AS
IST
E XISTENTIALISMUS ?
Im Zentrum des Existentialismus steht die Beschäftigung mit der menschlichen Realität, die als eine ›Verdammnis zur Freiheit‹ ausgezeichnet wird. Der Mensch wird dabei von anderen Dingen scharf unterschieden: »die Menschen sind keine
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Dinge und umgekehrt« (Gorz 1969a: 246).1 Dinge sind das, was sie sind, sie ruhen in Identität. Der Mensch aber ist zur Freiheit verdammt. Das heißt, dass »das Identitätsprinzip kein konstitutives Prinzip der menschlichen-Realität« ist; »die menschliche-Realität« ist im Gegensatz zu den Dingen »ein Sein«, »das das ist, was es nicht ist, und das nicht das ist, was es ist« (Sartre 1943: 138). Die existentialistische Philosophie, die hier in Rede steht, ist um diesen das Identitätsprinzip verneinenden Gedanken herum aufgebaut. Im Folgenden möchte ich diesen Gedanken, den die Formel ›Verdammnis zur Freiheit‹ in sich birgt, präzisieren und im Zuge dessen einige Schlaglichter setzen, die mit dem existentialistischen Freiheitskonzept verbunden sind. Um sich der Frage, was Existentialismus eigentlich ist, anzunähern, werde ich zunächst die Auffassung von der Unnatürlichkeit und Identitätslosigkeit des Menschen ansprechen (1), sodann den handlungstheoretischen Aspekt des Entwerfens skizzieren (2) und schließlich auf die Begrifflichkeiten Mangel und Engagement wie auf die Situiertheit der Freiheit knapp eingehen (3). Am Ausgang des Punktes stehen Ausführungen, die sich um Veranschaulichung des Dargetanen bemühen (4). 1. Unnatürlichkeit und Identitätslosigkeit des Menschen. Für den Existentialisten ist der Mensch dazu verdammt, frei zu sein. Das heißt zunächst, dass für den Menschen gilt, und zwar nur für den Menschen, dass »die Existenz der Essenz vorausgeht« (Sartre 1946b: 172).2 Demnach verfügt der Mensch über kein ursprüngliches Wesen, in dessen Grenzen sich seine Existenz einfügt. Da die Existenz hier keine Unterordnung unter die Essenz erfährt, 3 sondern ihr der Vorrang 1 2
3
In vollem Wortlaut heißt es bei Gorz: »›Es gibt Menschen und Dinge‹, sagte Sartre einmal in einer Diskussion; und die Menschen sind keine Dinge und umgekehrt«. Für Sartre ist diese Einsicht die Kernaussage der gesamten existentialistischen Philosophie. In diesem Sinne betont er: »Gemeinsam ist ihnen [den Existentialisten] einfach die Tatsache, daß ihrer Ansicht nach die Existenz dem Wesen vorausgeht« (Sartre 1946b: 148). Ideengeschichtlich lässt sich dieser Gedanke auf Sören Kierkegaard zurückführen, der gemeinhin als Erster der Existenz den Vorrang vor der Essenz eingeräumt hat. Im Unterschied zur Existentialphilosophie ist der Begriff der Existenz in verschiedenen anderen Denktraditionen dem der Essenz, verstanden als Wesen, einverleibt und untergeordnet. Die Begrifflichkeit Existenz steht dabei für das Konkrete, das Wirkliche, das Seiende, das Existierende, wohingegen der Begriff der Essenz das bezeichnet, was wesentlich ist, also das übergeordnete Allgemeine, das eigentlich Essenzielle und somit das Wahrhaftige des bloß Existierenden. In dieser Hierarchie ist das Existierende lediglich eine zufällige Konkretisierung und Besonderung seines allgemeinen, wahrhaftigen und ewigen Wesens, sprich seiner Essenz. Für eine genauere Darstellung der hier angesprochenen Hierarchie, die in der Existentialphilosophie aufgebro-
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eingeräumt wird, »ist der Mensch verlassen, denn er findet weder in sich noch außer sich einen Halt« (Sartre 1946b: 155). Die aus dem eingeräumten Vorrang der Existenz resultierende Verlassenheit und Haltlosigkeit des Menschen etikettiert der Existentialist mit dem Freiheitsbegriff. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass diesem Verständnis nach der Mensch nicht Freiheit hat oder nicht hat, sondern durch und durch Freiheit ist. Die Freiheit, um die es in der Existentialphilosophie geht, kann weder zugestanden noch verweigert werden und ist deshalb auch nicht explizit politisch.4 Eine Verurteilung, eine Verdammnis ist die Freiheit zuallererst, weil »wir nicht frei sind, nicht mehr frei zu sein« (Sartre 1943: 764). Angesprochen ist hier das Sein des Menschen, wobei das Sein des Menschen und sein Freisein als unterschiedslos prononciert wird. Einher geht das mit einer Absage an eine definitiv festgelegte menschliche Natur. »Wenn tatsächlich die Existenz dem Wesen vorausgeht, ist nichts durch Verweis auf eine gegebene und unwandelbare menschliche Natur erklärbar; anders gesagt, es gibt keinen Determinismus, der Mensch ist frei, der Mensch ist die Freiheit« (Sartre 1946b: 155).
Eine festgelegte Natur würde die Freiheit verunmöglichen, da alle Entscheidungen und Handlungsweisen des Menschen nur Folgen des Diktats seiner Natur wären. Um einem solchen Determinismus zu entgehen, betont der Existentialist die Unvereinbarkeit von menschlicher Natur und Freiheit und setzt den Menschen mit der Rede von der ›Verdammnis zur Freiheit‹ vom Natürlichen ab. Diese Formel ist zuvörderst als eine Weigerung zu verstehen, dem Menschen eine Natur, eine festgelegte Identität zu verleihen. Denn: »Das Sein, das das ist, was es ist, kann nicht frei sein« (Sartre 1943: 765). Folglich gilt: Nur ein unnatürliches Wesen, welches »das ist, was es nicht ist, und das nicht das ist, was es ist« (Sartre 1943: 138) kann frei sein. »Der Mensch ist frei, weil er nicht Sich ist« (Sartre 1943: 765), weil es ihm an Identität und Selbst-Koinzidenz mangelt. Aus diesem Grund kann er sich zu sich selbst verhalten, auf Distanz zu sich gehen wie sich selbst in Frage stellen. Und das können Dinge, die in Identität ruhen und somit sind, was sie sind, nicht.
4
chen wird, sowie hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz vgl. Seibert 2000: 8f. Der existentialistische Freiheitsbegriff geht nicht unmittelbar im politischen Freiheitskonzept, wie es etwa prominent Isaiah Berlin mit seiner Scheidung zwischer ›positiver‹ und ›negativer Freiheit‹ entwickelt hat, auf. Zum politischen Freiheitskonzept und der damit verbundenen Differenz zwischen ›positiver‹ und ›negativer Freiheit‹ vgl. Berlin 1958.
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2. Das Entwerfen. Der Existentialist betont mit dem Freiheitsbegriff »das Sein des Menschen, das heißt sein Nichts an Sein« und damit seine Unnatürlichkeit, die ihn dazu verdammt, »sich zu machen statt zu sein« (Sartre 1943: 765). Nicht festgelegt, nicht programmiert und vorbestimmt, kann der Mensch sich nicht einfach gemäß eines ihm eingeschriebenen Programms verhalten. Vielmehr verdammt gerade das Fehlen eines solchen Programms, einer solchen Identität ihn dazu, sich selbst zu erschaffen, warum der Existentialist betont: der Mensch ist, was er tut, bevor er ist, was er ist. Im berühmten Vortrag Der Existentialismus ist ein Humanismus heißt es dazu: »Der Mensch, wie ihn der Existentialist versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist. Er wird erst dann, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird […]; der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht […]; [er] wird zuerst das sein, was er zu sein entworfen haben wird« (Sartre 1946b: 149f.).
Der Existentialismus erweist sich hier als Freiheitsdenken mit handlungstheoretischem, genauer dezisionistischem Akzent. Aus dieser Perspektive lässt sich die ›Verdammnis zur Freiheit‹ als eine Verurteilung zum Entscheiden verstehen. Der Mensch ist dazu verdammt, immer wieder wählen und entwerfen zu müssen. Ohne Determinanten ausgestattet, findet der Mensch keine Entschuldigungen und Rechtfertigungen für seine Entscheidungen, sondern sieht sich einer radikalen Rechtfertigungslosikeit ausgesetzt, aus der die Verantwortlichkeit für sein Handeln erwächst.5 Neben der Verantwortung wird mit dem Entwerfen abermals die Nicht-Identität, das Nicht-Einssein mit sich selbst, zusammengesehen. Der Mensch ist nicht, was er ist, sondern er ist nur in der Perspektive eines Entwurfs, eines Nochnicht, also einem Sein, das von seiner Vollkommenheit weit entfernt ist. Im Entwerfen zeitigt er sich als ein auf die Zukunft gerichtetes Werden, wobei das, was der Mensch soeben noch war, überschritten wird, weil er sich im Entwerfen vorwegnimmt. Somit verbleibt keine Identität. Der Mensch ist nie identisch mit sich selbst, da das Einssein mit sich selbst immer in die Zukunft verschoben ist.6 Die definitive Antwort auf die Frage ›Wer bin ich?‹ steht also 5
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Die Rede von der Verantwortung muss man nicht in einem starken ethischen Sinn verstehen, da sie nicht kollektiv ausgerichtet ist und sich somit nicht konkret auf andere Personen, sondern in erster Linie auf die individuelle Freiheit bezieht. Entsprechend heißt es: »Wir nehmen das Wort ›Verantwortlichkeit‹ in seinem banalen Sinn von ›Bewußtsein (davon), der unbestreitbare Urheber eines Ereignisses oder eines Gegenstandes zu sein« (Sartre 1943: 950). Diesen Gedanken findet man nicht nur bei Sartre, sondern auch bei Heidegger (1927: 195), der den Aspekt als »das Sich-vorweg-sein« thematisiert. Bei Simone de Beau-
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immer aus, denn das, was der Mensch ist, nimmt durch ein beständiges Tun nie eine statische Identität an. Wäre es anders, hätte der Mensch eine Identität und somit Eigenschaften und Fähigkeiten, die von vornherein festgelegt sind und sein Agieren bestimmen, dann bliebe ihm nach existentialistischer Einsicht keinerlei Möglichkeit, seine Handlungen in Frage zu stellen, was auf bloßes Verhalten hinausliefe und der Unfähigkeit zum Handeln gleichkäme. Nicht-Identität und Handeln, sprich Entwerfen, werden in diesem Gedankengang also eng miteinander verbunden. Das zeigt auch diese Wendung des Gedankens: Da »im Menschen die Freiheit dem Wesen vorausgeht, […] er sein Wesen durch Handeln erschafft« und er nur »das ist, wozu er sich kraft seiner Wahl macht« (Sartre 1945: 1913; Ü.d.Verf.),7 ist die Identität, die er sich aufbaut, stets prekär, weil seine Wesenheit, sprich Identität nur Resultat einer Wahl ist, die per definitionem widerrufbar und abänderlich ist. Das dinghafte Ruhen in Identität spricht der Existentialist dem Menschen rigoros ab, eben auch mittels des handlungstheoretischen Konzeptes des Entwurfs. 3. Mangel, Situiertheit und Engagement. Der Existentialist hebt bei seiner Rede von der Freiheit nicht nur auf die Unnatürlichkeit und die Handlung des Entwerfens ab. Zugleich webt er in das begriffliche Geflecht von Freiheit auch den Begriff des Mangels ein: »die Freiheit [ist] Seinsmangel« (Sartre 1943: 840). Der Mensch wird als unaufhebbares Fehlen an Sein, »als positive Existenz eines Mangels« (Beauvoir 1947: 156) verstanden, der sich aus diesem Grund engagiert und sich in die Zukunft entwirft, um seine Unvollkommenheit zu beseitigen, was aber nicht gelingen kann. Über den Begriff des Mangels kann die Situiertheit der Freiheit angesprochen werden. Freiheit, nun akzentuiert als Gefühl von Mangel und Unvollkommenheit, ist nach existentialistischer Auffassung nämlich immer situiert. Sie ist
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voir (1947: 202) liest man diesbezüglich, »dass der Mensch, wie Heidegger gesagt hat, unendlich mehr ist, als er wäre, wenn man ihn darauf reduzieren würde, das zu sein, was er ist; der Mensch ist ein ›Sich-vorweg-Sein‹, ist Bewegung auf die Zukunft hin, ist Entwurf«. Die Zitation entstammt einem Satz, den Sartre im Jahr 1945 in einem Interview mit Christian Grisoli äußert und der vollständig im Original lautet: »Nous disons qu’en l’homme la liberté précède l’essence, qu’il crée son essence en agissant, qu’il est ce qu’il se fait par son choix, qu’il lui appartient de se choisir bon ou mauvais et qu’il est toujours responsable« [»Wir sagen, dass im Menschen die Freiheit dem Wesen vorausgeht, dass er sein Wesen durch Handeln erschafft, dass er das ist, was er kraft seiner Wahl aus sich macht, dass es an ihm liegt, sich für gut oder schlecht zu entscheiden, und dass er immerfort verantwortlich ist« ].
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also keine reine Willkür, sondern stets konkrete, eingelassene Freiheit. Der Mensch ist »frei nur in Situationen« (Sartre 1943: 879). Erst inmitten des »Widrigkeitskoeeffizienten der Dinge« (Sartre 1943: 833) kann ein Gefühl von Mangel, ein Gefühl von Unvollkommenheit empfunden werden. Ohne einen solchen Bezug zum konkret Gegebenen würde die Freiheit zu etwas Abstraktem verkommen und es würde sich auch kein Empfinden von Mangel einstellen. Deshalb betont der Existentialist, dass »die Freiheit draußen liegt, bei den Dingen, mit deren Hilfe sie sich freimachen kann und ohne die sie nicht existiert« (Gorz 1958: 94). Freiheit hat also nichts mit einem Sichfreihalten, mit Engagementlosigkeit zu tun. Das bedeutet zunächst, dass das Vulgär-Argument bezüglich der existentialphilosophischen Freiheitskonzeption nicht zählt. Nach einem solchen Argument glaubt man es hier mit einem »Stoizismus« zu tun zu haben, »der dem Existentialismus von Sartre eigen« wäre – »so etwa nach dem Motto: Ich sitze zwar im Kerker, habe äußerlich meine Freiheit verloren, aber innerlich fühle ich mich frei, fröhlich und bin bei mir, kann mich als frei empfinden«.8
Einer solchen Auffassung hält der Existentialist entschieden entgegen: »Nein, so geht es nicht und weder Sartre noch Eingekerkerte waren oder sind fröhlich und stoisch. Freiheit erlebt und behauptet der Gefangene dadurch, daß er geheim mit den Mitgefangenen Verbindungen pflegt und unaufhaltsam einen Ausbruch aus dem Gefängnis vorbereitet, oder Pläne aufbaut, für das, was er nach seiner Befreiung unternehmen wird« (Gorz 1983b: 179).
4. Zur Veranschaulichung des bisher Dargetanen lohnt es sich, das Beispiel des Eingekerkerten weiter zu bemühen. Ohne Zweifel, die Lage eines Gefangenen ist ein beengender Zustand. Und doch, so ohnmächtig ihm die Umstände auch erscheinen mögen, in denen er sich im Gefängnis wiederfindet, dem Existentialisten zufolge ist dies keine Situation ohne Freiheit. Auch der Gefangene hat sich zu wählen. Er ist demnach nicht gezwungen, mit den zwingenden Umständen zu koinzidieren, sich ihnen zu fügen; er ist also nicht dazu verdammt, bloßer Eingekerkerter zu sein. Und das, weil er eine andere Lage entwerfen kann, als die, in 8
Bei dieser Zitation handelt es sich um eine Frage, die von Martin Jander und Rainer Maischein in einem Interview an André Gorz gestellt wurde. Die Frage an Gorz beginnt mit den Worten: »Aber ist dies nicht ein Stoizismus, der dem Existenzialismus von Sartre eigen ist« (Gorz 1983b: 179), wobei dann der von Maischein und Jander vermutete Stoizismus am Beispiel des Eingekerkerten expliziert wird.
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der er sich befindet, oder anders formuliert: weil er die Möglichkeit hat, sich »zu seinem eigenen Mangel zu machen« (Sartre 1943: 185), indem er einen Entwurf zeitigt, somit für sich selbst zukünftig ist und im Licht des die Handlung anleitenden Entwurfs den gegebenen Zustand als eine vom Mangel durchdrungene Situation ausweist, in der ihm etwas fehlt, was er noch nicht ist oder hat. ›Freiheit erlebt und behauptet der Gefangene‹, weil er angesichts seiner Lage Mangel empfindet und aus diesem Mangelgefühl heraus das Gegebene handelnd verändern will. Und genau dieses Mangelgefühl hat der ›stoische Gefangene‹ – sofern es überhaupt einen solchen gibt –, der sich ›innerlich frei, fröhlich und bei sich‹ fühlt, nicht. Statt eines Gefühls von Unvollkommenheit ist dieser von einem Gefühl von Vollkommenheit beseelt. Mit einem solchen Gefühl wird man nicht danach trachten, das Gegebene zu verändern. Warum sollte man auch? Um das Gegebene handelnd zu verändern, muss sich der Gefangene ›zu seinem eigenen Mangel machen‹, das heißt, er muss »eine zweifache Nichtung« vollziehen. »Einerseits muss er nämlich einen idealen Zustand als reines gegenwärtiges Nichts setzen«, Stichwort ›das, was er nach seiner Befreiung unternehmen wird‹, »andererseits muss er die augenblickliche Situation in Bezug auf diesen Zustand als Nichts setzen« (Sartre 1943: 765f.), Stichwort Gefängnissituation. Der Eingekerkerte muss sich also in die Nicht-Iidentität begeben, in dem er sich erfasst als »das, was er nicht ist«, Stichworte Ausgebrochener, Befreiter, »und nicht das, was er ist« (Sartre 1948b: 269), Stichwort Gefangener. Er darf also, entgegen dem ›stoischen Gefangenen‹, »nicht Koinzidenz mit sich« (Sartre 1948b: 269) sein. Und dieser ›Koinzidenz mit sich‹ entgeht er in einem spezifischen Entwerfen, in welchem er das Gegebene und somit das, was er ist, überschreitet und dann auf das Gegebene wie das, was er ist, zurückkommt, um es als unerträglichen und zu überwindenden Zustand zu konstituieren. Erst in Folge eines solchen Entwurfs wird er danach trachten, das Gegebene zu verändern, beispielsweise ›unaufhaltsam einen Ausbruch aus dem Gefängnis vorbereiten‹. Die wichtigste Schlussfolgerung, die aus dem Beispiel des Eingekerkerten zu ziehen ist, liegt in der Auffassung, dass das Gegebene die Freiheit nicht zu verschütten vermag und dass in jeder Situation Freiheit verbleibt, auch in der des Gefangenen im Kerker, der für den Existentialisten frei bleibt, aus diesem auszubrechen, und sei es um den Preis des Misslingens des Ausbruchs.
II.
E XISTENTIALISTISCHE M OTIVE
Unter diesem Punkt möchte ich die im vorherigen Abschnitt begonnene Schilderung des existentialistischen Freiheitsdenkens weiterbetreiben und verfeinern.
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Ich werde zunächst zwei Gedankengänge des vorherigen Abschnittes aufgreifen, den zur Situation und dem zum Entwerfen, und deren Erörterung intensivieren. Darzulegen ist beginnend das Hantieren des Existentialisten mit einem doppelsinnigen Begriff der Situation, was die bisherigen Ausführungen noch nicht explizit eingefangen haben (1). Sodann thematisiere ich nochmals das Konzept des Entwurfs und führe in diesem Rahmen das existential-philosophische Motiv der ursprünglichen Wahl ein (2). Im Anschluss geht es um zwei normative Motive, die eine Verfehlung der Freiheit anmerken. Zunächst wird die Begrifflichkeit ›esprit de sérieux‹, der Geist der Ernsthaftigkeit, vorgestellt, mit der insbesondere auf eine Verkehrung des Verhältnisses von Subjekt und Welt abgestellt wird (3). Darauffolgend widmet sich die Darstellung der ›mauvaise foi‹, der Unaufrichtigkeit, mit der der Existentialist die Verfehlung der Freiheit im Verhältnis des Subjektes zu sich selbst betont (4). Der Abschnitt schließt mit Bemerkungen zum Motiv der Authentizität (5). 1. Die Situation. Am Ende des vorangegangenen Abschnitts war von der menschlichen Freiheit die Rede, die das Gegebene nicht zu verschütten vermag. Zu beachten ist hierbei, dass der Existentialist das Gegebene nicht per se als Hindernis der Freiheit versteht. Vielmehr vertritt er die Ansicht: »Der Mensch begegnet Hindernissen nur auf dem Feld seiner Freiheit« (Sartre 1943: 844). Hier lässt sich vorab wiederholen, was bereits beim Beispiel des Eingekerkerten betont wurde. Wer unter einer bestehenden Lage leidet, in ihr ein Gefühl von Mangel empfindet oder sie als hinderlich erlebt, der hat sich bereits engagiert, der hat bereits seine Freiheit eingesetzt und einen Entwurf getätigt. Und zwar insofern, als dass er die gegebene Lage zu einer vorgestellten, unrealisierten Wirklichkeit in Relation setzt. Das Gefühl von Mangel zeigt den Mangel am Bestehenden nur vor dem Hintergrund eines Entwurfs ohne diesen Mangel an. Dem rein Gegebenen mangelt es an nichts;9 das Mangelgefühl stellt sich nur im Lichte eines Freiheitsentwurfes ein, der das Bestehende als eine Situation des Mangels enthüllt. Was hier über den Mangel verlautet wurde, gilt auch für Hindernisse. Ob Gegebenes als Hindernis vernommen wird oder nicht, hängt vom jeweiligen Entwurf ab.10 An dieser Stelle können die im vorherigen Punkt getroffenen Bemerkungen zum Begriff der Situation ergänzt und präzisiert werden. Die Situation ist näm9
Bei Sartre (1943: 185) heißt es dazu: »das An-sich kann für das An-sich nicht Anlaß von Mangel sein«. 10 So kann beispielsweise eine schroffe Felswand für jemanden ein Hindernis darstellen, das den Weg zu einem Zielort versperrt, für einen anderen jedoch ein idealer Ort zum Freiklettern.
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lich nach existentialistischer Einsicht nicht bloße, unbewohnte Realität, sondern sie ist immer schon in Berührung mit Freiheit. Deswegen betont der Existentialist nicht nur, »es gibt Freiheit nur in Situation«, sondern er stellt zugleich heraus, »es gibt Situation nur durch die Freiheit« (Sartre 1943: 845). 11 Dass es ›Situation nur durch Freiheit‹ gibt, besagt, dass man, in welcher spezifischen Lage man sich auch befindet, es nie mit rohen Fakten zu tun hat, sondern immer schon mit gedeutetem Gegebenen. Der Existentialist »weiß, daß das Sprechen Handeln ist: er weiß, daß Enthüllen Verändern ist und daß man nur Enthüllen kann, wenn man verändern will. Er hat den unmöglichen Traum aufgegeben, ein unparteiisches Gemälde der Gesellschaft und des Menschseins« zu entwerfen (Sartre 1948a: 26).
Das Zitat kann als eine Absage an ein Theoriedesign gelesen werden mit dem man meint, rein deskriptiv operieren zu können.12 Wenn man nämlich kein ›un-
11 Für den Existentialisten bedeutet zwar Situiertsein Kontingenz, zufällig hier oder dort geboren zu werden, mithin eine Geworfenheit ins Gegebene, über die man nicht mal ansatzsweise verfügen kann; doch bedarf es für die Enthüllung dieser Faktizität – gemeint sind faktische Bedingungen, die nicht auf eine Wahl rückführbar sind, beispielsweise in einer bestimmten Epoche sowie an einem spezifischen Ort geboren worden zu sein – der Freiheit. Ohne »die Freiheit« kann »die Faktizität nicht entdeckt« werden und hätte »nicht einmal irgendeinen Sinn« (Sartre 1943: 856). Durch die Entdeckung der Faktizität durch die Freiheit kann sich beispielsweise ein Ort, an dem man sich befindet, als nah oder weit entfernt erweisen. Man situiert sich aber nur an einem Ort befindlich, der etwa weit entfernt ist, durch den Bezug zu einem Entwurf, der einen entlegenen Ort thematisiert, beispielsweise nach Shanghai fahren zu wollen. Die Situiertheit am besagten Ort wäre freilich eine ganz andere, wenn es zum Beispiel der Entwurf ist, sich an diesem Platz niederzulassen und ein Haus zu bauen. Nach existentialistischer Auffassung wird Gegebenes durch Freiheit als Situation enthüllt. Die Freiheit als Entwurf kann die Situation aber nur hervorbringen, weil der Entwurf »konstituiert ist als entworfene Modifizierung von dieser Situation«. Die Situation »erscheint von den Veränderungen aus, die ich entwerfe. Aber Verändern impliziert eben etwas zu Veränderndes«, das die Situation ist (Sartre 1943: 853). Es ist dieses Zusammenspiel von Faktizität und Transzendenz, die mit der Formel, ›es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch Freiheit‹, ausgedrückt wird. 12 Zwar geht auch ein Existentialist, sofern er zugleich auch Phänomenologe ist, deskriptiv vor, indem er gelebte Erfahrungen beschreibt, doch beschreibt er diese Erfahrungen so, wie sie sich ihm präsentieren, also im Lichte seiner Freiheit. Gleichwohl muss er, um nicht den ›Traum‹ der Unparteilichkeit zu ›träumen‹, sich dessen auch vollends bewusst sein.
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parteiisches Bild‹ zeichnen kann, also der objektiven Realität nicht geradewegs ins Auge zu sehen vermag, und es stets der Freiheit bedarf, um Gegebenes zu enthüllen, dann kann von karger objektiver Beschreibung der Situation keine Rede sein. Kurz: Es gibt für den Existentialisten keine objektive Lage der Dinge, sondern nur eine gedeutete Situation. In diesem Sinne liest man: »Die Umwelt kann nur in genau dem Maß auf das Subjekt einwirken, wie dieses sie versteht, das heißt sie in Situation verwandelt. Keine objektive Beschreibung dieser Umwelt kann uns also nutzen. Von Anfang an verweist die als Situation verstandene Umwelt auf das wählende« Subjekt (Sartre 1943: 982).
Die Situation ist demnach nichts Statisches, also nie unveränderlich das, was sie ist. In ihrer reinen Gegebenheit ist sie dem Subjekt nicht zugänglich und immer schon durch dessen Deutungen ausgelegt. Genau hierin liegt für den Existentialisten der Grund, warum es das Phänomen gibt, dass Personen, die sich in einer gleichartigen Lage befinden, diese unterschiedlich erleben. Der Begriff der Situation, so kann festgehalten werden, ist in der Handhabe des Existentialisten in zweierlei Hinsicht akzentuiert. Einmal wird mit ihm die Gebundenheit und Konkretheit der Freiheit herausgestellt. Es gibt keine Freiheit ohne Situation, so lautet hier die komprimierte Botschaft. Stets befindet man sich in einer spezifischen Lage, sei es nun das Land, die Familie oder der Körper, in den man hineingeboren wurde. All das stößt einem eher zu, als dass man es wählt. Man ist in eine Lage geworfen, die man nicht entworfen hat, und genau das kennzeichnet die Faktizität des Menschen. Diese Geworfenheit, die Faktizität des Menschen, ist der Ausgangspunkt der tätigen Freiheit, also eines jeden Entwurfs. Man entwirft demnach nicht willkührlich irgendetwas, sondern man entwirft in spezifischer Situation, beispielsweise als Eingekerkerter, als Deutscher, Tochter oder Sohn, Frau oder Mann. Ein jeder Entwurf trägt die Kennzeichen der Situation und erst durch die Situiertheit kann sich das, was der Existentialist Freiheit nennt, freimachen. Das ist die erste Botschaft, die mit den Begrifflichkeiten Situation und Situiertheit verlautet wird. Das andere Mal, und dies ist die zweite Botschaft, wird bekräftigt, dass eine jede Situation, trotz ihrer Bedingtheitsstruktur, immer eine enthüllte und gedeutete Situation ist. Hier lautet die verdichtete Mitteilung: Es gibt keine Situation ohne Freiheit. All das, was man in seiner Geworfenheit vorfindet, beispielsweise das Eingekerkertsein, das Deutschsein, Tochter- oder Sohnsein, Frau- oder Mannsein, existiert für einen nur insofern, als dass man dies auch erfasst. Erfasst man aber eine Gegebenheit, so die existentialistische Einsicht, dann ist man auch selbst im Spiel und damit die tätige Freiheit, die das Gegebene erst in eine kon-
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krete Situation verwandelt.13 Alles Gegebene, so die Überzeugung, erhält seinen Wert und Sinn nur durch die Existierenden, die für den Existentialisten »immer schon Entschleierungsinstrumente sind« (Gorz 1958: 92), die ihre Lage als Situation enthüllen.14 2. Die urprüngliche Wahl. Dass die Existierenden immer schon Entschleierungsinstrumente sind, führt der Existentialist auf etwas zurück, das er als »ursprüngliche Wahl« (Sartre 1943: 800) bezeichnet. Mit diesem Motiv lassen sich die bisherigen Bemerkungen zum Entwerfen präzisieren. Zwar ist der Mensch, wie im vorherigen Abschnitt herausgestellt, zum Wählen, zum Entwerfen verdammt, doch bedeutet dies nicht, tagein, tagaus und in einem fort tiefgreifende Entscheidungen zu fällen. Vielmehr hat man nach existentialistischer Überzeugung immer schon grundlegend gewählt. Nach dieser Einsicht heißt zu sein für den Menschen so viel wie sich zu wählen, und diese Selbstwahl geschieht im Akt der ursprünglichen Wahl. Verstanden wird darunter ein Initialentwurf, der sich habitualisiert, wodurch man sich zu einer bestimmten Person verfestigt. Die ursprüngliche Wahl »verkörpert« sich in den »Entschleierungsinstrumenten«, also »Wissen, Gewohnheiten, Ticks, ›natürliches‹ Verhalten« (Gorz 1958: 43), die man in seinen alltäglichen Gepflogenheiten an den Tag legt. Es handelt sich hier um eine ganz bestimmte ritualisierte Art, die Welt zu erblicken und zu erleben. Angesetzt wird bei der ursprünglichen Wahl nicht bei der Person, sondern bei der Freiheit. Die Freiheit legt sich im Initialentwurf fest und bringt dadurch erst eine Persönlichkeit wie einen persönlichen Willen hervor. Nicht der persönliche Wille fällt die Entscheidung. Vielmehr hat die Freiheit die Entscheidung immer schon getroffen, sobald der Wille auftaucht. »[D]er Mensch wird zuerst das sein, was er zu sein entworfen haben wird. Nicht, was er sein will. Denn was wir gewöhnlich unter wollen verstehen ist eine bewußte Entschei-
13 Bleibt Gegebenes unerfasst, dann ist es auch kein Bestandteil der Situation und die tätige Freiheit wird davon auch keine Spur tragen. Insofern wird hier der erstgenannten Bedeutung des Begriffes Situation, dass es keine Freiheit ohne Situation gibt, auch nicht widersprochen. 14 Ob beispielsweise das Deutschsein, das man als seine Gebenheit entdeckt, ein Wert, Unwert oder belanglos ist, ob man damit ein Gefühl des Stolzes, des Unbehagens oder eines der Gleichgültigkeit verbindet, all dies hängt nach existentialistischer Auffassung vom jeweiligen Entwurf ab, der die Situation des Deutschseins auf je spezifische Weise einfärbt. In diesem Sinne lässt sich pointieren: Als Deutscher situiert zu sein, heißt eben nicht für jeden Deutschen das Gleiche.
50 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT dung, die bei den meisten von uns erst später gefällt wird, von demjenigen, zu dem sie sich selbst gemacht haben. Ich kann Mitglied einer Partei werden, ein Buch schreiben, heiraten wollen, das alles ist nur Ausdruck einer ursprünglicheren, spontaneren Wahl als einer, die man willentlich nennt« (Sartre 1946b: 150).
Der persönliche Wille mit seinem Akt der Dezision stimmt dem bereits Entschiedenen lediglich zu. Der Grundentscheidung geht auch keine Überlegung, kein rationales Erwägen oder Abwägen voraus. »Wenn ich erwäge«, so der Existentialist, »ist das Spiel aus« (Sartre 1943: 782), weil die Freiheit schon tätig war. Erwägen ist wie die Willensentscheidung ein Akt, der der getroffenen Entscheidung nachfolgt und von dieser bedingt ist. »Was diese Wahl betrifft, so ist die Tatsache zu betonen, daß es sich keineswegs um eine erwogene Wahl handelt […], weil sie […] die Grundlage jeder Erwägung ist und weil eine Erwägung […] eine Interpretation von einer ursprünglichen Wahl aus erfordert« (Sartre 1943: 800).
Was jemand ist, seine Persönlichkeit, sein Wille, seine Erwägungen wie Überlegungen, seine Sinn- und Wertvorstellungen, seine Handlungs- und Verhaltensweisen – all dies wird als Ausdruck und Spezifikation der ursprünglichen Wahl verstanden. Selbst psychische Leiden wie das Minderwertigkeitsgefühl führt der Existentialist in diesem Sinne an,15 aber auch Banales und Alltägliches: »Meine nachlässige oder gepflegte Kleidung […], meine Möbel, die Straße, die Stadt, in der ich wohne, die Bücher, mit denen ich mich umgebe, die Zerstreuungen, denen ich nachgehe, alles, was mein ist, das heißt schließlich die Welt, von der ich fortwährend Be-
15 Bei Sartre (1943: 796) heißt es: »Der Minderwertigkeitskomplex selbst ist ein Entwurf meines eigenen Für-sich in der Welt in Anwesenheit des Anderen«. Minderwertigkeit wählt man demnach selbst, indem man sich mit anderen vergleicht und diese als höherwertig beurteilt, wobei entscheidend ist, dass es meine Wertvortstellung ist, aufgrund dessen die Selbstbeurteilung als minderwertig erfolgt. Man kann hier einwänden, dass es nicht die eigenen, sondern vielmehr die gesellschaftlichen Massstäbe sind, aufgrund dessen die Selbstbeurteilung als minderwertig erfolgt. Für den Existentialisten zählt dieser Einwand aber kaum, da er argumentieren würde: Mag sein, dass es die kollektive Werterangordnung ist, vor dessen Hintergrund man sich als minderwertig empfindet, aber das bedeutet nur, dass man die gesellschaftliche Wertskala als die eigene verinnerlicht und damit gewählt hat.
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wußtsein habe […], alles das unterrichtet mich selbst über meine Wahl, das heißt über mein Sein« (Sartre 1943: 803).16
Im »grundlegenden Freiheitsakt« (Sartre 1943: 799), der sich in der ursprünglichen Wahl manifestiert, legt man die Leitplanken seines Selbst fest. Alle weiteren Entscheidungen und Tätigkeiten setzen gemeinhin die Grundentscheidung fort und füllen die im grundlegenden Freiheitsakt gesetzte Rahmung aus. In der Handlungssphäre ist man demnach quasi konditioniert, da im Akt der ursprünglichen Wahl eine Bedingtheitsstruktur eingerichtet wird, die als gewichtiger Faktor alle weiteren Entscheidungen wie Verhaltensweisen einfärbt. Von Freiheit und Entwurf im starken existentialistischen Sinn kann also nur im Hinblick auf die ursprüngliche Wahl gesprochen werden, die sich aus individueller Sicht immer schon ereignet hat, da zugleich mit ihr die persönliche Perspektive erst entsteht. Das was man tut, tut man gewöhnlich in den Bahnen des Selbstentwurfs, und zwar ohne dass für dieses Tun Freiheit exorbitant in Anschlag gebracht werden müsste. Und dennoch pocht der Existentialist darauf, dass man anders handeln kann. Um aber anders handeln zu können, muss man sich als jemand anderes entwerfen, sprich man muss die ursprüngliche Wahl aufbrechen und sie neu ausrichten. Bei aller Bedingtheit, die der Selbstentwurf entfaltet, für den Existentialisten ist die ursprüngliche Wahl eben eine auf Freiheit basierende Wahl und gerade kein unausweichlicher Determinismus. Der Entwurfscharakter des grundlegenden Freiheitsaktes bleibt erhalten; der Grundentwurf ist also nicht unabänderlich. Unter abstraktem Gesichtspunkt besehen, ist das Ändern der ursprünglichen Wahl beständig möglich. Auf dieser Ebene hat das Individuum permanent die Gelegenheit, seinen Selbstentwurf in Frage zu stellen und neu auszurichten. Und das deshalb, weil die Freiheit, die dem Intitialentwurf zugrunde liegt, stets virulent bleibt. Die grundlegende Freiheit, die sich im Akt der ursprünglichen Wahl manifestiert, durch diesen aber nicht verschwindet, bildet den wackeligen, schwankenden Boden, auf dem die Selbstgewissheit aufruht. Die Freiheit droht allzeit das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen, sprich die Festigkeit des urspünglichen Selbstentwurfs aufzulösen. Die ›Verdammnis zur Freiheit‹, aufgrund derer man niemals nur das ist, was man ist, erlaubt, sich auch zum eigenen Selbstentwurf zu verhalten und diesen zu ändern.
16 Die grundlegende Wahl ist nicht derart ein bewusster Akt, wie man sich eines Dinges, beispielsweise eines Tisches bewusst ist. Für den Existentialisten ist diese Wahl »eins mit dem Bewusstsein«. Die »ursprüngliche Wahl«, so betont er, und das »Bewusstsein sind ein und dasselbe« (Sartre 1943: 800f.).
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Was in abstrakter Hinsicht gilt, gestaltet sich im Konkreten schwieriger. Der Existentialist weiß, dass man im normalen Lebensvollzug nur allzu gern beim urspünglichen Entwurf verbleibt und Strategien entwickelt, um der virulenten Freiheit auszuweichen. In der Festigkeit des initialen Selbstentwurfes lebt es sich schlichtweg bequemer, da hier »›die erste Regung immer die richtige ist‹«; »der Bürger von Auteuil geht bekanntlich niemals nach Aubervilliers« (Gorz 1958: 86). Gemeinhin führt das von der ursprünglichen Wahl initiierte Agieren zu alltäglichen Gepflogenheiten und Gewohnheiten, zu ›natürlichem‹ Verhalten bis sich schließlich diese Wahl habitualisiert. Im Ärgsten hat man sich im Selbstentwurf derart eingewurzelt, dass man seine ›Verurteilung zur Freiheit‹ gar nicht mehr vernimmt. Der Existentialist spricht dann von einer Verfehlung der Freiheit oder auch von einem »Fluchtentwurf« (Sartre 1943: 159). In systematischer Hinsicht wird das Verfehlen der Freiheit mit zwei normativen Motiven angezeigt, der ›mauvaise foi‹, der »Unaufrichtigkeit« (Sartre 1943: 120) und dem ›esprit de sérieux‹, dem »Geist der Ernsthaftigkeit« (Sartre 1943: 108). 3. Der Geist der Ernsthaftigkeit fungiert als Gegenbegriff zur Angst.17 Der Begriff der Angst kennzeichnet im existentialistischen Gedankengebäude die bewusste Durchdringung der ›Verdammnis zur Freiheit‹. »In der Angst erfasse ich mich als total frei und gleichzeitig als gar nicht verhindern könnend, daß der Sinn der Welt ihr durch mich geschieht« (Sartre 1943: 109). Beim Geist der Ernsthaftigkeit handelt es sich nun um ein »Geländer gegen die Angst« (Sartre 1943: 108). Abgestellt wird mit dieser Formulierung auf eine Verhaltensweise, die der ›Verdammnis zur Freiheit‹ zu entkommen sucht. Gleichwohl ist auch dort, wo der Geist der Ernsthaftigkeit waltet, das Entwerfen im Spiel. Es handelt sich dabei aber eben nicht um einen Freiheitsentwurf, sondern um einen Seinsentwurf, der das Vorfindbare verehrt und den etablierten Wertekanon huldigt wie verinnerlicht. Die etablierten Werte sind »auf meinem Weg gestreut als tausend kleine reale Aufforderungen, ähnlich den Schildern, die verbieten, den Rasen zu betreten« (Sartre 1943: 107). Und im Ernsthaften stelle ich diese Aufforderungen nicht in Frage, sondern folge ihnen blindlings. In der Schrift Saint Genet ist ein solches Verhalten wie folgt beschrieben:
17 Die Thematisierung des Begriffs der Angst, die im Sartreschen Existentialismus zum Vorschein kommt, stammt von Sören Kierkegaard (1844: 43), der vom »Nichts der Angst« spricht und darunter »die ängstigende Möglichlichkeit zu können« versteht.
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»Man reduziert das Neue auf das Alte. Instandhalten, aufrechterhalten, bewahren, wiederherstellen, wieder erneuern, das sind die erlaubten Handlungen; sie gehören alle zur Kategorie der Wiederholung. Alles ist voll, alles hält zusammen, alles ist in Ordnung, alles hat immer existiert, die Welt ist ein Museum, dessen Konservatoren wir sind« (Sartre 1952b: 45).
Im Zeichen des Ernstes verfehlt sich die Freiheit, da eine Verkennung des Verhältnisses von Subjekt und Welt stattfindet – und gerade das wird mit dem Motiv des Ernsthaften angezeigt. »Im Ernsthaften definiere ich mich vom Gegenstand aus, indem ich a priori alle Unternehmungen als unmöglich beiseite lasse, die ich nicht gerade unternehme, und den Sinn, den meine Freiheit der Welt gegeben hat, als von der Welt kommend und für meine Verpflichtungen und mein Sein konstitutiv erfasse« (Sartre 1943: 108f.).
Das Freisein des Menschen geht mit dem Vermögen zur Umgestaltung einher. »Diese ständige Umgestaltung, diese Kraft zur Initiative und Veränderung, eben das ist die Freiheit« (Gorz 1958: 93). Die Freiheit realisiert sich, indem sie das Vorfindbare, die Gebenheiten der Welt transzendiert. Im Geist der Ernsthaftigkeit erhebt man nun nicht seine ›Verdammnis zur Freiheit‹, seine Fähigkeit zur Umgestaltung zur Definitionsgrundlage seines Lebensvollzugs, sondern die bereits gegebene Welt. Hier hypostasiert man die Gegebenheiten der Welt, die eine jede Existenz umstellen, zu Unabänderlichkeiten und versieht das, was tatsächlich durch die Freiheit umgestaltbar ist, mit dem Nimbus des Verbindlichen und Ewigen. Überall dort, wo der ›esprit de sérieux‹ gebietet, tritt das vermeintlich Unumgängliche auf den Plan. Nur das Gegebene erhält Bedeutung, was nicht bereits vorhanden ist, verbleibt im Unvorstellbaren. Zudem: Jegliche Handlungsmöglichkeiten werden ausgeixt und ein festgefügtes Verhalten an den Tag gelegt. Indem dieser Entwurf »uns darauf reduziert, immer nur das zu sein, was wir sind« (Sartre 1943: 109f.), erstarrt das Subjekt zu einem beruhigenden, dinghaften Identitätsblock, wodurch es sich nicht länger vernimmt als »verurteilt, frei zu sein« (Sartre 1943: 764). Damit ist das Verhältnis von Subjekt und Welt für den Existentialisten verdreht. Anstatt sich seiner Kraft zur Initiative zu bedienen, um die Gegebenheiten der Welt umzugestalten, projiziert das Subjekt diese Kraft auf die gegebene Welt und richtet sich nach deren Taktschlag aus, um sich der ›Verdammnis zur Freiheit‹ zu entledigen.
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Weil man sich in der Haltung des ›esprit de sérieux‹ am Taktschlag der gegebenen Welt ausrichtet und deren Imperativen folgt, haben einige Existentialisten das Obwalten des Ernsthaften in der Kindheit herausgestellt18 und so eine Verbindung zur ursprünglichen Wahl gezogen. »Im Ernst der Kindheit haben wir gelernt, die Welt nicht als das Werk schaffender Freiheit zu betrachten, sondern als theokratische Ordnung, deren Götter die Erwachsenen sind. Für das Kind ging es nur darum, mit den unverstandenen, fremden, absoluten Gesetzen, Normen und Befehlen, die seine Existenz von außen beherrschen, übereinzustimmen […]. Es erhält in Bausch und Bogen, als einen gegebenen Wert, den gesamten objektiven Geist der Gesellschaft und sieht sich vor die Aufgabe gestellt, sich ihm anzupassen (durch Lernen, durch Dressur) […]. Man ist also zu der Ansicht berechtigt, dass das Kind, in diesem Stadium, aus dem soziokulturellen Erbe, das ihm eingebläut wird, den einzigen Entwurf herleitet, den es sein kann« (Gorz 1958: 56).19
In dieser Perspektive wird deutlich: Die ursprüngliche Wahl, die sich als Persönlichkeitsentwicklung eines Individuums in der Kindheit vollzieht und als Sozialisierung verstanden werden kann, ist zumindest im Normalfall ein vom Geist der Ernsthaftigkeit beseelter Seinsentwurf. Auf dieser Argumentationslinie kann man dann aber nicht mehr – obgleich der ›esprit de sérieux‹ streng gebietet – von einer Flucht vor der Freiheit oder einem »Fluchtentwurf« (Sartre 1943: 159)
18 Neben Gorz hat auch Simone de Beauvoir das Ernsthafte mit der Kindheit in Verbindung gebracht: »Für das Kind sind die menschlichen Erfindungen, die Worte, die Sitten, die Werte, im Voraus gegebene, unveränderlichen Fakten wie der Himmel und die Bäume; das heißt, die Welt, in der das Kind lebt, ist die Welt der Ernsthaftigkeit, ist es doch dem Geist der Ernsthaftigkeit eigen, die Werte als fix und fertige Tatsachen anzusehen« (Beauvoir 1947: 134). 19 Für Gorz scheint die ursprüngliche Wahl in die Kindheit hineinzureichen, wohingegen für Sartre, folgt man der Interpretation von Annemarie Pieper (2003: 204), dieser Initialentwurf »nicht an einem datierbaren Zeitpunkt, der biographisch exakt eruierbar wäre«, geschieht. Beruft man sich aber auf einige Stellen aus Von Ratten und Menschen, vgl. Sartre 1958: 433, sowie auf einige Passagen aus Entwürfe für eine Moralphilosophie, vgl. Sartre 1947/48: 338-341, insb. 341, dann scheinen mir Gorz und Sartre nicht wirklich auseinander zu liegen, da auch letztgenannter den Grundentwurf mit der Kindheit in Zusammenhang bringt. Hinzu kommt, dass Gorz sich bei seinen Überlegungen zur ›ursprüngliche Wahl‹ explizit auf Sartre beruft, vgl. Gorz 1958: 143; Anm., wo Sartre unter dem Pseudonym ›Morel‹ figuriert.
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sprechen, da die Freiheit noch nicht erfasst wurde. Kurz: Das Kind hat noch keine ›Angst‹.20 4. Die Unaufrichtigkeit. Der Geist der Ernsthaftigkeit steht im Bann des Konzeptes der Unaufrichtigkeit, das in der Handhabe des Existentialisten das wichtigste Begriffswerkzeug ist, um die Flucht vor der Freiheit herauszuarbeiten. Während der ›esprit de sérieux‹ die Verfehlung der Freiheit in der Beziehung zwischen Subjekt und Welt kennzeichnet, thematisiert die ›mauvaise foi‹ diese Verfehlung im Verhältnis des Subjektes zu sich selbst. Als Ausgangspunkt zur Rekonstruktion der ›mauvaise foi‹ lässt sich das Gegensatzpaar Faktizität und Transzendenz setzen – wobei ich bei der Klärung dieser Begriffe punktuell bereits Verhandeltes nochmals ausstellen werde, was für das Verständnis des Motivs der Unaufrichtigkeit dienlich sein mag. Für den Existentialisten besteht die »doppelte Eigenschaft des menschlichen Seins [darin], eine Faktizität und eine Transzendenz zu sein«; beides sind »Aspekte der menschlichen-Realität« (Sartre 1943: 134f.). Der Begriff der Faktizität kennzeichnet die faktische Ausstattung der menschlichen Realität; Transzendenz verweist auf die Freiheit und wird als Fähigkeit verstanden, Gegebenheiten umzugestalten. Konkretisierungsformen der Faktizität des Menschen sind etwa seine Leiblichkeit, seine Sterblichkeit oder auch der soziale wie historische Kontext, in dem er eingebettet ist. Die Faktizität bindet die Transzendenz und verleiht dieser Kontur, indem sie die Möglichkeiten zur Umgestaltung einschränkt. Erst durch die Faktizität wird die Freiheit zu einer konkreten, eingelassenen Freiheit. »Ohne die Faktizität könnte das Bewußtein« nämlich »seine Bindungen an die Welt« frei wählen: »ich könnte mich dazu bestimmen, ›als Arbeiter oder Bürger geboren zu werden‹« (Sartre 1943: 179), was freilich völlig abstrakt und realitätsfern wäre. Dementgegen pocht der Existentialist darauf, dass man frei nur im Rahmen einer spezifischen Lage ist, beispielsweise in der Situiertheit eines Arbeiters, warum er auch von einer »gebundenen Freiheit« (Beauvoir 1947: 108) spricht. 20 Im Normalfall erhält die Angst erst mit der Adoleszenz Einzug, wodurch die Welt des Kindes ins Wanken gerät. Der Jugendliche entdeckt, dass die Menschen »keine Götter« sind und »dass die ihn umgebende Wirklichkeiten menschlichen Charakter haben: Die Sprache, die Gewohnheiten, die Moral, die Werte gehen von diesen unzuverlässigen Geschöpfen aus«. Von nun an muss der Jugendliche »wählen und sich entscheiden. Man versteht, dass es für den Heranwachsenden schwierig ist, diesen Augenblick seines Lebens zu durchleben, und sicherlich ist dies auch die tiefste Ursache der im Jugendalter auftretenden Krise: Der Einzelne muss nun endlich seine Subjektivität auf sich nehmen« (Beauvoir 1947: 138).
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Die doppelte Eigenschaft des menschlichen Seins, zugleich eine Faktizität und eine Transzendenz zu sein, lässt sich als permanente Spannung, als Zerrissenheit im Sinne unaufhebarer Nicht-Identität verstehen. Es ist diese Struktur der Ambivalenz, in der der Existentialist den Menschen arretiert sieht: Einerseits ist er das, was er ist, sprich eine Faktizität, ein Gegebenes, eine Anwesenheit in der Welt wie eine Gebundenheit an diese; andererseits ist er das, was er nicht ist, eine Transzendenz, eine Subjektivität, die sich aufgrund des Entwerfens nicht auf bloß Gegebenes reduzieren lässt. Am Beispiel des Arbeiters exploriert, heißt das: Der Arbeiter ist, was er ist, aber er kann sein Arbeitersein nicht nach dem SeinsModus eines Dings realisieren, das nur das ist, was es ist – etwa wie eine Tapete grau ist. Kurz: Auch ein Arbeiter ist »verurteilt, frei zu sein […], weil er nicht sich ist« (Sartre 1943: 764f.). Man kann die ›Verdammnis zur Freiheit‹, die bei genauer Betrachtung eine Verurteilung zu einem Leben in Ambivalenz und Nicht-Identität ist, im Konnex der ›mauvaise foi‹ als eine beständige Zumutung und Belastung verstehen, die zur Überforderung tendiert und der zu entkommen man stets geneigt ist. In der Unaufrichtigkeit entlastet man sich von der Zumutung, in der Permanenz einer Nichtübereinstimmung leben zu müssen, in der Doppeleigenschaft von Faktizität und Transzendenz. Aus diesem Grund inszeniert das Subjekt im Geschehen der ›mauvaise foi‹ »ein ständiges Entwischspiel« (Sartre 1943: 137), wobei es seine Ambivalenz einzieht und der Nicht-Identität ausweicht. Bei diesem Entwischspiel wird durch ein wechselseitiges Ausspielen von Faktiziät und Transzendenz versucht, Zuflucht zu einer Identiät zu nehmen. Um sich zu fixieren, wird, je nach Bedarf und Gelegenheit, entweder die Transzendenz oder die Faktizität dominierend in den Vordergrund gestellt. Im Ausspielen der Transzendenz zu Lasten der Faktizität verdrängt man die Realien, die man geschaffen hat und klammert sich einseitig an die Freiheit. Statt die Tatsachen seiner Verhaltensweisen an und auf sich zu nehmen, blendet man diese aus und votiert zum unentwegten Losreißen und Neuerfinden, um sein vergangenes Verhalten von sich zu weisen.21 Beim Ausklinken der Transzendenz zu Gunsten der Faktizität hingegen verbirgt man das Freisein und klammert sich einseitig an das Gegebene und Bestehende.
21 Dieses Votieren zur Freiheit ist vor allem deshalb ein falsches oder unaufrichtiges Bekenntnis zur Freiheit, weil man hier sein Freisein nicht als Möglichkeit zur Umgestaltung der eigenen Faktizität auffasst, sondern die eigene Gebundenheit wie das Sein eines Dings betrachtet und von sich weist; man reißt sich von der eigenen Faktizität los und erklärt diese nicht zu sein »in dem Sinn, wie dieser Tisch ein Tintenfaß nicht ist« (Sartre 1943: 148).
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Der Existentialist führt eine Vielzahl an Beispielen an, um seine systematischen Einsichten zur ›mauviase foi‹ zu erhellen und das wechselseitige Ausspielen von Faktizität und Transzendenz zu demonstrieren. So etwa das vom »Homosexuellen«, der es »mit allen seinen Kräften ablehnt, sich als ›einen Päderasten‹ zu betrachten« und der mittels einer »fortwährenden Wiedergeburt« und eines »ständigen Ausbrechens« sich selbst wie seine Verhaltensweisen »außer Reichweite« bringt (Sartre 1943: 147f.) – wodurch er Faktizität in Transzendenz verwandelt;22 oder jenes von der flirtenden Frau, die sich in einem komplexen Entwischspiel unter anderem weigert im momentanen (Balz)Verhalten ihres Verehrers die sich abzeichnenden (sexuellen) Möglichkeiten zu erkennen und dadurch Transzendenz als Faktizität ausgibt.23 Eine der berühmtesten Konkretisierungen der Unaufrichtigkeit ist das Beispiel des Kellners, welches Sartre in L’être et le néant gibt.24 Beobachtet wird ein Kellner im Café. Er legt »eifrige Bewegungen« an den Tag; er geht »mit einem etwas zu lebhaften Schritt auf die Gäste zu«; »mit etwas zuviel Beflissenheit« verbeugt er sich, um die Bestellung entgegenzunehmen. Prompt kommt er mit gefüllten Gläsern zurück. Das Tablett trägt er »mit einer Art Seiltänzerkühnheit«, während er zugleich bemüht ist, »mit seinem Gang die unbeugsame Strenge irgendeines Automaten zu imitieren«. Das Verhalten wirkt »wie ein Spiel«; der Kellner »spielt Kellner sein«. Im Spiel ist die Unaufrichtigkeit noch nicht gegeben. Vielmehr realisiert der Kellner hier noch die Transzendierung seiner Faktizität. Seine Faktizität besteht darin, Kellner zu sein. Seine Lebensumstände, etwa etwaige Geldsorgen etc., wie seine getroffenen Entscheidungen haben ihn in diese soziale Position gebracht, ihn das werden lassen, was er ist, nämlich Kellner. Aber im Spiel ist der Kellner noch nicht ganz und gar Kellner, er spielt seine soziale Rolle lediglich, gleich einem Schauspieler, der eine historische Figur mimt. Er ist noch ohne Kellner-Identität, ohne KellnerKoinzidenz. Als Spielender erkundet er seine Rolle, erforscht die ganze »Zeremonie« und »den Tanz«, die die Kundschaft von seiner sozialen Stellung verlangt und findet sich so in der Kellner-Rolle allmählich zurecht. Was nun den Kellner in die ›mauvaise foi‹ hineingleiten lässt, ist das enorme Gefallen, das er in der Ausübung der Zeremonie empfindet, die andere von ihm verlangen. »Er spielt, es macht ihm Spaß« bis er schließlich »den Tanz« habitualisiert, der mit 22 Eine ähnliche Illustration der Unaufrichtigkeit ist das Beispiel vom sexuell Gehemmten, der seine Hemmung zur zentralen Richtschnur und asketischen Maxime seines Lebensvollzugs aufwertet, vgl. Gorz 1958: 89. 23 Dieses Beispiel nimmt im Kapitel über die Unaufrichtigkeit in L’être et le néant eine zentrale Stellung ein, vgl. Sartre 1943: 132-135. 24 Für die nachstehenden Zitationen vgl. Sartre 1943: 139-141.
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der sozialen Rolle des Kellners verbunden ist. Fortan essentialisiert er sein Kellnersein und nagelt sich in der Kellner-Identiät fest. Die Unaufrichtigkeit des Kellners besteht darin, dass er in seiner sozialen Stellung aufgeht und darüber sein Freisein ausblendet; er gibt seine Transzendenz als Faktizität aus. »Was« er nämlich »zu realisieren« versucht, »ist ein An-sich-sein des Kellners […], als ob es« seine »freie Wahl« gar nicht geben würde. Warum verhält er sich derart? Für den Existentialisten lautet die Antwort: Weil er seiner ›Verdammnis zur Freiheit‹ flieht, in dessen Angesicht er sich eingestehen müsste, dass er sein Kellnersein im Handlungsvollzug auch frei wählt, und genau das ängstigt ihn. Obliegt es doch der freien »Wahl«, so schiebt der Existentialist pointiert nach, »jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen oder im Bett zu bleiben, auf die Gefahr hin, entlassen zu werden«. 5. Authentizität. Als Gegenbegriff zur Unaufrichtigkeit figuriert nicht die Aufrichtigkeit, sondern die Authentizität. Auch der Aufrichtige, der »Verteidiger der Ehrlichkeit«, ist unaufrichtig, weil er der ›Verdammnis zur Freiheit‹ ausweicht und sich durch faktizitätsbildende Interpretationen und Urteile »beruhigen will« (Sartre 1943: 149).25
25 In einer Passage über den authentischen Dialog lässt sich die Figuration des Verfechters der Aufrichtigkeit ausmachen, wobei besagter Verfechter hier jener ist, der diesen Dialog verunmöglicht: »Ich weiß genau, dass Misstrauen gegenüber der Sprache, die ständige Furcht, falsch verstanden zu werden und dir Absichten unterschieben zu lassen, die du nicht hattest, aber die der andere als deine Fehler entdeckt, liegen tief in jedem von uns als die Gewissheit der gescheiterten Kommunikation, als unsere unwiderrufliche Einsamkeit. Aber wir wissen auch, dass wir nicht allein sind und dass der authentische Dialog auf dem Eingeständnis seines Scheiterns gründet, auf dem Eingeständnis, dass wir nie alles gesagt haben und alles immer noch zu sagen bleibt. Und der authentische Dialog ist genau dann unmöglich, wenn einer der beiden Gesprächspartner sich weigert, seine Niederlage einzugestehen und sich mit dem Prestige der anonymen Sprache, die man mittels seiner spricht, umgibt wie mit einem Panzer« (Gorz 1958: 332f.). Der Verfechter der Ehrlichkeit ist hier nicht nur jener, der beim Gegenüber Fehler entdeckt, er ist zudem der, der sich weigert, einzugestehen, dass nie alles gesagt ist und stets alles noch zu sagen bleibt – eben weil der Mensch kein Ding ist, kein »Sein, das [bloß] ist, was es ist« (Sartre 1943: 765). Aber genau ein solches Dingsein versucht der Eiferer der Ehrlichkeit durch seine Weigerung aus sich wie aus seinem Gegenüber zu machen; er will fixieren, stilllegen, »[m]achen, daß« jeder sich »das eingestehe«, was er ist, damit der eine wie der andere mit sich »übereinstimme« (Sartre 1943: 151). Kurz: er stülpt der Tanszendenz Faktizität über, schlittert so in die ›mauviase foi‹ und ist obendrein dem Geist der Ernsthaftigkeit verfallen, da er sich
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Zum Begriff der Authentizität stößt der Existentialist vor, indem er mit dem Konzept der Unaufrichtigkeit die Möglichkeit der Selbstentfremdung exponiert, wodurch die Analyse der ›mauviase foi‹ eine generelle normative Wendung erfährt.26 Der Mensch »kann sich entfremden, vor sich selbst als Bewusstsein fliehen und das eigentliche Verständnis, das er ist, verschleiern, indem er seine Selbstgegenwärtigkeit degradiert und sich unaufrichtig macht« (Gorz 1955: 68; Ü.d.Verf.).27
Wer von Entfremdung spricht, muss das Unentfremdete ausweisen, vor dessen Hintergrund der normative Befund der Entfremdung Kontur gewinnt. Und hierzu dient der Begriff der Authentizität. Authentisch ist, wer die ›Verdammnis zur Freiheit‹ an und auf sich nimmt und vor dieser nicht flieht. In spezifischer Betrachtung lassen sich mit Blick auf die authentische Haltung drei Aspekte herausheben. Erstens, der Flucht in die Unaufrichtigkeit wird widerstanden. In der authentischen Haltung nimmt man nicht einseitig zur Transzendenz oder Faktizität Zuflucht, sondern strebt eine Koordinierung der beiden Momente an. Für den Existentialisten sind diese »beiden Aspekte der menschlichen-Realität« nämlich »koordinierbar und müssen es sein« (Sartre 1943: 134f.). Gefordert wird, die NichtÜbereinstimmung mit sich selbst, verstanden als Spannungsverhältnis von Transzendenz und Faktizität, auszuhalten und zu leben. Zweitens, die authentische Haltung bewirkt, »uns auf den Geist der Ernsthaftigkeit verzichten zu lassen« (Sartre 1943: 1069). Zur Erinnerung: In der Haltung des ›esprit de sérieux‹ sind die Werte, etwa »Gesundheit, Reichtum, Bildung«, immer schon fix und fertige Werte, »deren Kurs am Himmel notiert ist« (Beau-
mit der Autorität der etablierten und anonymen Sprache panzert und beschwert, ›die man mittels seiner spricht‹. 26 Die Analyse der Unaufrichtigkeit dient zunächst lediglich dazu, die anthropoligische Konstellation der ›Verdammnis zur Freiheit‹ zu beweisen – schließlich kann sich nur etwas selbstentfremden, das im Prinzip frei ist. In diesem Sinne wird gefragt: »Was muß der Mensch in seinem Sein sein, damit es ihm möglich ist, sich zu leugnen«, sich also unaufrichtig zu verhalten? (Sartre 1943: 120). Als Antwort auf diese Frage wird verlautet: »Die Möglichkeitsbedingung der Unaufrichtigkeit ist, daß die menschliche Realität […] das ist, was sie nicht ist, und nicht das ist, was sie ist« (Sartre 1943: 153) – womit auf die ›Verdammnis zur Freiheit‹ verwiesen wird. 27 Im Original: »Bref il peut s’aliéner, se fuir comme conscience et obscurcir la compréhension originelle qu’il est en se dégradant comme présence à soi, en ›se mettant‹ de mauvaise foi«.
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voir 1944: 333). In der authentischen Haltung richtet man seine Entscheidung nicht an der etablierten Rangordnung der Werte aus, sondern hinterfragt diese und erkennt damit zugleich, dass »meine Freiheit die einzige Grundlage der Werte« ist und dass nichts rechtfertigt, »diesen oder jenen Wert, diese oder jene Wertskala zu übernehmen« (Sartre 1943: 106). Drittens, die Authentizität verlangt das Aufbrechen der ursprünglichen Wahl. Angesinnt wird ein Bewusstwerdungsprozess, ein »erfassen« der »Freiheit« wie ein Herstellen »eine[r] neue[n] Beziehung des Für-sich zu seinem Entwurf« (Sartre 1947/48: 884). Die Selbstgewissheit und Ich-Identität sollen als bloßer Entwurf und Freiheitsakt enthüllt werden. Damit wird die dem Initialentwurf zugrunde liegende Freiheit vom unreflektierten Bereich auf die Ebene der Reflexion gehoben, wo die Freiheit erfasst und zu einem authentischen Entwurf neu ausgerichtet werden kann. Hilfreich ist der Begriff der Distanz, der als eine Art Schlüsselbegriff herangezogen werden kann, um die Implikationen des authentischen Entwurfs zu erhellen. Authentizität erfordert es nämlich, beständig zu sich selbst auf Distanz zu gehen, seinen Lebensentwurf und die ihn begleitenden Entscheidungen permanent zu hinterfragen, das heißt, dem eigenen Ich wie seinen Handlungen mit Argwohn zu begegnen. Nur wer Abstand nimmt von sich selbst und seinen Entwürfen, kann sich wie diese reflexiv betrachten und befragen. Das Moment des Authentischen zieht sich ein, sobald diese reflexive Distanz gewahrt wird, deren Begleiterscheinung es ist, immer wieder von Neuem entscheiden zu müssen, ob man den eingeschlagenen Weg beibehält oder kehrtmacht, ob man also am jeweiligen Entwurf festhält oder ihn verwirft. Durch dieses beständige Befragen und Entscheiden kommt man nicht zur Ruhe, ist in beständige Unruhe versetzt, vermeidet es aber auch zu sein. »Die Authentizität führt also zum Verzicht auf jeden Entwurf, mutig (feige), vornehm (gewöhnlich) usw. zu sein. Weil sie irrealisierbar sind und auf jeden Fall zur Entremdung führen. Sie entdeckt, dass der einzige gültige Entwurf derjenige ist, zu tun (und nicht zu sein), […] die Authentizität [besteht] darin, die Suche nach dem Sein abzulehnen, weil ich immer nichts bin« (Sartre 1947/48: 828).
Der Existentialist spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »permanente[n] Konversion«, und zwar im »Sinne Trotzki: permanente Revolution« (Sartre 1947/48: 28), um den Gewohnheiten zu trotzen.28 Unablässiges Distanz-Einnehmen, »ständige[s] Infragestellen« und »immerwährende[s] Überschreiten« 28 In Entwürfe für eine Moralphilosophie heißt es: »Die guten Gewohnheiten: sie sind niemals gut, weil sie Gewohnheiten sind« (Sartre 1947/48: 28).
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(Sartre 1947/48: 833) sind die Handlungen, die die Authentizität billigt. Man kann hier anmerken, dass Authentizität kein Zustand ist, sondern stets im Handlungsvollzug errungen werden muss. Jeder neue Entwurf wird zum erneuten Betrachtungspunkt der reflexiven Distanz und zum neuen Ausgangspunkt der Überschreitung. Im durch und durch beweglichen Entwurf der Authentizität »will« man »nicht das SEIN, sondern die Existenz« (Sartre 1947/48: 833), man strebt also in immer neuen Anläufen danach, seine Existenz »als ein Sein zu kontituieren, das das ist, was es nicht ist, und das nicht das ist, was es ist« (Sartre 1943: 138). Im authentischen Entwurf ist man demzufolge nie Koinzidenz mit sich. Authentizität sollte von daher nicht als Identität missverstanden werden, sie hat nichts gemein mit einem wie auch immer gedachten Bei-sich-Sein, In-sichRuhen oder Zu-sich-selbst-Finden. »Sich für sich interessieren und sich in sich selbst suchen, ist das sicherste Mittel, sich nicht zu finden […]. Mehr Aussichten, sich zu finden, wird man haben, wenn man sich für die Welt interessiert, etwas unternimmt, sich eher vergisst, das heißt aufhört, ein an irgendeine Norm angepasstes Sein für sich zu suchen« (Gorz 1958: 94f.).
Authentizität ist Aktivität und Unruhe, das bewusste Anerkennen, Aufsichnehmen und Produktiv-werden-Lassen der Nichtübereinstimmung mit sich selbst, sprich der ›Verdammnis zur Freiheit‹.
III.
E XISTENTIALISTISCHES D ENKEN
BEIM SPÄTEN
G ORZ
Dass Gorz in seiner frühen Werkphase im Rahmen der Sartreschen Philosophie agiert hat, ist unbestritten. Zu eindeutig ist die Beweislage, die in den Schriften Fondements pour une morale (Gorz 1955) und Le traître (Gorz 1958) dokumentiert ist. Jedoch schwindet diese Offensichtlichkeit. Ab den 1960er Jahren agiert er zunehmend auf politisch-praktischem Feld und argumentiert nicht mehr offensiv philosophisch, sprich existentialistisch. Sein letzter längerer Text, in dem er augenscheinlich mit dem existentialistischen Gedankengut die Argumente strickt, ist Le vieillissement (Gorz 1961/62), zu deutsch Über das Altern, der in den Wintermonaten des Jahreswechsels 1961/62 in zwei Teilen in Les Temps Modernes erscheint.29 Aber mit der Schrift Stratégie ouvrière et néocapitalisme 29 In einem persönlichen Schreiben aus dem Jahr 2005 bemerkt Gorz zu diesem Text: »Damals schrieb ich ein Fragment: ›Das Altern‹ (Le vieillissement), das klären sollte, warum das ›Erwachsenwerden‹ in dieser (oder jeder anderen) Gesellschaft immer die
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(Gorz 1964a) ist die Frühphase des Werkes endgültig abgeschlossen und der Leser begegnet fortan einem Autor, der politisch brisante Themen der Gegenwartsgesellschaft erörtert. Auch sind es andere Bezugsautoren, die nun namhaft werden, nicht mehr nur die Granden des Existentialismus. Es erfolgt eine intensive Auseinandersetzung mit Marx,30 Untersuchungen von US-amerikanischen Soziologen wie David Riesman und Charles WrightMills werden studiert und herangezogen, Herbert Marcuse wird zunehmend wichtig, dann der Wachstumskritiker Ivan Illich und später der Soziologe Alain Touraine, der durch Forschungen zu sozialen Bewegungen Bekanntheit erlangte: bis in Gorz’ letzte Schaffensphase hinein sind es vor allem politisch-praktisch orientierte Autoren, deren Interessenschwerpunkte im Bereich des Sozialen und Gesellschaftlichen liegen, die er rezipiert. Doch selbst diese Verschiebung im Gorz’schen Schaffen, weg vom expliziten existentialistischen Theoretisieren hin zur Auseinandersetzung mit Themen wie Autoren des politisch-praktischen Feldes, lässt sich noch im Rahmen des Sartreanischen Denkens deuten. Mit der Veröffentlichung von Le traître, so lässt sich argumentieren, ist Gorz, was er ist, ein Sartrianer, dem ein öffentlich beachteter und vielerorts besprochener existentialistischer ›Erstling‹ geglückt ist. Seine vergangenen Entscheidungen und Handlungen, allen voran die Fertigstellung und Publikation dieser Schrift, die nicht nur in Sartres berühmten Vorwort dessen ›Handschrift‹ erkennen lässt,31 sind zur Faktizität geronnen. Man kann diese Faktizität, ein Sartrianer zu sein, zementieren, mit ihr koinzidieren und sie zur Identität werden lassen, indem man für sich wie für andere jener »Mann namens Gorz« bleibt, »der Sartres Werk in- und auswendig« kennt und sich in seiner Tätigkeit als Schreibender in einem fort »treffend darüber äußert« (Beauvoir 1963: 95). Man kann aber auch seine Fähigkeit zur Umgestaltung, sprich seine Transzendenz auf diese Faktizität richten und sie als Stoff für einen neuen Entwurf verwenden. Und zwar um nicht nur jener zu bleiben, der man bereits ist, sondern um darüber hinaus zu dem zu werden, der man noch nicht ist. Fortwährende Anreicherung des Sartreschen Existentialismus mit gesellschaftswissenschaftlichem und soziologischem Gedankengut wie Verwenden existentialistischer Motive auf Verurteilung ist, ›ein Anderer unter Anderen zu sein‹, die sich alle selbst als Andere begreifen« (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 13. Januar 2005). 30 Im Jahr 1959 entdeckt Gorz mit Faszination die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Marx 1858a). Es ist Jean-Marie Vincent, neben Toni Negri Mitbegründer der Zeitschrift Future Antérieur, der Gorz mit diesem Marx’schen Manuskript vetraut macht, vgl. Gorz 2005a: 7. 31 Sartres Vorwort zu Le traître trägt im Deutschen den Titel Von Ratten und Menschen, vgl. Sartre 1958.
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neuem thematischem Terrain, um nicht bloßer Sartrianer zu sein – könnte man so nicht die Entwicklungen und Verschiebungen im Gorz’schen Werk deuten? Und wäre damit nicht zugleich ein gewichtiger ›Fingerzeig‹ auf einen authentischen Existentialisten gegeben? Vielleicht klingt das etwas weit hergeholt, warum ich nachstehend einige konkrete Nachweise präsentieren möchte, dass auch der spätere Gorz, trotz der Verlagerung seines intellektuellen Agierens auf politisch-praktisches Gebiet, sein vormals offensiv betriebenes Hantieren mit existentialistischen Motiven nicht völlig außer Reichweite bringt. Zunächst werde ich Belege aus Briefen darlegen (1) und im Anschluss die Beweiskette auf das publizierte Werk ausdehnen, indem einige existentialistische Bemerkungen des späten Gorz prononciert werden (2). Abschließend werde ich einen Ausflug ins politisch-praktische Feld unternehmen und das Thema der Kritik der Arbeitsgesellschaft aufsuchen, wobei ich den Blick hier auf die existentialistische Konnotation dieses Großthemas der 1980er und 1990er Jahre lenken möchte (3). In Zusammenschau sollen die drei Punkte veranschaulichen, dass existentialistisches Denken stetig und als signifikanter Bestandteil zur intellektuellen Grundausrüstung von Gorz gehört. 1. Existentialistisches Denken in Briefen. Es ist das Jahr 2005. Gorz hat gerade die Lektüre des Textes Parmenideische Variationen von Erich Hörl (2004) beendet und bemerkt anschließend in einem Brief an den Autor: »Dann versuchte ich Deine Überlegungen in meiner Sprache für mich verständlich zu machen. Das machte mir Spaß«.32 Es geht um die Frage, was Denken ist. »In der Frage ›Was ist Denken‹ geht es immer nur um logische, formalisierbare, informatisierbare Denkakte. Nicht aber um wortlose Gedanken, freischwebendes wortloses Grübeln oder um die Formen des Selbstbewusstseins – Angst, Langeweile, Einsamkeit, Ekstase – die sich ihrer Versprachlichung verschliessen und nur durch die sprachliche AusserKraft-Setzung der Sprache – Poesie – als verschwiegene Erfahrung äusserbar sind.«
Gorz schreibt sich in Schwung und setzt zu einer Argumentation an, die Denken als ein Bestandteil der ›Verdammnis zur Freiheit‹ verteidigt. Im Zuge dieser Verteidigung wird das »Computer-Denken« kritisiert, das in seiner Kalkülsprache »von jeglicher menschlichen Fähigkeit entblößten Maschinen gehandhabt, gespeichert werden kann u. aller Faktizität entledigt nur aus zwei absolut unbestimmten u. folglich unendlich bestimmbaren ›Worten‹ besteht. Computer-Denken hat 32 Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 13. Januar 2005. Die folgenden und nicht anders gekennzeichneten Zitationen entstammen diesem persönlichen Schreiben.
64 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT keine Äusserlichkeit u. keine Innerlichkeit, es ist Denken an sich. Und weil es eben ist, was es ist, ist es undenkbar, d.h. dem Denken Denkender sowie sich selbst unzugänglich. Kurz: Denken kollabiert, wenn es mit dem Gedachten koinzidiert, eins wird mit sich selbst. Es existiert nur, wenn es sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht«.
Was Gorz hier in seiner ›Sprache für‹ sich ›verständlich zu machen‹ sucht, enthält eine existentialistische Botschaft. Dinge, die sind, was sie sind, in Identität, im An-Sich ruhen, kann kein Denken zugesprochen werden. Voraussetzung des Denkens ist, dass »das Identitätsprinzip« (Sartre 1943: 138) nicht greift. Denken muss gedacht werden können, für das ›Denken Denkender‹ wie für ›sich selbst‹ als reflexive Hinterfragung zugänglich sein. Ein Ding wie ein Computer kann zu sich selbst nicht auf Distanz gehen und so eine reflexive Befragung des eigenen Denkens betreiben. Das kann nur etwas, das nicht eins mit sich ist, das »verurteilt« ist, »frei zu sein« (Sartre 1943: 764). Ein anderer Brief.33 In den ersten Monaten des Jahres 2004, Gorz befindet sich inmitten seiner letzten Schaffensphase und begeht in diesen Wintertagen seinen 81. Geburtstag, schreibt er an Stefan Meretz: »Sich besinnen, in Frage stellen, einfühlen können, muss man letztlich immer allein; u. das Bewusstsein, dass man der Einsamkeit nie ganz entgehen kann u. Kommunikation immer auch unvollendet und vom Scheitern bedroht ist, schützt vor dem ›tierischem Ernst‹ der Erfolgs- u. Ruhmsüchtigen«.
In diesen Zeilen, so unverdächtig sie auch klingen, hebt Gorz auf existentialistische Motive ab. Das ›in Frage stellen‹ wie ›sich besinnen‹, das man ›letztlich immer allein‹ tun muss, sind positive Modi der ›Verdammnis zur Freiheit‹, die vor dem Geist der Ernsthaftigkeit schützen. Hier geht es nicht darum, den gesellschaftlichen Anforderungen und Anrufungen gerecht zu werden, nicht um ein Verinnerlichen der etablierten Werte. Im Gegenteil. Der ›tierische Ernst der Erfolgs- und Ruhmsüchtigen‹ wird gerade dadurch vermieden, dass man zu den etablierten Werten Distanz wahrt, sich abseits von diesen hält – Stichworte ›allein sich besinnen‹, ›allein in Frage stellen‹, ›allein einfühlen‹. Der Erfolgs- und Ruhmsüchtige hingegen hat den gesellschaftlichen Wertekanon verinnerlicht, sucht Ruhm und Erfolg im Anerkennbaren, das durch das Gewebe gesellschaftlicher Normen bestimmt ist, warum er dem Geist der Ernsthaftigkeit verfallen ist. Ähnliches lässt sich aus der Formulierung herauslesen, dass ›Kommunikation immer auch unvollendet und vom Scheitern bedroht ist‹. Wer sich nicht ein-
33 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 06. bis 09. Februar 2004.
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gesteht, dass Kommunikation stets unvollendet bleibt, akzeptiert die ›Verdammnis zur Freiheit‹ nicht, die nach existentialistischer Auffassung jedem eigen ist und aufgrund derer »wir nie alles gesagt haben und alles immer noch zu sagen bleibt«, wie es in Le traître heißt (Gorz 1858: 333). Dass ›wir nie alles gesagt haben‹ und ›stets alles noch zu sagen bleibt‹, beruht auf der menschlichen Eigentümlichkeit, kein Ding zu sein, also kein »Sein, das [bloß] ist, was es ist« (Sartre 1943: 765). Dem Menschen ist Transzendenz eigen, warum er stets auch das ist, was er nicht respektive noch nicht ist. Anders ausgedrückt: Eine Person kann nicht auf das reduziert werden, was sie gesagt hat, da zu ihr auch das gehört, was sie (noch) nicht gesagt hat. Wer in der Kommunikation das Prestige des Rechthabens sucht, sucht nicht »die Existenz«, sondern »das SEIN« (Sartre 1947/48: 833), wodurch Unaufrichtigkeit oder der Geist der Ernsthaftigkeit oder beides zugleich Einzug erhält. Und das, weil der Gesprächspartner, der den Ruhm des Rechthabens einfahren will, sich selbst wie dem Gegenüber die Transzendenz abspricht und im Zuge dessen nur das gelten lässt, was faktisch ausgesprochen wurde oder eben weil er unter Berufung auf und angesichts der etablierten Werte auf sein Rechthaben pocht.34 Ein weiterer Brief aus dem Jahr 2003.35 Gorz schreibt an den österreichischen Intellektuellen und Publizisten Franz Schandl. Er gibt sich uneitel, will Schandl wie sich selbst »die Anrede ›Herr‹ und ›Doktor‹ ersparen« und gesteht, »in der Vergangenheit auch viel Blödsinn geschrieben zu haben«. Im Eigentlichen geht es bei dem Schreiben um ein Zitat von Schandl, von dem Gorz fasziniert ist. »Besonders begeistert hat mich das Zitat aus Ihrem ›Der postmoderne Kreuzzug‹ […]. Hier sind wir, scheint mir, ganz einverstanden: selbst ist eigentlich nur die Distanz, die er zum Anderen, zu dem er sozialisiert wurde, behält«.
Auch hier zeigt sich: der späte Gorz ›tickt‹ noch existentialistisch. Die Formulierung, dass das Selbst nur Wahrung von Distanz zum Anderen ist, zu dem man sozialisiert wurde, hebt insbesondere auf die Motive der Authentizität und der ursprünglichen Wahl ab. Die ursprüngliche Wahl geht mit der Sozialisierung einher und manifestiert sich als Persönlichkeitsentwicklung und Selbstgewissheit. Nach existentialistischer Auffassung kann man diese in der Sozialisierung 34 Vgl. zu diesen Ausführungen auch die Fußnote 25 des hiesigen Abschnitts, in der das Scheitern des authentischen Dialogs durch den Verfechter der Aufrichtigkeit thematisiert wird. 35 Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 03. Dezember 2003. Alle folgenden, nicht anders gekennzeichneten Zitationen entstammen diesem Schreiben.
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gewonnene persönliche Identität aber niemals vollends sein, da sie in letzter Konsequenz, und trotz einer gewissen Bedingtheitsstruktur, der sie unterliegt, bloßes Resultat einer auf Freiheit gründenden Wahl ist. Die ›Verdammnis zur Freiheit‹, die einem insbesondere im Modus des Authentischen nicht gestattet, nur das zu sein, was man ist, befähigt nun, sich selbst als Anderen, als Produkt einer in spezifischer sozialer Situation getroffenen Wahl zu enttarnen und diesen Jemand mit Argwohn zu betrachten. Und in diesem Distanzwahren zum im Verlauf der Sozialisierung getätigten Selbstentwurf gewinnt sich das eigentliche Selbst, oder besser, das authentische Selbst. Schließlich ein Brief, der wiederum an Erich Hörl gerichtet ist und den Gorz im Jahr 1992 verfasst.36 Hörl ist in jenen Tagen Mitte zwanzig und scheint keine leichten Zeiten zu durchleben. Gorz schreibt wohlwollend, aber mit Blick des existentiellen Psychoanalytikers von seinem Gegenüber als jemand, der sich selbst »des Schwindelns« und »der Fälschung« bezichtigt sowie Selbstkritik an »seiner bedeutungslosen, angepassten Existenz« übt. »In Wirklichkeit ist er [Hörl] gar nicht angepasst, ›normal‹«, beschwichtigt der um einige Jahrzehnte Ältere. »Er ist anpassungsfähig, fähig jede beliebige Rolle zu spielen, die auf andere Eindruck machen kann, aber diese anderen sind nicht beliebige, er wählt sie sich aus, und ist sich der Tatsache immer bewusst, daß er ihnen etwas vorspielt, was er eigentlich nicht wirklich ist: Er ist zum Scheinen verurteilt, erfreut sich seiner Erfolge und verzweifelt zugleich an ihrer bloßen Scheinbarkeit.«
Im Weiteren erörtert Gorz die Frage, woher das ›zum Scheinen verurteilt sein‹ herrührt, wobei er auf einen »Riss« im »Leben« zu sprechen kommt, der »keinen Anfang und kein Ende hat, sondern von Anfang an sich aufreisst und vom Leben nährt, das ihn nährt«. Zum erwähnten ›Riss‹ wird erläutert: »Darin liegt der ›Riss‹: nie genügend wirklich sein zu können, was er zu sein scheinen kann. Woher der Riss kommt ist eine andere Frage. Erfunden ist er nicht: Er besteht aus dem aussergewöhnlich akuten Bewusstsein der ›insuffisance d’être‹, der ›incomplétude‹, des nicht Einsseins mit sich selbst und der Kontingenz aller möglichen Rollen, Erscheinungsweisen«.
Verbunden werden diese Ausführungen nun mit dem Thema des Schreibens, der schriftstellerischen Tätigkeit, der sowohl Gorz wie auch Hörl nachgehen. 36 Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 05. November 1992. Alle folgenden, nicht anders gekennzeichneten Zitationen entstammen diesem Schreiben.
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»Deshalb muss er schreiben: Nur schreibend kann er der Flüchtigkeit, Grund- und Wurzellosigkeit seiner Erlebnisse und Gedanken Konsistenz geben. Eine scheinbare Konsistenz, die ihnen die Schriftsprache verleiht. Alle Schriftsteller sind Schwindler: geben mehr als sie haben, scheinen mehr als sie sind, verdecken ihre existenzielle Unzulänglichkeit durch die Perfektion und schillernde, unergründliche Tiefe ihrer verbalen Konstrukte, die sie ›Werke‹, ›Schöpfungen‹, ›Bücher‹ nennen, die aber als solche nur für die (etwaigen) Leser existieren, welche den Schwindler zum mythischen Übermenschen erheben.«
Sieht man von der Initimität ab, die in diesen Worten an den jüngeren Gesprächspartner liegen, so lässt sich sagen, dass Gorz die Figur des ›Schwindlers‹ existentialistisch theoretisiert und anhand des Schriftstellers exemplifiziert. Der Schwindler, der sich auch im Schriftsteller zu erkennen gibt, wird als Figuration der ›Verdammnis zur Freiheit‹ ergründet. Im Eigentlichen, so kann man Gorz’ Worte interpretieren, ist man immer ein Schwindler, weil man zum Scheinen verdammt ist. Aufgrund der Freiheit und der mit ihr einhergenden Unbestimmtheit ist man ›anpassungsfähig, fähig jede beliebige Rolle zu spielen‹. Und weil man die Rollen, die man annimmt, aufgrund der Freiheit nie vollends sein kann, ist man ›zum Scheinen verurteilt‹. Dann fallen die gewichtigen Worte: ›man ist sich der Tatsache immer bewusst, dass man etwas vorspielt, was man eigentlich nicht ist: Man ist zum Scheinen verurteilt, erfreut sich der Erfolge und verzweifelt zugleich an ihrer Scheinbarkeit‹. Das gilt streng genommen nur für die authentische Haltung. Solange man sich bewusst ist, dass man bloß spielt, was man nicht ist – etwa die Rolle eines Kellners im Café –, bewegt man sich im Modus des Authentischen, hält das Verzweifeln am bloßen Scheinen, die Verurteilung zum Scheinen respektive zur Freiheit aus. Erst wenn man sich verkennt, die Distanz einzieht, mit der Rolle, die man nicht ist, koinzidiert, also mit ihr verschmilzt, endet das Spielen. Nun mag man kein Schwindler mehr sein, dafür jedoch unaufrichtig oder dem ›esprit de sérieux‹ anhängend – so oder so entfremdet. Ein Schwindler zu sein, so kann Gorz verstanden werden, ist okay, wir sind es alle auf die ein oder andere Weise, problematisch wird es, wenn man versucht, keiner mehr zu sein. Die Rede vom ›Riss im Leben‹, der ›von Anfang an sich aufreißt‹, die Gorz als Auftakt zu den Ausführungen zur schriftstellerischen Tätigkeit setzt, ist ein Verweis auf die ›Verdammnis zur Freiheit‹. Das zeigt sich insbesondere daran, dass besagter Riss aus dem ›akuten Bewusstsein‹ von ›insuffisance d’être‹, von Seinsmangel besteht, aus dem Empfinden ›des nicht Einsseins mit sich selbst‹. Im Angesicht der daraus resultierenden und erlebten ›Flüchtigkeit, Grund- und Wurzellosigkeit‹ wird ein Entwurf getätigt, das Schreiben. Dieser Entwurf, der das Ziel verfolgt, ein Schriftsteller zu sein, verheißt, den Seinsmangel, das Emp-
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finden der Grund- und Wurzellosigkeit zu überwinden. Die ursprüngliche Motivation dieses Entwerfens ist es, den ›Erlebnissen und Gedanken‹, letztlich der eigenen Existenz, eine Festigkeit, eine ›Konsistenz‹ zu verleihen. Aber genau das scheitert, weil die Schriftstellerei eben auch nur eine Rolle ist, die man spielen aber niemals vollends sein kann. ›Alle Schriftsteller sind Schwindler‹, weil auch sie ihr Freisein nicht loswerden, das daran hindert, mit der Rolle des Schriftstellers zu koinzidieren. Das Schreiben ist ein spezifischer, von der ›Verdammnis zur Freiheit‹ herrührender Entwurf, der authentisch gelebt den Anteil ›des Schwindelns‹ und ›der Fälschung‹, der mit der schriftstellerischen Tätigkeit einhergeht, nicht verdrängt, sondern wachhält. In Gorz hineinversetzt, ließe sich sagen: Auch ich, André Gorz, Schöpfer ›verbaler Konstrukte‹ und zahlreicher Bücher, bin ein Schwindler – das scheint die Botschaft, die der gesetzte Autor dem jüngeren mit auf dem Weg gibt. 2. Existentialistische Bemerkungen vom späten Gorz. Auffallend seltener als im Frühwerk stößt man in den späteren Schriften von Gorz auf explizit verwendete existentialistische Motive. Das ist der Verschiebung im Werk geschuldet, der Neuausrichtung auf politisch-praktisches Gebiet. Es gibt aber auch im Fortgang des späteren Schaffens immer wieder Stationen, an denen Gorz beim ›Beackern‹ und ›Durchflügen‹ des politisch-praktischen Feldes innehält und sich unverblümt existentialistisch äußert. Auf so ein unverblümtes Bekunden stößt man etwa, wenn der Autor, der sich inzwischen mit Büchern wie Écologie et politique (Gorz 1975a) und Métamorphoses du travail (Gorz 1988) auf den Gebieten Ökologie und Kritik der Arbeitsgesellschaft einen Namen gemacht hat, im Jahr 1990 äußert, »dass der Mensch ein natürlich unnatürliches Wesen ist« (Gorz 1990: 13), und nachlegt: »Menschen sind nicht von der Natur her begrenzt und in sie eingebettet wie die anderen Gattungen, sie können nicht ›natürlich gut‹, als sich notgedrungen in eine natürliche Ordnung einfügend, leben, denn sie sind zur Freiheit verurteilt« (Gorz 1990: 20).
