Eleganz und Performanz: Von Rednern, Humanisten und Konzilsvätern. Johannes Helmrath zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783412501754, 9783412501365


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German Pages [473] Year 2018

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Eleganz und Performanz: Von Rednern, Humanisten und Konzilsvätern. Johannes Helmrath zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783412501754, 9783412501365

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Christian Jaser / Harald Müller / Thomas Woelki (Hg.)

Eleganz und Performanz Von Rednern, Humanisten und Konzilsvätern. Johannes Helmrath zum 65. Geburtstag

B Ö H L AU V E R L AG W I E N KÖ L N W E I M A R

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Enea S. Piccolomini 1432 / Pinturicchio (© akg-images / Erich Lessing) Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-50175-4

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Geschichte und Geschichtsschreibung Wie Neues in die Welt kommt

Zu Aufkommen und Verbreitung des Stiftungswesens in universalgeschichtlicher Perspektive Michael Borgolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Erasmus und Luther – Einheit und Differenzierung Europas

Heinz Schilling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Zur Wahrnehmung der Europäer durch die indigenen Völker Südamerikas in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts

Gert Melville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

It’s raining men, halleluja?

Zur Transformation eines antiken historiographiegeschichtlichen Motivs in Modesto Lafuentes Historia general de España (1850–1866) Barbara Schlieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .61

Die griechisch-römische Antike und die sozio-kulturelle Evolution bei Max Weber und Niklas Luhmann

Aloys Winterling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

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Inhalt

II. Kirchen- und Konzilsgeschichte Sancta Plectrudis Regina?

Eine Spurensuche in St. Maria im Kapitol zu Köln Heribert Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Quamvis essent plures apostolici – Eine Mehrzahl von Päpsten gleichzeitig ohne den Makel eines Schismas in Ockhams Dialogus

Jürgen Miethke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

„Geht ein Mann zum Papst …“ – Humor und Ironie in der juristischen Kommentarliteratur des Spätmittelalters

Kerstin Hitzbleck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Kriegsherren des Konzils

Mailänder Condottieri als Verteidiger des Basler Konzils Thomas Woelki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Trost für den Papst

Die Cythara spiritualis consolationis des Heinrich Kalteisen OP für Eugen IV. Thomas Prügl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Das Projekt einer deutschen Pragmatischen Sanktion und die Germania des Enea Silvio Piccolomini

Matthias Thumser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

III. Reichstage und Oratorik Schätze im Verborgenen

Neue Quellenfunde zur Frankfurter Reichsversammlung im Herbst 1454 Gabriele Annas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Inhalt

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Warten, verhandeln, berichten

Die Briefe der städtischen Gesandten vom Regensburger Tag 1471 Malte Prietzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Wer hielt am 21. Juni 1529 eine Rede?

Die Oratorik des Londoner Eheprozesses Heinrichs VIII. und ihre verzerrte Repräsentation in der Chronik des Edward Hall Jörg Feuchter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321

Rhetoric and Tradition

Peter Mack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

IV. Humanismus und Renaissance Why did Leonardo Bruni Translate Xenophon’s Hiero?

Patrick Baker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Kompetitive Figuren im italienischen Quattrocento: Humanisten, Künstler, Rennpferde

Christian Jaser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

‚Royal humanism‘ oder kritische Distanz?

Intertextuelle Ironie, Ambivalenz und Parodie in Enea Silvio Piccolominis Commentarius zu Antonio Beccadellis De dictis et factis Alphonsi regis Raphael Stepken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

Die Lust am Mittelmaß

Hierarchien und soziale Kosten im Manuale Scholarium (ca. 1490) Marika Bacsóka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Die dialogische Poesie des Pariser Juristen Raoul Bollart (gest. 1545) – eine Ekloge zur Schlacht von Agnadello (1509) und ein Streitgedicht über die Mildtätigkeit

Thomas Haye . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

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Inhalt

Machiavelli und das Problem einer Wiederbelebung der Antike

Bee Yun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Nomen est omen

Humanistische Identitätsspielereien Harald Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461

Tabula Gabriele Annas (Frankfurt) Birgit Aschmann (Berlin) Jörg Baberowski (Berlin) Marika Bacsóka (Berlin) Patrick Baker (Berlin) Roland Béhar (Paris) Anna-Maria Blank (Freiburg) Hartmut Böhme (Hamburg) Michail A. Bojcov (Moskau) Michael Borgolte (Berlin) Horst Bredekamp (Berlin) Marco Brösch (Trier) Peter Burschel (Wolfenbüttel) Martin Clauss (Chemnitz) Samuël Coghe (Berlin) Tobias Daniels (München) Michael Dillmann (Berlin) Karoline Döring (München) Andrey Doronin (Hamburg) David d’Avray (London) Franz-Reiner Erkens (Passau) Arnold Esch (Rom) Sebastian Felten (Berlin) Franz Felten (Mainz) Jörg Feuchter (Berlin) Franz Fuchs (Würzburg) Christian Gampert (Tübingen) Ursula Gießmann (Köln) Johannes Grohe (Rom) Berndt Hamm (Erlangen) Thomas Haye (Göttingen) Nicole Hegener (Berlin) Bianca Henze (Berlin)

Kerstin Hitzbleck (Ahrensdorf) Thomas Hofmann (Rom) Ulrich Horst (Blieskastel) Gary Ianziti (Queensland) Uwe Israel (Dresden) Thomas Izbicki (New Jersey) Christian Jaser (Berlin) Ludolf Kuchenbuch (Berlin) Volker Leppin (Tübingen) Joseph Lemberg (London) Zhenia Lichten (Berlin) Kolja Lichy (Gießen) Michael Lindner (Berlin) Peter Mack (Coventry) Claudia Märtl (München) Werner Maleczek (Wien) Christoph Markschies (Berlin) Michael Matheus (Mainz) Manfred Meiner (Hamburg) Gert Melville (Dresden) Thomas Mergel (Berlin) Gabriele Metzler (Berlin) Jürgen Miethke (Heidelberg) Bernd Michael (Berlin) Jan-Friedrich Missfelder (Zürich) Georg Mölich (Bonn) Monumenta Germaniae Historica (Berlin) Harald Müller (Aachen) Heribert Müller (Köln) Herfried Münkler (Berlin) Marina Münkler (Dresden) Arnold Nesselrath (Rom)



Jessika Nowak (Basel) Werner Paravicini (Kronsbogen) Maike Priesterjahn (Berlin) Malte Prietzel (Paderborn) Thomas Prügl (Wien) Olaf Bruno Rader (Berlin) Andreas und Cornelia Ranft (Halle) Regesten Kaiser Friedrichs III. (Berlin) Andreas Rehberg (Rom) Bernd Roling (Berlin) Heinz Schilling (Berlin) Albert Schirrmeister (Bielefeld) Stefan Schlelein (Berlin) Barbara Schlieben (Berlin) Markus Schürer (Dresden) Brigide Schwarz (Berlin) Karl-Heinz Spieß (Greifswald) Raphael Stepken (Berlin) Joachim Stieber (Northampton) Götz-Rüdiger Tewes (Berlin) Matthias Thumser (Berlin) Antje Thumser (Berlin)

Stefan Trinks (Berlin) David Unseld (Berlin) Henrike Liv Vallentin (Berlin) Wolfgang Eric Wagner (Münster) Stefan Waldhoff (Potsdam) Gerrit Walther (Wuppertal) Helmut G. Walther (Jena) Petra Weigel (Jena) Matthias Werner (Jena) Michael Wildt (Berlin) Aloys Winterling (Berlin) Thomas Woelki (Berlin) Kordula Wolf (Rom) Franz Josef Worstbrock (München) Bee Yun (Seoul) Gianmaria Zamagni (Frankfurt am Main)



Einleitung

Das Titelbild dieses Bandes zu Ehren von Johannes Helmrath verbindet zwei Säulen der Forschungsinteressen und des bisherigen wissenschaftlichen Oeuvres des Jubilars: die Geschichte der Konzilien, insbesondere des Basler Konzils, und die Welt der Humanisten, besonders des Enea Silvio Piccolomini. Es möge Anlass geben, auf die vergangenen Jahrzehnte zurückzublicken, nicht jedoch wie eine Allegorie auf die Karriere erscheinen. Denn anders als der junge Piccolomini brach Johannes Helmrath erst dann persönlich nach Basel auf, als sein großes Werk über das Basler Konzil bereits vollendet war und sich im Druck befand. Das akribisch durchkorrigierte Druckmanuskript soll die damaligen Verlagsmitarbeiter von Böhlau in Köln vor besondere Herausforderungen gestellt und zur endgültigen Aufgabe der Bleisatztechnologie bewegt haben. Helmrath begab sich indes im August 1987 auf „recherche d’un concile perdu“1 und suchte „sein“ Konzil im Stadtbild, das er doch soeben für die Geschichtsforschung zum Leben erweckt hatte. Angeregt von seinem kürzlich verstorbenen Kölner Lehrer Erich Meuthen2, der auf den Spuren des jungen Nikolaus von Kues das Basler Konzil als Gegenstand mediävistischer Forschung, kurz nachdem sich die theologische Forschung wieder den Reformkonzilien zugewandt hatte, überhaupt erst entdeckte, legte Johannes Helmrath 1987 eine monumentale, gedanklich und substantiell extrem dichte und sprachlich gleichwohl glänzende Synthese des Forschungsstandes zum Basler Konzil und seinen vielfältigen Themenfelder vor3. Er nahm das Basler Konzil nicht nur als „Brennpunkt der Kirchengeschichte“ wahr, sondern als wahrhaft europäisches Ereignis, dessen Bedeutung bis in Literatur und Musik reichte. Im systematischen Durchgang zeigte er ungezählte Desiderate auf, die seither Ausgangsbasis für jede weitere Forschung zum Basler Konzil waren und sind. Denn obwohl ein solcher Forschungsüberblick gerade durch die von ihm selbst angeregte Literaturproduktion nach über drei Jahrzehnten eigentlich das Datum seiner Halbwertszeit erreicht haben müsste, bleibt die Darstellung Helmraths auf absehbare Zeit das unverzichtbare Basiswerk zum Basler Konzil. 1

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So Helmrath selbst in einem Brief an Martin Steinmann, damals Leiter der Handschriftenabteilung der Basler Universitätsbibliothek vom 20. Dezember 1987; erhalten in der Berliner Forschungsstelle ‚Acta Cusana‘. Vgl. den Nachruf von Johannes Helmrath: Eherner Jäger der Weisheit. Zum Tod von Erich Meuthen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.06.2018. Helmrath, Johannes: Das Basler Konzil 1431–1449. Forschungsstand und Probleme, Köln/Wien 1987 (Kölner historische Abhandlungen 32).

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Einleitung

So manches Desiderat zur Kirchen- und Konzilsgeschichte, das Helmrath in der Dissertation nur umreißen konnte, löste er in der Folgezeit selbst ein. Dabei blieb die Analyse nicht, wie so manche aus seinem Windschatten heraus gearbeitete Dissertation, auf den quellengesättigten Mikrokosmos des Basler Konzils beschränkt, sondern zeigte stets längere Entwicklungen der Kirchengeschichte auf, deren Wurzeln Helmrath oft bis in die Spätantike zurückverfolgen konnte. So erklärte er die vordergründig als diplomatische Notlösung zu verstehende Inthronisation des Evangelienbuches auf dem Konzil von Ferrara/Florenz mit einer lange zurückreichenden Tradition4. Er verfolgte die oft umstrittene Entscheidung über den Ort eines künftigen Konzils über das gesamte Mittelalter hinweg5. Studien zur Ordensreform, zu Kanonisierungsverfahren, zur theologischen Restlehre, zu Partikularsynoden, zum Kanzleiwesen und nicht zuletzt die seit 2010 unter seiner Regie fortgeführten Acta Cusana zeigen die ungeheure Vielfältigkeit seiner kirchengeschichtlichen Arbeiten6. Schon früh überstiegen seine Forschungsinteressen jedoch den kirchlichen Rahmen und wandten sich vor allem zwei Problemfeldern zu: den Organisationsformen kirchlicher und weltlicher Repräsentativversammlungen mit ihrem mündlichen Basiselement, der Rede, und der Erfolgsgeschichte des Humanismus in Deutschland und Europa. Beide Forschungsrichtungen sind bereits in dem 1989 erschienenen Aufsatz zur „Kommunikation auf 4

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Helmrath, Johannes: Die Inthronisation des Evangelienbuchs auf Konzilien, in: Neuheuser, Hanns Peter (Hg.): Wort und Buch in der Liturgie. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirkmächtigkeit des Wortes und Zeichenhaftigkeit des Buches, St. Ottilien 1995, S. 233–279. Helmrath, Johannes: Locus concilii. Die Ortswahl für Generalkonzilien vom IV. Lateranum bis Trient (Mit einem Votum des Johannes de Segovia), in: Bäumer, Remigius u. a. (Hg.): Synodus. Festschrift für Walter Brandmüller, Paderborn 1997 = Annuarium Historiae Conciliorum 27/28 (1995/96), S. 593– 661. Nur als Auswahl zu den genannten Themenkreisen: Helmrath, Johannes: Capitula. Provinzialkapitel und Bullen des Basler Konzils für die Reform des Benediktinerordens im Reich. Mit einer Konkordanz und ausgewählten Texten, in: Ders./Müller, Heribert (Hg.): Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen zum 65. Geburtstag, München 1994, Bd. 1, S. 87–121; Ders.: Aktenversendung und Heilungswunder. Die Kanonisierung des Peter von Luxemburg (1369–1387) und die Überlieferung seines Kanonisationsprozesses, in: Bünz, Enno u. a. (Hg.): Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 2007 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 24), S. 649–662; Ders.: ‚Ecclesia enim parva esse potest, nulla esse non potest’. Die sogenannte Restlehre zwischen Mariologie und konziliarer Theorie, insbesondere bei Johann von Segovia, in: Prügl, Thomas/Schlosser, Marianne (Hg.): Kirchenbild und Spiritualität. Dominikanische Beiträge zur Ekklesiologie und zum kirchlichen Leben im Mittelalter. Festschrift Ulrich Horst OP zum 75. Geburtstag, Paderborn u. a. 2007, S. 291–318; Ders.: Partikularsynoden und Synodalstatuten des späteren Mittelalters im europäischen Vergleich, in: Annuarium Historiae Conciliorum 34 (2002/2003), S. 57–99; Ders.: Das Konzil als Behörde. Eine unbekannte Kanzleiordnung des Basler Konzils von 1439, in: Flug, Brigitte u. a. (Hg.): Kurie und Region. Festschrift für Brigide Schwarz zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2005 (Geschichtliche Landeskunde, 59), S. 93–112.

Einleitung

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den spätmittelalterlichen Konzilien“7 angelegt, der nicht nur auf die weiteren Forschungsprojekte Helmrath hindeutete, sondern im Kern bereits vieles vorwegnahm, was die Geschichtsforschung der folgenden Jahrzehnte bewegte. Von geistlich zu werntlich, von Konzilien zu Reichsversammlungen – so könnte man etwas plakativ und in kreativer Umformulierung eines Helmrathschen Aufsatztitels die beiden ersten Schaffensphasen des Jubilars im Sinne eines wissenschaftlichen Entwicklungsromans überschreiben8. Allerdings stand es für Johannes Helmraths intellektuelle Neugier nie zur Debatte, nur Konzilsgeschichte oder nur Reichstagsforschung zu betreiben. Ihm ging es in beiden Qualifikationsschriften immer auch um typologische Interferenzen und bildungs- und kommunikationsgeschichtliche Kontexte, kurzum: um den kulturellen Ort spätmittelalterlicher Repräsentativversammlungen und damit um ein Feld, das in seinen europäischen Verflechtungen größer eigentlich nicht zu denken ist. Gleichwohl markiert sein Dienstantritt an der Kölner Forschungsstelle „Deutsche Reichstagsakten“ der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vor rund dreißig Jahren einen Wendepunkt: Aus der alltäglichen editorischen Arbeit an den Quellen zum Frankfurter Reichstag von 1454 – oder formaler: am Band 19/2 der Deutschen Reichstagsakten, Ältere Reihe – schälte sich seine Kölner Habilitationsschrift „Die Reichstagsreden des Enea Silvio Piccolomini 1454/55. Studien zu Reichstag und Rhetorik“ (1994) heraus, die in vielerlei Hinsicht analytisches Neuland betritt: Entstanden im Sog eines legendären Schreibflusses, der noch heute biographischer Erinnerungsort ist, widmet sich das Werk der politischen Beratungsrede auf dem Forum des Reichstags und verknüpft dabei konsequent institutionengeschichtliche und philologisch-literarische Zugriffe, vormoderne Parlamentsgeschichte und politische Rhetorikforschung9. Als exemplarisches Arbeitsfeld boten sich vor allem die Tage in Frankfurt (1454) und Wiener Neustadt (1455) und das dortige oratorische Wirken Enea Silvio Piccolominis an. Zugleich lassen kodikologische Detailstudien und kritische Editionen einzelner Referenzreden viel von der renommierten Werkstatt erkennen, die Helmrath zugleich handwerklich betrieben und analytisch transzendiert hat. Auch das Langzeitprojekt der Reichstagsaktenedition, das Helmrath noch lange nach der rasch erfolgten Übernahme des Berliner Lehrstuhls für Mittelalterliche 7

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Helmrath, Johannes: Kommunikation auf den spätmittelalterlichen Konzilien, in: Pohl, Hans (Hg.): Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft, Stuttgart 1989 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte, 87), S. 116–172. Helmrath, Johannes: „Geistlich und werntlich“. Zur Beziehung von Konzilien und Reichsversammlungen im 15. Jahrhundert, in: Moraw, Peter (Hg.): Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter, Stuttgart 2002 (Vorträge und Forschungen, 48), S. 477–517. Helmrath, Johannes: Die Reichstagsreden des Enea Silvio Piccolomini 1454/55. Studien zu Reichstag und Rhetorik, 2 Teile, Habilitationsschrift, Köln 1994.