Desgleichen zeigt sich, wenn der Autor im Jahr 1983, etwa zu dem Zeitpunkt als seine Les chemins du paradis (Gorz 1983a) erscheinen, die die »mikroelektronische Revolution« (Gorz 1983a: 49) und das mit ihr verbundene Automatisierungsgeschehen in einer sich wandelnden Arbeitsgesellschaft thematisieren, bemerkt: »›Freiheit‹« darf man »nicht als etwas in erster Linie Politisches und Soziales sehen […]. Freiheit […] ist also nicht etwas das mir zugestanden, vom Staat oder den Vorgesetzten
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gegeben oder verweigert werden könnte«. Im Gegenteil: »das Individuum ist zu ihr in seinem Sein verurteilt« (Gorz 1983b: 172f.).
Ebenso liest man in den Métamorphoses du travail, dass der Mensch, »›zur Freiheit verdammt‹« (Gorz 1988: 249) ist. Zudem lässt sich die existentialistische Bemerkung vernehmen: »Die Sozialisierung hindert uns daran, gänzlich uns selbst zu gehören, aber wir würden uns auch dann nicht gehören, wenn sie anders ausgefallen oder – mangels Möglichkeit – unterblieben wäre. Sie ist die kontingente Form unserer Unmöglichkeit, mit uns selbst übereinzustimmen« (Gorz 1988: 249).
Im Jahr 1996 rekurriert er auf das existentialistische Konzept des Entwurfs, wenn es heißt: Der Mensch hat »›keine andere Wahl als zu wählen‹« (Gorz 1996: 203). Dieses Konzept hatte er bereits im Jahr 1964, das Erscheinungsjahr seiner Schrift Stratégie ouvrière et néocapitalisme (Gorz 1964a), mit all den Implikationen und Konsequenzen, die es mit sich führt, beredet: Im Menschen »ist nichts, ›nichts, was er nicht selbst gewählt hat‹. Er ist zwangsläufig für alle seine Einstellungen und Verhaltensweisen verantwortlich. Wenn es anders wäre, [dann wäre] der Mensch durch irgendeinen fremden Willen oder durch irgendeinen Determinismus von außen gelenkt« (Gorz 1964b: 208).
An selber Stelle berichtet er auch von der »Möglichkeit der Freiheit, sich nicht selbst zu wählen«, von der »Sehnsucht zu Sein« und den Versuchen, »sich mit Sein anzureichern«, um die »Flucht vor der Freiheit« anzutreten (Gorz 1964b: 209), womit die existentialistischen Motive der Unaufrichtigkeit und des Geistes der Ernsthaftigkeit angesprochen werden. Und mit diesen Motiven wird auch Jahrzehnte später noch hantiert, etwa wenn von einem »Entwurf zu sein« die Rede ist, »den Sartre vor allem anläßlich des Ernstes beschrieb« (Gorz 1996: 202), oder auch wenn er die Prostitution, verstanden als das Verkaufen und Vermieten »meiner selbst« (Gorz 1988: 212), als Unaufrichtigkeit bestimmt.37
37 Bei Gorz heißt es: »Sie [die Prostituierte] überzeugt ihren Kunden, daß sie sich selbst verkauft und sie überzeugt sich selbst, daß sie selbst nicht das ist, was sie verkauft. (Gorz 1988: 211). Die Unaufrichtigkeit, auf die Gorz an dieser Stelle abstellt, besteht darin, dass die beiden Momente der menschlichen Realität, Faktizität und Transzendenz, nicht koordiniert werden, sondern je nach Bedarf einseitig in den Vordergrund gerückt werden.
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Selbst noch seine letzte Schrift, L’immatériel (Gorz 2003), lässt im existentialistischen Ton verlauten: Der Mensch ist ein Wesen, das »eine Wahl trifft, handelt und ein Ziel verfolgt, weil es Wünsche und Bedürfnisse, Hoffnungen und Ängste, Lust und Schmerzen verspürt – kurz weil es ein bedürfendes Wesen ist, das begehrt und dem immer etwas fehlt, was es noch nicht ist oder hat. Ein Wesen, das aufgrund seines Gefühls von Mangel, seines Gefühls von Unvollkommenheit immer für sich selbst zukünftig ist und unfähig, mit sich in der unbeweglichen Fülle des Seins zu koinzidieren« (Gorz 2003: 128).
Zu fragen bleibt, ob die hier aufgetafelten existentialistischen Bemerkungen beim späteren Gorz nur schmückendes Beiwerk sind, oder ob sich dieses Denken auch systematisch niederschlägt. Diese Frage sucht der nachstehende Punkt zu beantworten. 3. Die Kritik der Arbeitsgesellschaft. Es gibt einen Themenkomplex, der wie kaum ein anderer mit dem Namen Gorz verbunden wird: die Kritik der Arbeitsgesellschaft. Ein beachtlicher Teil seines Werkes – insbesondere Adieux au prolétariat (Gorz 1980), Les chemins du paradis (Gorz 1983a), Métamorphoses du travail (Gorz 1988) und Misères du présent (Gorz 1997a) – beschäftigt sich mit diesem politisch-praktischen Stoff. In seine Kritik der Arbeitsgesellschaft wie im Beschwören ihrer Krise ist eine vielgestaltige Suche nach Möglichkeiten der Befreiung von Erwerbsarbeit38 eingeschrieben, die in Vorschlägen zur Arbeitszeitverkürzung und verschiedenen Konzeptionen eines Grundeinkommens39 konkretisiert wird. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Beobachtung einer rasanten Entwicklung der mikroelektronischen Produktivkräfte. Unter mikroelektronischen Produktivkräften werden Erzeugnisse der Informatik verstanden, insbe-
38 Setzte Gorz in Stratégie ouvrière et néocapitalisme noch auf die Möglichkeit, »sich innerhalb der Arbeit zu befreien«, so lehnt er in Adieux au prolétariat diese Vorstellung ab und setzt entschieden auf »die Befreiung von der Arbeit« (Gorz 1980: 62). 39 In Les chemins du paradis wie auch in Métamorphoses du travail vertritt Gorz eine Variante der Einkommensgarantie, die an die Bedingung gekoppelt ist, ein Mindestmaß an Arbeit zu leisten. Es handelt sich bei dieser Variante eines Grundeinkommens also noch nicht »um ein von jeder Arbeit unabhängiges Einkommen« (Gorz 1988: 295). Erst später wird Gorz für die Bedingungslosigkeit der Einkommensgarantie plädieren, vgl. Gorz 1997a: 113-134. In dem späten Text Seid realistisch – verlangt das Unmögliche revidiert er dann seine Auffassung grundlegend und lehnt das Konzept des Grundeinkommens weitgehend ab, vgl. Gorz 2007b.
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sondere Mikroprozessoren und »Robotertechnologie« (Gorz 1983a: 49). Durch diese technischen Innovationen setzt ein gewaltiger Automatisierungsschub ein, der im Bild einer Fabrik ohne Arbeiter skizziert wird: »die ersten Fabriken ohne Arbeiter sind Fabriken, in denen Roboter Roboter herstellen« (Gorz 1983a: 49). Immer mehr »lebendige Arbeit« wird im Zuge der Computerisierung »durch Maschinen ersetzt« (Gorz 1988: 100). Die mit der mikroelektronischen Revolution einhergehende Automation »leitet das Zeitalter der Beseitigung der Arbeit ein« (Gorz 1983a: 53) und versetzt die Arbeitsgesellschaft in eine Krise. Dass die Arbeitsgesellschaft nicht länger der vollen Arbeit eines jeden bedarf, ist Kernbotschaft der Krisendiagnose. Die mit der Informatik und Computerisierung verbundenen Techniken ermöglichen eine größere Menge an Gütern und Dienstleistungen in einer geringeren Anzahl an Arbeitsstunden zu produzieren. Zwar steigern die mikroelektronischen Technologien die industrielle Produktivität immens, sie bewirken aber zugleich ein drastisches Schrumpfen der wirtschaftlich benötigten Erwerbsarbeit, was zum Überfluss an Arbeitskräften und zum Fehlen an stabilen Arbeitsplätzen führt. Die Folgen sind steigende Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungen vielfältiger Art sowie das Entstehen einer Arbeiteraristokratie. Konstatiert wird eine Zweiteilung der potentiell Erwerbstätigen: »auf der einen Seite steht eine Elite von geschützten und ständig vollbeschäftigten Arbeitern, die die traditionellen Werte des Industrialismus wahren und an ihrer Arbeit wie ihrem sozialen Status hängen; auf der anderen Seite eine Masse von Arbeitslosen und unqualifizierten Arbeitern ohne Status, die unregelmäßig und ungeschützt zur Verrichtung wechselnder, aber immer uninteressanterer Aufgaben herangezogen werden« (Gorz 1983a: 58).
Die Arbeitselite, jene Gruppe, die noch regelmäßig einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht, ist zentrale Stütze bei »der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung« (Gorz 1983a: 58). Die Mitglieder dieser Gruppe verhalten sich als Arbeitsplatzbesitzer, die ihre privilegierte Stellung verteidigen. Sie sind die zurechtgestutzten und bereitwilligen ›normalen‹ Bürger, die in ihren Erwartungen und Interessen dem entsprechen, was die Arbeitsgesellschaft von ihnen verlangt. Ihre Vorstellungen konvergieren mit der Arbeitsideologie, die das stetige Abnehmen der wirtschaftlich erforderlichen Arbeitszeit verschleiert. Zum Ausdruck kommt diese Ideologie vermittels Losungsworten wie »›Um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, müssen wir mehr, nicht weniger Arbeiten‹« (Gorz 1986: 12) oder auch im schlichten Rückführen der Arbeitslosigkeit auf den fehlenden Arbeitswillen der Betroffenen.
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Der andere Bevölkerungsteil, der aus der Zweiteilung hervorgeht, ist die sogenannte »Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter«. Sie besteht »aus der Gesamtheit der Überzähligen der gesellschaftlichen Produktion: gegenwärtig und virtuell, permanent und zeitweilig, total und partiell Arbeitslose« (Gorz 1980: 63). »In ihrer Mehrheit gehört die Bevölkerung heute dem nachindustriellen Neoproletariat der Status- und Klassenlosen an, die zeitweilig, als Ersatz- und Gelegenheitsarbeiter oder Teilzeit-Angestellte, Hilfs- oder Aushilfsdienste verrichten – Tätigkeiten, die in nicht allzu ferner Zukunft zumeist von der Automation ausgelöscht werden und deren Qualifikationsanforderung, von rasch entwickelten Technologien dauernd verändert, in keinem Zusammenhang steht mit den in Schulen und Fakultäten gelehrten Kenntnissen und Berufen. Für den ihm schließlich zugefallenen Arbeitsplatz ist der Neoproletarier in aller Regel überqualifiziert; seine Fähigkeiten und Fertigkeiten liegen brach, bis er eines Tages wirklich ein Arbeitsloser geworden ist. Für ihn ist jede Stelle zufällig und provisorisch, jede Arbeit kontingent. Es ist ihm versagt, sich in ›seiner‹ Arbeit, sich mit ›seiner‹ Stelle zu identifizieren« (Gorz 1980: 64).
Arbeitslosigkeit, ständige Fluktuation des Arbeitsplatzes, nur temporäres Ausüben des erlernten Berufes, Bewältigung eines Studiums ohne Aussicht auf eine gesicherte Anstellung, zeitweiliges Unterschlüpfen »als Aushilfe im Sommer bei der Post […], im Herbst bei der Weinlese, als Verkäufer im Dezember«, um »die nötigen Groschen« zusammenzubekommen (Gorz 1980: 65) – in solcher Weise gestaltet sich das Arbeitsleben dieses Teils der Bevölkerung. Die »vertrauten Werte« der Arbeitsgesellschaft haben für die ›Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter‹ »ihre Gültigkeit« verloren und »die sozialen und beruflichen ›Rollen‹, ihrer Widerrufbarkeit, Labilität und Inkonsistenz wegen«, können ihnen »keine festen ›Identitäten‹ mehr gewähren« (Gorz 1997a: 85f.). Sie sind »die Masse der ›gegen die Arbeit gleichgültigen‹« und »das mögliche gesellschaftliche Subjekt des Kampfes« für einen Austritt aus der Arbeitsgesellschaft (Gorz 1983a: 58). Die eingeschlagenen Argumentationspfade kulminieren im Befund, dass die Arbeitsgesellschaft zu Ende geht. Vor diesem Hintergrund wird nun der politisch-praktische Entwurf einer Multiaktivgesellschaft der befreiten Zeit präsentiert, der auf die Beseitigung der Erwerbsarbeit als Dominante im Leben abstellt. Dieses Konzept ist vornehmlich von vier Bestrebungen getragen: einer massiven Arbeitszeitverkürzung, der Garantie eines vom Arbeitsplatz unabhängigen Grundeinkommens, der Vermehrung der Diskontinuität der Arbeit wie einer Vergleichgültigung selbiger. Angesichts der Leistungsfähigkeit komplexer automatisierter Anlagen und der damit einhergehenden Abnahme des Volumens gesellschaftlich notwendiger
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Arbeit soll die Arbeitszeit eines Erwerbslebens auf zirka 20.000 Arbeitsstunden reduziert werden. Das ist das Minimum an Arbeitsleistung, das alle zu erbringen haben. Dieses Minimum kann natürlich von denen, die mehr Arbeiten wollen, überschritten werden. Zudem obliegt es der freien Wahl, die 20.000 Stunden als tägliche Arbeitsstunden oder in diskontinuierlichen Arbeitsperioden zu leisten, wobei letzteres präferiert wird. »Nun bedeuten aber 20.000 Stunden pro Leben zehn Jahre Vollzeitarbeit oder zwanzig Jahre Teilzeitarbeit oder – weit plausibler – vierzig Jahre unregelmäßige Arbeit« (Gorz 1983a: 68). Für das Arbeitszeitvolumen von 20.000 Stunden, das alle in ihrem Erwerbsleben zu erbringen haben, kann erwartungsgemäß keine hinreichende Entlohnung gezahlt werden. »Die Produktion des Notwendigen erfordert ein so geringes Quantum an Arbeit, daß keiner leben könnte, wenn er nur für die Stunden bezahlt würde, in denen er eine effektive Arbeit leistet« (Gorz 1983a: 69).
Aus diesem Grund wird eine Entkopplung von Einkommen und geleisteter Arbeitsmenge angestrebt, die auch ökonomische Relevanz hat, da die durch die technische Entwicklung gestiegene Produktion noch ausreichend Abnehmer finden muss. Vorgeschlagen wird ein lebenslang gesichertes Grundeinkommen, das durch »ein System des politischen Preises« finanziert wird (Gorz 1983a: 74).40 Gebunden ist dieses Sozialeinkommen an die 20.000 Arbeitsstunden. Dieses Mindestmaß geleisteter Arbeit berechtigt zum von der Gesellschaft geleisteten Grundeinkommen,41 wobei letzteres als ein Recht, nicht als Entlohnung, bestimmt wird. »Sobald das Wesentliche der gesellschaftlichen Produktion nicht aus der Arbeit der Individuen, sondern aus der Leistungsfähigkeit der eingesetzten Mittel resultiert […], läßt sich das ›Recht auf Arbeit‹ nicht mehr mit dem Recht auf lohnabhängige Beschäftigung vermengen; es muß zum Recht des Bürgers auf ein lebenslängliches Einkommen werden« (Gorz 1983a: 73).
Das garantierte Grundeinkommen wie die an sie gebundene Lebensarbeitszeit von 20.000 Stunden sind keine Ziele an sich. Es geht nicht darum, den Überzäh40 Beim ›System des politischen Preises‹ handelt es sich »um eine Ausweitung der Praktiken, die in der modernen Ökonomie bereits angewandt werden und die allesamt das System der Marktpreise durch ein Spiel von Steuern (auf Alkohol, Tabak, Benzin, Autos usw.)« anpassen (Gorz 1983a: 74). 41 Diese Idee des Grundeinkommens wird von Gorz später revidiert, vgl. dazu die Fußnote 39 dieses Abschnittes.
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ligen der gesellschaftlichen Produktion eine Beschäftigung wie ein Einkommen zu sichern. Das Ziel ist die Beseitigung der Vollzeitarbeit, oder positiv ausgedrückt: ein Erlangen von Zeitsouveränität – wofür die Arbeitszeitverkürzung wie das Grundeinkommen die Mittel sind. Zudem wird der Weg zur Zeitsouveränität geebnet durch eine Vergleichgültigung der Arbeit wie durch eine Vermehrung der Diskontinuität selbiger. »Es ist möglich, die Diskontinuität der Arbeit, die Flexibilisierung ihrer Dauer und des Personalstandes als eine […] Form des Anspruchs auf ›Zeitsouveränität‹ zu begreifen. Sie erlaubt, die Bedeutung fremdbestimmter Arbeit im Leben der Einzelnen zu relativieren, und ermöglicht denen, die es wünschen, ihre Arbeit verschieden zu gestalten, das Unternehmen zu wechseln, in Bewegung zu bleiben, neue Lebensformen und neue Aktivitäten auszuprobieren« (Gorz 1997a: 139).
Die Diskontinuität der Arbeit, die in Form prekärer Beschäftigungsverhältnisse im Erwerbsleben der ›Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter‹ längst Realität ist, hier aber als Quelle von Unsicherheit wirkt, wird im Entwurf einer Gesellschaft der befreiten Zeit aufgenommen und »in eine neue Freiheit« (Gorz 1997a: 136) verwandelt. Da das abnehmende Arbeitsvolumen auf alle verteilt werden soll, wird es praktisch unmöglich, dass alle »zu denselben Stunden am Arbeitsplatz anwesend sind« (Gorz 1988: 275), warum »diejenigen, die es wünschen«, ihre »verkürzte Arbeitszeit« sich in einer Art und Weise einrichten können, »die ihnen immer längere Perioden freigesetzter Zeit zur Verfügung läßt« (Gorz 1988: 276). Arbeitsunterbrechungen und temporäre Beschäftigungen sind derart nicht länger Anlass von Besorgnis, sondern ein Resultat der Wahl der Beschäftigten und somit Ausdruck ihrer Selbstbestimmung. »Alle sollen immer weniger arbeiten, damit alle Arbeit finden und außerhalb ihrer Arbeit ihre persönlichen schöpferischen Möglichkeiten entfalten können, die innerhalb der Arbeit nicht zum Ausdruck kommen« (Gorz 1988: 271).
Dass ›alle immer weniger arbeiten, damit alle arbeiten‹, hat eine Vergleichgültigung der Arbeit zur Voraussetzung. Im Zuge der Verkürzung der Arbeitszeit für alle ist eine ständige Verteilung und Umverteilung der Arbeitskräfte vorgesehen. In Wirtschaftszweigen, wo die Automatisierung fortgeschritten und durch sie ein hoher Produktivitätszuwachs besteht, werden die Beschäftigungszahlen verringert, in Branchen mit niedrigem Produktivitätszuwachs erhöht.
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Angedacht ist »eine überschaubare, unmittelbar allen zugängliche Arbeitsvermittlungsstelle mit der Möglichkeit, seine Arbeit mit einer oder mehreren anderen Personen zu tauschen oder zu teilen; eine hohe berufliche Vielseitigkeit und Mobilität: die Arbeiter müssen mühelos von einer Tätigkeit mit schnell wachsender Produktivität zu einer anderen mit geringerer Produktivität überwechseln können« (Gorz 1983a: 76).
In Bereichen mit geringen Produktivitätszuwächsen sind Arbeiten zu verrichten, die zumeist hochqualifizierte und spezifische Kompetenzen verlangen, warum die Automatisierung in diesen Bereichen auch weniger greift. Da in diesen Bereichen die Beschäftigungszahlen erhöht werden sollen, wird eine Demokratisierung des Zugangs wie der Kompetenzen gefordert. »Ein sehr viel größerer Teil der Bevölkerung soll Zugang zu qualifizierten, komplexen, schöpferischen und verantwortlichen beruflichen Aufgaben erhalten« (Gorz 1988: 271f.). Die Erweiterung der Zugänglichkeit für hochqualifizierte Berufe wird als eine Vergleichgültigung der Arbeit verstanden, die auf die Verbreitung der Einsicht abzielt, »daß andere das, was ich tue, ebenso tun oder erlernen können« (Gorz 1988: 115). Gerichtet ist die Vergleichgültigung der Arbeit insbesondere gegen die Zweiteilung der Erwerbstätigen wie gegen die in der Arbeitsideologie verankerte Vorstellung, »dass ein jeder es als höchstes Ziel und persönliche Würde anstreben müsse, in seinen beruflichen Kenntnissen und Fertigkeiten so unersätzlich wie möglich zu sein« (Gorz 1988: 115). Die Arbeitszeitverkürzung, das Grundeinkommen, die Diskontinuität der Arbeit wie deren Vergleichgültigung zielen im Verbund auf das Freisetzen von Zeit, die es erlauben soll, »sich freier zu fühlen: offener für Veränderungen, weniger ›eingepfercht‹ in eine Arbeit«, die den Arbeitnehmer »zu absorbieren und damit seine Identität in unwiderruflicher Weise festzulegen droht« (Gorz 1988: 279). In der Gesellschaft der befreiten Zeit hört die »Arbeitszeit« auf, »die gesellschaftlich vorrangige Zeit zu sein« (Gorz 1997a: 103). Durch die Verteilung der Arbeit auf alle ist die Vollzeitarbeit verschwunden. Die mit einem Arbeitsplatz verbundene »Aufgabe oder Funktion wird unter mehreren Personen aufgeteilt, die einander ablösen und von denen jede je noch andere Interessengebiete hat und anderen Aktivitäten in ihrem Leben nachgeht« (Gorz 1997a: 138). Arbeit ist fortan nicht länger eine Dominante im Leben eines jeden, sondern besitzt nur noch einen geringen Stellenwert, und zwar als lediglich ein Bestandteil einer »Multiaktivität« (Gorz 1997a: 103). In diesen Argumentationsgang sind existentialistische Motive eingelassen. Vom Motiv der Situation über jenes der ursprünglichen Wahl bis hin zu jenen der Ernsthaftigkeit, Unaufrichtigkeit und Authentizität – all diese Motive können
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mit der von Gorz dargetanen Kritik der Arbeitsgesellschaft in Verbindung gebracht werden. Durch die Sehhilfe des existentialistischen Begriffs der Situation geblickt, kann zum In-Betrieb-Sein seiner Gesellschaftskritik bemerkt werden: Gorz beschreibt mit seiner Analyse der sich wandelnden Arbeitsgesellschaft kein objektives Bild der Gesellschaft. Er ist kein deskriptiver Theoretiker der Arbeitsgesellschaft, sondern ein normativer ihrer Überwindung. Selbstverständlich, es gibt bei seiner Analyse der Arbeitsgesellschaft Faktisches: die mikroelektronischen Technologien, die Automation, die Arbeitslosigkeit und vieles mehr. Doch dieses Gegebene wird von ihm enthüllt, nicht rein deskriptiv beschrieben. Ich erinnere hier daran, dass es für den Existentialisten keine objektive Lage der Dinge gibt, sondern nur eine enthüllte und gedeutete Situation. Mit anderen Worten: Er weiß, dass das Wort Handlung ist; »er weiß, daß Enthüllen Verändern ist und daß man nur enthüllen kann«, wenn man die Absicht hat, etwas zu verändern (Sartre 1948a: 26). Und das, was es zu enthüllen und gleichzeitig zu verändern gilt, ist für Gorz die Arbeitsgesellschaft. Die ursprüngliche Wahl, verstanden als in der Sozialisierung gewonnene und ritualisierte Art, die Welt zu erblicken und zu erleben, nimmt in der Arbeitsgesellschaft gemeinhin eine Gestalt derart an: Man lebt in der Gewissheit, dass Arbeit gut und richtig ist; dass sie eine Quelle von Lebenssinn darstellt; dass eine gut entlohnte, vollzeitige und sichere Beschäftigung ebenso dringlich wie wünschenwert ist; »daß allein der gesicherte Arbeitsplatz uns davor« rettet, »ins Nichts, in die Ausgrenzung, die Selbstverachtung, die Hoffnungslosigkeit abzustürzen« (Gorz 1997a: 82). Die Arbeiterelite hält an dieser ursprünglichen Wahl fest, schützt diese und hält sie in den Haltungen der Ernsthaftigkeit und Unaufrichtigkeit aufrecht. Der ›esprit de sérieux‹, der durch das Verinnerlichen der etablierten Werte gekennzeichnet ist, tritt bei der ›Elite von ständig vollbeschäftigten Arbeitern‹ insofern auf, als dass sie ›die traditionellen Werte des Industrialismus wahren und an ihrer Arbeit wie ihrem sozialen Status hängen‹. Die Arbeitsideologie suggeriert, ›dass ein jeder es anstreben müsse, in seinen beruflichen Kenntnissen und Fertigkeiten unersätzlich zu sein‹. Der dieser Vorstellung erliegenden Elite der vollbeschäftigten Arbeiter geht es nicht anders als dem Kellner im Café. Wie der Kellner gehen sie in der sozialen Stellung auf und versuchen unter Ausblendung ihrer Transzendenz die Faktizität ihrer beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu zementieren, um ganz und gar das zu sein, was sie sind. Und hierin zeigt sich Unaufrichtigkeit. Für die ›Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter‹ hingegen ist die urspüngliche Wahl bereits erschüttert, der Initialentwurf hat bei ihnen weitgehend seine Fes-
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tigkeit verloren. In der Krise der Arbeitsgesellschaft ist diese Nicht-Klasse zum schonungslosen Vernehmen der ›Verdammnis zur Freiheit‹ verurteilt. Ihnen ist es ›versagt, sich mit ihrer beruflichen Stelle zu identifizieren‹, da sie nur ›zeitweilig, als Ersatz- und Gelegenheitsarbeiter, Aushilfsdienste verrichten‹. Weder können sie sich ins Gewand der Ernsthaftigkeit hüllen, da die ›vertrauten Werte‹ der Arbeitsgesellschaft für sie ›ihre Gültigkeit‹ verloren haben, noch bieten ihnen ›die sozialen Rollen, ihrer Widerrufbarkeit, Labilität und Inkonsistenz wegen‹, eine Identitätsbehausung, in die sie sich einnisten könnten. Diese ›NichtKlasse‹ wird als eine im Zuge der Krise der Arbeitsgesellschaft »befreite Subjektivität« (Gorz 1980: 67) vorgestellt, die alle Kennzeichen dessen trägt, was der Existentialist mit der ›Verdammnis zur Freiheit‹ verbindet: Flüchtigkeit, Wurzellosigkeit, Verlassenheit, Identitätslosigkeit. Und gerade aufgrund ihrer Identitätslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft und ihrer bereits an den Tag gelegten Gleichgültigkeit gegenüber der Arbeit wird besagter Nicht-Klasse auch zugetraut, einen neuen und unnostalgischen Entwurf zu tätigen, der die Arbeitsgesellschaft verabschiedet. Es ist das existentialistische Motiv der Authentizität, auf das der praktischpolitische Entwurf einer Multiaktivgesellschaft der befreiten Zeit zurückgeführt werden kann. Zur Erinnerung: Authentizität ist Aktivität und Unruhe, sie gewinnt sich durch den Verzicht auf jeden Entwurf, der das Sein sucht. »Sie entdeckt, dass der einzige gültige Entwurf derjenige ist, zu tun (und nicht zu sein), […] die Authentizität [besteht] darin, die Suche nach dem Sein abzulehnen, weil ich immer nichts bin« (Sartre 1947/48: 828).
Die Beseitigung der Erwerbsarbeit als Dominate im Leben ist im Prinzip nichts anderes als die Beseitigung eines Entwurfs, der im Erwerbs- und Berufsleben das Sein, sprich Identität sucht. Durch Arbeitszeitverkürzung, Grundeinkommen, Vermehrung der Diskontinuität der Arbeit und Vergleichgültigung selbiger wird erreicht, dass die berufliche Rolle, die man innehat, nicht zur Identität gerinnt. In der Gesellschaft der befreiten Zeit entfaltet man ›außerhalb der Arbeit seine persönlichen schöpferischen Möglichkeiten‹. Damit wird Distanz gewahrt, um nicht von der sozialen Rolle absorbiert zu werden, die man auch in dieser Gesellschaft auszuüben hat. Zu diesem Aspekt trägt auch die Möglichkeit bei, die eigene Arbeit verschieden zu takten und ›zu gestalten, das Unternehmen zu wechseln, in Bewegung zu bleiben, neue Lebensformen und neue Aktivitäten auszuprobieren‹. So ist man nie identisch mit sich, da man sich der Multiaktivität hingibt. Das Integrieren der »Arbeit in die Multiaktiviät als eine ihrer Bestandteile« (Gorz 1997a: 103) führt dazu, dass man »nicht das SEIN, sondern die Existenz«
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(Sartre 1947/48: 833) entfaltet, indem man jenseits der Arbeit ›andere Interessengebiete verfolgt und anderen Aktivitäten im Leben nachgeht‹. Man mag die existential-philosophische Konnotation hier sehen: Gorz organisiert in seinem politisch-praktischen Entwurf, der auf die Beseitigung der Lohnarbeit als Dominante im Leben sinnt, die heteronome, gesellschaftlich notwendige Arbeit dergestalt, dass die Individuen sie ausüben, und zwar im Modus, sie nicht zu sein. Das heißt, dass die Lohnarbeit nicht einziger und permanenter Inhalt ihres Lebens ist; dass sie sich der Tatsache immer bewusst sind, eine banale Arbeit auszuüben, die sie nicht vollends sind und dass sie immer mehr und anders sein können, nämlich das, was sie (noch) nicht sind: »Das ›wahre Leben‹ beginnt außerhalb der Arbeit; Arbeit […] ist zeitweilige Beschäftigung, die die Individuen in den Stand setzt, ihren hauptsächlichen Interessen und Neigungen nachzugehen« (Gorz 1980: 75).
C. Bemerkungen zum Leben
I.
L ITERARISCHE F IKTION ODER A UTOBIOGRAPHIE ?
Biographische Bemerkungen beginnen in aller Regel mit der Erwähnung des Geburtsdatums. Wer sich mit dem Leben von André Gorz beschäftigt, stößt jedoch unweigerlich auf die Frage, in welchem Jahr er geboren ist. Die Hinweise, die man dazu in der Literatur findet, lösen kein Rätsel, sondern lassen es erst entstehen. Zumeist begegnet man den Jahreszahlen 1923 oder 1924. 1 Einen ersten Anhaltspunkt gibt Claus Leggewie, indem er über André Gorz bemerkt: »er wird Ihnen sein genaues Geburtsdatum nicht verraten« (Leggewie 1989: 15). Bliebe zu klären, wie die widersprüchlichen Aussagen zustande kommen. Es ist biographisch argumentiert worden: In der 1989 erschienenen Festschrift Wege ins Reich der Freiheit (Leggewie/Krämer 1989), die Gorz zu seinem 65. Geburtstag gewidmet ist, gingen die Initiatoren davon aus, dass der Jubilar 1924 geboren ist. »Wir vermuteten«, so Leggewie, »dass seine Mutter ihn ein Jahr älter gemacht hat, um ihn von Österreich in die Schweiz zu kriegen«.2 Denn 1939, unmittelbar vor dem zweiten Weltkrieg, bringt man den Sohn eines Juden in ein Schweizer Internat nach Graubünden, dem Institut Montana in Zuoz. »Anzunehmen ist«, so Leggewie weiter, »dass er 1924 geboren ist, also zum Zeitpunkt 1939 erst 15 Jahre alt war und die Mutter ihn formell älter gemacht hat, um ihm den Besuch der Internatsschule zu ermöglichen.« Obgleich diese Rekonstruktion
1
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Die Klappentexte der Gorz’schen Schriften verweisen ausnahmslos auf das Jahr 1924. Lodziak und Tatman (1997: 13) erwähnen ebenfalls dieses Jahr. Bowring (2000: 1) und Münster (2008: 14) führen hingegen das Jahr 1923 an. Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen.
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– die Leggewie im Übrigen als »rein spekulativ« unterstreicht3 – plausibel klingt, ist sie nicht zutreffend, da André Gorz am 09. Februar 1923 geboren wurde. 4 Viel interessanter ist jedoch die Frage: Warum hat André Gorz um das Jahr seiner Geburt ein Geheimnis gemacht? Man kann zunächst mit einem Charakterzug von ihm argumentieren: »Er war in gewisser Weise ein Schalk«, so Leggewie, »und er hat auch« mit jenen, die ihn nach seinem Geburtsjahr befragten »den Schalk getrieben«.5 Gorz reagierte auf die Frage meist mit einem schweigsamen Schmunzeln oder erzählte einmal dieses, einmal jenes. 6 Des Weiteren kann man vorbringen, dass diese Verschwiegenheit eine enge Tuchfühlung mit den Namens- und Identitätswechseln besitzt, die er betrieben hat. André Gorz’ Lebensgeschichte beginnt in Wien, wo er unter dem Namen Gerhart Hirsch als Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter geboren wird. »Über Nacht wurde aus dem siebenjährigen Schüler Gerhart Hirsch ein Gerhart Horst – das klang ‚arischer’, und die Familie hoffte damit – letztlich vergeblich – auf eine Art Versicherung gegen den aufziehenden Antisemitismus« in Wien.7 1949, mit der Immigration nach Frankreich, erfährt Gerhart Horst »seine gallische Reinkarnation: als ›Gérard (H)órst‹«.8 Der Name Horst trägt im deutschen Kulturkreis die Bedeutung »Wäldchen« oder »kleiner Wald«. Eine mögliche Übertragung dieser Bedeutung ins Französische lautet »bosquet«, was die Inspiration für einen weiteren Namenswechsel liefert. Das Pseudonym Michel Bosquet wählt Gorz, als 1951 seine journalistische Karriere beginnt und er bei dem Blatt Paris Presse mitwirkt.
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7 8
Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen. In einem persönlichen Schreiben (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 12. bis 15. März 2006) heißt es: »Dein lieber Brief vom 5.2. hat mir eine riesige Freude gemacht. Mit seinen ausgiebigen Verlängerungen war er – Du konntest es nicht wissen – mein Geburtstagsgeschenk. Ich bin am gleichen Tag wie Thomas Bernhard geboren, nur 8 Jahre früher«. Dieser Hinweis ließ sich in Zusammenarbeit mit dem Wiener Stadt- und Landesarchiv verifizieren. Mein besonderer Dank gilt Dr. Susanne FritschRübsamen, mit deren Hilfe ich das Geburtsdatum im Bestand des Wiener Stadt- und Landesarchivs; M.Abt. 116 – Bevölkerungswesen eruieren konnte. Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen. Gorz selbst gibt den Hinweis auf das falsche Jahr seiner Geburt in einem Interview mit Claus Leggewie, das im Jahr 1986 im deutschsprachigen Rundfunk gesendet wurde. Hier lässt er verlauten, dass er »1924 geboren ist« (Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (1) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung). Hörfunk-Feature 1986, zit. n. Skript der Rundfunksendung. Hörfunk-Feature 1986, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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»Auch der Vorname ›Gérard‹ mußte weichen, weil er schon zweimal im Redaktionskollegium vorkam. Ein deutschklingender Name kam ohnehin nicht in Frage, […] in den 50er Jahren waren die ›boches‹ noch höchst suspekt und als Österreicher traf ihn dieses Schimpfwort ebenso«.9
Bekanntheit erlangt Gérard, wie ihn sein engster Bekanntenkreis zu nennen pflegt, als André Gorz. Dieser Name entsteht, als Ende der 1950er Jahre die Veröffentlichung seiner autobiographischen Schrift Le traître (1958) beim Verlag Le Seuil bevorsteht. Laut Leggewie sind es »Gründe der Anonymität«, warum der Autor sich Gorz nennt. Zu jener Zeit hoffen die Horsts in Paris auf die positive Bestätigung ihres Einbürgerungsantrages. Das Liebäugeln des Protagonisten des Romans mit der Parti communiste française (PCF), der kommunistischen Partei Frankreichs, das auf einigen Seiten des Buches dargelegt ist, hätte die Behörden aufhorchen lassen können.10 Warum Gorz? Den entscheidenden Tipp bekommt abermals Claus Leggewie. Auf einen Zettel schreibt ihm André, Michel oder auch Gérard die Wörter »Goertz«, »Goricija« und »Gorica«.11 Die Namen gehören zu einer Stadt in Istrien, die heute wieder Goertz heißt. »Mit Goricija und Gorica bekam Goertz im Laufe seiner wechselvollen Geschichte ebenfalls drei Namen und wußte im mitteleuropäischen Dreiländereck zwischen Österreich, Italien und Jugoslawien auch nicht so genau, wohin es gehörte« (Leggewie 1989: 24). Ein Schicksal also, das der gebürtige Wiener, Exil-Schweizer und Wahlfranzose nur zu gut nachempfinden konnte. In der Stadt wurden Feldstecher für die österreichische Armee gefertigt. Der Anekdote nach gab es im Hause Hirsch ein Fernglas der k.u.k-Armee mit dem Gorz als Kind spielte und das dem Vater gehörte, der in seiner Militärzeit den Rang eines Generalstabsschreibers innehatte. Welcher tiefere Sinn verbirgt sich hinter den Namenswechseln und wie lässt sich eine Verbindung zum Verschweigen seines Geburtsjahres herstellen? Man kann philosophisch argumentieren: Das Namen-Wechsel-Dich-Spiel ebenso wie das Geheimnis um das Geburtsdatum – auch der Freitod, der in gewisser Hinsicht ein philosophischer Tod war – sind Schauplätze eines Kampfes des Nichts gegen das Sein, gegen das Seiende. Gorz war zeitlebens ein konsequenter Existentialist, der die Sartresche Philosophie »ernster nahm als es Sartre selbst getan hat«, wie Otto Kallscheuer bemerkt.12 Erinnert sei an L’être et le néant (Sartre 9 Hörfunk-Feature 1986, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 10 Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen. Vgl. dazu auch Leggewie 1989: 24. 11 Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen. 12 Kallscheuer, Gespräch mit A.H. am 04. Juli 2011 in Bonn.
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1943).13 Sartres Pointe der abstrakten Verknüpfung von ›en-soi‹ und ›pour-soi‹, von An-sich und Für-sich, ist, dass diese Verknüpfung die Rolle des Menschen in der Welt offenbart. Das Wesen, das durch Bewusstsein, verstanden als ›poursoi‹, ausgezeichnet ist, ist der Mensch. Ihm obliegt es, die starre Welt des ›ensoi‹, der Objekte, aufzubrechen, zu negieren. Er befördert das Nichts in die Welt. Mit der Nichtung, die vom ›pour-soi‹ ausgeht, bringt der Mensch eine totale Umwälzung in die im An-sich ruhende Welt. Die »Möglichkeit der menschlichen-Realität, ein Nichts abzusondern« versteht Sartre als Freiheit (Sartre 1943: 84). Diese Freiheit bedeutet einen Bruch mit dem Sein, »ein Sichlosreißen des Menschen von der Welt und sich selbst« (Waldenfels 1983: 83). Und ein solches Sichlosreißen, ein solcher existentialistischer Freiheitswille, lässt sich, wenn man so will, im Verschweigen des Geburtsdatums wie auch in den Namenswechseln – und vor allem, wie noch gezeigt werden wird, im Akt des Freitodes – entdecken. Der Modus, in dem die Freiheit sich für den Menschen ausdrückt, ist die Angst. In der Angst »gewinnt der Mensch Bewusstsein von seiner Freiheit« (Sartre 1943: 91). Und Gorz beschreibt seine »Angst vor der Identifizierung« (Gorz 1958: 324) ausgiebig, die sich bei ihm in einer »Vorliebe für die Ironie und den ›Verrat‹« ausdrückt (Gorz 1958: 334). Er besaß eine spitzbübische Freude daran, jeden Versuch der Identifizierung zu vereiteln und seine Gesprächspartner zu verwirren. Man sollte also bei den hier verhandelten Sachverhalten nie diesen Schalk aus den Augen verlieren. Dennoch, und obgleich man Gefahr läuft, die Dinge etwas zu hoch zu hängen: Ein Geburtsdatum ähnlich wie ein Geburtsname können als »Appelle der Welt« verstanden werden, die es zu negieren, zu verraten gilt, um sich »selbst als Bewußtsein zu erfassen« (Sartre 1943: 108). In diesem Sinne können beide hier verhandelten Aspekte als Illustrationen des Prinzips des Verrats gelten, das in der Biographie von André Gorz einen zentralen Stellenwert einnimmt.14 Der Verrat, der sich bei Gorz zunächst als kindlicher Komplex manifestiert und dessen Geschichte er in Le traître aufarbeitet, ist in erster Linie ein Wunsch, »aus allen Gemeinschaften zu desertieren, die ihm ihre Zwänge auferlegten« (Gorz 1958: 153), angefangen mit der Familie, »die gegen sich selbst gespalten war und deren Spaltung« (Gorz 1958: 126) man 13 Zur Interpretation von Sartres L’être et le néant vgl. Schumacher 2003. 14 Das Prinzip des Verrats lässt sich nicht nur als eine Eigenheit von Gorz verstehen, sondern auch als ein existentialistisches Motiv par excellence. Das Motiv findet sich bei vielen existentialistischen Denkern, so z.B. bei Sartre oder etwa bei Emil M. Cioran. In Ciorans Schrift Lehre vom Zerfall heißt es: »in der Hierarchie der Einsamkeit stellt jeder sich auf eine andere Stufe; auf der höchsten befindet sich der Verräter: er treibt seine Vereinzelung auf die Spitze« (Cioran 1949: 72).
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dem jungen Gorz quasi unter die Haut genäht hatte. Bevor ich mich dieser gespaltenen Familie widme, sei noch eine Problematisierung eingefügt, zu der die bisher getroffenen Aussagen anhalten. Welchen Wirklichkeitsgehalt, welche biographischen Tatsachen offenbart eigentlich die in einem autobiographischen Ton verfasste Schrift Le traître? Hat Gorz hier wirklich alle Karten auf den Tisch gelegt und eine authentische Analyse seiner Lebenswirklichkeit, insbesondere seiner familiären, geliefert? Oder sind die Worte in Le traître eine weitere aufgesetzte, wenngleich literarische, Maske? Eines ist sicher: Eine Vielzahl der Namen, denen man in besagter Schrift begegnet, sind abermals Konstrukte der Gorz’schen Fantasie. Es ist hinlänglich bekannt, wen er »Kay« tauft und wer sich hinter »Morel« verbirgt.15 Weitere Protagonisten sind »Jakob«, »Maria« und »Helena«, die Benennungen für den jüdischen Vater, die christliche Mutter und die Schwester, »›ein strahlendes Geschöpf‹ […] mit goldenen Locken« (Gorz 1958: 153f.). Das Augenscheinliche ist der Fall: Gorz treibt sein Spiel.16 Aber wie weit treibt er es? Besuchte Gorz wirklich das Schweizer Internat in Graubünden? Herrschte hier tatsächlich eine beklemmende Atmosphäre, »die derjenigen nicht so ganz unähnlich war«, wie Arno Münster (2008: 16) bemerkt, »die Nietzsche im 19. Jahrhundert in dem Internat von Schulpforta (bei Naumburg in Sachsen) kennengelernt hatte« etc.? Vieles ist nicht mehr nachprüfbar. Die biographische Rekonstruktion muss sich zum Großteil auf das berufen, was Gorz selbst verbreitet hat, das heißt, sie setzt sich der Gefahr aus, auf eine literarische Fiktion zu rekurrieren. Sicher ist aber auch: Gorz’ Erstveröffentlichung ist keine reine Erdichtung. Zunächst zwei harte Fakten. Die in Le traître erwähnte Namensänderung erfolgte mit Bescheid vom 26. Mai 1930.17 Auch war Gorz Anfang der 1940er Jahre, wie er es beschrieben hat, in Lausanne. Beides ließ sich in Zusammenarbeit mit dem Wiener Stadt- und Landesarchiv eruieren.18
15 Die Bezeichnungen für Doreen Keir, seine Frau, und Jean-Paul Sartre. 16 Der Name des Vaters und der Schwester sind fiktiv. Frappierend ist, dass es gerade der Name der Mutter ist – also jenes Familienmitglied, das in Le traître die negativste Darstellung erfährt – den Gorz nicht ersinnt. Seine Mutter hieß tatsächlich Maria, Maria Hirsch, geboren als Maria Ferdinanda Starka, Informationen des Wiener Stadt- und Landesarchivs, M.Abt. 116 – Bevölkerungswesen. 17 Die Namensänderung von Hirsch auf Horst ist dokumentiert im Bestand des Wiener Stadt- und Landesarchivs; M.Abt 116, A22 – Namens- und Matrikenangelegenheiten: H427/1930. 18 Im Bestand »Historische Meldeunterlagen« des Wiener Stadt- und Landesarchivs ließ sich ein Vermerk der Eltern vom 21. November 1941 ausfindig machen, in dem über den Sohn die Worte »derzeit in Lausanne« notiert sind.
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Zudem die erste Szene in Le traître. Der Protagonist sinniert hier über ein Manuskript, an dem er fast zehn Jahre gearbeitet hat und das er einem gewissen »Morel« aushändigte, auf dessen Urteil er nun wartet. Gorz rekurriert hier auf die Ereignisse um seinen ersten philosophischen Entwurf, Fondements pour une morale, der erst 1977, zweiundzwanzig Jahre nach seiner Fertigstellung, veröffentlicht wurde. Es handelt sich bei dem sechshundertseitigen »Essay«, wie Gorz ihn nannte, um eine Art Fortsetzung von Sartres L’être et le néant. Er hatte sich hier der Fragen angenommen, die in Sartres Schlüsselwerk zwar aufgeworfen, aber offen geblieben sind: Was ist die Eigentlichkeit? Worin besteht die existentielle Bekehrung und wie kommt es dazu? Was heißt es, die Freiheit als höchsten Wert und Quelle aller Werte zu setzen? Die Antworten auf diese Fragen ergaben sich für ihn nicht ohne Weiteres aus der Sartreschen phänomenologischen Ontologie. Er machte sich daran, diese weiterzudenken. Als Sartre den voluminösen Text, an dem Gorz von 1946 bis 1955 gearbeitet hat, mit den Worten, »›Sie überschätzen meine Macht‹« (Gorz 2006a: 42) ignoriert und sich für das Buch kein Verleger findet, beginnt er mit der Arbeit an Le traître. Die Szene ist kein Fantasieprodukt: sie findet erneute Darstellung in der 1976 verfassten Einleitung der Schrift Fondements pour une morale;19 zudem wird sie von Simone de Beauvior bezeugt: »Zehn Jahre nach unserer Begegnung in Genf hatte Gorz, der nach Paris gezogen war, Sartre ein philosophisches Werk überreicht, das zwar intelligent, aber allzu unmittelbar durch L’ Être et le Néant inspiriert war. Später hatte er einen ausgezeichneten Essay über sich selbst geschrieben« (Beauvior 1963: 362).
Des Weiteren finden viele Erzählstränge aus Le traître ihren erneuten Niederschlag im Lettre à D. Der Text ist eine Liebeserklärung an seine Frau, Doreen Keir, von Gorz Dorine genannt. Und dieses Büchlein kann als biographisches Dokument ersten Ranges angesehen werden. In einem persönlichen Schreiben an Stefan Meretz bekennt Gorz: »Der Brief ist nicht zum Zweck seiner buchförmigen Veröffentlichung geschrieben worden. Was ich in ihm sage, konnte ich allein ihr, für sie, sagen«.20 Hier spricht kein Schalk. Der Lettre à D., den Gorz fast 50 Jahre nach dem Erscheinen seiner Autobiographie und kurz vor dem 82. Geburtstag seiner Frau an diese schreibt, ist gewissermaßen eine Entschuldigung für das Bild, das er von Dorine in Le traître skizziert hat und gleichsam der Versuch, es zu korrigieren. Auf den wenigen Seiten, wo in Le traître von Kay, alias 19 Für die im Juli 1976 entstandene Einleitung zu der Schrift Fondements pour une morale vgl. Gorz 1955: 9-23. 20 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 13. bis 19. August 2007.
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Dorine, die Rede ist, beschreibt Gorz eine unsichere und schwache Person, die in völliger Abhängigkeit von ihm lebte. Im Winter 2005/2006 liest er zum ersten Mal seit Jahren erneut die Zeilen und ist regelrecht beschämt. Voller Reue äußert er: »Ich verstehe, warum es heißt, ›vor Scham sterben‹« (Gorz 2006b: 309). Um das Bild auch in der Öffentlichkeit zurechtzurücken, entschließt er sich zu einer Publikation im kleinen Rahmen. Gorz weiter an Meretz: »Und da er [Lettre à D.] eine verspätete Huldigung, Richtigstellung, Anerkennung ist […], wollte ich, dass er in ein paar hundert Exemplaren gedruckt werde. Ich bot meinem Freund und Verleger an, die Spesen zu übernehmen und verzichtete im Voraus auf die üblichen Royalties«.21
Es gibt also Indizien für die Annahme, dass die autobiographischen Bemerkungen im Lettre à D. authentisch sind. Wenn aber Gorz’ Lebenserinnerungen im Lettre à D. aufrichtige Worte an seine Frau und keine literarische Fiktion sind, so muss letzteres auch im erheblichen Maße für Le traître gelten. Eine Vielzahl an biographischen Begebenheiten – Gorz schwieriges Verhältnis zu seiner Familie, insbesondere zur Mutter, der Aufenthalt in der Schweiz, das Scheitern mit den Fondements pour une morale etc. – werden nämlich in beiden Schriften thematisiert. Es ließen sich noch weitere Argumente anführen, die es rechtfertigen, sich auf die oben genannte Gefahr einzulassen. Ich belasse es jedoch an dieser Stelle bei den Andeutungen, gehe das Wagnis ein und verfolge ein paar wesentliche Aspekte der Geschichte, die Gorz selbst über sich verbreitet hat und erweitere die Perspektive, reiße mich also gleichsam dort von dieser Geschichte los, wo es angebracht scheint und wo mir die Mittel zur Verfügung stehen, das heißt, wo alternative Quellen eingebunden werden können.
II.
K INDHEIT
UND
J UGEND
Erwähnt wurden die gespaltene Familie und ein kindlicher Komplex, Aspekte, die in der folgenden Konstellation ihre Wurzeln haben: Gorz’ Mutter heiratete einen Juden, dem sie sein Jüdisch-Sein nicht verzeihen konnte. Einerseits stand die Ehe mit einem Juden den gesellschaftlichen Ambitionen der Mutter im Weg. Andererseits bot sie die Möglichkeit, die aristokratischen Ansprüche – der Ehegatte war nicht gerade arm – teilweise zu befriedigen. Gorz’ Vater genoss bei
21 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 13. bis 19. August 2007.
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seiner Sippschaft keinen besonderen Stellenwert und bei der Familie, die er eigens gründete, hatte die Ehefrau das Sagen. Im Hause des jungen Gorz regierte und kommandierte die Mutter. Sie verkörperte die Macht, indem sie ihren Mann, aber auch die Kinder, schikanierte, zurechtwies, runterputzte. Der Vater verkörperte hingegen das Scheitern und die Schwäche, da er die Behandlung durch seine Frau erduldete. Die Mutter nahm den Sohn vollends in Beschlag, monopolisierte ihn geradezu, um aus ihm einem mannhaften, aristokratischen Herrn zu machen. In Le traître notiert Gorz eine regelrechte Abrichtung: »›Halt dich gerade. Vergiss nicht, die Mütze abzunehmen. Mach nicht so ein verlegenes Gesicht. Sieh den Leuten in die Augen, wenn du mit ihnen sprichst. Nuschle nicht, mach den Mund auf. Sieh männlich aus‹« (Gorz 1958: 159).
Die aristokratische Vollkommenheit des Sohnes sollte jene Ambitionen der Mutter kompensieren, die mit der eigenen Heirat unerfüllt blieben. Der Sohn jedoch erweist sich als unfähig, die überzogenen mütterlichen Ansprüche zu erfüllen, weshalb er sich schuldig und nichtig fühlt. Den vermeintlichen Grund für das Schuldgefühl und die Empfindung der Nichtigkeit erkennt er in seiner rassischen Unreinheit, also in jenen Attributen, die er seinem Vater verdankt. Die gespaltene Familie, so kann man eine Pointe des Le traître zusammenfassen, wurzelt in der Diskrepanz zwischen den aristokratischen Ambitionen der Mutter und dem Fakt, dass sie einen Juden zum Mann genommen hatte. Und die Erziehung des Sohnes, mit der die Mutter versuchte, diese Diskrepanz zu kompensieren, verursachte den Komplex des Kindes. Dieser Komplex wiederum bildete den Nährboden für die Verhaltensweise des Verrats, jene Versuche, aus dem Reich der Menschen und Zwänge zu desertieren. Im Folgenden möchte ich die hier grob umrissene Konstellation, dieses Muster, ausfüllen. Die gespaltene Familie Der Vater, Robert Hirsch, wurde 1880 in Prerau geboren – heute eine tschechische Stadt Namens Prerov. Er entstammt einem jüdischen Haus mährischer Grundbesitzer. Die Mutter, Maria, kam 1895 in Nürnberg zur Welt. 22 Sie unterstützt ihren Ehemann bei der Leitung eines Holzwarenhandels. Ihre Familie kam ursprünglich aus Böhmen und hatte sich 1918 in Wien niedergelassen, wo ihr Vater, ein Sänger, Direktor einer Theateragentur wurde. Dieser ist außer sich, als er erfährt, dass die Tochter ihren fünfzehn Jahre älteren Chef, einen Juden, bei dem sie zunächst als Bürokraft angestellt ist, zu heiraten beabsichtigt. Ihre ari22 Informationen des Wiener Stadt- und Landesarchivs, M.Abt. 116 – Bevölkerungswesen.
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sche Familie verachtet den jüdischen Schwiegersohn. Die Tochter erkennt in ihm die Chance zum sozialen Aufstieg. Doch auch sie verachtet Juden und weigert sich, »ihre grässliche jüdische Schwiegerfamilie zu sehen« (Gorz 1958: 129). Sie besaß einen ungewöhnlichen Ehrgeiz, fühlte sich den »feinen Leuten« zugehörig, hielt »Titel, Grade und gute Manieren in Ehren, erfand sich einen gräflichen Großvater, übernahm den väterlichen Antisemitismus […] und brachte ihren Mann dazu, seine jüdische Familie zu befehden, um das Geschäft an sich zu reißen und zu vergrößern« (Gorz 1958: 132).
Gorz’ Vater kam aus einer wohlhabenden, kinderreichen Familie, in der man seinen älteren Brüdern mehr zutraute als ihm. Er »sollte die Ländereien nicht bekommen, weil man sie dem ältesten Sohn geben würde; er durfte nicht studieren, weil Oskar begabter war; Er sollte auch das Fuhrunternehmen nicht kriegen, weil Bruno sich dafür interessierte. Schließlich«, so Gorz (1958: 130) weiter, »halste man ihn der Schwester Anna auf, um ihn loszuwerden«.
Diese Schwester hatte einen reichen Unternehmer zum Mann, der im Besitz eines Holzwarenhandels war, wo Kisten und Fässer produziert wurden, und in welchen Robert Hirsch zunächst als Prokurist einstieg. Erst im Alter von 39 Jahren begegnet er seiner späteren Frau, die er 1919 heiratet und die das ganze Gegenteil von ihm ist. »In dieser energischen jungen Frau«, so sein Sohn, »die niemals an sich zweifelte und so wirkte, als wolle sie die ganze Welt auffressen, suchte er wahrscheinlich eine moralische Stütze« (Gorz 1958: 130). Gorz charakterisiert seinen Vater als träge, konservativ, ängstlich. Ein Mann, »der sich mit seiner Mittelmäßigkeit abgefunden hatte und sie sich als Tugend anrechnete, indem er sie für Bescheidenheit ausgab« und sich »darüber im Klaren [war], dass Größe und Ehrgeiz Sache der Anderen sind« (Gorz 1958: 130f.).
Dieser Vater ist ihm kein Vater. »Eine ›Vaterfigur‹ gab es in meinem Leben nie«, wird er später äußern (Gorz 1990: 9).23 Wie die Mutter pflegt auch der Va23 In diesem Gespräch bemerkt Gorz weiter: »Der Mann, der einer ›Vaterfigur‹ am nächsten kam, war mein Volksschullehrer in Wien. Der war ein witziger, faszinierender Pädagoge, knallrot, der uns jeden Tag erklärte, wie die verschiedensten Gegenstände, Lebensmittel und Reichtümer von Hand und Kopf arbeitender Menschen geschöpft werden. Er hieß Franz Spiroch, war – würde ich heute sagen – ein AnarchoSozialist und ich liebte ihn sehr« (Gorz 1990: 9). Die Wertschätzung gegenüber die-
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ter eine ehrwürdige Achtung vor dem Adel, verehrt die Armeegrade und fühlt sich dem Kaiserreich verbunden. Alles in allem eine naive Person, die selbst noch im Jahr 1951 geäußert haben soll: »›Ich habe nichts gegen diesen Hitler, und ohne diesen Antisemitismus würde ich ihn morgen wählen. Dieser Mann hat Ordnung geschaffen, er hat was für sein Land getan‹« (Gorz 1958: 133). In einem persönlichen Schreiben bemerkt Gorz: »Meine Familie war ganz ›ungebildet‹«.24 In dieser »Familie«, so lässt er 1985 in einem Interview verlauten, »sprach die Mutter, die war Besitzerin sowohl der Sprache wie der Richtigkeit ihrer Verwendung und der Wahrheit im allgemeinen«.25 In Le traître heißt es: »Die Sprache (wie im Übrigen die ganze Welt) war das ausschließliche Eigentum der Mutter. Sie herrschte über die Wörter, um durch weitschweifige Reden über die Menschen zu herrschen, Reden, die wie Kleister die verwirrten Gesprächspartner lähmten. Die Sprache war ihr Reich, und sagen hieß, in dieses Reich einbrechen und augenblicklich unter ihre Gerichtsbarkeit fallen« (Gorz 1958: 329).
Der Vater hat in der Familie, im Reich Marias, wenig zu melden. Er wird von seiner Frau angeschnauzt »›Was treibst du schon wieder mit diesen Jidden?‹« (Gorz 1958: 130), wenn er Kontakt zu seinen Verwandten unterhält. Auch verleitet sie ihn dazu, den Holzwarenhandel des kränklichen Schwagers zu übernehmen. Eine Idee, die Robert Hirsch allein nie erwogen hätte. 1930 konvertiert er auf Drängen seiner Gattin zum Katholizismus. Damit einher geht die erwähnte Namensänderung, infolgedessen die Familie nun Horst heißt. Gorz bemerkt: »meinen Familiennamen [habe ich] verloren, denn den hat mein Vater aufgegeben, als er sich zur katholischen Religion bekannte weil meine Familie, meine Eltern der Meinung waren, daß es ihr Geschäft hinderte, einen vielleicht jüdischen Namen zu tragen angesichts des steigenden Antisemitismus sowohl in Österreich als auch in Deutschland«.26
sem Lehrer ist auch erwähnt in einem persönlichen Schreiben. Hier heißt es: »Lieber Franz, du fragst mich nach meinem Verhältnis zu Österreich: ich habe keines. Zu meinem ›roten‹ Volksschullehrer, Franz Spiroch, habe ich noch eines, von Liebe und Dankbarkeit« (Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 02. August 2005). 24 Brief von Gorz an Schandl, geschrieben vom 28. Oktober bis 01. November 2004. 25 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (2) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 26 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (1) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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Doch die Mühe ist letztlich vergebens. Das elterliche Geschäft wird 1938 arisiert und die Familie muss ihre großzügige Wohnung räumen,27 weil ein Parteibonze Anspruch darauf erhebt. Die Mutter hält nun nichts mehr beim Vater. Das Jüdisch-Sein ihres Mannes macht nur noch Scherereien. Kurzerhand beantragt sie die Gütertrennung, verfrachtet ihren Gatten in ein Pensionszimmer und zieht mit den Kindern zu Verwandten. Die Entdeckung seines eigenen Jüdisch-Seins, dem Teil des Vaters in ihm, verdankt der junge Gorz einer Hänselei. Als Schüler zeigt ihm ein Schulkamerad ein Plakat, auf dem, laut Gorz, »so ein Jude mit Paissln und so einer krummen Nase und triefenden Lippen und hakigen Fingern draufstand und sagt: das ist dein Vater (lacht)«.28 Das Erlebnis findet auch in Le traître seinen Niederschlag. Ein anderer Junge, so wird die Szene hier weiter beschrieben, »hat laut gelacht und erzählt, dass sein Vater Baron sei«. Das Kind fühlt sich gedemütigt »und seine Mutter hat ihm gesagt, dass ihr Großvater ein Graf gewesen sei und dass ein Graf mehr sei als ein Baron, weil er sieben Zacken an der Krone seines Wappens habe und ein Baron nur fünf« (Gorz 1958: 37).
Diese Mutter, so scheint es, ist eine Besessene. Besessen von der Idee, aus dem Sohn einen modernen ›Grafen‹ zu machen, einen Piloten, Forscher oder Kapitän, einen Mann von Welt, zu dem man aufschaut. Kinder, so kann man Sartre stückweit im Vorwort zu Paul Nizans Aden, Arabie verstehen, sind »Monstren« (Sartre 1960c: 122), die die Eltern mit ihren Sehnsüchten produzieren. Und im Falle des jungen Gorz produziert die Mutter ein vom Gefühl der Nichtigkeit beseeltes und von Schuldgefühlen geplagtes Kind, das zum Verräter heranwächst. Sie prüft jede seiner Bewegungen und zeigt mit dem Finger beschwörend auf ihren zukünftigen ›Grafen‹. Manisch weist sie das Kind zurecht und verlangt von ihm, die Rolle eines ritterlichen, adretten, willensstarken, beschützenden, energischen, selbstbewussten und herrschaftlichen jungen Mannes auszufüllen. Nach dem strengen mütterlichen Protokoll hat der Sohn den Damen die Hand zu küssen, vor den Herren eine Verbeugung zu machen und die Hacken zusammenzuschlagen sowie beim Grußritual auf der Straße seine Kopfbedeckung abzunehmen. Bei Begegnungen mit ehrwürdigen Herrschaften darf er weder die Handschuhe ausziehen, noch den Mantel aufknöpfen. Zugleich fungiert 27 Nach der Zwangsräumung wohnte die Familie seit dem 21. November 1941 unter der Anschrift: Wien 1, Kohlmessergasse 4, Information des Wiener Stadt- und Landesarchivs, M.Abt. 116 – historische Meldeunterlagen. 28 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (1) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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der Sohn im Beisein der Mutter als Exponat. Er muss als Symbol des Wohlstands der Familie herhalten, stets Spitze, weiße Handschuhe und Mantel tragen, und das egal zu welcher Jahreszeit, weil man nach Ansicht der Mutter so unter Leute geht. Und was die Leute denken, liegt der Mutter besonders am Herzen. »›Wie siehst du bloß wieder aus‹«, notiert Gorz (1958: 156) einen Tadel der Mutter in Le traître, »›was werden die Leute denken, sie werden denken, dass der Sohn von Frau G. schlecht erzogen ist, der Sohn von Frau G. hat nicht mal weiße Handschuhe, ich schäme mich für dich, das hab ich nicht verdient, nach allem, was ich für euch getan habe, dem vielen Geld, das wir ausgegeben haben‹«.
Die Mutter investiert viel in den Sohn. Er erhält Klavierunterricht und bekommt mehrere Gouvernanten zur Seite gestellt, die ihm Etikette und Bildung beibringen sollen. Die Ansprüche der Mutter sind enorm und das Kind erkennt bereits in frühen Jahren, der Rolle des Sohnes, die von ihm verlangt wird, nicht gerecht werden zu können. »In einer Situation der Unsicherheit und der Schuld liebte und fürchtete er seine Mutter wie der Hund seinen Herrn« und jederzeit fühlte er sich »schuldig in einem Universum, in dem es vor Regeln und Vorschriften nur so wimmelte« (Gorz 1958: 162).
Das Kind entwickelt eine Empfindung der systematischen Verfolgung. Aber nicht nur der Sohn ist den mütterlichen Ansprüchen ausgesetzt und leidet unter der gespaltenen Familie. Gleichermaßen betrifft dies die Schwester Erika, die 17 Monate vor Gorz, am 13. Juli 1921, zur Welt kam. 29 Nebenbemerkung zur Schwester In Le traître äußert Gorz: »Die Ehrfurcht vor Titeln und Würden, die Liebe zur Ordnung, notwendige Grundlage der Hierarchie, von der mit einem Amt belehnt zu werden Jakob und Maria ihr Leben lang bestrebt waren, haben ihre Tochter zur Neurotikerin gemacht, die wie sie davon überzeugt ist, dass Erfolg darin besteht, zu den ›feinen Leuten‹ zu gehören, und die es danach drängte (zum Preis ich weiß nicht welcher Demütigungen und Schmerzen), während des ganzen Krieges mit nationalsozialistischen Bonzen, Funktionären und Diplomaten zu verkehren, von denen sie unmögliche Stellungen zu erbetteln hoffte« (Gorz 1958: 133).
29 Information des Wiener Stadt- und Landesarchivs, M.Abt. 116 – Bevölkerungswesen.
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Gorz hat, so scheint es, kein wirklich gutes Verhältnis zur Schwester. Wahrscheinlich erinnert sie ihn zu sehr an die Mutter. Im Alter besucht er sie einmal im Jahr in Wien. Wenn Dorine und er in der Schweiz, in Bad Ragaz, zur alljährlichen Kur weilen,30 nutzt er die Gelegenheit für den Abstecher in die österreichische Hauptstadt. Gorz tritt die Stippvisite stets allein an. Gorz’ Schwester, so berichtet Erich Hörl, »hatte etwas Bürgerliches an sich, was Dorine und André wahnsinnig gemacht hat«.31 Einmal wurde Hörl gemeinsam mit Gorz von der Schwester in »ein Fünf-Sterne-Edel-Lokal in der Wiener Innenstadt geführt«. Die beiden Herren haben keine Krawatten angelegt, weshalb sie vom Ober der Lokalität welche bereitgestellt bekommen. »Das hat André aufgeregt, das war für ihn der Inbegriff dessen, wie sie lebt«, erinnert sich Hörl. Erika weiß wenig über das Leben ihres Bruders. »Erst als er tot war«, so Hörl, der die Schwester nach dem Suizid gesprochen hat, »als sie die ganzen Nachrufe gelesen hat, da ist ihr erst wirklich klar geworden, wer ihr Bruder war«.32 Die ersten Verrate Zurück zum systematisch verfolgten Sohn. Einen ersten Fluchtweg aus dem Netz der mütterlichen Normen, er ist nun etwa im zehnten Lebensjahr, erkennt er in der Religion. Er beginnt zu beten: »›Mach, dass ich besser werde, und vergib mir meine Anmaßung; für meine Eltern, nicht für mich bitte ich dich um diese Gunst‹« (Gorz 1958: 165). Sein religiöser Eifer entwickelt sich dergestalt, dass er mehr und mehr ins Reich Gottes abdriftet. Ganz im Gegenteil zur Familie. Maria ist zwar katholisch, jedoch keineswegs eine überzeugte Christin. Der sonntägliche Kirchgang gehört für sie in erster Linie zum gesellschaftlichen Programm, das feine Leute zu absolvieren haben. Der Junge hingegen widmet sich voll und ganz den Geboten des Herrn. Im göttlichen Reich begreift er das Reichste als das Ärmste und das Ärmste als das Reichste, das Leiden als gut und den Frohsinn als schlecht. Eine verkehrte Welt. Im realen Leben der Geringste zu sein, hieß für ihn, im Reich des Herrn der Beste zu sein. Die Hinwendung zu Gott bot ihm ein Mittel zur Flucht und zur »Negation des Realen zugunsten einer abwesenden, absoluten Realität, die nur insofern zählt, als sie es gestattet, die tatsächliche Realität für unwesentlich zu halten« (Gorz 1958: 172). Unterwerfung unter die Gebote Gottes als Flucht vor dem mütterlichen Zwang. Das ist die 30 Die Fahrten in die Schweiz sind durch einige Postkarten und Briefe dokumentiert. So heißt es beispielsweise in einem persönlichen Schreiben: »Im Oktober sind wir wahrscheinlich wieder in Bad Ragaz« (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 10. August 2005). 31 Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum. 32 Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum.
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Morgenröte des Verrats. Ein Jahr dauert die religiöse Kasteiung und Askese, dann tauscht er die Religion gegen den Nazismus ein. Die Hinwendung zum Nazismus besitzt eine enge Tuchfühlung mit dem problematischen Verhältnis der Familie zu ihrem Jüdisch-Sein. »Mein Vater war Jude der Geburt nach«, erinnert sich Gorz gegenüber seinem Interviewer Claus Leggewie, »aber er hat sich selbst verleugnet, indem er sich zum Christentum bekehrt hat. Ich hatte nie als Kind eine Erfahrung vom Positiv-Jüdischen, sondern nur vom Negativ-Jüdischen. Selbst in meiner jüdischen Familie war man leicht antisemitisch angehaucht, d.h. man betrachtete die mitteleuropäischen Juden, die des Ghettos, die die gläubig waren, als minderwertig. So hatte ich überhaupt keinen Anhaltspunkt, um im Jüdischen die Positivität zu sehen«.33
›Man kommt nicht als Jude zur Welt, man wird es‹ – so könnte man einen berühmten Satz von Simone de Beauvoir entfremden.34 Im Falle des jungen Gorz ist das eine treffliche Formulierung. Es ist die Familie, allen voran die Mutter, die den Sohn zum Juden macht. Und zum Juden wird er just in dem Moment, als er in seinem Jüdisch-Sein die Quelle für sein Versagen, sein Schuldgefühl und sein Empfinden der Nichtigkeit erkennt. In ihm, so glaubt er jetzt, wuchert das Jüdische als eine Art Krebsgeschwür. Alles was er an sich ablehnt, was er an sich hasst, ist seiner Meinung nach mit Judentum, mit dem Väterlichen, vergiftet. Alles, wonach er strebt, was er sein will, ist das Nicht-Jüdische, also das Arische. Wie die Familie, ist auch dieses Kind gespalten. In ihm kämpft das ›gute‹ Arische gegen das ›schlechte‹ Jüdische. Er ist froh darüber, dass einige Verwandte mütterlicherseits das Hakenkreuzabzeichen tragen. Als aufmüpfiger Teenager, er ist 13 Jahre alt, heftet er sich gar selbst das Abzeichen ans Revers, um den Vater zu schockieren und um sich von dieser schwachen Person abzugrenzen. Es sind die vitalen Werte, die Nazi-Deutschland verkörpert und von denen sich der in der Pubertät befindliche Junge angezogen fühlt. Er ergeht sich in Kraftübungen, macht Liegestütze und absolviert kräftezehrende Radtouren; körperliche Ertüchtigungen, mit denen er versucht, sein Jüdisch-Sein auszuschwitzen. Die Bekehrung zum Nazismus war der Wille, so analysiert Gorz in Le traître diese Phase seines Lebens,
33 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (3) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 34 Bei Beauvoir (1949: 334) heißt es: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«.
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»ein Anderer (das heißt Arier) zu sein und die jüdische Schwäche aus sich herauszureißen: Religion der Kraft, der Rasse und des Reiches, kraft derer er sich in ein germanisches Anderswo befördern und von dem aus er das, was ihn umgab und was ihm zustieß, verachtungsvoll als mindere Realität anfechten konnte; der Nazismus war für ihn alles zugleich, und noch dies: eine Regel, der religiösen Disziplin ähnlich, […] die ihm niemand jemals aufzuzwingen versucht hatte. Eine Regel, nach deren Normen ihn niemand jemals beurteilen würde und die er gerade deswegen gewählt hatte« (Gorz 1958: 173).
Doch diese Flucht wird mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 von der Realität eingeholt. Für die anderen bleibt er der Jude, der jetzt österreichischer Jude im großdeutschen Reich ist. Die Lage der Familie verschlechtert sich rapide. Eine Zeit, so Gorz, »in der sie hungern lernten vor Schaufenstern voller Lebensmittel« (Gorz 1958: 182). Die politischen Ereignisse überschlagen sich. Es kommt zum deutsch-sowjetischen Pakt und zum Überfall Polens. Die Stimmung in Wien spitzt sich zu. Noch im hohen Alter und in einem seiner letzten Briefe erinnert sich Gorz an die Zeit nach dem Anschluss mit den Worten: »die sklavische Unterwerfung der Wiener, die plötzlich alle mit Hakenkreuzen auf der Brust und ›Heil Hitler‹ im Mund herumliefen und ihre arische Überlegenheit in der sadistischen Behandlung älterer jüdischer Frauen bewiesen«.35
In Sorge um ihre Kinder versucht Maria, sie in die Schweiz zu bringen. Gorz spricht in Le traître von »fieberhafte[n] Laufereien der Mutter« (Gorz 1958: 182). Sie schreibt an den Papst, wendet sich an adelsstolze Herrschaften, sucht alles Geld zusammen, verkauft Schmuck. Schließlich, »die Entdeckung eines von der Botschaft des Reichs zugelassenen deutsch-schweizerischen Internats in den Bergen für sechshundertfünfzig Franken im Monat« (Gorz 1958: 182). Eine gewaltige Summe für die in Nöte geratene Familie. Am 20. Juli 1939 erfolgt per Zug die Einreise des Sechzehnjährigen in die Schweiz, wo er kurze Zeit später das Institut Montana besucht; »ein großes gelbes Gebäude, das ein kleines Kaff in einem eintausendsiebenhundert Meter hoch gelegenen engen Tal beherrscht; kleine Einzelzimmer, deren Fenster auf die granitene Masse eines grauen Gebirges gehen, das dich mit seiner Unwandelbarkeit erschlägt« (Gorz 1958: 183).
35 Brief von Gorz an Exner, geschrieben am 05. Juli 2007.
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Der Einfluss der Mutter auf den sich in der Schweiz befindenden Sohn schwindet. »›Indem ich dich rettete, habe ich dich verloren, und ich wusste es‹«, soll sie später ihm gegenüber äußern (Gorz 1958: 182). Zwar ist der jugendliche Gorz im schweizerischen Internat nicht mehr dem drohenden Zeigefinger von Maria ausgesetzt, doch fühlt er sich auch hier nichtig, angereichert mit einem Empfinden des Ausgeschlossenseins. Der Außenseiter Der Heranwachsende gerät in eine klassische Teenagerkonstellation: Die ›coolen‹ Jungs gegen den Außenseiter, gegen den ›Nerd‹, wie man es zeitgemäß ausdrücken würde. Etwa sechzig Knaben, vor allem aus den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland, besuchen die Internatsschule. Die Sprösslinge meist sehr wohlhabender Eltern bilden rasch Cliquen. Jazzmusik, exotische Zigaretten, Whisky, Kenntnisse über amerikanische Filmstars und Automarken stehen unter den Halbstarken hoch im Kurs – Dinge, mit denen der jugendliche Gorz bisher keine Berührung hatte. Er hört Chopin, eine Symphonie von Bruckner und Schallplatten von Ravel. Die Mitschüler hänseln ihn aufgrund seiner Unwissenheit über Jazz und schnelle Autos; verspotten ihn wegen seiner Unerfahrenheit mit Zigaretten und Alkohol; machen sich lustig über seinen Wiener Akzent. Der Außenseiter ist bemüht, die Vorlieben der Schulkameraden zu verstehen und sich in die Cliquen zu integrieren. Doch niemand legt Wert auf seine Gesellschaft. Sie schweigen, wenn er sich ihnen nähert oder ignorieren ihn einfach; boykottieren ihn, leihen sich aber dennoch jedes Wochenende sein Grammophon aus, um Jazzmusik zu hören, ohne ihn teilhaben zu lassen. Er sitzt meist einsam in seinem Zimmer und starrt ins Leere, mit dem Wunsch in der Brust, »den Kopf auf den Tisch zu legen und zu schluchzen« (Gorz 1958: 186). In Le traître findet sich jene Szene, in der der Protagonist sich an diese Zeit erinnernd fragt, »was dieser abscheuliche Wunsch zu heulen, sich in seiner eigenen Wärme zusammengerollt in eine Ecke zu kauern, bedeuten mochte und wie man diesen ›Weltschmerz‹ nennen sollte«. Als Antwort auf die Frage steht der Satz: »›Traurigkeit ist die Zärtlichkeit zu sich selbst‹«. Erklärend heißt es weiter: »Zärtlichkeit zu sich selbst: Sehnsucht nach einer Welt, deren Aufbau und Grenzen mit denen des Körpers verschmelzen, weil der Körper zur einzigen Heimat geworden ist, zum gelobten Land und zugleich verlorenen Land, wenn er alles ist, was an Lebenswertem bleibt; Wunsch, sich an seinen eigenen Körper zu schmiegen, letztes Versteck der Süße des Lebens, letzter Schlupfwinkel vor einer feindseligen Wirklichkeit; und ausgehend von diesem Wunsch der Ruf nach einem anderen Körper, der den seinen sich selbst gegenwär-
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tig machen würde, den er lieben und an den er sich pressen würde wie an seine eigene, zum Objekt gemachte Sanftheit« (Gorz 1958: 186).
Aus dieser Passage lässt sich das Leid des jugendlichen Gorz erahnen. Man errät das Gefühlsleben eines Teenagers, der von Schulkameraden gehänselt, verspottet, ausgestoßen und verachtet wird. Man begreift, in welcher Situation des Exils und der Einsamkeit er sich in den Schweizer Bergen befunden haben muss und wie viel Durchhaltevermögen er wohl aufbringen musste, um diese Situation zwei Jahre lang, bis zum Abitur im Jahr 1941, auszuhalten. An diesen Zeilen, die Gorz mehr als fünfzehn Jahre nach den Ereignissen niederschrieb, mag man ablesen können, welch brennende Narben der Internatsbesuch bei ihm hinterlassen hat. Franzose werden Erneut ist es die Handlungsweise des Verrats, so will es die Darstellung in Le traître, die ihm in dieser Situation der Leere und des Gefühls, nichts zu sein, Halt bietet. Nur ist es diesmal ein bedeutenderer Verrat, der sich von seinen Vorläufern – der als Kind vorgenommenen mystischen Verklärung der Welt sowie dem reichlich aussichtlosen Bemühen, Arier zu werden – vor allem dadurch unterscheidet, dass er den weiteren Lebensweg des jungen Mannes ganz entscheidend prägen wird. Im Winter 1940, an einem Tag allein und zurückgezogen in der Einsamkeit seines Zimmers im Institut Montana »setzte sich der Entschluss in ihm fest, Franzose zu werden«. Er hat das Gefühl, »total engagiert zu sein«, heißt es in Le traître. Emsig paukt er Vokabeln, stürzt sich in französische Lektüre, liest Proust, Giraudoux, Malraux, Maurois, Baudelaire und Valéry, lernt Seiten von Büchern dieser Autoren auswendig, notiert unbekanntes Vokabular in ein gelbes Heft und jubelt innerlich, als er beginnt, auf Französisch zu träumen. Er »zwang sich, in diesem deutschen Gymnasium, in dem niemand französisch sprach […], französisch zu denken; sprach mit sich selbst, führte Zwiegespräche mit sich […]. Er ging total in dieser Arbeit auf, zum ersten Mal in seinem Leben. Dieses Unternehmen fasste alle Bedeutungen seiner vorherigen Verhaltensweise zusammen, verwirklichte alle seine Komplexe, Widersprüche und Möglichkeiten« (Gorz 1958: 192f.).
Aber was hat Gorz im Sinn, als er den Verrat verübt? Warum will er ausgerechnet Franzose werden und worauf bezieht er sich bei diesem Entschluss? Natürlich denkt er erneut ans Desertieren. Liest man die einschlägigen Stellen in Le traître, begreift man rasch, dass dieser Verrat den gleichen Sinn verfolgt, wie die
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beiden zuvor im Kindesalter begangenen. Da er den Anforderungen nicht gewachsen ist, die sein Umfeld an ihn stellt – diesmal eine Vorliebe für Jazzmusik, exotische Zigaretten, Whisky, amerikanische Filmstars und schnelle Autos zu besitzen – desertiert er vor den Normen. Er entzieht sich, flüchtet in ein anderes Universum, das es ihm erlaubt, die tatsächlichen Gegebenheiten für unwesentlich zu erklären. Religion der französischen Sprache; nichts Neues also. Die Bekehrung zum Franzosen besitzt dieselbe Struktur, wie die mystische Flucht und die Bemühungen, Arier zu werden. Er denkt ferner an die Universalität der französischen Kultur. In Le traître heißt es: »Er postuliert, dass der Mensch Franzose war, so wie er zuvor akzeptiert hatte, dass der Mensch Arier war«. Doch war der Versuch, Arier zu werden von Anfang an ein zum Scheitern verurteiltes Vorhaben. Die Arier betrachteten ihn nicht einmal als Menschen, wie sollte er sich da das Ariertum aneignen können? Die Absicht, Franzose zu werden, stand unter besseren Vorzeichen, da für ihn ein gewichtiger Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland bestand. Im Gegensatz zu Deutschland verkörperte dieses Land nicht die vitalen Werte. Für ihn hatte Frankreich mit vitalen Werten nichts gemein, sondern war ganz und gar intellektuell. Franzose zu werden hieß für ihn zuallererst, französisch zu denken. Außerdem erschien ihm dieses Denken »nicht als das Denken einer besonderen Rasse oder eines besonderen Volkes […], sondern als das Denken schlechthin, als Übung der Vernunft, durchsichtig und universell« (Gorz 1958: 194). In den 1980er Jahren unterstreicht er noch einmal diesen Gedanken gegenüber seinem Interviewpartner Claus Leggewie: »Nun ist aber Frankreich seit jeher nicht eine Nation im deutschen Sinne des Nationalen, d.h.: das, woran man sich als Ausländer in der französischen Kultur bekehrt, ist nicht die Nation, auch nicht der Nationalgedanke: es ist die Universalität der französischen Kultur«.36
Frankreich dient als die Antithese Deutschlands, das Denken als Antithese des Vitalen, das Universale als Antithese des Nationalen. Er denkt an die Niederlage Frankreichs. Siegeszug der deutschen Wehrmacht auf ganzer Linie, Frankreich kapituliert und verschwindet im Nichts. Just in diesem Moment gewinnt er einen Bruder im Geiste. In seiner Autobiographie notiert Gorz: »Plötzlich ein brüderliches Frankreich, in dem er sich wiedererkennt«. Weiter heißt es:
36 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (1) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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»Er, der nicht existiert, der nur von der Welt verleugnete Nichtigkeit ist und keine andere Möglichkeit hat, als die Welt ebenfalls zu verleugnen, er hat mit einem Mal einen Bruder, und dieser Bruder ist ein Volk, das annulliert ist wie er« (Gorz 1958: 203).
Und gegenüber Leggewie äußert er zum Zusammenbruch Frankreichs: »Das war der Augenblick, in dem ich verstand, Frankreich versinkt im Nichts, und zu diesem Nichts (lacht) werde ich mich bekennen«.37 Deutschland gegen Frankreich, Reales gegen Imaginäres, das Sein gegen das Nichts, Gorz wählt das Nichts. Ist an diesem Punkt nicht gewissermaßen zu früh die Philosophie Sartres angezeigt? Spricht hier der jugendliche Gorz? Nein, es ist die Stimme des existentialistischen Denkers, der mittels Sartres Instrumentariums seine eigene Geschichte deutet. Das soll nicht heißen, dass diese Deutungen kein Gewicht hätten oder gar falsch wären. Hier soll lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass der siebzehnjährige Gorz den Existentialismus und seinen späteren Lehrer noch nicht kannte und noch dies: Man begreift nur wenig von der Gorz’schen Kindheit und Jugend, man übergeht stückweit den Sinn der Bekehrung zum Franzosen, wenn man nicht in Betracht zieht, dass Gorz im Grunde auch bei diesem Verrat an seine Mutter denkt. Um die Wurzel dieses Verrats, der Bekehrung zum Franzosen, zu erfassen, muss noch einmal kurz zu den Kindheitstagen des jungen Gorz zurückgekehrt werden. Aus Le traître erfährt man, dass Gorz im Alter von fünf Jahren eine aus Nizza stammende Gouvernante erhält, die ihm Französischunterricht gibt. 38 Das französische Kindermädchen des Fünfjährigen erleichtert den beschriebenen Wechsel der Sprache. Aber was tatsächlich hinter diesem Wechsel steht – die eigentliche Botschaft, die man im Textkorpus von Le traître kaum vernehmen kann, die jedoch im Paratext des bereits mehrfach angeführten Interviews mit Leggewie angedeutet wird –, ist dies: Das Bekenntnis zur französischen Sprache ist der Schlussstrich unter seine Kindheit, gleichsam der finale Entzug aus den Fängen der Mutter. Noch Mitte der 1980er Jahre erinnert sich Gorz im besagten Interview gut an das Kindermädchen: »als ich fünf Jahre war, bekam ich eine französische Gouvernante, die mich sehr liebte und ich sie auch … wie eine Mutter ihr Kind lieben sollte, etwas mehr wahrscheinlich 37 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (1) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 38 In Le traître trägt die französische Gouvernante den Namen »Ninon Vilmorin« und wird als Frau mit »negroiden Zügen, pockennarbigen Wangen, schwarzen Haaren, die mit Olivenöl geglättet und ägyptisch gekämmt waren« beschrieben (Gorz 1958: 151).