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Einleitung

Geschichte unter besonderer Berücksichtigung des Spätmittelalters 1997 begleiten sollte, bestand für ihn nie nur aus dem bloßen Sammeln, Selektieren und Kollationieren von Textstücken und -fragmenten. Vielmehr ging es ihm immer auch um schöpferische Sinnproduktion, allen voran im Format des Kommentars, der den Status eigener Autorschaft verdient. Gefragt war hier der „Editor-Autor“, der seine amphibische Rolle zwischen Knecht und Schöpfer virtuos zu spielen weiß10. Das schließlich 2013 erschienene opus magnum kündet davon. Auf mehr als tausend Druckseiten wird hier der Frankfurter Reichstag von 1454 nach allen Regeln der (Editions-)Kunst re-konstruiert. Neben den jeden Reichstag konstituierenden Basisakten – Ladungsschreiben, Teilnehmerverzeichnisse, Gesandtenberichte, Anschlagslisten, Abschiede – und der Rahmenschriftlichkeit vielfältiger Verhandlungsgegenstände stechen vor allem humanistische Briefe und Reden ins Auge, zumeist aus der Feder des „Hauptakteurs“ Enea Silvio Piccolomini11. Darunter befindet sich als „Herzstück“ dessen Rede Constantinopolitana clades vom 15. Oktober 1454, die als Muster der ‚Türkenrede‘ gelten kann. Sie bildet zugleich einen Markstein europäisch-christlicher Selbstvergewisserung und zugleich proto-nationaler Ermächtigungsphantasien12. Ausgehend vom kollektiven Schockerlebnis der osmanischen Eroberung Konstantinopels 1453 entfaltet die Rede eine literarisch-rhetorische Wucht, die von Helmraths stupendem Kommentar nicht nur begleitet, sondern gleichsam im Kosmos ihrer Anspielungen reanimiert wird. Die politische Redepraxis – bereits in der Habilitationsschrift unter dem englischen Lehnwort ‚Oratorik‘ firmierend – und ihr hoher Stellenwert auf vormodernen Ständeversammlungen bildet bis heute einen Eckstein im Oeuvre Helmraths. Kein Wunder, ist doch der Jubilar selbst ein glänzender Redner, der sprachliche Eleganz und rhetorische Performanz kunstvoll zu verbinden weiß und selbst akademische Pflichtreden zum Erlebnis werden lässt. Am Berliner Sonderforschungsbereich 640 ‚Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel‘ (2004–2012) fand Helmrath gemeinsam mit den Projektmitarbeitern Jörg Feuchter und Anna-Maria Blank ein interdisziplinäres Arbeitsumfeld vor, das eine zukunftsweisende Prägung des Forschungsfeldes ‚Parla10 Helmrath, Johannes: (Humanisten) Edieren in den Deutschen Reichstagsakten, in: Holtz, Sabine u. a. (Hg.): Humanisten edieren. Gelehrte Praxis im Südwesten in Renaissance und Gegenwart, Stuttgart 2014 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, 196), S. 209–244, hier S. 214, 219 (Zitat). 11 Deutsche Reichstagsakten, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Ältere Reihe, Bd. 19, 2: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. 5 Abt., 2. Teil: Reichsversammlung zu Frankfurt 1454, bearb. v. Johannes Helmrath, München 2013. 12 Helmrath, Johannes: Allgemeine Einleitung, in: ebd., S. 35–61, hier S. 54. Vgl. Ders.: Enea Silvio Piccolomini – Vater des modernen Europagedankens?, in: Hohls, Rüdiger u. a. (Hg.): Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag, Berlin 2005, S. 361–369.

Einleitung

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mentsoratorik‘ ermöglichte. Waren bisher vormoderne Parlamentsreden vornehmlich als geschwätzig-funktionsloses parlare im Gegensatz zum Geschäft politischen Entscheidens abgetan worden, galt es nun, sie als zeremoniell institutionalisierte „Basisakte“ ernst zu nehmen und ihre textuelle und visuelle Überlieferung zu erschließen. Im fruchtbaren Austausch mit der klassischen Rhetorikforschung, Sprechakttheorie, Ritualforschung, ‚Kulturgeschichte des Politischen‘ und vergleichenden Verfassungsgeschichte zielt der oratorische Ansatz primär auf geschichtswissenschaftliche Fragestellungen ab: einerseits auf die „Pragmatik der Parlamentsreden als performative Sprechakte in einem bestimmten sozialen und politischen Kontext“, andererseits auf die Austauschbeziehungen zu symbolisch-nonverbalen Kommunikationsformen im Rahmen der Versammlungen13. Vom beinahe unerschöpflichen Potenzial dieses Ansatzes legen zahlreiche programmatische Aufsätze, Sammelbände und Fallstudien aus dem letzten Jahrzehnt beredtes Zeugnis ab. Ausgangs- und Fluchtpunkt dieser Forschungen blieb aber stets die humanistische Redekultur, die für den Jubilar nicht nur Thema und Aufgabe, sondern vor allem Herzensangelegenheit ist. Vielleicht sogar mehr noch: Sie entspricht seiner Wesensart. Humanismus und Renaissance sind – gerade auch in den schon genannten konkreten Ausprägungen – das Gravitationszentrum der Arbeiten von Johannes Helmrath. Wer ihn erlebt, der kann dessen Begeisterung für fein geschliffene und zugleich ausdrucksstarke Sprache gar nicht überhören. Sie ist Signum einer tief verinnerlichten Bewunderung, ja Begeisterung für feinsinnige menschliche Hervorbringungen unterschiedlichster Art im Sinne eines weiten, poietischen Kulturbegriffs. Darin berührt sie sich großflächig mit der ciceronischen Vorstellung, dass der Kern des wahren Menschseins aus dem Geiste der (Selbst-)Bildung und dort sicherlich nicht zuletzt aus dem Bemühen um die Beherrschung des Ausdrucksmediums schlechthin besteht: der Sprache. Tief und früh sind ihm diese Werte bewusst gemacht und vorgelebt worden. Johannes Helmrath hat in einem Akt der psychologischen Selbstanalyse frühe, in die Kindheit zurückreichende Prägungen für seine Affinität zu Renaissance und Humanismus benannt14. Analog zu Enea Silvio Piccolomini, dem Helden seines Forscherlebens, den Helmrath die Portalfigur des Humanismus nördlich der Alpen nennt, stehen zwei Wächterfiguren an seinem eigenen Weg zu Renaissance und Humanismus: zunächst der 13 Vgl. stellvertretend: Helmrath, Johannes/Feuchter, Jörg: Einleitung – Vormoderne Parlamentsoratorik, in: Dies. (Hg.): Politische Redekultur in der Vormoderne. Die Oratorik europäischer Parlamente in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt/New York 2008 (Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel, 9; Studies presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions, 86), S. 9–22, hier bes. S. 11–13. 14 Vgl. Helmrath, Johannes: Wege des Humanismus: Einleitung, in: Ders.: Wege des Humanismus. Studien zu Praxis und Diffusion der Antikeleidenschaft im 15. Jahrhundert. Ausgewählte Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 2013 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 72), S. 1–16, hier S. 1.

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Einleitung

Vater, durch und durch Altphilologe. Er war Lehrmeister und Richtschnur für den Sohn nicht nur im Sprachlichen. In der Bibliothek des Vaters entdeckte der junge Helmrath Buch für Buch die Antike, ihre Autoren, ihre Lebenszusammenhänge – ein Kabinett sprachlicher und historischer Faszination, das künftig Leben und Interessen orientieren sollte. Den zweiten, ebenso markanten Stempel setzte der in Köln lehrende Mediävist Erich Meuthen der sich entwickelnden Forscherpersönlichkeit auf, bei dem Helmrath den Humanismus der europäischen Renaissance kennenlernte (und noch so viel mehr darüber hinaus). Er wurde das bis heute bestimmende Forschungsfeld des Jubilars. Johannes Helmrath hat diesen Kosmos weit ausgreifend bearbeitet und die deutsche wie die internationale Forschung dazu ganz entscheidend inspiriert. Den ersten Band seiner gesammelten Aufsätze, der dem Humanismus gewidmet ist, kann man nach der Lektüre ob Spannweite dieser akademischen Blütenlese nur tief beeindruckt aus der Hand legen. Geschichtsschreibung, politische und stilistische Diskurse, Rhetorik in Form und Funktion, der Blick für die überlieferungsgeschichtlichen und editorischen Feinheiten einer neuen Sprach-, Bildungs- und Deutungsmacht an der Schwelle zur Moderne – stets geht Helmrath den Dingen umfassend und in stupender Gelehrsamkeit auf den Grund. Dieses ‚Ergründen‘, das um Verstehen ringende Ausleuchten von Ecken und Vertiefungen, Nischen und Hohlräumen, ist ein wesentliches Signum der Helmrathschen Arbeiten. Nie gibt er sich mit schnellen Lösungen zufrieden, kein konzentrierter Blick ist ihm zu mühsam; auch körperlich schont er sich dabei nicht. Der methodischen Akribie des Philologen begegnet man dabei ebenso auf Schritt und Tritt wie dem Streben des Historikers nach gedanklicher Stringenz und hermeneutischer Sensibilität. An den Arbeiten im Feld Renaissance und Humanismus ist deshalb besonders hervorzuheben, dass und wie der Ge(l)ehrte nicht nur um den Gegenstand seiner Forschungen im engeren ringt, sondern um grundsätzliche Zugänge, Paradigmen und Begriffe der Forschung. Einflussreich und durchaus kontrovers diskutiert war sein Vorschlag, den wegen seiner statischen Objektformulierung in die Kritik geratenen Rezeptionsbegriff durch den der ‚Diffusion‘ zu ersetzen. Der naturwissenschaftliche Terminus schien besser geeignet, die Erfolgsgeschichte der europaweiten Verbreitung humanistischer Themen, Techniken und Texte im 14. bis 16. Jahrhundert zu verbildlichen und in seinem prozesshaften Geben und Nehmen zu erklären15. Es war indes nur ein Zwischenschritt. Die Diffusion als begriffliches und gedankliches Paradigma der Arbeiten wurde im Zuge des Sonderforschungsbereichs 644 ‚Transformationen 15 Helmrath, Johannes: Diffusion des Humanismus. Zur Einführung, in: Ders. u. a. (Hg.): Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, S. 9–29.