98 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT auch (lacht); und durch sie bekam ich eine privilegierte Beziehung zur französischen Sprache, ich vergaß das Deutsche. Ich hatte sie lieber als meine Mutter … deswegen ist sie am Ende geflogen«.39
Erinnert sei hier an eine bereits zitierte Aussage: »In unserer Familie sprach die Mutter, die war Besitzerin sowohl der Sprache wie der Richtigkeit ihrer Verwendung und der Wahrheit im allgemeinen«. Und diesem Satz lässt er noch die Bemerkung folgen: »Es war meine Muttersprache, und da sie Besitz meiner Mutter war, konnte sie von mir nicht verwendet werden«.40 Die Sprache war stets das Terrain Marias und der junge bzw. jugendliche Gorz war ein Gefangener im Reich der mütterlichen Rede. Nun, als Franzose, hat er sich dieser Gefangenschaft entzogen. Der völlige Eintritt in das französische Sprachsystem als Durchtrennung der imaginären Nabelschnur; französisch sprechen als Überschreitung der mütterlichen Verbote und als Verhöhnung ihrer Gesetze und Normen. Dieses Kind, dieser Teenager ist erwachsen. Nebenbemerkung: Ein merkwürdiges Studium 1941, mit dem Abitur in der Tasche, lässt er das Institut Montana und die Schweizer Berge hinter sich und geht nach Lausanne. Er immatrikuliert sich an der dortigen Ingenieurschule für das Fach Chemie und schließt dieses Studium 1945 als diplomierter Chemieingenieur ab. In seiner Studentenzeit pflegt er engen Kontakt zu Schweizer Kommunisten, die wie er die Schweiz verachten. Er spielt mit dem Gedanken zu emigrieren. 1942 bekommt er das Angebot, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, schlägt es aber aus. »Das habe ich zurückgewiesen«, so Gorz, »weil ich damals schon in der französischen Literatur angesiedelt war; meine ganze Welt bestand aus Büchern, und zwar nicht aus englischsprachigen, sondern aus französischsprachigen, und ich hatte überhaupt nicht die geringste Lust, in eine angelsächsische, meiner Meinung nach minderwertige Kultur überzuwechseln«.41
Aber warum studiert er dann Chemie, eine Naturwissenschaft, die mit seinem Bild der französischen Kultur so viel gemeinsam haben dürfte wie englischspra39 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (2) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 40 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (2) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 41 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (3) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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chige Bücher oder die erwähnten vitalen Werte? Dieser junge Student fühlt sich berufen, ein Mann der Feder zu werden. Er trägt diesen Imperativ seit seiner Bekennung zum Französischen in sich. Und er folgt ihm bereits. Während seiner Studentenzeit nimmt er die Feder zur Hand, um kleine philosophische Abhandlungen zu verfassen, wie beispielsweise Kafka et le problème de la transcendance (Gorz 1945). Also warum dieses Studium? Es fällt schwer, für diese paradox anmutende Handlung stichhaltige Gründe anzuführen. Schwer vor allem deswegen, weil dieser Lebensabschnitt in seinen autobiographischen Bemerkungen kaum Spuren hinterlässt. Paradox gerade auch deshalb, weil er in seinem Werk das formale Wissen im Allgemeinen und die Naturwissenschaften im Besonderen scharf kritisieren wird. Er wird sie als Komplizen und Handlanger des Kapitals brandmarken. Als kämpferischer Philosoph wird er sich eine Art innerlichen Detektor zulegen, der ihm augenblicklich signalisiert, wenn ein Denker bzw. ein Denken allzu sehr dem Szientismus anheimfällt. Das heißt, wenn es zu einem subjektlosen Denken mutiert und die Auflösung des Menschen betreibt. Kommt es auf seinem Terrain zu Begegnungen mit einem solchem Denken – Strukturalismus, Poststrukturalismus, Kybernetik, Systemtheorie etc. – nimmt er das ›philosophische Gewehr‹ in Anschlag und fällt apodiktische Urteile wie: »blindes Denken«; »›Denken ohne Denken‹«; »unpersönliche Vernunft«; Denken, »das wie eine ›symbolische Maschine‹ funktioniert« (Gorz 2003: 114). All jene, die mit ihrem (natur)wissenschaftlichen Blick das Konkrete verachten und die affektive Berührung mit dem Leben verstümmeln, indem sie es intellektualisieren, die sich als Subjekte verleugnen und selbst keine Menschen mehr sein wollen, machen ihn als Philosophen regelrecht zornig. Einen solchen idealtypischen Wissenschaftler wird er in Claude LéviStrauss erkennen. Bei einer Unterhaltung mit dem berühmten Strukturalisten ist Gorz von dessen positivistischen und antihumanistischen Äußerungen geradezu schockiert.42 Gegenüber Erich Hörl, der in den 1990er Jahren bei Derrida studiert und Sympathien für den Poststrukturalismus hegt, spricht Gorz die Warnung aus, dass er sich »selbst verleugne, wenn er zum Derridianer werde«.43
42 »Ich habe«, berichtet Gorz (2003: 118), »diese Verweigerung in Gesprächen mit Claude Lévi-Strauss – wahrscheinlich dem perfektesten Virtuosen des subjektlosen formalisierenden Denkens – selbst konstatiert. Er wollte nicht als Mensch da sein. Meine Einwände, dass er doch gerade mit mir redete, wies er mit amüsierter Gelassenheit ab: Seine Äußerungen seien doch nur Neuronenschaltungen in seinem Gehirn, meinte er«. Und Gorz fügt noch an: »›mein‹ Gehirn hätte er eigentlich nicht sagen dürfen«. 43 Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum.
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An diesem Punkt möchte ich eine Deutung der Entscheidung, das Studium der Chemie aufzunehmen, vorsichtig, deshalb fragend, aufwerfen, quasi einen Grund – und es mag ganz andere geben – andeuten. Auf wen ist der Philosoph Gorz eigentlich zornig, was schockiert ihn und wovor warnt er? Ist es nicht die Haltung eines Menschen, die er nur allzu gut kennt? Ist es nicht seine tiefsteigene Haltung, die er bereits in Kindertagen – wenngleich nicht auf einem intellektuellen Niveau – eingenommen hat? Ist nicht auf den vorangegangenen Seiten das Leben des jungen und jugendlichen Gorz als eine Odyssee beschrieben worden, in der er sich selbst verleugnet, kein Mensch sein will und stets Reißaus vor dem Konkreten nimmt? Sind die Verrate nicht der Versuch, sich tot zu stellen, um den affektiven Berührungen mit dem Leben zu entgehen? Ist es aus dieser Haltung heraus nicht folgerichtig, dass Gorz sich 1941 zum Studium der Chemie entschließt, um die feindliche Realität, dieses menschliche Reich der Zwänge, in seine »physikochemischen Bedingungen« – Worte, die Lévi-Strauss (1962: 284) gebraucht – aufzulösen? Und ist es nicht genau dieser Sinn, der bei genauer Lektüre von Le traître in den Blick gerät, und zwar genau an jener Stelle, wo es heißt: »Der Mensch war Chemie« (Gorz 1958: 191)? In gewisser Weise ist erst die Niederschrift von Le traître jener Prozess und somit als eine Art Gerichtsprotokoll zu lesen, in dem der Gorz’sche Hang zur Abstraktheit, seine Verachtung des Konkreten, auf der Anklagebank sitzt und scharf verurteilt wird. Aber Gorz wird diesen Hang nie wirklich loswerden. Ein Teil in ihm wird immer, auch später als Mann der Feder und als radikaler Vertreter der Subjektphilosophie, Ingenieur bleiben. Dieser Teil in ihm hegt eine Vorliebe für Ziffern, Formeln und Statistiken, die in seinem ganzen Werk bestens dokumentiert ist. Er wird die von ihm postulierte Arbeitszeitverkürzung und die von ihm zeitweise vehement vertretene Forderung eines Grundeinkommens bis ins Detail durchrechnen. Er wird mit Zahlen und Prozenten jonglieren, um die Richtigkeit und Dringlichkeit seiner politischen und philosophischen Argumente zu unterstreichen.44
III.
A N DER S EITE D ORINES
In den 1940er Jahren in Lausanne, bereits während des Studiums der Chemie, widmet sich Gorz intensiv der Philosophie und vertieft sich in die Schriften Sart44 Hans Leo Krämer gibt entgegen meiner Deutung den Hinweis, dass Gorz »als nichtakademischer und somit nicht wirklich anerkannter Philosoph sich auf Statistiken und Zahlen berufen muss«, um seine Glaubwürdigkeit zu konstatieren (Krämer, Gespräch mit A.H. am 25. Januar 2014 in Prag).
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res, die seit 1943, dem Jahr der Veröffentlichung von L’être et le néant, einen erheblichen Einfluss auf ihn ausüben. »Ohne Sartre«, so Gorz gegenüber Marc Robert, »hätte ich wahrscheinlich nicht die Instrumentarien gefunden, um das, was meine Familie und die Geschichte mir angetan hatten, zu bedenken und zu überwinden« (Gorz 2005a: 8). Im Sommer 1946 kauft er in Brüssel seiner damaligen Freundin L’être et le néant und schreibt hinein: »›Für L., das Wahrste, das ich je gehabt habe, was immer ich später darüber sagen werde‹« (Gorz 1958: 284). Kurze Zeit später begegnet er Sartre, der sich auf einer Vortragsreise in der Schweiz befindet. »Bei einer Zusammenkunft in Lausanne«, erinnert sich Simone de Beauvoir (1963: 95), »hatte Sartre einen Mann namens Gorz kennengelernt, der Sartres Werk in- und auswendig kannte und sich treffend darüber äußerte«. Gleichwohl diese Begegnung eine gewichtige Rolle in Gorz’ Leben spielt, kommt es in den 1940er Jahren in Lausanne zu einer Begebenheit, die in der Biographie von André Gorz gleichsam einen höheren Stellenwert einnimmt als die Zusammenkunft mit seinem philosophischen Lehrmeister: Die Begegnung mit Doreen Keir, alias Dorine. Das bekräftigt Gorz auch in einem späten Interview: »Doch von 1947 bis heute«, äußert er hier, »war der stärkste und beständigste Einfluss der von ›Dorine, ohne die ich nichts wäre‹, meiner Gefährtin« (Gorz 2005a: 8). Die wesentliche Rolle, die Dorine in André Gorz’ Leben eingenommen hat, ist im Lettre à D. ausgiebig festgehalten. Und Sartre hin oder her, was ihn tatsächlich rettet, so kann man eine Pointe dieser Schrift zusammenfassen, was ihm eigentlich hilft, das zu überwinden, was seine Familie und die Geschichte ihm angetan haben, ist seine Beziehung zu Dorine. Zunächst die Äußerungen jener Zeugen, die dieses Paar erlebt haben: »›wie besessen auf einander bedacht‹«, soll Jean Daniel bemerkt haben (Gorz 2006a: 42), der zusammen mit Gorz den Le Nouvel Observateur ins Leben ruft. Michel Contat schreibt: »Er findet bei ihr dieselbe Erfahrung der ›Unsicherheit‹ wie bei ihm, dieselbe ›Prekarität‹ und dasselbe Misstrauen den Erwachsenen gegenüber. Sie schließen einen ›Pakt für das Leben‹, gegründet auf Loyalität, Hingabe und Zärtlichkeit« (Contat zit. n. Krämer 2013b: 15).
Hans Leo Krämer bemerkt:
102 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT »›Der Brief an D.‹ liest sich wie ein Märchen, wie romantische Literatur. Aber ich habe die beiden tatsächlich wie in diesem Büchlein beschrieben erlebt. Das war eine Liebesund Lebensbeziehung die ungeheuer beeindruckte«.45
Otto Kallscheuer berichtet von einer Partnerschaft »voller Vertrautheit und gegenseitigem Respekt«, von einem solch »innigen Verhältnis« und einer so »verschworenen Gemeinschaft«, dass er »sich die Frage stellte, ob diese beiden Menschen überhaupt ohne einander leben können«.46 Claus Leggewie erinnert sich an ein »Paar, das etwas extrem Anmutendes und Anrührendes hatte«. Und er betont: »Nicht im kitschigen Sinne«.47 Erich Hörl äußert: »Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich habe nie zwei Menschen getroffen, die so emphatisch miteinander gewesen wären, wie es Dorine und André gewesen sind. Nie habe ich zwei Menschen getroffen, die die Sorge als Sorge um den anderen so bis ins Mark verkörperten. Und das ist erst durch Dorine in sein Leben gekommen und das hat umgekehrt ihre Wärme ausgemacht, was ihn letztlich gerettet hat«.48
Anhand dieser Aussagen ist zu erahnen, wie die Beziehung ausgesehen haben mag, die André Gorz und Dorine geführt haben und welch zentrale Rolle diese Frau in seinem Leben gespielt hat. Bevor ich ausführlicher auf diese Beziehung eingehe, möchte ich noch eine Bemerkung einschieben, und zwar zu L. – Gorz’ Partnerin vor Dorine. Notiz zu L. Zu der Frage nach L., wie sie in Le traître heißt, weiß kaum jemand etwas zu berichten, auch nicht die befragten Personen, die Gorz sehr nahe standen. Dabei würdigt Gorz diese Frau in seiner Autobiographie explizit. Überdies ist sie auch theoretisch in seinem Werk verewigt. Die Existentialanalyse des Augenblicksmenschen in den Fondements pour une morale geht auf sie zurück.49 Das macht Gorz in einem persönlichen Schreiben an Erich Hörl deutlich. Zur Beziehung zu L. heißt es hier:
45 46 47 48 49
Krämer, Gespräch mit A.H. am 25. Februar 2014 in Prag. Kallscheuer, Gespräch mit A.H. am 04. Juli 2011 in Bonn. Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen. Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum. Zur Würdigung von L. in Le traître vgl. Gorz 1958: 288-306. Für die Existentialanalyse des Augenblicksmenschen vgl. Gorz 1955: 293-314.
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»Es war im Frühjahr 1945, in hoffnungsloser Untätigkeit erfand er eine hoffnungslose Leidenschaft für eine Traumfrau. Die ›Existentialanalyse‹ des ›Instantanéiste‹ (Augenblicksmenschen) hat ihr viel zu verdanken. Sie lebte jeden Augenblick mit einer faszinierenden Intensität, als wäre sie im gerade gelebten, flüchtigen Moment total präsent, ohne Vergangenheit u. ohne Zukunft, nur kargen Worten aber hinreissenden Gesten u. Ausdrücken, und er lernte sie mit ihrer eigenen Faszination zu faszinieren: ihr Spiegel zu sein, in dem die Flüchtigkeit des augenblicklichen Erlebnisses in ein greifbares Sein sich festlegte: durch ihn – seinen Blick, seine Auslegungen ihrer Ausdrücke u. Erscheinungsweisen – war sie was sie für sich selbst nicht sein konnte […]. Sie war absolut unvorhersehbar, ungreifbar, ein sich verkörperndes Imaginäres, eine sich ständig im Imaginären auflösende Körperlichkeit: die Gesten schienen sich ihren Körper zu schöpfen […]. Es dauerte fünf Monate und dutzende Briefe, die ihre Augenblicke in meiner Sprache festschrieben«.50
Gorz erlebt mit L. ein amouröses Abenteuer, das im Jahr 1946 sein Ende fand. Er bringt sich in diese Beziehung nicht ein, bleibt L. gegenüber kühl und distanziert; lässt außen vor, was ihn in der Tiefe emotional bewegt. Und das selbst, als sie ihn fragt, »ob er böse wäre, wenn sie mit einem anderen schliefe« (Gorz 1958: 290). Durch die Distanziertheit wirkt er auf L. faszinierend und sie vergöttert ihn. Zu einem Wendepunkt kommt es »an einem Tag im November 1946« (Gorz 1958: 288), an dem L. offenbart, tatsächlich mit einem anderen Mann geschlafen zu haben. In Le traître reflektiert Gorz: »Du lebst seit Monaten oder Jahren neben einer Frau, die dir fast sicher ist und die aufgrund der Beständigkeit einer scheinbar für immer gegebenen Situation zu einem vertrauten und ein wenig schalen Gegenstand wird. Und an dem Tag, da diese Frau dich verlässt oder dich ›betrügt‹, entdeckst du, dass du sie nicht ›kennst‹, oder vielmehr du entdeckst an ihr die autonome Existenz der ersten Tage wieder, das, was man ihr ›Geheimnis‹ nennt – dass es einen Teil von ihr gibt, der ihrem Äußeren-für-dich nicht entspricht, dass ihr Blick eine subjektive Kehrseite hat, dass die Welt und du selbst für sie einen eigenen Geschmack und besondere Werte haben, die du nicht verwirklichst« (Gorz 1958: 298).
Den mit dieser Reflexion verbundenen Wendepunkt spricht Gorz auch in dem Brief an Hörl an: »Ausgelöst wurde er durch den Abbruch der Beziehung zu L., wie sie im Verräter heisst. D.h. durch die plötzliche Einsicht, daß Du Dich nicht in eine persönliche Beziehung einbringen kannst, wenn Du Dich nicht selbst akzeptierst und emotional mitbringst, was Dich
50 Brief von Gorz an Hörl, geschrieben im September 1992.
104 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT in der Tiefe bewegt. Tust Du es nicht, kannst Du faszinierend wirken, von den anderen vergöttert werden, aber nie die Gegenseitigkeit der Bereicherung zu erlebter, erfahrbarer Freude und Kommunikation gedeihen lassen«.51
Und um ein solches Gedeihen-Lassen wird sich Gorz in der Beziehung mit Dorine bemühen. In Lausanne Die Beziehung zu Dorine beginnt im Oktober 1947 in Lausanne. Die erste Begegnung beschreibt Gorz als »Liebe auf den ersten Blick« (Gorz 2006a: 7). Der Anekdote wegen und in aller Kürze: Ihre Blicke treffen sich, als Dorine gerade von drei Männern umworben wird, die ihr in schlechtem Englisch das Pokerspiel beizubringen versuchen. Eine Woche darauf, am 23. Oktober 1947, spricht der eher schüchterne Gérard Dorine auf der Straße an und bittet sie, mit ihm tanzen zu gehen. Verwundert über das »why not« der hübschen Schottin, fragt er sich, was sie »an einem mittellosen Austrian Jew interessieren« konnte (Gorz 2006a: 9). Doch Dorine schien Gefallen gefunden zu haben an dem mageren Burschen »mit eingefallenen Wangen und tief liegenden Augen, fliehendem Kinn und fliehender Stirn«, an den »sparsamen Gesten« eines jungen Mannes mit »einem langen, vorgestreckten Schildkrötenhals, der aus einem leicht gekrümmten Rücken aufsteigt« und der den »Gang eines Vogels« besitzt (Gorz 1958: 72). Es kommt zu weiteren Verabredungen. Sie besuchen gemeinsam das Kino und schauen Le diable au corps.52 Kurz darauf intensiviert sich die Beziehung. Schnell reift der Gedanke zu heiraten, der vor allem von Dorine forciert wird. Doch Gérard ist skeptisch. Die Ehe ist für den jungen Intellektuellen in erster Linie eine »bourgeoise Institution« (Gorz 2006a: 20) und »eine formale und sinnlose Zeremonie« (Gorz 1958: 296). Sein Zögern bedeutet für die noch junge Beziehung fast das Aus. Im Sommer 1948 hat Dorine die Warterei satt, reist zu Freunden nach England und wird dort von einem heiratswilligen Verehrer umworben. Gérard ist »unruhig« und schreibt täglich »zärtliche« Briefe (Gorz 2006a: 26f.). Mit Erfolg: Ende des Sommers kehrt sie nach Lausanne zurück und eine weitere Trennung sollte nicht folgen. Dorine gibt in der Schweiz Englischunterricht und arbeitet als Sekretärin einer erblindeten Schriftstellerin. Sie kommt zum Großteil für das auf, was die beiden für das Leben in Lausanne benötigen, während Gérard an seinem Essay arbeitet.53 Auch ist sie Mitglied der Theatergruppe Compagnie des faux nez.54 Im 51 Brief von Gorz an Hörl, geschrieben im September 1992. 52 Ein französischer Film aus dem Jahr 1946 von Claude Autant-Lara. 53 Es handelt sich um die Fondements pour une morale, vgl. Gorz 1955.
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Sommer 1949 verbessert sich die finanzielle Lage der beiden und die Immigration nach Frankreich steht kurz bevor. Dorine und Gérard engagieren sich für die politische Organisation Citoyens du monde und machen für sie »Propaganda« (Gorz 1958: 319), indem sie »ihre Zeitung auf den Straßen Lausannes« ausrufen (Gorz 2006a: 30).55 Gérard sieht die Bewegung nicht unkritisch und verwirft sie zunächst als kleinbürgerlich, »da sie abstrakt die Vereinigung ebenfalls abstrakter Menschen guten Willens« propagiert (Gorz 1958: 319f.). Dennoch hat die Organisation für ihn ihren Reiz. Sein Engagement bot Gelegenheit, »sich wunderlichen Zuhörern […] als Ankläger der westlichen Politik vorzustellen; vor unbedarften Leuten den bürgerlichen Staaten beiläufig den Prozess zu machen; der Welt gegenüber den Standpunkt des Richters, eines Unbeteiligten, einzunehmen« (Gorz 1958: 320).
Ferner definiert er den »Weltbürger« nicht als Mensch von da und dort, sondern als »Mensch von nirgendwo« (Gorz 1958: 320), wodurch es ihm gelingt, sein Engagement mit seiner eigenen Geschichte zu verbinden und in seine bereits ausgeprägte existentialistische Denkweise zu integrieren. Eine entscheidende Rolle kommt den ›Weltbürgern‹ aber in ganz anderer Weise zu. Der internationale Sekretär der Bewegung, René Bovard, unterbreitet Gérard den Vorschlag, ihn nach Paris zu begleiten, um dort »der Sekretär des Sekretärs« zu werden (Gorz 2006a: 31). Für Gorz muss sich hier die einmalige Chance geboten haben, die innerlich längst vollzogene Wahl zum Franzosen zu komplettieren, die sich bereits in seinem Namen und in der Sprache, die er überwiegend benutzte, ausdrückte. Mit der Anstellung verdient er erstmalig richtigen Lohn und gemeinsam entdecken die Schottin und der Österreicher 1949 die Weltstadt Paris. 56
54 Diese Theatergruppe steht in Verbindung mit der Immigration von Gorz nach Frankreich, vgl. dazu die Fußnote 56 dieses Abschnittes. 55 Citoyens du monde, die Organisation der Weltbürger, ist eine von dem Amerikaner Garry Davis ins Leben gerufene Bewegung, die nach dem zweiten Weltkrieg für die Abschaffung der Nationalstaaten und für die Schaffung einer Weltföderation mit eigener Verfassung und Regierung eintrat. Für diese Organisation engagierte sich auch Albert Camus, wohingegen Beauvoir und Sartre »die Angelegenheit Garry Davis für blauen Dunst« hielten (Beauvoir 1963: 170). 56 Bezüglich der Immigration nach Frankreich finden sich in der Literatur widersprüchliche Angaben. So datiert Schaffroth (2008: 13) den Gang nach Paris auf das Jahr 1947. Leggewie (1989: 23) hingegen spricht ebenfalls von dem Jahr 1949. Gorz selbst äußert: »1949 […] durfte [ich] nach Frankreich kommen im Rahmen eines ›concours de jeunes compagnies‹, d.h. es gab jedes Jahr in Paris einen Wettbewerb junger Thea-
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Nebenbemerkung: Anders als Sartre und Beauvoir Paris ist in jenen Tagen das Mekka des Existentialismus. Gérard und Dorine zieht es nach Saint-Germain-des-Prés, das Stadtviertel, in dem die existentialistische Szene beheimatet ist. Hier wohnen Sartre und Simone de Beauvoir, bereits wahre Superstars, die zugleich Produkte und Produzenten der existentialistischen Mode sind. Sie sind das Aushängeschild von Saint-Germain-des-Prés und die Idole der Jugend. Ihr Lebensstil besitzt bereits einen legendären Ruf. Sie arbeiten rauchend im Café Flore, verkehren im ausschweifenden Nachtleben und lassen kein sexuelles Abenteuer aus, bekennen sich aber per Vertrag zueinander. Beide, bemerkt Bernard-Henri Lévy (2000: 20), »wollen nicht auf das eigene Begehren, aber auch nicht auf das Begehren der Geliebten, des Geliebten verzichten«. Offenheit ist charakteristisch für ihre Beziehung. Noch im betagten Alter bekennt Sartre: »Ich bin der Meinung, statt Geheimhaltung sollte jederzeit Offenheit herrschen […]. Mit anderen Worten, es dürfte nicht mehr diese Heimlichkeit geben, dieses Geheimnis, das in gewissen Jahrhunderten für die Ehre des Mannes und der Frau gehalten wurde – was mir eine Dummheit zu sein scheint« (Sartre 1975: 209).
Jede Affäre, jede sexuelle Begegnung wird mit intimen Details per Brief für den anderen festgehalten, was die eigentliche Grundbeziehung untermauert. Sartres »Beziehungen zu den anderen Frauen haben nur Sinn, existieren beinahe nur insofern, als er Castor von ihnen erzählt«, schreibt Lévy (2000: 22).57 Ganz anders die Horsts, die sich im Herbst 1949 das Jawort geben und die – nicht nur in dieser Hinsicht – mit dem Paar Sartre und Beauvoir kaum zu vergleichen sind. Ihr Pakt fürs Leben ist ein anderer: »›Wenn Du Dich mit jemanden fürs Leben verbindest‹«, so appelliert Dorine an Gérard,
tergruppen, und ich war in der Schweiz befreundet mit einer Gruppe, die ein nie aufgeführtes Szenario von Sartre in ein Stück umgeschrieben hat. Die Truppe hieß ›Les faux nez‹, und ich hatte die Einleitung geschrieben mit dem Titel: ›Nehmt euch selbst bei der Nase‹ oder ›Ihr sollt euch selbst bei der Nase nehmen‹. Die Truppe, als sie wußte, daß sie nach Paris konnte, hat mir angeboten, mich mitzunehmen, und dadurch erhielt ich ein Visum für drei Wochen; und nach drei Wochen beantragte ich die Verlängerung als Übersetzer bei den ›Weltbürgern‹, und als Übersetzer durfte ich arbeiten« (Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (6) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung). 57 Castor ist der von Sartre verwendete Spitzname für Simone de Beauvoir.
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»›dann legt ihr eure Leben zusammen und unterlasst alles, was eure Verbindung entzweit oder ihr zuwiderläuft. Die Herstellung eurer Gemeinsamkeit ist euer gemeinsames Projekt, und ihr werdet es je nach den wechselnden Situationen immer wieder von neuem bestätigen, anpassen, neu ausrichten. Wir werden das sein, was wir zusammen tun werden.‹«
Und den Worten Dorines fügt Gorz hinzu: »Das hätte von Sartre sein können« (Gorz 2006a: 21). Doch im Gegensatz zu Sartre und Beauvoir gibt es in ihrer Beziehung keine ernsthaften Bedrohungen wie Dolorès oder Nelson Algren. 58 Der gegenseitigen Treue wird ein ganz anderer Stellenwert beigemessen. Auch ist Gérard kein Frauenheld, wie es dem »Papst des Existentialismus« nachgesagt wird.59 Wenn man Schaffroth (2008: 12) glauben darf, gab es mehrere Versuche von Sartre, Dorine zu verführen. Gorz berichtet von einer »Neujahrsfeier«, auf der sich Sartre in ein »intensives Gespräch« mit Dorine vertiefte und vor Entzücken »strahlte«, als sie ihm mit respektloser »Witzigkeit« begegnete (Gorz 2006a: 44). Es folgen Warnungen aus dem Umfeld Sartres: »›Mein kleiner G., pass auf. Deine Frau ist schöner denn je. Wenn ich beschließe, ihr den Hof zu machen, werde ich un-wi-der-steh-lich sein‹« (Gorz 2006a: 44). Doch Dorine genügt Gérard und umgekehrt. Anders als Sartre und Beauvoir sind sie keine Superstars, die eine ganze Entourage um sich scharen, die mitunter Fans, Geliebte und Schüler zugleich sind. Otto Kallscheuer spricht in diesem Zusammenhang von der »Firma SartreBeauvoir«, ein im »geistigen Bereich«, mehr noch in der »literarischen Öffentlichkeit« als in der »philosophischen«, agierendes »Großunternehmen«, das im Nachkriegsfrankreich bestens floriert. Gérard und Dorine waren demgegenüber ein »Kleinunternehmen«, ein Zwei-Personen-Familienbetrieb, »die sich ihre Existenz als Fremde, als Immigranten in Frankreich« mühsam »aufbauen mussten«.60 Zwar ist Dorine für Gorz, ähnlich wie Castor für Sartre, erste Ansprechpartnerin und wichtigste Kritikerin, aber sie ist keine Intellektuelle im Sinne Simone de Beauvoirs. Sie »war eine stärker im Leben verwurzelte Person«, die »nicht so sehr aus Büchern lebte« und einen »realistischeren Blick« als Gérard »auf die Welt hatte«, wie Kallscheuer bemerkt. Für Gorz ist gerade das der Grund, sie alle Manuskripte und Artikel lesen zu lassen. Erst wenn das Ge58 Dolorès war Sartres Geliebte aus Amerika. Angeblich die einzige Frau, aufgrund derer Beauvoir eifersüchtig wurde. Nelson Algren war ein amerikanischer Schriftsteller, der mit Simone de Beauvoir eine mehrjährige Beziehung führte. 59 Soweit bekannt, gab es vor Dorine nur eine Beziehung zu einer anderen Frau, die in Le traître L. genannt wird. 60 Kallscheuer, Gespräch mit A.H. am 04. Juli 2011 in Bonn. Alle weiteren, nicht anders gekennzeichneten, Zitate entstammen diesem Gespräch.
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schriebene Dorines kritischen Blick passiert hat, gehen die Sachen in den Druck. Im »Familienunternehmen« übernimmt sie mehr die »praktischen Aufgaben«. Sie »sorgt« sich »um die Bücherverträge« bei Gorz’ Hausverlag Galilée und handelt die »Verträge mit ausländischen« Verlagen aus. Ferner stellt sie ihm »ein perfektes Dossier zusammen«, Gorz’ berühmtes »Archiv«, welches eine entscheidende Rolle beim Beginn seiner journalistischen Karriere – auf die ich an anderer Stelle zu sprechen komme – spielen soll. In erster Linie ist sie aber diejenige, die Gérard in seinem »Entwurf, Schriftsteller zu werden«, unermüdlich »unterstützte« und eine der wenigen Personen, die an diesen »Entwurf« von Beginn an »ernsthaft glaubte«, so Kallscheuer. Gérard zu lieben, heißt für Dorine zu lieben, dass er schreibt. »›Dein Leben ist Schreiben. Also schreib‹«, wird sie ihn bestärken (Gorz 2006a: 32). In Paris In den Anfangstagen in Paris lebt das Paar in einem Zimmer in der Rue des Saints-Pères, das sie einer Bekannten aus Lausanne verdanken. Dorine ist bemüht, ihr Französisch zu verbessern und die feste Anstellung Gérards bei Citoyens du monde währt nicht lange. Im Frühjahr 1950 wird er entlassen. Wieder liegt es vor allem an Dorine, mit allerlei Gelegenheitsjobs das Nötigste zu verdienen. Sie sitzt Modell für einen Maler, gibt Englischstunden, sammelt Altpapier und arbeitet als Fremdenführerin für englische Schülergruppen. Gérard besitzt nur eine kurzfristige Aufenthaltserlaubnis für Frankreich. Um sie verlängern zu können, benötigt er dringend eine Anstellung. Er spricht erfolglos bei einem Chemieunternehmen vor, nimmt an einer Rekrutierungsveranstaltung für Versicherungsvertreter teil und unterzieht sich bei der Unesco einem Test als Deutschübersetzer, ohne dass dadurch eine Anstellung folgt. Durch die Vermittlung Sartres bekommt er die Gelegenheit, einen Kriminalroman zu übersetzen, aber das sichert Arbeit und Geld für nur wenige Wochen. Eine vorübergehende Beschäftigung findet er als Sekretär des Militärattachés in der indischen Botschaft. Hier redigiert er Berichte über das Kräftegleichgewicht auf dem europäischen Kontinent und gibt den Töchtern seines Vorgesetzten Privatunterricht. Im Frühjahr 1951 nimmt Gorz’ journalistische Karriere ihren Anfang und die finanziell schwierige Zeit findet ein Ende. Sie ziehen in das II. Arrondissement, in die Rue Saint-Maur, wo sie jetzt zwei Zimmer bewohnen. Vor allem Dorine vermisst das lebendige Saint-Germain-des-Prés und hat das Gefühl, in dem neuen »Viertel im Exil zu sein«. Hier gibt es »nur menschenleere Straßen und verstaubte Geschäfte« und sie sieht ihre neugewonnenen »Freunde seltener« (Gorz 2006a: 40f.). Gérard ist durch seine journalistische Tätigkeit eingespannt und verbringt weniger Zeit mit dem Essay, an dem er jetzt meist nur noch am Wo-
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chenende arbeitet. Erst im Jahr 1955 gelingt es ihm, den Text fertig zu stellen. Ein Jahr später kehren die Horsts nach Saint-Germain-des-Prés zurück. In der Rue du Bac mieten sie eine preiswerte Wohnung an, in der sie glückliche Jahre verbringen. »In der Rue du Bac bist Du ganz und gar Du selbst geworden«, schreibt Gorz (2006: 44) an Dorine. Die Wohnung wird zu einem Ort der Begegnung. Das Ehepaar macht in diesen Jahren Bekanntschaft mit Intellektuellen aus dem In- und Ausland, »die sehr wichtig waren« (Gorz 2006a: 43f.). Dorine beschließt Deutsch zu lernen, was ihr von Gérard untersagt wird, der zu jener Zeit kein einziges Wort dieser Sprache mehr sprechen will. Sie begleitet den mittlerweile etablierten Journalisten auf nationale und internationale Reportagereisen. Einer der ersten Aufträge führt sie nach Grenoble, wo sie sich drei Tage mit Pierre Mendès France austauschen.61 Es ist Dorine, die darauf drängt, dass Mendès das Geschriebene, was von einem radikalistischen Ton getragen ist, zu Gesicht bekommt, bevor es veröffentlicht wird. Mendès dankt es ihr. »›Wenn Sie das veröffentlichen‹«, soll er zu Gorz bemerkt haben, »›kann ich nie wieder einen Fuß in diese Stadt setzen‹« (Gorz 2006a: 46). Dorine wird mehr und mehr zur einflussreichen und unersetzlichen Ratgeberin. Gorz spricht in diesem Zusammenhang von einer Wende in ihrer Beziehung. Sie beginnt, gegen die »theoretischen Konstruktionen«, mit denen Gérard sich die Welt zurecht legte, zu rebellieren und den »Respekt« gegenüber seinen abstrakten »Kenntnissen« zu verlieren (Gorz 2006a: 47). Vor dem Hintergrund eines Lebens mit einem Partner, der an manchen Tagen kaum ein Wort von sich gibt und nächtelang über philosophischen Gedanken brütet, war die Theorie für sie zu einem Joch geworden, das den Zugang zum wirklichen Leben versperrt. Man darf hier den Einfluss Dorines nicht unterschätzen. Gorz schreibt zu jener Zeit seine Selbstanalyse Le traître, wo er mit seiner eigenen Abstraktheit scharf ins Gericht geht. Er entdeckt hier, »dass man nicht leben kann, als ob man nicht existierte, dass man nicht reiner Geist und Mensch zugleich sein kann. Und dass es vielleicht besser ist, ein Mensch zu sein« (Gorz 1958: 288). Derlei Worte gebraucht in ähnlicher Weise auch Dorine, wenn sie Gérards Abschweifungen in seinen theoretischen Kosmos kritisiert. Schon der Schritt, die psychoanalytische Selbststudie in Angriff zu nehmen, war der Versuch, seine Abstraktheit jener Jahre, die in Fondements pour une morale bestens dokumentiert ist, zugunsten einer Hinwendung zum Konkreten stückweit abzustreifen. In der besagten Schrift lässt er über Dorine verlauten: »Sie erwartet einen persönlichen Beitrag von mir« (Gorz 1958: 30). Und genau so ein Beitrag war in gewisser Weise Le traître. Das bezeugt auch die Widmung, die er in Dorines Exemplar verfasst: »›Für Dich, Kay genannt, die Du 61 Pierre Mendès France war ein französischer Staatsmann und Diplomat. Laut Schaffroth (2008: 13) verdanken die Horsts diesem die französische Staatsbürgerschaft.
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mir das Ich gegeben hast, indem Du mich das Du entdecken ließest‹« (Gorz 2006a: 64).62 In einem persönlichen Schreiben aus dem Jahr 2004 bemerkt Gorz rückblickend zur gemeinsamen Anfangszeit in Paris: »Meine Frau (Dorine, ohne die ich nichts wäre) zog zu mir in einer Zeit, als ich hoffnungs- und zukunftslos (›heimatlos‹ und ohne die immer so wichtigen Papiere wie Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung) in einem winzigen Zimmer ohne Wasser und Heizung lebte und teilte, frohen Sinnes, die Misere in der Zuversicht, dass mein Wegschreiben meiner Existenz schließlich in ein Sich-in-die-Existenz-Zurückschreiben umkippen würde. Ohne sie wäre das sicher nicht geschehen«.63
Nebenbemerkung zur Diskrepanz zwischen Kay und Dorine Demgegenüber erscheint in Gorz’ Erstveröffentlichung Le traître, wie bereits erwähnt, die Darstellung Dorines paradox. Auf den wenigen Seiten, wo er von ihr spricht, skizziert er eine unsichere und schwache Person, die in völliger Abhängigkeit von ihm lebt. So heißt es hier: »Kay, die krank war und niemanden kannte, die kein Wort Französisch sprach und um ein Quäntchen seiner Zeit bettelte«. Und ein paar Zeilen weiter: »Kay, die sich für ihn in Stücke hätte reißen lassen und die sich, auf die eine oder andere Weise […] zugrunde gerichtet hätte, wenn er sie hätte fallen lassen« (Gorz 1958: 295). Derlei Zeilen wird Gorz später bitter bereuen. In Lettre à D. bittet er Dorine um Verzeihung und bemerkt: »Wer war ich, als ich diese Zeilen geschrieben habe? Ich fühle das schmerzliche Bedürfnis, […] zurückzudenken an diejenige, die Du in Wahrheit für mich gewesen bist« (Gorz 2006a: 61). Der Brief, den Gorz im Frühjahr 2006, fast 50 Jahre nach dem Erscheinen seiner Autobiographie und kurz vor dem 82. Geburtstag seiner Frau an diese schreibt, ist gewissermaßen der Versuch, das Bild, das er von Dorine in Le traître skizziert hat, zu korrigieren. Er veranlasst die Einfügung einer Nachbemerkung in allen Neuauflagen von Le traître.64 Und diese folgt den »elf Zeilen Gift« und enthält die ersten Sätze des Lettre à D.: »Warum nur habe ich in Der Verräter ein falsches Bild von Dir gegeben, das Dich entstellt? Dieses Buch sollte zeigen, dass mein Engagement Dir gegenüber die entscheidende Wende gewesen ist, die es mir ermöglicht hat, leben zu wollen. […] Ich habe die gründli-
62 Gorz benutzt in Le traître für Dorine den Namen Kay. 63 Brief von Gorz an Schandl, geschrieben vom 28. Oktober bis 01. November 2004. 64 Die erwähnte Nachbemerkung findet sich beispielsweise in der von mir zitierten im Jahr 2008 beim Rotpunktverlag erschienenen Ausgabe von Le traître, vgl. Gorz 2006b.
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che Erforschung, die ich mir vornahm, als ich Der Verräter schrieb, nicht wirklich geleistet« (Gorz 2006a: 5f.).
Die gründliche Erforschung, von der hier die Rede ist, hat Gorz im II. Arrondissement begonnen und in der Rue du Bac vollendet, und das nur wenige Monate, nachdem er mit dem sogenannten Essay gescheitert war. Für den Essay, der mehr als 600 Seiten umfasst, fand sich kein Verleger und erst 22 Jahre später, 1977, sollte er unter dem Titel Fondements pour une morale veröffentlicht werden. Dieses Scheitern ist zugleich Beweggrund und Ausgangspunkt für das neue Projekt Le traître. Zur Überwindung der Niederlage des jungen Autors trägt auch die mentale Unterstützung Dorines bei. »Ich habe mich gefragt«, bemerkt Gorz (2006: 43) zu seiner Frau, »wie Du das Scheitern einer Arbeit ertragen konntest, der ich, seit Du mich kanntest, alles untergeordnet hatte. Und da stürzte ich mich nun, um mich davon zu befreien, Hals über Kopf in ein neues Unternehmen, das mich Gott weiß wie lange mit Beschlag belegen würde. Du zeigtest weder Verwirrung noch Ungeduld. ›Dein Leben ist Schreiben. Also schreib‹, wiederholtest Du. Als wäre es Deine Berufung, mich in der meinen zu bestärken«.
Angekommen Es ist Dorine, die von Francis Jeanson,65 dem Herausgeber der Reihe Ecrivains de toujours beim Verlag Le Seuil, den Anruf erhält, der die Annahme des Manuskriptes verkündet. Mit der Veröffentlichung sind die Horsts Ende der 1950er Jahre endgültig in ihrer Wahlheimat Frankreich angekommen. Ihr Einkommen ist nun mehr als ausreichend. Dorine verwaltet die Finanzen und erstellt ein Budget für die laufenden Ausgaben der beiden. Ein luxuriöser Lebensstil liegt ihnen fern. Sie fahren in die Ferien nach Spanien und Italien, wo sie bei Einheimischen und in Herbergen unterkommen und erwerben ein altes Auto. Sie kaufen ein kleines Haus auf dem Land, 50 Kilometer außerhalb von Paris, wo sie die Wochenenden verbringen. 1965 reisen sie nach New York und sind schockiert von der »amerikanischen Zivilisation mit ihrer Verschwendung, ihrem Smog, ihren Fritten mit Ketchup und Coca-Cola«, von der »Brutalität« und dem »höllische[n] Tempo ihres städtischen Leben[s]« (Gorz 2006a: 67). Derlei Dinge werden sie bald auch in Paris stören und es reift der Gedanke, der Großstadt dauerhaft den Rücken zu kehren.
65 Francis Jeanson war ein Philosoph und Redakteur bei Les Temps modernes.
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Mit Begeisterung befürworten Dorine und Gérard die Ereignisse im Mai 1968. Sie sympathisieren mit Vive la révolution und Tiennot Grumbachs Kommune La base ouvrière.66 Gorz, den man in jenen Jahren als einen wichtigen Impulsgeber der Mai-Bewegung schätzt, wird zu zahlreichen Vorträgen ins Ausland eingeladen. Gemeinsam reisen er und Dorine nach Belgien, in die Niederlande, nach England und in die USA. Bei ihrem zweiten USA-Besuch, 1970 in Cambridge, machen sie eine gänzlich andere Erfahrung als bei ihrer ersten Reise. Sie sind tief beeindruckt von der Gastfreundschaft, dem Interesse, das ihnen entgegengebracht wird und von der amerikanischen Alternativ-Bewegung. »Wir haben eine Art Gegengesellschaft entdeckt, die unter der äußerlichen Kruste der Gesellschaft ihre Stollen grub […]. Noch nie hatten wir so viele ›Existentialisten‹ gesehen, das heißt Leute, die entschlossen waren, ›das Leben zu verändern‹, ohne von der politischen Macht das Geringste zu erwarten, indem sie begannen, in anderen Formen zusammenzuleben und ihre alternativen Ziele in die Praxis umzusetzen« (Gorz 2006a: 68).
In Amerika entdeckt Dorine ihr Interesse für die Frauenbewegung. Sie besucht mehrere Veranstaltungen der feministischen Organisation Bread and Roses und arrangiert, dass Gérard sie begleiten kann.67 Auch erwirbt sie in den USA das feministische Kultbuch Our Bodies, Ourselves, das die weibliche Sexualität thematisiert und dessen Herausgeber eine gleichnamige Gruppierung ist. Zurück in Paris, sie wohnen mittlerweile in der Rue de Tolbiac, und beeinflusst von der Amerikareise, beschließen Gérard und Dorine im Sommer 1971 auf dem Land »ein richtiges Haus zu bauen« (Gorz 2006a: 70). Dorine entwirft das zukünftige Heim und zeichnet selbst die Pläne. Beide sind beruflich stark eingespannt, wodurch das Bauvorhaben nur langsam voranschreitet. Seit 1973 ist Dorine beim Verlag Galilée beschäftigt und leitet die Abteilung für Rechte und Lizenzen. Die Anstellung wird sie bis 1976 ausüben. In den 1970er Jahren entwickeln die Horsts ein ausgesprochenes Interesse für das ökologische Thema; sie engagieren sich in der Technikkritik, machen sich für alternative Lebensweisen stark und unterstützen die Anti-Atomkraft-Bewegung. Ein paar Jahre später sind sie unmittelbar selbst von der AKW-Problematik betroffen. Als sie die Metropo66 Tiennot Grumbach war ein Rechtsanwalt, der sich als Verteidiger von Lohnabhängigen einen Namen machte. Er war Mitbegründer der Organisation Vive la révolution, einer 1968 gegründeten libertären Gruppierung von linken Aktivisten. Seine Kommune La base ouvrière führte politische Aktionen in der Renault-Fabrik von Flins durch. 67 Bread and Roses ist eine in den 1930er Jahren von Arbeiterinnen ins Leben gerufene Organisation, die zum linken Flügel der US-amerikanischen Frauenbewegung gezählt wird.
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le Paris endgültig verlassen und auf das Land in das nun fertig gestellte, selbst entworfene Haus ziehen, können sie das Leben in den eigenen vier Wänden, die, laut Gorz, eine »besinnliche Harmonie« ausstrahlten (Gorz 2006a: 81), nur drei Jahre genießen. Die Idylle endet abrupt, als unmittelbar in der Nähe ein Atomkraftwerk gebaut wird und sie zwingt, ihr Eigenheim zu verlassen. Krankheiten Dorines Das Thema der Ökologie, vor allem die darin enthaltene Kritik der Technowissenschaft und der Apparatemedizin, besitzt im Leben der Horsts aber noch in ganz anderer Hinsicht eine besondere Relevanz. 1973 klagt Dorine über plötzlich auftretende Krämpfe und heftige Kopfschmerzen, die sich mit der Zeit derart steigern, dass sie sich gezwungen sieht, ihre Anstellung bei Èditions Galilée aufzugeben. Die Symptome sind zunächst unerklärlich. Ihr werden Beruhigungsmittel verschrieben, die sie dermaßen trübsinnig machen, dass sie zu ihrem »eigenen Erstaunen« häufig »weinen« muss (Gorz 2006a: 72). In der Folge lehnt sie die weitere Einnahme des Medikamentes ab. Im Sommer 1974 fahren Dorine und Gérard nach Mexiko in den Ort Cuernavaca, wo sie an einem Medizinseminar teilnehmen, zu dem sie Ivan Illich eingeladen hatte.68 Sie setzen sich hier mit dessen kritischen Überlegungen zur Medizin auseinander. Zurück in Frankreich schreibt Gorz einen Artikel, der die Gedanken Illichs aufnimmt und behauptet, dass die Schulmedizin krank machen kann. Der publizierte Text ruft zahlreiche Proteste von Ärzten hervor. Unter den protestierenden Stimmen ist auch eine wohlwollende Stellungnahme des Mediziners Court-Payen. Gérard kontaktiert ihn und berichtet von Dorine, deren Gesundheitszustand sich mittlerweile stark verschlechtert hatte. Court-Payen diagnostiziert die nicht heilbare Krankheit Namens Arachnoiditis.69 Seine Untersuchung ergibt, »dass von den Lenden bis zum Kopf Kügelchen von Kontrastmitteln im Wirbelkanal verstreut waren« (Gorz 2006a: 73). 1966 hatte Dorine sich einer Bandscheibenoperation unterziehen müssen, wo ihr im Zuge einer radiologischen Untersuchung das Kontrastmittel Lipiodol gespritzt wurde. Nach Information des behandelnden Radiologen sollte sie das Mit68 Ivan Illich war ein in Split und Wien aufgewachsener Essayist und Philosoph sowie ein Vertreter der Befreiungstheologie und radikaler Kritiker der Entmündigung der Menschen durch Technik und Wissenschaft. In letztgenanntem Zusammenhang tat er sich auch als scharfer Kritiker der Apparatemedizin hervor. Seit den 1970er Jahren verband ihn mit den Horsts ein freundschaftliches Verhältnis. 69 Die Arachnoidites ist eine Krankheit, bei dem die Fasern, die das Rückenmark und das Gehirn umhüllen, vernarbtes Gewebe bilden. Lähmungen und Schmerzen sind Symptome dieser Erkrankung.
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tel nach wenigen Tagen wieder ausscheiden. In den Jahren bis 1974 war ein Teil der Substanz »in die Schädelgruben gestiegen, ein anderer Teil hatte sich in Höhe der Halswirbel eingekapselt« (Gorz 2006a: 73). Trotz der starken Schmerzen, die die Erkrankung hervorrief, verzichtet Dorine auf die Einnahme von Schmerzmitteln. »Du hast beschlossen Deinen Körper, Deine Krankheit, Deine Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen; die Macht über Dein Leben zu ergreifen, statt zuzulassen, dass die Technowissenschaft die Macht über Dein Verhältnis zu Deinem Körper, über Dich selbst ergreift« (Gorz 2006a: 74f.).
Abseits der Schulmedizin sucht Dorine nach alternativen Methoden, um ihren Schmerzen Linderung zu verschaffen. Sie liest sich gemeinsam mit Gérard in die Alternativmedizin ein und erlernt Yoga. Auch kontaktiert sie eine internationale Selbsthilfegruppe von Patienten, die von der etablierten Medizin keine Hilfe erwarteten. Gorz’ stellt zu jener Zeit ein Dossier für seinen Arbeitgeber über die Alternativmedizin zusammen und verfasst kritische Artikel über die Apparatemedizin. In Lettre à D. formuliert er: »Die Apparatemedizin erschien mir als eine besonders aggressive Form dessen, was Foucault später die Biomacht nennen sollte – der Macht, die die technischen Dispositive sogar über das innere Verhältnis eines jeden zu sich selbst ergreifen« (Gorz 2006a: 75f.).
Ein paar Jahre später ereilt das Paar eine erneute Hiobsbotschaft. Dorine hat Krebs. Sie hatte die Erkrankung bereits vermutet, bevor die eigentliche Diagnose gestellt wurde; Gérard ihren Verdacht aber verschwiegen, da eine weitere Amerikareise bevorsteht. »›Wenn ich sterben muss, wollte ich vorher noch Kalifornien sehen‹« (Gorz 2006a: 76), soll sie ihr Schweigen begründet haben. 1977 folgen sie einer erneuten Einladung Illichs nach Cuernavaca, sie reisen weiter nach Berkeley und besuchen Herbert Marcuse in La Jolla bei San Diego. Wieder in Frankreich wird bei Dorine Krebs der Gebärmutterschleimhaut diagnostiziert und eine Operation vorgenommen. Nach Ansicht der Krebsspezialisten sind ihre Überlebenschancen nicht hoch. Manche Menschen glauben, es gebe nur eine Medizin: die Schulmedizin. Wiederum andere – etwa Hans Leo Krämer – sind der Auffassung, von Medizin könne auch noch in einem anderen Sinne die Rede sein:
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»Es gibt die Heilkraft abseits der Schulmedizin. Ich weiß von bestimmten Fällen, wo alternativmedizinische Ansätze geholfen haben. Einige Krankheiten sind sicherlich auf diesem Wege heilbar, aber andere nicht. Ich glaube, dass eine solch schlimme Krankheit wie Krebs derart nicht bekämpfbar ist«.70
Gorz hingegen glaubt, dass die Schulmedizin krank macht und dass auch die Krankheit Krebs abseits der etablierten und anerkannten Medizin bezwungen werden kann. Hans Leo Krämer berichtet von einer Szene, die sich in den 1980er Jahren in Vosnon abspielt: »Wissen Sie, meine Beziehung zu Gorz war nicht allein intellektueller Art. Vielmehr war sie bestimmt durch unsere Ehefrauen. Es hat sich ergeben, dass unsere Frauen dasselbe Leiden teilten, den Krebs. Und das hat uns verbunden, vor allem aber die Frauen, Dorine und Josette. Sie haben viel über Therapiemöglichkeiten gesprochen. Aber auch Gorz, der bekanntlich eine tiefe Aversion gegen die Schulmedizin hegte, hat alles Mögliche versucht, Lösungen, Heilungen zu finden, Mittel, Personen aufzutun, die ihnen helfen können. Doch so viele Möglichkeiten bleiben da ja nicht. Da gibt es ein paar Scharlatane, so genannte Heiler, Personen, die Fernheilung machen und so etwas. Das Erstaunliche ist: Gorz hat an all das geglaubt. Meine Frau glaubte daran nicht. Gleichwohl bestanden Gérard und Dorine darauf, dass Josette mitgeht, und zwar zu einem in Frankreich aufgetanen Heiler. Nach der Konsultation des Heilers habe ich meine Frau in Vosnon abgeholt. Gorz war sehr aufgebracht und entgegnete mir entrüstet: ›Josette hat daran gar nicht geglaubt. Man muss aber daran glauben.‹ Also er war richtig wütend, ich habe ihn nie so aufgewühlt gesehen. Er war wirklich überzeugt. Das ging so weit, dass er Ärzte und Paraärzte ausfindig machte, die François Mitterrands Krebsleiden behandelt haben.71 Er hat jegliche Hoffnungschancen aufgegriffen, ja, regelrecht an Wunder geglaubt, sich permanent geweigert, die Realität anzuerkennen. Wenn Sie mich fragen, das hatte etwas Religiöses«.72
Wie ist diese Szene zu deuten? Macht das Urteil der Krebsspezialisten, Dorine habe kaum Überlebenschancen, ihn naiv und einfältig? Was bricht hier ungestüm heraus, dass Krämer, ein guter Freund, der Gorz im gleichen Gespräch einen »durch und durch rationalen Denker« nennt, den Eindruck gewinnt, es plötzlich 70 Krämer, Gespräch mit A.H. am 25. Januar 2014 in Prag. 71 François Mitterrand war ein französischer Staatspräsident, der sein Amt im Jahr 1981 antrat. Soweit bekannt, wurde bei ihm noch vor seinem Amtsantritt Prostatakrebs diagnostiziert. 72 Krämer, Gespräch mit A.H. am 25. Januar 2014 in Prag.
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mit einem Religiösen zu tun zu haben? Was also ist es, was hier den Namen ›Religiöses‹ trägt? Allemal und allererst ist es die Sorge eines Ehemannes um das Leben seiner Frau – das ist sinnfällig. Davon aber einmal abgesehen: Offenbart sich hier nicht die Haltung eines Menschen, der mit entschieden-existentialistischem Gestus handelt und lebt? Verkörpert diese Haltung nicht den Grundsatz, dass es sich bei der Freiheit »nicht um eine These, sondern um eine Einsicht« handelt (Gorz 1983b: 172)? Und ist diese Einsicht in die Freiheit nicht von der Idee eines Daseins durchdrungen, das allein dadurch Gehalt gewinnt, dass es der massiven Gegebenheit trotzt, eine Gegebenheit, die als eine Art Kleber, »ganz dickflüssig« (Sartre 1938: 212) beschrieben wird, und die die Bewusstseine verklebt und sie bleiern werden lässt, bis sie »träges und laues Leben« (Sartre 1938: 171) sind; ein Dasein also, das die »Verklebung eines Körpers durch die Welt« (Sartre 1943: 685f.) nicht einfach hinnimmt? Und lässt sich nicht die Krankheit Krebs in dieser Metasprache interpretieren: der Krebs als Verklebung eines Körpers, als etwas Gewalttätiges, Zerstörerisches; als »gierige Kralle« (Sartre 1938: 210), die das Subjekt anfällt, es verwundet, ihm Gewalt antut? Wenn auch etwas verwegen und weit hergeholt: Es ist möglich, die gesamte Szenerie in der Sartreschen Metaphorik und in der existential-phänomenologischen Begrifflichkeit zu interpretieren: Die Diagnose des Fachmannes als Identifizierung und Festschreibung, als ›Sein-um-krebskrank-zu-Sein‹, als Verwandlung des Subjektes in »bloßes Fleisch« (Sartre 1943: 681), in ein An-sich, welches »keinerlei Negation enthält« und nur »das ist, was es ist« (Sartre 1943: 1055) – »kränklich« (Sartre 1938: 210), krebskrank. Dementgegen: Das Subjekt als Freiheit und Negation, als Fürsich, das »nichts anderes als reine Nichtung des An-sich« ist (Sartre 1943: 1056) und somit »das ist, was es nicht ist, und nicht das, was es ist« (Sartre 1943: 1055) – nicht bloß kränklich, nicht bloß krebskrank. Die Vorstellung also von einem Subjekt, das sich von der massiven Gegebenheit, der Realität (der Krebserkrankung) losreißt und sich auf ein »äußerstes Mögliches« (nicht krebskrank), und sei es noch so verstiegen (Heilung abseits der Schulmedizin), hin entwirft und derart das »Merkmal ›unrealisierbar‹« in ein »›zu realisierende[s] Unrealisierbare[s]‹« umdeutet (Sartre 1943: 912f.). Ich bin versucht zu behaupten, dass das, was hier ungestüm herausbricht, das, was Krämer ›Religiöses‹ nennt, schier die Religion der existential-philosophischen Freiheit ist, der André Gorz anhängt. Und lässt sich diese Behauptung nicht implizit stützen, nämlich genau mit jenen Worten, die Gorz gebraucht, als er etwa zeitgleich zur Begebenheit der vorgestellten Szene gesteht: »Die Freiheit, um die es in der Existentialphilosophie geht, ist mit der der christlichen
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Theologie eng verwandt: das Individuum ist zu ihr in seinem Sein verurteilt« (Gorz 1983b: 172)? Rückzug nach Vosnon Ich nehme die Verfolgung der Lebensgeschichte wieder auf. Gérard lässt sich von der Zeitung freistellen und teilt mit seiner Frau das Krankenbett. Dorine benötigt Monate, um sich von den Strapazen der Krebserkrankung einigermaßen zu erholen. In dieser Zeit fasst Gérard den Beschluss, in Rente zu gehen. Mit 60 Jahren nimmt er im Jahr 1983 Abschied von der Zeitung und beendet seine journalistische Karriere, um bei Dorine zu sein. Das Dasein als Rentner ermöglicht es ihm, den theoretischen Gedanken mehr Zeit zu widmen und sich um die weitere Genesung von Dorine zu kümmern. »Es machte mir Spaß zu kochen, nach den biologischen Produkten zu suchen, die Dir helfen würden, wieder zu Kräften zu kommen, auf der Place Wagram die Präparate herstellen zu lassen, die ein Homöopath Dir empfahl« (Gorz 2006a: 79).
In Vosnon, wo sich das Paar im Jahr 1983 niedergelassen hat, einem Örtchen von 140 Einwohnern, in dem alten Haus mit dem großzügigen Grundstück, wird Gorz sechs Bücher und zahlreiche Aufsätze schreiben. Hier, im Departement Aube, unweit der Stadt Troyes gelegen, empfangen die Horsts zahlreiche Besucher. Selbst reisen sie kaum noch. Nur einmal jährlich fahren sie in die Schweiz, nach Bad Ragaz, zur Kur, wo sie sich fast einen Monat lang im Grand Hotel aufhalten. In einen Brief an Stefan Meretz aus dem Jahr 2007 berichtet Gorz, dass er und Dorine wieder planen, »wegzufahren, in die Schweiz wo die guten Hotels billiger sind (unseres hat ein großes Thermalwasserschwimmbad)«.73 Gorz scheint hier zu scherzen. Die mehrwöchigen Aufenthalte im Grand Hotel in Bad Ragaz müssen ein Vermögen gekostet haben. Aber die Kur ist dem Wohlbefinden von Dorine zuträglich und Geldsorgen haben die beiden nicht mehr. Im Gegenteil, mit dem Umzug nach Vosnon verkaufen sie auch ihre Pariser Stadtwohnung und durch den exorbitanten »Anstieg der Grundstückspreise« in der französischen Hauptstadt machen sie ein regelrechtes »Vermögen«, wie Erich Hörl berichtet.74 Abgesehen von der jährlichen Fahrt nach Bad Ragaz gibt es kaum noch Reisen. Die Erschütterungen der Verkehrsmittel machen Dorines Schmerzen, die sie durch die Arachnoiditis erleidet, unerträglich. Auch Gérard verlässt Vosnon selten. Nur wenige und ausgesuchte Vortragsreisen nimmt er noch an, und nur sol73 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 15. bis 21. März 2007. 74 Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum.
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che, die es ihm gestatten, nicht länger als ein paar Tage von seiner Frau getrennt zu sein. Die meisten Einladungen schlägt er aus. Nebenbemerkung zu den ausgeschlagenen Einladungen André Gorz ist ein erfolgreicher Schriftsteller, ein bekannter Intellektueller, ein geachteter, von der unorthodoxen Linken gefeierter, Sozialphilosoph, dessen Bücher in viele Sprachen übersetzt wurden und der Einladungen aus aller Welt erhält. Otto Kallscheuer bemerkt: »Er wurde von den Foren der Linken von Kalifornien bis London, von Paris bis Deutschland«, eingeladen (Hörfunk-Feature 2010), auch zu einem Symposium anlässlich des 75. Geburtstages von Willy Brandt: »Peter Brandt«, schreibt Kallscheuer in förmlichem Ton an Gorz, »hat mich gebeten, bei Ihnen noch einmal nachzufragen, ob Sie nicht Lust haben im November an einer Tagung ›Sozialismus in Europa – Bilanz und Perspektiven‹ in Bochum teilzunehmen, ein Symposium, das zu Willy Brandts 75. Geburtstag stattfinden soll (Anm. O.K.: die Einladung müßten Sie schon erhalten haben): keine direkte Parteisache der SPD, sondern ein Gespräch sozialistischer Intellektueller aus Europa (von Rossanda bis Mlynar, von Bobbio bis, wenn er will, André Gorz). Ich fände es sehr schön, wenn wir uns da sehen könnten – und habe sogar ehrlich gesagt, den Hintergedanken (wenn Sie schon einmal in Bochum sind), Sie dann für einen Tag nach Berlin vielleicht zu ent/verführen: Wir könnten mit Ihnen in Berlin vom Rotbuch Verlag (oder von der Uni) einen öffentlichen Vortrag oder ein Colloquium zum Thema Ihres Buches organisieren, wenn Sie Lust hätten. Ich weiß, daß (und warum) Sie ungern lange aus Vosnon weggehen: aber vielleicht wäre eine Diskussion unter Sozialisten der alten und neuen Linken (mit W. Brandt) doch etwas, was Sie reizen könnte, und dann wäre ja vielleicht ein Abstecher für einen Tag Berlin leicht zu organisieren? Aber das nur am Rande: Fühlen Sie sich bitte nicht zu sehr bedrängt von mir – es ist nur eine Idee«.75
Gorz wird dieser Einladung nicht folgen, sie ablehnen, ebenso Anfragen des Bayrischen Fernsehens76 und des Norddeutschen Rundfunks.77 75 Brief von Kallscheuer an Gorz, geschrieben am 28. April 1988. 76 »Ein Michael Böttcher vom Bayerischen Fernsehen (eine sehr gute Sendung: ›Lesezeichen‹) wird versuchen, mit Dir ein Interview zu machen. Ich habe ihm Deine Adresse gegeben und ihm geraten, Dich vorher schriftlich vorzuwarnen« (Brief von Kallscheuer an Gorz, ohne Datum gehalten). 77 »une redactrice du Norddeutscher Rundfunk, Jutta Emke, aimerait beaucoup de faire un entretien avec toi – anläßlich des SPD-Parteitags in Bremen: Vor allem zur Frage, ob Oskar Lafontaine sich zu Recht (bzw. in wie weit zu Recht) auf Deine Analysen berufen kann. Ich habe ihr empfohlen, Dir zuerst in einem Brief ihr Anliegen anzu-
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Anfang der 1990er Jahre ist man in seiner Geburtsstadt bemüht, ihn für die renommierten Wiener Vorlesungen zu gewinnen, keine unwesentliche Institution, von der sich Intellektuelle mit hohem Bekanntheitsgrad wie Niklas Luhmann und politische Persönlichkeiten wie Michail Gorbatschow angezogen fühlen. Gastprofessuren aus dem Ausland werden an ihn herangetragen und er bekommt mehrere Angebote für Gastvorlesungen an Universitäten, häufig von westdeutschen Hochschulen. All diese Offerten schlägt er aus. »Gorz hätte an mehreren Etappen seines Lebens ohne weiteres ›Zugpferd‹ der unterschiedlichen Großveranstaltungen sein können – für gigantische teach ins von Berkeley bis Prag oder auf Parteikongressen von Havanna bis Bremen« (Leggewie 1989: 29f.).
Bei Leggewie liest man zudem: »wenn André Gorz auf Deutschland-Tournee ginge, wären die Säle voll« (Leggewie 1989: 31). Doch geht er nicht auf Tournee, weder auf Deutschland- noch auf Welttournee. Selbst guten Bekannten wie Leggewie und Kallscheuer schlägt er Bitten ab, bei öffentlichen Veranstaltungen als Redner aufzutreten. Leggewie berichtet in diesem Zusammenhang von »ungewöhnlich eisigen« Reaktionen.78 Stefan Meretz, der ihn »herzlich zur 3. Oekonux-Konferenz in Wien vom 20. bis 23. Mai 2004« einlädt,79 entgegnet Gorz: »Nach Wien, lieber Stefan, komme ich im Mai leider nicht. Schon vor etlichen Jahren musste ich das Reisen aufgeben«80. ›Und nach Wien gleich gar nicht‹, hätte es zugespitzt auch heißen können. An Franz Schandl schreibt er: »Lieber Franz, ich komme nicht mehr nach Wien«; und ein paar Zeilen weiter heißt es: »ich war in Wien nie zu Hause«.81 In einem anderen Schreiben bemerkt er: »du fragst mich nach meinem Verhältnis zu Österreich: ich habe keines«.82 Erich Hörl, selbst Wiener, erklärt, dass Gorz rigoros jegliche öffentlichen Auftritte in seiner Geburtsstadt, wie auch in seinem Geburtsland, abgelehnt hat. 83 Gleich-
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kündigen und Dich dann erst anzurufen. Die Sendung ›Extra-3‹ im 3. Fernsehprogramm ist eine der besten politischen Sendungen im deutschen Fernsehen. Ich würde sehr zu einem Interview raten« (Brief von Kallscheuer an Gorz, geschrieben am 24. Oktober 1989). Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen. Brief von Meretz an Gorz, geschrieben am 18. August 2003. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 30. August 2003. Brief von Gorz an Schandl, geschrieben vom 28. Oktober bis 01. November 2004. Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 02. August 2005. Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum. Zudem heißt es in einem persönlichen Schreiben: »Ich muss jetzt einen pragmatischen Teil in meinen Brief einfügen: Es gibt im Vorarlberg am 30.04./01.05. ein Symposium zum Thema Arbeit,
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wohl gibt es eine Ausnahme: Anfang der 1990er Jahre, kurz nach dem Erscheinen der Schrift Métamorphoses du travail, lässt er sich, und nur seines Freundes Hörl zuliebe, überreden, einer Einladung in die österreichische Hauptstadt zu folgen, die Hörl anlässlich der erwähnten Schrift ausspricht.84 Doch musste diese Veranstaltung »inkognito« stattfinden, berichtet Hörl, da Gorz partout »keine Publikmachung« wollte. Dennoch drängten »ca. 60-70 Leute in den Saal«, da sich das Kommen des Autors »kurzfristig rumgesprochen« hatte.85 Gorz nennt, vor allem in den letzten Jahren, die Krankheiten Dorines, zumindest bei Anfragen aus dem Bekanntenkreis, als Grund für die sich häufenden Absagen. In einem persönlichen Schreiben bemerkt er: Ich reise nicht mehr, »weil meine Frau ein Herzleiden hat, das mich beängstigt und ich sie keinen Tag allein lassen will. Sie ist übrigens auch reiseunfähig (Luftreisen sind ausgeschlossen)«.86 Und dieser Art von Aussage, die immer wieder als Legitimation auftaucht, ist Glauben zu schenken. Gorz wollte Dorine in ihrer Situation nicht allein lassen. Dennoch berichten die Zeugen – wie Kallscheuer, Leggewie und Hörl – zum Teil mit Nachdruck von seiner Zurückhaltung hinsichtlich öffentlicher Auftritte. Gorz sei im Gegensatz zu anderen französischen Intellektuellen kein Mann der freien Worte gewesen und sei stets mit einem Gefühl des Unbehagens auf ein Podium gestiegen. Er hatte etwas »Agoraphobes«, so Leggewie.87 Man kann Gorz also nicht nur als einen populären, sondern gleichsam als einen schüchternen und introvertierten Intellektuellen ansehen, dem es vor allzu großen öffentlichen Auftritten graute und der es teilweise strikt ablehnte, sich vor Publikum zu produzieren. Für André Gorz ist es sicherlich mit den Jahren und dem sich verschlechternden Gesundheitszustand seiner Frau immer wahrer geworden, dass er wegen Dorine all die Einladungen, Anfragen und Bitten ausschlägt, die auf seinem Schreibtisch landeten. Diesem Grund geht jedoch die ablehnende Haltung eines eher leisen Menschen gegenüber einer lärmenden Welt
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veranstaltet von einem Verein, an dem wichtige Wirtschaftsleute, Sozialdemokraten (Gewerkschaftler) und Grüne beteiligt sind. Obwohl ich ihnen sagte, dass Du nicht kommen wirst, soll ich trotzdem anfragen. In Voraussicht Deiner Absage habe ich ihnen vorgeschlagen, dass ich Dich frage, ob Du nicht eine kleine Gruppe, v.a. Grüne treffen willst (4 od. 5 Leute maximal)« (Brief von Hörl an Gorz, geschrieben am 21. Januar 1996). Auf Grundlage dieser Veranstaltung ist das »Streitgespräch« zwischen Erich Hörl und André Gorz mit dem Titel ›Archäologie‹ des philosophischen Fadens. Die EntPackung der ver-packten Philosophie erschienen, vgl. Gorz 1990. Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum. Brief von Gorz an Schandl, geschrieben vom 28. Oktober bis 01. November 2004. Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen.
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voraus, gegenüber überfüllten Auditorien, einer nach Unterhaltung lechzenden Hörerschaft, Mikrophonen und Kameras sowie einem intellektuellen Spektakel, in dem ihm eine Rolle angetragen wurde, die er nur bis zu einem gewissen Grad auszufüllen bereit war.
IV.
D ER J OURNALIST
UND DAS
S CHREIBEN
Bisher wurde kaum der Journalist André Gorz erwähnt. Es wurde die Familiensituation skizziert, die Kindheit und Jugend, das Leben mit Dorine. Vom Journalisten wurde allenfalls gesprochen, um den Namen Michel Bosquet vorzustellen oder, um mittels einer Erwähnung am Rande, die eine oder andere Begebenheit aus dem Leben der Horsts zu erzählen. Dem Journalisten wurde ausgewichen, es wurde vermieden, dieses Thema direkt anzugehen, weil mit dieser Episode eine der schwierigsten Fragen verbunden ist, die sich bei der Skizzierung der Biographie von André Gorz auftun. Es ist die Frage, wie ein Mann, der bisher als ein vom Gefühl der Nichtigkeit beseelter Außenseiter in Erscheinung trat, der als schüchterne und introvertierte Person sowie als emphatischer Partner vorgestellt und als leicht agoraphober Intellektueller enttarnt wurde, in die Position des Stellvertretenen Chefredakteurs des Le Nouvel Observateur gelangte – einer mit fünfhunderttausend Exemplaren auflagenstarken Wochenzeitung, vergleichbar hierzulande mit populären Magazinen wie DER SPIEGEL. Was hatte ein leiser Intellektueller wie Gorz in einer solchen Position der Macht verloren; eine Machtposition, in der man sich extrem durchsetzungsfähig zeigen muss und tagein, tagaus harte, pragmatische Entscheidungen zum Missfallen Vieler zu fällen hat; eine Führungsrolle, die die Fähigkeit zur Eloquenz und zur Selbstdarstellung verlangt und in der es einem nicht zum Nachteil erwächst, wenn man über die Eigenschaft der Windigkeit verfügt und versteht, seine Ellenbogen einzusetzen? Das alles scheint mit dem bisher umrissenen Naturell von Gorz unvereinbar. Ja, das ganze journalistische Metier scheint nicht recht zu einem Menschen zu passen, der zum Teil als reiseunwillig und als öffentlichkeitsscheu beschrieben wurde. Man kommt also nicht umhin, das bis dato skizzierte Bild zu erweitern, um eine Vorstellungskraft für diese Episode des Gorz’schen Lebens zu entwickeln. Ein anderer Gorz Zunächst eine Anekdote, von der Leggewie berichtet. Er und Kallscheuer sind zu Gast in Vosnon. Der Nachbar der Horsts düngt gerade per Flugzeug seine Felder. Gorz ist über das Abwerfen des Düngemittels derart aufgebracht, dass er
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»zu seinem Gewehr« greift und mit diesem »herumfuchtelnd« eine Drohung gestikuliert.88 Hier zeigt sich ein aufbrausender, zorniger Gorz. Des Weiteren gibt es den abseits des Schreibtisches engagierten Journalisten, der sich als ambitionierter Reporter einen Namen macht, indem »er einem antikommunistischen Scharfmacher nachspürte, der eine der berüchtigten Kampagnen für ›Frieden & Freiheit‹ organisierte« und den er als Gefahr für das HeißWerden des Kalten Krieges denunziert.89 Zudem gibt es den um die halbe Welt reisenden Journalisten Bosquet, als dessen ›Markenzeichen‹ gründliche Recherchen vor Ort gelten. So reist er etwa für einen längeren Aufenthalt nach Kuba, um sich einen Überblick über das sozialistische Projekt des karibischen Inselstaates zu verschaffen. Ferner betritt er als einer der ersten französischen Berichterstatter am 08. Mai 1959 das Territorium der DDR. Hier recherchiert er im Zuge eines »zehntägigen Aufenthalt[s]« (Gorz 2005a: 11) in den Leuna-Werken von Merseburg die Funktionsweise der Planwirtschaft im Realsozialismus und besucht die »Sitzungen der sogenannten ›Erfinderbrigade‹« (Leggewie 1989: 27). Ferner gibt es den unverblümten, provozierenden und undiplomatischen Gorz, der sich beispielsweise im legendär gewordenen Gespräch mit DER SPIEGEL zu erkennen gibt, das hierzulande für reichlich Empörung und Kopfschütteln sorgte.90 Gorz sitzt im Jahr 1982 mit Dorine und drei Redakteuren im Pariser Büro des Nachrichtenmagazins. Thema der Unterhaltung ist Gorz’ Kritik an der deutschen Friedensbewegung, die er zuvor in einem polemischen Leitartikel des Le Nouvel Observateur geübt hat. Mittels der kernigen Formel Lieber rot als tot hatte er der bundesrepublikanischen Bevölkerung Gleichmut und eine mangelnde Verteidigungsbereitschaft vorgeworfen. Über die Friedensbewegung, die zu Anti-Haig-Demonstrationen in Berlin Zehntausende mobilisierte, 91 äußerte er in dem Leitartikel, dass man »schwerlich eine weniger politisierte, ja antipolitischere Bewegung finden« könne. Der »Krieg und seine Waffen« seien hier »das Böse – der Friede und die Abrüstung das Gute«, mehr zu sagen, sei sie außerstande. »Afghanistan«, kenne sie überhaupt nicht. Unverblümt formulierte er: »›Liebe amerikanische Verbündete, […] sterbt für uns, wenn ihr das richtig findet, aber habt bitteschön den Anstand, uns leben zu lassen, und sei es unter sowjetischer Herrschaft. 88 Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen. 89 Hörfunk-Feature 1986, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 90 Gemeint ist das Interview mit Gorz unter dem Titel Respekt für ein solches Verhalten?, vgl. DER SPIEGEL 1982. 91 Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss. Alexander Haig war General der US-Army und NATO-Oberbefehlshaber in Europa.
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Haut ab von hier!‹ Die Sieger über Deutschland haben endlich ihr Ziel erreicht: an der Stelle eines Eroberervolkes haben sie die guten Deutschen auferstehen lassen, die gerne wollen, daß andere für sie ihr Leben riskieren, aber selbst weder bereit sind, es für die anderen oder sich selbst aufs Spiel zu setzen. ›Lieber rot als tot‹«.92
Als Komplizen der Lieber-rot-als-tot-Haltung hatte er auch den SPIEGEL attackiert. Die drei Redakteure – regelrecht überrascht, dass ausgerechnet Gorz, ein Linker und Verfechter kapitalismuskritischer Ideen, derart lospoltert – versuchen sich und die Vorgänge in Westdeutschland zu erklären. Gorz zeigt sich wenig überzeugt. Er moniert die mangelnde Solidarität mit polnischen Gewerkschaften innerhalb der deutschen Sozialdemokratie; er nörgelt über die Ignoranz der Demonstranten gegenüber der sowjetischen Rüstungspolitik; er lässt Äußerungen fallen, die so kategorisch sind, dass sie provozierend und undiplomatisch wirken: »Der deutschen Geschichte fehlt der kulturelle Bezug zur Freiheit« (DER SPIEGEL 1982: 35), woraus die einfältige Idee resultierte, dass der Frieden wichtiger als die Freiheit sei. »Es gibt Nationen, deren Schicksal mit der Idee der Freiheit verknüpft ist« und solche, »deren Schicksal mit der Idee der Freiheit nicht verbunden ist«. Darauf die Redakteure: »Wir ahnen, wen Sie da im Auge haben« (DER SPIEGEL 1982: 35). Auf die Frage, ob er »etwa glaube, daß Frankreich sich einem amerikanischen Boykott gegen die Sowjetunion« anschließen würde, entgegnet Gorz: »Ich bin nicht Mitterands Sprecher« (DER SPIEGEL 1982: 40). Was er hingegen glaubt ist, dass die deutschen Pazifisten die Freiheit nicht wertschätzen und »lieber rot als tot« sein möchten: »Wieder ziehen sie [die Deutschen] das Leben der Freiheit vor. Das taten sie in gewißer Weise schon 1933. Der Nationalsozialismus war doch auch eine Verherrlichung des Lebens, der vitalen Werte, die das Deutschtum damals verkörperte. Damals wie heute, wenn auch auf verschiedene Weise, fehlte die Idee der Freiheit bei der Wertung des Lebens« (DER SPIEGEL 1982: 38).
Am Ende danken die Redakteure »Monsieur Gorz für dieses Gespräch« (DER SPIEGEL 1982: 41), das die Wut der Montagsleser hervorrufen wird. Und schließlich gibt es den unnachgiebigen, vehement protestierenden und konsequenten Zeitungsmann, der sich unter anderem im Redaktionskomitee von Les Temps modernes, alles andere als ein Ort der Harmonie und der Hierarchielosigkeit, zu behaupten weiß. Die Redaktion traf sich 14-tägig zu morgendlichen
92 Gorz zit. n. Zitator (Jochen Biliter), Hörfunk-Feature 1986, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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Sitzungen bei Simone de Beauvoir. »Gorz erschien als erster. ›Ich muß einfach pünktlich sein‹, sagte er« (Beauvoir 1963: 547). »Eine Programmplanung gab es so gut wie gar nicht, denn alle Texte kamen von selbst. Sartre war der unbestrittene Chef und zugleich das gehätschelte Kind: er sprach Wünsche aus, die die Redaktion zu erfüllen hatte« (Gorz zit. n. Leggewie 1989: 26).
Dennoch widersetzt sich Gorz dem Wunsch des Chefs. Aufgrund seines Artikels Détruire l’université (Gorz 1970) kommt es Anfang des Jahres 1970 im Redaktionskomitee zur Auseinandersetzung. Ein Teil der Gemeinschaft kritisiert das Papier und spricht sich gegen eine Veröffentlichung aus. Auch Sartre ist nicht angetan. Gorz verteidigt seine bezogenen Positionen und steckt keinen Zentimeter zurück. Der Text geht in den Druck und erscheint in der Aprilausgabe, worauf zwei Mitglieder des Redaktionskomitees ihren Rücktritt erklären. »1970 traten Pingaud und Pontalis – die gewissermaßen die Rechte in den Les Temps modernes repräsentieren – aus der Redaktion aus, weil sie nicht einverstanden waren, mit der Veröffentlichung eines Artikels von Gorz, der sich dafür aussprach, die Universitäten zu liquidieren« (Sartre 1975: 267).
Es sind derartige biographische Krümel, vor allem aus dem Kontext des Journalisten, die dazu beitragen mögen, den Chefredakteur Michel Bosquet vorstellbar zu machen; einen Mann, dem im journalistischen Metier eine außerordentliche Karriere gelingt. Doch, und trotz der hier angeführten Aspekte, darf man nicht aus den Augen verlieren: Gorz ist auch, oder vor allem, ein nach innen gekehrter, literarischer und philosophischer Intellektueller, der in diesem Metier nicht vollends aufgeht. Für Gorz alias Bosquet heißt Journalist zu sein, in erster Linie einen Brotberuf auszuüben. Der Brotberuf »Journalist wird man, weil man sein Leben verdienen muß, und das lieber schreibend tut als, indem man, ich weiß nicht, Gartenarbeit oder manuelle Arbeit oder sonst was verrichtet«, so Gorz.93 Kein Zweifel: »Hätte die Möglichkeit dafür bestanden«, hätte er einen »anderen Beruf gewählt«.94 Seine erste Anstellung 93 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (8) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 94 In einem persönlichen Schreiben heißt es: »Hätte die Möglichkeit dafür bestanden, hätte ich einen ganz anderen Beruf gewählt: Existentialpsychoanalyse (od. Tiefenpsychologie) wie z.B. bei Ronald Laing, mit Dorine als praktischer Psychotherapeu-
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findet er 1951 bei Paris Presse, einer Abendzeitung, wo er mit der Durchsicht der Auslandspresse beauftragt ist und die letzte Seite »Blick in die Welt« gestaltet. Dafür muss er eine massige Zahl an internationalen Zeitungen wälzen: »alle britischen Publikationen, von den ernsthaftesten bis zu den frivolsten, sämtliche amerikanische Wochenzeitungen sowie drei Tageszeitungen […], die deutsche, schweizerische, belgische Presse sowie zwei italienische Tageszeitungen« (Gorz 2006a: 38).
Um das Mammutprogramm bewältigen zu können, erhält er Unterstützung von Dorine, die ihm die Begutachtung der englischen Publikationen stückweit abnimmt. Sie schneidet die wichtigsten Artikel aus und organisiert sie in »Dutzenden von Ordnern«. Das ist die Geburtsstunde des berühmten Archivs, das von Dorine über die Jahre gepflegt und verwaltet wird. Es ermöglicht Gorz, »in einer einzigen Nacht eine ganze Zeitungsseite über fast jedes Thema« zu schreiben (Gorz 2006a: 39.). Dieses Archiv wird zum ständigen Begleiter des Journalisten. So folgt ihm das Archiv auch im Jahr 1955 zu seiner zweiten journalistischen Station, der Anstellung bei L’Express. Das Wochenmagazin, das später gegen die Politik de Gaulles anschreibt und »die Überwindung von Opas Frankreich, soziale Modernisierung und Deblockierung des Landes« zu ihrer politischen Ausrichtung erklärte (Leggewie 1989: 28), wurde gerade in eine Tageszeitung verwandelt, um den Wahlkampf von Mendès France zu unterstützen. Der Chefredakteur, JeanJacques Servan-Schreiber, kurz JJSS, überträgt Bosquet die Zuständigkeit für außenpolitische Fragen. Als L’Express wieder in eine Wochenmagazinform nach amerikanischem Vorbild überführt werden sollte, standen die Angestellten der Tageszeitung, darunter auch Bosquet, vor ihrem Rausschmiss, »sofern sie nicht in den ersten Ausgaben des neuen Blattes ihre Befähigung unter Beweis stellten«. Dank seines Archivs schreibt er einen mit Zitaten aus einer EisenhowerRede gespickten Artikel über die friedliche Koexistenz der USA und der Sowjetunion im Kalten Krieg und rettet damit seine Anstellung. Der für seine USABegeisterung bekannte JJSS soll das Geschriebene als »Musterbeispiel der Gattung zitiert« und mit den Worten »›Hier ist jemand, der den Wert eines guten Archivs kennt‹« gelobt haben (Gorz 2006a: 41f.). Servan-Schreiber, der, so Gorz, »Frankreich damals zum 51. Bundesstaat der USA machen« wollte,95 entdeckt im Jahr 1958 bei Bosquet wirtschaftspolitisches Talent und macht ihn zum tin/Beraterin in einer gemeinsamen Praxis. Bei ihr (D.) würden die Leute Schlange stehen« (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 05. Juli 1992). 95 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (8) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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Verantwortlichen für ökonomische Fragen. Als es im Jahr 1964 im L’Express zu heftigen Streitigkeiten über die politische Ausrichtung kommt und die Spaltung der Redaktion folgt, kündigt der eher anti-amerikanisch eingestellte Gorz per persönlichem Schreiben an JJSS und wechselt zum France Observateur.96 Im gleichen Jahr wird der France Observateur als Le Nouvel Observateur von Jean Daniel und Michel Bosquet neu gegründet. Gleich die erste Nummer des Blattes wird ein Erfolg, zweifelsohne auch dank Sartres, der aufgrund der guten Beziehung zu Gorz den Beitrag L’alibi beisteuert. Das linke Wochenmagazin avanciert unter den neuen Verantwortlichen rasch und für lange Zeit zum renommierten »Flaggschiff der deuxieme gauche«, wie Leggewie (1989: 28) bemerkt, und erfreute sich bei Pariser Intellektuellen außerordentlicher Beliebtheit. »›Horsts Steckenpferd‹ nannten die Koredakteure seine spezielle Vorliebe für die Analyse der italienischen Verhältnisse« (Leggewie 1989: 28). Zudem macht er hier in zahlreichen Artikeln und Rezensionen die Thesen und Bücher von Ivan Illich populär, dessen Entdeckung er seinem Chefredakteur Jean Daniel verdankt. Auch beginnt er in Leitartikeln seine antinuklearen und ökologischen Positionen zu entwickeln. Bis zu seiner freiwilligen Pensionierung im Jahr 1983 ist er bei Le Nouvel Observateur in der Stellung des stellvertretenden Chefredakteurs tätig. Der »Abschied von der Zeitung nach zwanzig Jahren Zusammenarbeit«, so Gorz, war »weder für mich noch für die anderen schmerzlich« (Gorz 2006a: 81). Sein eigentliches publizistisches Zuhause ist nämlich die »Familie« von Les Temps modernes, in die er 1961 aufgenommen wird. In der zu jener Zeit von Sartre und Beauvoir herausgegebenen Zeitschrift – eine Insignie des intellektuellen Frankreichs – wird er nicht wie im Nouvel Observateur, bei L’Express oder Paris Presse mit Michel Bosquet, sondern mit André Gorz, dem Pseudonym des Philosophen und Schriftstellers, zeichnen. Bis zum Tod Sartres im Jahr 1980 ist er Mitherausgeber der Les Temps modernes. Bemerkung zu Bosquet und Gorz Nun soll es um die Frage gehen, wie sich André Gorz und Michel Bosquet voneinander abheben lassen. Das scheint einfach. Michel Bosquet ist der Journalist, jener, der dem Brotberuf nachgeht, André Gorz hingegen der Intellektuelle, der Denker, der Philosoph. Cohn-Bendit dazu:
96 Das im September 1964 verfasste Kündigungsschreiben ist mit Michel Bosquet gezeichnet und findet sich unter dem Titel Lettre à Jean-Jacques Servan-Schreiber in der Textsammlung von Christophe Fourel, vgl. Gorz 1964c.