Einleitung

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der Antike‘, deren Sprecher Helmrath lange war, von der Idee der Transformation abgelöst. Als „breiter und besser operationalisierbar“ bezeichnet er selbst die neue Denkformation, die in ihrer Pluralform vor allem die beidseitigen Veränderungen hervorhebt, die im Prozess der Aneignung von Antike auftreten. Das verrät kritische Distanz zu selbstentworfenen Paradigmen, auch wenn er die partielle Preisgabe der Vorstellung von der Diffusion des Humanismus als einer zielgerichteten Bewegung zugunsten einer Vielzahl multidirektionaler, neu schöpfender Transformationsvorgänge ausdrücklich bedauert16. Das „Dazwischen“, das jeder Transformation eignet, ist vielleicht sogar die Klammer seines gesamten Schaffens, das Prozesse der Aneignung, Ausgestaltung, des Prägens und Umformens zum Thema hat. Die theoretische und begriffliche Erschließung des Forschungsfeldes ‚Renaissance und Humanismus‘ betreibt der Jubilar zudem stets mit Blick auf die Geschichte der eigenen Disziplinen. Die Entwicklung der Numismatik aus Sammelleidenschaft und humanistischem Systematisierungseifer sei hier nur als ein Beispiel unter vielen genannt17. Neben diesem weiten Rückgriff kommt Helmrath vor allem aber der Auseinandersetzung mit seinen unmittelbaren Vorgängern in der Forschung nie abhanden. Stets hat er die eigene Perspektive gründlich an den Ideen und Ergebnissen der anderen geschärft – ganz gleich ob an Burckhardt oder Batkin, Worstbrock oder Warburg, an Kristeller oder Kühlmann, Michelet oder Mertens –, bevor er sich den Quellen nähert. Seine Beiträge sind deshalb nie erratische Blöcke, sie korrespondieren intensiv mit der Forschungslandschaft. Das zweite Signum der Helmrathschen Beschäftigung mit Renaissance und Humanismus – oben schon angedeutet – droht in der wissenschaftlichen Bilanz allzu leicht unterzugehen. Es ist die schlichte Angemessenheit, die Forscher und Objekt verbindet. Sie ist vielleicht sogar eine Form der Verinnerlichung. Helmrath und die Humanisten sind beide gleichermaßen von Antikeleidenschaft und ästhetischem Furor angetrieben. Auch den Eros Sprache zu beherrschen, sie zum Ornat der menschlichen Existenz zumachen, teilen sie. Der Jubilar lebt in gewisser Weise seine Forschungen, ohne damit aus seiner Zeit zu fallen. Es sind seine Themen, ganz gleich, welche Jahreszahl der historische Kalender zeigt. Und er erkennt und pflegt sie, in welcher Form und in welcher Umgebung sie ihm auch begegnen. 16 Vgl. Helmrath: Wege des Humanismus. Einleitung (wie Anm. 14), S. 5. 17 Siehe Helmrath, Johannes: Bildfunktionen der antiken Kaisermünze in der Renaissance oder: Die Entstehung der Numismatik aus der Faszination der Serie, in: Schade, Kathrin u. a. (Hg.): Zentren und Wirkungsräume der Antikerezeption. Zur Bedeutung von Raum und Kommunikation für die neuzeitliche Transformation der griechisch-römischen Antike, Münster 2007, S. 77–97. An den Metamorphosen dieses Beitrags, der in verschiedenen Fassungen erschien, lässt sich das stete Streben des Autors um Fortschritt der Erkenntnis verfolgen.

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Insofern mag die Aufteilung des vorliegenden Bandes in vier Themenbereiche zu strikt und ein wenig hilflos erscheinen. Sie will dennoch ein wenig Orientierung geben im Hinblick auf die Beiträge, die von Kolleginnen, Freunden, Weggefährtinnen und Schülerinnen (utriusque sexus) als Geburtstagsgabe gedacht sind. Sie erinnern zumindest implizit an gemeinsame Zeiten, Forschungen oder Interessen, die die Autorinnen und Autoren mit dem Jubilar verbinden. Sie sind Ausdruck von Freude und Dankbarkeit, eine Gegengabe für empfangene Freundschaft und Anregung, wie ein bunter Blumenstrauß, jedoch hoffentlich haltbarer in ihrer Pracht. Möglich wurde dieses Präsent durch die bereitwillige ideelle Unterstützung vieler aus dem Kosmos Helmrathianus, nicht zuletzt aber auch durch die materielle Unterstützung der Humboldt-Universität zu Berlin – namentlich gedankt sei hier der Präsidentin Prof. Dr.-Ing. Sabine Kunst und der Dekanin Prof. Dr. Gabriele Metzler – und des Erzbistums Köln. Im Juni 2018 Christian Jaser

Harald Müller

Thomas Woelki

I. GESCHICHTE UND GESCHICHTSSCHREIBUNG





Wie Neues in die Welt kommt Zu Aufkommen und Verbreitung des Stiftungswesens in universalgeschichtlicher Perspektive Michael Borgolte

‚Stiftung‘ ist ein Rechtsbegriff, aber keine Erfindung der Juristen. Was man für die römische Antike festgestellt hat, dass nämlich Stiftungen aus lebenspraktischen Bedürfnissen, aber ohne wissenschaftliches Fundament entstanden sind, gilt auch allgemein. Im mittelalterlichen Jahrtausend haben nur muslimische Gelehrte wenigstens eine Terminologie des Stiftungswesens entwickelt und eine streng rechtlich bestimmte Auffassung des sogenannten waqf begründet. Beim universalen Mangel an begrifflicher Klarheit fällt aber auf, dass Stiftungen offenkundig weit verbreitet waren und in vielen Kulturen schon der Alten Welt begegnen. Obschon es genau gesehen so viele Varianten von ihnen gibt, dass eine universell gültige Definition unmöglich wäre, lässt sich doch ein Idealtyp im Sinne von Max Weber bilden. Eine Stiftung wurde und wird demnach dadurch geschaffen, dass eine Person die Erträge ihres Vermögens einem dauernden Zweck widmet; das Kapital der Stiftung selbst muss also erhalten bleiben, während die Zinsen gemäß dem Stifterwillen konsumiert werden. Von der einfachen Schenkung unterscheidet sich die Stiftung dadurch, dass die Gabe nicht durch einen einmaligen Akt den Besitzer wechselt, sondern in Form der Erträge ständig wiederholt wird. Die Leistungen der Stiftung sollen auf Dauer, wie häufig formuliert wird: ‚auf ewig‘, jedenfalls aber fast immer über den Tod von Stifter oder Stifterin hinaus, erbracht werden. Wenn die Stiftungen nahezu überall vorzukommen scheinen, fragt es sich, ob ihnen ein so einfacher Gedanke zugrunde liegt, dass sie mehrfach kreiert wurden oder sich eher durch interkulturelle Imitation verbreitet haben. Die Frage ist historisch deshalb reizvoll, weil wir in einer Epoche der Globalisierung wissen wollen, wie tief das Fundament ist, auf dem sich die Völker, Kulturen und Religionen verständigen können. In der Wissenschaft wurde das Problem bisher nur selten und allenfalls punktuell erörtert; ich selbst konnte mich ihm erst zuwenden, als mir der European Research Council ein fünfjähriges Großprojekt bewilligte, in dem wenigstens die mittelalterlichen

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Stiftungskulturen unter Mitwirkung von Experten aus fünf oder sechs Disziplinen vergleichend aufgearbeitet wurden. Neben einer dreibändigen „Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften“, die zwischen 2014 und 2017 im Druck erschienen ist, war eine Monographie über die Weltgeschichte der Stiftungen von den Anfängen bis etwa 1500 unserer Zeitrechnung Teil des Forschungsvorhabens. Johannes Helmrath eine Zwischenbilanz dieser Bemühungen zu dedizieren, möchte den weitgespannten Interessen und Kenntnissen des Jubilars entsprechen und meinen langjährigen lieben Kollegen zu seinem 65. Geburtstag erfreuen1. Recht einfach lassen sich die historischen Rahmenbedingungen für die Stiftungen umreißen. Offenbar konnten diese erst nach der ‚landwirtschaftlichen Revolution‘ entstehen; dieser wohl größte Einschnitt in der Geschichte der Menschheit wird grob gesagt zwischen dem zehnten und sechsten Jahrtausend vor unserer Zeit datiert und ist dadurch gekennzeichnet, dass mehr Getreide geerntet wurde als für den saisonalen Verzehr notwendig war. Ohne Vorratshaltung und Mehrwertbildung, also ohne den Überschuss an materiellen Ressourcen, konnte es Stiftungen nicht geben. Dazu kommt eine wenigstens in Ansätzen arbeitsteilige Gesellschaft; für die Realisierung der Stiftungszwecke mussten nämlich Spezialisten für die Stiftungsverwaltung ebenso wie für die Durchführung von Kulthandlungen und Wohltaten zur Verfügung stehen. Auch auf Schriftlichkeit konnte man nicht verzichten; zwar mögen im Stiftungsprozess viele Regelungen mündlich vereinbart und Nebenabsprachen dem Gedächtnis der Beteiligten anvertraut worden sein, doch war das Medium der Schrift bei einer elaborierten Einrichtung, die auf lange Sicht bestehen sollte, unentbehrlich. Eine vielleicht weniger zwingende, aber doch naheliegende Voraussetzung war die horizontale Mobilität in größeren Räumen; Stiftungen wird man doch kaum erwarten, wo Menschen und menschliche Gruppen konzentriert auf eine Siedlung verharrten und ihre Toten und Götter an traditionellen Plätzen verehrten, sondern eher dort, wo es das Phänomen örtlicher Entfremdung gab. Zweifellos sind Stiftungen also ein Phänomen komplexer Gesellschaften; man muss ihre Genese oder Entstehungen in sogenannten Hochkulturen und Großreichen suchen. Tatsächlich sind Stiftungen zuerst in Ägypten und Mesopotamien seit dem frühen dritten Jahrtausend vor unserer Zeit belegt. Für das alte China wären die gleichen Voraussetzungen seit dem Reich der Shang-Dynastie gegeben gewesen, doch fehlen hier Stiftungsdokumente aus dieser Periode. Gewidmet waren die ersten Stiftungen der Götterverehrung und dem Ahnenkult; beide gründeten in einer Vorstellung von Welt 1

Es war der ausdrückliche Wunsch der Herausgeber, die Beiträge dieses Werkes sollten keine „breit gepanzerten Aufsätze“ sein. Ich verzichte deshalb gern auf Anmerkungen und verweise ein für allemal auf die oben genannte Enzyklopädie sowie meine erwähnte welthistorische Darstellung.

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und Wirklichkeit als Kosmos, in dem Götter und Menschen in einer allumfassenden Einheit aufgehoben waren. Für die universale Stiftungsgeschichte wurde indessen die Abwendung von dieser Kosmosvorstellung besonders wichtig. In der sogenannten Achsenzeit, die meist im ersten Jahrtausend vor unserer Zeit angesetzt wird, ereignete sich in verschiedenen Ländern und Kulturen und angeblich unabhängig voneinander der Durchbruch der Transzendenzvorstellung. Die Welt von Göttern und Menschen wurde also nicht mehr als Einheit aufgefasst, sondern herrschend wurde die Erfahrung einer Trennung von Diesseits und Jenseits. Der Einzelne war nicht länger eingebunden in eine kosmische Kultgemeinschaft, sondern musste die entstandene Kluft zwischen Hier und Dort selbst überwinden. Mit der Entdeckung der Transzendenz auf sich selbst verwiesen, erfuhr er sich als Subjekt, Persönlichkeit oder Individuum, also als ein je anderer zu seinen Mitlebenden. Die Achsenzeit war vor allem die Geburtsstunde des Mitgefühls; sie hat die Religionen des Zoroastrismus in Persien, des Jainismus und Buddhismus in Indien sowie in China den Daoismus hervorgebracht, aber auch die ethische Lebenslehre des Konfuzianismus geprägt. Die Auffassung, dass die Menschen durch Wohltaten an anderen ein persönliches postmortales Heil erlangen können, drang vom Zoroastrismus auch in die monotheistischen Religionen Vorderasiens, Judentum, Christentum und Islam, ein. In meinem Beitrag möchte ich mich auf die Genese und Verbreitung der drei genannten Typen von Stiftung konzentrieren: auf die vorachsenzeitlichen Götter- und Ahnenstiftungen und auf die neueren Stiftungen für Menschen, für Lebende ebenso wie für einen namentlich benannten oder wenigstens genau begrenzten Kreis von Verstorbenen. In Mesopotamien dominierten nach der Überlieferungslage die Götterstiftungen, in Ägypten Stiftungen für die Ahnen beziehungsweise die Toten. Beide Adressatenkreise mussten die Menschen durch Opfer ‚ernähren‘, weil sie den allumfassenden Kosmos in Gang hielten und besonders die Lebenden zu schützen und zu fördern hatten. Finanziert wurden die Kulte durch reichsweite Steuersysteme. Wenn die Götter, wie im Zweistromland, als Eigentümer des ganzen Landes galten, wurden die Abgaben dem Hof für den Betrieb zentraler Heiligtümer zugeführt. Stiftungen hatten in dieser Ordnung also ergänzende Funktion, sie trugen zur Vermehrung des Kultes bei oder kompensierten die Nachlässigkeit der dazu Verpflichteten. In Ägypten wurden die Könige als Herren und ‚Eigentümer‘ des Landes angesehen. Die Steuern dienten seit etwa 2800 vor unserer Zeit nicht mehr bloß der Zentralverwaltung und den prominenten Kultstätten, sondern auch einer persönlichen wirtschaftlichen Anlage des Pharao; diese hatte Bestand über seinen Tod hinaus und bildete, betraut mit der Versorgung seines Grabes, die Grundlage für königliche Totenstiftungen. Die fortschreitende Monumentalisierung der Königsgräber zwang

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bald zu einer Neuorganisation des ganzen Landes. Der Wirtschaftshistoriker Wolfgang Helck hat gezeigt, wie die aus der Ahnenverehrung hervorgegangenen Totenstiftungen zugunsten der Pharaonen sogar den ägyptischen Staat und die ägyptische Wirtschaft hervorgebracht haben. Für die Arbeiten im Steinbruch und die Errichtung der Pyramiden musste nämlich die gesamte Bevölkerung administrativ erfasst und funktional aufgeteilt werden. Zur Basis des königlichen Stiftungswesens wurde eine Staatsdomänenwirtschaft. Der König war aber auch dazu verpflichtet, seinen Dienern selbst ein würdiges Begräbnis mit angemessenem Totenkult zu sichern. Manche Beamten leiteten daraus den Anspruch ab, eigene Totenstiftungen ohne Rücksicht auf den König zu errichten. Die Verbreitung der Totenstiftungen über den König hinaus war von epochaler Bedeutung. Während im Alten Reich jede menschliche Existenz, besonders die des Beamten, ihren Sinn nur aus der Mitwirkung am Handeln des Königs bezogen hatte, erodierte die zentrale Stellung des Monarchen gegen dessen Ende zugunsten des Individuums, das seine eigene Leistung stolz hervorhebt. Nicht mehr die treue Beachtung der königlichen Befehle, sondern eigenverantwortliches Handeln, weitsichtige Planung und unablässige Sorge machen ein Leben fortan erinnerungswürdig und geben ihm Sinn. Andererseits brach sich eine neue Ethik Bahn. In einer Schrift der Zeit wird der Einzelne aufgefordert: „Verhülle dein Angesicht nicht gegenüber dem, den du gekannt hast, sei nicht blind gegenüber dem, auf den du geblickt hast, stoße nicht zurück den, der sich bittend an dich wendet, sondern lass ab von diesem Zögern, deinen Ausspruch hören zu lassen. Handle für den, der für dich handelt!“ Die gute Tat wird zugleich in einen Vergeltungszusammenhang gerückt. Der Wohltäter, neben dem König besonders der Beamte, kann als Lohn die Fortdauer seines Namens im Diesseits erwarten. Der unvergleichliche Aufwand, den die Ägypter für ihre Grabmäler trieben, gründete in der Erwartung, unter den Nachlebenden nicht vergessen und mit ihren Taten gerühmt zu werden. Für Wohltaten zugunsten Dritter erwartete man irdische Güter, langes Leben und die Gunst Pharaos. Aus den ‚Weisheitslehren‘ geht hervor, dass jeder Einzelne zu Hilfen für Mitmenschen in Not aufgerufen war. Caritative Leistungen für notleidende Mitmenschen standen neben den Opfern für die Götter und die seligen Toten. Die Ethisierung des menschlichen Handelns ging mit einer Spiritualisierung einher; von größerem Nutzen als tausende Geschenke, so wurde gelehrt, sei der gute Charakter eines Menschen, Rechtschaffenheit müsse zur Tat hinzutreten. In der Zeit unmittelbar nach Ende des Alten Reiches entstanden Texte über das Totengericht, in dem sich jeder Mensch für seine Taten im Diesseits rechtfertigen müsse. Im Totengericht werden die guten Taten des Menschen gewogen und über seinen Aufstieg in den