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»Bosquet war der Kommentator des Alltags, ein Journalist, der den Alltag verarbeitet hat. Gorz der Philosoph, der in intellektuellen Kreisen von den Les Temps modernes her bekannt war«.97
»Bosquet ist der Journalist, Gorz der Sozialphilosoph«, liest man auch bei Leggewie. Zudem erwähnt er, dass Gorz »strikt die selbst auferlegte Klassifikation« beachtet habe (Leggewie 1989: 24). Und dem ist auch so, bis auf die pikante Ausnahme, dass die beiden Ökologie-Bücher, Écologie et politique sowie Écologie et liberté, nicht unter André Gorz, sondern unter Michel Bosquet erschienen sind. Warum bricht er hier mit der selbstauferlegten Auseinanderhaltung? Zunächst lässt sich anführen, dass die Entdeckung des ökologischen Themas auf dem Terrain von Bosquet erfolgt und nicht auf jenem von Gorz. Es ist – wie bereits erwähnt – Daniel, der ihn auf Illich bringt und unter dessen Einfluss er sich dem Thema nähert. Zudem sind es die mit Bosquet gezeichneten Leitartikel im Le Nouvel Observateur, in denen sein Interesse für die Ökologie zum Ausdruck kommt und die zugleich das Gerüst der beiden ökologischen Schriften bilden. Die Artikel sind zu Teilen in den Büchern eins zu eins wiederzufinden. Gedanken also, die bereits unter Michel Bosquet veröffentlicht wurden, werden erneut unter diesem Pseudonym in Buchform gedruckt. Man kann die Dinge noch anders nehmen, indem man an eine Behauptung von Arno Münster Anschluss sucht. Münster erwähnt eine »immer größer werdende Autonomie gegenüber Sartre«, die sich »in dem sehr früh erwachsenden Interesse Gorz’ für die Ökologie« zeigt. Münster spricht von einem »philosophisch-politischen Kurswechsel«, der sich in den 1970er Jahren vollzieht und der »in einer eindeutigen und entschiedenen Hinwendung zur politischen Ökologie« besteht (Münster 2008: 23) – eine These, der ich mich an anderer Stelle noch genauer widme. Im Umkreis der Les Temps modernes ist die Ökologie kein Thema. Sartre hat kaum bis gar kein Interesse daran. »Die Ökologie, das neue Verhältnis von Mensch und Natur, das waren Problematiken, die Sartre nicht berührt haben«, so Cohn-Bendit.98 Ein thematisches Gebiet also, so kann man annehmen, auf dem der ›Meister‹ noch keine Fußabdrücke hinterlassen hat, wo es für Gorz nicht galt, Sartres Spuren zu folgen. Ein Feld, das der Prinzipal noch nicht ausgeleuchtet, abgeschritten und kategorisiert hat. Die Ökologie als Gelegenheit, ganz eigene Gehversuche zu unternehmen, sich »frei zu schwimmen«, sich vom Über-Ich zu emanzipieren. Eine Chance, die Rolle des Übersetzers und Interpreten der
97 Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel. 98 Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel.
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Sartreschen Philosophie abzulegen, eine Möglichkeit, aus Sartres Schatten herauszutreten, um den Weg zum eigenen Werk zu finden. Es mag sein, dass Gorz zu jener Zeit derlei Gedanken gehegt hat und es für ihn reizvoll erschien, seine neuen, antinuklearen und ökologischen Positionen unter jenem Pseudonym zu veröffentlichen, dass die enge Verbindung zu Sartre und den Les Temps modernes nicht direkt preisgab. Sicher scheint dies allerdings nicht und im Zweifel sollte man auf die erste Deutungsvariante setzen. 99 Eine andere Frage: Was ist das Gemeinsame zwischen Bosquet und Gorz? Was verbindet den Journalisten mit dem Philosophen? Gegenüber Leggewie sagt Gorz: »die journalistische Tätigkeit enthält auch Möglichkeiten, d.h. man lernt, man ist gezwungen, immer zu lernen, und man muß die Fähigkeit entwickeln, die kompliziertesten Sachen in einer einfachen allgemein zugänglichen Weise darzulegen. Und das war eine ‚challenge’, eine Schwierigkeit, die zu lösen eigentlich sehr interessant ist und aufregend werden kann. Aber ich weiß nicht, ob ich ein Philosoph geblieben bin […], durch die journalistische Tätigkeit habe ich die Begrenztheit, die Unzugänglichkeit rein philosophischer Arbeit verstanden oder akzeptiert. Mit einer philosophischen Schrift kannst du 2000, vielleicht 3000 Menschen anregen, aber wenn du irgendeinen Einfluß haben willst auf die wirklichen Entwicklungen, ist es besser, wenn du deine philosophischen Einsichten in eine andere Form einbindest«.100
Die Verbindung von philosophischen Einsichten und nicht-philosophischer Ausdrucksform veranlassen Gorz dazu, die Selbstbezeichnung »philosophischer Journalist« zu kreieren.101 Der ›philosophische Journalist‹ versteht es, tief zu denken wie ein Philosoph und verständlich zu schreiben wie ein Journalist. Seine Artikel sind politische Interventionen, die in der realen Welt Wirkungen erzielen möchten. Und Gorz greift in die politischen Vorgänge journalistisch ein. Er äußert sich zu Palästina und zum Flüchtlingsschiff Exodus, zum Krieg in Algerien
99
Gegen diese Argumentation spricht u.a. die Veröffentlichung der Fondements pour une morale im Jahr 1977, sicherlich jenes Buch, das die Nähe zu Sartre am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Auch kann in gewisser Weise die Schrift Adieux au prolétariat, die 1980 veröffentlicht wurde, als ein klares Bekenntnis zum Sartreschen Denken verstanden werden. 100 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (8) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 101 Für Anmerkungen zum »philosophischen Journalismus« vgl. Neudeck 1989. Neudeck bedauert in diesem Beitrag vor allem das Fehlen des »philosophischen Journalismus« in der Bundesrepublik der 1980er Jahre.
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und Vietnam, zu den Ereignissen um den Mai 1968, zur desolaten Situation der Gewerkschaften und zur Krise der politischen Linken. Im Beisein von Rainer Maischein und Martin Jander äußert Gorz: »Zu bestimmten Zeiten hatten Zeitungsartikel eine gewisse Wirkung, namentlich in der Gewerkschaftsbewegung, auf Mitschüler und Studenten. Ich hab viel dabei gelernt, u.a. in einer Weise zu schreiben, die auch komplizierte Sachen allgemeinverständlich macht. Am meisten hat es mich immer gefreut, wenn da oder dort eine Betriebsgruppe Artikel von mir vervielfältigt« (Gorz 1983b: 198).
Die journalistische Intervention ist das Gorz’sche Mittel, um sich politisch zu engagieren, um in die wirkliche Welt einzugreifen. Wie bereits Sartre – und im Übrigen wie fast jeder Intellektuelle – verspürt auch Gorz die Spannung zwischen abstrakter theoretischer Einsicht und konkreter politischer Praxis. Wie sein Lehrmeister schwankt auch er zwischen der Versuchung eines direkten politischen Engagements und dem Verharren in der gesellschaftlichen Isolation und Einsamkeit des Philosophen. Sartre, der sich bisweilen weigerte, in die öffentliche Debatte einzugreifen, wird genau dies zu gewissen Zeiten exzessiv tun. Er wird als Kompagnon der PCF102 auftreten, das maoistische Kampfblatt La cause du peuple auf den Straßen von Paris verteilen oder mit einem Megaphon bewaffnet auf eine Tonne vor den Renault-Werken steigen. Anders Gorz. Er ist kein Volksredner, kein Mann der freien Worte, doch wird auch er in Kontakt mit der Praxis treten. Seine Waffe, seine Art, sich politisch zu engagieren, ist der journalistische Artikel. Das Pseudonym Michel Bosquet steht also ebenfalls für den politisch engagierten Gorz. Die Tat, das politische Engagement, ist jedoch kein endgültiger Akt, für den Intellektuellen ist sie nie eine Lösung auf Dauer. In diesem Sinne erklärt sich Gorz weiter gegenüber Maischein und Jander: Die durch das Engagement »erzielte Wirkung konnte natürlich keine bleibende sein und auch nicht zum Ausdruck bringen, was gegenwärtig in jedem von uns zum Scheitern oder Schweigen verurteilt ist. Dazu braucht es literarische oder philosophische Arbeiten« (Gorz 1983b: 198).
Hier rekurriert Gorz auf die erwähnte Spannung, auf sein eigenes Schicksal als Intellektueller. Er sehnt sich nach der politischen Praxis, er weiß jedoch, dass er
102 Parti communiste français (PCF), die kommunistische Partei Frankreichs.
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in ihr nie vollends aufgehen wird, weil er nie durch und durch ein Tatmensch sein kann. Diese Erkenntnis verkündet bereits Le traître: Was die Intellektuellen »auch tun oder sagen, sie können sich niemals ganz real fühlen, ein Teil ihrer selbst bleibt unverwirklicht: der Teil ihres Scheiterns, der Teil ihres Schweigens, der es ihnen verbietet, sich mit dem zu begnügen, was sie leben (tun, sagen, sind). Eine absolute Distanz trennt sie von ihrer Wirklichkeit. […] Die Mittel der Verwirklichung, die die Gesellschaft den Menschen anbietet genügen ihm nicht; weder in dieser noch in irgendeiner anderen Gesellschaft […] Er wird niemals (ich werde niemals) ein großer Tatmensch sein« (Gorz 1958: 349).
Und gegen Ende der Schrift heißt es: »Zwischen dem Intellektuellen, der sich […] absondert und untätig sein will, und all denjenigen, die sich mit ihren frommen Absichten für die Realität entschuldigen, die sie in Wahrheit selbst hervorbringen, aber als deren Gefangene sie sich ausgeben, muss ein Weg gefunden werden« (Gorz 1958: 354).
Gorz selbst scheint diesen Weg für sich gefunden zu haben, und zwar im Doppelleben als André Gorz und Michel Bosquet. Schreiben als existentielle Notwendigkeit Was zudem Bosquet und Gorz vereint, was sich bei einer radikalen Reduktion der unterschiedlichen Verrichtungen, die mit den Pseudonymen verbunden sind, als ihre wesentliche Gemeinsamkeit offenbart, ist das Schreiben. Vor allen Fremdbezeichnungen – Theoretiker der Neuen Linken oder der politischen Ökologie, Journalist, Philosoph etc. – und aller gelegentlicher Selbstbezeichnung – philosophischer Journalist – versteht sich Gorz in erster Linie als ein Schreibender. »Schriftsteller oder Philosoph ist doch kein Beruf. Man schreibt weil man schreiben muß, d.h. man kann nicht leben, ohne zu schreiben, ohne sich über die Fragen, die man sich stellt, klar zu werden, das ist der Sinn des Schreibens«, so Gorz.103
In diesen Worten drückt sich unterschwellig der Vorrang des Geschriebenen gegenüber dem Gesprochenen aus, was für ihn eine regelrechte Lebensmaxime darstellt. Es ließe sich ja durchaus einwenden, dass man Fragen stellen und sich 103 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (8) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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über diese klar werden kann, auch ohne zu schreiben. Ein Gespräch mit einer Frage-Antwort-Situation und einem weisen Gegenüber vermag dies ebenfalls zu leisten. Doch für Gorz hat das Gesprochene nicht den Stellenwert des Geschriebenen. Es ist frappierend, dass das angeführte Zitat einem Interview entstammt, welches Gorz mündlich bereit war zu geben. In aller Regel lehnt er dies ab und erteilt schriftliche Auskünfte. »Ich weiß, daß Sie keine direkten Interviews geben wollen – aber selbstverständlich können Sie danach den Text noch nach Belieben ändern, redigieren«, heißt es in einem persönlichen Schreiben an Gorz.104 Nur das Geschriebene zählt, nur die auf Papier geordneten Gedanken. Das Gesprochene ist für ihn bloßer, hektischer Ausstoß von Luft. »Das Gespräch haben wir schriftlich geführt« – auch dies eine Aussage, die auf Gorz’ neurotisches Verhältnis zum Gesprochenen und seine Vorliebe für das Geschriebene verweist und die Erich Hörl äußert, der nach dem Erscheinen der Métamorphoses du travail mit ihm ein Gespräch führt.105 »Das war ihm lieber«, so Hörl weiter, »er hat schon Interviews gegeben, aber am liebsten schriftlich. Er hat nicht gerne ins Freie formuliert und das dann gedruckt gesehen, das hat er immer betont«.106 Die mündliche Rede ist ihm eine lästige Übung. Kommt er nicht umhin, an einer solchen Übung teilzunehmen und soll das Gesprochene dann auch noch in irgendeiner Form gedruckt werden, graut es ihm. Letzteres scheint geradezu die Alarmglocken auszulösen und es gilt augenblicklich zu intervenieren, um zu überarbeiten, zu korrigieren, zu streichen, zurechtzurücken, zu ordnen, an den freimütigen Äußerungen solange zu schleifen, bis sie eine einigermaßen akzeptable äußerliche und inhaltliche Form annehmen. So geschehen im Kontext einer Arbeitstagung der DGB-Jugend in Oberursel im Sommer 1983. Gorz ist neben Bernd Rabehl und Daniel Cohn-Bendit als Hauptreferent der Tagung geladen. Zur Diskussion steht seine Schrift Adieux au prolétariat. Vier Tage lang wird referiert, diskutiert, Kritik geübt, gerechtfertigt und auf Tonband mitgeschnitten. Auf Grundlage des Mitschnittes wird eine Broschüre angefertigt, die die Redebeiträge dokumentiert und zugänglich macht. Im Vorwort des Protokollbands schreibt Martin Jander: »Allen wörtlich wiedergegebenen Referaten und Diskussionsbeiträgen ging eine Korrektur voraus. […] André Gorz hat seine Stellungnahmen sehr stark überarbeitet, so daß mir der Charakter der Auseinandersetzung jetzt etwas verfälscht erscheint« (DGB 1983: 25).
104 Brief von Kallscheuer an Gorz, geschrieben am 13. Mai 1988. 105 Das Gespräch ist erschienen unter dem Titel ›Archäologie‹ des philosophischen Fadens. Die Ent-Packung der ver-packten Philosophie, vgl. Gorz 1990. 106 Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum.
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Aber die Vorliebe zum Geschriebenen resultiert nicht nur aus einer Abneigung gegenüber dem Gesprochenen. Schreiben ist für Gorz weitaus mehr als das. Er war »ein Mann der Schrift« und er hat »sich als Schriftsteller verstanden«, bemerkt Hörl.107 »Ich habe es immer bedauert, dass es nur den ›Verräter‹ gegeben hat, weil eigentlich war er Literat und hat sich auch so gesehen. Die ersten Jahre unseres Austausches waren nur über das Schreiben, über die Frage der Entfremdung, der Subjektivität der Entfremdeten, über die ursprüngliche Enteignetheit des In-Der-Welt-Seins und was das Schreiben für eine Notwendigkeit ist, um diese Situation auszuhalten«, so Hörl.
Und noch dies erinnert Hörl: »Ganz am Anfang unserer Begegnung hat er mir von Maurice Blanchot ›Die Wesentliche Einsamkeit‹ geschenkt, dass war ein unglaublich wichtiger Text für ihn«.108 Schreiben, so bemerkt Blanchot, heißt nicht »die Exaktheit und Gewissheit der Dinge oder Werte im Sinn ihrer Grenzen ausdrücken […]. Schreiben heißt, das Band lösen, welches das Wort und mich vereint, die Beziehung lösen, die mich zu ‚dir’ sprechen läßt, die mir das Wort aus dem Vernehmen erteilt, das dieses Wort von dir erhält, denn es spricht dich an, es ist das Ansprechen, das in mir beginnt, weil es in dir endet. Schreiben heißt, dieses Band zerreißen. Heißt weiterhin, die Sprache dem Lauf der Welt entziehen, der Sprache alles entziehen, was aus ihr eine Möglichkeit und jenes Vermögen macht, durch welches, wenn ich spreche, die Welt sich spricht und der Tag sich aufbaut durch Arbeit, Aktion und Zeit« (Blanchot 1959: 15f.).
Was Gorz an derlei Zeilen begeistert haben dürfte, ist die Tatsache, dass sie das offenbaren, was er den Verrat nennt. Er selbst formuliert es in Le traître kaum anders:
107 Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum. Alle weiteren, nicht anders gekennzeichneten, Zitate entstammen diesem Gespräch. 108 In einem persönlichen Schreiben heißt es: »Du hast mich auf Blanchot gebracht. Und heute denke ich mir, wie blind ich Foucault gelesen haben muss, wenn mir diese wesentliche Dimension (mit Nietzsche die wesentlichste!) seines Denkens schlichtweg entgangen ist« (Brief von Hörl an Gorz, geschrieben am 14. November 1991).
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»schreiben heißt allein sprechen, in der Abwesenheit des Anderen, und ihm das Wort entziehen. Heißt für mein Wort Selbständigkeit beanspruchen (der Text), dem Anderen verbieten, mich sagen zu lassen, was er meint (mich zu sprechen), ihn auffordern, ständig sich selbst zu fragen, ob er die Bedeutung des Textes, die Absicht des seinem Einfluss entzogenen Schreibers richtig versteht. Heißt schließlich, eine nächtliche Wirklichkeit herstellen, die dem Blick der anderen entzogen ist und die sie niemals sehen, sondern von der sie nur diese Rede hören werden, die der Nacht entsteigt und die verstummt, sobald es Tag wird; der Schreibende ist anonymes und unsichtbares Subjekt« (Gorz 1958: 335).
Schreiben ist Verrat, ein Entzug von Wirklichkeit und Ausbruch aus Selbiger. »Wie die meisten Schreibenden, Schriftsteller, bin ich einer der nie da ist, wo er ist, er ist immer anderswo, das ist das Wesen der ›schreibenden Neurose‹«. Dieses Geständnis macht er im Jahr 1985 Claus Leggewie gegenüber. »Alle Autoren sind dort wo sie nicht sind, und nicht dort wo sie sind. Für sie ist ihre Wirklichkeit nicht in ihrem Standort, nicht in ihrer wirklichen sozialen Umgebung, sondern in einer jenseitigen Gesellschaft, die sagen wir eine Gedankengemeinschaft ist. […] Sartre gehört in eine Welt, die anfängt sagen wir, mit Victor Hugo. Sartre lebt in der Welt von Victor Hugo, von Alexandre Dumas, d.h. von Schriftstellern, die nicht eine Art Ersatz der Wirklichkeit sind, sondern die wirkliche Wirklichkeit, die Überwirklichkeit des Wirklichen, und wenn du ihn dann fragst, was unter seinen Augen vorgeht, das kennt er nur durch Geschriebenes, nicht durch Erfahrenes oder Erlebtes. Und bei mir ist es dann so, daß ich, seitdem ich als denkendes Subjekt da bin, ich mich immer bezogen habe auf eine Wirklichkeit, die außerhalb dem erfahrbaren und erlebbaren Feld meiner Mitmenschen gelegen ist … und es ist eine gewisse Freude, sich in Sachen hineinbringen zu können, die meine Umwelt nicht erlebt …«.109
Damit ist zum Schreiben als Verrat alles gesagt. Gorz’ Leben ist Schreiben. Freilich gibt es daneben ein anderes Leben, Dorine, die Freundschaften, die Gespräche und Diskussionen mit Besuchern in Vosnon, der Garten, die Obstbäume. Dies jedoch einmal vorausgesetzt, verbringt er sein Leben permanent am Schreibtisch und füllt Seiten. Seit den 1940er Jahren schreibt er immer und unablässig. Meine »Erde« ist »dieses weiße Blatt […], mein Leben die Tätigkeit, es zu bedecken«, heißt es in Le traître (Gorz 1958: 346). Man kann buchstäblich von einem Wahn des Schreibens sprechen. Er schreibt maschinenmäßig, »zwei mit winziger Schrift bedeckte Seiten« pro Tag (Gorz 1958: 213), zumeist zwischen den späten Abendstunden und drei Uhr morgens. »›Er schreibt und 109 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (4) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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schreibt‹«, soll Dorine geäußert haben als Francis Jeanson per Telefon sich nach Gorz erkundigt, um ihm die Annahme des Manuskriptes von Le traître beim Verlag Le Seuil zu verkünden (Gorz 2006a: 49). Innerhalb von nur wenigen Monaten, von Dezember 1955 bis September des Jahres 1956, stellt er diese nicht gerade schmale Schrift fertig. Der Griff zur Feder als Besessenheit und Zwangshandlung. Gorz hegt zeitweilig beim Verfassen der Autobiographie die Hoffnung, wenn er sie beendet habe, sei er vom Zwang zu schreiben geheilt. Welch ein Irrtum. Wenn alles gesagt ist, bleibt alles zu sagen, wird er feststellen. »Schreiben ist das Unbeendbare, das Unaufhörliche«, bemerkt Blanchot (1959: 16). Schreiben ist eine Sucht, könnte man auch formulieren, und Gorz ein unaufhörlich Süchtiger, ein hochgradig Abhängiger. Er kann vom Schreiben nicht lassen, muss sich in einem fort an den Schreibtisch begeben, um sich mit der Feder in einen Rausch zu versetzen. Ein Leben ohne Schreiben, für ihn eine Unmöglichkeit. Gorz »kann nicht leben, ohne zu schreiben«.110
V.
D ER F REITOD
Als Rentner lebt das Paar in Vosnon ein zurückgezogenes Leben. Dorine legt einen Garten an und Gérard pflanzt auf dem Grundstück zweihundert Bäume. Ab und an kommt Besuch, nicht selten aus Deutschland. Die Horsts laden dann ins Gasthaus des Ortes ein oder kochen selbst, man macht einen Spaziergang und zieht sich in Gorz’ Arbeitszimmer zurück, um beim Tee zu diskutieren. Zum Abschied wird »Obst von den eigens gepflanzten Bäumen« für die Gäste eingepackt.111 Den Hain und den Garten durchstreifen an einem Montag im Herbst 2007 eine Handvoll Freunde. Wir haben »von Euren Äpfeln gegessen. Die sonst so gut gepflegten Beete waren verdorrt, am Ende wird es dafür keine Zeit mehr gegeben haben«, beschreibt Erich Hörl in seinen unveröffentlichten Abschiedsworten Je vous salut! die Szenerie.112 Die Freunde, ca. 15-20 an der Zahl, kommen gerade von »einem Nicht-Ort, wie ihn nur die Bürokratie sich ausdenken kann«, 110 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (8) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung. 111 Eine derartige Schilderung eines Besuches bei den Horsts in Vosnon gab Rainer Land, Gespräch mit A.H. am 01. Juni 2011 in Schmarsow. 112 Dieses private Dokument wurde am 02. Oktober 2007 verfasst und ist angegeben unter Hörl 2007. Für die Zusendung des Dokumentes danke ich Erich Hörl. Alle weiteren, nicht anders gekennzeichneten Zitate entstammen diesen Abschiedsworten.
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vom Krematorium »inmitten der Industriezone von Rosières-près-Troyes«. Sie stehen vor den Särgen, legen »getrocknete Kornblumen auf die Deckel« und müssen »bezeugen, wie die Vorhänge zugezogen wurden«. Am Nachmittag, schreibt Hörl weiter, »konnten wir Euch so verabschieden, wie es Euer würdig war«. Auf dem Grundstück in Vosnon »haben wir Eure Asche verstreut, unter der Linde, die Du Dorine so liebtest, und in dem Hain, den Du Gérard einmal […] als Dein Lebenswerk bezeichnest hast. […] Ihr wolltet Euch nach Eurem Ende in die Winde verstreut wissen«.
Was vorgefallen war, ist hinlänglich bekannt. Das Ehepaar scheidet am 22. oder 23. September 2007 im Alter von 83 und 84 Jahren freiwillig aus dem Leben. Als sie in ihrem Haus in Vosnon gefunden werden, befindet sich an der Haustür ein Zettel mit der Bitte, vor dem Eintreten die Polizei zu verständigen. Kein Besucher sollte dem sonst so gastfreundlichen Paar unverhofft in einem derartigen Zustand begegnen. Laut Hörl war die öffentliche Abschiedszeremonie grotesk: »Der leitende Bestattungsbeamte hatte sich auf das Zeremoniell seines Lebens vorbereitet, hatte den ausgelegten Kondolenzlisten nach wohl Hunderte von Zeugen erwartet, murmelte die gelegentlich in den Abschiedsreden auftauchenden Passagen aus der Lettre à D. auswendig vor sich hin. Man hat es irgendwie durchgestanden«.
An anderer Stelle bemerkt Hörl noch: »Der Totengräber dachte, dass wird ‚die Leiche meines Lebens’, wie man in Wien sagen würde. Der hatte den ganzen Brief an D. auswendig gelernt. Es war bestuhlt worden für 200 Leute, es gab ein Rednerpult, aber wir waren ja nur ganz wenige Leute«.113
Aus Sicht der Offiziellen war das Ereignis ein Flop, die erwartete Hundertschaft bleibt aus. Dorine und André Gorz hatten vor ihrem Suizid verfügt, dass nur engste Bekannte informiert und von dem Bestattungstermin in Kenntnis gesetzt werden sollten. Nebenbemerkung: Notiz zu einer anderen Bestattung Eins ist sicher: Hätte das Paar es nicht absichtlich verhindert, wäre der Bestattungsbeamte zur ›Leiche seines Lebens‹ gekommen. Man muss sich in diesem
113 Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum.
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Zusammenhang vor Augen führen, wie populär Gorz zu jener Zeit wieder war. Die Feuilletons sind gefüllt mit seinem Namen. Der Lettre à D. wird von Kritikern gefeiert. Er bekommt Post über Post. Bedeutende Intellektuelle schreiben und übermitteln ihre Anerkennung. Medienmenschen reisen nach Vosnon und klopfen an seine Tür. Daniel Cohn-Bendit äußert: »In Frankreich hat dieses Buch die Menschen sehr begeistert«.114 In einem Brief an Meretz äußert Gorz dazu: »zu unserer Überraschung wurde aus dem ›Brief‹ eine Art Bestseller (bisher 30.000 Ex. verkauft), der meinem Verleger grössere Sorgen erspart u. die meisten Leser etwas Seltenes mitempfinden lässt, das sie zu erleben sich sehnen. Plötzlich hatte ich ausser den ca. 38000 üblichen Lesern bis zu zehnmal mehr u. zwar nicht als Autor, sondern als gewöhnlicher Mensch, der etwas sagen wollte, das bloß mit der Wichtigkeit von Empfindungsvermögen u. Liebesbeziehung für den Sinn des Lebens zu tun hat. Ich tue mein Bestes, um zu vermeiden, dass die Medien mich zum Verkäufer – Vermarkter meiner Selbst machen. […] Der ›Brief‹, bzw. die mediale Aufmerksamkeit, die er erregt, hat mich der Vergessenheit entzogen, in die meine früheren Schriften gefallen waren. Relativ viele haben entdeckt, entweder dass ich noch nicht tot war, oder dass ich zum kritischen Selbstverständnis dieser Epoche beigetragen habe«.115
Die mediale Aufmerksamkeit, von der Gorz hier spricht, steigt exorbitant an, als der Freitod bekannt wird. Das eigentliche Medienereignis ist der Lettre à D. in Verbindung mit dem Suizid. Und diese Verbindung löst ein starkes Medienecho aus. Keine renommierte Zeitung, die nicht das Ereignis erwähnt und mit Passagen aus dem Lettre à D. die Seiten füllt. Unzählige Nachrufe, die Bezug auf den Text nehmen; Fernsehen, Rundfunk und Internet verkünden den romantischen Liebestod. Sie werden mit den »beiden alten Liebenden Philemon und Baucis« verglichen, die den Wunsch von den Göttern erfüllt bekamen, gemeinsam zu sterben.116 Gorz ist jetzt in aller Munde. Prestigeträchtige Intellektuelle, namhafte Gewerkschaftler und Politiker schalten Todesanzeigen. Man kann sich an dieser Stelle vorstellen, wie eine andere Bestattung ausgesehen haben könnte, man kann sich ausmalen, wie viele Menschen nach Rosières-près-Troyes gekommen wären, um sich dem Trauerzug anzuschließen und André Gorz und Dorine die letzte Ehre zu erweisen, wenn das Paar es nicht ver-
114 Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel. 115 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 13. bis 19. August 2007. 116 Diese Parallele zu Ovids Erzählung aus den Metamorphosen ist von Elisabeth von Thadden in einem Nachruf aus DIE ZEIT gezogen worden, vgl. Thadden 2007.
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eitelt hätte. Und noch dies: Man kann nachvollziehen, warum der Bestattungsbeamte so gut vorbereitet war. Vier Erzählungen des Freitodes »Soeben bist Du zweiundachtzig geworden. Und immer noch bist Du schön, anmutig und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an den meinen auszufüllen vermag. Nachts sehe ich manchmal die Gestalt eines Mannes, der auf einer leeren Straße in einer öden Landschaft hinter einem Leichenwagen hergeht. Dieser Mann bin ich. Und Du bist es, die der Leichenwagen wegbringt. Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche bekommen. Ich höre die Stimme von Kathleen Ferrier, die singt: ›Die Welt ist leer, ich will nicht leben mehr‹, und ich wache auf. Ich lausche auf Deinen Atem, meine Hand berührt Dich. Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wie, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten« (Gorz, 2006a: 83f.).
Diese Sätze des Lettre à D. rückte man im Zuge des Bekanntwerdens des Selbstmordes in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Man sprach sie in Fernsehkameras und in Mikrophone von Radiosendungen, druckte sie auf Zeitungsseiten und zitierte sie in zahlreichen Nekrologen. Einige dieser Worte zieren mittlerweile gar Poster. Mittels der Passage aus dem Lettre à D. erzählte man die Geschichte des romantischen Liebestodes und deutete die Schrift als Abschiedsbrief. Und auch das ist Teil der Wahrheit. André Gorz wollte Dorine nicht überleben müssen. Viele Freunde deuteten die Zeilen vor dem Suizid als Ankündigung des Freitodes, wenn Dorine eines Tages ihrem Leiden erliegt. Aber nein. Er wollte nicht einen Tag, nicht eine Stunde, nicht einen Wimpernschlag ohne sie leben müssen. Und gleiches gilt vice versa. Das Paar wollte einander nah bleiben, das heißt einander lieben, und bevor der eine durch den Tod des anderen allein zurückbleibt, sind sie gemeinsam gegangen. Aber man kann das Ereignis auch etwas nüchterner erzählen. Dorine war seit langem krank und dass das ein starkes Motiv für den Freitod gewesen sein mochte, vermuteten alle. Aber wie krank war sie, sich den Tod zu wünschen? Mit der Arachnoiditis lebte sie, trotz erheblicher Schmerzen, seit Jahrzehnten und den Krebs hatte sie besiegt. Anhand von Briefwechseln lässt sich eine rapide Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Dorine in den letzten eineinhalb Lebensjahren rekonstruieren. Aber auch Gorz fühlt sich nicht in guter Verfassung. Am 07. November 2006 schreibt er an Franz Schandl:
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Bereits am 05. Oktober 2006 war er bemüht, an Meretz zu schreiben: »Mehr als fünf Monate sind jetzt seit deinem letzten Brief vergangen. Ich erhielt ihn zu einer Zeit, als es meiner Frau und mir miserabel schlecht ging. Die Zeit dauerte 8 Monate«.118
Gorz wird diesen Brief unterbrechen und nur seine ersten Seiten im Januar 2007 versenden, wo es heißt: »Ich lege dir den Anfang des Briefes bei, den ich dir am 5.10. schreiben wollte und den ich dann abrechen musste. Nichts Wichtigeres, einfach […] physisch-psychische Überforderung haben diese Unterbrechung erzwungen. Ich hoffe, dass ich den Brief vom 5.10. in den nächsten Wochen beenden kann«.119
Meretz hat in seiner Antwort Sorge um die gesundheitliche Befindlichkeit der beiden. Ende Februar 2007 unterrichtet Meretz Gorz von Plänen einer Frankreichreise, die er mit seiner Lebensgefährtin für Mai beabsichtigt und fragt: »Kannst du dir vorstellen, dass ich dich für ein oder zwei Tage besuche? Wir könnten die Tour so legen, dass ein Besuch bei dir möglich wäre«.120 Gorz antwortet in seiner freundlichen Art: »In den Tagen bevor ich deinen Brief erhielt, habe ich mich gefragt, ob wir uns je sehen werden. Nun, wir hatten sicherlich den gleichen Wunsch. Wie schön. Aber es ist zu früh – oder zu spät. Meine Frau und ich sind weiter in schlechter Verfassung, stets u. von allem, auch Kleinigkeiten, überfordert. […] Der altersbedingte Verfall nimmt rapide zu«.121
Man muss an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, dass in Vosnon Gäste stets gern gesehen waren. Gorz wird es äußerst schwergefallen sein, gegenüber
117 118 119 120 121
Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 07. November 2006. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 05. Oktober 2006. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 09. Januar 2007. Brief von Meretz an Gorz, geschrieben am 25. Februar 2007. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 15. bis 21. März 2007.
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einem Freund wie Meretz,122 mit dem er einen über Jahre intensiven Briefwechsel pflegte, eine Absage auszusprechen. Aber die Sorge um Dorine ist zu groß. Das bestätigt sich in seinem letzten Brief an Meretz aus dem August 2007. Hier heißt es: »Von April bis Juni ging es uns gesundheitlich schlechter als je zuvor. Hauptsächlich D. (Dorine), die an unerklärten Schmerzen litt, schliesslich überhaupt nichts mehr zu sich nehmen konnte u. am Ende mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus kam wo, arg verspätet, ein Darmverschluss erkannt u. sogleich operiert wurde. Das war am 14. Mai. Ich hatte wie eine Vorahnung, dass uns etwas Schlimmes bevorstand, als ich im April Deinen Besuch für ›zu früh oder zu spät‹ hielt. Um sich von einer derartigen Operation zu erholen, braucht es mindestens 3 Monate u. die postoperativen Schmerzen sind schwer erträglich. Jetzt geht es uns jeden Tag ein wenig besser, nur bleibt noch eine erdrückende Müdigkeit über«.123
Dieser letzte Schock, dieses letzte Kapitel in der langen Krankheitsgeschichte von Dorine, mag maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Gedanken an den Freitod, die bereits vorher vorhanden waren, was der Wortlaut ›zu früh oder zu spät‹ erhellt, im Sommer 2007 ganz oben auf die Tagesordnung gerieten. Die Schmerzen durch die Arachnoiditis, die die beiden auf eine bestimmte Art stets gemeinsam erlitten, der ›altersbedingte Verfall‹, die ›physisch-psychische Überforderung‹, die Operation, der sich Dorine im Mai unterziehen muss, ›die postoperativen Schmerzen‹ und die ›erdrückende Müdigkeit‹ werden eine Situation ergeben haben, in der der Freitod sich als Möglichkeit auftat, der Qual würdevoll zu entgehen und ein ereignisreiches gemeinsames Leben zu beenden, das im Jahr 2007 von Krankheit, Sorge und Schmerzen bestimmt war. Noch ein Motiv für den Freitod und somit die dritte Erzählung. Gorz verliert die Fähigkeit zu schreiben, anders gesagt, das Rauschmittel kommt ihm abhanden. Der Vorrat, mit dem es ihm in all den Jahren so leichtfiel, sich der Wirklichkeit zu entziehen, ist aufgebraucht. Es stellt sich kein Rausch mehr ein, der die Wörter tanzen lässt. Die magische Tür zur »wirklichen Wirklichkeit«, fernab der »erfahrbaren und erlebbaren« Welt seiner »Mitmenschen« ist plötzlich verschlossen.124 Er ist gefangen in der Wirklichkeit der Realität. Die schreibende 122 Zu Meretz äußert Gorz: »Ich habe nur einen Freund, mit dem ich einen längeren ebenso reichhaltigen Briefwechsel unterhalten habe« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 13. bis 19. August 2007). 123 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 13. bis 19. August 2007. 124 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (4) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
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Hand rast nicht mehr über das weiße Blatt, sie produziert nicht mehr richtig. Im letzten Lebensjahr, die Fähigkeit zu schreiben eingebüßt, erscheint Gorz das Leben nicht mehr lebenswert. Der reichhaltige Briefwechsel mit Stefan Meretz gibt in diesem Zusammenhang erneut Aufschluss. Briefe von Gorz aus den ersten Jahren dieses Austausches sind meist auf einen einzigen Tag datiert. In den Jahren 2006 und 2007 benötigt er Tage bis Wochen, manchmal gar Monate, um die Schreiben zu beenden. Immer öfter bricht er Briefe ab und lässt verlauten: »Fortsetzung folgt«. Von Erschöpfung ist die Rede: »Lieber Stefan, wie es das Schriftbild zeigt, bin ich ziemlich erschöpft, zerfahren«.125 Antworten an Meretz lassen auf sich warten. »Über deinen Brief freue ich mich so sehr, dass ich ihn meiner Frau übersetzte u. wir ihn zwei Stunden lang (beim Tee) diskutierten. Für eine Antwort reichten meine Kräfte nicht«.126 Natürlich spielt Dorines Krankheit eine Rolle. »Lieber Stefan, meine Frau ist mit ihrer beschädigten Wirbelsäule momentan von meiner Pflege ganz abhängig. Ich bin bedrückt u. habe nur kürzere Pausen zum Schreiben od. Nachdenken«.127 Aber das ist es nicht allein. In den letzten Briefen benutzt er immer wieder die Formulierung: »Ich fühle mich nicht mehr ganz auf der Höhe«.128 Im Frühjahr 2007 schreibt er an Meretz: »Ich denke immer wieder an den Alten Marcuse, der sich nicht mehr traute, allein mit den anderen zu sprechen u. im Verlauf des Gesprächs sich immer wieder leise an mich wendete: ›Is it alright?‹ Er fürchtete sich, Unsinn zu sagen«.129
Gorz geht es jetzt nicht anders. Er berichtet von einer französischen Gruppe, die sich auf das Denken von Robert Kurz und Moishe Postone beruft und mit ihm eine Begegnung wünscht.130 »Ich habe auf ihren Vorschlag nicht geantwortet«, gesteht er Meretz. »Sie erwarten sicher eine Zusammenarbeit od. Unterstützung für gemeinsame Projekte von mir. Ich fühlte mich […] nicht ganz auf der Höhe
125 126 127 128
Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 12. bis 15. März 2006. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 05. Oktober 2006. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 24. Oktober 2005. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 15. bis 21. März 2007 sowie Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 13. bis. 19. August 2007. 129 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 15. bis 21. März 2007. 130 Zu Robert Kurz heißt es in einem persönlichen Schreiben: »Ich halte Kurz’ Schwarzbuch für ein hervorragendes Werk, auch sprachlich, und konnte auch sonst von ihm viel lernen« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 20. bis 23. November 2004). Bezogen wird sich hier auf die Schrift Schwarzbuch Kapitalismus, vgl. Kurz 1999.
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u. hatte Angst, sie nur zu enttäuschen«.131 Von Andreas Exner lässt er sich überreden, für den Sammelband Grundeinkommen. Soziale Sicherheit ohne Arbeit (Exner/Rätz/Zenker 2007) einen Beitrag zu schreiben.132 Der Beitrag soll in einer längeren Version auch auf Französisch publiziert werden. Gorz bemerkt dazu: »Diese zwei Beiträge (resp. 8 u. 17 Seiten) zu schreiben hab ich 5 od. 6 Monate gebraucht, immer wieder neuanfangen u. neuredigieren müssen, was D. u. mich verrückt u. unglücklich machte. Ich weiss schon seit Jahren, dass ich es aufgeben sollte, denn alles wird immer mühsamer und schlechter als früher«.133
An Andreas Exner wird er nach Fertigstellung des deutschsprachigen Beitrages schreiben: »Entschuldigen Sie bitte die Verspätung – und vielen Dank für die Geduld«.134 »›Es dauert alles so lang‹«, beklagt er auch gegenüber Erich Hörl. »Er hatte keine Lust mehr zu schreiben, dass war bei unserem letzten Treffen Thema, weil es ihm so mühsam geworden ist. Das Schreiben war ganz entscheidend. ›Es dauert alles so lang‹, sagte er immer wieder. Er hatte am Ende noch ein schriftliches Interview mit jemandem gemacht und da berichtete er mir, wie mühsam und zeitintensiv das für ihn gewesen ist«.135
Ich stelle mir Gorz in jenem letzten Jahr vor, wie er als »alter klappriger Mann«136 in seinem Arbeitszimmer in Vosnon am Schreibtisch sitzt, das weiße Blatt vor sich liegen hat und auf das Einsetzen des Rausches wartet, das heißt: auf das Brodeln der Wörter und die Bewegung der schreibenden Hand, die wie ferngesteuert das Blatt füllt. Die Fragen sind da, nur das Klar-Werden über sie, in Gorz’ Fall das Schreiben, will sich nicht einstellen. Hier und da glaubt er, die Wirkung zu vernehmen. Und dann plötzlich, nach den ersten Verrichtungen der Hand, entsteht der Eindruck, dass die Sätze sich nicht aneinander reiben, keine Dynamik gewinnen und zueinander auf Distanz stehen. Das Geschriebene greift nicht. Also von Neuem. Wieder und wieder die Erkenntnis des Schreibenden, dass das, was ihn ausmacht, das Schreiben, verkümmert ist. Sein Leben, seine 131 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 15. bis 21. März 2007. 132 Der Beitrag von Gorz lautet Seid realistisch – verlangt das Unmögliche, vgl. Gorz 2007b. 133 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 15. bis 21. März 2007. 134 Brief von Gorz an Exner, geschrieben am 13. Januar 2007. 135 Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum. 136 Geleitbrief von Gorz, geschrieben am 22. April 2004. Hier heißt es im vollen Wortlaut: »Leider bin ich ein alter klappriger Mann«.
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Berufung ist Schreiben. Aber was für ein Leben führt ein Schreibender, der nicht mehr schreibt? Für André Gorz sicherlich ein Dasein, das alles andere als lebenswert erscheint und das es zu beenden gilt. »Man schreibt weil man schreiben muß, d.h. man kann nicht leben, ohne zu schreiben«.137 Schließlich die vierte Erzählung des Freitodes. Kein Grab, kein Stein, das war der letzte Wille des Paares. Was Gorz prinzipiell an einem Grab gestört haben dürfte, ist die Überzeugung, dass es ein Ort des Seins, eine Ablagerung von gelebter Identität und Existenz ist. Gemeinhin glaubt man, Gräber wären lediglich letzte Ruhestätten. Aus der Gorz’schen Perspektive eine Fehleinschätzung: Gräber bestehen aus Erinnerungen, aus Momenten der Vergangenheit, aus toter Materie, sie beherbergen geronnenes Nichts, das zu Sein geworden ist. Gorz wollte keinen solchen Ort. Die Ablehnung – hier wie überall – dessen, was das menschliche Leben als verflüssigtes Sein erstarren lässt, was es von seiner Freiheit entfremdet. Nicht sein, also auch keine letzte Gedenkstätte haben – nicht einmal ein dezentes und einfaches Grab, wie das von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir auf dem Friedhof von Montparnasse –, sondern sich, konsequenter als der ›Meister‹ Sartre, in die Winde verstreuen lassen. Ohne Zweifel eine radikale existentialistische Geste, wie es bereits zuvor der Freitod war. Auch hier Kampf, gleichsam der finale, des Nichts gegen das Sein. Einem Sein, das bereits bis ins Mark vorgedrungen war, sich in den altersmüden Knochen, in jeder Pore und jeder Zelle des betagten Körpers bemerkbar machte, Dorine jahrelang an Schmerzmittel und Medikamente fesselte, das Paar nicht mehr reisen und es in ihrem Haus in Vosnon festwachsen ließ. Der Freitod als letzter Sieg des Nichts im Duell mit dem Sein, das drohte, in dieser Auseinandersetzung die Oberhand zu gewinnen. Man kann, muss vielleicht gar, die Geschichte des Freitodes so, als philosophischen Tod, erzählen. Derlei Gedanken hat André Gorz reflektiert. Daran besteht kaum ein Zweifel.
137 Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (8) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung.
D. Zwei Studien zum Denkraum
Das Denken von André Gorz wird im Folgenden zu anderen Autoren in Beziehung gesetzt. Zu diesem Zweck skizziere ich ein Koordinatensystem anhand von zwei Achsen; einer existentialistischen und einer marxistischen. Zunächst wird das Gorz’sche Denken auf der existentialistischen Achse verfolgt (I), womit die These einhergeht, dass Jean-Paul Sartre Bezugszentrum und Hauptquelle für das Arrangement des Gorz’schen Denkens ist. Sodann wird das Hauptaugenmerk auf die marxistische Achse gerichtet (II), um Gorz’ Verhältnis zu Karl Marx und zum Marxismus zu bestimmen. Bei der Erörterung der dem Kapitel Struktur gebenden Frage, zu welchen intellektuellen Bezugspunkten das Denken von Gorz Verbindungen unterhält und wie es sich im Denkraum adäquat bestimmen lässt, versuche ich nachstehende Antwort zu plausibilisieren: André Gorz ist ein eng mit dem Denken Sartres in Verbindung stehender Theoretiker, dem eine ›existentialistische Marxinterpretation‹ eigen ist.
I.
A DIEUX
AU
S ARTRE ?
Man kann André Gorz schwerlich verstehen, ohne seine Beziehung zu Jean-Paul Sartre und dessen Werk mit einzubeziehen.1 Vor allem in den 1940er und 1950er Jahren hatte Gorz’ Verhältnis zum berühmten Existentialisten etwas Eindringliches, man ist sogar gewillt zu sagen, etwas Intimes, an sich. Man erinnere sich 1
Eine besonders gelungene Biographie Sartres bietet Annie Cohen-Solal 1985. Für eine Akzentuierung von Leben und Werk vgl. Bernard-Henri Lévy 2000. Sartres herausragende Stellung innerhalb der Intellektuellenlandschaft Frankreichs zeigt bemerkenswert Winock 1997: 503-778. Eine aktuelle, aber eher einführende, Darstellung der Philosophie Sartres bietet Galle 2009. Für spezifische Einblicke vgl. u.a. Waldenfels 1983: 63-141.
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etwa an die Passage, in der Gorz in Le traître das für Sartre verwendete Pseudonym »Morel« erklärt. »Er sagt Morel, weil man ihm den Namen J.-P.S. verleidet hat, weil das allgemeine Gerücht und die allgemeine Dummheit sich des Namens dieses Menschen, den er eifersüchtig verehrt, bemächtigt haben, gleich einem Bataillon, das sich über den Bauch einer Frau wälzt, die, eine Hure für sie, deine Liebste ist« (Gorz 1958: 216).
Später wird er die vielseitige Beziehung so beschreiben: »Was sicher ist: er war keine Vaterfigur«.2 Im Jahr 1990 äußert er an anderer Stelle: »Ich hatte seine Schriften schon seit sieben Jahren entdeckt und mich in ihnen sozusagen eingenistet, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Diese Begegnung verhalf mir dazu, seine Philosophie zu relativieren und umzuarbeiten. Denn er war gar nicht so, wie ein Leser oder eine Leserin sich ihn vorstellen konnte. Er war quicklebendig, freundlich, aufmerksam, an allen interessiert, nahm sich nie wichtig, ein idealer Gesprächspartner. Bewundert oder angebetet zu werden, das langweilte ihn. Er beanspruchte das Recht, seine Meinung zu ändern, sich über seine eigenen Schriften kritisch zu äußern, auf neuen Grundlagen immer wieder neu anzufangen. In dem Film von Contat und Astruc über ihn mußte ich am Ende seine philosophischen Werke gegen seine abschätzigen Urteile verteidigen.3 […] Eigentlich hörte Sartre ganz auf, für mich eine Art Halbgott sein zu können, nachdem er mir sein phantastisches Vorwort4 zum ›Verräter‹ geschrieben hatte« (Gorz 1990: 9f.).
Obgleich Sartre aufhört, für Gorz eine Art Halbgott zu sein und sich das Verhältnis, wie hier angedeutet, in der jahrzehntelangen Zusammenarbeit transformiert, bleibt Sartre – so meine These – Bezugszentrum, Ursprungsautor und Hauptquelle für das Arrangement des Gorz’schen Denkens.5 Die These ist durchaus kontrovers zu verstehen. Im Verlauf eines Gesprächs wird Daniel Cohn-Bendit, der mit Sartre und Gorz persönlich bekannt war, ge2 3 4 5
Hörfunk-Feature 1986, O-Ton (5) von André Gorz, zit. n. Skript der Rundfunksendung. Der Film wurde im Jahr 1972 abgedreht, trägt den Titel Sartre par lui-même und kam im Jahr 1976 in die französischen Kinos. Das Vorwort trägt den Titel Von Ratten und Menschen, vgl. Sartre 1958. Neben Sartre lässt sich vor allem Karl Marx als weiterer bedeutender Referenzautor benennen, wie ich noch zeigen werde. Ivan Illich, Jean-Marie Vincent und Alain Touraine gaben ebenfalls wichtige Stichworte für seine Gedankenentwicklungen. Die Aufzählung ließe sich fortführen.
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fragt, ob sich Letzterer von seinem Lehrer und Gesinnungsbruder Sartre tatsächlich losgesagt hatte. Cohn-Bendit reagiert auf diese Frage mit einem klaren und entschiedenen »Ja«.6 Bereits im Frühjahr 1983 spricht er bezüglich des Gorz’schen Schaffens, besonders im Hinblick auf den Text Adieux au prolétariat,7 von einem »Loslösungsprozeß von Sartre« (DGB 1983: 51). Bezug nimmt Cohn-Bendit dabei auf jenen Sartre, der nach dem Zweiten Weltkrieg als »Parteigänger der Kommunisten«, als »bürgerlicher Schutzengel« der Partei auftrat und »jeden von der Linken exkommunizierte«, der sich als Abweichler vom dogmatischen Kurs fassen ließ (DGB 1983: 51). Gorz, dessen Lebensgeschichte von der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur geprägt ist, verspürte bei solch autoritärem und totalitärem Gebaren »eine unmittelbare Ablehnung, ja, eine Ablehnung, die regelrecht körperlich werden konnte«.8 Sein vielschichtiges Werk kann als Dokument eines für die menschliche Freiheit äußerst sensiblen Denkens gelesen werden – ein Denken, das sich auch positionierte gegen das System des sowjetischen Kommunismus und des Gulags. Und genau vor diesem Hintergrund wird evident, dass sich Gorz von einem Sartre Stück um Stück losgesagt habe, der einmal verkündete: »In der UdSSR herrscht eine totale Freiheit der Kritik«.9 Das Bild des Abschieds von Sartre ist weitverbreitet. Auch Arno Münster hat diesem Bild Kontur verliehen. In knappen Aussagen konstatiert er, dass Gorz’ Denken sich »›im Schatten Sartres‹ entwickelt« habe und sukzessive aus diesem Schatten herausgetreten sei. Zugleich spricht er von einem »philosophischpolitischen Kurswechsel«, den Gorz vollzogen habe. Festgemacht wird dieser in den 1970er Jahren u.a. an der »Weigerung Gorz’, auf den promaoistischen Kurs von Sartre und Simone de Beauvoir einzuschwenken« (Münster 2008: 22f.).10 6 7
Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel. Im Deutschen unter dem Titel Abschied vom Proletariat veröffentlicht, vgl. Gorz 1980. 8 Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel. 9 So die Überschrift, unter der ein ausführliches Interview veröffentlicht wurde, das Sartre nach Rückkehr seiner ersten Reise in die UdSSR dem Journalisten Jean Bedel gab und das in der Zeitung »Libération« am 15. Juli 1954 erschienen ist. Für Äußerungen Sartres, die der Überschrift Rechnung tragen vgl. Cohen-Solal 1985: 537-538. 10 Neben der Weigerung von Gorz, auf den promaoistischen Kurs einzuschwenken, macht Münster den »philosophisch-politischen Kurswechsel« an »einer eindeutigen und entschiedenen Hinwendung zur politischen Ökologie« fest (Münster 2008: 2223). Gegen diese Interpretation lässt sich einwenden, dass Gorz Ökologie nicht auf eine Verteidigung von Natur und Klima reduziert, sondern das Thema mit der Suche nach Möglichkeiten menschlicher Souveränität verbindet, wodurch es für die Freiheitsphilosophie Sartres offenbleibt. Ferner ist Sartres Stimme in den Gorz’schen
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Münster spielt hier, ohne explizite Erwähnung, auf Sartres intellektuelle Beziehung zu Benny Lévy an, der Anfang der 1970er Jahre mit dem Pseudonym Pierre Victor zeichnete und als Anführer der maoistischen Gruppe ›La gauche prolétarienne‹ galt. Mit dem radikalen Kurs dieser Gruppe und ihrer religiösdogmatischen Verehrung des Proletariats hatte Gorz – wie von Münster richtig angedeutet – nichts zu schaffen. Die Pointe ist jedoch, dass sich in diesem Zusammenhang nicht nur eine Autonomisierung seitens Gorz’ ablesen lässt. Sartre selbst emanzipierte sich unter dem weiteren Einfluss von Lévy, zumindest teilweise, von seinem eigenen Denken, was wiederum die Sympathiebekundung – wenn man so will, eine Annäherung – von Gorz hervorrief. Dass Münster als ausgewiesener Sartre-Kenner auf solch interessante Details der komplexen Beziehung von Gorz und Sartre nicht eingeht, ist bedauerlich. Im Folgenden möchte ich diese komplexe Beziehung mit Blick auf die Meinungsverschiedenheiten und Dispute erörtern. Mein Anliegen ist nicht, eine umfassende Analyse der Verbindung zwischen Sartre und Gorz vorzunehmen. Vielmehr geht es darum, den bisherigen, knappen Andeutungen für einen Abschied von Sartre nachzugehen. Dafür wird in einem ersten Punkt Gorz’ und Sartres Verhältnis zur Kommunistischen Bewegung und Partei skizziert (1). Zweitens zeige ich anhand des Kontextes um die Schrift Les damnés de la terre von Frantz Fanon auf,11 wie Gorz Sartre die Gefolgschaft verweigert (2). Diese Verweigerung steigert sich, wie drittens argumentiert werden wird, zu einer entschiedenen Distanzierung von Sartres maoistischem Kurs, den dieser nach den Mai-Ereignissen 1968 einschlägt (3). Danach wird in einem vierten Abschnitt eine Szene vorgestellt, die, wenn man Worte wie ›Abschied‹ oder ›Loslösungsprozess‹ schon in Anschlag bringen möchte, auch dazu nötigt, Antonyme wie ›Wiedersehen‹ oder ›Wiederannäherung‹ zu gebrauchen (4). Abschließend rekapituliere ich vor dem Hintergrund der vier skizzierten Punkte ausdrücklich die Frage nach dem Abschied von Sartre (5). Meinungsverschiedenheiten und Dispute zwischen den beiden Autoren sind, wie ich zeigen möchte, in dieser Beziehung nicht erst seit den 1970er Jahren oder im Zuge der Niederschrift von Adieux au prolétariat aufgetreten, sondern von Beginn an Begleiter dieser Intellektuellen-Verbindung. Meine kritische Überlegungen zur Ökologie sehr wohl zu vernehmen und Gorz versteht sich darauf, sie mit der Ivan Illichs – unter dessen Einfluss er sich dem Thema der Ökologie nähert – in Harmonie zu bringen. Für die explizite Präsenz von Sartre in den ÖkologieBüchern vgl. stichprobenhaft Gorz 1975a: 109-113 und 121 sowie 131. Für die implizite Präsenz vgl. u.a. Gorz 1977a: 20, gemeint ist hier Gorz’ Rekurs auf Sartres Theorem der ›rareté‹. 11 Zu Deutsch Die Verdammten dieser Erde, vgl. Fanon 1961.
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Überlegung ist, dass ich vor allem die Rede vom »philosophisch-politischen Kurswechsel« (Münster 2008: 22) für problematisch halte. Mit dieser Formulierung wird ein zentrales Moment der Beziehung zwischen Gorz und Sartre überblendet. Gorz hat nämlich die politischen Eskapaden und Zuspitzungen Sartres nie wirklich mitgemacht, der Philosophie Sartres jedoch stets die Treue gehalten. 1.
Die Versuchung der Kommunistischen Partei
Die ersten beiden Schriften des jungen Gorz – Fondements pour une morale12 und Le traître – nehmen ihren Ausgang von einer Sartre-Begeisterung und ihre Motive schließen explizit an dessen phänomenologische Ontologie an. War er im Verhältnis zu Sartre zunächst Anhimmelnder und sodann Schüler, legt er schließlich, nachdem er mit Le traître einen ersten Erfolg zeitigt, mehr und mehr die Rolle des Eleven ab.13 An seiner dritten Schrift, La morale de l’histoire,14 arbeitet Gorz parallel zu Sartre, als dieser die Critique de la raison dialectique (1960) verfasst.15 »Die ›Moral der Geschichte‹ schrieb ich zur gleichen Zeit als Sartre an der ›Kritik der dialektischen Vernunft‹ arbeitete und der gegenseitige Einfluss ist sichtbar, obwohl wir nicht das gleiche Ziel verfolgten« (Gorz 1983b: 167).16
Sartre rückt hier sein Denken, gleichwohl in kritischer Auseinandersetzung, an den Marxismus heran, indem er versucht, dem historischen Materialismus eine 12 Gorz arbeitete an diesem Werk von 1946 bis 1955. Die Schrift ist erst 1977, mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Fertigstellung, bei Galilée erschienen, vgl. Gorz 1955. 13 »Ich bin«, so Sartre gegenüber Michel Contat, »absolut nicht der Ansicht, daß Der Verräter von Gorz die Arbeit eines Schülers ist. Was mich an dem Buch interessierte – und darum habe ich auch das Vorwort dazu geschrieben –, war nicht, daß ich darin einige Gedanken von mir wiederfand, den Versuch, einen Menschen in seiner Gesamtheit zu begreifen, sondern daß ich etwas daraus lernen konnte: mich interessierte das, was von Gorz war, und nicht das, was von mir hätte sein können. Es ist ein sehr gutes Buch, das heißt, es hat etwas Neues gebracht« (Sartre 1975: 263-264). 14 Die Schrift La morale de l’histoire ist nicht ins Deutsche übersetzt worden und ist nur im Französischen zugänglich, vgl. Gorz 1959. 15 Zu Deutsch Kritik der dialektischen Vernunft, vgl. Sartre 1960b. 16 Die Äußerung von Gorz lässt sich bestärken. So bemerkt Kari Palonen: La morale de l’histoire »hat, besonders in der Theorie der Entfremdung, erstaunliche Parallelen zur Critique, und es ist offensichtlich, daß Sartre gerade von den Gorzschen Ideen in dieser Phase viele Beispiele und Denkfiguren in Critique übernommen hat« (Palonen 1992: 252).
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philosophische Begründung unterzuschieben. Auch Gorz vollzieht mit La morale de l’histoire den Schwenk zum Marxismus. Die Schrift thematisiert die Theorie der Entfremdung und erörtert die Frage, was für den Umstand verantwortlich ist, dass die Entfaltung der menschlichen Freiheit durch die Geschichte, verstanden als faktische Situation, verhindert wird. Zugleich ist das Buch eine intensive und kritische Beschäftigung mit Marxens Geschichtsphilosophie. Im Falle Sartres wird die theoretische Hinwendung zum Marxismus, die bereits in den 1950er Jahren beginnt, von einer engen Beziehung zur Parti communiste français (PCF), zur kommunistischen Partei Frankreichs, begleitet, die er seit dem Jahr 1952 pflegt.17 Auch Gorz fühlt sich in jenen Jahren, als Sartre als Kompagnon der PCF auftritt, von der Partei angezogen. Sie war »immer eine starke Versuchung« (Gorz 1958: 50), wie er in Le traître bekundet. Der ›Meister‹ gibt ihr bereits nach. Im Jahr 1954 reist Sartre zum ersten Mal in die Sowjetunion und verkündet bei seiner Rückkehr die bereits erwähnten Worte: ›In der UdSSR herrscht eine totale Freiheit der Kritik‹. Die Versuchung ergreift auch Gorz, wenngleich nicht in einer praktischen Art und Weise. Im Imaginären, in seinem Bewusstsein, wird er mehr und mehr zum disziplinierten Apparatschik, zum militanten Gefolgsmann der Partei, wie er retrospektiv gesteht. Seine Gefühle für Dorine, seine Ehefrau, hält er zeitweise für eine kleinbürgerliche Gefühlsduselei. Er »entdeckt eine marxistische Seele in sich« (Gorz 1958: 50). François Erval, ein Journalist und Verleger, soll ihm in jenen Tagen entgegnet haben: »Sie sind revolutionär fixiert« (Gorz 2006a: 63). Zwar reist Gorz nicht in die UdSSR, dafür in die Deutsche Demokratische Republik.18 Nach dem Leitbild des ›Meisters‹ ist er dabei, sich in einer prokommunistischen Haltung zu versteifen. »Ich begann«, so Gorz rückblickend, »den Mitgliedern einer Theatergruppe zu ähneln, wie Kazimierz Brandys sie in Die Verteidigung des Granada beschreibt, die wollen, dass alle
17 1952 nahm Sartre an einem in Wien stattfindenden Kongress der Weltfriedensbewegung teil, die auch als »stalinistische Internationale« bezeichnet wurde. Hier saß er mit jenen zusammen, die ihn zuvor, von Moskau aus, als »Füllfederhyäne, Menschenfeind, Sänger der Gosse, Totengräber, gekauftes Subjekt« (Beauvoir 1963: 603) bezeichnet hatten. Er galt bis 1952 als ein Feind der kommunistischen Bewegung. 18 Dass Gorz in den 1950er Jahren in die DDR reiste, berichtet Claus Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen. Gorz recherchierte hier wohl im Zuge eines mehrtägigen Aufenthalts in den Leuna-Werken von Merseburg die Funktionsweise der Planwirtschaft und interessierte sich für den Entfremdungsgrad der Arbeiter im Realsozialismus. Von Gorz’ Besuch der DDR berichtet auch Rainer Land, Gespräch mit A.H. am 01. Juni 2011 in Schmarsow.
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Regungen ihres Geistes und ihres Herzens den Anforderungen der Partei entsprechen« (Gorz 2006a: 62f.).
Die Versuchung der Kommunistischen Partei gleicht dem Aufzug des ›esprit de sérieux‹, des »Geistes der Ernsthaftigkeit« (Sartre 1943: 108).19 Verstanden werden kann er als eine seriöse Haltung, bei der man sich selbst suggeriert, »man sei der Träger oder das geheiligte Instrument eines absoluten Zwecks, der alles, was in seinem Namen getan wird, rechtfertigt« (Gorz 1964b: 209). Sartre hat diesen Geist in L’être et le néant erörtert und zuvor in La nausée gegeißelt,20 jetzt ist er ihm selbst verfallen. In Gorz’ Le traître ist er zwischen den Zeilen vernehmbar: Der Wunsch, »ein akkurater und strebsamer bürokratischer« Parteisoldat zu werden; »sich selbst aufgeben, indem man sich eingliedert«; das Verlangen, »unter dem göttlichen Schutz einer orthodoxen Ordnung zu stehen«; der Wille, dieser »Orthodoxie« zu dienen (Gorz 1958: 51f.). Gorz schwimmt im Fahrwasser des ›Meisters‹, des zeitweilig ultrabolschewistischen Sartre. Thomas Schaffroth erläutert dazu: »Gorz teilte damals noch eine der grundsätzlichen […] Ansichten des sich als radikalen Humanisten verstehenden Sartre: ›Wenn der Mensch als Projekt nicht den Kommunismus anstrebt, dann ist er ein tierisches Wesen und kaum interessanter als eine Ameise‹« (Schaffroth 2008: 14).
Das Jahr 1956. Gorz hegt große Hoffnungen im Zuge des XX. Parteitags der KPdSU. Als Nikita Chruschtschow mit seiner berühmten Rede die Entstalinisierung auf den Weg bringt, glaubt er, »dass die Intellektuellen in der kommunistischen Bewegung eine entscheidende Rolle würden spielen können« (Gorz 2006a: 62).21 Die Schüsse in Budapest, wenige Monate später, verändern alles. 22 Gorz erteilt der Versuchung, anders als Sartre, eine entschiedene Absage: »Schließlich habe ich begriffen, dass ich mich nur aus schlechten Gründen auf-
19 Der »esprit de sérieux« ist Bestandteil dessen, was Sartre unter der Kategorie »mauvaise foi« fasst. Unter »mauvaise foi« etikettiert er die Möglichkeit, dass die Freiheit sich verfehlt, indem man der Sehnsucht zu sein nachgibt. 20 Zu Deutsch Das Sein und das Nichts und Der Ekel, vgl. Sartre 1943 und Sartre 1938. 21 In einer fünfstündigen Geheimrede geißelte Nikita Chruschtschow die Verbrechen seines Vorgängers Stalin. Vor allem verurteilte er die von Stalin angeordneten »Säuberungen« innerhalb der eigenen Reihen, sprich die Liquidierung von kommunistischen Parteimitgliedern. 22 Hintergrund ist der Volksaufstand in Ungarn vom 23. Oktober bis 04. November 1956, den sowjetische Truppen nach ihrem Einmarsch gewaltsam niederschlugen.
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seiten der Kommunisten engagieren könnte; dass Intellektuelle noch für lange Zeit keine Veränderung der PCF würden anstoßen können« (Gorz 2006a: 64).23 Es ist nicht abwegig, und den Gedanken verdanke ich Arno Münster, Le traître als Analyse der paradoxen Situation von Sartres politischem Engagement im Zeitraum von 1952 bis 1956 zu verstehen (vgl. Münster 2008: 29). Freilich muss man den Text dafür gegen den Strich lesen. Gorz’ Beschreibungen, sein Oszillieren zwischen der Versuchung eines direkten Engagements in der Welt und dem Verlangen nach Rückzug auf eine gesellschaftlich isolierte Position, sind demnach ein Schwanken zwischen dem politischen Engagement Sartres für die kommunistische Sache und seinen philosophischen Konstruktionen aus L’être et le néant, die mit seiner politischen Tätigkeit schier unvereinbar sind, Stichwort: ›esprit de sérieux‹. Simone de Beauvoir erinnert sich, dass Gorz bereits im Jahr 1946 das Engagement Sartres peinlich fand, da er der Ansicht war, es stelle sich widersprüchlich zu dessen Opus auf (Beauvoir 1963: 95). BernardHenri Lévy gibt in dieser Richtung den wichtigen Hinweis, dass es sinnvoll sei, von zwei Sartres zu sprechen. Einem Sartre, jenem Autor von La nausée und L’être et le néant, der sich von dem zweiten Sartre unterscheidet, dem Kompagnon der Sowjetunion und der PCF (Lévy 2000: 438). Und es ist Gorz, der in den 1950er Jahren zwischen den beiden Sartres hin und her schwankt; der, an einer Weggabelung stehend, nicht recht weiß, welchem der beiden er folgen soll; der mal dem einen, mal dem anderen seine Ehrerbietung erweist; der tatsächlich kurz davor steht – und die obigen Ausführungen mögen dies verdeutlichen – den zweiten Sartre nachzuahmen; der sich dann aber besinnt, kehrt macht, aus dieser
23 Auch Sartre beendet, zumindest formell, seine Gefolgschaft. Im Laufe der Ereignisse in Ungarn bricht er öffentlich mit der Partei und der UdSSR. Am 09. November 1956 lässt er in L’Express verlauten: »Ich breche mit Bedauern, aber restlos, alle meine Beziehungen zu den mir befreundeten Sowjetschriftstellern ab, die das Massaker in Ungarn nicht verurteilen (oder nicht verurteilen können). Man kann keine Freundschaft mehr mit der führenden Fraktion der Sowjetbürokratie pflegen: das Grauen dominiert« (Sartre 1956: 33). Gleichwohl muss man zu bedenken geben, dass Sartres Bruch ein mehr oder weniger halbherziger war und er nach Budapest keinesfalls die Verbindung mit der Sowjetunion abbricht, sondern weiter in die UdSSR reist und auch nicht auf Sympathiebekundungen mit dem Sowjetkommunismus verzichtet. Vgl. zu dieser paradox anmutenden Haltung die pointierten Äußerungen von Lévy 2000: 419-422 sowie Sartres eigene Äußerungen in dem angeführten Interview mit L’Express. Bezüglich der Reisen in die UdSSR sowie dem Kontakt zu sowjetischen Intellektuellen und Funktionären nach 1956 vgl. auch Beauvoir 1963, insbesondere 591-604. Einen nachhaltigen Bruch wird Sartre erst mit dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei im Jahr 1968 vollziehen.
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Spur heraustritt – nicht zuletzt aufgrund der Ereignisse in Ungarn – und auf jenen anderen Sartre setzt, dessen philosophische Konstruktionen ihn überzeugen. Kaum ein Zweifel, in Le traître sind diese Bewegungen nachvollziehbar. Eine erste Fährte einer Meinungsverschiedenheit lässt sich hier herauslesen: Gorz entsagt der kommunistischen Versuchung und wird nie, im Sinne Sartres, Weggefährte und politischer Aktivist. Mit anderen Worten: Im Vordergrund stand für Gorz »nicht die politische Aktion«, wie Schaffroth erwähnt, sondern die intellektuelle Analyse, »worauf neben aller Empathie die Solidarität mit den Verdammten dieser Erde beruhen sollte« (Schaffroth 2008: 14f.). 2.
»Die Verdammten dieser Erde«
Mit dem Stichwort Die Verdammten dieser Erde (Fanon 1961) gehe ich weiter auf der Fährte der Meinungsverschiedenheiten. Paris, Dezember 1961. Das Buch Frantz Fanons erscheint, während der Autor in den USA seinem Krebsleiden erliegt. Sartre hat das Vorwort verfasst, das berühmt und zugleich berüchtigt werden wird. Der Text preist die antikolonialen Aufstände in der Dritten Welt, womit sich Sartre von der Revolution in den westlichen Metropolen verabschiedet und hoffnungsvoll den Blick auf die Südhalbkugel richtet.24 Das Geschriebene ist zudem unterfüttert von seiner Sympathie mit dem bewaffneten Kampf der algerischen ›Front de Libération Nationale‹, kurz FLN, für die Unabhängigkeit Algeriens von der Kolonialmacht Frankreich. Fanon, selbst Mitglied der FLN, entwickelt in seiner Schrift das Programm der »Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern« (Fanon 1961: 29). Es handelt sich um eine antikoloniale Revolutionstheorie, in deren Zentrum die Gewalt steht, mittels derer sich der Kolonisierte von seiner Unterjochung und Entfremdung befreien kann. Sartre teilt nicht nur die vom Autor entfaltete Vision einer revolutionären und sozialistischen Erhebung in der Dritten Welt, sondern spitzt in seinem Vorwort das Anliegen radikal zu: Es »muß getötet werden: einen Europäer erschlagen heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt zu schaf-
24 Auch Gorz sympathisierte zu Beginn der 1960er Jahre für kurze Zeit mit einer solchen Position. So bemerkt er retrospektiv im Jahr 2005: »Je fus donc tiers-mondiste ›comme tout le monde‹, à l’époque quoique peu de temps« [»Ich war also, wie viele damals, ein Anhänger der Dritte-Welt-Bewegungen, allerdings nur für eine kurze Zeit«] (Gorz 2005b: 273; Ü.d.Verf.).
152 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT fen. Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch. Der Überlebende fühlt zum erstenmal einen nationalen Boden unter seinen Füßen« (Sartre 1961: 20).25
Gorz schreckt nicht nur die Rede von der Gewalt ab, die sich selbstredend als antwortende Gegengewalt versteht. Auch das Zelebrieren des Nationalen sowie Sartres Predigt von der »Vereinigung aller Kolonisierten unter Führung der Bauernklasse« bereiten ihm Unbehagen. Dass »das stets privilegierte Stadtproletariat«, wie Sartre schreibt, »sich nach den Positionen der ländlichen Massen aus[zu]richten« habe, »dem eigentlichen Reservoir der nationalen und revolutionären Armee« (Sartre 1961: 20), hält Gorz für eine strategische Verirrung. In Fanons und Sartres Anliegen erkennt er die »Teilung der Welt in imperialistische und unterdrückte Nationen«, was »die Zweiteilung der revolutionären Bewegung« auf dem gesamten Globus zur Konsequenz habe. Dieses Programm »läuft darauf hinaus«, so Gorz, »die Chancen des Sozialismus in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern endgültig zu begraben; die Folge wäre eine Welt, in der sich die so genannten reichen Völker auf der einen Seite des Zaunes befänden und die anderen Völker auf der anderen Seite, ohne daß sich der Sozialismus auf die entwickelten Länder ausdehnen könnte, es sei denn nach einem weltweiten Konflikt« (Gorz 1966b: 156).
Und letzteres scheint Sartre im Sinn zu haben, wenn er im Guerrilla-Ton äußert: »Europa hat seine Pfoten auf unsere Erdteile gelegt, und wir müssen so lange auf sie einstechen, bis es sie zurückzieht« (Sartre 1961: 11). Dem hält Gorz entgegen: »Der Imperialismus kann in seiner Peripherie nur geschlagen werden, wenn man ihn in den Metropolen angreift« (Gorz 1966b: 174). Und in den Les Temps modernes heißt es noch deutlicher: »Der politische Hauptkampf ist die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, und diese kann durch Siege an der Peripherie nicht gewonnen werden; die ›Dritte Welt‹ ist nicht die zentrale Front« (Gorz 1963: 188). Seine Reaktion schließlich auf Sartres Mitbeschwören der einzig radikalen Klasse in Gestalt der antikolonialen Bauernschaft der Dritten Welt und der damit verbundenen Abschreibung des westlichen Proletariats, ist die Stratégie ouvrière et néocapitalisme,26 mit der sich Gorz zu den europäischen Metropolen als Ort gesellschaftlicher Veränderung bekennt.
25 Zu Sartres Engagement im Algerienkrieg und gegen den Kolonialismus sowie seiner Verbindung zu Fanon vgl. Sartre 1964. 26 Zu Deutsch Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus, vgl. Gorz 1964a.
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In einer Zeit, in der ein Großteil der Linken, einschließlich Sartre, annahm, dass die Frage der Revolution im Westen hinfällig sei, da der Kapitalismus die Arbeiterschaft vollständig integriert hätte, schwimmt Gorz gegen den Strom. Anders als Sartre richtet er den analytischen Blick gerade auf jene Situation, von der sich dieser abwendet. Er erhellt, dass im Westen die Entwicklung des Kapitalismus zur Entstehung von neuen Bedürfnissen und Ansprüchen geführt hat, die potentiell revolutionärer Art sind. Insbesondere in Stratégie ouvrière et néocapitalisme wendet sich Gorz an all jene, die in kapitalistischen Gesellschaften lebend zu dem Schluss gekommen sind oder auch nur unbestimmt fühlen, »daß der Kapitalismus heute nicht annehmbarer ist als gestern: der Kapitalismus als Typus ökonomischer und sozialer Entwicklung; als eine Lebensweise, als System von Beziehungen der Menschen untereinander, zu ihrer Arbeit, zur Natur, zu den anderen Völkern« (Gorz 1966a: 1f.).27
Und es ist dieser analytische wie kritische Blick, der ihm den Ruf eines Vordenkers der 68er-Bewegungen einbringen wird. 3.
Wider den Maoismus
Paris, Mai 1968. Die plötzlichen, und von niemandem wirklich vorhergesehenen, Erhebungen überrollen jene, die die Revolution im Westen für überholt hielten. Aber auch »Gorz war, wie alle Intellektuellen, von 1968 überrascht«, äußert Cohn-Bendit. Begeistert beobachtet er die Ereignisse. »Für ihn hat sich eine Lebensphase der Erneuerung realisiert«.28 Alle Linksintellektuellen begrüßen mit Freude die Mai-Ereignisse. Gemeinsam unterzeichnen Sartre und Gorz eine Petition, die in Le Monde erscheint und die studentischen Demonstrationen unterstützt, die aufgrund der Räumung der Sorbonne am 3. Mai losbrechen (Winock 1997: 719). Sie ist ein Ausdruck der Solidarität mit politisch aktiv gewordenen Studenten. Unter ihnen tun sich sogenannte Studentenführer hervor. In Les Temps modernes erhalten sie Raum zur Artikulation.
27 Ich zitiere hier bewusst aus dem im Jahr 1966 gehaltenen Vortrag Réforme et Révolution. In Frankreich wurde die Schrift Stratégie ouvrière et néocapitalisme unter dem Titel Réforme et Révolution im Jahr 1969 neu aufgelegt und um den besagten Vortrag erweitert, vgl. Gorz 1969b. 28 Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel.
154 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT »Führende Persönlichkeiten der Nationalen Studierendenvereinigung, der UNEF,29 (z.B. Kravetz, Peninou und Griset) schrieben für Les Temps Modernes und beteiligten sich gemeinsam mit André Gorz […] an der Ausarbeitung einer neuen linken politischen Theorie« (Hirsh 1981: 143; Ü.d.Verf.).30
Die theoretische Ausarbeitung und Zusammenarbeit wird bald von einem maoistischen Ton gestört, der bei den Redaktionssitzungen der bekannten Zeitschrift Einzug hält. Mehr und mehr verkehrt der Studentenführer Benny Lévy, der damals noch unter dem Pseudonym Pierre Victor figuriert und als Anführer der maoistischen Gruppe ›La gauche prolétarienne‹ gilt, in der Nähe Sartres. Sartre ist von dem jungen Mann, seiner Radikalität und Andersartigkeit durch und durch angetan. Er wird Pierre Victor zu seinem persönlichen Sekretär machen, ihn davon überzeugen, sich künftig Benny Lévy zu nennen, in ihm die Personifizierung des ›Intellektuellen neuen Typs‹31 sehen und trotz Argwohns der ›Familie‹32 gegenüber dieser Beziehung, vor allem von Simone de Beauvoir, nicht von seinem neuen intellektuellen Begleiter abrücken. Victor alias Benny Lévy wird Sartre den Maoismus näherbringen, ihn für die ›Gauche prolétarienne‹ gewinnen, ihn überreden, als Chefredakteur und Herausgeber von La Cause du peuple, dem publizistischen Organ der proletarischen Linken, aufzutreten und die letzten Projekte mit dem indessen erblindeten Philosophen gemeinsam angehen. Jene, wie Ely Ben-Gal,33 die die beiden erlebt haben, charakterisieren »Lévy als ruhelosen Vulkan, dessen Ansprüche Sartre so sehr gefielen; vielleicht fühlte er sich von ihnen an die Ruhelosigkeit mancher eigener Lebensphasen erinnert« (zit. n. Baier 1993: 82). Und Bernard-Henri Lévy äußert über die Anziehungskraft von 29 UNEF ist die Abkürzung für »Union nationale des étudiants de France«. 30 Im Original: »Leaders of the national student union, the UNEF, (e.g., Kravetz, Peninou, and Griset) wrote for Les Temps Modernes and participated with André Gorz […] in working out a new left political theory.« 31 Sartre definiert den »neuen Intellektuellen« als Bestandteil einer »Gemeinschaft von Leuten, die etwas wollen. Und diese Leute sind in gewisser Hinsicht gleich, weil das, was der Intellektuelle hier und da will, dasselbe ist, was auch die Masse will« (Sartre 1969a: 82). 32 Gemeinhin wird unter »Familie« der engste Mitarbeiterstab der Les Temps modernes verstanden. Annie Cohen-Solal äußert bezüglich des Ausdrucks: »[D]ie ›Familie‹: Für die einen die ›Sartresche Garde‹, für die anderen ›die Kleinfürsten des Regimes‹. Fast alles ehemalige Schüler, bedingungslose Anhänger, Freunde: die Vertrauten« (CohenSolal 1985: 441). Neben Sartre und Beauvoir lassen sich als Mitglieder u.a. André Gorz, Claude Lanzmann, Jacques-Laurent Bost, Jean Pouillon, Francis Jeanson, JeanBertrand Pontalis und Bernard Pingaud nennen. 33 Langjähriger israelischer Gesprächspartner von Sartre.
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Pierre Victor alias Benny Lévy auf Sartre: Vom Jüngeren der beiden ging »eine spröde Kraft, ein Feuer, eine unerklärliche Ausstrahlung aus […], er verfügte über eine absolute, keinen Widerspruch duldende Autorität« (Lévy 2000: 595). Möglicherweise war es dieser autoritäre Gestus, der André Gorz an diesem studentischen Rädelsführer missfiel. Die Hypothese sei erlaubt. Er bemerkt in einer Retrospektive über den Mai 68: »Wir haben VLR (Vive la révolution) sofort den Vorzug gegeben vor der Gauche prolétarienne, Tiennot Grumbach und seiner militanten Kommune von Mantes vor Benny Lévy und der Cause du peuple« (Gorz 2006a: 67).34
Ferner gab es einen heftigen Streit zwischen Gorz und Lévy bei einer Redaktionssitzung der Les Temps modernes. »An diesem Tag«, erinnert sich Letztgenannter, »bin ich wirklich explodiert […]. Ich habe auch irgend jemanden als vergreisten Grammatiker bezeichnet« (zit. n. Cohen-Solal 1985: 765). Und es ist wahrscheinlich, dass diese Beleidigung Gorz galt. Tatsache ist jedenfalls: Gorz folgt nicht dem von Sartre nach dem Mai 1968 eingeschlagenen maoistischen Kurs, der sich in der intellektuellen Beziehung zu Lévy, in Sympathiebekundungen für ›La gauche prolétarienne‹ und im Auftritt als Chefredakteur der La Cause du peuple im Jahr 1970 manifestiert. Und ob mit der Person Benny Lévy direkt verbunden oder nicht: Gorz lehnt die »religiös-dogmatische Haltung« der »Maoisten« ab, kann sie »nicht leiden«, wie er bemerkt (Gorz 1983b: 169). Die Ablehnung der ›religiös-dogmatischen Haltung‹ der Maoisten kann zunächst als Replik auf die maoistische Antwort auf die grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis angesehen werden. Die Problematik ›Theorie und Praxis‹ wird im maoistischen Diskurs als Dualismus ›Theorie oder Praxis‹ begriffen. Und die ›Gauche prolétarienne‹ setzt auf die Praxis, auf Gewalt, Spontaneität, Aktionismus. Für Gorz ist das zu wenig. Zu glauben, ›die Theorie ist die Praxis‹ – wie eine gängige Formel unter den Maoisten zu jener Zeit lautet – und ohne tief greifende theoretische Analysen auskommen zu können, die dem Aktionismus erst Sinn und Ziel verleihen würden, hält Gorz für ei-
34 Tiennot Grumbach war Mitbegründer der VLR und später ein auf Arbeitsrecht spezialisierter Rechtsanwalt. Die VLR war eine aus dem Mai 1968 hervorgegangene undogmatische und »anti-prochinesische«, wie Gorz selbst sagt, Gruppierung, die sich durch fantasiereichen Aktivismus auszeichnete, vgl. Gorz 2006a: 91. Diese Gruppe versuchte, den auf den Mai-Barrikaden entstandenen neuen Freiheitsgeist in der Praxis, im Leben, zu realisieren.
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ne besonders ausgeprägte Form theoretischer Naivität. Zudem ist darin ein Antiintellektualismus eingelassen, den er missbilligt.35 Darüber hinaus ist seine ablehnende Einstellung als eine Antwort auf die Frage nach der theoretischen Analyse und der daraus resultierenden Strategie der Maoisten zu verstehen. Dass jene in ihrer selbst gewählten Theoriearmut glaubten, man müsse lediglich die Strategie der von Mao für die chinesischen Bauern erfundenen Landnahmen betreiben, um den Kapitalismus zu überwinden, hält Gorz für einen infantilen Trugschluss. Die chinesische Situation auf industrialisierte und urbanisierte Gesellschaften des Westens zu übertragen, entbehre jeglicher Realität. Ferner bedeutet die Ablehnung der ›religiös-dogmatischen Haltung‹, »ihren primitivistischen Kult eines mythischen Proletariats« (Gorz 2005a: 13) abzulehnen, den die Maoisten in Gorz’ Augen betreiben. Eine enge klassenspezifische und -politische Perspektive ist ihm nicht erst mit der Ausarbeitung von Adieux au prolétariat zuwider. Einen solchen Blickwinkel hat er sich im Grunde nie zu eigen gemacht, sondern stets eine eher anthropologische Perspektive eingenommen, die die Frage nach der menschlichen Freiheit fokussiert. Ohne Zweifel glaubte auch er für eine gewisse Zeit, dem Proletariat komme bei der Befreiung der Menschen eine bedeutende Rolle zu. Doch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft homogenisierend nur zwischen zwei Klassen zu unterscheiden, nämlich hier entfremdetes Proletariat, dort feiste Kapitalisten, wie es Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre lautstark die Maoisten und auch Sartre taten, war ihm stets ein Akt von Verkürzung und Vulgarität. Hinzu kommt, dass es für Gorz einer Fetischisierung gleichkommt, nach den Mai-Ereignissen im Industrieproletariat die einzig revolutionäre Kraft zu erkennen. Dieses Anbeten des Proletariats gleich einer ›heiligen Kuh‹ sei der Agitationsduktus der ›Gauche prolétarienne‹ und ihr Propagandablatt, La Cause du peuple, sei davon überfrachtet. Ganz und gar diesem Fetisch verfallen, seien Sartre und seine neuen Freunde lediglich dabei, verstaubte Requisiten der Arbeiterbewegung aufzupolieren. Schließlich ist die Ablehnung der ›religiös-dogmatischen Haltung‹ als eine grundsätzliche Divergenz über die Frage der Gewalt, und darin eingelassen, des
35 Diesen und die drei folgenden Aspekte der Ablehnung des Maoismus entnehme ich Gorz’ verstreuten Bemerkungen zu dieser politischen Strömung. Für Bemerkungen zum Maoismus vgl. insb. Gorz 1975a: 110; DGB 1983: 122 und 124; Gorz 1990: 8 und 10 sowie 2005a: 13. Als radikale Absage an den Maoismus kann auch Adieux au prolétariat gelesen werden, vgl. Gorz 1980.
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Stils und des Tons, aufzufassen.36 Die Äußerung Cohn-Bendits, »Sartre mit der ›Gauche prolétarienne‹, das war Gorz ein Grauen, das war für ihn absurd«,37 gewinnt erst in diesem Zusammenhang volle Geltung. So äußert Sartre: »Als die Gewalt scheinbar zu Ende ging, gab es Gruppen, die versucht haben, sie bei sich zu bewahren und bei den Massen wiederzubeleben. Die Maoisten sind darin die ersten gewesen: auf Anhieb übernahmen sie die Formel von Mao Tse-tung ›Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen‹« (Sartre 1972a: 450).
Was mag Gorz gedacht haben als Sartre, der auf die Frage, ob er akzeptiere, dass lateinamerikanische »Revolutionäre« zwei deutsche Diplomaten »entführten«, wobei einer der beiden »getötet« wurde, antwortet: »Ja, das akzeptiere ich voll und ganz!«? Was ist von einem Sartre zu halten, der gutheißt, dass Arbeiter »ihren Chef« einsperrten und ihm untersagten, »pinkeln zu gehen«, ja, ihn zwangen, »auf den Teppich zu machen« (Sartre 1970: 440f.)? Ganz abgesehen von dem Ton, der in La Cause du peuple herrscht, deren Chefredakteur Sartre mit der Mai-Ausgabe 1970 ist, und deren ›Kriegsartikel‹ er mit den Worten »ihre brutalen, ungeschliffenen, schlichten, aber wahren Artikel« (Sartre 1972a: 452) preist und in denen man lesen kann, »Bercot, salaud, le peuple aura ta peau (Bercot, du Hund, das Volk wird dich erledigen)« (zit. n. Sartre 1972b: 465). Gorz lehnte einen solchen menschenverachtenden Duktus ab.38 36 Gorz hat Gewalt nicht rigoros abgelehnt. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang insbesondere Gorz’ Kritik an der deutschen Friedensbewegung, die er mittels der kernigen Formel »Lieber rot als tot« vortrug, vgl. dazu das SPIEGEL-Gespräch »Respekt für ein solches Verhalten?«, angegeben unter DER SPIEGEL 1982. Auch radikalisierte er für kurze Zeit sein Denken, als er das Scheitern der Mai-Ereignisse 1968 resümierte. Im leninistischen Ton ließ er in Les Temps modernes verlauten: »In der Tat wäre ein erfolgreicher Abschluss des revolutionären Prozesses nur möglich gewesen, wenn die Arbeiterklasse unter Führung einer Avantgarde-Partei« aufgetreten wäre, die »eine Beschleunigung und Radikalisierung erzwungen hätte« (Gorz 1968b: 84). Mit der Gewalt liebäugelte er auch, als er sich zum provozierenden Aufruf Détruire l’université entschloss, vgl. Gorz 1970. Aufgrund des Artikels traten zwei Mitglieder aus dem Redaktionskomitee von Les Temps modernes aus. Diesbezüglich bemerkt Sartre gegenüber Michel Contat: »1970 traten Pingaud und Pontalis – die gewissermaßen die Rechte in Les Temps Modernes repräsentierten – aus der Redaktion aus, weil sie nicht einverstanden waren mit der Veröffentlichung eines Artikels von Gorz, der sich dafür aussprach, die Universität zu liquidieren« (Sartre 1975: 267). 37 Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel. 38 Dass Gorz einen solchen Duktus ablehnte, ist in einem persönlichen Schreiben angezeigt. Bezogen wird sich hier auf Robert Kurz, der die Beschimpfung ›kleines linkes
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Zwischenbemerkung Das sind die Meinungsverschiedenheiten. Das sind jene wesentlichen Zwiespälte, die sich zwischen Sartre und Gorz mit den Jahren auftun. Erhellt sich hier »ein Loslösungsprozeß von Sartre« (DGB 1983: 51), wie Cohn-Bendit sagt? Eine »immer größer werdende Autonomie«, wie Münster es nennt, die zum Schritt aus dem »Schatten Sartres« und schließlich zu einem »philosophisch-politischen Kurswechsel« führt, der »an der Weigerung Gorz’« festzumachen ist, »auf den promaoistischen Kurs von Sartre […] einzuschwenken« (Münster 2008: 22f.)? Man kann das so sehen. Vor allem vom maoistischen Sartre distanziert sich Gorz dergestalt, dass die Begriffe ›Abschied‹ oder ›Loslösungsprozeß‹ mit gutem Grund Anwendung finden können. Doch liegen die Dinge nicht ganz so einfach. So könnte man aus Sartres maoistischer Phase einige Szenen anführen, in denen man einem Miteinander der beiden begegnet, wo diese Begriffe der Trennung inadäquat erscheinen: Gorz und Sartre im Kontext der Les Temps modernes zum Beispiel. Die Ablehnung der »religiös-dogmatischen Haltung« der »Maoisten«, so Gorz, »brachte ich auch in den ›Temps Modernes‹ zum Ausdruck, ohne daß er [Sartre] mich daran zu hindern versuchte« (Gorz 1983b: 169). Oder: »Damals war das Verhältnis mit Sartre manchmal gespannt, doch hat er nie versucht, mich daran zu hindern, die ›Anti-Prochinesen‹ in den ›Temps Modernes‹ zu Wort kommen zu lassen« (Gorz 1990: 10). Sowie Sartre ohne maoistischen Ton in einem Interview über und auf dem Kurs von Gorz: »In erster Linie muß der Intellektuelle in Verbindung mit der ganzen Gruppe, die er vertritt, den Begriff Revolution zu überdenken suchen, wie Gorz das tut […]. Unter dieser Perspektive sind Arbeiten wie die von Gorz unerlässlich: denn es gibt auch eine Mystifizierung der revolutionären Welt« (Sartre 1968: 169f.).
Aber es gibt in der Tat eine Szene, die die Kohärenz der Rede vom Abschied vollends in Zweifel zieht.
Arschloch‹ äußerte: »Die widerwärtigen Seiten von Robert Kurz [gemeint ist ›Das kleine linke Arschloch‹] habe ich gelesen und gleich weggeworfen. Seine Beschimpfungen sind im Grunde Selbstverherrlichungen« (Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 02. August 2005).
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4.
Hysterie um Sartres letzte Gedanken
Frühjahr 1980, wenige Wochen vor Sartres Tod. Im Le Nouvel Observateur erscheinen unter dem Titel L’Espoir maintenant39 die letzten Gedanken des existentialistischen Philosophen. »Wir schätzen uns glücklich«, so der Chef des linken Wochenblatts, Jean Daniel, »in drei Folgen den jüngsten der großen Texte Jean-Paul Sartres zu veröffentlichen« (zit. n. Baier 1993: 75). Bei dem Text handelt es sich um Auszüge eines 1975 begonnenen Dialogs zwischen Benny Lévy und Sartre. Die Gesprächspartner reden ›Über den Menschen‹, über ›Das Prinzip der Linken‹ und über ›Die Einheit der Aufständischen‹. All dies wohlbekannte Themen des Sartreschen Denkens. Doch Sartres Repliken sind nicht die vertrauten. Im Gegenteil. Sie überraschen, verwundern und lösen, vor allem innerhalb der Sartre-Familie, Verärgerung und Wut aus. »Ich habe nie Angst gehabt«, gesteht er gegenüber Lévy und dementiert damit einen zentralen Begriff seines Denkens. Es sei ein Schlüsselbegriff »der Philosophie zwischen 1930 und 1940« gewesen und nur deshalb habe er ihm einen wichtigen Stellenwert beigemessen. »Angst« sei ein Ausdruck gewesen, den man zu jener Zeit »dauernd benutzte«, der aber in ihm »keine Entsprechung« fand. Oder: »Ich habe von Hoffnungslosigkeit gesprochen, aber das ist nicht ernst zu nehmen; ich habe davon gesprochen, weil man davon sprach, weil es Mode war« (Sartre 1980: 8f.). »›Was für eine Scheiße!‹«, soll Simone de Beauvoir nach der Lektüre des Textes ausgerufen haben (Baier 1993: 77). Sartres Äußerungen veranlassen Mitglieder der ›Familie‹ dazu, an Sartres Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Die Aufregung ist groß. Der Verdacht wird forciert, dass der erblindete und betagte ›Meister‹ vom ›Sekretär‹ Victor alias Lévy manipuliert, umgedreht worden sei. Oliver Todd und Simone de Beauvoir sprechen von »Greisenverführung« (Cohen-Solal 1985: 747). Der Kern der »Familie« interveniert beim Nouvel observateur, um eine Veröffentlichung zu verhindern, oder wenigstens das Zensieren einiger Stellen zu erwirken, doch vergeblich. Kein Text Sartres, so Lothar Baier, hat in Frankreich »einen solchen Wirbel ausgelöst wie diese Veröffentlichung« (Baier 1993: 75). Bernard-Henri Lévy bringt den Grund für diesen Wirbel auf den Punkt, wenn er über den Text äußert: Sartre bläst »zum Sturmangriff auf die Hauptquartiere der Temps modernes; er setzt das ganze, seit Jahrzehnten akkumulierte Sartresche Wissen in Brand; er nimmt eine Serie einschneidender Revisionen an seinem eigenen Werk vor« (Lévy 2000: 598). 39 Im Deutschen unter dem Titel Brüderlichkeit und Gewalt veröffentlicht, vgl. Sartre 1980.
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Und genau in dem Moment, wo der Wirbel beginnt und kurz darauf in Hysterie umschlägt, wo ein Aufschrei durch die Reihen der Sartrianer geht und die Mitglieder der ›Familie‹, aus Angst vor der Zerstörung des Vermächtnisses, aus Sartre eine altersdemente Marionette in den Händen Benny Lévys machen wollen, ist es Gorz, der innerhalb des Sartre-Clans aus der Reihe tanzt. Jean Daniel, der mit Gorz den Le Nouvel Observateur leitet, erinnert sich: »Ich habe mich also gefragt, was ich tun sollte, und am nächsten Tag habe ich Horst40 [alias Gorz] den Text gezeigt, der eine ganz andere Meinung dazu hatte: ›Sie sind alle sehr aufgeregt‹ hat er mir erklärt, ›sie spielen die Tempelwächter, und ich, der es auch sein müßte, bin es nicht: Dieser Text stört mich nicht‹« (zit. n. Cohen-Solal 1985: 768).
Gorz unterstützt die Veröffentlichung des brisanten Austausches des einstigen Maoisten mit dem »Papst des Existentialismus«41 in der großen linken Wochenzeitung, deren stellvertretender Chefredakteur er ist. Auch befürwortet er Sartres Rede von der Hoffnung, die vielen Sartrianern als jenes ›Dynamit‹ gilt, das droht, das gesamte philosophische Gebäude des ›Meisters‹ zum Einsturz zu bringen. Für Gorz hingegen ist die Hoffnung zentraler Bestandteil der eigenen Überlegungen. Aber darüber hinaus gibt es einen noch gewichtigeren Punkt. Im Gegensatz zur aufgebrachten Sartre-Garde gesteht Gorz seinem Lehrer zu, dass er noch einmal von Neuem zu denken beginnt, und sei dies im Alter von 75 Jahren und auf Kosten seines eigenen Werkes. Anders als all jene, die Sartre von Lévy manipuliert, zur Lossagung vom eigenen Denken gezwungen und so seiner Freiheit beraubt sehen, scheint es, als erkenne Gorz gerade in Sartres Losreißen von den eigenen, aber inzwischen geronnenen, Überlegungen jenes Freiheitsdenken wieder, auf dem der Sartresche Existentialismus fußt. Ist dieser Philosophie nicht die Untreue sich selbst gegenüber, der Verrat an ›gehätschelten‹ Überzeugungen und Selbstbildnissen als Imperativ eingeschrieben? Teilen Sartre und Gorz nicht die Überzeugung, dass der Mensch »›zur Freiheit verdammt‹« ist (Gorz 1988: 249), weil die menschliche Realität Mangel an Sein, das heißt, Nicht-Identität in einem fundamentalen Sinne ist? Resultiert aus dieser Unmöglichkeit, mit sich selbst übereinzustimmen, nicht die Fähigkeit des Individuums, Subjekt zu sein? Beschwören die beiden ein solches Subjekt nicht als widerspenstig, aufsässig und rebellisch, als eine Figur, die vor den angedachten und vorgegebenen sozialen Rollen sowie Identitäten desertiert? Haben aus dieser Perspektive nicht allein 40 Gérard Horst ist der bürgerliche Name von André Gorz. 41 Den Ausdruck »Papst des Existentialismus« entlehne ich dem Artikel Der Meister von St. Germain. Ich existiere, also küsse ich, vgl. DER SPIEGEL 1949: 20.
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diejenigen Individuen den Titel ›Subjekt‹ zu tragen verdient, die den objektivierenden Blicken der Anderen trotzen, die sich als immun gegenüber der Versuchung erweisen, zu Sein, und sich kopfüber in das Abenteuer der Halt- und Identitätslosigkeit stürzen? Beginnt dieses Abenteuer nicht zuallererst mit jenem reflexiven Prozess, der verlangt, gegen sich selbst zu denken, um die Geronnenheit der eigenen Ideen zu verflüssigen? Wenn diese Philosophie nicht belanglose Eloge an die Revolte und den Verrat sein will, sondern eine Sozialontologie – und für Gorz ist sie das –, dann hat sie auch für ihren Schöpfer Sartre zu gelten und sei es drum, dass er sich als Subjekt zeitigt, indem er gegen die eigene philosophische Schöpfung rebelliert. Und diesen existentialistischen Impuls hat Gorz als überzeugter Existentialist anerkannt.42 5.
Resümee und Ausblick
Ist ein Abschied, eine Lossagung von Sartre erfolgt? Eingangs hatte ich behauptet, dass die Beziehung zwischen Gorz und seinem Lehrer eine gewisse Konstanz aufweist. Diese Konstanz verstehe ich als eine Orientierung, die aus den beiden philosophischen Hauptwerken Sartres resultiert, L’être et le néant und Critique de la raison dialectique. Beide Schriften kreieren einen Denkhorizont, in dem Gorz ganz eigene Problemstellungen erwägt und behandelt. In diesem Sinne sollte man bei der hier verhandelten Frage nach dem Abschied von Sartre Gorz beim Wort nehmen: »Brüche mit Sartre gab es für mich nie« (Gorz 1983b: 168). Dennoch: Rekapituliert man die vorgestellten Ausführungen, so lassen sich – wenngleich keine Brüche, so doch – drei Dispute beobachten, die einer Frage nach dem Abschied Berechtigung verleihen. Hier zeigt sich jedoch, dass in der Beziehung zwischen Sartre und Gorz Meinungsverschiedenheiten und Dispute nicht erst in den 1970er Jahren oder im Zuge der Niederschrift von Adieux au prolétariat zutage treten, sondern sich bereits früh als Begleiter dieser Verbindung zeitigen. Sartre trat in den 1950er Jahren als Weggefährte und Kompagnon der Kommunistischen Partei auf, wohingegen Gorz der ›Versuchung der KP‹ letztlich widerstand. In diesem Widerstehen sind verschiedene Motive verklammert. Besonders erwähnenswert ist dabei, dass gerade Sartres philosophische Konstrukti42 In diesem Zusammenhang ist eine Passage von Gorz über Sartre zu erwähnen, die dieser einige Jahre vor dem Ereignis formulierte. Gorz paraphrasiert hier Sartre mit den Worten: »er sei bereit, sich selbst aufzulösen, wenn sich die Institutionalität und die Verknöcherung seiner zu bemächtigen begännen«. Diese Worte entstammen dem Epilog der deutschen Ausgabe von Écologie et politique, vgl. Gorz 1975a: 109-113, hier 109.
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onen aus L’être et le néant einen Beweggrund für Gorz darstellen, sich der Versuchung zu verweigern. Als Sartre in den 1960er Jahren den antikolonialistischen Kampf der Algerier unterstützt, was er im Vorwort zu Les damnés de la terre bekräftigt, und damit einhergehend das westliche Proletariat abschreibt, folgt ihm Gorz erneut nicht. Gegen seinen Lehrer verweist er mit Stratégie ouvrière et néocapitalisme auf das revolutionäre Potential in den westlichen Industriegesellschaften. Von einem weiteren Disput lässt sich sprechen, als Sartre nach dem Mai 1968 einen maoistischen Kurs einschlägt, von dem sich Gorz entschieden distanziert. Wenngleich diese Dispute als drei Schübe eines Loslösungsprozesses verstanden werden können, so ist diese Perspektive anhand des Kontextes um die Veröffentlichung von L’Espoir maintenant – dem Austausch zwischen Sartre und Benny Lévy im Nouvel Observateur – bestreitbar. Hier zeigt sich, dass die Rede vom Abschied, vom ›Loslösungsprozess‹ oder vom ›philosophischpolitischen Kurswechsel‹ nicht wirklich sinnvoll ist. Gorz’ Haltung im Zuge der besagten Veröffentlichung kann nämlich als Bekenntnis zum Sartreschen Existentialismus gedeutet werden. Meine Darstellung zeigt, dass die eingangs formulierte These,43 lediglich für Aspekte der philosophischen Bezugnahme von Gorz auf Sartre Geltung beanspruchen kann, nicht jedoch in punkto des Aktionismus und Engagements Sartres, welches von politischen und theoretischen Zuspitzungen begleitet wird, die Gorz nicht teilte. Die Rede von einem ›philosophisch-politischen Kurswechsel‹ ist daher problematisch. Entgegen einer solchen Einschätzung schlage ich vor, die politische und philosophische Dimension auseinanderzuhalten. Dies sei abschließend noch einmal ausblickshaft pointiert. Die Rede vom »philosophisch-politischen Kurswechsel«, der »an der Weigerung Gorz’« festgemacht wird, »auf den promaoistischen Kurs von Sartre […] einzuschwenken« (Münster 2008: 22f.), erscheint hinsichtlich der politischen Dimension adäquat. Gorz distanziert sich entschieden vom maoistischen Kurs Sartres. Als Dokument dieser Distanzierung kann auch Adieux au prolétariat verstanden werden. »Abschied vom Proletariat«, so Gorz, »war in keiner Weise eine Kritik des Kommunismus, ganz im Gegenteil. Ich griff die Maoisten an, ihren primitivistischen Kult eines mythischen Proletariats« (Gorz 2005a: 13). Die Schrift ist, so verstanden, eine Kampfansage an Sartre und den Maoismus, »der die Religion des Proletariats sowie die heiligen Schriften Maos mit fanatischem Sektierertum gegen alle sogenannten kleinbürgerlichen Selbstverwirklichungsbestrebungen ausspielte« (DGB 1983: 122). 43 Gemeint ist, dass Sartre Bezugszentrum und Hauptquelle für das Arrangement des Gorz’schen Denkens ist.
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Bezüglich der philosophischen Dimension aber ist Adieux au prolétariat ganz und gar ein Text, der im Geiste von L’être et le néant und, vor allem, Critique de la raison dialectique verfasst ist. »Der ›Abschied‹«, so sein Autor, »kann als eine Anwendung der ›Kritik der dialektischen Vernunft‹ gedeutet werden. Ich glaube, das Buch hätte ihm [Sartre] gut gefallen« (Gorz 1983b: 169). Die Critique de la raison dialectique, deren zentrale Begriffspaare Dialektik/Antidialektik, Praxis/Praxisträgheit, Gruppen/Serien, Souveränität/Alterität sind, kreiert den Denkhorizont von Adieux au prolétariat. Sartres Überlegungen zur Souveränität als Praxis des abstrakten Individuums werden hier in eine zeitdiagnostische politische Strategie überführt, und zwar als eine Strategie gegen die in Critique de la raison dialectique erhellte Problematik der seriellen Alterität. In dieser Hinsicht hat Kari Palonen bemerkt, dass Adieux au prolétariat »im Geiste der Critique« verfasst ist und Gorz, »gerade wie Sartre, Souveränität und Entfremdung als Gegenbegriffe zueinander« stellt (Palonen 1992: 165). Die Entfremdung – hier als Alterität verstanden – des Arbeiters zeigt Gorz existential-philosophisch und nicht nur in der gewohnten Weise, wie bei Marx, an. Der Arbeiter musste sich als Individuum verlieren, um als Klasse aufzutreten, dadurch aber »wird der Proletarier durch das Proletariat entfremdet« (Gorz 1980: 29). Im Untergang des Proletariats erkennt Gorz eine neue Chance, die existentielle Souveränität des Individuums wiederherzustellen. Statt des von der Ideologie der Arbeiterklasse beschworenen produktiven Gesamtarbeiters sei nämlich eine NichtKlasse von Nicht-Arbeitern entstanden, die in der gegenwärtigen Gesellschaft eine Nicht-Gesellschaft ankündigt. »Die Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter umfaßt die Gesamtheit der aus der Produktion durch den Prozeß der Arbeitsvernichtung Ausgestoßenen […], die Gesamtheit der Überzähligen der gesellschaftlichen Produktion« (Gorz 1980: 63).
Und gerade in ihrem Ausgebürgert-Sein aus der Gesellschaft erkennt Gorz – im Unterschied zur traditionellen Arbeiterklasse – eine »befreite Subjektivität« (Gorz 1980: 67), an die eine politische Strategie gegen serielle Alterität anknüpfen kann. Eine solche Strategie besteht nach Gorz darin, »neben und über dem Apparate-Komplex größere Autonomieräume zu erobern, die der gesellschaftlichen Logik entzogen sind, sich ihr widersetzen und eine ziemlich uneingeschränkte Entfaltung der individuellen Existenz erlauben« (Gorz 1980: 67).
Die in dieser Strategie angekündigte Nicht-Gesellschaft, die dem Primat der individuellen Freiheit Rechnung trägt, ist zementiert durch die Souveränitätskon-
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zeption Sartres aus Critique de la raison dialectique, die durchschimmert, wenn es in Adieux au prolétariat programmatisch heißt: »Unter Nicht-Gesellschaft verstehe ich freilich nicht die Abwesenheit aller sozialen Beziehungen, jeder sozialen Ordnung, sondern eine der ökonomischen Rationalität und den äußeren Zwängen entzogene Sphäre individueller Souveränität auf Kosten der gesellschaftlichen Sphäre« (Gorz 1980: 69).
Nicht zuletzt anhand dieses Ausblicks möchte ich als Antwort auf die Frage nach dem Abschied von Sartre festhalten: Gorz hat die politischen Eskapaden und Zuspitzungen Sartres nie wirklich mitgemacht, der Philosophie Sartres jedoch stets die Treue gehalten. Oder in Gorz’ Worten: »Ich habe mit ihm [Sartre] immer bedingungslos zusammengehalten, aber nicht immer seine Meinung geteilt. […] Seinerseits hielt er mich für einen der wenigen, die seine philosophischen Arbeiten sozusagen von innen her verstanden und durch Anwendungen auf neue Gebiete weiterentwickelt hatten« (Gorz 1990: 10).
II.
D AS V ERHÄLTNIS
ZU
M ARX
UND ZUM
M ARXISMUS
Als weiterer bedeutender Referenzautor, mit dem Gorz sich grundlegend in seinen Schriften auseinandersetzt, ist Karl Marx zu nennen. Aufgrund der Auseinandersetzung und der punktuellen Übernahme von dessen Motiven, verortet man Gorz Zwischen Sartre und Marx (Bohlender 2013) oder man weist ihm weniger reflektiert das Etikett Marxist zu. Nicht zuletzt, weil er »marxistisches Vokabular, [...] wie selbstverständlich gebraucht« (Becker 2009: 15), wurde und wird Gorz vor allem im deutschsprachigen Raum gemeinhin als ein solcher verstanden. Zumindest bis er mit »seinem Ketzer-Buch ›Abschied vom Proletariat‹ […] überraschend aus der ›Sankt-Marx‹-Kirche« austrat (DER SPIEGEL 1981: 222). Nach Axel Honneth geschah die Befreiung vom marxistischen Deutungsmuster, indem »André Gorz im Laufe seiner langjährigen Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk […] schrittweise den geschichtsphilosophischen Rahmen der Marxschen Theorie verlassen, die Arbeiterexklusivitätsthese preisgeben und am Ende ein erweitertes Konzept der menschlichen Identitätsvoraussetzungen aufsuchen« musste (Honneth 1989: 101).
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Und dennoch blieb er für viele hierzulande, auch nach Adieux au prolétariat (1980) und bis in seine letzten Schriften hinein, in einem »orthodox marxistisch wirkenden« Deutungsmuster gefangen (Brumlik 2009: 39). Hatte Gorz überhaupt jemals ein solches Deutungsmuster besessen? War er je in den geschichtsphilosophischen Rahmen der Marx’schen Theorie eingetreten, bevor er ihn verlassen musste? Hatte er nicht bereits mit seinen allerersten Schriften deutlich darauf verwiesen, dass er Marxens Geschichtsphilosophie als Eschatologie begreift und mit äußerstem Argwohn begegnet? Und warum sollte Gorz »ein erweitertes Konzept der menschlichen Identitätsvoraussetzungen aufsuchen« (Honneth), wo er doch menschliche Identitätskonzepte als nicht in Betracht kommend zurückwies? Ist seinem Denken nicht kategorial eingeschrieben, dass menschliche Identität, wenn überhaupt, nur als Paradox zu verstehen ist, nämlich als Unmöglichkeit von Identität? Und sah Gorz den problematischen Punkt nicht weniger darin, dass der Mensch das Einssein mit sich selbst niemals einzuholen vermag, sondern vielmehr im Mythos von Identität, an dessen Verbreitung er auch Marx beteiligt sah? Machte er nicht gerade Marx zum Vorwurf, den Mythos der Identität als Zusammenfallen der individuellen Existenz mit dem gesellschaftlichen Sein verbreitet zu haben? Und hielt er den Marxisten nicht entgegen, dass in diesem Gedanken nicht die Aufhebung der Entfremdung, sondern die Wurzel für totalitäre Kollektivismen veranschlagt ist? Es wird nicht versucht, diese Fragen zu ergründen, sie sind rhetorischer Natur. Was sie andeuten sollen, sind Missverständnisse und Fehlschlüsse, die auf eine einseitig marxistische Lesart der Gorz’schen Texte zurückzuführen sind. Eine Lesart, die Gorz stets als Theoretiker Marxscher Tradition oder als Abweichler dieser Tradition identifiziert und kritisiert. Doch das ist er – so meine These – weit weniger, als man immer behauptet hat. Gorz ist in erster Linie, wie auch im Selbstverständnis, von jeher ein existential-philosophischer Kritiker der »klassische[n] Konzeption des Marxismus« (Gorz 1976: 116). Ferner ist er kein marxistischer Theoretiker des Kapitalismus, sondern ein existentialistischer seiner Überwindung und genau hierfür bedient er sich Marx’ Schriften, wie ich im Folgenden zeigen möchte. Vorangestellt werden im ersten Punkt einige Bemerkungen zur Dogmatisierung des Marxismus. Dabei skizziere ich eine Linie von Engels über Lenin bis hin zu Stalin und zur parteioffiziellen Marxinterpretation im Frankreich der 1950er Jahre (1). Zweitens zeige ich auf, dass Gorz diesen Marxismus ablehnt und kritisiert (2). Diese Kritik reißt nach dem Ende der stalinistischen Ära nicht ab, sondern lässt sich weiterverfolgen, wie drittens argumentiert werden wird, wenn man Gorz’ Position zum Populärwerden der struktural-szientistischen Behandlung des Marx’schen Denkens im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre
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berücksichtigt (3). Danach wird in einem vierten Abschnitt die positive Bezugnahme zu Marx und zum Marxismus erörtert, indem jenes zentrale Motiv der Marx’schen Theorie herausgestellt wird, das ihn inspiriert und das er weiterzudenken versucht (4). Abschließend rekapituliere ich vor dem Hintergrund der vier skizzierten Punkte das Verhältnis von Gorz zu Marx und zum Marxismus (5). Die Übernahme von Marx’schen Motiven ist, wie ich zeigen möchte, äußerst selektiv und beschränkt sich auf Gedankengänge, denen Marx explizit die Thematik der Freiheit eingeschrieben hat und die aufgrund dieser Beschaffenheit mit existential-philosophischem Denken zu harmonisieren sind. Meine kritische Überlegung zielt auf die Einordnung von Gorz als einen Marxisten, der mit Adieux au prolétariat dem Marxismus den Rücken kehrt. Gorz derart zu verhandeln heißt, sein Verhältnis zu Marx wie zum Marxismus nicht unwesentlich zu verfehlen. Dabei bleibt nämlich die von Beginn an bestehende kritische Bezugnahme unterbelichtet. Gorz hat stets die Unzulänglichkeiten und die Angreifbarkeit der Marx’schen Theorie betont und seit den 1950er Jahren fortführend zentrale Argumentationswege des Marxismus kritisiert. Die Überlegung lässt sich dahingehend zuspitzen, dass ich Adieux au prolétariat für kein Phänomen eines epistemischen Bruches halte, sondern für eines der Kontinuität, insofern Gorz auch in dieser Schrift bemüht ist, dem Marxismus die existentialistische Arznei einzuimpfen. 1.
Skizze zur Dogmatisierungsgeschichte des Marxismus
Politisch auf die Sowjetunion und theoretisch auf den so genannten »Diamat« festgelegt,44 war dem französischen Marxismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts »Sklerose« attestiert worden (Sartre 1960a: 27; vgl. auch Gorz 1955: 588). André Akoun hat diesen Verlust der »Elastizität« (Gorz 1980: 34) für die 1950er Jahre in Frankreich so beschrieben: »Über den Marxismus gibt es wenig zu sagen. Er setzte sich politisch durch, aber philosophisch existiert er kaum. Sein Drama war, daß er eine Lehre geworden war –, die große und unbesiegbare Lehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin’, wie die rituelle Formel in der kommunistischen Amtssprache lautete. Er stellte sich als Sammlung von griffigen Formeln dar, als Handbuch für Zitate zu allen Fragen, als System, das jede neue Frage und
44 »Diamat« ist die Abkürzung für dialektischen Materialismus. Instruktiv ist hierzu der Abschnitt »Was ist Diamat?« in Kallscheuer 1986: 37-40. Für die einschlägigen Quellen des dialektischen Materialismus vgl. Fetscher 1967a: 163-184.
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jede Forschung überflüssig machte, da es die definitive Antwort war« (zit. n. Kallscheuer 1986: 197).
Dieser Marxismus, der auf alle Fragen eine reflexartige Antwort weiß, hat eine berühmte Vorgeschichte. Denn: Die Sklerose – um dieses Bild weiter zu bemühen – ist keine eigenständige Krankheit, sondern Konsequenz einer Grunderkrankung. Und die Grunderkrankung im Falle des Marxismus sind Tendenzen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt dahin drängen, die Marxsche Theorie in die geschlossene Weltanschauung des dialektischen Materialismus zu transformieren.45 Wie diese Transformation vonstattenging, ist hinreichend bekannt,46 warum ich mich hier auf eine einfache philosophiegeschichtliche Skizze beschränke, die lediglich die wichtigsten Wegmarken nennt. Als »eigentliche[r] ›Klassiker‹ des ›Diamat‹« gilt Friedrich Engels (Fetscher 1967a: 163). Der Freund und intellektuelle Partner von Karl Marx verfasste eine Vielzahl popularisierender Schriften, die sich um Übersetzung, Verständlichkeit und Verbreitung der Marx’schen Theorie bemühten.47 Vor allem Engels’ »Anti-
45 Es ist ein vielschichtiger Kontext politischer und gesellschaftlicher Prozesse, in dem sich die Transformation zur Weltanschauung vollzieht: Die Gründung der Zweiten Internationalen, die sich 1889, am 100. Jahrestag der Französischen Revolution, in Paris konstituiert; der Revisionismusstreit; die Abspaltung eines linken Flügels von der deutschen Sozialdemokratie; der Erste Weltkrieg; der Sieg der Bolschewiki in Russland; die Revolution vom November 1918, in der die Möglichkeit zur Errichtung einer Diktatur des Proletariats zum Greifen nahe ist; das Scheitern dieses Projektes; die Gründung der so genannten »Komintern«; der Tod Lenins und der siegreiche Machtkampf Stalins; der Faschismus; schließlich der Zweite Weltkrieg: all dies Ereignisse, die, graduell verschieden und mit unterschiedlichen Auswirkungen, die Transformation der Marx’schen Theorie zur Weltanschauung prägen. Für einen informierten und immer noch instruktiven Blick in diesen Kontext politischer und gesellschaftlicher Prozesse vgl. Abendroth 1965, insb. 63-190. 46 Der Transformationsprozess der Marx’schen Theorie hin zur geschlossenen Weltanschauung ist detailliert dargestellt in Marcuse 1957; Fetscher 1957 sowie 1967b. Für eine knappere, aber nicht weniger instruktive Darstellung vgl. Negt 1969. Eine Darstellung aus französischer Perspektive bietet Lefèbvre 1956. 47 Der Terminus »Marxsche Theorie« sowie die folgenden Bemerkungen verwischen die intellektuellen Leistungen von Friedrich Engels, der an der Erarbeitung dieser Theorie wesentlich beteiligt war. Die intensive Zusammenarbeit von Marx und Engels ist in einer Reihe gemeinsam verfasster Texte dokumentiert. Marx selbst äußerte über die gemeinsame Arbeit: »ich erwähne Engels, weil wir beide nach einem gemeinsamen Plane und nach vorheriger Verabredung arbeiten« (Marx 1860: 472). Indes konkretisiert Engels die gemeinsame Arbeit mit den Worten: »Infolge der Teilung der Arbeit,
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Dühring«48 markierte so etwas wie das Populär-Werden der Marx’schen Theorie. Das Buch machte Marx in »polemischer Form« (Engels 1887: 649) einem breiten Publikum bekannt. Ferner zeichneten sich im »Anti-Dühring« bereits die Konturen des Altersprojektes von Engels konkret ab: Die intensive Beschäftigung mit den Themen Dialektik und Natur.49 Dort wo man im »Anti-Dühring« auf diese Themen stößt, wird man gemahnt, dass das Leben »die Daseinsweise der Eiweißkörper« ist und »daß die Erzeugnisse des menschlichen Hirns, die in letzter Instanz ja auch Naturprodukte sind, dem übrigen Naturzusammenhang nicht widersprechen, sondern entsprechen« (Engels 1878: 97 und 41). Nicht zuletzt aufgrund der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des »Anti-Dühring«, die hier nur angedeutet werden kann, verbreitet sich Marx’ Gesellschaftstheorie in Form einer Gesellschaft und Natur umfassenden Weltanschauung. Weitere wichtige Etappen bei dieser Verbreitung markieren die »MarxOrthodoxie Karl Kautskys« (Negt 1969: 7), die auch als »Kautskysche[r] Naturalismus« (Fetscher 1967a: 163) bezeichnet wurde,50 sowie die Interpretation der Marx’schen Theorie durch Lenin. Mit Letztgenanntem verlagert sich das sozialistisch-marxistische »Gravitationszentrum nach Osten« (Jay 1973: 21).
die zwischen Marx und mir bestand, fiel es mir zu, unsere Ansichten in der periodischen Presse, also namentlich im Kampf mit gegnerischen Ansichten, zu vertreten, damit Marx für die Ausarbeitung seines großen Hauptwerks Zeit behielt. Ich kam dadurch in die Lage, unsre Anschauungsweise meist in polemischer Form, im Gegensatz zu anderen Anschauungsweisen, darzustellen« (Engels 1887: 649). 48 Unter »Anti-Dühring« firmiert der wohl bekannteste Text von Friedrich Engels, Herrn Eugen Dürings Umwälzung der Wissenschaft (1878). Engels unterstreicht hier, wie auch später in Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (Engels 1880) den Sozialismus als Wissenschaft, was es ihm ermöglicht, Abstand zu einem utopischen Sozialismus zu nehmen und ihm die ›richtigen‹ Positionen eines wissenschaftlichen Sozialismus entgegenzuhalten. Insbesondere die in der deutschen Sozialdemokratie im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend Anhänger findenden Gedanken des Berliner Privatdozenten Eugen Dühring stellt Engels im ›Anti-Dühring‹ auf diese Art ins Abseits. 49 Zentrales Dokument dieses Altersprojektes von Engels ist die fragmentarische Nachlass-Sammlung Dialektik der Natur, vgl. Engels 1883. 50 Karl Kautsky, einflussreicher sozialdemokratischer Politiker, galt nach dem Tod von Friedrich Engels als wichtigster Verwalter der Lehre. Sein Name steht zudem, wie der Georgi W. Plechanows, für die Konstitution und Etablierung der so genannten »Marxistischen Orthodoxie«. Die Bezeichnung Orthodoxie verweist darauf, dass Kautsky »an den Buchstaben der Marxschen Lehre gebunden blieb« (Fetscher 1967b: 64) und darauf setzte, dass die von Marx analysierte Entwicklung mit Naturnotwendigkeit eintritt.
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Lenin, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Wortführer der russischen sozialdemokratischen Intelligenz, bekannte sich offen zum Marxismus als Weltanschauung: »Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung« (Lenin 1913: 3f.). Das Adeln der Lehre von Marx als »allmächtig« überblendet, dass es vor allem Engels’ Ausführungen zur Naturphilosophie sind, die in Lenins Weltanschauungsmarxismus eingehen. Engels hatte bekanntlich die materialistische Naturanschauung deklariert als eine »einfache Auffassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat« (Engels 1883: 469).51 An diesen resolut materialistischen Duktus schloss Lenin an. Beim späten Engels und seiner Beschäftigung mit der Dialektik der Natur (Engels 1883) fand er die Grundbausteine der Weltanschauung des dialektischen bzw. philosophischen Materialismus. 52 Hervorstechendes Merkmal dieser Lehre ist ein philosophisch absoluter Begriff von Materie: »Denn die einzige Eigenschaft der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren« (Lenin 1908: 260).
Von diesem Materie-Begriff,53 wonach alle »Bewegung der Vorstellungen, Wahrnehmungen usw.«, der »Bewegung der Materie außer mir« entspricht (Lenin 1908: 267), rührt die namhaft gewordene »Widerspiegelungstheorie«
51 Dass Engels’ Beisteuer zur materialistischen Anschauung im Marxismus sich nicht auf diese Formel reduziert, bedarf wohl keiner detaillierten Ausführung. Bemerkenswerter ist die Fetischisierung dieses Ausdrucks. In der weiteren Entwicklung zum Weltanschauungsmarxismus erhielten die zitierten Worte Engels’ nämlich die Weihen einer ewigen marxistischen Wahrheit. 52 Die hier von mir vertretene Argumentation eines geradlinigen Übergangs von Engels zu Lenin ist nicht unumstritten. So wendet beispielsweise Henri Lefèbvre gegen einen solchen Argumentationsweg ein: »Im Gegensatz zu der selbst unter Marxisten verbreiteten Meinung begnügte sich Lenin nicht damit, die Ideen von Engels wiederaufzugreifen und noch ›monolithischer‹ zu machen« (Lefèbvre 1956: 100). 53 Wichtig ist für die folgenden Ausführungen, dass die Bedeutung des Materie-Begriffs mit dem der Natur im dialektischen Materialismus identisch ist. Vgl. dazu die Einträge des in der DDR publizierten Nachschlagewerks Philosophisches Wörterbuch, wo es heißt: »Die Natur sind die unabhängig und außerhalb vom Bewußtsein existierenden Dinge und Erscheinungen in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Formen zum Unterschied vom Bewußtsein. In diesem Sinne ist die Natur identisch mit dem philosophischen Begriff der Materie« (Klaus/Buhr 1964: 839).
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her,54 womit Lenin einen bereits bei Marx angelegten und vom späten Engels weiterverfolgten Gedanken auf den Begriff bringt. Mit der Transformation der Marx’schen Theorie zum dialektischen Materialismus, sprich zum Weltanschauungsmarxismus Lenins, war das Ende der Dogmatisierung allerdings noch nicht erreicht. Vielmehr nahm sie nach Lenins Tod – zwar nicht mehr philosophisch-theoretisch, dafür aber politisch – Fahrt auf. In der weiteren Entwicklung des sowjetischen Marxismus wurde Lenin zu einem »marxistischen Säulenheiligen« (Heinrich 2004: 24) rationalisiert und sein dialektischer Materialismus zur staatstragenden Doktrin des Marxismus-Leninismus erhoben. Diese Entwicklung vollzog sich als radikaler Selektionsprozess, in dessen Fortschreiten alle möglichen alternativen Interpretationen der Marx’schen Theorie nicht nur theoretisch, sondern zunehmend politisch – und in den 1930er Jahren gar leiblich – eliminiert wurden.55 Für diese Vollendung der Dogmatisierung steht der Name Stalin. Unter dem späteren ›Generalissimus‹ der Sowjetunion, der die politische und theoretische Nachfolge Lenins antrat, verdichtete sich der Marxismus zum »Kurzen Lehrgang«56 und zur »Legitimationswissenschaft« (Negt 1969) der Partei.57 Und über die moskauhörigen Parteien, wie der PCF,
54 Bei Lenin heißt es zum Begriff »Widerspiegelung«: »Das gesellschaftliche Bewußtsein widerspiegelt das gesellschaftliche Sein – darin besteht die Lehre von Marx. Die Widerspiegelung kann eine annähernd richtige Kopie des Widergespiegelten sein, aber es ist unsinnig, hier von Identität zu sprechen. Das Bewußtsein widerspiegelt überhaupt das Sein – das ist eine allgemeine These des gesamten Materialismus. Ihren direkten und untrennbaren Zusammenhang mit der These des historischen Materialismus, daß das gesellschaftliche Bewußtsein das gesellschaftliche Sein widerspiegelt, nicht zu sehen, ist unmöglich« (Lenin 1908: 326). 55 Marcus Hawel bemerkt dazu: »1931 fiel der sowjetische ›Staatsphilosoph‹ Deborin bei Stalin in Ungnade. Anders als Deborin, der den stalinistischen Säuberungen nicht zum Opfer fiel, nur sein Amt als Chefredakteur der Zeitschrift ›Unter dem Banner des Marxismus‹ verlor, wurde Bucharin, Revolutionär der ersten Stunde, im dritten Moskauer Schauprozess 1938 zum Tode verurteilt und erschossen« (Hawel 2012: 31; Fn. 76). Für den Prozessbericht der Verhandlungen gegen Nikolai Bucharin vgl. Bucharin 1938. 56 Die Bezeichnung »Kurzer Lehrgang« bezieht sich auf das 1938 veröffentlichte Buch Geschichte der KPdSU (B) – Kurzer Lehrgang, das bis in die 1950er Jahre, nicht nur in der Sowjetunion, zum Studium des Marxismus-Leninismus verwendet wurde, vgl. KPdSU 1938. 57 Mit dem Begriff »Legitimationswissenschaft« verweist Oskar Negt auf die pseudomarxistische Rechtfertigung der Parteidiktatur in der Sowjetunion. In diese Richtung argumentiert auch Herbert Marcuse in der Schrift Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, indem er dem Sowjetmarxismus »den Charakter einer ›Verhaltens-
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gelangte dieser autoritäre Marxismus, der sich philosophisch reduziert »auf die Anerkennung der praktischen und materiellen Welt ›wie sie ist‹, uns vorliegt ohne Zutat und Interpretation« (Lefèbvre 1940: 9), zurück nach Westeuropa und somit auch nach Frankreich. 2.
»Wenn das Marxismus ist, dann bin ich kein Marxist«
Für den Großteil dessen, was in dem hier interessierenden Denkraum als Marxismus firmiert,58 gilt für Gorz das, was Karl Marx gegenüber seinem Schwiegersohn Paul Lafarque geäußert haben soll, als dieser ihn über den französischen Marxismus unterrichtete: »Wenn das Marxismus ist, dann bin ich kein Marxist« (Engels 1882: 388; Fn. 7). Die »französischen Marxisten, die sich passiv den sowjetischen ›Stalinisten‹ anschlossen« (Lefèbvre 1940: 9), fördern die »Symptome der Sklerose des Marxismus« (Gorz 1976: 117) augenscheinlich zu Tage: »Orthodoxie, Dogmatismus und Religiosität« (Gorz 1980: 16).59 »Von einer
wissenschaft‹« zuschreibt (Marcuse 1957: 32). So heißt es über den Sowjetmarxismus: »Die meisten seiner theoretischen Äußerungen haben eine pragmatische, instrumentalistische Absicht; sie dienen dazu, bestimmte Aktionen und Einstellungen zu erläutern, zu rechtfertigen, zu befördern und zu lenken, welche die eigentlichen ›Gegebenheiten‹ für diese Äußerungen sind. Diese Aktionen und Einstellungen (…) werden im Sinne des überkommenden Corpus des ›Marxismus-Leninismus‹, das die sowjetische Führung auf die sich ändernde geschichtliche Situation anwendet, rationalisiert und gerechtfertigt« (Marcuse 1957: 32). Für eine Einordnung und Interpretation von Marcuses Schrift Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus vgl. Buchstein 2006. 58 Eine informierte Studie zum marxistischen Denkraum im Nachkriegs-Frankreich bietet Schoch 1980. Immer noch lehrreich ist dazu auch Fetscher 1954. 59 Derlei Kirchenmetaphern sind stete Begleiter von Gorz’ Auseinandersetzung mit dem parteioffiziellen Marxismus. Mit der Verwendung dieser Metaphern unterstreicht er in typischer Manier des »westlichen Marxismus« (Anderson 1976; vgl. auch MerleauPonty 1955: 39-72), wie ihn beispielsweise Sartre in Matérialisme et révolution im Jahr 1946 vertreten hat, das Verschwinden jeglicher Interpretationsfreiheit innerhalb des Marxismus(-Leninismus). Bei Sartre heißt es: »Ich habe Bekehrungen zum Materialismus erlebt: man tritt zu ihm über wie zu einer Religion« (Sartre 1946b: 216). Interessant ist, dass man aus Perspektive des Marxismus-Leninismus dem Existentialismus den Religionsvorwurf ebenfalls erteilte, da dieser eine quasi-religiöse Beziehung zur Freiheit unterhalte. So heißt es in einem Lehrbuch zur marxistisch-leninistischen Philosophie: Der Existentialismus »verbindet die Freiheit mit dem Wunder […] und mit dem Glauben, der, wie es im Evangelium heißt, Berge versetzen kann« (Akad. Wiss. UdSSR 1971: 575).
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Handvoll von Germanisten abgesehen«, so Gorz (1983b: 167), »wie Henri Lefèbvre«, hielten sich die Marxisten in Frankreich an die Lehre der Partei; »an die universalistischen Handbücher des sowjetischen Marxismus-Leninismus, in denen die Dialektik in vier, der Materialismus in drei abgeschlossenen und jeder Geschichte enthobenen Gesetzen als griffige, grob vereinfachende Massenpädagogik aufbereitet war, oder aber sie verwarfen von einer spezifisch französischen, szientifisch-positivistischen Lesart des dialektischen Materialismus her die Marxschen Frühschriften insgesamt als ›vormarxistisch‹ und ›vorwissenschaftlich‹« (Schoch 1980: 156).
All jenes, was vor und jenseits des materialistisch gehärteten Marxismus gedacht wurde, »landete auf dem ›Kehrichthaufen der Geschichte‹« (Schoch 1980: 154). Leidenschaftlich praktiziert von den marxistischen Organisationen, allen voran der PCF, markiert dieses Sektierertum bis in die Mitte der 1950er Jahre den Stillstand der marxistischen Debatte in Frankreich. In ihr dominieren autoritäres und totalitäres Gebaren, das der unwiderlegbaren Parteilinie der KPdSU und ihrem Führer Ehrdarbietung erweist.60 Maurice Thorez, Generalsekretär und legendärer Parteiführer der PCF, erklärt mit Eifer: »Stalinisten […] ist für uns eine Ehrenbezeichnung, und wir strengen uns an, sie voll und ganz zu verdienen« (zit. n. Schoch 1980: 143). Derlei Beweihräuchern fällt zusammen mit dem Ausrufen der »Zwei-Lager-Theorie« im Jahr 1947, dem Gegenstück zur Truman-Doktrin.61 Von nun an ist die Welt für die Mehrheit der Marxisten in zwei antagonistische Lager getrennt, ein imperialistisch-antisozialistisches und ein antiimperialistisch-sozialistisches. Und es wird zur Pflicht eines ›ordentlichen‹ Marxisten, ob nun in Ost oder West, den amerikanischen Imperialismus im Namen der Sowjetunion zu bekämpfen. In der Folge beginnen die französischen Marxisten sich in der verbalen Auseinandersetzung geradezu zu überschlagen:
60 Henri Lefèbvre bemerkt dazu: »Stalin wurde nicht nur als größter Denker und Philosoph unserer Epoche bejubelt, sondern auch als einziger: die Koryphäe in der Wissenschaft, im Denken und in der Philosophie. Es blieb nur noch übrig, Stalin zu kommentieren, Stückchen für Stückchen die unerschöpflichen Reichtümer auszulegen, die noch im kleinsten seiner Sätze steckten« (zit. n. Schoch 1980: 145). 61 Die »Zwei-Lager-Theorie« wurde durch Andrej A. Shdanow auf einem Treffen der kommunistischen Parteien – u.a. aus der UdSSR, Frankreich und Italien – am 22. September 1947 in Polen ausgerufen. In seiner Rede verurteilte Shdanow, der unter der Regentschaft Stalins ein bedeutender sowjetischer Parteitheoretiker war, die Politik der USA überaus heftig, vgl. Shdanow 1947.
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»Thorez beschimpfte sämtliche nichtkommunistische Parteien von den Republikanern bis zu den Sozialisten als ›US-Handlanger‹, ›Handelsreisende in Corned beef und Kaugummi‹ und ähnliches mehr, die Gaullisten gar als ›Neofaschisten‹« (Schoch 1980: 138).
Selbst das unmittelbare Umfeld von Gorz ist in den 1950er Jahren vor der totalitären marxistischen Manier nicht gefeit. Mittels der Beleidigungen »Idealist« und »Antikommunist« wird vom ›Leder gezogen‹.62 »Eitelkeit, Rechthaberei und Herrschsucht sind leider nicht Dummköpfen vorbehalten. Den Ausbruch von furioser Feindschaft zwischen Sartre einerseits, Merlau-Ponty, Camus und Claude Lefort andererseits habe ich seinerzeit miterlebt«.63
Und obgleich Gorz diesen Briefzeilen noch nachschiebt, dass diese Feindschaft »nicht rein politische Gründe« hatte, so verweisen seine Worte auf den spezifischen Kontext der 1950er Jahre in Frankreich, wo ein Teil der Intelligenz bereit ist, namentlich Sartre, sich vollends zur proletarischen Religion zu bekennen und ihr langjährige Verbindungen und Freundschaften zu opfern.64 Man beachte aber die spezifische Situation. Erst der Hintergrund des Kalten Krieges, der sich durch den Koreakrieg und die McCarthy-Ära zuspitzt, macht es 62 So bemerkt beispielsweise Simone de Beauvoir (1963: 252) zur ideologischen und politischen Differenz zwischen Sartre und Camus in den 1950er Jahren harsch: »Camus war Idealist, Moralist, Antikommunist«. 63 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 20. bis 23. November 2004. 64 Maurice Merleau-Ponty schwor im Jahr 1953 dem geschichtsphilosophischen und politischen Totalitarismus ab, was zum Bruch mit Sartre führte. Sartres Bekenntnisse zum Kommunismus ab dem Jahr 1952 bezeichnete Merleau-Ponty berühmt als »ultrabolschewistisch«, vgl. Merleau-Ponty 1955: 115-244. Der Streit zwischen Albert Camus und Sartre nahm seinen Anfang in der Diskussion um die Existenz von sowjetischen Lagern. Seinen Höhepunkt fand er im Jahr 1952, als Camus’ Schrift Der Mensch in der Revolte (1951) in den Les Temps modernes durch Francis Jeanson als antikommunistisches Buch verrissen wird. Zum Bruch zwischen Camus und Sartre vgl. Camus 1952 und Sartre 1952a sowie insb. die ostentativen Ausführungen von Annie Cohen-Solal 1985: 513-520. Der für die Les Temps modernes schreibende Claude Lefort und die von ihm und Cornelius Castoriadis Ende der 1940er Jahre gegründete Gruppe Socialisme ou barbarie formulierte eine der frühesten und radikalsten Kritiken am Stalinismus, vgl. zu dieser Gruppe Gabler 2009. Sartre reagierte auf diese Kritik am Stalinismus aus seinem Umfeld mit der berühmten Antwort an Claude Lefort. Hier heißt es an Lefort gerichtet: »Sie, der Sie sich zum Feind des ›Stalinismus‹ erklären […]. Was Sie prinzipiell ablehnen, akzeptiere ich unbekümmert« (Sartre 1953: 151). Zu den Differenzen zwischen Lefort und Sartre vgl. auch Lefort 1953.
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nachvollziehbarer, warum sich ein Philosoph der Freiheit, und mit ihm ein Teil der Intelligenz, motiviert fühlt, ein Entweder-Oder zu setzen, will heißen, eine gerade Frontlinie zu ziehen, um aus dieser Stellung apodiktische Urteile im Namen des Kommunismus zu fällen. Ich hatte bereits gezeigt, dass sich auch Gorz in dieser Situation schwertut. Aber der Situationismus ist eine Sache, die Texte eine andere. Und Gorz kennt die Texte. Des Deutschen mächtig, besitzt er im spezifisch französischmarxistischen Denkraum, wo man Hegel und den Hegelianismus ablehnt 65 und »von Marx nur Das Kapital und die kürzeren Schriften wie den Bürgerkrieg in Frankreich« kennt (Gorz 1983b: 167), einen entscheidenden Vorteil. Noch während der Abfassung von Le traître (1958) studiert er »die Jugendschriften von Marx und den Stalin von Isaac Deutscher« (Gorz 2006a: 62). In die gleiche Zeit fällt seine Lektüre der Schrift La pensée de Karl Marx (1956) des Jesuitenpaters Jean-Yves Calvez (vgl. Gorz 2006a: 62). Hans Leo Krämer bemerkt dazu: »Gorz hat Marx u.a. kennengelernt über Calvez, den berühmten französischen Jesuiten. Calvez hat Marx mittels eines starken humanistischen Untertons vermittelt. Und das hat Gorz sehr gut gefallen«.66 Nicht zuletzt aufgrund dieser Lektüren reift bei
65 Für die Verbreitung von Hegel in Frankreich sind die von 1933-1939 an der École pratique des hautes études gehaltenen Vorlesungen des Russen Alexandre Kojève von entscheidender Bedeutung. Teile der Vorlesungen sind festgehalten in Kojève 1975. »Kojèves Hegel ist Linkshegelianer«, bemerkt Iring Fetscher, »ja, manchmal meint man sogar, er habe bereits seinen Schüler Karl Marx gekannt und dessen Ansichten übernommen. Aber diese ›linke‹ Deutung der Phänomenologie des Geistes hat keineswegs die Zustimmung der ›orthodoxen‹ französischen Marxisten gefunden, die Kojève vielmehr als Existentialisten und ›Faschisten‹ bekämpften, weil er mit Hegel die Rolle des Todesbewußtseins und die Bedeutung des Prestigekampfes für die Vermenschlichung des Menschen bejaht hat und hervorgehoben hat« (Fetscher 1975: 8). 66 Krämer, Gespräch mit A.H. am 25. Januar 2014 in Prag. Calvez beteiligte sich als katholischer Intellektueller mit seiner Marx-Schrift an der in den Nachkriegsjahren in Frankreich einsetzenden regen Diskussion über die Jugendschriften von Marx, die außerhalb der PCF geführt wurde. Erwähnung findet Calvez’ Beteiligung an dieser Diskussion in Schoch 1980: 155; Fn. 90 sowie Winock 1997: 551. Die von Schoch paraphrasierte Äußerung Lefèbvres, dass »die bemerkenswertesten Arbeiten jener Zeit über den Marxismus aus der Feder von Jesuiten« stammten (Schoch 1980: 163), steht vermutlich auch im Zusammenhang mit Calvez; zumal, da Lefèbvre die Marx-Schrift des Jesuitenpaters an anderer Stelle explizit erwähnt, vgl. Lefèbvre 1958: 12; Fn. 1 und 44; Fn. 12.
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ihm die Erkenntnis, dass im französischen Marxismus, allen voran in der PCF, Marx »zum bloßen Schüler von Engels« (Gorz 1976: 117) reduziert wird.67 Der Materialismus ist für Gorz nur jener vermeintlich feste Boden, von dem aus man glaubt, das Marxsche Werk zerstückeln zu können, indem man es in die mit Hegelianismus und Humanismus verunreinigten Jugendschriften und die wissenschaftlich ›gereiften‹ Schriften trennt; bloß jener scheinbar stabile Stand, von dem man Entfremdung als anti-marxistischen Begriff verbannt68 und beim Jugendwerk von Marx aufschreit: »Geistige Nachtarbeit!«;69 schließlich für Gorz lediglich jene antihumanistische »Art, die menschliche Bedeutungen für das illusorische Nichts zu halten, das der Mensch auf der Oberfläche einer nicht näher bezeichneten Materie schillern lässt« (Gorz 1958: 172). In einem Gespräch der späteren Jahre mit Finn Bowring hatte Gorz Gelegenheit, sein andauerndes Unbehagen hinsichtlich des Marxismus und seine Auffassung des dialektischen Materialismus zu resümieren: »Der dialektische Materialismus sollte anfänglich als Beweis dafür dienen, wie diejenige Macht, derer die Menschen durch das Kapital enteignet sind, zwangsläufig als ihnen gehörig anerkannt und als ihre eigene wiederangeeignet wird. Diese Beweisführung, und ich bin froh das sagen zu können, erwies sich als undurchführbar. Die Idee einer feststehenden Bestimmung der Geschichte ist mir verhasst. Sie führt zur fundamentalistischen Religiosität des Fanatikers« (Gorz 2000: 189f.; Ü.d.Verf.).70 67 Otto Kallscheuer gibt den Hinweis, dass »der philosophische Kurswert des späten Engels« bei Gorz »in etwa umgekehrt proportional zu dem des frühen Marx« rangiert. (Kallscheuer, Gespräch mit A.H. am 04. Juli 2011 in Bonn). 68 Bei Gorz heißt es: »Entfremdung wurde als anti-marxistischer Begriff angesehen und, dem stalinistischen Katechismus zufolge, konnte Entfremdung auch in einer sozialistischen Gesellschaft überhaupt nicht existieren«. Dieser Aussage über den französischen Marxismus lässt Gorz eine interessante Bemerkung folgen: »Das ist heute noch die offizielle Doktrin, sowohl in der UdSSR wie in China, wo kürzlich zwei Redakteure des Zentralorgans der KP entlassen worden sind, weil sie den Artikel eines Altmarxisten veröffentlichten, in dem das Weiterbestehen der Entfremdung im Sozialismus mit Marx-Zitaten belegt ist« (Gorz 1983b: 167). 69 Die Formulierung stammt von Henri Lefèbvre. Bei ihm heißt es: »Ein offizieller Marxist begnügte sich damit, bei der Lektüre eben dieses Buches und bei den Begriffen der Entfremdung […] auszurufen: ›Geistige Nachtarbeit! ‹« (Lefèbvre 1940: 9). 70 Im Original: »Initially, dialectical materialism was supposed to demonstrate how the powers people are dispossessed of by Capital would inevitably be recognized and reappropriated by them as their own. This demonstration, I am glad to say, proved impossible to carry through. I hate the idea that there is a pre-established meaning to history. It leads to the fundamentalist religiosity of the fanatic«.
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Fragt man sich, ob derlei emphatische Reden von Fundamentalismus, Religiosität und Fanatismus bei Gorz nur übliches und unsystematisches Gerede in Manier des westlichen Marxismus ist, so kann man an zahlreiche Hinweise anknüpfen, die das Gegenteil darlegen. Der theoretische Hintergrund für seine Kritik ist nämlich ein erkenntnistheoretischer. Und Gorz’ beständiger Gewährsmann ist dabei Edmund Husserl.71 »Was dieser [Husserl] über die Naturwissenschaften sagt, gilt a fortiori auch […] für den dialektischen Materialismus: die Wissenschaften sind unfähig, ihre eigene Begründung zu liefern« (Gorz 1966c: 218). Ganz im Geiste der Krisis-Schrift72 des berühmten Begründers der Phänomenologie erkennt Gorz, dass sich die Marxisten mittels der »ehernen Gesetze des ›Diamat‹« (Gorz 2000: 190; Ü.d.Verf.) 73 in eine reibungslos funktionierende und verselbstständigte Gedankenlosigkeit manövriert haben, die es ihnen unmöglich macht, über sich selbst Auskunft zu geben. »Sie arbeiten mit oft sehr brauchbaren operativen Begriffen, deren Wahrheit und Bedeutung sie jedoch nicht begründen können. Was einst zur Bildung dieser Begriffe geführt hat, ist oft nicht mehr gegenwärtig, die Denkinstrumente […] haben die Situation ihrer
71 Der Rekurs auf Husserl und seine Schrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936) ist mit einem wiederkehrenden Denkmanöver verbunden. Im biographischen Kapitel war die Rede von einem innerlichen Detektor, den sich Gorz zugelegt hat. Ein Detektor, der ihm signalisiert, wenn ein Denken allzu sehr dem Szientismus anheimfällt. Und just in dem Moment, wo dieser Detektor anspringt, also dann, wenn ein Denken dazu neigt, sich in den Dingen zu verlieren, wenn alles Lebendige droht, in »symbolisch-mathematischen Theorien« (Husserl 1936: 53), in den Bewegungen der Dialektik, in abstrakten Subjekten, in Strukturen oder in Systemen ertränkt zu werden, erinnert Gorz an Husserl und mit diesem daran, dass jedes Denken, und sei es noch so formalisiert, sich einer lebensweltlichen Intention, einem irreduziblen Rest, letztlich dem Subjekt verdankt. Vgl. dazu stichprobenhaft in unterschiedlichen Werketappen Gorz 1955: 52; 1964a: 144; 1988: 126f. und 2003: 109-119. 72 Husserls Krisis-Schrift kann als Versuch verstanden werden, dem »Objektivismus und Naturalismus die leistende Subjektivität zurückzugeben« (Ströker 2012: XVIII). Die Krisis der europäischen Wissenschaften hatte Husserl bekanntlich als »Verlust« der »Lebensbedeutsamkeit« »der Wissenschaften« identifiziert (Husserl 1936: 5). Mit dem erfolgreichen Durchsetzen des objektivistischen Wissenschaftsparadigmas, das sich als genau aufeinander abgestimmte und reibungslos funktionierende Gedankenlosigkeit verselbstständige, schwinde die Lebensbedeutsamkeit der Wissenschaften. Sie seien mehr und mehr »dem menschlichen Dasein« entrückt (Husserl 1936: 5). Vgl. dazu insb. den §2 in Husserl 1936: 5-7 sowie Zahavi 2003: 131-139. 73 Im Original: »iron laws of ›diamat‹«.
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Entstehung überlebt; […] sie [sind] längst zu nicht mehr erklärbaren Denkschemata erstarrt« (Gorz 1964b: 206).
Gorz zufolge verlassen die Marxisten den Boden der erlebten Erfahrung und erhöhen sich zum »objektiven Weltauge«,74 wenn sie die materialistische Weltauffassung mit Engels definieren als »die Auffassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat« (Engels 1883: 469) und zugleich behaupten, die Natur so, wie sie ist, betrachten zu können. Sie schalten und walten gerade so, »als ob sie die Realität durch den Prozeß des Erkennens nicht affizier[en]« (Gorz 1964b: 206). Wollten sich die Marxisten in der von ihnen ausgegebenen materialistischen Konstellation selbst verorten, müssten sie der Hybris anheimfallen und behaupten, die Natur spreche allein durch sie hindurch. Entsprechend heißt es im Text Sartre und der Marxismus, unter der Überschrift »Dialektik und Natur«, dass »der Marxismus nicht in der Lage ist, die Marxisten zu erklären. Das bedeutet: Es gibt Marxisten, aber sie sind unfähig, über sich selbst Aufschluß zu geben« (Gorz 1966c: 218). In Lenins »Widerspiegelungstheorie« sieht Gorz dieses Problem fortgeführt. »Die Vertreter der Naturdialektik glauben, diese Schwierigkeit überwinden zu können, indem sie dem Menschen einfach die besondere Fähigkeit zuschreiben, den vollständigen Sinn des Naturgeschehens zu erkennen und ihm dennoch immanent zu bleiben. Aber dieses metaphysische Postulat – das man aus den Religionen kennt, die dem Menschen die Fähigkeit zuschreiben, Gott und seine Ziele (manchmal als unerforschlichen Ratschluß) zu erkennen – macht die wahre Erkenntnis von diesem Akt des Zuschreibens und von dem Glauben an diese Fähigkeit abhängig« (Gorz 1966c: 219).
Ferner lässt sich im Sinne Gorz’ hinterfragen, wie Lenins Bewusstsein, dass ja auch nur eine Widerspiegelung des Seins, bestenfalls »eine annähernd richtige Kopie des Widergespiegelten«, aber niemals identisch mit diesem sein kann (Lenin 1908: 326), die entschiedene Erkenntnis der Widerspiegelung erheischen konnte? Hier wird nicht in Rechnung gestellt, dass Lenin ja selbst, und sei es als 74 Die Formulierung »objektives Weltauge« entstammt einer berühmten Fußnote von Sartre, wo dieser eine ganz ähnliche Argumentation wie Gorz bezüglich der Kritik des Marxismus entfaltet, vgl. Sartre 1960a: 29-31; Fn. 18, hier 29. Auffällig ist bei der besagten Fußnote, dass Sartre die Worte von Engels über die Auffassung der Natur irrtümlich Marx in die Schuhe schiebt. Mit Otto Kallscheuer kann an dieser Stelle bemerkt werden, dass »Gorz bei seiner Kritik des dialektischen Marxismus weniger vorschnell und präziser vorgeht als das bei Sartre der Fall ist« (Kallscheuer, Gespräch mit A.H. am 04. Juli 2011 in Bonn).
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dialektischer Materialist, Bewusstsein hat. Kurz, alle Individuen sind als Widerspiegelungen des Widergespiegelten erklärbar, außer Lenin, der diesen materialistischen Zusammenhang erklärt. Nach Gorz hat man sich hier von der Unannehmlichkeit befreit, über seine eigenen Grenzen und Möglichkeiten als dialektischer Materialist Aussagen zu machen. Auf die Art werde der dialektische Materialismus ein für sich selbst undurchsichtiges Denken, das Rechenschaft über seine Erkenntnisse nur noch in religiös-dogmatischer Manier abzulegen vermag. Das heißt in folgender Konstellation: Die Materie sprach und Lenin vernahm. Das zu schreiben, was er schrieb, sei nämlich nur so logisch konsistent.75 Worum es Gorz bei dieser Kritik geht, ist, dass kein Kriterium für Intelligibilität angegeben wird, was für ihn ganz im Geiste Husserls nur die Evidenz sein kann.76 »Aber das Kriterium jeder Intelligibilität, jeder Evidenz kann nicht sein, daß Gott oder die Natur oder mein Vater oder mein Chef versichern, verstanden zu haben, sondern nur daß ich verstehe« (Gorz 1966c: 221). Wenn in apriorischen Gesetzen festgelegt ist, dass es Materie oder Geschichte oder Dialektik gibt, der Mensch sie aber nicht im Sinne der Evidenz verstehen, sondern nur widerspiegeln kann, dann liege eine ähnliche Struktur vor, »wie der Gläubige zu Gott« unterhält, »nämlich der Glaube« (Gorz 1966c: 221). Und was noch schwerwiegender im Falle der sich selbst als atheistisch verstehenden Marxisten sei: Sie leugenen »von vornherein die Möglichkeit des Kommunismus, nämlich, daß die ›vereinten Individuen‹ die Möglichkeit haben, ›alles‹, was unabhängig von ihnen existiert, ›ihrer Macht zu unterwerfen‹ und ›unmöglich zu machen‹, die Möglichkeit, zu ›Subjekten
75 Vorausgesetzt ist dabei, dass Lenin ein Mensch aus Fleisch und Blut war und nicht – um es in den Worten Stalins zuzuspitzen – »ein Mensch von besonderem Schlag«, der »aus besonderem Material geformt« wurde. Diese berühmten Worte sprach Stalin über die Kommunisten auf dem II. Sowjetkongress der UdSSR am 26. Januar 1924, hier zit. n. Schoch 1980: 143. 76 Gorz versteht mit Husserl Evidenz als Erfahrung dessen, dass ein intendiertes Phänomen originär in eigener Person anschaulich, das heißt in leibhaftiger Einsicht vernehmbar wird. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ich kann mich beim Gitarre spielen nicht an eine bestimmte Akkordfolge erinnern, die das Lied Sweet Home Alabama durchzieht, aber glaube, dass es die Akkordabfolge D-C-G war. Ich spiele die Akkordfolge, und sobald ich sie spiele, zeigt sich, dass ich mit meiner Vermutung tatsächlich richtig lag. Wenn ich nicht länger nur glaube, dass die Akkordfolge D-C-G ist, sondern es in leibhaftiger Einsicht vernehme, wird meine Mutmaßung evident. Zu dem, was Gorz als »évidence« bezeichnet vgl. insb. Gorz 1955: 51f. sowie 1988: 244246. Eine Erörterung des Begriffes bei Husserl bietet Zahavi 2003: 32-36.
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der Geschichte‹ zu werden und sich in ihr zu erkennen als dem Produkt ihrer gewollten und bewußten Zusammenarbeit« (Gorz 1966c: 221).77
Gorz zufolge sind es die marxistischen Denkmethoden selbst, die die Befreiung der Menschen kompromittieren. Wenn durch die angebliche Dialektik der Natur der Mensch bis in seine Haarspitzen determiniert und nichts das bewusste Werk der Individuen ist, worin sollte dann das Befreiungspotential des Menschen liegen? Die einzig mögliche Antwort: In der Materie; sie allein verspricht Erlösung. Es ist dieses Bemühen des Marxismus um Ausschaltung der Subjektivität, verbunden mit einem quasi-religiösen Kniefall vor der Vorrangigkeit des AußerMenschlichen, das Gorz kritisiert. Indem Lenins Spielart des Materialismus »den Sinn der Geschichte von dem der Naturgeschichte abhängig macht, macht er jene zu einem Teil einer äußeren Dialektik, die Marx zu verwerfen schien, als er in den philosophisch-ökonomischen Manuskripten schrieb: ›Der Ursprung des Menschen ist der Mensch selbst‹« (Gorz 1966c: 220).
Da aber die Gesetze der Dialektik nun keinen Gesetzgeber mehr kennen, nicht von Menschenhand gemacht, sondern ihrerseits den Menschen machen und so ihr Herrühren lediglich im Undurchsichtigen der Materie flimmert, wird mit der scheinbaren Ausmerzung aller Mystifikationen – dank einer »Auffassung der Natur so, wie sie sich gibt, ohne fremde Zutat« (Engels 1883: 446) – für Gorz der Marxismus selbst religiös. Und zwar »durch neue religiöse Mystifizierungen (durch Fanatismus, den Naturalismus, das Sektierertum, den Materialismus, den Führerkult…)« (Gorz 1955: 110; Ü.d.Verf.).78 Exkurs: »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« Es ist nicht abwegig, und der vorangegangene Punkt mag dafür die Richtung weisen, Gorz’ Kritik am Marxismus-Leninismus sowie Stalinismus in die Nähe jener Kritik zu rücken, die berühmt Hannah Arendt in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) formuliert hat.79 Herausgestellt wird hier
77 Die von Gorz hier gebrauchten Zitationen entstammen der Schrift Die deutsche Ideologie von Karl Marx und Friedrich Engels. 78 Im Original: »par de nouvelles mystifications religieuses (par le fanatisme, le naturalisme, le sectarisme, le matérialisme, le culte de chef…)«. 79 In diese Richtung argumentiert Arno Münster. Bei ihm heißt es: Gorz’ »Argumentation bezüglich der Kritik des Systems des sowjetischen Kommunismus [ähnelt] in der
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von der politischen Theoretikerin die Strukturähnlichkeit der Ideologien von Sowjetregime und Nationalsozialismus. Man muss bei diesem Gedankengang jedoch kurz innehalten. Man muss, bevor man ihn weiterverfolgt, noch einmal die Situation heranziehen und betonen, dass Totalitarismus in den 1950er Jahren, in der Hochphase des Kalten Krieges, ein politisch-ideologisch aufgeladener Begriff ist. Das Sowjetregime und den Nationalsozialismus unter ein und derselben Kategorie zu verhandeln, heißt für die linke Intelligenzija, und dazu gehört Gorz, dem Antikommunismus anheimzufallen und die Sowjetunion ideologisch zu diffamieren. Der Grund, warum ein so scharfsinniger Kritiker des Stalinismus wie Gorz »nicht von Totalitarismus, sondern bevorzugt vom hyperrationalen Bürokratismus und irrealen Sozialismus« spricht.80 Erst später, als die »Abart« (Gorz 1991: 29) auch die Linientreuesten zweifeln lässt, wird Gorz »Hitlers und Stalins Polizeistaaten« (Gorz 1980: 55) zunehmend auf der gleichen Ebene verhandeln.81 Aber »so verschieden die beiden Ideologien voneinander sind«, heißt es bei Arendt, es bleibt dennoch festzuhalten, dass der dialektische Materialismus sowie auch der Rassismus »als Prämisse eine überdimensionale Kraft […] annahmen, die als Bewegung – der Natur oder Geschichte – durch das Menschengeschlecht hindurch […] jeden einzelnen nolens volens an sich zieht und mitschleift« (Arendt 1951: 708).
Und es ist diese Prämisse, die jeweils ein Denken und ein politisches System entfaltet, in dem »alles gekannt, erklärt und von übermenschlichen Gesetzen im vorhinein bestimmt ist« (Arendt 1951: 724) und sich folgerichtig so gebärdet und operiert,
Tat oft derjenigen von Hannah Arendt in ihrem Buch Vom Ursprung des Totalitarismus (sic!)« (Münster 2008: 46). 80 Kallscheuer, Gespräch mit A.H. am 04. Juli 2011 in Bonn. 81 Spätestens mit dem Erscheinen des Werkes Der Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn (1973) wird es auch innerhalb der linken Intelligenzija üblicher, das Sowjetregime als totalitären Staat zu beschreiben. Zudem sind es die historischen Ereignisse selbst, die es nahelegen, das gesamte kommunistische System mittels der Vokabel »totalitär« infrage zu stellen: die sowjetischen Panzer in Prag 1968; die Vietnamesischen »boat people«, die alles daransetzten, in den 1970er Jahren dem kommunistischen Regime zu entkommen; die Gräuel des Pol Pot in Kambodscha; die Enthüllungen über die Opfer der chinesischen Kulturrevolution.
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als gäbe es Menschen »gar nicht im Plural, sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur- oder Geschichtsprozess mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen« (Arendt 1951: 714).
Bei der Frage, warum Menschen der totalitären Versuchung erliegen, kommt Arendt auf die menschliche Grunderfahrung der Einsamkeit zu sprechen, deren Gefahr es ist, »in Verlassenheit umzuschlagen« (Arendt 1951: 728). »Das einzige was in der Verlassenheit als scheinbar unantastbar sicher verbleibt, sind die Elementargesetze des zwingend Evidenten, die Tautologie des Satzes: zweimal zwei ist vier« (Arendt 1951: 729).
Und gerade die in Verlassenheit umschlagende Einsamkeit ist es für Arendt, was Menschen »so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft« (Arendt 1951: 729). Man muss hier Le traître (1958) vor Augen haben, um die Verbindung zu Gorz zu sehen.82 Man muss sich in Erinnerung rufen, dass so gut wie jedes Wort und jede Zeile dieses Textes die Spur eines einzigen Themas aufweist: Die Einsamkeit als Grunderfahrung des Subjekts, als »wesentliche[s] Drama des Bewusstseins« (Gorz 1958: 272). Diese Grunderfahrung, dieses Drama, ist für den Autor von Le traître die Freiheit. Und mit Gorz kann man Arendt ergänzen, dass Freiheit eben nicht nur ein »Geschenk«,83 sondern zugleich ein Fluch, eine Verurteilung, ja, eine »Pathologie« ist.84 Was bedeutet hier die Zuspitzung mittels 82 Zur Veranschaulichung dieser Verbindung, also zu dem, was Arendt das Umschlagen von Einsamkeit in Verlassenheit nennt, bietet sich die folgende Passage aus Le traître an: »Wie in jener Sommernacht in der Mansarde der Altstadt, wo er sich aus dem Fenster gelehnt hatte, bevor er schlafen ging, und plötzlich die ausgestorbene Stadt sah, den Steinhaufen, von einer dahingeschiedenen Menschheit zurückgelassen, endgültig sich selbst abwesend, und zwanzig Meter tiefer, auf dem Pflaster, die greifbare Möglichkeit seines Todes«(Gorz 1958: 272). 83 In What is freedom? redet Arendt bezüglich der Freiheit von einem Geschenk. Hier heißt es: »It is men […] who because they have received the twofold gift of freedom and action can establish a reality of their own« [»Es sind die Menschen, die, weil sie das doppelte Geschenk der Freiheit und des Handelns erhalten haben, sich eine Wirklichkeit einrichten können, die ihre eigene ist«] (Arendt 1961: 171; Ü.d.Verf.). 84 Erinnert sei hier an den berühmten Text Pathologie de la liberté von Günther Stern alias Günther Anders, vgl. Anders 1936. Dieser im Jahr 1930 entstandene Text, den der Ex-Mann von Hannah Arendt unter seinem bürgerlichen Namen Stern in Frankreich publizierte, übte großen Einfluss auf Sartre aus, vgl. König 2009: 1079 sowie Anders 1956: 327; Anm. 33. In diesem Zusammenhang lässt sich eine Anekdote an-
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der medizinischen Metapher? Dass der Mensch Mangel, Nicht-Identität im fundamentalen Sinne ist; dass er dazu verurteilt ist, niemals mit sich selbst übereinzustimmen; dass ihn Zerrissenheit plagt; dass er aufgrund seiner Unfestgelegtheit an Seinsverlassenheit leidet. Aus diesem anthropologischen Defekt erwächst für Gorz die Freiheit, aber eben auch die Sehnsucht zu Sein; ein Verlangen, den »Taumel der Möglichkeiten« (Gorz 1958: 272) hinter sich zu lassen, sich mit Schwere anzureichern und sich auf festen Boden zu stellen; letztlich eine Neigung zum »Anrufen der großen Natur« (Gorz 1955: 244; Ü.d.Verf.)85 und im Ärgsten zum »Führer befiehl, wir folgen dir« (Gorz 1958: 202). In den Fondements pour une morale (1955) hatte Gorz bereits den Faschismus als einen spezifischen Diskurs erörtert, der sich darauf versteht, sich diese Sehnsucht zunutze zu machen. Im Gegensatz zur marxistischen Erklärung, der zufolge der Faschismus lediglich ein Gewächs des entfesselten Kapitals ist, erläutert er hier den faschistischen Aufstieg als maskuline Kulturrevolution, die er als eine mythische Huldigung der »männlichen Natur«86 und der vitalen Werte analysiert. Vor allem in Krisenzeiten, in denen »[a]lles Ständische und Stehende verdampft« (Marx/Engels 1848: 46), in denen die Menschen an Orientierungslosigkeit und Ohnmacht zu ersticken drohen, verheißt der Faschismus Zuflucht und Halt, weil er allem Zweideutigen den Kampf ansagt. Das Doppelsinnige, Schummrige und Vage wird durch unzweideutig Eindeutiges ersetzt: Durch den Führer, die Reinheit des Volkes, die Einheitspartei, die Disziplin, die Uniformen sowie die mittels Auszeichnungen, Abzeichen und Ränge unmissverständlich herausgestellte Menschen-Hierarchie. All dies wird gerechtfertigt durch und zurückgeführt auf die kosmische Kraft einer makellosen, unzweideutig eindeutigen Natur, deren Ausdruck lediglich der Führer, die Reinheit des Volkes etc. ist. führen, von der Erich Hörl berichtete – der neben André Gorz auch Günther Anders persönlich kannte: »André war mit diesem Text bestens vertraut und die Pathologie de la liberté war nicht nur für die Formierung des Denkens von Sartre von Bedeutung, sondern auch wichtig für das von André. Er war fasziniert von der Idee eines ursprünglichen Mangels, von der Nicht-Festgelegtheit des Menschen. Und als ich einmal nebenbei erwähnte, dass Günther Stern Günther Anders sei, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. [Man muss dazu wissen, dass Gorz das Werk von Günther Anders sehr schätzte, allen voran Die Antiquiertheit des Menschen.] André hat bis dato nicht gewusst, dass es sich hier um dieselbe Person handelt. Und dann hat er mir erzählt, wie wichtig die Pathologie de la liberté für ihn und für den französischen Existentialismus war« (Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum). 85 Im Original: »appelait la Grande Nature«. 86 In den Fondements pour une morale heißt es über Friedrich Nietzsche, den Gorz als einen intellektuellen Helden der Nazis einführt: »La Nature est pour lui mâle, non femelle« [»Die Natur ist für ihn männlich, nicht weiblich«] (Gorz 1955: 244; Ü.d.Verf.).
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Nach Gorz ist es kein Zufall, dass die vitalen Werte, 87 wie die reine Körperkraft, im Zentrum des faschistischen Diskurses auftauchen, weil gerade sie als natürlich gelten und »am wenigsten anfechtbar, am leichtesten zu messen, unzweideutig ›ontologisch‹« sind (Gorz 1980: 53). Natürliche Werte wie Rauheit und Kraft sprechen die Sehnsucht zu Sein direkt an. Und zwar als ein Verlangen, wie der in Österreich geborene Gorz erklärt, »muskulös und ungehobelt [zu] sein wie Andreas Hofer, der Tiroler Held des Widerstands gegen Napoleon« (Gorz 1958: 111), den die Nationalsozialisten als Verteidiger des Deutschtums verehren; »ein Bursche, der so sehr mit seiner felsigen Heimat verwachsen war, dass er Dolomit im Kopf haben musste; ein Stück Natur sein, wie aus einem Guss, unempfindlich gegenüber allem außer seinen eigenen Trieben, einer kosmischen Kraft teilhaftig« (Gorz 1958: 111).
Was hat die dem Faschismus innewohnende barbarische und brutale Freisetzung der natürlichen Kraft mit dem Marxismus gemein? Auf den ersten Blick nichts. Das weiß Gorz nur zu gut. Ebenso Arendt: »so großartig erfüllt mit den besten abendländischen Traditionen der dialektische Materialismus, so kläglich-vulgär« der Rassismus (Arendt 1951: 708). Aber auf den zweiten Blick mag es auffallen. Ist nicht auch der Marxismus, besonders in Form des dialektischen Materialismus, eine, wenngleich elaborierte, Rede von der Teilhaftigkeit einer kosmischen Kraft? Ist das nicht der Sinn, den die Marxisten dem Materie-Begriff einschreiben? Kommt der Materie nicht die ganze Größe einer kosmischen Kraft zu, wenn man ihr die Eigenschaft verleiht, einzige »objektive Realität zu sein« (Lenin 1908: 260)? Und ist nicht auch der dialektische Materialismus genau in diesem Sinne ein »Anrufen der großen Natur« (Gorz 1955: 244), zumal, wenn man ihr die Fähigkeit zuschreibt, alle unsere Vorstellungen und Wahrnehmungen bereits zu kennen? ›Polieren‹ die Marxisten nicht diese große Natur bis zu jenem Zustand, wo »sie sich gibt, ohne fremde Zutat« (Engels 1883: 469)? Ist damit nicht ein perfektes, unzweideutig eindeutiges Sein geschaffen, das zwar noch dialektische Bewegung, aber im eigentlichen Sinne keine Differenz und Transzendenz mehr kennt? Und ist im erwähnten ›Polieren‹ nicht die Befreiung vom menschlichen Makel inbegriffen, verstanden als das Ausmerzen von Bewusstsein und Subjektivität? Offenbart sich nicht genau hierin die Losung des Feldzuges gegen den Idealismus? Und verspüren die Marxisten nicht erst Befriedigung, wenn das Bewusstsein völlig leer und ausgeblutet ist, so dass es nur noch apathisch das ›Gemurmel‹ der Materie wiedergibt? Ein »Stück Natur sein« (Gorz 1958: 111) – ist es nicht im Grunde auch das, was uns Engels zu sagen
87 Für die »valeurs vitales« vgl. insb. Gorz 1955: 181-188.
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vermag, wenn er sich in der Betrachtung des Lebens »als die Daseinsweise der Eiweißkörper« (Engels 1878: 97) ergeht? Kann es wirklich Zufall sein, dass die beiden totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts jeweils ein Denken begleitet, das auf die eine oder andere Weise von der unpersönlichen Rede des »es gibt«88 durchzogen ist und das Bewusstsein an eine außermenschliche Kraft kettet? Ohne Zweifel, als »Austrian Jew« (Gorz 2006a: 45) und Kritiker des Marxismus kommt Gorz nicht umhin, sich derlei Fragen zu stellen. In seinen beiden großen Texten der 1950er Jahre, Fondements pour une morale und Le traître, sind sie aufgeworfen. Doch die direkte Antwort verhüllt sich und bleibt letztlich unausgesprochen.89 Er kann die Ungeheuerlichkeit, die Arendt in jenen Jahren auszusprechen wagt, erst sehr viel später beim Namen nennen. Diese Feststellung leitet zur Frage nach dem Warum über, die sich wie angedeutet mit Verweis auf den historischen Kontext beantworten lässt. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, der Frage zu begegnen. Denn obgleich Gorz sehr genau erkennt, dass die Marxisten sich auf einem Irrweg befinden, der über den Materialismus direkt in den politischen Fanatismus führt, so beginnt er in den 1950er Jahren eben auch intensiver zu vernehmen, dass in ihrem Denksystem ein spezifischer Sinn verschüttet liegt, dessen genauer Erkundung er sich nicht verschließen will; ein Gedankenexperiment, das ihn noch während der Abfassung von Le traître verstärkt anzieht und dem er sich in der nachfolgenden Schrift La morale de l’histoire widmen wird. Kurzum, es gibt im Marxismus ein Sinnsediment, eine Quelle von beispielloser philosophischer Inspirationskraft, die es für Gorz rechtfertigt, Marx und den Marxismus nicht vollends in Misskredit zu bringen: Das 88 In einem persönlichen Schreiben an Erich Hörl kommt Gorz auf dieses »es gibt« ausführlich zu sprechen. Nach Ausführungen über Sartres »abord l’ ›il y a‹« sowie über Emmanuel Levinas und Jean-François Lyotard heißt es hier: »Ohne Seiendes kein ›il y a‹, letzteres ist bloss (sic!) das Bewusstwerden, ›that there is‹ Seiendes. […]. Erinnert mich an Günther Sterns ›Pathalogie de la liberté‹: ›pourquoi ici précisément, moi précisément …‹ Ohne ›ici‹ – Ankerung in einem ›hier‹ wo ich bei mir bin – gibt es kein ›da‹ (u. auch kein ›es gibt‹), die Welt entfaltet sich immer von einem Standpunkt her (d’ un point de une)« (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 05. Juli 1992). Vgl. dazu auch Gorz 1955: 462f. sowie 547. 89 In einer Anmerkung unter der Überschrift »un héros nazi. Nietzsche« ist es allerdings einmal expliziter angedeutet. Hier heißt es: »Pour le reste, il y a entre le nietzschéisme d’extrême droite et Nietzsche le même type de rapport qu’entre le marxisme dogmatique-stalinien ou mécaniste et Marx« [»Im Übrigen, gibt es zwischen dem Nietzscheanismus der extremen Rechten und Nietzsche dieselbe Art von Verbindung wie zwischen dem dogmatisch-stalinistischen bzw. mechanischen Marxismus und Marx«] (Gorz 1955: 242; Fn. 1; Ü.d.Verf.).
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Gedankenexperiment des Kommunismus, verstanden als die freie Entfaltung der Individualität. Und nach Gorz verdient diese marxistische Botschaft Gehör. Dieser Botschaft muss Gehör verschafft werden, weil er hierin den einzig möglichen gesellschaftlichen Entwurf angedeutet sieht, den die Individuen im Sinne ihrer Freiheit zeitigen können. Ein solches Gehör-Verschaffen setzt aber voraus, dass man sich davor hütet, und sei es durch Ausschweigen, Marxismus und Faschismus mittels der Kategorie Totalitarismus zusammenfallen zu lassen. Ein zweiter Grund, warum Gorz nicht den Tonfall Arendts einschlägt. 3. Louis Althusser und »die schwere Artillerie des Strukturalismus«90 Paris, Anfang der 1960er Jahre. Der Strukturalismus wird endgültig zum öffentlichen Diskussionsobjekt. Sorgte er bereits innerhalb der Sozialwissenschaften seit den 1950er Jahren für Gesprächsbedarf, so tritt er nun ins breitere Licht der Öffentlichkeit. Gleichsam nimmt er die Züge einer »Pariser Mode« an (Schiwy 1969: 22). Die Rede ist vom neuen »Opium der Intellektuellen« (Raymond Aron zit. n. Schiwy 1968: 24). Angeregt wird die öffentliche Aufmerksamkeit durch die 1962 veröffentlichte Schrift La pensée sauvage von Claude Lévi-Strauss.91 Der Ethnologe und Professor am Collège de France gilt als »der angesehenste Repräsentant dieses Denkens« (Winock 1997: 697).92 Seine neueste Schrift steht, wie sein gesamtes Werk, im Zeichen eines ehrgeizigen wissenschaftlichen Unternehmens, dass »die Kultur in die Natur und schließlich das Leben in die Gesamtheit seiner physikochemischen Bedingungen zu reintegrieren« versucht (Lévi-Strauss 1962: 284). Das letzte Kapitel von La pensée sauvage nimmt Sart-
90 Die Formulierung stammt aus einem Interview mit Gorz aus dem Jahr 1983. Im vollen Wortlaut heißt es hier: »Gegen die paar Entfremdungstheoretiker, die es in Frankreich gab, zog schließlich die schwere Artillerie des Strukturalismus – hauptsächlich Althusser und Godelier – ins Feld« (Gorz 1983b: 167). Die Rede von einer »schweren Artillerie« geht freilich nicht auf Gorz zurück, sondern findet sich prominent im Manifest der Kommunistischen Partei, wo es heißt: »Die wohlfeilen Preise ihrer [der Bourgeoisie] Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt« (Marx/Engels 1848: 47). 91 Zu Deutsch Das wilde Denken, vgl. Lévi-Strauss 1962. 92 In diesem Sinne bemerkt auch Foucault anerkennend, dass die, die in Frankreich »als Strukturalisten bezeichnet worden« sind, keine waren, »mit Ausnahme von LéviStrauss« (Foucault 1980: 42).