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Himmel entschieden. Das Gericht ist also an die Idee der Unsterblichkeit gebunden. Nach Jan Assmann ist das Totengericht die einzige religiöse Idee von zentraler Bedeutung, die Ägypten mit den großen Weltreligionen verbinde. Auch die uns aus Christentum und Islam vertrauten Ideen der Werkheiligkeit und des Lohngedankens waren schon den Ägyptern vertraut; allerdings war ihnen die Idee fremd, durch postmortale Werke der Wohltätigkeit für die Seele des Verstorbenen sorgen zu können. Die Lebenden hatten keine Interventionsmöglichkeit für das jenseitige Heil, das sich der Tote nur durch seine Werke zu Lebzeiten hatte verdienen müssen. Stiftungen mussten sich also auf den Kult beschränken, und zwar auf die Bewahrung der Erinnerung an den Verstorbenen und auf die Sorge um sein Grab. Neben ihrem Beitrag zur Ausformung von ‚Staat‘ und ‚Wirtschaft‘ haben die ägyptischen Totenkultstiftungen seit ca. 2000 vor unserer Zeit epochalen Rang durch ihre Rolle als Ferment der Individualisierung und Ethisierung. Was sich in Ägypten damals vollzogen hat, hat Assmann zurecht den Erscheinungen der ‚Achsenzeit‘ zugeordnet. Sonst wird die Zäsur der Achsenzeit zwar im Allgemeinen später, nämlich im ersten Jahrtausend vor unserer Zeit, angesetzt, aber in Ägypten scheint sich dieser Durchbruch schon erheblich früher ereignet zu haben. Für Ägypten lässt sich also zweierlei konstatieren: Stiftungen haben hier in der Gestalt der Totenstiftungen für die Pharaonen den ‚Staat‘ wenn nicht geradezu hervorgebracht, so doch tiefgreifend geprägt; und sie waren, wenigstens zeitweise, von achsenzeitlichem Denken bestimmt und haben zur Revolution der Individualisierung und Ethisierung beigetragen. Ägypten unterscheidet sich in diesen Hinsichten deutlich von Mesopotamien. Trotzdem kann man sich kaum vorstellen, dass sich beide Nachbarländer mit ihrem Stiftungswesen nicht beeinflusst haben sollen, aber ein Nachweis dafür ist nicht zu führen. Parallel zu Mesopotamien und Ägypten hat sich auch in Indien eine Hochkultur entfaltet. Die Indus- oder Harappa-Kultur von etwa 2600 bis 1900 war städtischer Natur, aber die spärliche und bisher nicht entzifferte Überlieferung lässt nicht darauf schließen, dass es Stiftungen schon in dieser Zeit gegeben hat. Deren Anfänge muss man nach der Zuwanderung der Āryas aus Zentralasien beziehungsweise nach der Sesshaftwerdung der Nomaden um die Jahrtausendwende suchen. Eine Zäsur von großer Nachhaltigkeit war auch in Indien die ‚Achsenzeit‘, die hier später als in Ägypten, aber ungefähr parallel zu Persien und China anzusetzen ist. Indessen hat man festgestellt, dass zwischen den asiatischen Varianten der Achsenzeit kein Austausch festgestellt werden kann, sondern diese offenbar unabhängig voneinander emergierten. Obwohl Inder und Iraner gleicher räumlicher und ‚ethnischer‘ Herkunft gewesen waren, haben sich namentlich die persischen und indischen Lösungen der Transzendenzfrage fundamental unterschieden. Das hat auch das jeweilige Stiftungswesen geprägt.

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Wohl nach Eindringen der mindestens vierzig Stämme in den Nordwesen des Subkontinents hatten die Āryas begonnen, in den ‚Veden‘ ihr heiliges Wissen zu konservieren. In der ersten Periode ist bereits von Brahmanenpriestern die Rede, die zu wertvollen Stützen des entstehenden Königtums wurden. Ähnlich wie im Zweistromland wurde den Königen wohl eine zentrale Rolle beim Opfer, also bei der Ernährung der Götter, zugeschrieben, während die Masse der Landbewohner die dafür notwendigen Gaben aufzubringen hatte. Die Brahmanen vollzogen die religiösen Rituale, boten sich den Herrschern aber auch als gelehrte Ratgeber an. Mit Stiftungen förderten mittelalterliche Könige die Brahmanen auch als Kolonisten und bei der politischen Durchdringung des Landes. Die herrscherlichen Hilfen begünstigten über die Priester hinaus deren Familien, denn das Brahmanentum konnte (und sollte) in der Sohnesfolge vererbt werden. Neben der direkten Bestiftung von Brahmanen, Brahmanenfamilien und Brahmanengruppen gab es in Indien wie im Zweistromland und in Ägypten Götterstiftungen; diese richteten sich vordergründig an hinduistische Tempel. Aus dem Brahmanentum ist der asketische Hinduismus hervorgegangen und bildete zusammen mit Jainismus und Buddhismus eine Trias indigener Erlösungsreligionen, die zu den mächtigsten Erscheinungen der ‚Achsenzeit‘ gehören. Die geistige Wende wurde Mitte des ersten Jahrtausends vor unserer Zeit durch die Fixierung der ‚Upanischaden‘ eingeleitet. Der in Indien überkommene Gedanke der Wiedergeburt wurde bereits in den ältesten dieser Texte im Sinne eines endlosen Kreislaufes modifiziert und zugleich eine entschiedene Ethisierung im kosmologischen Denken vollzogen. „Was aus einem Mann wird“, so wurde nun gelehrt, „hängt davon ab, wie er handelt und sich verhält. Wenn seine Taten gut sind, wird aus ihm etwas Gutes werden. Wenn seine Taten schlecht sind, wird er sich zu etwas Schlechtem wandeln.“ Wer gute Werke vollbrachte, dem war die Wiedergeburt als Brahmane oder als Angehöriger des oberen Beamten- oder Händlerstandes verheißen; Menschen von schlechtem Verhalten mussten hingegen darauf rechnen, aus dem schmutzigen Schoß eines Hundes oder einer ausgestoßenen Frau wiedergeboren zu werden. Durch gute Werke sammelt der Einzelne Verdienste an, was ihm schon im Diesseits zugutekommen und Erlösung bringen kann. Keine der indischen Religionen kennt allerdings wie Ägypten das postmortale beziehungsweise endzeitliche Gottesgericht, so dass der guten Tat eine automatische Vergeltung zugeschrieben wird. Wer also beispielsweise einen Brahmanenpriester oder einen hinduistischen Tempel beschenkte, erwartete das Heil nicht als göttliche Gegengabe, er war aber auch auf keine Fürbitten seiner Adressaten angewiesen. Totenstiftungen und Memoria, wie in Ägypten und nichtindischen Erlösungsreligionen, waren auf dem südasiatischen Subkontinent im Wesentlichen unbekannt.

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In scharfer Abgrenzung zum Ritualismus des alten Brahmanentums, aber auf der Grundlage der Tat- und der Wiedergeburtslehre entstanden bald nach den ersten Upanischaden die beiden Asketenreligionen des Jainismus und des Buddhismus. Stiftungen zu Gunsten der Mönche und Nonnen stellten eine weltgeschichtliche Erfindung dar. Mahāvīra, der Begründer des Jainismus, lebte im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, der Buddha könnte sein Zeitgenosse gewesen sein oder eher einer etwas späteren Epoche angehört haben. Die Jaina-Quellen bezeichnen Mönche und Nonnen als die „Bindungslosen“ und die „Frommen“, aber auch als die Almosen Begehrenden. Nach ihren Regeln sollten die Mönche auf ständiger Wanderschaft sein und von den Laien – den „Hausbewohnern“ – mit Nahrung und in der Regenzeit vorübergehend mit Obdach versorgt werden. Die Laien konnten analog zu den Mönchen „Kleine Gelübde“ ablegen, die aber den praktischen Erfordernissen des weltlichen Lebens angepasst waren. Das fünfte dieser Versprechen sah Spendenfreudigkeit und die Vermeidung großen Reichtums vor. Die Jaina-Mönche waren den Laien zu einer Gegenleistung verpflichtet, die in deren Belehrung bestand. Die radikale Unbehaustheit und Armut ließ eigentlich keine Stiftungen an Jaina-Mönche und -Nonnen zu. Trotzdem sind im mittelalterlichen Jahrtausend auch Tempel- und Klosterstiftungen für sie bezeugt. Die Stifter konnten freilich auf diesem Weg nur ihre Aussichten auf eine bessere Wiedergeburt erhöhen, nicht aber etwas für ihr Seelenheil tun. ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ wie später im Christentum hatten im religiösen System des Jainismus überhaupt keinen Platz; Erlösung war nur möglich durch radikale Askese, die bis zum freiwilligen Hungertod führen konnte. Statt ewiger Wiedergeburt strebte der Jaina-Mönch das vollkommene Erlöschen als Befreiung von jeder stofflichen Substanz an. Die Befreiung der Seele zielte auf die völlige Bindungslosigkeit zur Welt einschließlich der Liebe, denn diese wecke Begehren; dies gilt auch von einer Gottes- oder Nächstenliebe. Mit dem Jainismus teilt der Buddhismus das Streben nach Erlösung als Befreiung von der Welt, und hier wie dort steht die Gemeinschaft von Mönchen und Nonnen im Zentrum des religiösen Lebens und der Lehrtradition. Sein Gründer Siddhārtha Gautama hatte im Alter von 35 Jahren die ‚Erleuchtung‘ erlangt und sich so den Ehrennamen ‚Buddha‘ verdient. Er hatte sechs Jahre zuvor seine Familie und Heimat verlassen, um als wandernder Bettelmönch die Unsterblichkeit zu suchen – nicht im Sinne eines ewigen Lebens wie die Christen oder Muslime, sondern in der Befreiung von der unendlich langen Reihe leidvoller Existenzen. Das nirvāṇa, das er wohlgemerkt schon zu Lebzeiten und als junger Mann erreicht hatte, bestand in dem Verlöschen von Gier und Lebensdurst, Hass und Verblendung, und sollte bei seinem Tod als Achtzigjähri-