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re und den Existentialismus ins Visier der Kritik.93 Die Gegenreaktion folgt prompt. »Sartre und seine Getreuen sahen sich durch das Schlusskapitel ›Geschichte und Dialektik‹ unmittelbar herausgefordert, so daß sie in den ›Temps Modernes‹ (Juli-August 1963) mit einem großen Exposé ›Lévi-Strauss oder die Versuchung des Nichts‹ (von Pierre Verstaeten) versuchten, die Wirkung der ›pensée sauvage‹ auf die revolutionäre Elite zu neutralisieren« (Schiwy 1969: 21).
Doch der Versuch ist vergebens. 1965 folgt die Taschenbuchausgabe der zehn Jahre zurückliegenden Schrift Tristes Tropiques (1955),94 die Lévi-Strauss zum Bestseller-Autor macht. Unterdessen Studenten in seine Seminare drängen, ergreift die Faszination für seine strukturale Anthropologie das Publikum jenseits der Fachdisziplinen. Auch Dorine besucht »die Vorlesung von Claude LéviStrauss am Collège de France« (Gorz 2006a: 45). Im Windschatten der Vaterfigur des französischen Strukturalismus werden eine Reihe unterschiedlichster wissenschaftlicher Autoren bekannt, deren Publikationen in den 1960er Jahren ähnliche Erfolge verzeichnen können. Michel Foucault veröffentlicht 1966 Les Mots et les choses;95 Jacques Lacan offenbart seine strukturale Psychoanalyse in Les Écrits (1966)96 und Louis Althusser, Parteimitglied der PCF und Professor an der École normale supérieure in Paris, unternimmt mit seiner Schrift Pour Marx (1965) den Versuch,97 den parteibezogenen Marxismus mit dem Strukturalismus zu kombinieren. Während sich anscheinend ganz Frankreich, einige Mitglieder des Redaktionskomitees der Les Temps modernes eingeschlossen,98 für 93 Sartre wird hier vorgeworfen, »der Gefangene seines Cogito« zu sein, der »sich in den angeblichen Evidenzen des Ich« verrennt. »Da auch der [menschliche] Geist ein Ding ist, unterrichtet uns das Funktionieren dieses Dinges über die Natur der Dinge: selbst die reine Reflexion läuft auf eine Interiorisierung des Kosmos hinaus«. Das, was durch den Menschen erfahrbar sei, verweise auf die bedeutsamen Dinge, die sich außerhalb von ihm abspielen, warum Sartres Philosophie der theoretische Wert abzusprechen sei (Lévi-Strauss 1962: 285-287). 94 Zu Deutsch Traurige Tropen, vgl. Lévi-Strauss 1955. 95 Zu Deutsch Die Ordnung der Dinge, vgl. Foucault 1966a. 96 Die als kryptisch geltende Psychoanalyse Jacques Lacans ist hierzulande nur wenig bekannt. Für eine gelungene Einführung in das Denken von Lacan vgl. Hammermeister 2008. Eine unkonventionellere, aber nicht minder aufschlussreiche Darlegung der Theorie Lacans bietet Žižek 2006. 97 Zu Deutsch Für Marx, vgl. Althusser 1965. 98 Insbesondere die Psychoanalyse Lacans wird in den Redaktionsräumen mehr und mehr positiv diskutiert, was vor allem Jean-Bertrand Pontalis geschuldet ist. Im Zuge
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Lévi-Strauss, Foucault, Lacan und Althusser begeistert, die, je auf eigene Weise, eine strukturalistische Absage an Sartre (Foucault 1966b) formulieren, kritisiert André Gorz diese Denkströmung entschieden. Woran erkennt man den Strukturalismus?, fragt Gilles Deleuze (1973). Gorz, der es »für überaus wichtig« hält, zu dieser Frage »Stellung zu nehmen«,99 gibt die Antwort auf der Arbeitstagung in Oberursel im Jahr 1983. Den Strukturalismus erkennt man an der »fünfzehnjährigen Polemik der Strukturalisten – namentlich Althusser und seiner Schüler – gegen den Begriff der Entfremdung bei Sartre und dem jüngeren Marx. Ihre Philosophie beruht im Großen und Ganzen auf der Behauptung, daß es überhaupt kein menschliches Subjekt gibt und die Rede vom ›Ich selbst‹ nur eine Floskel oder Illusion sei. Der Strukturalismus war die philosophische Rechtfertigung des dogmatisch autoritären Stalinismus […]. Also das wirklich existierende individuelle Subjekt wurde negiert zugunsten des historischen Subjekts - der Klasse, der Partei, des Volkes - welches eben als Subjekt nie wirklich existiert hat und auch nicht existieren kann. Die dem Subjekt eigene Fähigkeit ›ich‹ zu sagen, einen selbständigen Willen zu haben, für seine Ziele und Handlungen die Verantwortung zu übernehmen, diese Fähigkeit« wurde vom Strukturalismus durchgestrichen (DGB 1983: 122.)
der berühmten »Affäre des Mannes mit dem Tonband«, soll Sartre gesagt haben: »Das wird Pontalis ärgern« (Cohen-Solal 1985: 712). Der Affäre ging voraus, dass ein Patient einen Tonmitschnitt einer Analysesitzung vornahm. Den Tonmitschnitt ließ Sartre in den Les Temps modernes publizieren und fügte ihm einen kritischen Kommentar zur Psychoanalyse bei, vgl. Sartre 1969b. 99 Die Worte entstammen einem an Stefan Meretz gerichteten Schreiben, in dem Gorz auf Gilles Deleuze und die marxistische Theorie von Antonio Negri zu sprechen kommt. Hier heißt es: »Negri hat seine gegenwärtige Theorie von Deleuze-Guattari abgeleitet, denen es vor allem um die Entfesselung, die Entgrenzung der Begierde (désir) geht. Nun, was ist Kapital, die Logik des K. [Kapitals], anderes als (das findet man schon bei Deleuze) (u. wenn man so will bei Marx) entgrenzte, entkörperlichte, entsinnlichte, entmenschlichte Macht-an-sich, gegenüber allen inhaltlichen Bestimmungen widerspenstig, ›grenzenlose Begierde‹. Die Negristen sind folglich Befürworter der Bionik, des Transhumanen, der Abschaffung der Menschheit (Menschgattung) u. der inneren u. äusseren Natur, des künstlichen Uterus, des künstlichen Lebens, des Cyborgkult«. Und dieser Ausführung lässt Gorz die Zeilen folgen: »Du kennst ja meine Haltung diesen Themen gegenüber, u. dass ich es für überaus wichtig halte, Stellung zu nehmen« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 12. bis 15. März 2006). Für das Verhältnis von Gorz und Negri vgl. die Äußerungen Negris im Buch von Christophe Fourel, angegeben unter Negri 2012.
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Wie man vernehmen kann, ist Gorz der »leninistisch gehärtete Marxismus« (Waldenfels 1983: 33) Louis Althussers höchst suspekt. 100 Letztgenannter, der sich offen zu »Engels und Lenin« bekennt (Althusser 1965: 217), deutet den Marxismus von einem streng szientistischen Standpunkt und nimmt eine Entnormativierung der Marx’schen Theorie vor. Zentral dabei ist, dass er Marx gegen Marx, das Früh- gegen das Spätwerk ausspielt. Im Zuge dessen identifiziert er einen philosophisch orientierten jungen und noch durch und durch ideologischen sowie den wissenschaftlich gereiften, ökonomischen Marx. Erst Letzterer betreibt Wissenschaft, indem er ökonomische Struktursysteme, vor allem das der kapitalistischen Gesellschaft, analysiert. Mit dem Dualismus zwischen Ideologie und Wissenschaft lässt Althusser die Theorie der Revolution und der Befreiung der Menschen fallen. All dies erkennt er als Gedanken des frühen Marx, die nach dem erkenntnistheoretischen Bruch zugunsten eines »Antihumanismus« (Althusser 1965: 310) und einer ökonomischen Wissenschaft aufgegeben wurden. Der Humanismus – der »nur ein ideologischer Begriff« ist (Althusser 1965: 283) – sei im Spätwerk von Marx verschwunden, so seine These. Das Marxsche Denken, welches sich laut Gorz »dank Hyppolite, Lefebvre, Merleau-Ponty und Sartre« für kurze Zeit »akklimatisiert hatte« (Gorz 1976: 121), gilt Althusser lediglich als Kunst »sich zu verkleiden: Marx als Husserl zu verkleiden, Marx als Hegel, Marx überhaupt als den JUNGEN, den ethischen oder den humanistischen MARX« (Althusser 1965: 27). Das Ergebnis dieser Maskerade sei ein »fiebriges« Operieren mit Begriffen wie Freiheit, Entfremdung, Sinn und Subjekt, die Althusser allesamt zu toten Buchstaben erklärt.101 Vor allem die Rede vom Subjekt ist den Strukturalisten obskur. Lévi-Strauss, Lacan, Foucault und Althusser – sie alle ›schleifen‹ die Subjektfigur bis hin zu ihrer Auflösung.102 Im Essay Idéologie et appereils idéologiques d’état (1970)
100 Bei Althusser heißt es bezüglich eines solchen Vorwurfs: »Man hat mir eigentlich eine sehr große Ehre erwiesen, als man mir [...] vorwarf, die Form der Leninistischen Reflexion, ihre Details, selbst noch ihren Ausdruck respektiert zu haben« (Althusser 1965: 220). 101 Althussers berühmte Rede vom Fieber kann als implizite Attacke gegen Sartre und die Gruppe der Les Temps modernes verstanden werden. Die einschlägige Stelle bei Althusser lautet: »Das Ende des Dogmatismus hat eine wirkliche Freiheit der Forschung geschaffen, und auch ein Fieber, in dem manche ein wenig eilig die ideologische Kommentierung ihres Gefühls der Befreiung und ihres Geschmacks an der Freiheit zu Philosophie erklären. Fieberkurven fallen aber ebenso sicher wie Steine« (Althusser 1965: 31). 102 Dieses Bemühen um die Auflösung des Subjektes offenbart beispielsweise Foucault, wenn er am Schluss von Les Mots et les choses die berühmt gewordenen Worte
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von Althusser ist demonstriert,103 was unter dem Bild des ›Schleifens‹ der Subjektfigur verstanden werden kann. Das fragmentarische Ideologiekonzept von Marx erfährt hier eine systematische Erweiterung. Ideologie erscheint nun nicht mehr nur als falsches Bewusstsein oder lediglich als eine Verschleierung der Interessen der herrschenden Klasse, auch nicht als bloße negative Folge der Warenproduktion. Ideologie wird vielmehr als Struktur begriffen, die Subjektivität produziert. »Die Ideologie ruft die Individuen als Subjekte an« (Althusser 1970: 84), damit sie in ihren »verschiedenen Stellungen, die ihnen die gesellschaftlichtechnische Arbeitsteilung in der Produktion […] zuweist«, funktionieren (Althusser 1970: 98). Für Althusser heißt Subjekt werden, unterworfen zu werden und zwar »unter die ›Befehle‹ des SUBJEKTS«. Letzteres ist in Gestalt »der Produktionsverhältnisse und der Verhältnisse, welche sich aus ihnen ableiten« (Althusser 1970: 98f.), das eigentliche Subjekt. Die Ideen der individuellen Subjekte werden verstanden als materielle Handlungen, die »in materielle Praktiken eingebettet sind und durch materielle Rituale geregelt sind, die ihrerseits wiederum durch den materiellen ideologischen Apparat definiert werden« (Althusser 1970: 82f.). Ideologie, bemerkt Terry Eagleton, »wird im Endeffekt eins mit den gelebten Verhältnissen« und eine Angelegenheit der Praxis (Eagleton 1991: 175). Da die Praxis nur durch und unter der Ideologie existiert, werden alle menschlichen Handlungen in einer ideologischen Sphäre vollzogen. Innerhalb dieser Sphäre funktionieren die Subjekte »›ganz von selber‹«, wie Althusser (1970: 97) bemerkt. Und natürlich ist der bereits mehrfach erwähnte innerliche Detektor von Gorz am Anschlag, im roten Bereich, wenn ihm eine derartige ›Verstümmelung‹ der Subjektfigur begegnet; zumal, wenn sie zu allem Überdruss erneut im Namen des Marxismus durchgeführt wird. Die konkreten Individuen, und das ist es, was Gorz’ innerlichen Detektor ausschlagen lässt, werden innerhalb des Denkens Althussers bloße »Träger der objektiven Funktion« (Gorz 1969a: 246) und der Mensch verschwindet im Sog der Ideologie. Gorz hält dagegen: »Die Menschen, d.h. die Individuen, haben eine spezifische Existenz, sie haben ein individuelles Sein und nicht nur ein gesellschaftliches, das sich in der Funktion, das es im Produktionsprozeß innehat, erschöpfte. Diese grundlegende Wahrheit muß in Erinnerung gebracht werden, weil bestimmte, vom Strukturalismus inspirierte Interpretationen des Marxismus dahin gekommen sind, sie zu leugnen«.
wählt, dass man »wohl wetten« kann, »daß der Mensch verschwindet wie am Saum des Meeres ein Gesicht im Sand« (Foucault 1966a: 462). 103 Zu Deutsch Ideologie und ideologische Staatsapparate, vgl. Althusser 1970.
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Weiter heißt es: Wenn die Individuen wie bei Althusser »keine spezifische Existenz haben, dann sind ihre Bedürfnisse und Ansprüche ihrerseits unumstößlich bedingt durch die gesellschaftliche Funktion, nach der man die Menschen definiert hat. Diese Bedürfnisse und Ansprüche haben dann keine Wahrheit; sie sind nur ein entstellter, ideologischer Reflex der objektiven Realität. Es ist dann also nicht möglich, ausgehend von ihnen eine antikapitalistische Kritik und Praxis zu entwickeln« (Gorz 1969a: 247).
Im »strukturalistischen Marxismus von Althusser und seinen Schülern« (Gorz 1990: 8), wie Maurice Godelier,104 »findet man weder die Negation des Proletariats durch sich selber noch die Herrschaft der vereinigten Produzenten. Man gelangt vielmehr von einem ›vollen Sein‹ in ein anderes, ohne daß der Übergang (vom Kapitalismus zum ›Kommunismus‹) das bewußte Resultat der ›ihre eigenen Ziele verfolgenden Individuen‹ wäre und ohne daß folglich Aneignung sowie Befreiung stattfänden« (Gorz 1980: 35).
Wenngleich Gorz in einem Brief gesteht, dass man das alles »wenn man will bei Marx« finden kann,105 so ist es für ihn dennoch ein Rückfall hinter die Marxsche Position. Althussers Verdienst sei es, einen wesentlichen Beitrag zur elegischen Verflachung des Marxismus geleistet zu haben.106 »Ich konnte nicht vorhersehen«, so Gorz in Les Temps modernes,
104 Godelier, auf den sich Gorz hier bezieht, war nicht nur ein Schüler Althussers, sondern auch Oberassistent von Lévi-Strauss und gilt als einer der Begründer der neomarxistischen Wirtschaftsethnologie. 105 Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 12. bis 15. März 2006. Bezogen wird sich hier auf Marxens Bestimmung des Kapitals als verselbstständigte, wie Gorz sagt, »entmenschlichte Macht-an-sich«. 106 Man beachte hinsichtlich des Adjektivs elegisch die Passage, wo Gorz etwas spitzbübisch den Schüler Althussers Benny Lévy alias Pierre Victor zitiert. Hier heißt es: »Victor gibt sich schließlich geschlagen und erinnert sich: ›Ich hatte Althusser eines Tages gesagt, wenn man Kommunist sei, dann um der Suche nach Glück willen. Seine Antwort lautete dem Sinne nach: Das darf man nicht sagen. Man ist Kommunist, weil man eine Veränderung der Produktionsverhältnisse will‹«. Diese Worte entstammen dem Epilog der deutschen Ausgabe von Écologie et politique, vgl. Gorz 1975a: 109-113, hier 110.
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»daß die Durchdringung mit marxistischem Gedankengut alles andere als uns gegen die sozio-kulturelle ›Eindimensionalität‹ schützen, sondern ihrerseits zum Instrument der Eindimensionierung werden würde: daß der Marxismus selbst verflachen würde durch eine struktural-szientistische Behandlung, die so sehr der französischen positivistischen Tradition entspricht« (Gorz 1976: 120).
Althusser, der »wie die Stalinisten« behauptet, »der ›wirkliche‹ Marx enthalte den Begriff ›Entfremdung‹ überhaupt nicht, sei antihumanistisch und ›die Revolution macht man nicht, um glücklich zu leben‹« (Gorz 1990: 9), ist für Gorz ein Denker, der im Geiste der »Stalinischen Ideologie und Theodizee« (Gorz 1969a: 247) operiert – der Grund, warum Gorz den Namen Althusser in die eingangs skizzierte Linie, die von Engels über Lenin bis hin zu Stalin verläuft, integriert sehen will.107 Letztlich und zusammenfassend – und das ist es, was André Gorz LéviStrauss, Foucault, Lacan und Althusser sowie ihren Apologeten immer entgegengehalten hat – sind die Strukturalisten unfähig, ihre eigene Begründung zu liefern. Hier begegnet man erneut jenem Denkmanöver, das mit Husserl in Verbindung steht, und welches bereits Gorz’ Kritik am dialektischen Marxismus kennzeichnete.108 In einem ausgiebigen Brief, den Gorz im Jahr 1992 an Erich 107 Die hier skizzierte Polemik von Gorz hält dazu an, auch die positive Bezugnahme auf Althussers Theoriearbeit zu erwähnen. Für eine solche Bezugnahme vgl. die informierte Wertschätzung Althussers durch Stuart Hall (1985). Der berühmte Vertreter der Cultural Studies huldigt hier den strukturalistischen Marxisten im sachlichen Ton als »Schlüsselfigur der modernen Theorie, der sich deutlich von alten Vorstellungen verabschiedete und eine überzeugende Alternative anbot, die im Rahmen einer marxistischen Fragestellung verbleibt« (Hall 1985: 34). Interessant ist gleichwohl, dass Hall an einem entscheidenden Punkt seines Essays, wo er auf seine persönlichen Erfahrungen mit dem kolonialen Diskurs zusprechen kommt, einen Argumentationsweg einschlägt, der eine frappierende Deckungsgleichheit mit demjenigen von Gorz aufweist. Hier heißt es: »Bin ich als ein konkretes, lebendes Individuum tatsächlich irgendeine dieser Anrufungen? Kann mich irgendeine davon ausschöpfen? Tatsächlich ›bin‹ ich nicht die eine oder andere dieser Arten, mich zu repräsentieren, obwohl ich zu verschiedenen Zeiten jede von ihnen gewesen bin […]. Aber es gibt kein essentielles, einheitliches ›Ich‹ – nur das fragmentierte, widersprüchliche Subjekt, das ich werde« (Hall 1985: 58). Klingt das nicht urexistentialistisch? Gorz hätten derlei Zeilen sicherlich entzückt, zumal, da sie in einer AlthusserWürdigung zu finden sind. 108 In diesem Sinn heißt es bei Gorz zum Strukturalismus: »Die Frage, wer imstande sei, diese [strukturierte] Totalität zu erkennen und die entsprechende Theorie aufzustellen, wird in dieser Perspektive unlösbar: es sei denn, man wäre der Meinung, daß
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Hörl richtet, der seinerzeit »Foucaults ›Denken des Außen‹ zugetan« ist,109 hat er seine Vorbehalte noch einmal ausführlich dargelegt. Die »dogmatisch affirmativen Diskurse« der Strukturalisten, heißt es hier, sind jene »des Selbstverneiners, Selbstverleugners, Selbsthassers – Diskurse die dadurch sich der Kritik entziehen, dass sie niemands Diskurse zu sein vorgeben: Althusser, Foucault, z.T. auch Nietzsche und Lacan. […] Nun enthält F. [Foucault] natürlich evident wahre Einsichten,110 die er nicht als solche formulieren und rechtfertigen kann, denn (wie auch Althusser) sein Denken ist ein Verleugnen seiner Existenz als denkendes Subjekt«.111
Das Eigentümliche bei ihrer Berufung auf Strukturen ist, »dass der sich Berufene vor dem worauf er sich beruft, verschwindet«. Die unpersönliche Macht der Strukturen »vollzieht sich in und durch ihn wie eine göttliche Eingebung«. Insofern ist ein Althusser – wie auch ein Foucault, ein Lacan und ein Nietzsche – »der Herold des Absoluten, das durch ihn zur Sprache kommt«. Und genau das
der Theoretiker von der Theorie, die er vertritt, hervorgebracht worden sei und dieser eine absolute Wahrheit, die außerhalb von Gesellschaft und Geschichte stünde, zukäme und sich durch seinen Mund äußerte« (Gorz 1969a: 246; Fn. 5). 109 Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum. Im erwähnten Brief heißt es explizit zu Foucault: »Die Sache wird von Foucault auf die Spitze getrieben: […] F.s Diskurs verliert jegliche Gültigkeit, wenn seine Aussage wahr ist, dass Gültigkeit ein Machteffekt ist, der sich im Diskurs niederschlägt. Oder soll F.s Denksystem als F.s Machtanspruch verstanden werden, über wahr und unwahr erhaben? Das würde aber heißen, dass F. einen eigenen Machtanspruch hat (was natürlich ganz offensichtlich war: seine Herrschsüchtigkeit versteckte u. zugleich sich behauptete in seiner Selbstverleugnung) u. dies steht im Widerspruch zu seiner Aussage: die Individuen seien Standardprodukte des sozialen Diskurses« (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben vom 08. bis 14. Mai 1992). Für die kritische Bezugnahme auf Foucault vgl. auch Gorz 1988: 178-179 sowie 1990: 14. Zum Stichwort »Denken des Außen« vgl. insb. Foucault 1966c. 110 Explizit zur Wertschätzung Foucaults heißt es: »Die Theorie der Macht, die bei ihm durchscheint, würde ich so formulieren: Das Subjekt ist gesellschaftlich so gestaltet, dass es sich selbst als solches nicht erscheinen kann. Die gesellschaftlichen Mächte setzen ihm ein Gesicht auf (od. gestalten es in einer Weise) das ihm seine Fähigkeit sich selbst zu gestalten verdeckt. […] Weiter die wertvolle Einsicht, dass Sozialisierung die Unterwerfung, Unterdrückung des Körperlichen durch die Disziplinarmacht der Gesellschaft erfordert« (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben vom 08. bis 14. Mai 1992). 111 Brief von Gorz an Hörl, geschrieben vom 08. bis 14. Mai 1992. Die nachstehenden und nicht anders gekennzeichneten Zitationen entstammen diesem Schreiben.
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ist »die typische Verfahrensweise des Dogmatismus«, wie es in einem offiziellen Text und bezüglich der strukturalistischen Marxinterpretation Althussers heißt (Gorz 1969a: 246; Fn. 5). 4.
Existentialistische Marxinterpretation
Bei dem Stichwort ›existentialistische Marxinterpretation‹ bietet sich an, eine lebensgeschichtliche Szene voranzustellen. Herbst, 1973. Gorz erreicht über seinen deutschen Verleger, der Europäischen Verlagsanstalt (EVA) Frankfurt, die Nachricht über das Erscheinen der Schrift Existentialistische Marx-Interpretation (1973) von Alfred Schmidt und Herbert Marcuse. Seit 1962 stehen Marcuse und Gorz in Kontakt. Ein Kontakt, der sich zu einem regen intellektuellen Austausch, regelmäßigen Telefonaten und gegenseitigen Besuchen im Beisein der Ehefrauen ausgeweitet hat. Sein Interesse an der Schrift ist sofort geweckt und er beginnt ein Schreiben an Marcuse nach Kalifornien. »Ich hörte, dass die EVA die ›Existentialistische Marx-Interpretation‹ herausgebracht hat, von denen Du einer der Autoren zu sein scheinst. Ich habe das Buch bestellt und warte auf die Zusendung. Das Copyright für eine Übersetzung gehört laut EVA Dir. Sofern Du keine bestimmten Präferenzen oder anderweitige Absprachen getroffen hast, ziehe doch bitte einen jungen Verlag in Betracht, mit dem Doreen112 und ich arbeiten (Galilée) und der eine hervorragende Arbeit im Herausgeben vorwiegend akademischer sowie philosophischer Schriften leistet« (Ü.d.Verf.).113
Marcuse ist von Gorz’ Idee, die Abhandlung bei Galilée zu veröffentlichen, nicht wirklich angetan. Er erinnert ihn daran, dass die Publikation seinen »ältesten Essay (40 Jahre!) enthält« (Ü.d.Verf.).114 Und wenngleich das Projekt scheitert, es
112 Im Englischen schreibt Gorz den Namen seiner Frau nicht »Dorine«, sondern »Doreen«. 113 Im Original: »I heard EVA has brought out ›Existentialistische Marx-Interpretation‹ of which you seem to be one of the authors. I’ve ordered the volume and am waiting for it. The copyright, according to EVA, belongs to you, as regards translations. Unless you have definite preferences or have made different arrangements, would you consider the young publisher with whom Doreen and I are working (Galilée) and who is doing an excellent job in bringing out a majority of academic and philosophical writings?« (Brief von Gorz an Marcuse, geschrieben am 23. Oktober 1973). 114 Im Original und vollem Wortlaut heißt es bei Marcuse: »As to the EVA publication ›Existentialistische Marx-Interpretation‹ which contains my oldest essay (40 years!)« (Brief von Marcuse an Gorz, geschrieben am 29. Oktober 1973).
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keine Übersetzung der Schrift Existentialistische Marx-Interpretation (Marcuse/ Schmidt 1973) ins Französische geben und an ihrer statt eine aktuellere Textauswahl von Marcuse bei Galilée erscheinen wird,115 so weist Gorz’ hohes Interesse an der Schrift, sein Wille, diese Abhandlung in französischer Sprache zu veröffentlichen sowie nicht zuletzt sein enger Kontakt zu Marcuse, die Richtung für seinen positiven Bezug zu Marx und zum Marxismus. Ein Bezug, der gleichfalls mittels der Bezeichnung ›existentialistische Marxinterpretation‹ passend gekennzeichnet werden kann. Allen voran heißt ›existentialistische Marxinterpretation‹ in Gorz’ Fall, Marxens Wort nicht als Dogma aufzufassen. Eine »Treue zur Schrift« des »Sankt Marx« ist ihm fremd.116 »Jedoch hielt er Marx für sehr fruchtbar, weil sein Werk viele lose Enden aufweisen würde und es möglich sei, Marx gegen sich selbst auszuspielen«, erzählt Dick Howard. »Und Gérard hatte große Freude daran, das zu tun«.117 Diese Freude spricht Gorz auch in Les Temps modernes an. »Von dem Vergnügen, das mir manchmal seine [Marx] Lektüre bereitet« ist hier die Rede (Gorz 1976: 116). Man beachte aber das Adverb manchmal. Manchmal heißt nicht immer. Das Vergnügen ist abhängig von bestimmten Schriften und ist vor allem an spezifische Passagen gebunden. Immer, wenn Marx davon spricht, dass der Mensch Urheber seiner selbst ist, wenn er schreibt, »[w]ie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie«, wenn er von der »reichen Individualität« spricht und »[d]ie freie Entwicklung der Individualitäten« preist, wenn er ausruft, jeder »nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«, wenn er sich die Arbeit, »als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst« ausmalt, wenn er von der Möglichkeit referiert, »heute dies, morgen jenes zu tun« und damit die Beseitigung des herkömmlichen Verständnisses von Arbeit ankündigt, wenn er »die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft auf ein Minimum« in Aussicht stellt und damit einhergehend von der für »alle freigewordne Zeit« berichtet, wenn er sich fragt, »was ist der Reichtum anders, als die im universellen
115 Im Jahr 1976 erscheint aufgrund der Vermittlung von Gorz und unter dem Titel Actuels Herbert Marcuses Schrift Zeit-Messungen (1975) bei Galilée. Gleich nach Veröffentlichung der französischen Übersetzung schreibt Marcuse an Gorz: »it is beautifully done but why did you take such an ugly face of mine for the front cover?« [»es ist sehr schön geworden, aber warum bringst Du so ein schreckliches Gesicht von mir auf den Buchdeckel?«] (Brief von Marcuse an Gorz, geschrieben am 18. März 1976). Man mag verstehen, was Marcuse hier moniert, wenn man den Einband der bei Galilée erschienenen Schrift betrachtet, vgl. Marcuse 1975. 116 Die Formulierungen »Treue zur Schrift« und »Sankt Marx« entstammen Adieux au prolétariat, vgl. Gorz 1980: 16 und 11. 117 Howard, Gespräch mit A.H. am 18. Februar 2013 in Paris.
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Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen?«, wenn er daran festhält, dass »die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion« zusammenbrechen muss, wodurch die relativen Werte, allen voran das Geld, den Schein absoluter Werte verlieren, wenn er sich über das »Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit« echauffiert, »diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht«,118 dann ist Gorz vergnügt und ganz Ohr, dann lauscht er einem Marx, der ihn fasziniert und inspiriert – einem Marx, der sich »ohne Zweifel auf die Seite des Existentialismus ziehen« lässt.119 Gorz’ selektive und zugleich direkte Lesart von Marx, wie sie hier angedeutet ist, führt über favorisierte Texte, allen voran Die deutsche Ideologie (1846) und die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1858),120 inmitten der Konzeption von »Freiheit in Marx’ Theorien« (Bluhm 2005). Eine Schlüsselpassage bezüglich der Thematisierung von Freiheit bei Marx entstammt dem Manifest der kommunistischen Partei (1848).121 Hier heißt es: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Marx/Engels 1848: 68).
118 In zitierter Reihenfolge zu finden in Marx/Engels 1846: 21; Marx 1858a: 244; ebd.: 601; Marx 1891: 21; Marx 1858a: 244; Marx/Engels 1846: 33; Marx 1858a: 601; ebd.: 396; ebd.: 601; Marx/Engels 1846: 33. 119 Mit diesen Worten variiere ich eine Bemerkung Sartres aus den Questions de méthode, die in der Critique de la raison dialectique (1960) gestellt sind. Dort heißt es: »Ohne Zweifel kann man Hegel auf die Seite des Existentialismus ziehen« (Sartre 1960a: 11). Diese Sinnverfälschung der Worte Sartres mag durch folgende Bemerkung von Gorz gerechtfertigt sein: »Und man findet bei Marx ebenfalls libertäre Züge und ganz wunderbar penetrante phänomenologische Beschreibungen, in denen die von Marx herausgearbeiteten Begriffe als Instrumente einer verstehenden, geradezu ›existentialistischen‹ Kritik zum Zuge kommen« (Gorz 1990: 8). 120 Besonders Die deutsche Ideologie (1846) und die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1858) enthalten für Gorz »einen phantastischen philosophischen Reichtum an Einsichten und Ideen« (Gorz 1983b: 171). Gehörte Die deutsche Ideologie von jeher zur bevorzugten Lektüre, verdankt Gorz die Bekanntschaft mit der Inspirationskraft der Grundrisse im Jahr 1959 Jean-Marie Vincent, wie er gegenüber Marc Robert erklärt (Gorz 2005a: 7). 121 Eine aufschlussreiche Darlegung der Thematisierung von Freiheit bei Marx bietet der Sammelband Karl Marx’ kommunistischer Individualismus, vgl. Pies/Leschke 2005.
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Die Zeilen können als Bestandteil dessen gelesen werden, was man die Denkfigur der Reichen Individualität nennen kann.122 Und zwar insofern, als dass die freie Entwicklung eines Jeden, die die Voraussetzung für die freie Entwicklung Aller sei, einem Sinn folge, der als »reiche Individualität« eingeführt wird (Marx 1858a: 244). Dieser Sinn realisiere sich in den »höhre[n] Tätigkeiten«, die Marx wiederum in der »disposable time« ansiedelt (Marx 1858a: 607 und 603). In systematischer Hinsicht kann diese Denkfigur wie folgt skizziert werden. Nach der wissenschafts- und fortschrittsoptimistischen Prognose von Marx würde es dank der kapitalistischen Steigerung der Produktivkräfte gelingen, den Arbeits- und Produktionsprozess aufs Effizienteste hin zu organisieren, was in einer wissenschaftlichen Beherrschung der Natur kulminiere. 123 Mit der »volle[n] Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte« (Marx 1858a: 602) gehe einher, dass die arbeitenden Individuen eine Totalität von Fähigkeiten ausbilden. Aufgrund »der höchsten Entwicklung der Produktivkräfte« komme es zur »universellen Entwicklung der Individuen« (Marx 1858a: 91), infolge die »Selbstverwirklichung des Individuums« zum Bedürfnis werde (Marx 1858a: 512). Dank der »Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft auf ein Minimum« (Marx 1858a: 601), was sich ebenfalls als Resultat der höchsten Entwicklung der Produktivkräfte zeitige,124 werde dieses Bedürfnis jenseits der Arbeit Befriedigung finden. Das Jenseits der Arbeit entspringe der »disposable time«, das heißt Zeit, die durch die Reduktion der Arbeit der Gesellschaft auf ein Minimum freigesetzt werde. Die freie oder »disposable time«, die »sowohl Mußezeit wie Zeit für höhre Tätigkeiten ist«, verwandle »ihren Besitzer […] in ein anderes Subjekt« (Marx 1858a: 607). Dieses andere Subjekt widme sich einer Produktion höherer Art, die im eigentlichen Sinne keine Arbeit mehr sei.
122 Mit der Bezeichnung »Reiche Individualität« greife ich eine berühmte Formel aus den Grundrissen auf, vgl. Marx 1858a: 244. Zum Stichwort »Reiche Individualität« vgl. auch Priddat 2005, der darunter die Kommunismus-Vorstellung von Marx als eine Konzeption der freien Zeit für freie Entwicklung beschreibt. 123 Zur wissenschaftlichen Beherrschung der Natur heißt es u.a. bei Marx: »Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffene Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft« (Marx 1858a: 602). 124 Marx offeriert, dass durch technischen Fortschritt eine Produktionssteigerung eintrete, die die notwendige Arbeitszeit reduziert.
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»Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums treibt aber das Kapital die Arbeit über die Grenzen seiner Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint« (Marx 1858a: 244).
Arbeit transformiere in die volle Entwicklung der Tätigkeit selbst, in Praxis, und dies insofern, als dass der Zweck nun nicht mehr außerhalb der Tätigkeit, sondern im Vollbringen der Tätigkeit selbst liegt.125 Das andere Subjekt produziere auf die Art sich selbst, die Reiche Individualität. Reiche Individualität erscheine als Echo, »sich in jedem beliebigen Zweige« auszubilden, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden« (Marx/Engels 1846: 33). Wo der Mensch »sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert«, wo er nicht »irgend etwas Gewordenes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist«, da erzeuge er sich selbst, verstanden als »absolute[s] Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen« (Marx 1858a: 396). Und hierin liege der wirkliche Reichtum, die Reiche Individualität. In dieser Denkfigur entdeckt Gorz jene nie versiegen wollende Quelle an Inspiration, jenen »philosophischen Reichtum« (Gorz 1983b: 171), an dem er sich abarbeitet und den er versucht, in seinen Schriften weiterzudenken. ›Existentialistische Marxinterpretation‹ im engeren Sinn meint nun dieses Abarbeiten und Weiterdenken, Gorz’ Bezugnahme also auf die Denkfigur der Reichen Individualität – eine Bezugnahme, die im Übrigen mit seiner Kritik am offiziellen Parteimarxismus harmoniert. So kann ›existentialistische Marxinterpretation‹ im engeren Sinn zunächst dechiffriert werden als Gorz’ Mahnen und Erinnern an diese Dimension des Marxismus.
125 In der Terminologie Hannah Arendts könnte man sagen, die Tätigkeit verliert den Charakter des »Herstellens«. Das Herstellen ist eine Tätigkeit, bei der etwas geschaffen wird, etwa ein Tisch. Das Ziel, der Tisch, liegt außerhalb der Tätigkeit des Herstellens. Sobald der Tisch hergestellt ist, endet das Herstellen. »Es ist das eigentümliche Merkmal des Herstellens« bemerkt Arendt, »daß es einen definitiven Anfang und ein definitives, voraussagbares Ende hat« (Arendt 1958: 169f.). Anders ist es bei »der vollen Entwicklung der Tätigkeit selbst« (Marx). Hier liegt das Ziel nicht außerhalb der Tätigkeit, sondern im Vollzug der Tätigkeit selbst, wodurch diese Tätigkeit kein definitives, voraussagbares Ende hat. Mit Gorz kann man hier noch anfügen, dass diese »Tätigkeiten, die sich Selbstzweck sind«, die Stoßrichtung haben, »Zeit zu verausgaben« und »nicht Zeit zu sparen« (Gorz 1990: 34).
198 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT Jene »Dimension des marxistischen Denkens […], der sich sozialistische oder kommunistische Programme […] verschlossen haben: die Dimension des Kommunismus als Auslöschung der politischen Ökonomie und als Reichtumsbemessung nicht in Mengenbegriffen des Tauschwertes, sondern in selbstbestimmten Glücksmöglichkeiten« (Gorz: 1980: 81).
Eine Dimension, die »die meisten Marxisten kaum« kennen und »deshalb Marx hauptsächlich als Theoretiker des Kapitalismus« verstehen, »ohne sich zu fragen, wohin letzterer überwunden werden könnte und sollte«. Der Grund also, warum man mit »den meisten Marxisten [...] kaum über den Ökonomismus und Kapitalismus hinaus« kommt (Gorz 1983b: 172). Da sie Marx »zum bloßen Schüler von Engels reduzieren«, wissen sie nicht mehr, »was sie mit diesem ›allseitig entwickelten Individuum‹ anfangen sollen« (Gorz 1976: 117). Das Gedankenexperiment der Reichen Individualität, das »völlig zu Recht als wesentliches Moment des Marxschen Denkens« gelten kann (Gorz 1976: 117), werde im offiziellen Marxismus bagatellisiert oder psychoanalytisch gesprochen, verdrängt. So etwa »von offiziellen Vertretern des französischen Marxismus«, die die Idee der Reichen Individualität »als spezifischen Ausdruck der ›amerikanischen Linken‹« verwerfen (Gorz 1980: 81; Fn. 18). Schließlich heißt ›existentialistische Marxinterpretation‹ im engeren Sinn aber auch, die Denkfigur der Reichen Individualität existential-philosophisch zu wenden. In systematischer Hinsicht lassen sich dabei zwei kritische Interventionen herausheben, die die Geltung der besagten Denkfigur einschränken. Reiche Individualität ohne Triumph der Vernunft Die erste Intervention betrifft die Kritik des in der Konzeption der Reichen Individualität eingewebten Identitätsgedankens. Ein Gedanke, den Gorz als durch und durch am Ideal der Moderne ausgerichtet erkennt. Dieses Ideal kann als »totaler Triumph der Vernunft« (Gorz 1988: 49), als eine regulative Idee der Versöhnung verstanden werden, die bei Marx, wie auch bei Hegel, in der dialektischen Aufhebung aller Widersprüche Kontur gewinnt. Mit Blick auf die Denkfigur der Reichen Individualität kommt dieses Versöhnungsdenken im Zusammenfallen von gesellschaftlichem Sein und persönlichem Dasein, oder mit anderen Worten, von gesellschaftlicher Arbeit und persönlicher Tätigkeit, zum Ausdruck. Marx hatte bekanntlich das Proletariat dazu bestimmt, sich universell zu vereinigen, um den gesellschaftlichen Produktionsprozess unter gemeinschaftliche Kontrolle zu bringen und so die Zusammenarbeit rational und freiwillig zu organisieren.
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»Erst auf dieser Stufe fällt die Selbstbetätigung mit dem materiellen Leben zusammen, was der Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen […] entspricht […]. Mit der Aneignung der totalen Produktivkräfte durch die vereinten Individuen hört das Privateigentum auf« zu bestehen (Marx/Engels 1846: 68).
Diese These von der Aufhebung des Privateigentums ist »identisch mit der Aufhebung der (verselbstständigten) Arbeitsteilung« (Bluhm 2010: 16). Marx zufolge erscheint die kapitalistische Arbeitsteilung, dieses verzahnte Zusammenspiel von »bornierte[r] Selbstbetätigung« (Marx/Engels 1846: 68), den sich im Warentausch begegnenden Individuen selbst »als ein äußerliches und darum zufälliges Ding« (Marx 1858b: 909). Da »der gesellschaftliche Zusammenhang, der durch den Zusammenstoß der unabhängigen Individuen entsteht«, »bisher dem Zufall überlassen« ist, erfahren die Individuen – »eben durch ihre Trennung als Individuen«, die durch die »Teilung der Arbeit« hervorgebracht wird – »ihre notwendige Vereinigung zugleich als eine sachliche Notwendigkeit, und zugleich als ein äußeres Band«.126 Und das Durchschneiden dieses äußeren Bandes bewerkstelligt nach Marx das Proletariat.127 An die Stelle der gesellschaftlichen »Teilung der Arbeit« (Marx/Engels 1846: 75) trete so die »Assoziation« (Marx/Engels 1848: 68), das freiwillige Zusammenwirken, das auf die rationale Vereinigung des gesellschaftlichen Prozesses hinwirkt. In diesem direkten »universelle[n] Verkehr der Menschen« legen die Individuen ihr »borniertes Verhalten zueinander« ab und entfalteten allseitig ihre Individualität, weil sie keiner »bornierte[n] Selbstbetätigung« mehr frönen.128 Auf die Art komme es »zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig bestehenden« (Marx/Engels 1846: 70) und ein jedes Individuum werde so, vermittelt durch die freiwillige Zusammenarbeit aller, vom Knecht zum Herrn über den gesellschaftlichen Prozess –
126 Die in diesem Satz verwendeten Zitationen sind in zitierter Reihenfolge zu finden in Marx 1858b: 909; Marx/Engels 1846: 75 und Marx 1858b: 909. 127 In den 1840er Jahren heißt es bei Marx und Engels noch: »Nur die von aller Selbstbetätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart sind imstande, ihre vollständige, nicht mehr bornierte Selbstbetätigung, die in der Aneignung einer Totalität von Produktivkräften und der damit gesetzten Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten besteht, durchzusetzen« (Marx/Engels 1846: 68). Diese subjekttheoretische Annahme wird »beim späten Marx mehr in den Hintergrund« treten und »von systemtheoretischen Denken zur Darstellung der Selbstentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bis hin zu ihrer Auflösung« überlagert werden (Bluhm 1999: 205). 128 Die in diesem Satz verwendeten Zitationen sind in zitierter Reihenfolge zu finden in Marx/Engels 1846: 35, 31 und 68.
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was in letzter Konsequenz »zur Aufhebung des Staates und der Politik führt« (Bluhm 2004: 69). Da die »Individuen zu totalen Individuen« werden (Marx/ Engels 1846: 70), erkennt ein jedes Individuum die gesellschaftliche Produktion als seine ganz persönliche Angelegenheit, was den Staatsapparat entbehrlich werden lässt. Und hier realisiert sich nach Marx der ›Triumph der Vernunft‹, die Einheit von Arbeit und Leben; gesellschaftliches Sein und persönliches Dasein fallen zusammen, sind nicht mehr differenzierbar. Dass Gorz in politischer Hinsicht diese Utopie für nicht realisierbar hält, da niemals »alle unumgänglichen Sachzwänge und systematischen Starrheiten der gesellschaftlichen Maschine beseitigt werden können« (Gorz 1988: 48) – wenn man nicht »das Zurück zur Dorfwirtschaft« ausrufen und den »totalen Kollaps unserer Zivilisation« herbeiführen will (Gorz 1990: 25) –, sei hier nur am Rande erwähnt.129 Sein Hauptinteresse ist existentieller Art. Mittels des ihm eigenen innerlichen Detektors spürt er in dem hier dargestellten Identitätsgedanken eine Moral auf, die die individuelle Existenz bedroht.130 Und eingelassen ist sie nach Gorz in folgender Gedankenkette: »Der integralen Vergesellschaftung der persönlichen Existenz soll eine integrale Personalisierung der gesellschaftlichen Existenz entsprechen – so daß die gesamte Gesellschaft in jedem einzelnen ihr bewußtes Subjekt hat und ein jeder in ihr seine Vereinigung mit allen anerkennt« (Gorz 1988: 48).
Dieser Marx’sche ›Triumph der Vernunft‹ setzt für Gorz »die völlige Rationalisierung der Existenz voraus« und die »integrale Rationalisierung fordert ihrerseits eine individuelle Askese, die in mancher Hinsicht an die puritanische Askese erinnert« (Gorz 1988: 49).131 In diesem Sinne müssen sich die Individuen ihre
129 Bei Gorz heißt es pointiert bezüglich einer vollkommenen Übertragung dieser Utopie des 19. Jahrhunderts ins 20. Jahrhundert: »Keine Person und keine Gruppe vermag [heute] die Gesamtheit der Technologien und Kenntnisse zu beherrschen, die nötig sind, um ein Fahrrad« herzustellen (Gorz 1983a: 105). 130 Vgl. insb. Gorz 1955: 113-119, 569 sowie 586-588. Angemerkt sei, dass hier mit »Moral« nicht explizit Marxens 1843 formulierter kategorischer Imperativ gemeint ist, wonach »alle Verhältnisse umzuwerfen [sind], in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx 1843: 385). Anders als bei der besagten Moral, die Gorz als »kommunistische Moral« bezeichnet, bezieht er sich auf Marxens kategorischen Imperativ positiv, vgl. Gorz 1955: 588. 131 Zum Stichwort Puritanismus führt Gorz von Max Weber zitierte Worte an: »Die ›scharfe Perhorreszierung der Kreaturvergötterung und alles Haftens an persönliche
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Eigenheiten, Vorlieben und Manien austreiben, all jenes, was dem UniversellWerden im Wege steht. Erst, wenn jede Intimität der Existenz getilgt, sie also Purität geworden ist, und die Individuen den Sinn der Geschichte aufsaugen, »wie durch ein Löschblatt« (Sartre 1943: 1070), kann in rationaler Ekstase der Festakt des ›Triumphes der Vernunft‹ begangen werden, also wo Leben und Vernunft sich ewige Treue schwören. Mit der emphatischen Wortwahl sei darauf hingewiesen, dass Gorz gegenüber der Identität von gesellschaftlichem Sein und individuellem Dasein äußerstes Unbehagen hegt: »Im Gegensatz zu der Annahme Marxens kann das Individuum weder mit dem gesellschaftlichen Sein vollständig übereinstimmen, noch vermag die Gesellschaft alle Dimension der individuellen Existenz zu integrieren. Nicht total sozialisierbar, hat diese Existenz geheime, intime, unmittelbare und nicht mitteilbare Schichten, die nicht vergesellschaftungsfähig sind« (Gorz 1980: 82).
Bereits in einer langen Passage der Fondements pour une morale hat Gorz diesem Gedankengang Ausdruck verliehen (vgl. Gorz 1955: 541-555). Dort spricht er von der Unmöglichkeit der Sozialisierung aller Existenzialien – der Langeweile,132 der Angst, der Trauer und des Leidens; des ästhetischen Genießens wie Beziehungen zu Menschen mußte (seine) Energie unvermerkt in die Bahnen sachlichen (unpersönlichen) Wirkens lenken. Der Christ […] wirkt für die Zwecke Gottes, und diese können nur unpersönliche sein. Jede rein gefühlsmäßige – also nicht rational bedingte – persönliche Beziehung von Mensch zu Mensch verfällt eben in der puritanischen, wie in jeder asketischen Ethik sehr leicht dem Verdacht, Kreaturvergötterung zu sein. Für die Freundschaft zeigt dies […] z.B. folgende Warnung deutlich genug: Sie ist ein irrationaler Akt, und es ziemt einer rationalen Kreatur nicht, irgend jemanden mehr zu lieben, als die Vernunft es erlaubt […] Sie ergreift oft den Geist der Menschen soweit, daß sie ihre Liebe zu Gott behindert (R. Baxter, Christian Directory, IV, S. 235).‹« (Weber zit. n. Gorz 1988: 49). Bei Gorz heißt es daran anschließend: »Wenn man in diesem Zitat Max Webers ›Christ‹ durch ›Kommunist‹, ›Kreaturvergötterung‹ durch ›kleinbürgerlichen Individualismus‹, ›Zwecke Gottes‹ durch ›Sinn der Geschichte‹ usw. ersetzt, so erhält man eine treffende Charakterisierung der kommunistischen Moral« (Gorz 1988: 49f.). 132 Die Langeweile ist ein bevorzugtes Existenzial von Gorz, dem er detaillierte Erörterungen widmet, vgl. insb. Gorz 1955: 57-60 sowie 87-93. Dieses Interesse unterstreicht er auch in einem persönlichen Schreiben. Mit Bezug auf »l’Albatros von [Charles] Baudelaire« heißt es hier: »Ich habe oft den Eindruck, mich in ihm wiederzufinden; durchlebt zu haben, was er lebt. Z.b. die Langeweile: zweifellos ein Existenzial […]. Es war im Frühjahr 1945. […]. Mein ›Studium‹ war zu Ende, das
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der Liebe und der Zärtlichkeit. Dabei wird betont, dass die Sozialisierung dieser Existenzialien heißen würde, die Individuen zur Maskierung ihrer existentiellen Erfahrung anzuhalten und dem »Geist der Ernsthaftigkeit« Vorschub zu leisten.133 Und genau darin erkennt Gorz das Charakteristikum der Moral, die sich aus Marxens Identitätsgedanken gewinnt: »Die Möglichkeit des Individuums, sich mit einer unmittelbaren gesellschaftlichen ›Tätigkeit überhaupt‹ zu identifizieren, deren Inhalt es keinesfalls selbst bestimmen kann, diese Möglichkeit liegt der sozialistischen Moral zugrunde: sie setzt den Verlust der Besonderheit und das Zusammenfallen der individuellen Existenz mit dem gesellschaftlichen Sein als höchste Ziele und Tugenden. Aber eben das ist die größte Illusion von Marx und den Marxisten und die Wurzel aller totalitären Kollektivismen« (Gorz 1983a: 55; Fn. 7).
Eine repressive, normende und konformistische Verhaltensanweisung also, die Ordnungssucht mit Hang zum Totalitären ist. Besonders plastisch ist dies in Audiex au prolétariat dargelegt. Hier heißt es: »Insofern sozialistische Theorien, Utopien oder politische Praktiken ein Individuum postulieren, das in seiner Gesellschaftlichkeit aufgeht, oder vom Vergesellschaftungsprozeß die Verwirklichung der Fülle menschlicher Fähigkeiten erwarteten, gelangten sie stets zur Negation des Individuellen: zur Negation der Besonderheit, der Subjektivität, des Zweifels, des Schweigens und der Unkommunizierbarkeit; zur Repression all dessen […], was sich der Verallgemeinerung und Normierung widersetzt; zur Verfolgung und, im schlimmsten Fall, zur Vernichtung derjenigen, die gegen die integrale Sozialisierung opponierten oder sich ihres Mißerfolgs bewußt blieben« (Gorz 1980: 83).
Das ist die totalitäre Gefahr in der Denkfigur der Reichen Individualität, vor der Gorz unnachgiebig warnt. Die freie Entfaltung der Individualität heißt hier näm-
Diplom bestanden, die Pflichtlose Öde der Zeit dehnte sich ins endlose« (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben im September 1992). Das Schreiben ist ohne genaue Datumsangabe gehalten und trägt den Titel Es ist Zeit, das es Zeit wird. 133 Im Original: »l’esprit de sérieux«, vgl. hierzu insb. Gorz 1955: 151f. Der Begriff entstammt der Feder Sartres. Bei ihm heißt es: »Der Geist der Ernsthaftigkeit […] führt dazu, die symbolischen Werte der Dinge durch ihre empirische Idiosynkrasie aufsaugen zu lassen wie durch ein Löschblatt […]. So sind wir bereits auf der Ebene der Moral, aber zugleich auf der der Unaufrichtigkeit, denn das ist eine Moral, die sich vor sich selbst schämt […]; sie hat alle ihre Ziele verdunkelt, um sich von der Angst zu befreien« (Sartre 1943: 1070).
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lich allzu schnell Widerspiegelung der Erfordernisse der Gesellschaftsordnung; eine Ordnung, in der das Individuum Funktionsträger ist und ›versteinerte‹ Menschen tun und lassen, was diese verlangt. Gleichwohl Gorz die Denkfigur der Reichen Individualität als emanzipatorische Richtschnur wertschätzt, darf sie für ihn niemals nach Marxens Vorstellung als ein ›Triumph der Vernunft‹ Realität werden. Vielmehr bedarf diese Figur der Installation einer ›Sperrklinke‹, die das Zusammenfallen von gesellschaftlichem Sein und persönlichem Dasein verunmöglicht und so die totalitäre Gefahr zu bannen weiß. Diese ›Sperrklinke‹ installiert Gorz, indem er einen Teil des Bewusstseins rehabilitiert, das, was man Subjekt nennen kann, und es als Unmöglichkeit von Identität in der Denkfigur der Reichen Individualität einrichtet. Das Subjekt als Kluft und Störung; als Unterbrechung der Kette des gesellschaftlich Seienden; als Blockade und Widerstand gegenüber dem Maschenwerk der sozialen Megamaschine und als Protestation gegen das Aufgehen in Konformismus und Normierung – ein Subjekt, das als irreduzibler Rest den ›Triumph der Vernunft‹, das Zusammenfallen von gesellschaftlichem Sein und persönlichem Dasein, unauflöslich vereitelt. Kritik der eschatologischen Dimension Die Denkfigur der Reichen Individualität existential-philosophisch zu wenden, heißt zweitens, sie um ihre eschatologische Dimension zu bringen. Die kritische Aneignung der hegelschen Dialektik war für Marx der Weg, sein geschichtsphilosophisches Konzept des Proletariats zu entwickeln und Hegels Eschatologie des Geistes zu überwinden. Für Marx ist das dialektische Fortschreiten keine Bewegung des von der Welt Besitz ergreifenden und zu sich selbst kommenden Weltgeistes mehr, sondern die sukzessive Aneignung der Natur durch menschliche Arbeit. Das in diesem Zusammenhang berühmte Bild des Vom-Kopf-aufdie-Füße-Stellens impliziert,134 dass nicht ein irrealer Weltgeist arbeitet, sondern die wirklichen Arbeiter. Im Zuge der Kritik am hegelschen Idealismus tritt bei Marx an die Stelle des Geistes die Erzeugung der Welt durch das Tun sinnlichleiblicher Individuen. Mittels dieser »Feuerbachschen Umkehrmethode« (Bluhm 2005: 64) verrückt auch der Sinn der geschichtlichen Entwicklung. Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist nicht länger der am Ende der Geschichte sich selbst gegenwärtige Geist, sondern die allseitige Entfaltung der Individualität. »Das ist
134 Dass Marx Hegels Dialektik vom Kopf auf die Füße gestellt habe, ist eine namhaft gewordene Rede. Bei Marx selbst heißt es zur »Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen« widerfährt: »Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen« (Marx 1873: 27).
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bei Marx der einzig mögliche Sinn der geschichtlichen Entwicklung« (Gorz 1983b: 171). »Zwar bleibt der Sinn, den Marx in der historischen Entwicklung zu lesen glaubte«, auch für Gorz (1988: 141) »der einzig mögliche«, doch richtet er seine ganze Wortgewalt gegen das Ketten dieses Sinns an einen dialektisch fortschreitenden geschichtlichen Prozess. »Die marxistische Geschichtstheorie, die wie die hegelianische Eschatologie, vom Ende der Geschichte ausgeht um die Geschichte selbst zu deuten – als wäre dieses Ende wie in den biblischen Prophezeiungen von Gottes Willen seit jeher in den Himmel geschrieben« (Gorz 1983b: 171).
Die ohnehin »defizitäre Verknüpfung von Handlungs- und Strukturtheorie« bei Marx (Bluhm 2005: 77), verschärft sich für Gorz unter geschichtsphilosophischen Vorzeichen, da Handeln hier im eigentlichen Verständnis »belanglos« sei (Gorz 1980: 11). Trotz aller Umstülpung habe Marx die im Hegelianismus herausgestellte Bedeutungslosigkeit des Tuns und Wollens der Individuen bewahrt. Entsprechend der existential-philosophischen Tradition, die stets »gegen Hegel Kierkegaard ins Feld« führt (Sartre 1943: 435), verteidigt auch Gorz die Ansprüche des Individuums und kritisiert insbesondere in La Morale de l’histoire (1959) ein Denken, das glaubt, bei »der Freiheit [...] nicht von der Einzelheit, vom einzelnen Selbstbewußtsein ausgehen« zu müssen, »sondern nur vom Wesen des Selbstbewußtseins« und ergo verkündet: »denn der Mensch mag es wissen oder nicht, dies Wesen realisiert sich als selbständige Gewalt, in der die einzelnen Individuen nur Momente sind« (Hegel 1820: 403). Der gleichen Struktur des Gedankens begegne man bei Marx, wenn er verlauten lässt: »Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet« (Marx/ Engels 1845: 38).135 135 Im selben Text von Marx und Engels, gemeint ist Die Heilige Familie, heißt es in einem völlig konträren Sinn und auf Linie von Gorz: »Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie ›kämpft keine Kämpfe‹!« (Marx/Engels 1845: 98). Diese Inkonsequenz lässt sich mit Harald Bluhm dahingehend erhellen, dass »Engels und Marx, so sehr sie sich dagegen auch verwahren mögen, selbst wie-
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Gorz liest – wie es an der zitierten Passage nachvollziehbar werden mag – Marx letztlich als einen Denker des Seins, in dessen deterministischem Modell der objektiven Notwendigkeit das Proletariat sich selbst befreit (Gorz 1955: 116). Befragt nach La Morale de l’histoire bemerkt Gorz in einem Interview aus dem Jahr 1983: »Selbstbefreiung als Vorbestimmung erschien und scheint mir weiter eine widersprüchliche Sache« (Gorz 1983b: 166). Ein Existentialist wie er bleibt jeder Art von Determinismus gegenüber skeptisch. Niemand, auch nicht das Proletariat, sei vollkommen in eine objektive Situation getaucht, die jeden Entwurf ausschließt.136 Marx jedoch, als Denker des Seins, lasse das Proletariat »biologisch programmiert und vorbestimmt wie eine Biene« auf seine Befreiung hinvegetieren.137 »Eine zwingende Notwendigkeit sich zu befreien« aber, so Gorz apodiktisch im besagten Interview, »kann es nicht geben« (Gorz 1983b: 166). Eine solche Befreiung trage das Merkmal einer Pflichterfüllung. Pflichterfüllung jedoch habe mit Freiheit nichts zu tun. Mehr noch, sie laufe dem Sinn von Freiheit zuwider. Sich selbst befreien könne nur etwas, was im Prinzip auch frei und gerade nicht determiniert, verpflichtet oder in irgendeiner Form genötigt ist.138 Freiheit konstituiert sich in der existential-philosophischen Logik aus dem Umstand der Unfestgelegtheit und Nichtkoinzidenz des Existierenden. Der Existierende ist demnach »das, was er nicht ist, und nicht das, was er ist« (Sartre 1948b: 269). Von diesem Aperçu aus nimmt Gorz Anstoß an Marx’ Gedankengang, wonach das Proletariat das ist, »was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird« (Marx/Engels 1845: 38). Für Gorz
derholt Zuflucht zur Vorstellung selbsttätiger Kollektivsingulare, wie etwa dem der Klasse« nehmen (Bluhm 2010: 17). 136 Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an Lenin und die bolschewistische Revolution in Russland. Die objektive Situation, verstanden als industrielle Rückständigkeit Russlands und dem Fehlen eines wirkmächtigen Proletariats, machte die Revolution zu einer Unmöglichkeit. Dass die Revolution dennoch gelang, war, so kann aus Perspektive der Existentialphilosophie argumentiert werden, einem Entwurf geschuldet, der der Unmöglichkeit der objektiven Situation trotzte. 137 Die Worte »biologisch programmiert und vorbestimmt wie eine Biene« verwendet Gorz nicht im direkten Zusammenhang mit Marx, sondern als Entgegensetzung zum philosophischen Sinn von Freiheit, vgl. Gorz 1983b: 173. Die Worte scheinen mir aber zweckmäßig, um zu veranschaulichen, inwiefern Gorz Marx als einen Denker des Seins versteht. 138 Das heißt nicht, dass die Freiheit auch kulturell bzw. historisch gegeben sein muss. Die Worte »im Prinzip« verweisen vielmehr darauf, dass Freiheit im Sinn einer Befähigung zur Freiheit vorhanden sein muss.
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verdinglicht Marx hier das Proletariat, da nur ein Ding ist, was es ist.139 Damit sabotiere er sein eigenes, in der Kritik am Hegelschen Idealismus gewonnenes Vorhaben: das Zurückgehen auf die sinnlich-leiblichen Individuen. Meine man es hingegen ernst mit diesem Zurückgehen, so müsse man auch die spezifische Existenz eines jeden Proletariers berücksichtigen. Dies ist der Grund, warum Gorz zu dem Schluss kommt, darauf hat er bereits in La Morale de l’histoire (1959) nachdrücklich hingewiesen, »dass das Proletariat nur in dem Ausmaß revolutionär und befreiend handelt, in dem es sich in allen seinen Mitgliedern zum Subjekt der Negation dessen macht, was die materiellen Verhältnisse aus ihm machen« (Gorz 1983b: 166). Das wiederum heißt aber, dass das Proletariat, in allen seinen Mitgliedern, aus sich das zu machen hat, was es nicht ist, und nicht das, was es ist. Gorz zielt auf die Freilegung der in der Denkfigur der Reichen Individualität von Marx verwischten Frage, warum die Individuen die autonome Entfaltung ihrer Individualität anstreben. Diese Frage könne man nicht mittels einer Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung und dem Sein einer emanzipatorischen Klasse beantworten. Zudem ist Gorz davon überzeugt, dass »die Entwicklung der Produktivkräfte weder eine Befreiung noch ihr soziales Subjekt« hervorbringt (Gorz 1988: 140). Als Existentialist lehnt er geschichtsphilosophische Überlegungen und Vorstellungen von Kollektivsubjekten, wie sie bei Hegel und Marx anzutreffen sind, ab und öffnet damit das Feld für die konkrete Situation der sinnlich-leiblichen Individuen.140 In dieser konkreten Situation sei letztlich nichts durch eine historische Notwendigkeit vorgeschrieben, sondern alles »von unserer Freiheit abhängig – auch unsere Freiheit selbst« (Gorz 1988: 141). Damit rückt das Tun und Wollen der Individuen in den Blick. 141 Die Antwort auf 139 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen unter der Überschrift »Menschen und Dinge« im Text Die Aktualität der Revolution. Hier heißt es: »›Es gibt Menschen und Dinge‹, sagte Sartre einmal in einer Diskussion; […] Es gibt Menschen und Dinge, Menschen, die keine Dinge sind, und die nicht eins sind mit ihrer Funktion im kapitalistischen Produktionsprozess« (Gorz 1969a: 242-247, hier 246f.). 140 Besonders eindringlich heißt es bei Gorz: »Wir gehen nirgendwo hin, die Geschichte erzeugt keinen Sinn. Von ihr ist nichts zu erhoffen, auch ist ihr nichts zu opfern« (Gorz 1980: 68). 141 An dieser Stelle ist wichtig, zu bemerken, dass Gorz’ existential-philosophische Überlegungen nicht auf die Naivität hinauslaufen, dass der Mensch tun und lassen kann, was er will. Im Gegenteil. Gorz’ Denken kann als eine Problematisierung des Verhältnisses von Tun und Wollen verstanden werden. Diese Problematisierung lässt sich mittels der folgenden Fragestellung veranschaulichen: Was kann der Mensch tun, das er auch wollen kann? Wichtig ist hierbei die Syntax der Fragestel-
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die Frage nach dem Warum könne nur von den sinnlich-leiblichen Individuen selbst gegeben werden, indem sie ihrem Tun aus leibhaftiger Einsicht den von Marx erdachten Sinn geben. Da die Geschichte keinen vorgegebenen Sinn habe, ausnahmslos sinnlos sei, erfülle sich die freie Entfaltung der Individualität »nur durch den unnotwendigen, freien, stets unvollendeten, sterblichen und verwundbaren Akt der Sinngebung«, der »in keiner Notwendigkeit gründet, sondern allein in der menschlichen Freiheit, der er vorschwebt« (Gorz 1990: 12).
Sollte die Denkfigur der Reichen Individualität jemals Realität werden, so nicht etwa deshalb, »weil dies der Sinn der Geschichte wäre – sondern einzig deshalb, weil wir Geschichte gemacht hätten, damit sie diesen Sinn erhält« (Gorz 1988: 141). Dieses Geschichte-Machen, diese Gestaltungsfähigkeit impliziert aber, dass die Individuen nicht determiniert sind, sie also für ihre Befreiung und »die damit verknüpfte volle Entwicklung ihrer Talente nicht etwa aufgrund dessen [kämpfen], was sie bereits sind, sondern aufgrund ihres Bestrebens zu sein, was sie nicht (oder noch nicht) sind: also aufgrund ihres Strebens nach Selbstentfaltungsmöglichkeiten, die (noch) nicht gegeben sind« (Gorz 1988: 140).
5.
Resümee und Ausblick
Wie gezeigt, vollzog sich seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts eine Transformation der Marx’schen Theorie zur geschlossenen Weltanschauung des dialektischen Materialismus. Rekapituliert man den Prozess der Transformation, so lassen sich Schübe einer Dogmatisierung bis zum Verkommen des Marxismus zur formelhaften Einheitslehre beobachten. Im marxistischen Denkraum des Nachkriegs-Frankreichs fiel dieser materialistisch gehärtete Einheitsmarxismus auf fruchtbaren Boden. Viele französische Marxisten, allen voran die Parteimarxisten, huldigten dem dialektischen Materialismus und mit diesem – in ritualisierter Reihenfolge – Marx, Engels, Lenin und Stalin. Gorz fühlt sich davon abgestoßen und unterstellt den Marxisten Religiosität und Fanatismus. In dieser Diagnose sind Motive subjekt- und erkenntnistheoretischer Art verklammert. Gorz wendet Husserls Kritik am Szientismus und Objektivismus in den Naturwissenschaften lung. Sie weist darauf hin, dass wir nach Gorz zunächst immer in ein heteronomes Tun verwickelt sind. In bestehende soziale Gefüge und Normensysteme hineingeboren, die unser Tun anhalten, könne von autonomem Wollen zunächst überhaupt keine Rede sein.
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auf den dialektischen Materialismus an. Dabei wird deutlich, dass die Marxisten den Boden der gelebten Erfahrung verlassen und sich selbst, wie auch ihre Erkenntnisse, als Marxisten nicht mehr begründen können, da sie jeglichen Sinn menschlicher Handlungen aus einem lebensweltlichen Zusammenhang verbannt und in die äußere Realität der Materie ›einbalsamiert‹ haben. Auf die Art blockiere der Marxismus das Verstehen im Sinne der Evidenz, werde zum Glauben an die Allmacht des Außer-Menschlichen und betreibe eine Ausmerzung der Subjektivität. Das von Gorz im dialektischen Materialismus erkannte Bemühen um Pulverisierung der Subjektivität und das damit einhergehende Kompromittieren der Möglichkeit einer Realisierung von Freiheit – verstanden als die Aussicht, dass die Menschen sich zu den bewussten Subjekten ihrer Handlungen machen – sieht er durch Althussers strukturalistische Interpretationen des Marxismus im Frankreich der 1960er und 1970er Jahre weiterbetrieben. Dessen objektivistischen Theorieentwurf, der menschliche Handlungen vollends durch Strukturen determiniert sieht und jedwede subjektive Regung im Geiste Lenins als Reflex einer objektiven Realität begreift, destruiert Gorz entschieden als Revitalisierung des marxistischen Dogmatismus. Bei Gorz’ positivem Bezug zum marxistischen Denken tritt der libertäre Charakter der Gesellschaftslehre von Marx hervor. Dabei zeigt sich, dass Althussers Ausspielen von Marx gegen Marx auch Gorz eigen ist, nur eben in umgekehrter Art und Weise: Per einer selektiven und direkten Lesart werden deterministisch gefärbte Theoriebausteine umschifft und jene herausgestellt, denen Marx explizit die Thematik der Freiheit eingeschrieben hat. Insbesondere die Denkfigur der Reichen Individualität und die darin eingewebte Forderung nach der freien Entfaltung der Individualität werden von Gorz systematisch reflektiert. Ziel ist dabei, der libertären Dimension des Marxismus Gehör zu verschaffen und an den emanzipatorischen Sinn zu erinnern, den Marx in der Geschichte zu lesen glaubte. Bei dieser – von mir als ›existentialistische Marxinterpretation‹ bezeichneten – Stellungnahme geht es aber weder um eine Privilegierung eines ›Triumphes der Vernunft‹, noch um eine der Geschichte, wie sie in der Tradition von Hegel und Marx zu finden sind. Die Akzentuierung des Zusammenfallens von gesellschaftlichem Sein und persönlicher Existenz sowie der geschichtstheoretischen Perspektive in der Denkfigur der Reichen Individualität werden existential-philosophisch kritisiert und durch einen subjekttheoretischen Ansatz ersetzt. Stoßrichtung ist dabei, der totalitären Gefahr wie auch der als unvereinbar erkannten Verklammerung von Notwendigkeit und Befreiung bei Marx beizukommen. Hier zeigt sich, dass Gorz die Akzentlegung auf Außer-Menschliches nicht erst durch Engels und Lenin sowie deren Nachfolger in die Marxsche Theorie eingeschleust sieht, sondern jene bereits bei Marx selbst identifiziert. Im
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dialektischen Materialismus werde Marxens deterministischer Akzent lediglich zu einer religiösen Dogmatik umgestaltet. Als Ertrag der Ausführungen zu diesem Punkt kann festgehalten werden, dass Gorz’ Verhältnis zu Marx und zum Marxismus höchst ambivalent ist. Es gibt einen durchgängig kritischen Bezug auf deterministische Elemente im Marxismus, der auf einer existential-philosophischen Grundierung beruht. Nur wenn man diesen kritischen Bezug als integralen Bestandteil auch bei der positiven Bezugnahme mitbedenkt, im Rahmen derer Marx, mit einigen Abstrichen, geradezu als existentialistischer Autor zum Zuge kommt, nur dann kann man Gorz’ Verhältnis zu Marx und zum Marxismus gerecht werden. Dann erst tritt hervor, dass die Übernahme von Marx’schen Motiven nicht nur äußerst selektiv ist, sondern auch erst nach erheblicher existential-philosophischer Bearbeitung und ihre Geltung einschränkenden Transformationen erfolgt. Wegen dieser, immer auf phänomenologischem Boden verbleibenden, ›existentialistischen Marxinterpretation‹ – die in erster Linie kritische Auseinandersetzung ist und den Marxismus nur deshalb nicht in Gänze zu verwerfen scheint, weil sie Marx den Verdienst des Erdenkens eines emanzipatorischen Ursinns zuerkennt –, befinde ich die Einordnung von Gorz als einen Marxisten als zu unspezifisch. Meine Darstellung zeigt, dass Gorz weder genau Zwischen Marx und Sartre (Bohlender 2013) verortet, noch als ein Denker mit einer »beinahe orthodox marxistisch wirkenden Manier« (Brumlik 2009: 39) verhandelt und schon gar nicht ihm ein Aus- oder Eintreten in »den geschichtsphilosophischen Rahmen der Marxschen Theorie« (Honneth 1989: 101) unterstellt werden kann. Gorz derart zu verhandeln heißt, sein Verhältnis zu Marx und dem Marxismus in einer mehr oder weniger inadäquaten Weise zu bestimmen und ihn zu einseitig marxistisch zu lesen. Diese Lesart ist insbesondere im deutschsprachigen Raum verbreitet, wo die Schriften Fondements pour une morale (1955) und La morale de l’histoire (1959) unübersetzt geblieben sind und Le traître (1958) erst spät, im Jahr 1980, zugänglich wurde. Sie enthält die allgemeine Tendenz, den Autor von Adieux au prolétariat (1980) als Marxisten zu identifizieren, der mit besagter Schrift »überraschend aus der ›Sankt-Marx‹-Kirche« ausgetreten ist (DER SPIEGEL 1981: 222), das heißt, einen Befreiungsschlag vom orthodox-marxistischen Deutungsmuster unternommen hat. Was man hierbei offensichtlich übersieht oder nicht sehen will, ist, dass Gorz eben nicht »marxistisches Vokabular […] wie selbstverständlich gebraucht« (Becker 2009: 15). Viele Formulierungen, die seine Marxinterpretation begleiten – exemplarisch sei hier der Ausdruck ›Subjekt‹ genannt –, bleiben innerhalb eines marxistischen Horizonts unverständlich. In Marxens Theoriesprache und seiner systematischen Theorie der kapitalistischen Ökonomie ließen sie sich nicht ausdrücken. Gorz’ Begrifflichkeit
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erhält ihren ganzen Sinn erst dann, und nur dann, wenn man sie mit existentialphilosophischen Überlegungen in Verbindung bringt und sie sich so als phänomenologische Theoriesprache zu erkennen gibt. Erst dann wird deutlich, dass Gorz ein orthodox-marxistisches Deutungsmuster nie eigen war, sondern er von jeher aus einer existential-philosophischen Perspektive Bezug zum Marxismus genommen hat. Dass ein Übersehen dieses Zusammenhanges Einfallstor für Missverständnisse und Fehlschlüsse ist, sei abschließend noch einmal anhand einer Szene angezeigt. Die Arbeitstagung in Oberursel im Sommer 1983. Es spricht Bernd Rabehl. Gorz ist ein »anfangs marxistisch orientierter Theoretiker«, der sich dann in Adieux au prolétariat »theoretisch gegen Marx« wendet (DGB 1983: 27 und 33). Nach Stratégie ouvrière et néocapitalisme »schreibt der Gorz eine andere Theorie, wo er seinen eigenen Ansatz über Bord wirft« und fortan »in einem Traumschiff sitzt« (DGB 1983: 85 und 116). Rabehl spricht vom »frühen« und vom »späten Gorz« und spießt die Theorie des späten, jene also von Adieux au prolétariat, als anti-marxistisch und »nicht schlüssig« auf (DGB 1983: 77). Von Individualisierung der Probleme ist die Rede. »Bei dem späten Gorz, der individualisiert das Problem meiner Ansicht nach, indem er bestimmte Leute beschreibt, uns, sich selbst. Aber gerade weil es individuell bezeichnet wird, ist das keine machtpolitische Position« (DGB 1983: 77).
Die Mitdiskutanten der Tagung sehen es ähnlich. Man kritisiert die neuerdings vorgetragene Fixierung auf individuelle Moral und identifiziert einen Bruch im Gorz’schen Denken.142 Gorz mimt den Unschuldigen: »Ich bin mir keines Bruches, keiner ›epistemologischen Wende‹ in meinen Denken – zwischen dem ›Strategie‹-Buch und dem ›Abschied‹ – bewußt, obwohl ca. 15 Jahre zwischen den beiden liegen. Beide waren für mich philosophische Essays über dieselbe grundlegen-
142 In diese Richtung argumentiert auch Oskar Negt. In einem persönlichen Schreiben, das er anlässlich des 65. Geburtstages von Gorz verfasst, bemerkt er: Da gibt es Brüche »in Deinem Denken, von denen Du Dich vielleicht nie ganz erholt hast«. Weiter heißt es, dass Gorz »Mitte der siebziger Jahre (spätestens) zur Marx’schen Gesellschaftstheorie ein Verhältnis bekomm[t], in dem dialektisch-materialistisches Denken zunehmend durch kritischen Individualismus überlagert und davon noch einmal verkürzt wird« (Negt 1989: 61 und 64).
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de Frage: Die Frage der Entfremdung und der Möglichkeit ihrer Überwindung« (DGB 1983: 118).
Entfremdung sei weder als politischer noch als ökonomischer Begriff zu verstehen. Vielmehr kulminiere der Begriff in der entscheidenden Frage, die die westliche Philosophie durchzieht: »Was hindert die Menschen zu sich selbst zu kommen, d.h. die bewußten Subjekte ihrer Handlungen zu werden und sich durch diese allseitig zu entfalten?« (DGB 1983: 118). Einer solchen Frage könne man nicht allein mit Verweisen auf materielle und soziale Hindernisse begegnen, belehrt Gorz die immer wieder auf Marx und den Marxismus Rekurs nehmenden Mitdiskutanten. »Diese Hindernisse würden nie akzeptiert werden, wenn die Verhinderung des Selbstwerdens nicht auch – wie das von der Existentialphilosophie und auch von der Frankfurter Schule, von Erich Fromm, von Wilhelm Reich usw. verschiedentlich theoretisiert wurde – einem ontologischen Hang zur Flucht vor dem Selbst entspräche« (DGB 1983: 119).
Das Überwinden von materiellen Hindernissen, so versucht er den ehernen Marxismus der Gewerkschaftslinken zu lockern, sind nur von emanzipativem Charakter, wenn die Handlungen und die zur Anwendung gebrachten Mittel das individuelle Streben nach Selbstwerdung vergegenwärtigen und erfahrbar machen. Von dieser Einsicht habe er nie abgelassen. Das finde sich sowohl in Stratégie ouvrière et néocapitalisme als auch in Adieux au prolétariat. In beiden Büchern ginge es um Selbstbestimmung als erlebten Sinn, um die Möglichkeiten im Leben Autonomie erfahren zu können; letztlich um den Versuch, Antwort zu geben auf die Fragen: »Was wollen wir eigentlich? Was können wir wollen, ohne uns selbst zu verleugnen?« (DGB 1983: 125). Dieser Moment mündlicher Philosophie verwundert. Man sei jetzt »auf einem höheren Niveau verwirrt«, so »wie nach der Hegel-Lektüre«, heißt es aus den Reihen der Mitdiskutanten (DGB 1983: 134). Die Verantwortlichen für die Erstellung des Diskussionsprotokolls der Tagung – Rainer Maischein und Martin Jander – nehmen diesen Irritationsmoment zum Anlass, um im Oktober 1983 nach Frankreich zu reisen und Gorz nach der philosophischen Tradition seines Denkens zu befragen. In einem ausführlichen Interview steht er ihnen Rede und Antwort. Am Ende des Diskussionsbandes heißt es: »Ausgangspunkt der Überlegungen für dieses Interview war die Bemerkung von André Gorz, er verstehe sowohl die ›Strategien der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus‹ als auch den ›Abschied vom Proletariat‹ als philosophische Essays. In der vier Tage dauern-
212 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT den Diskussion war André Gorz jedoch eher als ›Industriesoziologe‹ und ›Theoretiker der Neuen Linken‹ verstanden worden. Der Zusammenhang seines Denkens zum Existenzialismus von J.P. Sartre war vernachlässigt worden« (DGB 1983: 199).
Anhand dieser Szene mag noch einmal verständlich werden, warum ich vorschlage, Gorz nicht schlankweg als Theoretiker Marx’scher Tradition oder als Abweichler dieser Tradition zu identifizieren und zu kritisieren, sondern sein Verhältnis zu Marx und zum Marxismus mittels der Formulierung ›existentialistische Marxinterpretation‹ zu fassen.
E. Zwei Studien zum Werk
Im Folgenden werden zwei Werkphasen ausführlicher betrachtet. In einem ersten Schritt erfolgt die Darstellung der Hinwendung zur Ökologie, die Gorz in den 1970er Jahre vollzieht (I). Im Anschluss wird die Analyse und Kritik der Wissensökonomie erörtert, die in seine letzte Schaffensphase fällt (II). Insgesamt betrachtet geht es in den zwei Studien darum, nach den Spuren des existentialistischen Denkens im politisch-praktischen Feld zu suchen, diese in der mittleren wie letzten Schaffensphase von Gorz nachzuweisen und im Zuge dessen Behauptungen von Brüchen und Kurswechseln in seinem Denken anzuzweifeln.
I.
D IE H INWENDUNG ZUR Ö KOLOGIE
»Wenn Du kommst, mit Jadja, wirst Du’s sehen und im Wald Dich, Euch in die uralte hohle Eiche stellen u. die Energiefelder fühlen, die sie an sich entlang leitet. Es wird uns beide freuen«.1 Das in diesen Briefzeilen angekündigte Ritual ist guten Freunden vorbehalten. »Als ich vor Jahren Dorine und Gérard in Vosnon besuchte« erinnert Dick Howard, »durchquerte er mit mir einen kleinen Wald. Wir gingen zu einem ausgehöhlten Baum, der für ihn etwas Besonderes war. Der Baum war hohl, aber nicht abgestorben. Gérard deutete auf vier aus der Erde ragende Stämme. ›Umgreife sie und du wirst die Energie des Baumes fühlen‹, befahl er mir regelrecht streng. Und das tat ich dann«.2
Was hat es mit dieser merkwürdigen Szene auf sich? Diffuse Spiritualität eines Eins-Werdens mit der Natur? Das Umgreifen des Baumes als kosmisch fühlende
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Brief von Gorz an Hörl, geschrieben vom 08. bis 14. Mai 1992. Howard, Gespräch mit A.H. am 18. Februar 2013 in Paris.
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buddhistische Naturbeziehung? Aneignung einer mystischen Haltung, die sich aus der Hinwendung zur Ökologie gewinnt? Eins scheint mir sicher, all das ist es nicht. Was auch immer die genaue Bedeutung der Szene sein mag, die im Übrigen auch Dick Howard nur mutmaßlich zu benennen weiß,3 und wider dem Anschein nach: Gorz ist kein esoterischer Öko. Mehr noch: Bei seiner Hinwendung zum Thema der Ökologie, die sich in den 1970er Jahren vollzieht und in den Schriften Écologie et politique und Écologie et liberté dokumentiert ist,4 wird eine solche Haltung ausdrücklich abgelehnt. »Die Natur ist für den Menschen nicht gut. Sie ist kein Garten, der eigens für ihn angepflanzt worden ist. Das menschliche Leben auf der Erde ist ungewiß und um sich zu entfalten, muß es bestimmte Gleichgewichte des Ökosystems verschieben. […] Die Natur ist also nicht unantastbar« (Gorz 1977a: 20).5
Und an anderer Stelle wird er noch deutlicher: »Weder die Menschen noch irgendwelche Tiere haben je im Frieden mit der Natur gelebt. […] Bei so manchen Grünen, die ich ›religiös‹ nennen würde, hört es sich immer so an, als könnte der Mensch von jeglicher Unterwerfung der Natur absehen, wenn er nur nicht
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Dick Howard vermutet, dass »der Sinn« des Rituals sich »möglicherweise« aus »den Fondements pour une morale« gewinnen lässt, weil Gorz sich hier intensiv »mit der Natur und dem Leib in der Natur beschäftigt« (Howard, Gespräch mit A.H. am 18. Februar 2013 in Paris). Zu Deutsch Ökologie und Politik und Ökologie und Freiheit, vgl. Gorz 1975a und Gorz 1977a. Bezug nimmt Gorz hier auf Sartres Theorem der »rareté«, vgl. Sartre 1960b: 129-162. Noch im Januar 2007, in einem seiner letzten Briefe, erinnert Gorz an dieses Theorem: »In Sartres ›Kritik der dialektischen Vernunft‹«, heißt es hier, »spielt ›rareté‹ (in der deutschen Fassung als ›Mangel‹ übersetzt, statt als ›Begrenztheit‹) eine bedeutende Rolle als Negativität die negiert werden muss. […] Der Umgang mit der realen u. potenziellen Begrenztheit ist folglich die wichtigste gesellschaftlich-kulturellezivilisatorische Aufgabe« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 09. Januar 2007). Die »ursprüngliche Negation«, so erklärt Gorz das Theorem im Text Sartre und der Marxismus, »die ihrerseits zu negieren ist, weil sie eine Todesgefahr darstellt, ist nach Sartre der Mangel. Damit ist die Tatsache gemeint, daß die natürliche Umwelt dem organischen Leben feindlich ist, daß ›das Leben auf Erden unwahrscheinlich ist‹, daß ›nicht genug für alle da ist‹. […] Damit das Leben möglich ist, muß er [der Mensch] die natürliche Umwelt verändern« (Gorz 1966c: 233f.).
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so böse wäre und die gute Natur mit Liebe zu behandeln bereit wäre. Das ist Quatsch« (Gorz 1990: 16f.).
Gorz zufolge ist der Mensch durch und durch unnatürlich, also nicht auf Eintracht mit der Natur geeicht. In seinen Worten, die in Écologie et politique geschrieben stehen: »das Leben ist néguentropie, der Mensch ist – nach einem Ausspruch Sartres – improbable« (Gorz 1976: 127). Das ist Gorz’ Sartre’scher Existentialismus, oder anders, aber gleichbedeutend, sein ausgesprochenes Ablehnen aller Formen des Naturalismus. Trotz der einschlägigen Bekundungen in den Ökologie-Büchern, die explizit auf Gorz’ philosophischen Background verweisen, wird seine »Hinwendung zur politischen Ökologie«6 als »philosophisch-politischer Kurswechsel« interpretiert (Münster 2008: 23), wobei reichlich Wendungs- und Wandlungsrhetorik zum Einsatz kommt: »Wende bei Gorz«; »Wende zum Öko-Sozialismus«; »ökologische Wende in seinem Denken« (Münster 2008: 58, 63). Gorz habe sich bei dieser Kehrtwende unter dem Einfluss von Ivan Illich zum »Anwalt und Sprecher« einer »ökologische[n] Revolution« gemausert (Münster 2008: 64) und »sich als Theoretiker einer ›grünen Revolution‹ zu profilieren« gewusst, »der er im Grunde genommen bis zu seinem Lebensende im Jahr 2007 verpflichtet gewesen« sei (Münster 2013: 227). Im Gegensatz dazu bemerkt Egon Becker, dass in »den achtziger Jahren« die Thematik der Ökologie bei Gorz »kaum noch« anzutreffen sei. »In seinen Arbeiten nach 1980 treten ökologische Argumente immer mehr in den Hintergrund«; sie sind »gewissermaßen« verschwunden, so Becker (2009: 18). In Konfrontation mit dieser Darstellung wirkt das Bild vom bis zum Lebensende standhaft gebliebenen grünen Revolutionär dann doch etwas überzeichnet. Bei genauer Betrachtung fällt tatsächlich auf, dass Gorz ungesehen der Ökologie-Bücher, die in den 1970er Jahren verfasst wurden, nur noch selten, zumindest in längeren Texten, das Thema der Ökologie explizit ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. Einer dieser seltenen Texte ist der 1992 erschienene und 6
Gorz’ Hinwendung zur Ökologie wird oft, wie hier von Arno Münster, als eine Hinwendung zur politischen Ökologie bezeichnet. Obgleich Gorz sich in den 1970er Jahren nur selten ausdrücklich auf die Formulierung »politische Ökologie« beruft, sondern mit dem Begriff »Ökologismus« operiert, vgl. Gorz 1977a: 15-17, ist diese Bezeichnung insofern adäquat, als dass er versucht, »die Ökologie als Hebel für eine radikale Kritik an der bestehenden Gesellschaft zu benutzen « (Gorz 1977a: 15), was in der Tat im Bezeichnungsradius des Begriffes »politische Ökologie« liegt. Zur näheren Auseinandersetzung mit dem Begriff, der Geschichte und den Aufgaben der politischen Ökologie vgl. Mayer-Tasch 1999.