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ger mit dem Ende aller Körperfunktionen nur noch in das endgültige Nirvāṇa übergeführt werden. In der zweiten Hälfte seines Lebens widmete er sich dem Bemühen, schlechthin alle Wesen zum Nirvāṇa zu führen. Nach seiner Erfahrung, Überzeugung und Lehre konnte freilich nur jeder Mensch selbst zur erlösenden Einsicht gelangen, dass alles vergänglich, leidensvoll und ohne dauerhaften Kern sein, dass also kein Gott und auch kein Mitmensch ihm dabei helfen könne. Der von ihm nach enttäuschenden Ergebnissen extremer Askese entdeckte ‚mittlere Weg‘, war nur im religiösen Orden zu beschreiten. Dagegen kann der Laie die Erlösung grundsätzlich nicht erreichen. Im Gegensatz zum Brahmanismus und Hinduismus, die an die Existenz eines dauerhaften, ewigen Selbst glauben, lehnte der Buddha die Vorstellung von einer Seele radikal ab. Menschen, die wie die Laien freigebig waren, sittlich handelten und gute Taten vollbrachten, hofften noch auf eine gute Wiedergeburt nach ihrem Tod, hielten also am Glauben an das eigene Selbst fest. „Der Glaube an ein ‚Ich‘ ist jedoch nicht zu vereinbaren mit buddhistischer Erkenntnis, der Überwindung des Begehrens und dem Weg zum Nirvana.“ Wie im Jainismus sind die Mönche und Nonnen im Buddhismus auf die Hilfe der ‚Haushalter‘ angewiesen, die sie mit Almosen, Kleidung, Schlafstätten und Medizin versorgen; allerdings waren sie selbst, im Unterschied zu den Jaina-Mönchen, nicht zur persönlichen Armut verpflichtet. Die Gegenleistung der Asketen für die Gaben der Laien bestand wiederum in deren Belehrung. Auf die Verbesserung ihrer Wiedergeburt als Lohn erworbenen Verdienstes sahen sich die Laien auf Dauer aber nicht beschränkt. Am Ende des ersten vorchristlichen Jahrtausends bildete sich eine neue Form des Buddhismus heraus, der „Großes Fahrzeug“ genannt wurde und sich polemisch vom älteren „Kleinen Fahrzeug“ absetzte. Die Anhänger verpflichteten sich, die Laufbahn eines künftigen Buddhas einzuschlagen. Im Unterschied zum Buddha selbst und seinen ersten Schülern wollten sie den Eingang ins Nirvāṇa auf unvorstellbar lange Zeit aus Mitgefühl hinausschieben und unzählige Existenzen durchlaufen, und zwar, um möglichst vielen Menschen auf ihrem Weg zur Erlösung helfen zu können. War im frühen Buddhismus noch die Vorstellung verbreitet gewesen, dass Gaben lediglich für ‚würdige‘ Empfänger bestimmt sein sollten, spielte die Unterstützung von Bedürftigen im Māhāyana eine zentrale Rolle. Die Selbsterlösungslehre ist hier eine überaus eindrucksvolle Verbindung mit der ebenfalls buddhistischen Idee des Mitleids eingegangen, welche im Allgemeinen kennzeichnend für Achsenzeitkulturen ist. Stiftungen dienen im Buddhismus nicht der Erlangung des Seelenheils, konnten aber als Wohltaten die eigenen Verdienste vermehren und die Aussicht auf transzendente Auslöschung verbessern. Auch wenn der Buddha gelehrt hatte, dass jeder Mensch nur aufgrund eigener Leistungen das Nirvāṇa gewinnen kann, lassen sich

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schon im älteren Buddhismus Gedanke und Praxis der Verdienstübertragung verifizieren; das belegen etwa Stiftungsinschriften an religiösen Bau- bzw. Bildwerken in Uttar Pradesh. Typisch für den jüngeren Buddhismus war, dass die Frommen das Heil auch für ihre Familienangehörigen und schließlich für alle Wesen erlangen wollten. Der Mönch wurde hier zum Dienstleister des Heils auch für andere. Durch die Laien wurde er in die Lage versetzt, Verdienst zu erwerben, das wiederum auf diese übertragen werden konnte. Insbesondere mit der Stiftung von Klöstern ließ sich spirituelles Kapital erwerben. Auch wenn sich die Erlösung, die Christen und Muslime von Stiftungen dieser Art erhofften, fundamental von denen der Inder unterschied, näherten sich Motive und Formen der religiösen Stiftung insbesondere im Buddhismus des „Großen Fahrzeugs“ deutlich denen der westlichen Religionen an. Anders als in Ägypten waren die Könige in Indien nicht die Hauptadressaten kultischer Stiftungen, und keine Rede kann davon sein, dass Stiftungen hier den ‚Staat‘ hervorgebracht hätten. Da keine Reichsreligion entstand, bedienten sich die Herrscher aller religiöser Gemeinschaften, indem und weil sie sie durch Stiftungen förderten; dabei trat sogar ihre persönliche religiöse Präferenz zurück. Wiederum anders verhielt es sich in China. Als Schlüsselbegriff für ‚stiften‘ gilt hier gongyang, „Nahrung darbringen“, der sich „im ursprünglichen chinesischen Kontext auf die Versorgung der Eltern im Alter bezog, im weiteren Sinn aber auch Speiseopfer an Ahnen und Gottheiten bedeutet“. Zum chinesischen Staatskult, denn von diesem muss für alle vormodernen Zeiten die Rede sein, gehörte dementsprechend neben der Verehrung himmlischer und chthonischer Mächte durch den Herrscher oder seine Beauftragten der Ahnenkult des jeweiligen Herrscherhauses. Seine klassische Ausprägung hat der chinesische Ahnenkult um 1000 vor unserer Zeitrechnung erfahren. Den Praktiken dieser Periode lag die Annahme zu Grunde, dass „die Geister verstorbener Vorfahren über außergewöhnliche Kräfte verfügen. Man glaubte, dass die Ahnen ihren Kindern und Kindeskindern prinzipiell wohlgesonnen seien, ja ihnen zu Wohlstand und Ansehen verhelfen konnten; jene wiederum mussten sich die Gunst der Ahnen durch korrekte und pünktliche Verrichtung der Opferriten immer wieder von neuem verdienen. Vorfahren und Nachkommen lebten somit in einer Symbiose miteinander, in der die Lebenden ihre Ahnen durch Speiseopfer, und jene ihre Nachkommen durch Einwirken auf die Naturkräfte am Leben erhielten“. Die Opfer wurden durch rituelle Mahlzeiten vollzogen, bei denen sich ein Familienmitglied im Ahnentempel aufstellte und die Ahnengeister ein menschliches Wesen als Medium benutzten. Die Sphären von Lebenden und Verstorbenen bildeten eine Einheit, wie es für kosmisches Ganzheitsdenken ohne Transzendenzerfahrung typisch ist, aber mit Stiftungen konnte der Mechanismus von Gabe und Gegengabe bekräftigt werden.