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Dick Howard gewidmete Artikel L’écologie, ce matérialisme historique.7 Hier unterstreicht Gorz (1992: 35) nochmals, wie wenig er vom Begriff »›Natur‹« hält, von der »Natur der Naturalisten« und der Naturauffassung »der wissenschaftlichen Ökologie«. Ferner liegt der Akzent in diesem Text auf einer Problematik, vor der er bereits in den Ökologie-Schriften eindringlich gewarnt hatte: dem »›Öko-Faschismus‹« (Gorz 1973a: 86).8 Die ökologische Bewegung wird in L’écologie, ce matérialisme historique ermahnt, wie wichtig »Autonomie- und Selbstbestimmungsfähigkeit der Individuen« seien (Gorz 1992: 38), um die ÖkoDiktatur zu verhindern. Weiter heißt es: »Ohne hier im Einzelnen auf die Frage einzugehen, die ich an anderer Stelle erörtert habe, erinnere ich nur daran, dass die ökosoziale Politik hauptsächlich im Bemühen besteht, […] die gesellschaftlich notwendige Arbeit so umzuverteilen, dass alle arbeiten und sowohl besser wie weniger arbeiten können; Autonomieräume zu schaffen, in denen die von der Arbeit befreite Zeit von den Individuen für Tätigkeiten ihrer Wahl verwendet werden kann, einschließlich der Selbstproduktion von Gütern und Dienstleistungen, die ihre Ab-
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Zu Deutsch Die politische Ökologie zwischen Expertokratie und Selbstbegrenzung, vgl. Gorz 1992. Im Folgenden verwende ich statt »Öko-Faschismus« die Formulierung ›Öko-Diktatur‹, da diese mir angemessener erscheint. Gorz verwendet wahlweise neben »ÖkoFaschismus« auch die Bezeichnung »Technofaschismus«. Beide Begrifflichkeiten lassen sich als Zuspitzung des Begriffes Technokratie auffassen. Allgemein kann unter Technokratie die Herrschaft durch wissenschaftlich ausgebildete Fachleute bzw. Technokraten verstanden werden. Mit der Kopplung des Begriffes an den des Faschismus ist eine herrschafts- und ideologiekritische Verwendung angezeigt, die Verbindung zu einem Diskursstrang hält, für den prominent in den 1960er und 1970er Jahren Herbert Marcuse und Jürgen Habermas stehen, vgl. Marcuse 1964 und Habermas 1969. Beide hatten im »Spätkapitalismus« die »Dauerregulierung des Wirtschaftsprozesses durch staatliche Interventionen […] aus der Abwehr systemgefährdender Dysfunktionalitäten eines sich selbst überlassenen Kapitalismus« beobachtet (Habermas 1968: 75). In seiner Auseinandersetzung mit der Ökologie kommt Gorz zu einem ganz ähnlichen Befund: Der sich selbst überlassene Kapitalismus zerstöre die Umwelt und gefährde das Überleben, warum per Dauerregulierung des Wirtschaftsprozesses durch staatliche Interventionen der Kapitalismus ökokompatibel gemacht wird. Damit einher gehe eine Ausweitung der Herrschaft des Staatsapparates, in welchem wissenschaftlich ausgebildete Fachleute das Überleben unter Berücksichtigung der ökologischen Zwänge kalkulieren und sichern, was letztlich in eine wissenschaftliche Diktatur mündet, sprich in eine Öko-Diktatur. Dieser Befund von Gorz ist eine postpolitische Diagnose und weist eine gewisse Nähe zur aktuelleren Debatte um die so genannte »Postdemokratie« auf, vgl. Rancière 1997 sowie Crouch 2003.
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hängigkeit vom Markt und von professionellen oder administrativen Übernahmen verringern« (Gorz 1992: 49).
Und in diesem Bemühen liege schließlich das wirksamste Gegengift gegen ökodiktatorische Tendenzen. An dieser Stelle mag der Einwand vorgebracht werden, Gorz versuche im Nachhinein, nämlich im Jahr 1992, seine in den 1980er Jahren forcierte Kritik der Arbeit, die im Entwurf einer dualistischen Gesellschaft zur Konsequenz gebracht wird, mit seinen ökologischen Ideen der 1970er Jahre zu verknoten, was nur als akrobatisches Kunststück gelingt. Dieser scheinbar berechtigte Einwand übersieht: Die Forderung, massiv die Arbeitszeit zu verkürzen, und die damit verbundene Idee einer dualistischen Organisation der Gesellschaft, sind zwar 1980 in Adieux au prolétariat systematisch vorgetragen und 1983 in Les chemins du paradis weiter ausbuchstabiert,9 aber bereits 1975 vorweggenommen worden, und zwar in einem Text, der in der deutschen Fassung von Écologie et politique als Prolog gesetzt ist.10 Die auf Wiedergewinnung der existentiellen Autonomie abstellende und durch Arbeitszeitkürzung getragene Konzeption der dualen Gesellschaft dient hier als Gegenentwurf zur »Diktatur des Staatsapparates« (Gorz 1975b: 10), sprich zur Abwendung der öko-diktatorischen Gefahr. Nachstehend möchte ich die bisherigen knappen Andeutungen konkretisieren und geordnet darstellen. Dafür werden zunächst Kontexte skizziert, die ausgewählte Ereignisse und Personen herausstellen, die bei der Hinwendung zur Ökologie eine gewichtige Rolle spielen (1). Dann wende ich mich der sogenannten Ökologisierung der Politik zu, die Gorz in den 1970er Jahren beobachtet und die ihm Anlass gibt, eindringlich vor einer Öko-Diktatur zu warnen (2). Im Anschluss zeige ich auf, dass Gorz entgegen der öko-diktatorischen Gefahr eine dualistische Utopie ersinnt, die auf eine maximale Ausweitung der Autonomie und auf eine Moralisierung des Gesellschaftszusammenhangs abstellt (3). Schließlich rekapituliere und pointiere ich meine Darstellung der Hinwendung zur Ökologie (4). Die Hinwendung zur Ökologie ist, wie ich zeige möchte, weit weniger eine »Wende bei Gorz« oder gar ein »philosophisch-politischer Kurswechsel« (Münster) als gemeinhin angenommen. Meine These lautet, dass dem genuin 9
Zu Deutsch Abschied vom Proletariat sowie Wege ins Paradies, vgl. Gorz 1980 und Gorz 1983a. 10 Der angesprochene Artikel erschien am 08. September 1975 im Le Nouvel Observateur und wurde ins Deutsche unter dem Titel Ein anderes Wachstum übertragen, vgl. Gorz 1975b. Zudem findet er sich in deutscher Übertragung im Anhang von Adieux au prolétariat als Eine dualistische Utopie, vgl. Gorz 1980: 155-160.
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existential-philosophischen Thema der Freiheit – entgegen der Vorstellung einer Dominanz von genuin ökologischen Themen – in der Auseinandersetzung mit der Ökologie ein zentraler Platz eingeräumt wird. Der Akzent liegt demnach nicht auf Natur-, Umwelt- und Klimaschutz, sondern auf Autonomie, Subjektivität und Moral. Etwas überzeichnet formuliert, um die Stoßrichtung der hiesigen Ausführungen zu verdeutlichen: Diese existential-philosophischen Grundmotive werden zwar nicht aus den Höhen des Elfenbeinturms der Philosophie auf das Themenfeld der Ökologie fallen gelassen; indes aber als sozialtheoretisch camouflierte politische Strategie in dieses Feld eingeschleust. Insofern gilt auch für Gorz’ Hinwendung zur Ökologie der in Le traître über sich selbst formulierte Satz: »Sein Geschäft« ist »die Existenz und die Freiheit« (Gorz 1958: 292). 1.
Kontexte: Cuernavaca, Massachusetts und Paris
Im Sommer 1972 fällt Gorz ein Vorbereitungstext für ein Seminar in Cuernavaca, Mexiko, in die Hände.11 »Ich weiß nicht, wie Jean Daniel an diesen Text gekommen ist. Er bat mich, ihn für die Zeitung zusammenzufassen« (Gorz 2006a: 69).12 Der Text trägt den Titel Retooling Society und ist mit Ivan Illich unterzeichnet.13 Die zentrale These des Papieres lautet: Das kapitalistische Wirtschaftswachstum steuert auf eine Kette von Katastrophen zu, die das menschliche Leben radikal bedrohen. Gorz ist von dem Geschriebenen geradezu angetan, vor allem von der Idee der konvivialen Werkzeuge.14 Er arbeitet sich in das 11 Das Seminar fand »im CIDOC (Center for Intercultural Documentation) in Cuernavaca während des Sommers 1972« statt (Illich 1973: 9). 12 Jean Daniel war Chefredakteur der Wochenzeitschrift Le Nouvel Observateur, die er gemeinsam mit André Gorz gründete und leitete. 13 Bei diesem Text handelt es sich um einen ersten Entwurf von Illichs Schrift Tools for Conviviality, vgl. Illich 1973. In einem Brief an Andreas Exner heißt es zu diesem Text: »Lieber Andreas, ich bemerke, dass Sie 50 Jahre jünger sind als ich, gerade geboren waren, als Illich in ›Technologie und Politik‹ Nr. 1 einen 1972 verfassten Text veröffentlichte, der mich begeistert hat« (Brief von Gorz an Exner, geschrieben am 05. Juli 2007). 14 Illich unterscheidet, wie Gorz (2005a: 11) bemerkt, zwischen »zwei Arten von Techniken: diejenigen, die er konvivial nannte und die das Feld der Autonomie vergrößern«, und die nicht-konvivialen, »die dieses Feld einengen oder beseitigen« (Gorz 2005a: 11). Bei Illich heißt es: »Werkzeuge sind dann« konvivial, »wenn sie von jedem so oft oder so selten wie gewünscht verwendet werden können, um ein vom Benutzer selbst gewähltes Ziel zu erreichen. […] Wer sie benutzen will, muß keinen Befähigungsschein vorweisen können. […] Sie machen es ihrem Benutzer möglich, seine Vorstellungen durch sein Tun zum Ausdruck zu bringen« (Illich 1973: 42f.). Dem-
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Thema ein, begegnet Illich im Jahr 1973 in Cuernavaca und verbreitet dessen Thesen im Le Nouvel Observateur.15 Einer die Ideen Illichs kommentierender »Artikel trug die Überschrift ›Wenn die Medizin krank macht‹« (Gorz 2006a: 72). Der Kommentar erscheint am 21. Oktober 1974 im Le Nouvel Observateur und ist ein Echo auf Illichs scharfe Kritik der Apparatemedizin. 16 Die ohnehin radikalen Positionen werden von Gorz aus persönlicher Betroffenheit zugespitzt,17 was in Frankreich »erhebliches Aufsehen verursacht« (Améry 1975: 278).18 Der Effekt: Der von Cuernavaca aus operierende Illich erfreut sich einer zunehmenden Bekanntheit.
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gegenüber versteht er diejenigen Werkzeuge als nicht-konvivial, »die auf Grund ihres Ausmaßes, ihrer Herrschaftsmacht oder ihrer speziellen Eigenart keinen menschenfreundlichen Lebensstil zulassen« (Illich zit. n. Gorz 1977b: 144). Angemerkt sei noch, dass Gorz hier aus dem erwähnten Seminarvorbereitungstext von Illich mit dem Titel Re-tooling Society zitiert. In der Folge der Begegnung werden Illich und Gorz eng zusammenarbeiten, was sich vor allem in der gemeinsamen Beratung der von Freimut Duve herausgegebenen Reihe Technologie und Politik. Das Magazin zur Wachstumskrise niederschlägt. Technologie und Politik war ein unregelmäßig erscheinendes Magazin im Rowohlt Verlag, das sich den Themenbereichen Industriekritik, Wachstum, Energiepolitik und Alternativ-Technologien widmete. Neben der Beratungstätigkeit veröffentlichten Illich und Gorz hier auch Artikel. Der im Le Nouvel Observateur erschienene Artikel Quand la médicine rend malade findet sich in der französischen Ausgabe von Écologie et politique unter der Teilüberschrift »Médecine et maladie«, vgl. Gorz 1975a (frz.): 172-192. In der deutschen Ausgabe ist dieser Text nicht enthalten. Der Artikel nimmt Bezug auf Illichs Schrift Nemesis der Medizin, vgl. Illich 1975. Bei Gorz’ Frau Dorine wurde in jener Zeit die durch einen Ärztepfusch verursachte Krankheit Arachnoiditis diagnostiziert. Er bemerkt dazu rückblickend: »Auf den Röntgenaufnahmen der ganzen Wirbelsäule einschließlich des Kopfes, die Doktor Court-Payen verlangt hatte, stellte er fest, dass von den Lenden bis zum Kopf Kügelchen von Kontrastmitteln im Wirbelkanal verstreut waren. Dieses Mittel, Lipiodol, war Dir acht Jahre zuvor injiziert worden, bevor man Dich an einem lähmenden Bandscheibenvorfall operierte. Ich habe den Radiologen, der Dich beruhigte, sagen hören: ›Sie werden dieses Mittel innerhalb von zehn Tagen ausscheiden.‹ Nach acht Jahren war Dir ein Teil der Flüssigkeit in die Schädelgruben gestiegen, ein anderer Teil hatte sich in Höhe der Halswirbel eingekapselt. Court-Payen hat mir die Diagnose mitgeteilt: Du hattest eine Arachnoiditis. Für dieses fortschreitende Leiden gab es keinerlei Behandlung« (Gorz 2006a: 73). Jean Améry bemerkt im vollen Wortlaut: »Vor kurzem lief in der französischen Wochenschrift ›Le Nouvel Observateur‹ ein großer Aufsatz des durch seine philosophischen und nationalökonomischen Schriften bekannten Sartre-Schülers André Gorz,
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Illich macht sich in jenen Tagen einen Namen als Wortführer einer bereits Anfang der 1970er Jahre laut werdenden Aburteilung der kapitalistischen Wachstumsorientierung und einer »ökologischen Kritik am linken Produktionismus«.19 Besonders die Vorstellung, dass »der soziale Fortschritt auf einer ökonomischen Entwicklung beruht« (Gollain 2013: 202), wird von ihm als fatal angeprangert. In seinen Schriften entfaltet Illich eine radikale Zivilisationskritik, die in »Anleitungen zum politischen Handeln« (Gollain 2013: 207) mündet, um einen »klaren Zivilisationsbruch zwecks Überwindung des Industrialismus und des Produktionsmodus der industriellen Megamaschine« (Münster 2013: 228) herbeizuführen. Im Jahr 1975 erscheint unter dem Pseudonym Michel Bosquet Gorz’ Schrift Écologie et politique, die diesem Denken Rechnung trägt. In Écologie et politique prononciert Gorz eine neuartige Krise des Kapitalismus. Das spezifisch Neue der Krise breche sich Bahn, indem das Nutzen von Ressourcen, die vormals sich eigens regenerierten oder einfach im Überfluss vorhanden waren – gemeint sind fossile Brennstoffe wie Öl, Gas und Kohle; Metalle; radioaktive Elemente; eine Vielzahl Mineralien; aber auch Ressourcen wie Wasser, Luft und Raum –, nun, als Folge des Raubbaus, erhebliche Kosten verursacht.20 Auf die Art werde eine Krise der Überakkumulation verschärft und die der erhebliches Aufsehen verursacht hat. Gorz’ Beitrag, der sich auf ein Buch gleichen Tenors von Ivan Illich bezog, versuchte die absurde These zu erhärten, daß praktisch jedermann die häufigsten Krankheiten diagnostizieren und kurieren könne. Von den chinesischen ›Barfuß-Ärzten‹, Arbeitern, die in oftmals nur wenigen Wochen währenden Kursen ausgebildet werden, behauptete Gorz, sie erreichten die gleichen, wenn nicht viel bessere Resultate als unsere Mediziner nach langjährigem Studium. Interessant an solchen Ideen, die überhaupt nicht diskutabel sind, ist nur, daß sie von Leuten vorgetragen werden, die philosophisch geschulte Köpfe, gebildete Analytiker des Zeitgeistes sind und keineswegs wohlmeinende Spinner in irgend einem weltverlassenen Dorf« (Améry 1975: 278). 19 Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 7. Dezember 2011 in Brüssel. Auch Gorz übt scharfe Kritik am Produktionismus der Linken. Bei ihm heißt es: »Man kann nicht mehr davon ausgehen«, dass »die Entwicklung der Produktivkräfte […] an sich etwas Positives« seien, »daß die Produktivkräfte von Produktionsverhältnissen weitgehend unabhängig sind und zu diesen spontan in Widerspruch geraten. Im Gegenteil, die Entwicklung während der letzten zwei Jahrzehnte läßt darauf schließen, daß die Produktivkräfte von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen geformt und so tiefgehend geprägt werden, daß jeder Versuch, die Produktionsverhältnisse zu ändern, scheitern muß, wenn nicht auch die Natur der Produktivkräfte (und nicht bloß ihre Nutzung) verändert wird« (Gorz 1971b: 94f.). 20 Obgleich nicht-erneuerbare Ressourcen für Gorz unmöglich in reichlichen Mengen hergestellt werden können, ist es für ihn freilich »möglich, ein zweites Mal – oder ein
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Reproduktion des Kapitals mehr und mehr verunmöglicht.21 Die ökonomische Entwicklung sei auf materielle Schranken weiteren Wachstums gestoßen. Diese Situation spitze sich zu einer ernsthaften Strukturkrise des hoch entwickelten Kapitalismus zu und lege »das gesamte System bloß für eine Kritik mit nie dagewesenem Radikalismus« (Gorz 1975a: 22).
(n+1) Mal – den Raum, Luft, Wasser, von denen schon andere Gebrauch gemacht haben, nutzbar zu machen« (Gorz 1977a: 25). Für den Raum bedeutet dies beispielgebend, dass Agrarfläche von Landwirten erworben werden muss; erst nach käuflichem Erwerb kann das Agrarland dann zur Industrieansiedelung genutzt werden. Für verunreinigtes Wasser wie auch für verschmutzte Luft gelte: Will man sie nutzen, muss Wiederaufbereitung betrieben werden; erst das Wiederaufbereiten ermöglicht besagten Elementen jene Eigenschaften zurückzugeben, damit sie als Wasser und als Luft nutzbar sind. Gorz geht es bei dieser Argumentation um Folgendes: Was bisher kostenfrei und in Fülle vorhanden war, muss fortan kostenintensiv reproduziert werden. Die Industrie werde genötigt, mehr und mehr ihres Profites auf spezifische Technologien zu verwenden, deren Nutzen lediglich darin besteht, die verbrauchte Qualität verknappter natürlicher Ressourcen rückzugewinnen. Demnach treten erhebliche Kosten in Form von Investitionen auf den Plan. 21 Überakkumulation ist ein von Marx geprägter Begriff, mit dem die Überproduktion von Kapital bezeichnet wird: »Überproduktion von Kapital […], heißt daher weiter nichts als Überakkumulation von Kapital. Um zu verstehen, was diese Überakkumulation ist […], hat man sie nur absolut zu setzen. […] Es wäre eine absolute Überproduktion von Kapital vorhanden, sobald das zusätzliche Kapital für den Zweck der kapitalistischen Produktion = 0« (Marx 1894: 261). Überakkumuliertes Kapital ist demnach akkumuliertes Kapital, das sich nicht oder nur schwerlich verwertet, also nicht profitabel ist. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Die Förderung eines Rohstoffes, etwa eines Steinkohlevorkommens, erfolgt zunächst an einem Ort, der eine hohe Konzentration von Steinkohle aufweist und in der Nähe des Standortes liegt, wo man der Steinkohle bedarf. Obgleich man stets den gleichen maschinellen Aufwand bei der Steinkohleförderung betreibt, wird man über kurz oder lang nicht das gleiche Quantum an Steinkohle fördern können. Und zwar aus Gründen der zunehmenden Knappheit der Steinkohle am Förderungsort. Aufgrund der zunehmenden Knappheit müssen nämlich weniger ergiebige, tiefer liegende oder weiter entfernte Steinkohlevorkommen ausgebeutet werden, um das Quantum an geförderter Steinkohle beibehalten zu können. Und dies bedeutet gesteigerte Kosten für Abbau und Transport. Nun muss beispielsweise in bessere Abbaumaschinen und Lastkraftwagen investiert werden. Die eingesetzte Kapitalmenge steigt also, um das Quantum an geförderter Steinkohle aufrechtzuerhalten, bis schließlich die Masse an aufgewandtem Kapital sich nicht mehr verwertet; das Quantum an geförderter Steinkohle also keinen ausreichenden Profit mehr im Verhältnis zum eingesetzten Kapital einbringt.
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Der skizzierte Krisenbefund ist kein Alleinstellungsmerkmal von Gorz. Vielmehr fügen sich seine Feststellungen in eine breite und geradezu inflationäre Krisendiagnose ein, durch die die kapitalistische Wachstumslogik Anfang der 1970er Jahre vehement in Kritik gerät. Entscheidend ist dabei die Studie des Club of Rome, The Limits to Growth,22 die im Jahr 1972 vorgestellt wird. Die Forschergruppe des Massachusetts Institute of Technology (MIT) unter Federführung von Dennis L. Meadows, die die Studie im Namen des Club of Rome durchführte, konstatiert: Es bedeutet das Ende der Menschheit, wenn die Weltbevölkerung weiter wie bisher anwächst23 und das Schröpfen der natürlichen Ressourcen weiter wie bis dato betrieben wird. Ungestüme Rohstoffverknappung und Umweltzerstörung seien die Folge des industriellen Wachstums und zugleich Anzeige für dessen Grenze. Soll die Katastrophe verhindert werden, muss das materielle Wachstum der Ökonomie umgehend gestoppt werden – so die Empfehlung der Forscher aus Massachusetts. Das Ausschlaggebende für die Wirkmächtigkeit des Berichts des Club of Rome ist weniger der durchweg wissenschaftliche Charakter des Dokuments, sondern vielmehr, dass die Studie aus Massachusetts von schwergewichtigen kapitalistischen Konzernen finanziert worden war.24 Die Botschaft der Apokalypse stammt also nicht von einer kalifornischen Hippie-Kommune oder einer radikalen politischen Sekte aus Paris. Im Gegenteil. Sie ist aus dem Herzen des kapitalistischen Systems heraus formuliert. Und genau das lässt das politische Establishment aufhorchen. Ein geradezu paradigmatischer Fall für dieses Aufhorchen ist der Politiker Sicco Mansholt.25 Der kurze Zeit nach publik werden der MIT-Studie zum Präsidenten der Europäischen Kommission ernannte Mansholt ist von der Lektüre des Berichtes regelrecht erschüttert. Umgehend unterbreitet er Vorschläge für eine Wirtschaftspolitik des Nicht-Wachstums.26 Und diese Vorschläge sind derart radikal, dass querbeet durch die politischen Lager lebhafte Diskussionen ausbrechen, die natürlich auch von Intellektuellen nicht unkommentiert bleiben. So begegnen sich Mansholt und Gorz im Juni 1972 auf einem Symposium in Paris, 22 Zu Deutsch Die Grenzen des Wachstums, vgl. Meadows 1972. 23 Zum Problem des Bevölkerungswachstums und zur Wahrnehmung dieser Problematik in den 1970er Jahren vgl. Ehrlich 1973. 24 Geldgeber war die mit der Ford Motor Company verwandte Ford Foundation, die im Jahr 1936 von Henry Ford gegründet wurde. Des Weiteren die Automobilkonzerne Volkswagen und Fiat, vgl. Gorz/Mansholt 1972: 139. 25 Niederländischer Politiker und Präsident der Kommission der Europäischen Gemeinschaft von 1972 bis 1973. 26 Zur Position Mansholts vgl. Gorz/Mansholt 1972: 135-137.
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wo letztgenannter dem Politiker die Frage entgegenhält: »Wie können diese Vorschläge, da sie das Überleben des kapitalistischen Systems in Frage stellen, jemals verwirklicht werden?« (Gorz/Mansholt 1972: 135). Gorz hegt Vorbehalte gegen die plötzlich ökologisch daherredenden Autoritäten von Politik und Wirtschaft.27 Mansholt bezeichnet er auf dem erwähnten Symposium in Paris gar »als gefährlichen Gegner im politischen Bereich« (Gorz/Mansholt 1972: 138); gefährlich deshalb, weil er eine »Ökologisierung der Politik« betreibe.28 2.
Ökologisierung der Politik
Unter Ökologisierung der Politik kann ein Umweltschutz von oben verstanden werden, der die potentiell antikapitalistische und subversive Disziplin Ökologie in die Schranken des Systems einhegt. Dieser Umweltschutz entwaffnet nach Gorz die ökologische Opposition und bediene sich ihrer Themen. 29
27 Bei Gorz heißt es: »Als Mansholts Denkschrift und Meadows’ Bericht vom Club of Rome erschienen, war die erste Reaktion bei vielen von uns Begeisterung: Endlich hatte der Kapitalismus seine Verbrechen. Er gab zu, daß die Logik des Profits ihn dazu gebracht hatte, zu produzieren, um zu produzieren; Wachstum um des Wachstums willen anzustreben; unersetzbare Ressourcen zu verschleudern; den Planeten zu verwüsten […]. Das ist der Sinn, den man, ohne zu übertreiben, in der Denkschrift Mansholts und in dem Bericht von Meadows finden konnte […]. Sollte man sich darüber freuen? Sicher ist: die Bekenntnisse des Feindes hatten die Stichhaltigsten unserer radikalsten Kritiken unterstrichen. Indessen war insoweit noch gar nichts gewonnen: Es wird keine Wunder geben. […]; wenn der intelligente Kapitalismus all das anerkennt, dann zweifellos nicht, um seinen Selbstmord in die Wege zu leiten. Er will sich vielmehr auf eine Schlacht vorbereiten, die auf anderen Gebieten, mit neuen Waffen und neuen ökonomischen Zielen ausgetragen werden soll« (Gorz 1973a: 75). 28 Mit »Ökologisierung der Politik« greife ich einen von Egon Becker verwendeten Begriff auf. Becker versteht unter Ökologisierung der Politik, »Umweltprobleme politisch zu thematisieren und das Ziel zu verfolgen, die Gesellschaft so zu verändern, dass sie sich auf eine neuartige Krisensituation einstellen kann« (Becker 2009: 16). 29 Gorz wird später in einem solchen Vorgehen eine Erweiterung dessen erkennen, was Jürgen Habermas (1981: 10) als »Kolonisierung der Lebenswelt« bezeichnet. Bei Gorz heißt es: Gerade durch das Setzen auf die Motivationen und Interessen aus der Lebenswelt, »während man sie gleichzeitig manipuliert, wird das Ziel erreicht. Damit impliziert dessen Verfolgung eine Ausweitung dessen, was Habermas die ›Kolonisierung der Lebenswelt‹ nannte, das heißt, die Ausnutzung der bestehenden individuellen Motivationen durch die Verwalter des Systems, um sie Ergebnisse erzielen zu lassen, die nicht in der Absicht der Individuen liegen« (Gorz 1992: 33).
224 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT »Was schlägt er [Mansholt] uns denn anderes vor, als daß wir auf die moralische Bekehrung der Manager des Großkapitals und das aufgeklärte Eingreifen nationaler und supranationaler Staatsapparate vertrauen sollten?« (Gorz/Mansholt 1972: 138).
Die Sorge um die Lebensqualität, die sich aus den Grenzen der materiellen Produktion gewinnt, werde vom »Club of Rome« und »Sicco Mansholt« dermaßen »einleuchtend« vorgetragen, »daß man sich nachhaltig fragt, welche Hintergedanken sie haben« (Gorz 1973a: 81). Die ökologische Bewegung solle sich nicht täuschen lassen: Zwar stehe das vom Mansholt ausgegebene Nicht-Wachstum »im Gegensatz zur Logik des kapitalistischen Systems und ist mit dem Funktionieren des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, unvereinbar. Es ist aber nicht notwendig unvereinbar mit dem Überleben einer anderen Spielart des Kapitalismus« (Gorz/Mansholt 1972: 139).
Aus Sorge um die Lebensqualität werde das Wachstum der materiellen Produktion problematisiert und »durch Verbote, administrative Reglementierungen, Besteuerungen, Subventionen und Geldstrafen« (Gorz 1992: 33) dem Kapital auferlegt, »die Umweltverschmutzung zu bekämpfen, mit mineralischen Stoffen – durch Wiederaufbereitung – sparsam umzugehen und umweltsaubere Produktionsformen zu entwickeln«. Schon bald werden kapitalistische Gruppen ein »Monopol für Umweltschutz-, Wiederaufbereitungs- und saubere Produktionsanlagen« ausbilden (Gorz/Mansholt 1972: 140). Mit der Ausbildung des Monopols für die Produktion und den Verkauf trinkbaren Wassers, sauberer Luft und intakter Umwelt werde sich sodann ein neuer Akkumulationszyklus in Gang setzen,30 »der nun aber auf der Kapitalisierung der Natur, auf der Einverleibung aller das Leben auf Erden ermöglichenden Faktoren und Voraussetzungen durch das Kapital basieren wird«. Durch die Ökologisierung der Politik sieht Gorz eine Ausweitung der Verwertungslogik am Werk: »Das Profitgesetz wird in die letz-
30 Maßgeblich sind dabei für Gorz auch die vielen Techniken zur Kontrolle der Umweltverschmutzung, die nicht dazu entwickelt seien, das Wachstum einzudämmen, sondern respektive es zu sichern oder eben auch zu fördern. Im Hinblick auf die Bekämpfung der Verschmutzung seien die eingeführten Kontrolltechniken vielerorts sinnlos und weisen in Richtung des Geschäfts mit der Umwelt. Enzensberger zitiert in einem solchen Sinn den Autor James Ridgeway. Hier heißt es: »Die Autohersteller pflegen die Geräte zur Abgasverminderung, die sie in ihre Fahrzeuge einbauen, selbst zu entwickeln und herzustellen; sie sind somit nicht nur in der Lage, die Luftverschmutzung, sondern auch den Preis zu kontrollieren« (Ridgeway zit. n. Enzensberger 1973: 14).
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ten Enklaven der Natur eingedrungen sein; die Luft selbst wird zu einer Ware geworden sein; der Totalitarismus des Kapitals und damit die Monopolisierung der Wirtschaft wird vollkommen sein« (Gorz/Mansholt 1972: 140).31 An anderer Stelle heißt es: »Denken Sie: wenn man die Medizin, den Sex, die Bildung, die Kultur industrialisieren würde – welch gewaltiges Feld öffnete sich dann dem kapitalistischen Wachstum« (Gorz 1973a: 84). Und er sammelt akribisch Beispiele dafür: »Konzerne und Banken sind dabei, die letzten Flecken zu erwerben, wo man noch umsonst Sonne tanken, sich des Meeres oder eines Panoramas erfreuen kann. Sie bauen dort Flughäfen, Appartementtürme, Hotels, Swimmingpools, Kurstrände, Jachthäfen, Parkplätze, so daß, wer sich in der Sonne entspannen will, zwangsläufig die industriellen Einrichtungen passieren (und bezahlen) muß, deren Benutzung der Genuß der Sonne, des Strands, der Entspannung untergeordnet ist« (Gorz 1973a: 84).
Zur Medizin bemerkt er: »Schon hat das Kapital die Leute überredet, sie könnten sich nicht pflegen und noch nicht einmal bei guter Gesundheit bleiben ohne die industriellen Mittel – die in ihrer Mehrheit schädlich und giftig sind –, die sie sich in komplizierten Verpackungen mit ebensolchen Namen in der Apotheke besorgen müssen« (Gorz 1973a: 84).32 31 Gorz nimmt hier entscheidend vorweg, was später Felix Guattari in Les trois écologies mit der Rede vom »Weltweiten Integrierten Kapitalismus (WIK)« kenntlich machen wird. Einen solchen Kapitalismus versteht Guattari als einen technologisch implementierten und vor allem medial – im Sinne von massenmedial – implementierten Kapitalismus. Die kapitalistische Macht, so die mit der Rede vom WIK verbundene These, habe ihren Zugriff auf alle Sphären des sozialen, ökonomischen und kulturellen Lebens ausgedehnt, vgl. Guattari 1989: 39. Anmerken lässt sich noch: Gorz kannte die Schrift von Guattari sehr gut; war regelrecht begeistert von ihr. Erich Hörl berichtet: »Er sagte mir, ich müsste unbedingt Felix Guattari Les trois écologies lesen« (Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum). Fragt man sich, warum Gorz von der Schrift begeistert ist, so lässt sich bemerken, dass Guattari – der Kompagnon von Gilles Deleuze – gerade als Größe des Poststrukturalismus, wo anstatt vom Subjekt von Subjektivierungsformen gesprochen wird, in Les trois écologies nicht die Subjektivierung, sondern die Subjektivität stark macht. In diese Richtung bemerkt Gorz in einem Interview mit Libération vom 25. September 1997: »Die erste Aufgabe ist die Entwicklung dessen, was Felix Guattari die Subjektivität nannte« (Gorz 1997b). 32 Gorz argumentiert hier in Richtung dessen, was Illich Radikalmonopol nennt. Ein Radikalmonopol etabliert sich nach Illich, »wenn die Menschen ihre ureigene Fähigkeit, für sich und andere das zu tun, was sie können, aufgeben, um etwas ›Besseres‹ zu be-
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Und auch die Intimität der Sexualität sei vor dieser kapitalistischen Okkupation nicht gefeit: »Über die Industrialisierung des Sex schreiten die Forschungen […] deutlich voran« (Gorz 1973a: 84). So hätten Forscher zur Eindämmung des zum ökologischen Problem gewordenen Bevölkerungswachstums ein Präparat entwickelt, welches Mann und Frau gebietet, nur noch männlichen Nachwuchs zu bekommen, was einen schlagartigen Geburtenrückgang nach sich ziehen würde. Die Nebenfolge nach Gorz: Die Masturbation werde zur vorherrschenden Sexualpraktik. In diesem Sinne zitiert er die erwähnten Forscher: »›Mechanische und graphische Ersatzmittel für die normalen sexuellen Praktiken könnten weitgehend benutzt werden.‹« Und Gorz zufolge ist damit das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht: »Die mechanischen und graphischen Ersatzmittel werden dann alsbald perfektioniert, die [...] elektronischen […] und chemischen Mittel werden in Erscheinung treten« (Gorz 1973a: 85). Die mit diesen Beispielen angedeutete Argumentation läuft auf zweierlei heraus: Zum einen unterstreicht Gorz, dass der Kapitalismus unter dem Druck der Ökologisierung der Politik verstärkt auf neuen Gebieten operieren und so ökokompatibel gemacht wird, jedoch fortan zulasten von Subjektivität sowie Intimität und »ohne dass die Mentalität, das Wertesystem, die Motivationen und die ökonomischen Interessen der gesellschaftlichen Akteure sich ändern« (Gorz 1992: 33). Zum anderen betont er, dass die Ökokompatibilität des Kapitalismus durch Verbote und administrative Reglementierungen, letztlich also durch eine Ausweitung der Herrschaft des Staatsapparates sichergestellt wird. Den letzten Punkt sieht Gorz noch aus einer anderen Richtung verstärkt. Der apokalyptische Ton, den ein Mansholt wie auch die Meadows-Studie anschlägt, schüre die Unsicherheit der Leute, die aufgrund der drohenden ökologischen Gefahren den Ruf nach dem Staat anstimmen. Es verwundere von daher nicht, dass gerade ökologisch sensibilisierte Menschen, sprich der Kern des ökologischen Protests, an den Reformwillen und die technokratische Vernunft der Politik appellieren. Den Ruf nach dem Staat quittiere die Ökologisierung der Politik mit Regierungsprogrammen, die die Abwehr der Katastrophe und den Schutz der Lebensqualität zusagen. Unter dieser Devise werden dann wiederum eine Vielzahl an Verboten, Reglementierungen und Vorschriften verhängt, was kommen, das ihnen nur ein wichtiges Werkzeug geben kann« (Illich 1973: 86). Und diese vermeintliche Wichtigkeit des Werkzeuges begründe den Konsumzwang. In diesem »ist der einzelne auf die Mega-Werkzeuge der bürokratischen und kaufmännischen Mega-Institutionen angewiesen, deren gleichgeschalteter, ohnmächtiger, ausgebeuteter und stets unbefriedigter ›Kunde‹ er nun sein darf« (Gorz 1974: 30). Im Essay L’idéologie sociale de la bagnole hat Gorz das Etablieren eines Radikalmonopols und dessen Folgen am Beispiel des Autos greifbar gemacht, vgl. Gorz 1973b.
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»eine Technobürokratie« voraussetzt, »die in der Lage ist, den Leuten die Beachtung der […] administrativen Normen aufzuzwingen« (Gorz 1977a: 17). Obendrein werden System-Ingenieure, also Wissenschaftler, damit betraut, neue Wege aufzutun und noch unvorstellbare Verfahrensweisen zu erfinden, um die Katastrophe zu verhindern. Institutionen und Strukturen des Staates sowie die technologischen Mittel werden explosionsartig zunehmen und sich verdichten. Das werde nicht nur das Überleben des Kapitalismus sichern, sondern das Leben überhaupt: »die für die Erhaltung des Lebens notwendigen Grenzen werden zentral von ökologischen Ingenieuren kalkuliert und geplant und die programmierte Produktion einer optimalen Lebensumwelt wird zentralisierten Institutionen und alles beherrschenden Techniken überantwortet« (Gorz 1977a: 15).
Mittels des Hantierens mit dem Katastrophenbegriff und der Angst vor der ökologischen Heimsuchung, die auch immer eine reelle Gefahr sei, werden die Menschen zunehmend dazu gebracht, ihr Geschick bereitwillig in die Hände von Technokraten zu legen. Deren Aufgabe sei die Fabrikation eines an die ökologischen Bedingungen angepassten menschlichen Lebens. Die Ökologisierung der Politik, so Gorz’ Pointe, führt geradewegs in einen »Öko-Faschismus« (Gorz 1973a: 75). Denn: »Von dem Moment an«, wo der ökologische Imperativ »von den Machtapparaten für sich in Anspruch genommen wird, dient er dazu, deren Herrschaft über das tägliche Leben« zu potenzieren (Gorz 1992: 34). Unter Öko-Diktatur kann eine sich als »›notwendige‹, ›wissenschaftliche‹ Diktatur« begründende technokratische Herrschaft verstanden werden, die aber »nicht weniger totalitär ist«, nur weil »sie sich auf Forderungen des Ökosystems beruft« (Gorz 1992: 39f.). Diese Herrschaft sei durch strikte Regelungen und Verordnungen gesteuert, »die zu gewährleisten trachten, daß die Individuen funktionieren und ihre Handlungen faktisch ineinandergreifen, damit das vorhergesehene Resultat zustande kommt«, nämlich die Verhinderung der Katastrophe und das Sicherstellen des Überlebens. Die Folge sei ein »Amoralismus, eine Ordnungssucht«, in der es keine Subjektivität und Moral mehr gibt (Gorz 1980: 83). Subjektivität und Moral würden verschwinden, und zwar zugunsten eines Allgemeinen, da die Öko-Diktatur »den Staat und die staatlichen Experten zu Richtern über die Inhalte des allgemeinen Interesses sowie über die Mittel macht, die Individuen diesen zu unterwerfen. Das Allgemeine ist vom Besonderen getrennt, das oberste Interesse der Mensch-
228 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT heit ist von der Freiheit und der Fähigkeit der Individuen zu einem autonomen Urteil getrennt« (Gorz 1992: 34).
Dementsprechend hängen die Handlungen nicht mehr von den Individuen ab. Im Gegenteil: »von ihnen hängt nur die ausreichende oder mangelhafte Beachtung der Vorschriften oder Verordnungen ab«. Etabliert werde eine bizarre Moralität,33 namentlich eine »technokratische Moral« (Gorz 1980: 84), die sich dadurch auszeichne, »die Individuen aufzufordern, sich mit den heteronomen Funktionen und Verhaltensweisen zu identifizieren, die die Gesellschaft als materielles System oder ›Apparat‹ definiert. So ersetzt der technische Imperativ die ethische Forderung. Der Zwang der Dringlichkeit untersagt sowohl die Kritik als auch die Veränderung der Apparate; die von ihnen bestimmte Materialität der technischen Beziehung wird zum Kriterium dessen, was die sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen ›sein sollen‹. Die Grundlage der Moral ist die soziale Maschinerie, der Staat deren höchster Ingenieur (und die politische Polizei deren Klerus)« (Gorz 1980: 84).
In Adieux au prolétariat, wo Gorz die Konsequenzen der Öko-Diktatur systematisch ausarbeitet, wird bezüglich der diese Diktatur begleitenden bizarren Moral bemerkt: Eine solche Moral »braucht kein Subjekt. Und mit dem Subjekt verschwindet die [eigentliche] Moralität, weil sich die Frage nach der Bedeutung der Ziele und ihres Wertes nicht mehr stellt. Jetzt gilt es nicht mehr zu entscheiden, ob ich etwas wollen darf, sondern nur, daß ›man es muß‹. Im Namen unausweichlicher Notwendigkeiten werden die Menschen ›entmenschlicht‹« (Gorz 1980: 85).
Und diese Entmenschlichung drücke sich aus, indem der von den technischen Imperativen der Öko-Diktatur umstellte Mensch auf »die moralische Frage: ›Kann ich das wollen?‹ antwortet: Ich bin nicht derjenige, welcher … Es war notwendig, daß … Es bestand keine andere Möglichkeit …« (Gorz 1980: 85).
33 Ich nenne die subjektlose, objektive Moral deswegen bizarre Moralität, weil Gorz von folgender existential-philosophischen Einsicht überzeugt ist: »Es kann keine Moral geben ohne Subjekt, ohne individuelles Bewußtsein« (Gorz 1980: 83). Die systematische Darlegung dieser Einsicht hat Gorz in Fondements pour une morale geleistet, vgl. Gorz 1955.
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3.
Die dualistische Utopie
Neben dem Beschwören der öko-diktatorischen Gefahr demonstriert Gorz sein Talent als Schreibender mit Vorstellungskraft auch im Umreißen einer Gesellschaft, in der die totalitäre Beherrschung der Menschen vereitelt wird. »Ich kann mich erinnern an seinen Artikel nach dem Wahlsieg von Giscard d’Estaing«,34 erinnert Daniel Cohn-Bendit, »in dem Gorz auf die Frage Antwort gab, was müsste der Präsident jetzt sagen und tun. Er formulierte hier gemeinhin die erste politische Erklärung der Ökologie als Programmatik«.35 Der angesprochene Artikel, der den französischen Präsidenten beim Wort nimmt, welcher zuvor ein anderes Wachstum und ein anderes Wirtschaften versprochen hatte, erscheint am 08. September 1975 im Le Nouvel Observateur. Zudem ist er in der deutschen Fassung von Écologie et politique als Prolog gesetzt und findet sich auch im Anhang von Adieux au prolétariat unter dem Titel Eine dualistische Utopie.36 Gorz nimmt hier entscheidend vorweg, was er später in Adieux au prolétariat als Konzept der dualistischen Gesellschaft vorstellen wird. Hinsichtlich des zum Wahlsieg von Giscard d’Estaing verfassten Textes bemerkt er: In den Ausführungen »habe ich zu skizzieren versucht, was die dualistische Organisation des Gesellschaftszusammenhangs […] bedeuten könnte« (Gorz 1980: 88). Gorz beschreibt hier eine Zukunftsgesellschaft, und zwar von dem Tag an, nachdem der Präsident gegen jede Erwartung tatsächlich begonnen hätte, seine Verheißungen in die Tat umzusetzen. Im fiktiven Gedankenspiel werden beispielgebend über Nacht »in allen großen Städten auf insgesamt einundvierzigtausend Straßenkilometern weiße Linien gezogen«, um die »Fahrdämme der großen Verkehrsadern« für den Busverkehr »und deren Parallelstraßen« für Radfahrer vorzubehalten. Zudem lässt Gorz hier »ganze Kolonnen blauer Wagen der Gendarmerie […] als öffentliche Verkehrsmittel« einsetzen und die Bevölkerung kostenfrei über staufreie Straßen chauffieren (Gorz 1975b: 8).37 Ferner: Die wö-
34 Valéry Giscard d’Estaing war französischer Staatspräsident von 1974 bis 1981. 35 Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 7. Dezember 2011 in Brüssel. 36 Im Folgenden zitiere ich den besagten Artikel in der Prologfassung von Ökologie und Politik, wo er unter dem Titel Ein anderes Wachstum steht, vgl. Gorz 1975b. 37 Diese Vorschläge lassen sich als Konsequenzen von Gorz’ Kritik der gesellschaftlichen Ideologie des Autos lesen, die er in L’idéologie sociale de la bagnole formuliert hat. Es ist das Bild »kreisförmige[r] Straßen«, mit »Querachsen« und »sechszehnspurige[n]« Fahrbahnen, das Gorz (1973b: 57) in diesem Text vor Augen führt. Auf derlei Straßen ist es für Menschen schier unmöglich, so die bestechende Logik, überhaupt nur in Betracht zu ziehen, aus reinem Vergnügen »von ihrer Arbeit zu Fuß nach Hau-
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chentliche Arbeitszeit wird reduziert; ein fröhliches Regierungsmitglied verkündet, »daß zur Förderung der Phantasie und des Ideentausches das Fernsehen an Freitagen und an Sonnabenden nicht mehr« sendet (Gorz 1975b: 13) und der Präsident und sein Premier geben sich mitnichten als anständige Staatsmänner. Sie erklären: »›Die Wiedergewinnung und Erweiterung der individuellen und der gemeinschaftlichen Selbstbestimmung ist unsere einzige Chance, der Diktatur des Staatsapparates zu entgehen‹« (Gorz 1975b: 10).
Und die verdutzte und ungläubige Bevölkerung wird wider der traditionellen politischen Ansprache ermahnt: »›Hören Sie auf, bei jeder Gelegenheit zu fragen: ›Was tut die Regierung?‹ […] Die Regierung ist berufen, in den Händen des Volkes abzudanken‹« (Gorz 1975b: 12). Der äußerst vergnügte und als fiktive Ansprache der politischen Regenten an das Volk daherkommende Text ist eine radikale Kritik am Bestehenden und zugleich Aufforderung zum Sprung aus der gegebenen Ordnung heraus, wobei es nicht darum geht, die Staatsmacht zu erobern,38 sondern diese und seine Instituse zu gehen« (Gorz 1973b: 63). In diesem Sinne heißt es auch bei Illich (1973: 83): Autos »können ein Stadtbild verändern – so ist es z.B. in Los Angeles praktisch unmöglich geworden, sich zu Fuß oder per Fahrrad fortzubewegen«. Wenn also die Nutzung des Autos, so ist Gorz zu verstehen, so dominant geworden ist, dass fast alle Straßen auf die motorisierte Fortbewegung zugeschnitten sind und so das Zu-FußGehen wie Radfahren als antiquiert, inadäquat und unlogisch erscheinen; wenn Arbeit-Haben von einem Auto-Haben abhängig ist; wenn besorgte Eltern in Berlin oder Paris aufgrund der Gefahren des städtischen Verkehrs ihre Kinder nicht zur Schule laufen lassen, sondern sie selbst im eigenen Auto vor die Tür des Schulgebäudes bringen; wenn Bedürfnisse der Alltäglichkeit wie Einkaufen, Ausgehen, Freunde-Treffen an die Motorisierung gebunden sind; wenn man der infolge des Straßenverkehrs »stinkend, lärmend, erstickend, verstaubt, verstopft geworden[en]« Großstadt entfliehen will und einem als erstbeste Möglichkeit der Fluchtwagen in den Kopf schießt, um schnellstmöglich »der städtischen Autohölle zu entrinnen« – genau dann, ist »das Überflüssige […] notwendig geworden« und die Notwendigkeit des Autos liegt sodann »in den Dingen selbst« (Gorz 1973b: 60). Der Effekt nach Gorz: Die tägliche Fortbewegung ist radikal monopolisiert; alle alternativen Möglichkeiten zur Mobilität, vor allem die dem Menschen eigene, sind zugunsten einer »besseren« Fortbewegungsmöglichkeit aufgegeben, die fortan nur das Industrieprodukt Auto bietet. 38 Eine berühmte Passage aus Écologie et liberté lautet, der »Sozialismus ist nicht besser als der Kapitalismus, wenn er sich der gleichen Werkzeuge bedient«; auch »er ist nicht gegen den Technofaschismus gefeit, und zwar umso weniger, als er die Macht-
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tionen zugunsten einer »dualistischen Gesellschaft« zurückzufahren (Gorz 1980: 82), die auf eine maximale Ausweitung der Autonomie und auf eine Moralisierung des Gesellschaftszusammenhangs abstellt. Gorz’ dualistische Konzeption ist getragen von einer Organisation der Gesellschaft in eine Heteronomie-Sphäre und in eine der Autonomie,39 wobei die Ausweitung der Autonomie und die besagte Moralisierung durch eine Unterordnung der Sphäre der Heteronomie »unter die der Autonomie« (Gorz 1980: 86) abgesichert wird. »Die heteronome Sphäre gewährleistet die programmierte, geplante Produktion all dessen, was für das Leben der Individuen und für das Funktionieren der Gesellschaft notwendig ist, so wirksam wie möglich, folglich mit dem geringsten Aufwand und minimalen Ressourcen« (Gorz 1980: 88).
Nach Gorz’ Rechnung könnte »eine Frist von schätzungsweise einem Monat« in der Sphäre der Heteronomie für die Arbeiter ausreichen, »um im Verein mit hinzugezogenen Beratern und Verbraucherausschüssen ein beschränktes Programm
vollkommenheit des Staates perfektionieren wird, ohne gleichzeitig die Autonomie der Gemeinschaften und einzelner Menschen zu fördern« (Gorz 1977a: 7). Mit dieser Aussage stellt Gorz auf die Nicht-Neutralität der Technik ab, wodurch der emanzipatorische Effekt einer möglichen Beschlagnahmung der kapitalistischen Staatsgewalt per se limitiert wird. Vom Ansatz der Nicht-Neutralität der Technik her verwirft Gorz alle Emanzipationsvorstellungen als illusorisch, die auf einfachen linken Eroberungsphantasien der Macht aufruhen. Das Technische und Gesellschaftliche sei derart miteinander verflochten, dass eine Ergreifung der kapitalistischen Staatsmacht nichts grundlegend ändere; die Beherrschung und Unterwerfung der Menschen würde lediglich unter sozialistischer Flagge daherkommen, was in emanzipatorischer Hinsicht ein Nullsummenspiel bedeute. 39 Gorz’ dualistische Konzeption ist inspiriert durch Marx’ »Zwei-Reiche-Lehre«, die bestimmt ist durch das »Reich der Notwendigkeit, von Arbeit, Produktion, rational organisiertem Stoffwechsel mit der Natur, und dem Reich der Freiheit, das jenseits davon liegt […]. Im Reich der Notwendigkeit komme es auf menschenwürdige Bedingungen an, zu denen Arbeitszeitverkürzung und die humane Gestaltung der Arbeitsbedingungen gehören« (Bluhm 2005: 74). Bei Marx heißt es: »Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann« (Marx 1894: 828). Seine dualistische Konzeption der Gesellschaft rechtfertigend bemerkt Gorz: »Wie man sieht, hat Marx, im Unterschied zu einer weitverbreiteten Deutung, keineswegs behauptet, die Selbstverwaltung der materiellen Produktion durch die assoziierten Produzenten verwirkliche das Reich der Freiheit« (Gorz 1980: 87).
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von Modellen, Qualitätsnormen und Produktionszielen zu definieren« (Gorz 1975b: 10f.).40 Übergeordnetes Ziel sei es dabei, »die Deckung des Bedarfs an allen vordringlichen Gütern durch ihre Produktion unter gleichzeitiger Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit auf vierundzwanzig Stunden« zu erreichen (Gorz 1975b: 11). Beispielgebend könnte so »die heteronome Produktion eine begrenzte Auswahl funktioneller, verschleißfester Kleidung und Schuhe, die optimalen Gebrauchswert besitzen«, bereitstellen (Gorz 1980: 92). Demgegenüber könnten dann in der Sphäre der Autonomie, um im Bild zu bleiben, »eine unbegrenzte Auswahl« von Kleidungs- und Schuhmodellen, »die dem individuellen Geschmack entsprechen, in Gemeinde-Werkstätten außerhalb des Marktes erzeugt werden« (Gorz 1980: 92). Denn: In dieser »Sphäre produzieren die Individuen auf autonome Weise, außerhalb des Marktes, allein oder frei assoziiert, materielle und immaterielle, nicht notwendige, aber den Wünschen, dem Geschmack und der Phantasie des Einzelnen entsprechende Güter und Dienste« (Gorz 1980: 88).41
Die heteronome Sphäre wird von einer notwendigen, »entlohnten, wenig Zeit und kein intensives Engagement gebietenden Gesellschaftsarbeit allgemeinen Interesses« (Gorz 1980: 88) getragen, also von Verrichtungen, die nach wie vor in Verbindung mit Entfremdung und Depersonalisierung gedacht werden. Gorz geht es somit »nicht darum, die heteronome Arbeit zu beseitigen, sondern darum, sie durch die Art ihrer Produkte und die Modalitäten ihrer Produktion zur 40 Als Anhaltspunkt für derlei Ausarbeitung von Modellen, Qualitätsnormen und Produktionszielen in der Sphäre der Heteronomie dient Gorz das sogenannte LIPExperiment. Dieses Experiment vollzog sich in der Uhrenfabrik LIP-Besançon, wo die Arbeiterschaft am 18. Juni 1973 begann, ihre Fabrik selbst zu verwalten. Zum Kampf der Arbeiter in der Uhrenfabrik von LIP-Besançon, die ihren Betrieb nicht nur besetzten und bestreikten, sondern beschlossen, »Kommissionen für Produktion, Verwaltung und Verkauf« zu gründen und »die Produktion nach neuen menschlicheren Arbeitsnormen« zu organisieren, vgl. Münster 1974, hier 7. 41 Gorz’ Überlegungen können wie folgt präzisiert werden: Auszugehen ist vom Grundbedürfnis Kleidung, etwa einer Hose. Die institutionelle, sprich heteronome, Produktion beschränkt sich auf einige wenige beständige Grundmodelle, »die den Bedürfnissen entsprechen, welche die regelmäßig befragte« (Gorz 1973a: 88) Bevölkerung kundgetan hat. Brauche ich eine Hose, kaufe ich also eines der Grundmodelle. Gebe ich mich hingegen mit diesem uniformem Look nicht zufrieden, besuche ich eine der »Tag und Nacht offenen Werkstätten« (Gorz 1973a: 88), bezahle das Rohmaterial, also den Stoff für die Hose, und stelle mir ein Exemplar nach meinen eigenen FashionVorlieben her.
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Erweiterung der autonomen Sphäre zu gebrauchen« (Gorz 1980: 91). Dies werde durch zweierlei sichergestellt. Zum einen, indem die heteronome Sphäre dem »autonomen Sektor eine Höchstzahl an zugleich leistungsfähigen und konvivialen Werkzeugen liefert« (Gorz 1980: 91f.), 42 mit denen die Individuen auf autonome Weise und ihrer Phantasie entsprechende Produkte in GemeindeWerkstätten fertigen können. Mit dieser Überlegung verbindet Gorz die Vorstellung, »daß die Basisgemeinschaften künftig Initiativen folgender Art entwickeln: Jede Stadt, jedes Stadtviertel, ja sogar jedes größere Gebäude sollte Werkstätten für kreative Tätigkeiten und freie Produktion erhalten, wo die Menschen in ihrer Freizeit je nach Belieben produktiv werden könnten; zur Ausrüstung sollte ein ständig verbessertes Sortiment von [konvivialen] Werkzeugen einschließlich Video- und Fernsehgeräten gehören« (Gorz 1975b: 12).43
42 Die Unterscheidung von Illich (1975: 53-57) zwischen konvivialen und nicht-konvivialen Werkzeugen wird von Gorz aufgegriffen und zuweilen in seinem Vokabular als »offene« und »verriegelte« Technologien wiedergegeben – alternativ auch als »Mehrund Einbahntechnologien« (Gorz 1990: 22). Eine Mehrbahntechnologie ist für ihn beispielsweise das Telefon. Die Telekommunikation ist insofern offen, als dass sie Interaktion im Sinne größerer Autonomie fördern und für beziehungsintensive Zwecke genutzt werden kann. Das heißt aber nicht, dass ein solcher Sinn dem Telefon an sich anhaften würde. Offen bzw. konvivial bedeutet lediglich, dass die Möglichkeit zum besagten Sinn besteht; dass sich dieser dem Telefon sozusagen abringen lässt. Genauso gut kann es aber für Herrschaftszwecke genutzt werden, sprich, zum Abhören, Bespitzeln und Kontrollieren. Denn das heißt offen eben auch. Bei den nicht-konvivialen, verriegelten Werkzeugen, also den Einbahntechnologien, ist diese Pluralität nicht gegeben. Sie sind per definitionem nicht im Sinne der Autonomie nutzbar. Vielmehr haben sie eine totalitäre Ausstaffierung und tendieren zur Zerstörung der menschlichen Autonomie. Die Handhabung und Kontrolle der verriegelten Technologien erfordere nämlich eine Maschinerie, »welche bürokratischer und hierarchischer Natur ist, Menschen zermalmt und die Macht zentralisiert« (Gorz 1974: 33). Und Gorz zufolge liefert die Atomenergie dafür ein besonders deutliches Beispiel; geradezu ein Paradigma. Zur kritischen Auseinandersetzung mit der verriegelten Technologie der Atomenergie vgl. den Text Welche Zukunft wollen wir?, angegeben unter Gorz 1978. 43 Dienlich scheint mir, hier nochmals Illichs Bestimmung von konvivialen Werkzeugen anzuführen. Bei ihm heißt es: »Werkzeuge sind dann« konvivial, »wenn sie von jedem so oft oder so selten wie gewünscht verwendet werden können, um ein vom Benutzer selbst gewähltes Ziel zu erreichen. […] Wer sie benutzen will, muß keinen Befähigungsschein vorweisen können. […] Sie machen es ihrem Benutzer möglich, sei-
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Zum anderen werde die Erweiterung der autonomen Sphäre gewährleistet durch das Reduzieren der von jedem aufzuwendenden Arbeitszeit in der heteronomen Sphäre auf ein Minimum – nämlich auf eine »Vierundzwanzig-Stunden-Woche« (Gorz 1975b: 12).44 Dadurch werde nicht nur Zeit für autonome Aktivitäten freigesetzt; ferner werden die Individuen »frei, ihre gesellschaftlich bestimmte Arbeit als eine äußere, genau begrenzte Aufgabe zu verstehen, die in ihrem Leben nur einen marginalen Platz einnimmt« (Gorz 1980: 88). Habe die »Lohnarbeit« erst einmal aufgehört, den »wesentlichen und permanenten Inhalt des Lebens jedes einzelnen« und somit seine Identität zu bestimmen (Gorz 1983a: 81; Fn. 14), könne auch die moralische Frage gestellt werden, die für jedes Individuum lautet: »›Kann ich das wollen?‹ Das heißt: Kann ich in meinem eigenen Namen diese Aktion sowohl in ihren Modalitäten wie in ihren Folgen wollen? Werde ich, so handelnd, sagen können: Ich selber habe das so gewollt?« (Gorz 1980: 84f.).45 Genau für eine solche moralische Bewusstwerdung bedürfe es nämlich der Sphäre der Autonomie. Denn – und das steht für einen existential-philosophisch geschulten Denker zweifelsfrei fest: »Moralität und Moralisierung der Beziehungen kann es nur dort geben, wo eine Sphäre autonomer Tätigkeiten besteht, in der das Individuum tatsächlich Urheber seiner Handlun-
ne Vorstellungen durch sein Tun zum Ausdruck zu bringen« (Illich 1973: 42f.). Das heißt aber nach Gorz nicht, dass diese Werkzeuge auch in der autonomen Sphäre hergestellt werden müssten. Er bemerkt: »Nicht berechtigt zu der Annahme, daß konviviale Werkzeuge für die Sicherung der autonomen Produktion von Gebrauchswerten vom autonomen Produktionssektor selbst geliefert werden könnten oder müßten. Die autonome Sphäre wird vielmehr um so ausgedehnter sein, je leistungsfähiger ihre Werkzeuge sind« (Gorz 1980: 91). 44 Den Vorschlag einer Vierundzwanzig-Stunden-Woche wird Gorz in Les chemins du paradis zur Idee der 20.000 Stunden ausbuchstabieren und sie mit dem Konzept »eines vom Arbeitsplatz unabhängigen Einkommens« verbinden. Bei Gorz heißt es zur Einkommensgarantie: »Sie ist […] das jedem Bürger zukommende Recht, auf sein ganzes Leben verteilt das Produkt des nicht weiter reduzierbaren Quantums an gesellschaftlich notwendiger Arbeit zu erhalten, die er im Laufe seines Lebens zu erbringen hat.« Und dieses Quantum an gesellschaftlich notwendiger Arbeit sollte nach Gorz’ Berechnungen aus 20 000 Stunden bestehen. Dazu heißt es: »Nun bedeuten aber 20 000 Stunden pro Leben zehn Jahre Vollzeitarbeit oder zwanzig Teilzeitarbeit oder – weit plausibler – vierzig Jahre unregelmäßige Arbeit«. Vgl. zu dieser Thematik Gorz 1983a: 66-99, hier 68. 45 Derlei Fragen wie auch die Grundlage dieser Fragen, nämlich die existentielle Freiheit, hat Gorz intensiv in der Schrift Fondements pour une morale behandelt, vgl. dazu Gorz 1955, insbesondere 102-111.
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gen ist, ohne Zwänge noch Alibi, noch Entschuldigung; wo diese Sphäre nicht nachgeordnet, sondern vorrangig ist in der Produktion eines jeden durch sich selbst« (Gorz 1980: 85).
Diese Moralisierung erfordere aber keine Auflösung der Heteronomie-Sphäre. Im Gegenteil: »Befreiung kann nicht darin bestehen, die sozial determinierte Arbeit zu beseitigen« (Gorz 1980: 94). Fragt man sich nun, warum Befreiung nicht mit der Abschaffung des heteronomen Bereiches zusammenfällt und Gorz ausdrücklich an dieser Sphäre festhält, so lassen sich mindestens drei Aspekte anführen, die bei diesem Festhalten eine Rolle spielen: erstens, zu verhindern, zu vormodernen und vorindustriellen Verhältnissen und Lebensformen zurückzukehren, wo im Sinne einer Dorfökonomie gewerkelt wird; zweitens, dafür zu sorgen, dass die Sphäre der Autonomie, mit ihren zuweilen stark integrierenden Gemeinschaften, nicht in ihr Gegenteil umschlägt und zum Gefängnis wird; drittens, zu vermeiden, dass Notwendigkeit mit Moral und Moral mit Notwendigkeit inkorporiert wird, da dies politischen Perversionen à la Öko-Diktatur Vorschub leiste. Nach Gorz entbehrt es jeglichen Realitätssinns, die Gesellschaft auf einen vormodernen Zustand rückfahren zu wollen, um derart einen vermeintlichen Einklang mit der Natur zu reinkarnieren.46 Derlei Ideen, wie sie manche »Grüne« vorbringen, die er »religiös« nennt (Gorz 1990: 21), seien schier indiskutabel, da sie aufgrund eines Aberglaubens an eine Versöhnung mit der Natur das Opfern der Effizienz- und Entlastungsvorteile der Moderne zur Konsequenz haben. Für Gorz sind es gerade diese Entlastungsvorteile und, darin involviert, eine leistungsfähige und hochkomplexe Produktion, die es erlauben, mehr und mehr heteronom organisierte Belange an den autonomen Sektor abzutreten. Es gebe aber eine Schwelle, hinter der das Abtreten heteronomer und somit auch staatlicher Funktionen an die Autonomie-Sphäre aufhört, mehr Freiheit hervorzubringen. Er argumentiert, dass »die sozial bestimmte Arbeit der heteronomen Sphäre die Individuen vor Druck und Spannungen einer stark integrierten Gemeinschaft wie der Familie oder jeder anderen Lebens- und Arbeitsgemein-
46 Einen solchen Einklang mit der Natur hat es nach Gorz nie gegeben und wird es auch nie geben. Vgl. dazu insbesondere seine Stellungnahmen in Gorz 1990: 16-18 sowie in Gorz 1955: 233-235. In letztgenannter Schrift, Fondements pour une morale, heißt es: »La nature n’y est pas la douceur accueillante du seine maternel, la patrie de repos repu« [»Die Natur ist nicht der angenehm weiche Mutterschoß, die befriedigte Ruhe der Heimat«] (Gorz 1955: 234; Ü.d.Verf.).
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schaft« in der autonomen Sphäre schützt.47 Der heteronome Sektor »erlaubt, aus dem engen Raum der Gemeinschaft herauszutreten, während diese daran gehindert wird, auf Autarkie und Selbstgenügsamkeit zu bestehen«, so Gorz. Das Heteronome verhindere ein Versanden der Autonomie-Sphäre in Gemeinschaftsautarkie. Letzteres habe »stets einen verarmenden Effekt«; an Stelle »ständig erneuerten Möglichkeiten des Lernens, Endeckens, Experimentierens und Kommunizierens« trete allzu schnell »Entropie und Erstickung«. Aus diesem Grund erlebe beispielgebend die Hausfrau »die Chance, außerhalb des Hauses arbeiten zu können, als Befreiung, ungeachtet des oppressiven und beschädigenden Charakters der meisten der ihr angebotenen Stellen« (Gorz 1980: 93). Schließlich bedürfe es des Heteronomen, das »durch präzise Vorschriften in einem spezifischen Gesellschaftsbereich« eingegrenzt ist (Gorz 1980: 95), um dem Individuum gewahr werden zu lassen, »wann seine Beziehungen mit dem anderen durch materielle Gesetzmäßigkeiten bestimmt sind« sowie – und gerade darauf liegt bei Gorz der Akzent – »wann sie einer autonomen subjektiven Wahl entspringen« (Gorz 1980: 101). Diese Worte können als radikale Absage an alle Ganzheitsfantasien gelesen werden; auch an elaborierte, wie die von Marx.48 Der Glaube, man könne »die notwendige Arbeit so bewerkstelligen, daß sich im Rahmen der Produktion des Lebensnotwendigen die idealen (ethischen) Ziele einer frei gewählten Kooperations- und Existenzweisen verwirklichen« (Gorz 1980: 98), laufe letztlich immer auf die Tilgung der Freiheit hinaus. Für Gorz gilt die existential-philosophische Einsicht: Es »wird immer eine Dimension unüberwindlicher Entfremdung geben«, wie es in Les chemins du paradis heißt
47 Die Entfremdungseffekte einer stark integrierten Gemeinschaft hat Gorz in Le traître am Beispiel der Familie vorgeführt, vgl. Gorz 1958. 48 Marx’ Ganzheitsfantasie drückt sich in seinem Freiheitsverständnis aus, das durch die Leitvorstellung einer »Gleichzeitigkeit individueller und kollektiver Freiheit der assoziierten Individuen« getragen ist (Bluhm 2005: 77). Bei Marx heißt es: »Mit der Aufhebung aber des unmittelbaren Charakters der lebendigen Arbeit als bloß einzelner […], mit dem Setzen der Tätigkeit der Individuen als unmittelbar allgemeiner oder gesellschaftlicher, wird den gegenständlichen Momenten der Produktion diese Form der Entfremdung abgestreift; sie werden damit gesetzt als Eigentum, als der organische gesellschaftliche Leib, worin die Individuen sich reproduzieren als Einzelne, aber als gesellschaftliche Einzelne« (Marx 1858a: 722f.). Für Gorz ist diese Idee der Aufhebung der Entfremdung, wo die individuelle Existenz mit dem gesellschaftlichen Sein harmonisiert ist, ihr genaues Gegenteil: die totale Entfremdung. Nun ist nämlich, so sein Argumentationsgang, die individuelle Existenz, die zugleich das gesellschaftliche Sein ausdrückt, auf den Taktschlag der gesellschaftlichen Megamaschine hin geeicht. Und darin erkennt er eine Springquelle für totalitären Kollektivismus.
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(Gorz 1983a: 102).49 Sicher: Man könne zum großen Fest der Freiheit einladen und so tun, als sei die Zerrissenheit verschwunden; die Ganzheit hergestellt; die Gleichzeitigkeit von An-Sich und Für-Sich realisiert und alle Entfremdung getilgt – doch sei dies immer ein Blendwerk.50 Bei derlei Manövern werde nämlich lediglich das Notwendige, das keinesfalls verschwindet, sakralisiert und symbolisch in Moral verkleidet, wobei die Bewältigung des Notwendigen »nicht als Last« gilt, »deren man sich entledigt, ›weil man es tun muß‹, sondern als moralisch-religiöse Pflicht: Demütigung und Selbsthingabe«(Gorz 1980: 99).51 Damit werde die eigentliche moralische Frage – was kann ich tun, das ich auch wollen kann – trotz aller Bekundungen amortisiert. Notwendigkeit wie Pflicht erlaube nämlich keine Frage nach dem eigenen Wollen, was Freiheit, Pluralität und Entscheidungsmöglichkeiten voraussetzt; verlange jedoch immer ein Müssen, das keinen Spielraum kennt. Man sollte anerkennen, so Gorz (1980: 108), dass »Notwendigkeit ohne Moral ist und Moral ohne Notwendigkeit«. Das heißt, dass man von der Ganzheitsfantasie eines großen Sieges über alle Entfremdung ablassen muss, da der damit einhergehende Begeisterungstaumel immer im totalitären Fieber und despotischem Exzess ende. Mehr noch: Man habe mit der Zerrissenheit zurechtzukommen, mit der »man in permanenter Spannung leben muß, ohne den Versuch zu unternehmen«, sie ein für alle Mal »lösen zu wollen« (Gorz 1980: 108). Und dieser Zerrissenheit – im Übrigen ein existential-philoso-
49 Das heißt aber nicht, dass es keine Politik hinsichtlich der Entfremdung geben kann, die darauf zielt, Entfremdung einzudämmen, zu begrenzen und weitestgehend zu überwinden. Und eine derartige politische Strategie verfolgt Gorz. 50 Ein solches Blendwerk lässt sich mit folgenden von Gorz zitierten Worten erhellen, die auf den Staatssozialismus bezogen sind: »›Hier ist eine Staatsfabrik, und der Staat, das ist die Partei, und die Partei, das sind die Massen, also gehört die Fabrik dir, Arbeiter‹. Nein so geht’s nicht. Wenn man mir sagt: ›Diese Fabrik gehört dir, denn sie gehört dem Volk‹, wenn ich den Befehlen der Direktoren blind gehorche, wenn ich nichts von meiner Maschine verstehe, geschweige denn von der übrigen Fabrik, wenn ich nicht weiß, was aus meinem Produkt wird, wenn es fertig ist, noch warum es produziert wurde, wenn ich schnell arbeite, sehr schnell für die Prämie, wenn ich die ganze Woche auf den Sonntag und jeden Tag auf den Feierabend warte und mich dabei zu Tode langweile, wenn ich nach den Arbeitsjahren noch ungebildeter bin als zu Beginn – dann gehört die Fabrik nicht mir, dann gehört sie auch nicht dem Volk!« (Claudie Broyell zit. n. Gorz 1977b: 141). 51 Eine solche Verwandlung des Notwendigen in eine moralisch-religiöse Pflicht, die dem Individuum eine demütige Selbsthingabe abverlangt, erkennt Gorz im Denken des charismatischen Politikers Mohandas K. Gandhi, der in den Fondements pour une morale kritisiert wird, vgl. Gorz 1955: 419-422.
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phisches Motiv – trägt die dualistische Utopie mit ihren zwei voneinander getrennten Sphären Rechnung. 4.
Resümee
Einleitend hatte ich die These gesetzt, dass Gorz bei seiner Hinwendung zur Ökologie dem Freiheitsproblem einen zentralen Platz einräumt. Rekapituliert man die Darstellung bis zum Ersinnen der dualen Utopie, so lässt sich resümieren: Gorz stößt durch Ivan Illich auf das Thema der Ökologie, für dessen Thesen er sich interessiert und die er in Frankreich verbreitet. Neben Illich kommt auch der Studie des Club of Rome und dem Politiker Sicco Mansholt eine gewichtige Rolle zu. Insbesondere mit Mansholt setzt sich Gorz kritisch auseinander und unterstellt ihm eine Ökologisierung der Politik. Gorz’ Analyse der Ökologisierung der Politik ist kapitalismuskritisch angeleitet und mündet in den Befund einer politisch erzwungenen Ökokompatibilität des Kapitalismus. Mit der Ökokompatibilität des Kapitalismus wird zweierlei prononciert: zum einen das Ausweichen des Kapitalismus auf neue Gebiete, wodurch zwar weniger Umwelt und Natur, dafür aber fortan Intimität und Subjektivität zerstört werden; zum anderen eine Ausweitung der Herrschaft des Staatsapparates, einhergehend mit einer Erhöhung des administrativen Drucks, was den ökokompatiblen Kapitalismus erst entstehen lässt. Insbesondere die Expansion des Staatsapparates ist es dann, die Anlass gibt, die Drohkulisse der Öko-Diktatur aufzubauen. Gorz stellt auf das Verschwinden von Subjektivität und Moral zugunsten von Notwendigkeit ab, durch die sich die technokratische Diktatur legitimiert. Mit Blick auf meine These ist hier festzuhalten: Gorz legt bei diesem Argumentationsgang den Akzent auf die Freiheitsthematik und verbindet kapitalismuskritische und politische Argumente mit der Ökologieproblematik, ohne jedoch der Spezifik ökologischer Themen gesonderte Aufmerksamkeit zu schenken. Die Wiedergewinnung von Autonomie und die Moralisierung des Gesellschaftszusammenhangs bilden die Grundlage zur Abwehr der öko-diktatorischen Gefahr wie totalitärer Tendenzen überhaupt. Gorz ersinnt eine duale Utopie der Gesellschaft, die durch eine Sphäre der Heteronomie und eine der Autonomie gekennzeichnet ist, wobei erstere im Dienst der letzteren steht. Durch den generellen Bezug auf die Arbeit, deren Umverteilung und die massive Kürzung der für sie aufgebrachten Zeit weitet Gorz das Freiheitsproblem aus und entheteronomisiert das gesellschaftliche Leben. In der so entstehenden Autonomie-Sphäre wird Freiheit als Abwesenheit von Notwendigkeit und als Selbsttätigkeit verstanden. Hier geht es um die Ermöglichung der für das Freiheitsverständnis rele-
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vanten moralischen Frage des individuellen Wollens. Trotz der Betonung der Ausweitung der Autonomie und der Eindämmung der Notwendigkeit, die der Beantwortung der moralischen Frage des Wollens erst angemessenen Raum bieten, wird entschieden an der Heteronomie-Sphäre festgehalten, die letztlich gar als Garant der Freiheit begriffen wird. Angesichts der so arretierten Dualität ist das gesellschaftliche Leben zum beständigen Oszillieren zwischen der Sphäre der Heteronomie und der der Autonomie verdammt. Gerade diese Zerrissenheit ist es aber für Gorz, die sowohl Freiheit ermöglicht, als auch totalitäre Tendenzen verunmöglicht. Dieser prinzipiell dualistischen wie auch herrschaftskritischen Überlegung liegt die existential-philosophische Idee zugrunde, dass die menschliche Existenz »das ist, was es nicht ist, und nicht das ist, was es ist« (Sartre 1943: 971). Dies berührt den Kern der dualen Utopie, nämlich Gorz’ Insistieren auf Zerrissenheit und dem damit verbundenen Oszillieren zwischen heteronomem und autonomem Sektor, wodurch für die Individuen nie Identität, aber immer Freiheit verbleibt. Gerade die Unmöglichkeit des Koinzidenzseins ist es, die das Individuum in der dualen Organisation der Gesellschaft widerspenstig macht und befähigt, alle Identitäten zu zerbrechen, in die man es einzuschließen versucht. Gorz versteht es, existential-philosophische Grundmotive sozialtheoretisch zu übersetzen und in eine politische Strategie zu überführen, die auf Steigerung der Autonomie zielt. Und das gilt auch für seine Hinwendung zur Ökologie. Bei dieser Hinwendung, deren wesentliche Stationen die Beobachtung einer Ökologisierung der Politik, das Warnen vor einer Öko-Diktatur und das Ersinnen einer dualen Utopie sind, kommt dem Freiheitsproblem ein vordringlicher Platz zu. Hier geht es nicht um genuin ökologische Themen, warum die Rede vom Kurswechsel nicht wirklich überzeugt. Gorz’ Kurs ist immerfort die Freiheit, wobei er in den 1970er Jahren lediglich das Feld der Ökologie durchpflügt. Mit anderen Worten: Auch auf diesem Feld ist sein Geschäft die Existenz und die Freiheit.
II.
D IE A NALYSE
UND
K RITIK DER W ISSENSÖKONOMIE
Mit der Analyse und Kritik der Wissensökonomie beschäftigt sich Gorz in seiner letzten Schaffensphase. Dieser Abschnitt reicht von 1997 bis zum Jahr 2007. Im Zentrum dieser Schaffensperiode steht die Schrift L’immatériel (2003), in der die Analyse und Kritik der Wissensökonomie akzentuiert sind. Gesäumt ist L’immatériel, in deutscher Übertragung Wissen, Wert und Kapital, von mehreren Texten: zum einen von der Schrift Misères du présent (1997a), in der Gorz bereits einen technologisch und kulturell implementierten, vor allem aber das Im-
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materielle einbeziehenden Kapitalismus analysiert und einen »totalen Sieg des immateriell gewordenen Kapitals« befürchtet (Gorz 1997a: 164); ferner von Welches Wissen? Welche Gesellschaft? (2001), einem Textbeitrag »für eine internationale Konferenz über die sogenannte Wissensgesellschaft aus linker Sicht« (Gorz 2005a: 13);52 und schließlich von einigen kürzeren schriftlichen Darlegungen wie dem Festschriftbeitrag Wa(h)re Arbeit (2004),53 dem Artikel Decroissance et travail54 und Gorz’ letztem vor dem Selbstmord publizierten Text La sortie du capitalisme a déjà commencé.55 Und obgleich er Schwierigkeiten hat, für L’immatériel einen deutschen Verleger zu finden,56 sind es vor allem Interessierte aus dem deutschsprachigen
52 Bei der hier angesprochenen Konferenz handelt es sich um den von der Heinrich-BöllStiftung organisierten Kongress »Gut zu Wissen«. Für die Dokumentation des Kongresses vgl. Heinrich-Böll-Stiftung 2002. 53 Der Text ist Oskar Negt zum 70. Geburtstag gewidmet und erschien in der Festschrift Arbeit und Utopie, vgl. Freytag/Hawel 2004. Gorz bemerkt zur Anfertigung dieses Textes: »ich [muss] noch einen für die Festschrift eines alten Freundes und Widersachers (Oskar Negt) versprochenen Beitrag fertigschreiben. In ca. zwei Wochen sollte mir das gelungen sein« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 28. Dezember 2003). 54 Der Artikel erschien in der Zeitschrift Entropia im Frühjahr 2007. Für die deutsche Übertragung des Textes unter dem Titel Weltkrise, schrumpfendes Wachstum und Ausweg aus dem Kapitalismus vgl. Gorz 2007a. 55 Dieser Text erschien im Herbst 2007 in der Nummer 28 der Zeitschrift EcoRev. Für die deutsche Übertragung des Textes unter dem Titel Das Ende des Kapitalismus hat schon begonnen vgl. Gorz 2007c. 56 In einem persönlichen Schreiben heißt es: »Bis jetzt habe ich noch keinen Verleger gefunden. Suhrkamp (Wissen) hat nicht reagiert, Günther Thien (Westfälisches Dampfboot) hat nach 4-monatigem hin u. her im Juli eine 2-monatige Option verlangt u. nie ein Angebot gemacht. Kennst Du einen Verleger, der sich um ein derartiges Buch reissen würde (die Übersetzung müsste ich noch überarbeiten u. ergänzen)?« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 30. August 2003). Die hier angedeutete nervenaufreibende und mühselige Suche nach einem Verleger für L’immatériel in deutscher Sprache fand mit dem Züricher Rotpunktverlag ein Ende, wo die Schrift im Jahr 2004 unter dem Titel Wissen, Wert und Kapital erschien. Gorz schreibt: »Ich habe in der Zwischenzeit einen [Verlag] gefunden: Rotpunkt Verl., Zürich, deren Inhaber zu einem kleinen Kreis von radikalen Linken gehören – denselben Kreis wie Thomas Schaffroth u. Pierre Franzen« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 20. bis 27. Oktober 2003). Als wenige Jahre später mit Lettre à D. eine Art Bestseller gelingt, bemerkt Gorz: »Zugleich wünsche ich aber dem Rotpunktverlag u. besonders Andreas Simmen viel Erfolg mit diesem Brief [Lettre à D.], denn er war der Einzige,
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Raum, die in seiner letzten Schaffensphase an ihn herantreten und einen Austausch über diese Schrift suchen. Zu diesen Interessierten gehören zwei der kundigsten Kenner der letzten Schaffensphase von Gorz – Stefan Meretz und Franz Schandl.57 Meretz trat 2003 an Gorz heran und stand mit ihm bis zum Jahr 2007 in einem brieflichen Austausch.58 Er akzentuiert in Gorz’ »letzter Lebensetappe« dessen »Begegnung mit der theoretischen Strömung der ›Wertkritik‹«59 und bemerkt: »Die wertkritische Analyse wurde für Gorz […] immer wichtiger« (Meretz 2013: 111). Auch Schandl, der ebenfalls mit dem in Frankreich lebenden Sozialtheoretiker briefliche Konversation betrieb, setzt diesen Akzent. Er erkennt in den »letzten Schriften« von Gorz »Affinitäten zur sogenannten Wertkritik« (Schandl 2013: 121).60 Gorz’ Rede von der »›Unmessbarkeit des Wertes‹ in
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der WWu.K [Wissen, Wert und Kapital] zu verlegen bereit war« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 13. bis 19. August 2007). Stefan Meretz stellt sich in einem persönlichen Schreiben Gorz wie folgt vor: »Zunächst vielleicht ein kleiner Einschub zu meiner Person: Jahrgang 1962, Ingenieur und Informatiker, Lohnarbeit bei der Gewerkschaft ver.di in Berlin, Entwickler von Freier Software und aktiv im Projekt ›Oekonux‹, kritischer Freund der ›Wertkritik‹ der Gruppe ›Krisis‹« (Brief von Meretz an Gorz, geschrieben am 18. August 2003). Franz Schandl ist Redakteur und Autor der in Wien ansässigen Zeitschrift Streifzüge. »Es gab im Jahr 2003 ein Interview in WOZ Die Wochenzeitung mit André Gorz« – so erinnert Stefan Meretz – »in dem es um Wissen und immaterielle Arbeit ging. Ich war in dieser Zeit aktiv in dem Projekt Oekonux, ein politisches Reflexionsprojekt, das die Erfahrungen aus der Freien Softwarebewegung in Richtung auf gesellschaftliche Transformation verallgemeinern wollte. Als ich das Interview mit André Gorz las, dachte ich, das gibt es doch nicht. Es fühlte sich so an, als ob er bei unseren Diskussionen im Projekt Oekonux mit dabei gewesen wäre; er hat dasselbe gedacht wie wir. Ich habe mich dann an Thomas Schaffroth gewandt, der das Interview gemacht hatte, und von diesem die Adresse bekommen. Zunächst wollte ich nur sehen, ob man an einen so großen und bekannten Namen wie André Gorz herankommen kann. Erstaunlicherweise habe ich schnell Antwort von André bekommen. Daraus entwickelte sich ein sehr intimer, persönlicher brieflicher Austausch. Durchgängiges Thema des Austausches war die Thematik von Wissen, Wert und Kapital« (Meretz, Gespräch mit A.H. am 04. August 2011 in Berlin). Der wertkritische Ansatz ist berühmt ausgebreitet in dem von Moishe Postone (2003) verfassten Werk Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft sowie in den Schriften von Robert Kurz (1991; 1999 und 2012). Als wertkritische Schrift gilt auch die gelungene Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie von Michael Heinrich (2004). Zur Kritik des wertkritischen Ansatzes vgl. Albohn 2009. Zum Ausdruck komme die Affinität, wenn der Autor von L’immatériel im Zuge seiner Analyse der Wissensökonomie etwa bemerkt: »Tendenziell geht der (Tausch) Wert
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der Wissensökonomie« wird bei dieser Lesart zur »zentrale[n]« »Argumentationsfigur« erhoben (Meretz 2013: 115). Inwieweit diese Rede es tatsächlich erlaubt, Gorz als Gesinnungsfreund der Wertkritik zu lesen, erscheint zumindest nicht zweifelsfrei.61 Die Akzentsetzung von Schandl und Meretz kommt aber nicht von ungefähr und lässt sich gar mit einem Bekenntnis von Gorz stützen. 62
der Produkte zurück. Früher oder später muss es zu einer Senkung des (Geld) Wertes des insgesamt produzierten Reichtums sowie zu einer Schrumpfung des Profitvolumens kommen« (Gorz zit. n. Schandl 2013: 124). 61 Mehrere Aspekte lassen die wertkritische Lesart als fraglich erscheinen, wobei hier lediglich ein zentraler angedeutet sei – ein Aspekt im Übrigen, dessen Kenntnis ich dem geduldigen Erläutern von Stefan Meretz verdanke (Gespräch mit A.H. am 04. August 2011 in Berlin): Gorz führt die Unmessbarkeit des Wertes auf die in der Wissensökonomie bestehende Unmessbarkeit der Arbeit zurück, wobei er im Argumentationsgang dem Marx (1858a: 601) der Grundrisse folgt, dem einzig »die Arbeitszeit« als »Maß und Quelle des Reichtums« gilt. Aus wertkritischer Perspektive argumentiert Gorz mit dem Bereden der Arbeitszeit durch und durch altbacken, will heißen traditionsmarxistisch. Im wertkritischen Denken wird nämlich der Wert per se als unmessbar begriffen, da der Wert mit dem Marx (1867: 71) des Kapitals streng als »gesellschaftliches Verhältnis« verstanden wird, wodurch das Kriterium der Arbeitszeit in den Hintergrund gerät. Die Unquantifizierbarkeit des Wertes, so kann aus wertkritischer Perspektive pointiert werden, wird nicht erst durch die Parameter der Wissensökonomie hervorgerufen, wie Gorz glauben mochte. Angemerkt sei noch, dass sich Gorz zwar für werttheoretische Diskussionen zu interessieren schien, er aber auch Vorbehalte hegte, da ihm derlei marxistische Debatten rasch »zu schematischökonomistisch« werden, wie es in einem persönlichen Schreiben (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 20. bis 27. Oktober 2003) heißt. In diese Richtung weist auch diese Bemerkung: »Ich habe mit den Marx’schen Krämerrechnungen zum Arbeitswert u. Mehrwert lange meine Schwierigkeiten gehabt« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 06. bis 09. Februar 2004). 62 In einem persönlichen Schreiben an Meretz bekennt er: In den vergangenen »2 Jahre[n] kam ich mit dir in Verbindung, las ich [Moishe] Postone, die Streifzüge u. ein paar Bücher von R.[obert] Kurz u. ›bekehrte‹ mich zum wertkritischen Denken. Du hast in dieser Wandlung eine ganz entscheidende Rolle gespielt, nicht nur durch deine theoretischen Eingaben« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 27. April 2005). Bemerkenswert ist gleichwohl, dass Gorz in der Person Meretz das existentialphilosophische Subjekt zu erkennen glaubt und dieses Erkennen am Beginn der mehrjährigen und intensiven Korrespondenz steht. »Warum bin ich mir so ganz sicher«, bemerkt er an Meretz gerichtet, »dass du selbst in deinem gesellschaftlichen (oder vergesellschaftlichten) Sein nicht aufzugehen wünscht und dir an der Distanz, die du zu dir selbst behälst, viel liegt? Weil sich das in deinem ersten Brief bereits ausgedrückt hat« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 06. bis 09. Februar 2004).
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Und auch von der ausgewiesenen Gorz-Kennerin Françoise Gollain ist diese »Affinität« bemerkt worden. Sie spricht bezüglich der letzten Schaffensphase von einer »Wende im Werk von André Gorz«; eine Wende, die sich vollziehe unter dem »Einfluss von Postone und der Wertkritik und ihrer Vertreter in Deutschland um Robert Kurz« sowie insbesondere durch »Kontakte zu Anhängern dieser Strömung wie Franz Schandl« und »Stefan Meretz« (Gollain 2013: 204). Muss nun doch ein Bruch im Denken konstatiert und auf die letzten Lebensjahre von Gorz datiert werden? Muss sein Auseinandersetzen mit dem wertkritischen Ansatz, das sich dem vorsichtigen, sensiblen, geduldigen wie klugen Argumentieren von Meretz und Schandl verdankt, als prinzipieller Einschnitt seines Theoretisierens, als »Wende im Werk« (Gollain) verstanden werden? Für mich ist dies mitnichten so. In der letzten Schaffensphase, und trotz der Bezüge auf wertkritische Autoren, gibt vor allem das existential-philosophische Gedankengut jenen Grundakkord vor, dem die Ausführungen von Gorz folgen – das jedenfalls ist die These des Auszuarbeitenden. Nachstehend möchte ich diese These plausibilisieren. Dafür wird in einem ersten Punkt die tragende Begrifflichkeit der Analyse der Wissensökonomie auf ihre Bedeutungsschichten hin erörtert (1). Dann wende ich mich der kritischen Rede von der unterworfenen Identität des Selbst zu, die im Zuge der Kritik der Wissensökonomie entfaltet wird (2), um anschließend mit »den Hackern, Linuxern und Oekonuxern« (Gorz 2004: 30) die von Gorz ausgemachten Subjekte zu erörtern, die die Identität des Selbst als Selbstausbeutung anfechten (3). Schließlich rekapituliere und pointiere ich vor dem Hintergrund der drei skizzierten Punkte meine existential-philosophische Lesart von Gorz’ letzter Schaffensphase (4). Existential-philosophisches Gedankengut wird, wie ich zeigen möchte, im erheblichen Maße von Gorz bei der Analyse und Kritik der Wissensökonomie genutzt. Auf das Herausarbeiten der Motive, die sich aus diesem Gedankengut speisen, stellt meine im Folgenden präsentierte Lesart auf spezifische Weise ab. Dass dieses spezifische Abstellen den Eindruck erwecken kann, das Betonen existential-philosophischer Motive übergehe substantielle ökonomische Argumente von Gorz und reduziere dessen Analyse und Kritik der Wissensökonomie auf die existentialistische Subjektrede, ist einerseits nicht ganz von der Hand zu weisen. Andererseits liegt darin der Vorteil, zunächst Grundmotive zu bergen, unbezweifelbare ökonomische Argumente nicht eilig als rein ökonomische Argumentation aufzufassen und überhaupt: vorschnelle Wandlungs-, Wende- und Bruchreden zu vermeiden. Wohl wissend, dass die wertkritische Lesart von Meretz und Schandl ihre Berechtigung hat und sich auf eine intensive Korrespon-
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denz mit Gorz stützen kann, geht es mir darum, und zwar jenseits der Diskussion um »Affinitäten zur sogenannten Wertkritik« (Schandl 2013: 121), auf die existential-philosophischen Motive im letzten Schaffensabschnitt aufmerksam zu machen. Diese Motive sind nämlich bei den bisherigen Analysen der letzten Schaffensphase nicht einbezogen worden – auch nicht von den kundigsten Kennern dieser Phase. 1.
Lebendiges Wissen und Humankapital
Das tragende Element von Gorz’ Analyse der Wissensökonomie ist die These, dass Wissen zur entscheidenden Produktivkraft geworden ist. Aber was ist Wissen? Man sagt vom Wissen, es setze sich aus spezifischen Kenntnissen zusammen, die etwa in der Schule gelehrt und abgefragt werden können. Derlei Kenntnisse nennt Gorz formalisierbares Wissen. »Formalisierbares Wissen bezieht sich immer auf einen realen oder irrealen, materiellen oder immateriellen Gegenstand, der als selbstständig, außerhalb von mir existierend, gesetzt ist. Es gilt als gekannt, wenn er seine Gegenständlichkeit mir in keiner Beziehung verdankt« (Gorz 2003: 107f.).
Dieses Wissen habe einen kognitiven Bezug. Für Gorz ist aber Wissen nicht nur kognitiver Bezug.63 Im Gegenteil: Als existential-philosophischer Denker weiß
63 In einem persönlichen Schreiben bemerkt Gorz, dass häufig Wissen und »Denken immer cognitiv und Reflexion [als] cognitiver Bezug zum vergegenständlichten selbst« verstanden wird. Zugleich moniert er ein »Überwiegen cognitiver Denkschemata u. Deutungsmuster, namentlich kausalen, ›erklärenden‹, begrifflichen Denkformen« und äußert: »das cogito dubito ergo sum z.B. ist immer wieder als schlüssiger Beweis, nicht als reflexive Selbsterkenntnis des eigenen Denkaktes verstanden [worden]« (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben vom 08. bis 14. Mai 1992). Und in einem anderen Brief an Hörl heißt es in dieselbe Richtung gehend: »In der Frage ›Was ist Denken‹ geht es immer nur um logische, formalisierbare, informatisierbare Denkakte. Nicht aber um wortlose Gedanken, freischwebendes wortloses Grübeln oder um die Formen des Selbstbewusstseins – Angst, Langeweile, Einsamkeit, Ekstase – die sich ihrer Versprachlichung verschliessen und nur durch die sprachliche Ausser-KraftSetzung der Sprache – Poesie – als verschwiegene Erfahrung äusserbar sind. Im cartesianischen Cogito geht es nicht um das Denken selbst sondern darum, dass ich denkend mir durch die reflexive Hinterfragung des Denkens bewusst werde, ein denkendes Subjekt zu sein. Das Cogito ist reine tautologische Selbstbetätigung: Ich bin mir bewusst zu denken, folglich bin ich, und das gleiche gilt sofort auch vom Zweifel
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er nur zu gut um »präkognitive[s]« Wissen (Gorz 2001: 16); »um wortlose Gedanken, freischwebendes wortloses Grübeln oder um die Formen des Selbstbewusstseins – Angst, Langeweile, Einsamkeit, Ekstase«.64 Es ist ihm überaus wichtig zu betonen, dass unsere erste »Beziehung zur Welt« nicht auf formalisierbaren Kenntnissen aufruht (Gorz 2003: 109).65 Wenn Gorz also über Wissen spricht, dann auch über eine Form des Wissens, die sich von formalisierbaren Kenntnissen unterscheidet. Und diese Form des Wissens nennt er lebendiges Wissen. Die Unterscheidung zwischen formalisierbarem und lebendigem Wissen ist eine der grundsätzlichen Begriffsunterscheidungen, die Gorz im Zuge der Analyse der Wissensökonomie vornimmt. Er beginnt beide Formen des Wissens genauer voneinander abzugrenzen und steuert so die Beantwortung der Frage an, welches Wissen Hauptproduktivkraft geworden ist. Und seine Antwort lautet: »Lebendiges Wissen gilt in der Wissensökonomie als die wichtigste Produktivkraft« (Gorz 2004: 35). Während formalisierbares Wissen Kenntnisse umfasst, »die der Wissende vorsätzlich und methodisch erlernt hat«, besteht lebendiges Wissen aus »Vorverständnisse[n] und Fähigkeiten, die wir spontan durch Erfahrung und den Verkehr mit anderen erworben haben, ohne sie je thematisiert und vorsätzlich gelernt zu haben« (Gorz 2001: 15f.). Das vorsätzlich und methodisch erlernte Wissen ist »formelles, soziales Wissen, das die Individuen nicht aus eigenen Erfahrungen und Interaktionen erwerben konnten. Es ist Teil der akkumulierten Kenntnisse und Deutungsmuster, die im Laufe der Geschichte in die Kultur eines Volkes aufgenommen wurden. Der Lernprozess und die Inhalte des formellen sozialen Wissens sind vom öffentlichen Unterrichtswesen und den öffentlichen Medien bestimmt« (Gorz 2001: 15).
Und Gorz nennt dieses Wissen deshalb »formalisierbar«, weil es »sich von seinen lebendigen Inhabern abtrennen« lässt (Gorz 2003: 40). Demgegenüber wird lebendiges Wissen als untrennbar von seinem lebendigen Träger bestimmt. (sum conscientia dubitandi, ergo sum) u. für jeglichen Bewusstseinsakt« (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 13. Januar 2005). 64 Diese Zeilen entstammen einem persönlichen Schreiben (Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 13. Januar 2005). 65 Gorz bemerkt mit Rekurs auf Edmund Husserl: »Wir lernen die Welt über unseren Körper kennen und unseren Körper über die Handlungen, die die Welt entfalten, indem er sich in ihr entfaltet. Diese sinnlich erfahrene, körperlich erlebte Welt ist, so Husserl schon 1906, ›die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsfähig gegebene, die je erfahrbare Welt – unsere alltägliche Lebenswelt‹« (Gorz 2003: 109).
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»Dieses präkognitive informelle Wissen« wird »durch eigene Erfahrungen, eigene Experimente spielend erworben und als eigenes Verhältnis zur Umwelt gelebt, nicht als formell gelerntes (fremdes) Wissen gekannt.« Und weiter heißt es zum lebendigen Wissen: »Sprechen, die Umwelt und ihre Gegenstände deuten und handhaben, die Metasprache der Gesichtsausdrücke und Gesten verstehen usw., all das haben wir nicht absichtlich erlernt« (Gorz 2001: 16). Lebendiges Wissen werde also nicht gelehrt. Vielmehr lernt man es nach Gorz »durch den Gebrauch, sozusagen durch die Schule des Lebens. Es entsteht mittels der Fähigkeit des Subjektes, an sich zu arbeiten, sich selbst zu produzieren« (Gorz 2003: 41). Für gewöhnlich sagt man, die Schule vermittle jene Kenntnisse, die im Arbeitsleben Relevanz haben. Nach Gorz zählt diese Binsenweisheit in der Wissensökonomie nicht mehr. In dieser Ökonomie erhalte alle Arbeit eine zunehmende Wissenskomponente. Das Wissen gleichwohl, das hier in Rede gestellt ist, bestehe nicht aus dem in Schulen erlernbaren, formellen Wissen. Denn: »Die Informatisierung hat die nicht substituierbaren, nicht formalisierbaren Wissensformen aufgewertet. Gefragt sind Erfahrungswissen, Urteilsvermögen, Koordinierungs-, Selbstorganisierungs- und Verständigungsfähigkeit, also Formen des lebendigen Wissens« (Gorz 2003: 9).
In der Wissensökonomie müssen die Menschen, so heißt es weiter, »in den Produktionsprozess mit dem ganzen kulturellen Gepäck einsteigen, das sie durch Spiele, Mannschaftssport, Kämpfe, Diskussionen, musikalische Aktivitäten, Theaterspielen usw. erworben haben. Bei diesen Aktivitäten außerhalb der Arbeit haben sie ihre Lebendigkeit, Improvisations- und Kooperationsfähigkeit entwickelt«, die in der Wissensökonomie »in Arbeit umgesetzt und ausgebeutet« werden (Gorz 2003: 23).
Und für Gorz ist es der Begriff des Humankapitals, der die ökonomische Bedeutung des lebendigen Wissens anzeigt.66 66 Der von Gorz nicht ausgewiesene Begriff des Humankapitals wurde bekanntlich in Frankreich von Michel Foucault in den 1970er Jahren thematisiert. In der Transkription seiner am Collège de France im Jahr 1979 gehaltenen Vorlesungen zur neoliberalen Gouvernementalität heißt es mit Bezug auf neoliberale Theoretiker des Humankapitals wie Gary S. Becker und Theodor W. Schulz: »Man gelangt also zu der Vorstellung, dass der Lohn nichts anderes ist als eine Vergütung, als ein Einkommen, das einem bestimmten Kapital zugeteilt ist, einem Kapital, das man Humankapital nennen wird, insofern die Kompetenz/Maschine, deren Einkommen es ist, nicht von der
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Expliziert wird der Begriff des Humankapitals mittels einer Äußerung des Personalchefs von Daimler-Chrysler: »Die Mitarbeiter gehören zum Kapital des Unternehmens […]. Ihre Motivation und ihr Know how, ihre Flexibilität, Innovationsfähigkeit und ihre Kundenorientierung bilden den Rohstoff für innovative Dienstleistungsprodukte. […] Die Leistung der Einzelnen wird zunehmend nicht mehr an der Anwesenheit im Unternehmen, sondern an den erreichten Zielen und der Qualität der Ergebnisse gemessen. […] Da auch die Verhaltenskomponente bei der Erbringung von Dienstleistungen eine wichtige Rolle spielt, wird zunehmend auch die soziale und emotionale Kompetenz des Mitarbeiters bei entsprechenden Bewertungen berücksichtigt« (Norbert Bensel zit. n. Gorz 2003: 20).
Was in diesen Worten als Humankapital kenntlich werde, sei das Verhalten der Mitarbeiter, ihre Motivation, Kreativität und Entwicklungs- wie Initiativfähigkeit als auch ihr ureigenes Sich-Einbringen in die Arbeitsaufgabe, und somit Komponenten des lebendigen Wissens, das von seinen Trägern nicht getrennt werden kann. Die Art, wie der Erwerbstätige dieses Wissen einbringt, könne nicht befohlen oder vorgeschrieben werden. »Vorgeschrieben ist vielmehr die Subjektivität, also genau das«, was der Mensch »allein dadurch produzieren kann, dass er sich seiner Aufgabe ›hingibt‹«. Als Humankapital müsse der Mensch »sich zum Subjekt seiner Arbeit machen, das heißt die Produktion seiner selbst besorgen, sich selbst produzieren« (Gorz 2003: 21). Und was die Unternehmen in der Wissensökonomie betreffe: Die »fangen diese Fähigkeit des Sich-selbst-Produzierens nur ein«, »kanalisieren sie« und betrachten schließlich die Fähigkeit des Menschen, Subjekt zu sein, als »›ihr‹ Humankapital« (Gorz 2003: 23). Man muss hier innehalten, sich von dem geschmeidigen wie flotten Schreibfluss von L’immatériel lösen, um in die tieferen Bedeutungsschichten des Gesagten vorzudringen. Gorz hätte nämlich in L’immatériel, und zwar an mehreren
menschlichen Person als ihrem Träger getrennt werden kann« (Foucault 1979: 194). Foucault (1979: 193) spricht in diesem Konnex auch vom »Unternehmer seiner selbst«, eine Formulierung, die berühmt von Ulrich Bröckling (2007) aufgegriffen und weiter konzeptualisiert wurde. Bei Bröckling heißt es zur neoliberalen Humankapitaltheorie: »Humankapital bedeutet in dieser Perspektive zunächst nichts anderes, als daß Wissen und Fertigkeiten, der Gesundheitszustand, aber auch äußeres Erscheinungsbild, Sozialprestige, Arbeitsethos und persönliche Gewohnheiten als knappe Ressourcen anzusehen sind, die aufzubauen, zu erhalten und zu steigern Investitionen erfordern« (Bröckling 2003: 18). Vgl. zum Thema Humankapital auch das von Thomas Müller (2009) zusammengestellte Schwerpunktheft sowie insbesondere den darin enthaltenen Beitrag von Henning Laux (2009).
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Stellen, Gelegenheit gehabt – und die bisher getroffenen Aussagen mögen dafür Hinweise geben –, seine Theorie des Subjektes, das Hauptquartier seines Denkens, offenzulegen. Aber er tut es nicht, zumindest nicht explizit. Er verbleibt auf einer Oberflächenebene, gängelt seine Leser nicht mit zähen philosophischen Passagen und übt sich darin, verständlich zu bleiben. 67 Und dennoch: Seine Theorie des Subjektes schwingt bei der Analyse der Wissensökonomie beständig mit. Zur Erklärung: Auf die Frage, worauf es die Unternehmen in der Wissensökonomie abgesehen haben, lässt sich mit den bisherigen Erörterungen antworten: Auf das Humankapital. Was ist Humankapital? Es setzt sich aus Komponenten des lebendigen Wissens zusammen. Wie entsteht lebendiges Wissen? »Es entsteht mittels der Fähigkeit des Subjektes, an sich zu arbeiten, sich selbst zu produzieren« (Gorz 2003: 41). So weit, so gut. Was aber heißt es genau, Subjekt zu sein, an sich zu arbeiten, sich selbst zu produzieren? Zur Beantwortung dieser bohrenden Frage holt Gorz in L’immatériel nicht aus. Er begnügt sich mit Andeutungen, die man als hastiger Leser leicht überlesen mag. So jene Stelle, in der Merleau-Ponty ins Feld geführt wird: »Das Subjekt ist niemals gesellschaftlich gegeben, es ist, um einen von Maurice MerleauPonty auf das Bewusstsein verwendeten Ausdruck aufzunehmen, ein Wesen, das sich selbst gegeben ist und das sich zu dem zu machen hat, was es ist. Nichts kann es davon entbinden noch dazu zwingen« (Gorz 2003: 24).
Oder jene Passage in L’immatériel, die sich an ganz anderer Stelle findet, wo es aber bezüglich des mit Merleau-Ponty angesprochenen ›Wesens‹ heißt: »Ein Wesen, das aufgrund seines Gefühls von Unvollkommenheit immer für sich selbst zukünftig ist und unfähig, mit sich selbst in der unbeweglichen Fülle des Seins zu koinzidieren« (Gorz 2003: 128).
67 Der zugängliche Stil von L’immatériel ist auch von Stefan Meretz angemerkt worden, was deutlich wird, wenn es in einem Brief von Meretz an Gorz heißt: »Das Buch ist mir analytisch zu vage und begrifflich zu unklar. Genau das macht das Buch jedoch gleichzeitig für viele leicht zugänglich, denn irgendwie kann man sich immer vorstellen, was du jeweils meinst« (Brief von Meretz an Gorz, geschrieben am 28. Februar 2005). Erwähnt sei hier auch Gorz’ Replik auf Meretz, die meines Erachtens etwas zu selbstkritisch ausfällt: »Du hast ganz recht, mein Buch ist analytisch vage, begrifflich unklar, untheoretisch, u. wie immer, rette ich mich ›journalistisch‹, indem ich Vorgänge beschreibe, erzähle« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 10. bis 23. März 2005).
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Und dann noch diese Worte, die besonders aufschlussreich sind bezüglich der ›Fähigkeit, eigensinnig an sich zu arbeiten und sich zu produzieren‹: Diese Fähigkeit wurzelt in der Begabung des Subjektes »›sich zu seinem eigenen Mangel zu machen‹ (Sartre), die im Grunde das Vermögen ist, schöpferisch zu sein, zu fantasieren, zu zweifeln, sich zu ändern, kurz sich selbst zu bestimmen« (Gorz 2003: 129).
Es sind diese verstreuten, nicht kodierten Aussagen, die es erlauben, die zentralen Kategorien von Gorz’ Analyse der Wissensökonomie – lebendiges Wissen und Humankapital – auf ihre existential-philosophische Fundierung rückzuführen. Was nämlich eigentlich in der Wissensökonomie nach Gorz eingefangen, kanalisiert und verwertet wird, so lässt sich nun sagen, ist nichts anderes als die existentielle Freiheit – eine Freiheit, »die aus einem völlig gesellschaftlich bedingten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt« (Sartre 1969c: 165). Es ist das beständig an sich arbeitende Mängelwesen Mensch, das in der Wissensökonomie als ökonomische Ressource entdeckt wird und von dem der Sartrianer behauptet, dass es »verurteilt [ist], frei zu sein« (Sartre 1943: 764), weil es sich nicht als Standbild in die »Fülle des Seins« einfügt (Gorz 2003: 128), sondern im Gegenteil aus Unvollkommenheit dazu verdammt ist, eigensinnig an sich zu arbeiten, sich in die Zukunft zu entwerfen und sich eigens zu erschaffen. Das heißt, was in der Wissensökonomie eingefangen und ökonomisch kanalisiert wird, ist des Sartrianers Heiligstes: Das Subjekt und die unaufhörliche Tätigkeit seiner Freiheit, die all das hervorsprudeln lässt, was den Menschen in der Wissensökonomie zum Humankapital, zum idealen Wert- und Investitionsobjekt werden lässt – Vitalität, Aktivität, Kreativität, Adaptivität, Motivation, grenzenlose Entwicklungsfähigkeit, Selbstverantwortlichkeit etc. 2.
Der Auftritt des Selbst
Im Zuge seiner Analyse der Wissensökonomie nahm Gorz »den gesellschaftlichen Zugriff auf die Lebensweise der Subjekte als totalitärer denn je« wahr (Bohlender 2013: 73). »Die Herrschafts- und Machtstrategien greifen heute die intimsten Triebkräfte der Autonomiefähigkeit an und versuchen die Individuen radikaler noch sich selbst zu enteignen, als es die Entfremdung ihrer Arbeitskraft je zu tun vermochte« (Gorz 1996: 191).
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Gorz erkennt die Tendenz einer »totalen Instrumentalisierung aller menschlichen Fähigkeiten« (Gorz 2003: 35). Die kapitalistische Macht habe ihren Zugriff auf alle Sphären des sozialen, ökonomischen und kulturellen Lebens ausgedehnt. Damit sei sie dabei, in die intimsten Poren des menschlichen Daseins vorzudringen und »die Menschen mit Leib und Seele in Besitz« zu nehmen (Gorz 1997a: 164). Für Gorz bedeutet das, eine ganz bestimmte Identität mit einer ganz bestimmten kapitalistischen Ideologie zu durchleben, die so gefertigt ist, dass die unterdrückende Macht durch die Unterdrückten verinnerlicht wird. Und diese unterworfene Identität konzeptualisiert er als das Selbst, womit ein weiteres existential-philosophisches Motiv benannt werden kann, das bei seiner Analyse und Kritik der Wissensökonomie zur Anwendung kommt. Das Konzept des Selbst setzt Überlegungen von Sartre voraus. Sartre hatte mittels seiner Ausführungen in der Transzendenz des Ego verkündet: »›Ich ist ein anderer‹« (Sartre 1936: 39).68 Gorz bemerkt zur berühmten Erörterung: »Sartre zeigte, daß das Sich-selbst und das Ich-selbst durch ein Subjekt konstituierte ›psychische Objekte‹ sind, wobei das Subjekt sich verleugnet durch die Bemühung, für sich selbst der Andere zu sein, der es für die anderen ist« (Gorz 1996: 200). Man kann, so sind Sartre und Gorz zu verstehen, sich mit der Identität des Ichs ausstatten, mit dem Gebaren des ›I am what I am‹ und, um dem Schwindelgefühl zu entgehen, das die ›Verdammnis zur Freiheit‹ zeitigt, als Identitätsblock des Ich-bin-Ich durch sein Leben schreiten;69 doch sollte man sich keineswegs in dieser Ich-Duselei als Subjekt wähnen. Für Sartre wie für Gorz ist das Subjekt radikale Nicht-Identität; eine Nicht-Übereinstimmung mit sich selbst; ein Losreißen von der Kontinuität des Eingelebten – von jener identitätsbildenden Kontinuität, von jenem durch Sozialisation Hingebogenen, das man gemeinhin Ich nennt. Dieses »›Ich (Moi)‹ ist ein Anderer« (Gorz 1997a: 96). Das Subjekt »hingegen ist gerade das Vermögen, diese Alterität des Ich-Selbst (›Moi‹) als Selbstentfremdung anzufechten« (Gorz 1997a: 96). Das Ich-Selbst ist nämlich nur eine
68 Die berühmte Formel »Ich ist ein anderer«, im Original »Je est un autre«, geht auf den französischen Lyriker Arthur Rimbaud zurück; der Grund, warum Sartre hier die Formulierung in Anführungszeichen setzt. 69 Sartre hatte bekanntlich die existentielle Freiheit mit dem Thema der Angst verknüpft und dabei das Schwindelgefühl beschrieben, das einem widerfährt, wenn man, wie bereits Kierkegaard (1844: 60) sagte, plötzlich »in eine gähnende Tiefe« blickt, vgl. Sartre 1943: 79-118. Peter Caws bemerkt in seiner Sartre-Interpretation dazu trefflich: »Das Unbehagen an der Angst entsteht aus dem unausweichlichen Schwindelgefühl vor der existentiellen Freiheit, und wir fliehen vor ihr, – oder versuchen es zumindest – in die Beruhigung einer essentiellen Selbst-Identität« (Caws 2003: 58).
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Entsprechung dessen, »was die anderen und die Gesellschaft von uns fordern und uns zu sein erlauben«; ein Verschmelzen »mit den Rollen und Funktionen […], die zu erfüllen die gesellschaftliche Megamaschine uns auferlegt«, wie Gorz (2005a: 8f.) sagt. Hierin liegt der Sinn seiner zahlreichen Attacken gegen die Sozialisation: »Die Erziehung, die Sozialisation, die Bildung, die Integration lehren uns, Andere unter Anderen zu sein« (Gorz 2005a: 8).70 Hierin liegt der Sinn des so entschiedenen Zusammenbringens von Sozialisation und Gewalt: »Sozialisierung, Erziehung ist Gewalt, Vergewaltigung, Unterdrückung des ›Unsagbaren‹, das in die gesellschaftlichen Beziehungen nicht passt«.71 Nicht, dass Gorz glauben würde, man müsse nur die Gewaltakte der Sozialisation aussetzen und schon würde ein wie auch immer geartetes natürliches Sein des Menschen erblühen. Im Gegenteil: »Die Sozialisation hindert uns daran, gänzlich uns selbst zu gehören, aber wir würden uns auch dann nicht gehören, wenn sie anders ausgefallen oder – mangels Möglichkeiten – unterblieben wäre. Sie ist die kontingente Form unserer Unmöglichkeit, mit uns selbst übereinzustimmen« (Gorz 1988: 249).
Eine Unmöglichkeit im Übrigen, die nichts anderes ist als die existentielle Freiheit. Gorz glaubt an keine essentielle Selbst-Identität. Er glaubt an das Subjekt, dem die unentwegte Weigerung, Identität zu sein, zugeschrieben wird; ein Subjekt, dem aufgrund der Unmöglichkeit, mit sich selbst übereinzustimmen, das Wunder und die Würde der Freiheit zukommen. Aber: Er glaubt auch an die Flucht vor der Freiheit72 und an das ideologische Verbergen des Vermögens, Subjekt zu sein. Er identifiziert einen massiv vorgetragenen gesellschaftlichen 70 Insbesondere die Institution der Schule wird diesbezüglich von Gorz scharf kritisiert, was u.a. in dem von ihm zusammengestellten Sonderheft der Les Temps modernes mit dem Titel L’usine et l’école dokumentiert ist. Im Deutschen erschien dieses Sonderheft unter dem Titel Schule und Fabrik, vgl. Gorz 1971a. 71 Brief von Gorz an Hörl, geschrieben vom 08. bis 14. Mai 1992. Für die systematische Ausarbeitung dieses Gedankens vgl. Gorz 1988: 245-253 sowie Gorz 1997a: 95-101. 72 Ich verwende hier den wörtlich übertragenen Titel von Erich Fromms Schrift Escape for Freedom, die im Deutschen als Furcht vor der Freiheit erschienen ist, vgl. Fromm 1941. Fromm beschäftigt sich hier mit den Gründen für die Selbstunterwerfung, wobei er herausstellt, dass die Freiheit den Menschen »isoliert und dabei ängstlich und ohnmächtig« macht, warum der moderne Mensch dazu tendiert, »der Last seiner Freiheit zu entfliehen« und bereit ist, sich in »Unterwerfung zu begeben« (Fromm 1941: 8). Gorz hat diese Schrift geschätzt und bemerkt, dass »von Erich Fromm«, ähnlich wie »von der Existentialphilosophie«, ein »ontologische[r] Hang zur Flucht« vor der Freiheit konstatiert wurde (DGB 1983: 119).
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Appell, der jedes Individuum von Kindesbeinen an auffordert, die Unmöglichkeit, mit sich selbst übereinzustimmen, zu verleugnen. Wir sollen uns geradezu in die Selbstübereinstimmung, in die Tautologie des Ich-bin-Ich verschanzen; das sei die durch die gesellschaftlichen Institutionen vermittelte Systemlogik. Denn: Nur wer zutiefst davon überzeugt sei, dass er ist, was er ist und im Modus des ›I am what I am‹ durch sein Leben schreite, nur dem könne man erfolgreich vorenthalten, dass ›Ich ein Anderer ist‹. Es ist die Identität des Selbst, schlussfolgert Gorz, in der man am effektivsten verdrängt, dass nicht »›ich‹ handele, sondern die automatisierte Logik der gesellschaftlichen Einrichtung durch mich als Anderer« (Gorz 2005a: 9). Hier trete eine gerissene, nahezu vollkommene Ideologie zutage: Man dünkt, Ich zu sein, wahrlich ist man aber nur ein Anderer unter Anderen.73 Und in dieser ideologischen Verblendung verleugne man eben auch, dass das vermeintlich individuelle und majestätische Ich nur ein Vehikel bei »der Produktion und Reproduktion der sozialen Megamaschine« ist (Gorz 2005a: 9). Die einzig authentische Geste, die Gorz dem Ich zubilligt, ist Entgegensetzung. In diesem Sinne schreibt er in seiner letzten Schaffensphase an Franz Schandl: Das authentische »selbst ist eigentlich nur die Distanz, die er zum Anderen, zu dem er sozialisiert wurde, behält«.74 Auf diese Distanz hinzuweisen empfand Gorz stets als dringlich – angefangen beim Versuch des Verrats seines eigenen Selbst in Le traître (1958) bis hin zu den systematischen Erörterungen in Métamorphoses du travail (1988). Aber nie, so scheint es, war ihm das Betonen der Einsicht »›Ich ist ein Anderer‹« (Gorz 1997: 96; Sartre 1936: 39) dringlicher als in seiner letzten Schaffensphase. Im Zuge der Analyse der Wissensökonomie macht er das Problem der SelbstIdentität in einem Grad der Intensität aus, der ihn veranlasst, drastisches, nie zuvor verwendetes Vokabular zu gebrauchen. Er spricht hinsichtlich der Ideologie des Selbst, und das ist für den Wiener Juden Gorz nun wirklich keine Selbstverständlichkeit, von einer »›totale[n] Mobilmachung‹« (Gorz 2003: 26).75 Totale Mobilmachung des »ontologischen Hang[s]« (DGB 1983: 119), ein massives
73 Um das Gerissene dieser Ideologie wusste freilich schon Jean-Jacques Rousseau, wenn er bezüglich der Erziehung bemerkt: »Laßt ihn [den Zögling] immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht« (Rousseau 1762: 265). 74 Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 03. Dezember 2003. Angemerkt sei, dass Gorz hier den Ausdruck »Selbst« im Sinne des Subjektes und nicht im Sinne des IchSelbst (Moi) verwendet. 75 Gorz zitiert mit der Formulierung »Die totale Mobilmachung« den gleichnamigen Essay Ernst Jüngers, vgl. Jünger 1930.
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An-Sich, eine pralle Identität zu sein; Massenflucht in die Selbst-Identität; regelrechte Zwangshandlung, ›ich selbst‹ zu sagen; fast schon obszöner Auftritt des Selbst als ›I am what I am‹ – all dies Effekte eines Kapitalismus, in dem lebendiges Wissen zur wichtigsten Produktivkraft geworden ist. 76 In der Wissensökonomie, so ist Gorz zu verstehen, sind die Lautsprecher, die den gesellschaftlichen Appell verkünden, ein Selbst zu sein‚ bis zum Anschlag aufgedreht. Die Wissensökonomie ist für Gorz in erster Linie ein Kapitalismus, der das Immaterielle einbezieht, eine Form der Produktion und Konsumtion also, wo nicht länger nur materielle Güter – wie im Industriekapitalismus –, sondern zugleich und massenhaft immaterielle Güter produziert und verbreitet werden. Unter immateriellen Gütern werden Kulturgüter im weitesten Sinne verstanden. Insbesondere auf die Produktion und Verbreitung »von Wissen, medizinischer Pflege, Informationen und von Selbstbildern« (Gorz 1996: 192) werde in einem solchen Kapitalismus abgestellt. »Denn je schneller die materielle Produktion zu wachsen aufhört, der Industrialismus zu Ende geht und die arbeitsfreie Zeit den Vorrang vor der Arbeitszeit gewinnt, verlagert sich die ökonomische Macht auf neue Bereiche. Sie sucht nicht mehr primär, die Individuen als Produzenten und Konsumenten zu beherrschen, sondern jetzt auch in ihrer freien Zeit bei nicht produktiven und immateriellen Aktivitäten der Produktion ihrer selbst« (Gorz 1996: 191).
Im Kapitalismus, der das Immaterielle einbezieht, gebe es das »Angebot einer Vielzahl von Modellen und Elementen, die die Individuen nutzen können, um sich eine ›Identität‹ zu konstruieren und ein ›Image‹ aufzubauen« (Gorz 1996: 202). Durch Marketing und Werbung werde das Individuum angerufen ›anders zu sein‹, ›man selbst zu sein‹, sich so an diesem Angebot zu bedienen und Konsument eines Selbstbildes zu werden. Als Konsument eines Selbstbildes aber, sei es in seinem »Verhalten von den Entscheidungszentren bestimmt, die festlegen, was die Menschen lieben, verlangen und kaufen werden und sollen […]. Die Nachfrage wird hergestellt, der Konsum gesellschaftlich neu definiert und das Selbstbild des Konsumenten ihm als ein eigentlicher Bestandteil des Gebrauchswertes der Ware verkauft« (Gorz 1996: 202).
Und sich im ihm verkauften Selbstbild spiegelnd – wenn man so will, auf dem Laufband vor dem Spiegel eines Fitnesscenters –, sei das Individuum fortan vor 76 Gorz (2003: 31) bemerkt: »Die Vorsilbe ›Selbst‹ wird« in der Wissensökonomie »zum wichtigsten Postulat […] der gesamten Lebensführung«.
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allem daran interessiert, dieses Bild seiner selbst durch fortwährenden Konsum aufrechtzuerhalten. Konkretisieren lässt sich dies in Gorz’ Sinne wie folgt: Als Vertreter meiner selbst, gefangen in der Tautologie des ›Ich bin das, was ich bin‹, offenbare ich mein Selbst auf meinem Blog, meinem Youtube-Channel, auf meiner Facebook-Seite; versuche krampfhaft über mein ›ganz persönliches‹ Tattoo – das sich bereits auf meinem Körper zur wilden Collage multipliziert hat –, meine ›individuell‹ eingerichtete Wohnung, spektakulären Reisen und Anschaffung der neuesten Sache, die gerade in Mode ist, ein Ich zu sein, um schließlich per Flirt-Apps und Partnervermittlungsseiten einem anderen Selbst zu begegnen, das identische Prothesen gebraucht, um sein Ich aufrechtzuhalten, wie ich selbst. Und im Verleben einer kurzweiligen Partner- und Sexgeschichte schaut sich das eine wie das andere Selbst bereits nach neuen Gehhilfen um, mit denen sich im Modus des ›I am what I am‹ durch ein vollends durchkapitalisiertes Leben geschleppt wird. In diesem Sinne spricht Gorz von Strategien der »Selbstdarstellung« (Gorz 2003: 31) sowie von einer »versteckte[n] Gewalt, die die Werbung in allen Bereichen und allen Momenten des Alltagslebens auf die Individuen ausübt« (Gorz 2003: 68). »Der Konsument«, so heißt es weiter, »der dazu angeregt wird, sich nach dem von der Werbung vorgehaltenen Selbstbild selbst zu produzieren und seine geborgte Identität dem Wandel des Geschmacks und der Mode anzupassen, ist damit auf die Selbstbearbeitung und die Selbstproduktion schon vorbereitet, die ihn als Arbeiter« in der Wissensökonomie »vermittelbar und verkäuflich macht« (Gorz 2003: 68).
In der Wissensökonomie werden nach Gorz »die kommunikativen, beziehungsintensiven, kooperativen und erfinderischen Fähigkeiten zu einem Bestandteil der Arbeitskraft« (Gorz 1997a: 61). Damit trete die »Mobilmachung des ganzen Menschen als ›Arbeitsmenschen‹« (Gorz 2003: 33), die Selbstvermarktung der ganzen Person auf den Plan. Mit der Selbstvermarktung der ganzen Person konstatiert Gorz: Sie führt zum »absoluten Produktivismus« und zum Verschwinden des »Unterschied[s] zwischen Mensch und Kapital« (Gorz 1997a: 164). Es komme zur Entwicklung eines »Persönlichkeitsmarktes« (Gorz 1997a: 64), auf dem Fähigkeiten feilgeboten werden, die nicht von den »sie einsetzenden« Individuen »trennbar« sind, da es sich um »ein Ins-Werk-Setzen ihrer persönlichen Ressourcen, sprich, ihrer ›Talente‹« handelt (Gorz 1997a: 63). Diese persönlichen Fähigkeiten, vor allem die erfinderischen und kreativen, werden von Gorz als von der Autonomie der Individuen abhängige begriffen. Vom Standpunkt des Kapitals aus besehen, ergebe sich hier eine Schwierigkeit, in deren Überwindung aber zugleich der Schlüssel zum »totale[n] Sieg« (Gorz 1997a: 164) des Kapitals
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liege: Die zum Kauf angebotenen Fähigkeiten, die die Autonomie der Person verlangen, könnten »naturgemäß nicht mehr befehligt werden. Denn sie entfalten sich nicht auf Befehl, sondern auf Grund der Initiative« des Individuums oder ganz und gar nicht. »Die Herrschaft des Kapitals läßt sich dann nicht mehr direkt durch hierarchischen Druck auf die lebendige Arbeit ausüben, sondern nur noch auf indirekte Weise. Sie muß sich auf Gebiete außer- und oberhalb des Betriebes verlagern« und das Individuum »so konditionieren, daß es genau das akzeptiert oder wählt, was man ihm aufzuzwingen beabsichtigt« (Gorz 1997a: 62).
Das Gerissene dabei sei, dass diese »Ideologie, die das Sich-verkaufen-Können zur höchsten Tugend erklärt« (Gorz 1997a: 64), nicht unterdrückend, also ohne repressive Geste daherkommt. Die Individuen würden in »wirklicher«, wenngleich »begrenzter und untergeordneter«, Souveränität und Autonomie gehalten. »Sie sind auf souveräne Weise frei in den ihnen von anderen gesteckten Grenzen. Sie sind frei zur Verwirklichung der Ziele eines Herrn, aber nur dazu« (Gorz 1997: 63). Diese begrenzte Autonomie der Individuen sei – um es mit einem Ausdruck von Marx zu sagen – die »Springquelle« des postindustriellen Reichtums.77 Mehr noch, die Wissensökonomie treibe gar die »Entwicklung der Individualitäten« voran, die Marx eigentlich dem Kommunismus zudachte,78 das allerdings unter dem Vorzeichen, dass die »volle Entwicklung der Individualität« nicht länger »ein Ziel an sich« sei, sondern instrumentalisiert werde, und zwar »als Mittel zur Erhöhung« der Produktivkraft des Selbst (Gorz 1997a: 164).79 77 Marx’ berühmte Rede von den »Springquellen des Reichtums« findet sich im ersten Band des Kapitals. Hier heißt es: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen des Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter« (Marx 1867: 529f.). 78 In Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie spricht Marx vom Kommunismus als »freigewordene Zeit« für die »freie Entwicklung der Individualitäten«. Hier heißt es: »Die freie Entwicklung der Individualitäten und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordene Zeit und geschaffnen Mittel entspricht« (Marx 1858a: 601). 79 Bemerkenswert ist, dass Gorz das Problem bereits bei Marx selbst angelegt sieht. Anstoß nimmt er dabei an jener Stelle, wo Marx (1858a: 607) von »capital fix being man himself« spricht. »Das Problem«, bemerkt Gorz an Meretz, »widert mich schließlich
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3.
Die Dissidenten der Wissensökonomie
Gorz’ progressive These im Konnex der Wissensökonomie lautet, dass »der potenzielle Akteur der Überwindung des Kapitalismus in Richtung einer anderen Ökonomie das ›Humankapital‹ selbst ist, insofern es sich vom Kapital zu emanzipieren sucht« (Gorz 2003: 85).
Die Stabilität und das Funktionieren der Wissensökonomie beruhen nach Gorz vor allem darauf, dass die Individuen in Form der Selbst-Identität die Rolle des verwertbaren Humankapitals auch zu spielen bereit sind, indem ein jeder sich selbst vermarktet und »sein Anderssein ›personalisiert‹, als wäre er der Anderein-Person«.80 Folglich gilt Gorz’ Suche Akteuren, die sich gegen die Selbstvermarktung sperren und die Selbst-Identität als Alterität anfechten. Ein solches Versperren und Anfechten erkennt er schließlich »in dem Kampf, den die Urheber der Freien Software und der freien Netzwerke im Innersten des Machtdispositivs des Kapitals führen« (Gorz 2003: 85). Als zentraler Konflikt wird der »von den Hackern, Linuxern und Oekonuxern ausgetragene Gegensatz zwischen Selbstentfaltung und Selbstverwertung« ausgemacht (Gorz 2004: 30). Im Argumentationsgang, der Gorz’ progressive These begleitet und in dem insbesondere das Rebellische der Hacker prononciert wird, die er emphatisch als »Dissidenten« tituliert (Gorz 2003: 85), sind Motive subjekttheoretischer Art verklammert, die abermals als existential-philosophische ausgewiesen werden können. »Die Frage des Subjektes«, bekundet Gorz in seiner letzten Schaffensphase, »ist für mich wie für Sartre, unter folgendem Gesichtspunkt zentral geblieben: Wir werden für uns selbst als Subjekte geboren, das heißt als Wesen, die irreduzibel sind auf das, was
an, weil es auf die Möglichkeit der totalen Instrumentalisierung, der totalen Subsumption der menschlichen Entfaltung verweist u. jeder Antwort die Notwendigkeit des Widerstands vorausgeschickt werden müsste: ›Das darf nicht sein‹. Die Gelassenheit, mit der Marx zum Schluss kommen wollte: ›capital fix being man himself‹ hat mich immer irritiert. Er nimmt Selbstverwertung hin, als sei sie eine Notwendigkeit u. leistet den Pankapitalismus [Antonio] Negris Vorschub« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 20. bis 23. November 2004). Zur systematischen Auseinandersetzung mit Marxens Worten und der Position Antonio Negris vgl. Gorz 2007b. 80 Diese Formulierung von Gorz stammt nicht aus seiner letzten Schaffensphase, sondern aus einem in den 1960er Jahren verfassten Text namens Le vieillissement, im Deutschen Über das Altern, vgl. Gorz 1961/62, hier 385.
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die anderen und die Gesellschaft von uns fordern und uns zu sein erlauben« (Gorz 2005a: 8).
Die hier angestimmte existential-philosophische Rede vom Subjekt ist eine Eloge auf den Ungehorsam, die Revolte, auf den Verrat. So beschwört Gorz, wenn er Subjekt sagt, einen Widerstand, einen Ausruf des ›Nein‹, der am gesellschaftlichen Joch rüttelt. Das Subjekt wird behauptet als widerspenstig, aufsässig und rebellisch, als etwas, das wohl am ehesten im Bild des Dissidenten anschaulich und greifbar wird. Eine Gestalt, wenn man so will, die vor den von der Gesellschaft vorgegebenen und aufgezwungenen sozialen Rollen sowie Identitäten desertiert. Das Subjekt desertiert, lässt sich niemals einsperren, so wird behauptet. Aber Gorz (2003: 23) spricht doch vom Einsperren des Subjektes in der Wissensökonomie, von dessen ›einfangen‹ und ›kanalisieren‹? Sicher. Doch handele es sich dabei um eine bizarre Form des Subjektes. Um ein Subjekt, das »sich verleugnet« (Gorz 1996: 200) und in Gestalt des Selbst in Identität aufgehe, sich so in die gegebene Ordnung einfüge und sich mit sich selbst und dieser Ordnung versöhne. Das authentische Subjekt aber kenne weder Einfügen noch Versöhnen und schon gar keine Identität. Und das deshalb, weil ihm »immer etwas fehlt, was es noch nicht ist oder hat«; weil es ein »Wesen« ist, »das aufgrund seines Gefühls von Mangel […] immer für sich selbst zukünftig ist«. Und weiter heißt es in L’immatériel im Ton von Sartres L’être et le néant: »Das Gefühl mangelhaft zu sein und das Bedürfnis, zur Befriedigung dieses Mangels sich zu überschreiten, gehören zum Wesen des lebendigen Bewusstseins« (Gorz 2003: 128f.). Das Gefühl mangelhaft zu sein und das Bedürfnis sich zu überschreiten, verweisen auf die bereits angesprochene Fähigkeit, »eigensinnig an sich zu arbeiten und sich zu produzieren« (Gorz 2003: 129), die in der Wissensökonomie absorbiert und als Humankapital in Gestalt des Selbst kanalisiert werde. Was nun das Subjekt vom Selbst unterscheidet, sei, dass das Subjekt selbst noch in Gestalt des Selbst »sich zu seinem eigenen Mangel« macht (Gorz 2003: 129); dass es sich nicht mit einem Bild begnügt, das es von sich selbst hat; dass es sich nicht damit zufrieden geben kann, auf eine »Weise frei« zu sein, die sich nur in den »von anderen gesteckten Grenzen« realisiert (Gorz 1997a: 63); dass es gegen diese »freiwillige Knechtschaft« (Gorz 2005a: 16) rebelliert und sie als Gängelung »zur Verwirklichung der Ziele eines Herrn« demaskiert (Gorz 1997a: 63). Das Mängelwesen Mensch, so lautet die existential-philosophisch entwickelte Pointe, ist in der Wissensökonomie nicht nur ideales Wert- und Investitionsobjekt, sprich Humankapital, sondern zugleich »der potenzielle Akteur der
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Überwindung« dieser Ökonomie, »insofern es sich« von seiner Behandlung als »Kapital zu emanzipieren sucht« (Gorz 2003: 85). Die Emanzipation vom Humankapital, so kann gesagt werden, ist in der Wissensökonomie kein Normalfall, aber es gibt sie, man muss sie nur suchen. Und Gorz sucht und findet mit den Hackern eine »emblematische Gestalt« hinsichtlich dieser Emanzipation. »Mit ihnen treten die Subjekt gewordenen menschlichen Produktivkräfte in den Aufstand gegen ihre Erschleichung durch das Kapital« (Gorz 2005a: 15). Kurzum, die Gestalt des Hackers wird als Subjekt verstanden. Wenn diese Gestalt aber Subjekt ist, dann muss sie auch Dissident sein. Und Gorz beredet die Hacker als solche. Sie seien nämlich »weder eine Berufselite noch eine gesonderte Gesellschaftsschicht«, sondern Teil einer »verstreuten« Dissidenz. »Diese Dissidenten, aus der informationellen Revolution hervorgegangen, umfassen in den Vereinigten Staaten etwa ein Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung. Unter ihnen befinden sich hochqualifizierte Informatiker, die die freiwillige Knechtschaft ablehnen; Graduierte, die es ablehnen, alles ihrer Karriere zu opfern; Selbstunternehmer, die den grausamen Wettstreit des ›immer mehr, immer schneller‹ ablehnen; jobbers und downshifters, die es vorziehen, wenig zu verdienen und viel Zeit für sich zu haben« (Gorz 2005a: 16).
Vor was desertieren die Dissidenten der Wissensökonomie? Sie desertieren vor »dem bestehenden Zwang zur Selbstvermarktung« (Gorz 2004: 30). Dieses Desertieren ist für Gorz aber kein einfaches Unterfangen. Es sei ein Kampf. »In diesem Kampf« stehen die Hacker »immer mit einem Bein im Lager des Gegners. Sie sind fortwährend dem Zugriff kommerzieller Software-Betreiber ausgesetzt, unterliegen selbst in ihrem Leben dem Selbstverwertungszwang, denn ganz jenseits von Geld-, Waren-, und Tauschbeziehungen können sie ja nicht leben« (Gorz 2003: 92).
Obschon »ihre Lage« einer ständigen »Zerreißprobe« gleichkomme, »empfinden« sie »den Verwertungszwang als eine unerträgliche Beschränkung ihres Potentials« und »die Grenzen« als erdrückend, »die die waltenden Mächte ihrer Tätigkeit aufzuzwingen bemüht sind« (Gorz 2003: 92). Empfunden werde Zwang, unerträgliche Beschränkung, also das, was Gorz (2003: 128) hinsichtlich des Subjektes – »dem immer etwas fehlt, was es noch nicht ist oder hat« – »Unvollkommenheit«, »Mangel« nennt. Den »Hackern, den Linuxern und Oekonuxern« (Gorz 2004: 30) sei es schier zu wenig, ihre Kreativität nur in ökonomischen Grenzen zu entfalten, in denen entschieden und festgelegt ist, was sie herstellen sollen und wie. Aus dem »Gefühl mangelhaft zu
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sein« und dem damit korrelierenden »Bedürfnis, zur Befriedigung dieses Mangels sich zu überschreiten« (Gorz 2003: 129), so kann nun gesagt werden, habe der »Hacker mit Linux und Copyleft – dem Gegenstück zum Copyright – die Antiökonomie erfunden und die Bewegung der freien Software ins Leben gerufen« (Gorz 2005a: 16). Was heißt das im Detail? Das Nicht-Einfügen in ökonomische Grenzen und das damit einhergehende Nicht-Versöhnen mit den waltenden Mächten, die in diesen Grenzen herrschen, verweisen zunächst auf die bereits angesprochene Diskrepanz zwischen Subjekt und Selbst. Was die emblematische Gestalt des Hackers als Subjekt vom Selbst unterscheide, und das sieht Gorz (2004: 30) als entscheidend an für den »von den Hackern, den Linuxern und Oekonuxern ausgetragene[n] Gegensatz zwischen Selbstentfaltung und Selbstverwertung«, sei, dass sie sich nicht mit der Warenförmigkeit der Arbeit gemein machen. Die Warenförmigkeit der Arbeit sei nämlich die buchstäbliche Grenze, an der sich die Hacker, Linuxer und Oekonuxer als Subjekte beständig stoßen, die sie als unerträgliche Beschränkung ihres Potentials empfinden. Diese gesellschaftlich dominante Form der Arbeit, mit denen sie nicht koinzidieren, und die durch diese Arbeit definierten Grenzen, an denen sie sich stoßen, zeige der ökonomische Arbeitsbegriff an. Dem ökonomischen Arbeitsbegriff gelte »nur die warenförmige, (ver)käufliche, gegen alle anderen Waren und Arbeiten austauschbare Tätigkeit als Arbeit« (Gorz 2004: 31). Damit wird das Korsett benannt, in welchem das Selbst Identität, die Gestalt des Hackers als Subjekt aber Beschränkung empfindet, da seine Selbstentwicklungsarbeit mit der Fessel versehen sei, tauschbar sein zu müssen, das heißt einen Preis erzielen zu müssen. Im Losreißen von dieser Fessel fechten die Hacker, Linuxer und Oekonuxer nach Gorz nicht nur die Warenförmigkeit der Arbeit an, sondern begründen auch die Antiökonomie. Mit dem besagten Losreißen und Anfechten zeitigen sich die Hacker, Linuxer und Oekonuxer nach Gorz als Träger von Humankapital, die sich verweigern, ihre Selbstentwicklungsarbeit der Wirtschaft als Kapital zur Verfügung zu stellen. Mehr noch: Hierin liege ein Anspruch auf Selbstentfaltung und Autonomie jenseits »jedes produktivistische[n] Prinzip[s]« (Gorz 2003: 91). Erst einmal von der Fessel der Warenförmigkeit und Tauschbarkeit ihrer Arbeit befreit, beziehen sie ihre Selbstachtung auch nicht länger aus einer entlohnten Beschäftigung. Vielmehr beziehen sie ihre Würde fortan aus der Distanz, die sie zur Warenförmigkeit der Arbeit einnehmen. Sie akzeptieren keinen Preis für ihre Tätigkeit, sondern pochen auf ihre Würde, die kein Äquivalent kennt. 81 »Nichts wird 81 Gorz benutzt in diesem Konnex ein Kant-Zitat: »›Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erha-
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in Hinblick auf Vermarktung produziert. Der Tauschwert kommt nie in Betracht«, so Gorz emphatisch über die Hackerkultur. Bei ihnen gehe es um »persönliche Selbstentfaltung« (Gorz 2003: 90), die nicht durch die Imperative der Tauschbarkeit und Preiserzielung gegängelt ist. Mit dem kategorialen ›Nein‹ zu den kapitalistischen Imperativen der Tauschbarkeit und Preiserzielung lassen die Hacker, Linuxer und Oekonuxer das ökonomische Verständnis von Arbeit hinter sich und stoßen die Tür zur Antiökonomie auf. Während nämlich beim ökonomischen Verständnis von Arbeit das Verhältnis zwischen Arbeit und Zweck als ein instrumentelles begriffen werden kann, da die Leistungen des arbeitenden Individuums »als unpersönliche, vorbestimmte, messbare und austauschbare Mittel für ihm fremde Zwecke« Verwendung finden (Gorz 2004: 31), bestehe ein solches instrumentelles Verhältnis bei den Hackern nicht. Ihre Tätigkeit kenne kein Äquivalent mehr und sei deshalb Selbstzweck. Damit sei bei ihnen die Unterscheidung zwischen Arbeit und Zweck, der Tätigkeit und dem intendierten Ziel aufgehoben: »Die Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten ist zugleich das Ziel der Handlungen und die Handlung selbst: Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Ziel und dem immer unabgeschlossenen Streben nach dem Ziel« (Gorz 2003: 84).82
Hier zeigt sich nochmals der existential-philosophische Bezug, da mit dem allzeit unabgeschlossenen Streben nach Selbstentfaltung das existentialistische Mangel-Subjekt gemeint ist, dem zwar nach wie vor »etwas fehlt, was es noch nicht ist oder hat« (Gorz 2003: 128), das sich aber genau aufgrund dieser Konstitution von seiner Behandlung als Kapital emanzipiert und sich als Subjekt gezei-
ben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde‹« (Kant 1785: 87; vgl. Gorz 2004: 31). In einem persönlichen Schreiben von Gorz heißt es zu diesem Zitat: »Bei O. Negt fand ich mit Entzücken folgendes Kant-Zitat« (Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 06. bis 09. Februar 2004). Die Zeilen von Immanuel Kant aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entdeckt Gorz in der Schrift Arbeit und menschliche Würde, vgl. Negt 2001: 513. 82 Der von Gorz vorgetragene Gedankengang, der ihm zur Abgrenzung vom ökonomischen Verständnis von Arbeit dient, lässt sich auf Aristoteles zurückführen. Aristoteles hatte bekanntlich zwischen Herstellen bzw. Hervorbringen und Handeln differenziert. Bei ihm heißt es: »Hervorbringen hat ein Ziel außerhalb seiner selbst, das Handeln nicht. Denn das gute Handeln ist selbst ein Ziel« (Nikomachische Ethik: 1140b/245-247). Mit Aristoteles kann gesagt werden, dass die Tätigkeit, die Gorz bei den Hackern ausmacht, eine Arbeit bezeichnet, die »um ihrer selbst willen geschätzt« wird (Nikomachische Ethik: 1096a/19).
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tigt hat. Das Subjekt in Gestalt des Hackers, so ist Gorz (2005a: 8) zu verstehen, entwirft sich zur Befriedigung seines Mangels als »irreduzibel« auf das, was die Wissensökonomie von ihm fordert und ihm zu sein erlaubt – nämlich ein Kapital zu sein, das sich selbst verwertet. 4.
Resümee
Eingangs hatte ich behauptet, dass das existential-philosophische Gedankengut auch bei der Analyse und Kritik der Wissensökonomie jenen Grundakkord vorgibt, dem die Ausführungen von Gorz folgen. Rekapituliert man die vorgestellte Darstellung, so wurden drei Wegmarken gesetzt, die auf existential-philosophische Motive verweisen. Gorz unterscheidet zwischen lebendigem und formalisierbarem Wissen und bestimmt lebendiges Wissen als entscheidende Produktivkraft innerhalb der Wissensökonomie. Seine Analyse mündet in den Befund, dass die Verwertung lebendigen Wissens den Menschen in der Wissensökonomie zum Humankapital werden lässt. In die tragende Begrifflichkeit dieser Analyse, namentlich lebendiges Wissen und Humankapital, sind in erheblicher Weise existential-philosophische Einsichten mit subjekttheoretischen Akzent eingekapselt. Leitend für die kritische Durchdringung der Wissensökonomie ist die Rede von der unterworfenen Identität des Selbst. Das Operieren mit dem Motiv des Selbst stellt die Bedeutung von Ideologie heraus, die es braucht, um lebendiges Wissen zu kanalisieren und als Humankapital zu verwerten, und beleuchtet die Mitwirkung der Akteure, die im Modus der Selbst-Identität ihre Selbstverwertung betreiben. Mit Blick auf meine These ist hier festzuhalten: Gorz greift das Konzept des Ich-Selbst von Sartre auf, wendet es kapitalismuskritisch an und führt es zur Konsequenz eines eindringlichen Warnens vor einer unterjochten Identität, die eine totale ökonomische Instrumentalisierung aller menschlichen Fähigkeiten zur Folge hat. Trotz der Akzentuierung der totalen Instrumentalisierung setzt Gorz auf die Emanzipation von der Behandlung als Humankapital. Als Sinnbild für Träger von Humankapital, die sich verweigern, ihr lebendiges Wissen feilzubieten, wird die Gestalt des Hackers eingeführt, und zwar kontradiktorisch zur SelbstIdentität und Selbstverwertung, die mit dem Funktionieren der Wissensökonomie untrennbar verbunden sind. Das emphatische Bereden der Hacker als Dissidenten sowie der ihnen zugeschriebene Drang zur Selbstentfaltung ist durch die existential-philosophische Subjektidee angeleitet, die das Subjekt als untilgbaren Mangel begreift und an die Nicht-Identität bindet, wobei Gorz es versteht, diesem Konzept im Konnex der Wissensökonomie mit Rekursen auf die Praxis der
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Freien Softwarebewegung Fleisch und Blut zu verleihen und es bis zum ›Türöffner‹ einer kommenden Antiökonomie auszubuchstabieren. Man kann, wenn man Gorz’ Analyse und Kritik der Wissensökonomie von einer höheren Warte aus betrachtet, zwei Gedankenbewegungen unterscheiden. Die eine Bewegung verläuft von einem das Immaterielle einbeziehenden Kapitalismus und dem Feilbieten von Selbstbildern bis hin zum Humankapital und berührt in gewisser Weise, wenn explizit die ideologische und unterworfene Identität des Selbst zur Sprache kommt, das, was Nietzsche »den letzten Menschen« nannte:83 Gorz’ kulturpessimistische und an Nietzsche erinnernde Botschaft lautet: »Unsere Wünsche und Bedürfnisse sind verstümmelt, formatiert, verarmt infolge der Allgegenwart der kommerziellen Propaganda und der Überfülle an Waren. Und da wir selbst Waren sind, insofern wir uns nunmehr ›selbst verkaufen‹ müssen, um unsere Arbeit verkaufen zu können, haben wir die dem Kapitalismus innewohnende Logik verinnerlicht« (Gorz 2007a: 84f.).
83 Die Rede von »den letzten Menschen« ist ein Motiv aus Nietzsches berühmter Schrift Also sprach Zarathustra. Hier heißt es: »Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann [, weil er keine Distanz zu sich selbst besitzt, müsste man mit Gorz hinzufügen]. Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. ›Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Stern?‹ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. […] ›Wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. […] Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus« (Nietzsche 1886: 11). Bei Gorz ist die Rede von »den letzten Menschen« durch das Heranziehen Max Webers präsent, der von Nietzsche beeinflusst war. So wird Weber mit den Worten zitiert: »›Dann allerdings könnte für die ›letzten Menschen‹ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz‹« (zit. n. Gorz 1988: 61). Weber hatte die Moderne als einen Rationalisierungsprozess beschrieben, mit dem eine Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sphären einhergeht. Derlei Sphären, beispielsweise Religion, Kunst und Wissenschaft, Ökonomie und Ethik, entwickeln ihre spezifische Logik, ihren eigenen Sinn und ihre jeweils spezifischen Mittel, wodurch Komplexität anwächst. Dieses Mehr an Komplexität verlangt eine Verwaltungsapparatur mit koordinierten Verfahren, die wiederum ein Mehr an Methodisierung, Formalisierung und Bürokratisierung der Handlungen, Beziehungen und schließlich der gesamten Lebensführung nach sich zieht. Das in einer »entzauberten Welt« wuchernde »stahlharte Gehäuse«, in dem »Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz« dahinsiechen, galt Weber (1920: 204) als resignativer Schlussstein dieser Entwicklung.
Z WEI S TUDIEN ZUM W ERK | 263
»Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus« (Nietzsche 1886: 11); alle anderen verbringen die »Zeit damit, einander sich selbst zu verkaufen« (Gorz 2005c: 112). Die zweite Bewegung reicht vom Postulat der existentiellen Freiheit des Sartreschen Existentialismus über »die Distanz«, die man zum Anderen, »zu dem man sozialisiert wurde, behält«84 bis hin zum Subjekt. Hier lautet die Botschaft: Es mag sein, dass wir in der Identität des Selbst die Logik des Kapitals vollends in uns aufgesogen und verinnerlicht haben. Mag auch sein, dass jedes Individuum heute mit nie zuvor dagewesener Intensität den verhängnisvollen Zwang verspürt, inmitten der Waren zur Ware zu werden. Aber: Wenn die Theorie recht hat, wenn die existentielle Freiheit tatsächlich unausmerzbar ist und ein Subjekt hervorbringt, das sich gegenüber den gesellschaftlichen Zugriffen als immun erweist, sich diesen gleichsam entzieht und vor den angedachten und vorgegebenen sozialen Rollen sowie Funktionen desertiert, dann muss sich ein solches Subjekt auch in der Wissensökonomie bannschlagen; und sei es drum, dass man gerade hier alles daran setzt, »die Menschen mit Leib und Seele in Besitz« zu nehmen (Gorz 1997a: 164). Trotz des an den Tag gelegten Pessimismus gilt also für Gorz: Man darf nicht in eine »›nostalgische‹« Kritik verfallen,85 sondern muss »die emanzipativen Potentiale ausmachen, die die gegenwärtigen Umwälzungen enthalten« (Gorz 2004: 30). Und diese für Gorz so charakteristische Suche nach emanzipativen Potentialen, die er mit dem Aufstöbern des Subjektseins der Hacker, Linuxer und Oekonuxer in seiner letzten Schaffensphase nochmals eindringlich vorführt, ist weder Eingaben wertkritischer Autoren noch irgendeiner Wendung oder Wandlung im Werk geschuldet, sondern einer außergewöhnlichen Beständigkeit – nämlich dem unerschütterlichen Glauben an die existentielle Freiheit.
84 Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 03. Dezember 2003. 85 Eine solche nostalgische Kritik erkennt Gorz beispielsweise bei Oskar Negt. In einem an Negt gerichteten Text heißt es: »Deine nach rückwärts gewendete, etwas ›nostalgische‹ Technokritik teile ich allerdings nicht« (Gorz 2004: 30).
F. Schüler oder Meister?
Wie bereits im biographischen Kapitel ausgeführt, ereignete sich die erste Begegnung zwischen Gorz und Sartre im Jahr 1946 in der Schweiz. »Bei einer Zusammenkunft in Lausanne«, erinnert Simone de Beauvoir (1963: 95), »hatte Sartre einen Mann namens Gorz kennengelernt, der Sartres Werk in- und auswendig kannte und sich treffend darüber äußerte«. Seit Ende 1943 bewegte sich Gorz, der zu jener Zeit in Lausanne Chemie studiert und unter dem Namen Gerhart Horst immatrikuliert ist, in einem Universum, dessen Grenzen L’être et le néant (Sartre 1943) sind. Alle Regungen und Begegnungen, all seine Erfahrungen bezieht er in diesen Tagen auf die entsprechenden Seiten des philosophischen Werkes; er verschenkt die Schrift im Bekanntenkreis und schreibt hinein, »›das Wahrste, das ich je gehabt habe, was immer ich später darüber sagen werde‹« (Gorz 1958: 284). Es ist interessant, die Frage aufzunehmen, was der spätere Gorz über Sartre und L’être et le néant gesagt hat. Ist er wahrlich in der Rolle des »SartreSchüler[s]« verblieben, »der den Meister« bis hin zur »Idolatrisierung verehrt«, wie es Jean Améry (1968: 61) festhielt? Ich meine, nein. In Wirklichkeit war die Beziehung zwischen den beiden alles andere als harmonisch, vielmehr komplex. Als Sartre, wie dargestellt, Anfang der 1960er Jahre das revolutionäre Potenzial in den westlichen Metropolen abschrieb, hoffnungsvoll den Blick auf die Südhalbkugel richtete und im Guerilla-Ton die antikolonialen Kämpfe in der Dritten Welt unterstützte, folgte Gorz nicht. Mehr noch, er übte scharfe Kritik und verfasste mit Stratégie ouvrière et néocapitalisme (Gorz 1964a) einen entschiedenen Gegenentwurf, indem er auf Formen der Entfremdung in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens verwies, die ein weitaus höheres revolutionäres Potenzial aufweisen würden als die nationale Unterdrückung in der Dritten Welt. Und als Sartre nach dem Mai 1968 – ein Ereignis im Übrigen, das die These aus Stratégie ouvrière et néocapitalisme gewissermaßen bestätigte – eng mit den Maoisten zusammenarbeitete, war das Verhältnis äußerst angespannt. Für
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Gorz waren Sartres neue Freunde Leute, gegen die es vehement anzuschreiben galt. Es gibt eine Szene, an der vielleicht am eindringlichsten die spätere Beziehung von Gorz zu Sartre und dessen Werk ablesbar ist. Die Szene spielt in Paris, im Frühjahr 1972. Gorz sitzt, in rotem Rollkragenpullover und schwarzer Schlaghose gekleidet, die Beine überschlagend, vor einer Bücherwand. Eingefunden haben sich auch Jacques-Laurent Bost, Jean Pouillon, Simone de Beauvoir und Sartre. Anlass sind die Dreharbeiten zu Sartre par lui-même, einem Dokumentarfilm von Alexandre Astruc und Michel Contat. Zigaretten glimmen, dichte Rauchschwaden durchziehen den Raum während man Sartres Wege als Intellektueller rekonstruiert. Gorz hält sich im Hintergrund, bringt sich lediglich mit wenigen Sätzen ein. Erst spät, der Film neigt sich bereits dem Ende, ist seine leise Stimme etwas länger auf dem Filmtonband zu hören: »Ich möchte gern, wenn Sie [Sartre] einverstanden sind, daß wir einiges ergänzen, was wir nach L’être et le néant übersprungen haben. Wie würden Sie heute definieren, was von L’être et le néant als Entwurf gültig geblieben ist?«1
Sartre wiegelt ab. Er habe damals lediglich »Allgemeinheiten über die Existenz des Menschen« von sich gegeben, »ohne dabei zu berücksichtigen, daß diese Existenz immer historisch situiert ist und sich von dieser Situation her definiert«, heute wisse er es besser. Gorz lässt nicht locker, verteidigt das Werk gegen das abschätzige Urteil seines Autors: »Dennoch ist Das Sein und das Nichts – wenigstens in meinen Augen – nach wie vor der einzige Versuch einer Grundlegung der Psychologie und der Psychoanalyse. Und gleichzeitig ist es eine Phänomenologie der spezifischen Realität des Bewußtseins, was bis dahin sogar bei den deutschen Phänomenologen […] völlig unbekannt war. Das hatte noch niemand gemacht. Das Sein und das Nichts endet mit einer ganzen Seite von Fragen, die einen spüren lassen, daß dieses Werk so etwas [ist] wie, sagen wir, Prolegomena zu einer jeden Ethik der möglichen Befreiung«.
Der Angesprochene erteilt eine knappe Antwort mit Verweis auf seine Critique de la raison dialectique (Sartre 1960b). Dann wieder die Stimme von Gorz: »Es gibt einen sehr klaren Unterschied zwischen Das Sein und das Nichts und der Kritik …«, worauf Sartre ihm ins Wort fällt und ihn harsch unterbricht.
1
Für dieses und die folgenden Zitate vgl. Sartre 1977: 63f.
S CHÜLER ODER M EISTER ? | 267
Was ist an dieser Szene ablesbar? Vielleicht erst einmal dies: Es handelt sich um keinen herrschaftsfreien Diskurs. Aber Gorz gibt sich auch nicht als ein von »Idolatrisierung« (Améry 1968: 61) gefangen genommener Schüler zu erkennen, der eilig nickt und blindlings den Vorgaben des ›Meisters‹ folgt. Im Gegenteil. Er insistiert, hakt nach, gibt sich nicht zufrieden und versucht Sartre etwas abzuringen, das dieser nicht bereit ist, sich abringen zu lassen: das Bekenntnis zu einem Werk, welches für den einen nur noch toter Buchstabe und Ansammlung unzulänglicher Gedanken ist, für den anderen ein lebendig gebliebener Text. Es gibt eine Art Gorz’sche Gattungslehre von Texten. Solche, die auf die Kraft des Intellekts setzen, auf Nachvollziehen und Verstehen und die man versteht, indem man nachvollzieht. Daneben solche, die den Intellekt außer Kraft setzen und wo nachvollziehen nicht in Verstehen mündet, sondern in Einfühlen und Erleben. In der Gorz’schen Gattungslehre gibt es aber noch eine dritte Form, eine Art Mischform. Diese Texte geben zu verstehen, machen Wirklichkeit verständlicher, halten aber zugleich dazu an, im und jenseits des Verstandenen etwas zu spüren, sich also als erlebendes Subjekt wahrzunehmen. Und zu dieser Gattung, zu dieser eher seltenen Mischform, in der Gorz auch selbst zu schreiben versucht, zählt er L’être et le néant. Das mag deutlich werden, wenn er bei der Verteidigung des Werkes zunächst die Schrift als ›Grundlegung der Psychologie und der Psychoanalyse‹ und als ›eine Phänomenologie der spezifischen Realität des Bewußtseins‹ wertschätzt, mithin als etwas, das zu verstehen gibt; und dann bemerkt, dass die Seiten des Buches ›einen etwas spüren lassen‹. Sartre hin oder her. Wozu Gorz wirklich eine beständige Beziehung unterhält, ist dieser Text, mit dem ihm insbesondere zweierlei verband. Zum einen Handreichung von philosophischen Gedankengängen, Motiven und Begriffen, die er intensiv nachvollzogen und verstanden hat; zum anderen eine affektive Berührung, ähnlich einer inneren Stimme, die im Lesenden bei der Lektüre mitschwingt, eine Stimme, die in Gorz’ Fall ihn anhielt, das Verstandene in persönlicher, ureigener Weise anzuwenden. In gewissem Sinne zeugt davon auch der Freitod im Herbst 2007, aber zuvördest sein umfangreiches Werk, in dem er das Verstandene der Sartreschen Philosophie durch Gebrauch auf völlig neuem Terrain weiterentwickelte – beispielsweise in den zahlreichen Analysen einer sich wandelnden Arbeitsgesellschaft, deren Ende er theoretisierte (Adieux au prolétariat 1980; Les chemins du paradis 1983; Métamorphoses du travail 1988; Misères du présent 1997), auf dem Feld der politischen Ökologie (Écologie et politique 1975; Écologie et liberté 1977) und zuletzt im Zuge der Kritik einer Ökonomie, in der Wissen zur Hauptproduktivkraft geworden ist (L’immatériel 2003).
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Was auch mehr als zehn Jahre nach dem Freitod von André Gorz bleibt, ist dieses breit gefächerte Werk. Es lädt ein zum Lesen, zum Nachvollziehen und Verstehen. Und die Lektüre lohnt sich, weil die Gorz’schen Texte jedem Leser und jeder Leserin die eigene Lebenswirklichkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft verständlicher macht. Aber Vorsicht! Der Griff zu seinen Texten birgt das Risiko, sich als erlebendes Subjekt zu entdecken, das diese Lebenswirklichkeit wie sich selbst in Frage stellt. Gerade die Verbreitung dieses Risikos, das subtile Auslegen dieser Falle, ist Gorz nämlich in seinem Werk meisterlich gelungen – vielleicht gar besser, als dem ›Meister‹ selbst.
Literaturverzeichnis
B RIEFWECHSEL Brief von Gorz an Marcuse, geschrieben am 23. Oktober 1973 Gorz, André: Brief an Herbert Marcuse [unveröffentlicht, zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 10. Februar 1992 Gorz, André: Brief an Erich Hörl [unveröffentlicht, im Besitz von Erich Hörl]. Brief von Gorz an Hörl, geschrieben vom 08. bis 14. Mai 1992 Gorz, André: Brief an Erich Hörl [unveröffentlicht, im Besitz von Erich Hörl; zugänglich auch im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 05. Juli 1992 Gorz, André: Brief an Erich Hörl [unveröffentlicht, im Besitz von Erich Hörl]. Brief von Gorz an Hörl, geschrieben im September 1992 Gorz, André: »Es ist Zeit, das es Zeit wird.« Brief an Erich Hörl [unveröffentlicht, im Besitz von Erich Hörl; das Schreiben ist ohne genaue Datumsangabe gehalten]. Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 05. November 1992 Gorz, André: Brief an Erich Hörl [unveröffentlicht, im Besitz von Erich Hörl]. Brief von Gorz an Hörl, geschrieben vom 01.bis 02. April 2003 Gorz, André: Brief an Erich Hörl [unveröffentlicht, im Besitz von Erich Hörl].
270 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT
Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 30. August 2003 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 20. bis 27. Oktober 2003 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 03. Dezember 2003 Gorz, André: Brief an Franz Schandl [veröffentlicht; Über den Horizont unserer Handlungen. Aus den nachgelassenen Briefen des André Gorz, in: Streifzüge 41 (2007), 9-13; hier 9] Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 28. Dezember 2003 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 06. bis 09. Februar 2004 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 22. April 2004 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Geleitbrief von Gorz, geschrieben am 22. April 2004 Gorz, André: »Geleitbrief« [zur Ökonux-Konferenz vom 20. bis 23. Mai 2004 in Wien]. Anhang eines Briefes an Stefan Meretz [im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Schandl, geschrieben vom 28. Oktober bis 01. November 2004 Gorz, André: Brief an Franz Schandl [veröffentlicht; Über den Horizont unserer Handlungen. Aus den nachgelassenen Briefen des André Gorz, in: Streifzüge 41 (2007), 9-13; hier 9-11]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 20. bis 23. November 2004 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 13. Januar 2005 Gorz, André: Brief an Erich Hörl [unveröffentlicht, im Besitz von Erich Hörl]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 10. bis 23. März 2005 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 27. April 2005 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz].
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Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 02. August 2005 Gorz, André: Brief an Franz Schandl [veröffentlicht; Über den Horizont unserer Handlungen. Aus den nachgelassenen Briefen des André Gorz, in: Streifzüge 41 (2007), 9-13; hier 11-12]. Brief von Gorz an Hörl, geschrieben am 10. August 2005 Gorz, André: Brief an Erich Hörl [unveröffentlicht, im Besitz von Erich Hörl]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 24. Oktober 2005 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 12. bis 15. März 2006 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Exner, geschrieben am 10. August 2006 Gorz, André: Brief an Andreas Exner [veröffentlicht; Über den Horizont unserer Handlungen. Aus den nachgelassenen Briefen des André Gorz, in: Streifzüge 41 (2007), 9-13; hier 13]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 05. Oktober 2006 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Schandl, geschrieben am 07. November 2006 Gorz, André: Brief an Franz Schandl [veröffentlicht; Über den Horizont unserer Handlungen. Aus den nachgelassenen Briefen des André Gorz, in: Streifzüge 41 (2007), 9-13; hier 13]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben am 09. Januar 2007 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Exner, geschrieben am 13. Januar 2007 Gorz, André: Brief an Andreas Exner [veröffentlicht; Über den Horizont unserer Handlungen. Aus den nachgelassenen Briefen des André Gorz, in: Streifzüge 41 (2007), 9-13; hier 13]. Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 15. bis 21. März 2007 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Gorz an Exner, geschrieben am 05. Juli 2007 Gorz, André: Brief an Andreas Exner [veröffentlicht; Über den Horizont unserer Handlungen. Aus den nachgelassenen Briefen des André Gorz, in: Streifzüge 41 (2007), 9-13; hier 13].
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Brief von Gorz an Meretz, geschrieben vom 13. bis 19. August 2007 Gorz, André: Brief an Stefan Meretz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz]. Brief von Hörl an Gorz, geschrieben am 14. November 1991 Hörl, Erich: Brief an André Gorz [unveröffentlicht, zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 SaintGermain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Hörl an Gorz, geschrieben am 21. Januar 1996 Hörl, Erich: Brief an André Gorz [unveröffentlicht, zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 SaintGermain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Kallscheuer an Gorz, geschrieben am 28. April 1988 Kallscheuer, Otto: Brief an André Gorz [unveröffentlicht; zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Kallscheuer an Gorz, geschrieben am 13. Mai 1988 Kallscheuer, Otto: Brief an André Gorz [unveröffentlicht; zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Kallscheuer an Gorz, geschrieben am 24. Oktober 1989 Kallscheuer, Otto: Brief an André Gorz [unveröffentlicht; zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Kallscheuer an Gorz, ohne Datum gehalten Kallscheuer, Otto: Brief an André Gorz [unveröffentlicht; zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Marcuse an Gorz, geschrieben am 29. Oktober 1973 Marcuse, Herbert: Brief an André Gorz [unveröffentlicht; zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Marcuse an Gorz, geschrieben am 18. März 1976 Marcuse, Herbert: Brief an André Gorz [unveröffentlicht; zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Meretz an Gorz, geschrieben am 18. August 2003 Meretz, Stefan: Brief an André Gorz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz; zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich].
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Brief von Meretz an Gorz, geschrieben am 28. Februar 2005 Meretz, Stefan: Brief an André Gorz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz; zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich]. Brief von Meretz an Gorz, geschrieben am 25. Februar 2007 Meretz, Stefan: Brief an André Gorz [unveröffentlicht, im Besitz von Stefan Meretz; zugänglich im Institut Mémoires de l’Edition Contemporaine, Abbaye d’Ardenne, 14280 Saint-Germain-la-Blanche-Herbe, Frankreich].
G ESPRÄCHE
UND
H ÖRFUNK -F EATURES
Cohn-Bendit, Gespräch mit A.H. am 07. Dezember 2011 in Brüssel Cohn-Bendit, Daniel: Gespräch über André Gorz [veröffentlicht; Freiheit und politische Ökologie. Ein Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit über André Gorz, in: Berliner Debatte Initial 24 (2013), Heft 4, 67-72]. Howard, Gespräch mit A.H. am 18. Februar 2013 in Paris Howard, Dick: Gespräch über André Gorz [unveröffentlicht, Audioaufnahme im Besitz von A.H.]. Hörfunk-Feature 1986 Die ich wählte, wiesen mich ab; die ich abwies wählten mich… Die Geschichte des André Gorz zwischen Österreich, Frankreich und Deutschland. Aufgezeichnet von Claus Leggewie, Hörfunk-Feature des WDR, Sendung vom 20. Februar 1986, 21-22 Uhr [für die Zusendung des Skriptes der Rundfunksendung danke ich Wolfgang Stenke und Claus Leggewie]. Hörfunk-Feature 2010 Das Philosophische Radio mit Otto Kallscheuer über André Gorz, HörfunkFeature des WDR 5, Sendung vom 03. September 2010, 20-21 Uhr. Hörl, Gespräch mit A.H. am 31. August 2011 in Bochum Hörl, Erich: Gespräch über André Gorz [unveröffentlicht, Audioaufnahme im Besitz von A.H.]. Kallscheuer, Gespräch mit A.H. am 04. Juli 2011 in Bonn Kallscheuer, Otto: Gespräch über André Gorz [unveröffentlicht, Audioaufnahme im Besitz von A.H.]. Krämer, Gespräch mit A.H. am 25. Januar 2014 in Prag Krämer, Hans Leo: Gespräch über André Gorz [unveröffentlicht, Audioaufnahme im Besitz von A.H.].
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Land, Gespräch mit A.H. am 01. Juni 2011 in Schmarsow Land, Rainer: Gespräch über André Gorz [unveröffentlicht, Audioaufnahme im Besitz von A.H.]. Leggewie, Gespräch mit A.H. am 30. August 2011 in Essen Leggewie, Claus: Gespräch über André Gorz [unveröffentlicht, Audioaufnahme im Besitz von A.H.]. Meretz, Gespräch mit A.H. am 04. August 2011 in Berlin Meretz, Stefan: Gespräch über André Gorz [unveröffentlicht, Audioaufnahme im Besitz von A.H.].
S CHRIFTEN VON A NDRÉ G ORZ Gorz 1945 Horst, Gerhart: Kafka et le problème de la transcendance, in: Fourel, Christophe (Hrsg.): André Gorz. Un penseur pour le XXle siècle, Paris: Découverte 2012, 201-232. Gorz 1955 Gorz, André: Fondements pour une morale, Paris: Galilée 1977. Gorz 1958 [Le traître] Gorz, André: Der Verräter. Mit dem Essay »Über das Altern«, Zürich: Rotpunkt 2008 [Französisch: Le traître, suivi Le vieillissement, Paris: Gallimard 2004]. Gorz 1959 Gorz, André: La Morale de l’histoire, Paris: Seuil 1959. Gorz 1961/62 Gorz, André: Über das Altern, in: Der Verräter. Mit dem Essay »Über das Altern«, Zürich: Rotpunkt 2008, 357-391. Gorz 1963 Gorz, André: Der chinesisch-sowjetische Konflikt, in: ders.: Der Schwierige Sozialismus, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1969, 176-196. Gorz 1964a [Stratégie ouvrière et néocapitalisme] Gorz, André: Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus. Anhang: Die Aktualität der Revolution, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1974 [Französisch: Stratégie ouvrière et néocapitalisme, in: Gorz, André: Réforme et Révolution, Paris: Seuil 1969, 57-201]. Gorz 1964b Gorz, André: Sartre oder vom Bewußtsein zur Praxis, in: ders.: Der Schwierige Sozialismus, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1969, 206-214.
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Gorz 1980 [Adieux au prolétariat] Gorz, André: Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt 1980 [Französisch: Adieux au prolétariat. Au delà du socialisme, Paris: Galilée 1980]. Gorz 1983a [Les chemins du paradis] Gorz, André: Wege ins Paradies. Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit, Berlin: Rotbuch 1983 [Französisch: Les chemins du paradis. L’agonie du capital, Paris: Galilée 1983]. Gorz 1983b Gorz, André: Interview von Rainer Maischein und Martin Jander mit André Gorz am 16. Oktober 1983 in Frankreich, in: Bundesjugendschule Oberursel (Veranst.): Abschied von Proletariat? Eine Diskussion mit und über André Gorz. Protokoll einer Arbeitstagung vom 30. Mai bis 3. Juni 1983, Düsseldorf: DGB-Bundesvorstand, Abteilung Jugend, 163-199 [Französisch: L’homme est un être qui a à se faire ce qu’il est. Entretien avec Martin Jander et Rainer Maischein sur l’atiénation, la liberté et l’utopie, in: Fourel, Christophe (Hrsg.): André Gorz. Un penseur pour le XXle siècle, Paris: Découverte 2012, 249-267]. Gorz 1986 Gorz, André: Jenseits von Arbeitsutopie und Arbeitsmoral, in: Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik 12 (Dezember 1986), 7-21. Gorz 1988 [Métamorphoses du travail] Gorz, André: Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Berlin: Rotbuch 1989 [Französisch: Métamorphoses du travail. Quête du sens. Critique de la raison économique, Paris: Galilée 1988]. Gorz 1990 Gorz, André: »›Archäologie‹ des philosophischen Fadens. Die Ent-Packung der ver-packten Philosophie.« Ein Streit-Gespräch zwischen André Gorz und Erich Hörl, in: Kurswechsel (1990), Heft 3, 5-36. Gorz 1991 Gorz, André: Und jetzt wohin? Zur Zukunft der Linken. Mit Fragen von Otto Kallscheuer, Berlin: Rotbuch 1991. Gorz 1992 Gorz, André: Die politische Ökologie zwischen Expertokratie und Selbstbegrenzung, in: ders.: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich: Rotpunkt 2009, 31-51.
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Gorz 2005c Gorz, André: Reichtum ohne Wert, Wert ohne Reichtum. Sonia Montaño im Gespräch mit André Gorz, in: ders.: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich: Rotpunkt 2009, 91-119. Gorz 2006a [Lettre à D.] Gorz, André: Brief an D. Geschichte einer Liebe, Zürich: Rotpunkt 2007 [Französisch: Lettre à D. Histoire d’un amour, Paris: Galilée 2006]. Gorz 2006b Gorz, André: Nachbemerkung 2006, in: ders.: Der Verräter. Mit dem Essay »Über das Altern«, Zürich: Rotpunkt 2008, 309-311. Gorz 2007a Gorz, André: Weltkrise, schrumpfendes Wachstum und Ausweg aus dem Kapitalismus, in: ders.: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich: Rotpunkt 2009, 79-90. Gorz 2007b Gorz, André: Seid realistisch – verlangt das Unmögliche, in: Exner, Andreas/Rätz, Werner/Zenker, Birgit (Hrsg.): Grundeinkommen. Soziale Sicherheit ohne Arbeit, Wien: Deuticke 2007, 70-78. Gorz 2007c Gorz, André: Das Ende des Kapitalismus hat schon begonnen, in: ders.: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich: Rotpunkt 2009, 17-29.
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300 | A NDRÉ G ORZ UND DIE V ERDAMMNIS ZUR F REIHEIT
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Politikwissenschaft Knut Bergmann (Hg.)
»Mehr Fortschritt wagen«? Parteien, Personen, Milieus und Modernisierung: Regieren in Zeiten der Ampelkoalition Juni 2022, 492 S., kart., 27 Farbabbildungen, 2 SW-Abbildungen 30,00 € (DE), 978-3-8376-6307-5 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6307-9 ISBN 978-3-7328-6307-5
Pola Lehmann, Theres Matthieß, Sven Regel, Bernhard Weßels
Die Ampelkoalition Wie wird aus unterschiedlichen Zielen ein gemeinsames Regierungsprogramm? Juli 2022, 200 S., kart., 12 SW-Abbildungen, 2 Farbabbildungen 19,50 € (DE), 978-3-8376-6332-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6332-1 ISBN 978-3-7328-6332-7
Ralf Fücks, Rainald Manthe (Hg.)
Liberalismus neu denken Freiheitliche Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit Juni 2022, 202 S., kart. 19,50 € (DE), 978-3-8376-6319-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6319-2 ISBN 978-3-7328-6319-8
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Politikwissenschaft BICC Bonn International Centre for Conflict Studies, HSFK Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, IFSH Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, INEF Institut für Entwicklung und Frieden
Friedensgutachten 2022 Friedensfähig in Kriegszeiten Juni 2022, 152 S., kart., 25 Farbabbildungen 15,00 € (DE), 978-3-8376-6403-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6403-8
Mihnea Tanasescu
Understanding the Rights of Nature A Critical Introduction February 2022, 168 p., pb. 40,00 € (DE), 978-3-8376-5431-8 E-Book: available as free open access publication PDF: ISBN 978-3-8394-5431-2
Gregor Ritschel
Freie Zeit Eine politische Idee von der Antike bis zur Digitalisierung 2021, 274 S., kart. 28,00 € (DE), 978-3-8376-5572-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5572-2 ISBN 978-3-7328-5572-8
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