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Eine deutliche Neuorientierung im chinesischen Denken datiert die Forschung ins mittlere erste Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Symptomatisch sei dafür ein nachlassender Grabkult gewesen; statt auf die Kommunikation von Lebenden und Toten sei es jetzt stärker auf die Trennung beider Sphären angekommen, was auf die Erfahrung der Transzendenz hindeutet. Emblematisch für den Umbruch stehen die ‚Gespräche‘ des Konfuzius (gest. 479 vor unserer Zeitrechnung), die entweder auf diesen selbst oder dessen Schüler zurückgeführt werden müssen. ‚Konfuzius‘ lehnte den Ahnenkult keineswegs ab, entzog sich aber klaren Aussagen über die Welt der Geister und Götter, um desto energischer auf die Pflichten gegenüber Mitmenschen, ‚Gesellschaft‘ und ‚Staat‘ hinzuweisen. Fragen nach dem transmortalen Dasein selbst soll Konfuzius dagegen ausgewichen sein. Schüler und Familie sorgten indessen für sein Andenken in Qufu, wo Konfuzius geboren und begraben worden war; entscheidend für den Konfuzius-Kult wurde schließlich die Zuwendung der Kaiser. Der Gründer der Han-Dynastie war um 200 vor unserer Zeitrechnung der erste, der am Konfuziustempel persönlich opferte. Die folgenden Herrscher statteten die Nachkommen des Konfuzius mit erheblichen Ehren und Ländereien aus; bald verfügten sie über 3.800 Haushalte, die ihnen für die Opfer an Konfuzius in ihrem Tempel übertragen worden waren. Später, 1368 unserer Zeitrechnung, spendete Kaiser Ming Taizu allein knapp 100.000 Morgen Land. Zweifellos handelte es sich bei diesen materiellen Ausstattungen des Konfuzius-Tempels von Qufu um Stiftungen, die freilich ‚nur‘ einem diesseitigen Gedenken dienen und die lebenden Angehörigen des Beistandes ihres Ahnen versichern sollten. Die Signatur der ‚Achsenzeit‘, die sich bei ‚Konfuzius‘ trotz Festhaltens an der Ahnenverehrung an der entschiedenen Hinwendung zur innerweltlichen Ethik festmachen lässt, prägte auch den Daoismus mit seinen grundlegenden Schriften. Das eine Werk, das ‚Daodejing‘, geht mit seinen ältesten Schichten wohl ins 4. vorchristliche Jahrhundert zurück. Hier wurde dem alten chinesischen Begriff ‚dao‘, ‚Weg‘, ‚Methode‘ oder ‚Lebensregel‘, die neue Bedeutung der ‚Letzten Wahrheit‘ gegeben; man fasst es nun auch als das ‚Eine und Transzendente‘ oder das ‚Unsichtbare‘ auf. Es ist also die Erfahrung der zerbrochenen Einheit, die Erfahrung der Transzendenz, die den Ausgangspunkt für die Lehre des ‚Daiodejing‘ bildete und den Daoismus bestimmt hat. Das zweite wichtige Grundlagenwerk, das ‚Zhuangzi‘, stammt von dem Gelehrten Zhuang Zhou, der 290 vor unserer Zeitrechnung gestorben ist, und anderen Verfassern. Im Unterschied zum ‚Daodejing‘ wendet sich das Buch von „Meister Zhuang“ nicht an den Herrscher, sondern mit Ratschlägen und Geschichten zur rechten Lebensgestaltung an jeden Menschen. In tiefer Versenkung soll das Individuum sich selbst

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verlieren, um den kosmischen Strom des Dao als eigentliche Wirklichkeit zu erleben. Diese Tendenz zur Leere und Selbstvergessenheit steht natürlich diametral einer Auffassung vom individuellen Seelenheil entgegen, wie dies etwa die monotheistischen Religionen Christentum und Islam anstreben. Andererseits lassen sich den frühen Schriften auch Tendenzen der chinesischen Kultur zur Lebensbejahung des Einzelnen ablesen. Als der Daoismus in den ersten Jahrhunderten christlicher Zeitrechnung seine besondere Gestalt als Religion gewann, konnten deshalb auch gewisse Lehren und Techniken der Lebensverlängerung beziehungsweise des Strebens nach diesseitiger Unsterblichkeit einwurzeln. Seit den Anfängen des religiösen Daoismus wurden Tempel errichtet und gebraucht; vom 6. Jahrhundert und bis zur Gegenwart setzte sich ein daoistischer Klerus als Beruf mit ritueller Spezialisierung durch. Einen nachhaltigen Wandel im religiösen Leben Chinas, der auch das Stiftungswesen betraf, löste die Rezeption des Buddhismus aus. Die Lehren von den Wiedergeburten, den Höllenqualen und vom Verdiensterwerb sowie das Eindringen des Mönchtums haben auch den Daoismus tiefgreifend verändert. Die indische Lehre vom Vergeltungsmechanismus führte dem Einzelnen die Folgen seiner guten und bösen Taten vor Augen und lockerte seine familiären Verantwortlichkeiten; die Ahnen, von denen er nach alter chinesischer Überlieferung Hilfen und Wegweisungen erwartet hatte, wurden nun, in die Höllen verbannt, selbst seiner Hilfen bedürftig, um ihr transmortales Heil zu finden. Priester und Mönchen wuchs die Aufgabe zu, durch religiöse Kulthandlungen, Rezitationen und Bußwerke Verdienste zu erwerben, die sie auf andere, besonders auf Verstorbene, übertragen konnten. Im mittelalterlichen China erlangten buddhistische Klöster eine zentrale Bedeutung. Mit ihnen wurde ein dem einheimischen Denken ursprüngliches fremdes Element implantiert; wo der Einzelne ins Kloster eintrat, ist in der Überlieferung bezeichnenderweise vom „Austritt aus der Familie“ die Rede. Mit den buddhistischen Klöstern gelangten die buddhistischen Klosterstiftungen nach China; nach dem Vorbild der Buddhisten haben auch die Daoisten begonnen, sich als Mönche und in Klöstern zu organisieren. Die indische Klosterstiftung erfuhr also in China auch eine Imitation. Gaben an Priester und Mönche und damit auch Stiftungen dienten im Daoismus nach der Rezeption des Buddhismus mit seiner Verdienstlehre dazu, Gebete, Fürbitten und andere religiöse Leistungen zu erwirken, die dem postmortalen Heil des Spenders zugutekamen. Im Unterschied zum Buddhismus war das Endziel aber nicht das Nirvāṇa, sondern die Vereinigung mit dem Dao, in dem der Einzelne nicht verloren ging. Über die süd- und ostasiatischen Stiftungskulturen lässt sich zusammenfassend sagen, dass sie ursprünglich Anteil an den auch sonst verbreiteten Zwecken der Ahnen-

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und Götterverehrung hatten, nach der achsenzeitlichen Wende aber eher ethischen und humanen Zielen dienten. Auch wenn sie jetzt oft von Erlösungsreligionen geprägt waren, sollten sie einer Verlängerung des diesseitigen Lebens oder aber der Auslöschung der menschlichen Existenz, mindestens dem Aufgehen des Individuums im Ganzen oder All, dienen. Eine ganz andere Vorstellung vom menschlichen Heil, nämlich von persönlicher Glückseligkeit und gesteigertem Leben nach dem Tod, vermitteln die achsenzeitlichen Religionen des Westens; meistens hingen sie einem Eingottglauben an und manifestierten sich im Typ der ‚Stiftungen für das Seelenheil‘. Dessen erste Ausprägung ist im persischen Zoroastrismus zu suchen und begegnet besonders im Christentum und Islam. Es ist wichtig sich klarzumachen, dass die Wurzeln des okzidentalen Stiftungswesens seit dem Mittelalter insofern weniger bei ‚heidnischen‘ Griechen und Römern als bei mittel- und vorderasiatischen Erlösungsreligionen zu suchen sind. Wie in anderen Kulturen der Alten Welt hatten Götter- und Ahnenstiftungen auch in Griechenland und im römischen Reich Urformen von Stiftungen gebildet. Werke dieser Art begegnen bei den Griechen seit dem frühen 4. Jahrhundert v. u. Z., Stiftungen für die Toten seit dem 3. Jahrhundert. Seit dem Hellenismus war das griechische und römische Stiftungswesen auch von einer Erscheinung geprägt, die als Euergetismus bezeichnet wird. Damit ist die freiwillige oder moralisch gebotene Schenkung von Wohltaten an die Allgemeinheit, sei es des ‚Staates‘, sei es einer Stadt, gemeint; das Niveau der bedingungslosen Liebe zu Bedürftigen gleich welchen Standes und welcher Herkunft, wie sie später das Christentum verlangte, hat der Euergetismus nicht erreicht. Neben der Alimentarversorgung sowie dem Toten- und Erinnerungskult boten sich für religiöse Stiftungen noch in der römischen Kaiserzeit nur geringe Spielräume. Die öffentlichen Kulte waren eine staatliche Angelegenheit, und ohne Zustimmung der Magistrate konnten Bürger in diesem Sinne nicht tätig werden. Mit der Errichtung neuer Heiligtümer oder Kultbilder waren nämlich Belastungen der Staatskasse für den Unterhalt und die periodischen Feierlichkeiten verbunden. An gestifteten Ländereien für die Finanzierung von Priesterkollegien bestand wohl auch kaum Bedarf, weil diese viel beschränkter im Umfang waren als der Klerus in religiösen Systemen, wo dieser jeden Menschen erreichen sollte; überdies rekrutierten sich die heidnischen Priester oft aus wohlhabenden Familien, die auf ihren Lebensunterhalt durch Stiftungserträge gar nicht angewiesen waren. Anders als im heidnischen Rom sind ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ in Iran mindestens seit dem Reich der Sasaniden (221–642/651 unserer Zeitrechnung) nachgewiesen; sie sind aber von viel älteren Ideen geprägt, die auf die religiöse und ethische Reform des angeblichen Priesters und Propheten Zarathustra zurückgeführt werden.

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Dieser wird zu den Protagonisten der ‚Achsenzeit‘ gezählt, aber ob Zarathustra wirklich gelebt hat und gegebenenfalls dem ersten oder schon dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend angehört hat, ist in der gegenwärtigen Forschung umstritten. Zarathustra oder die anderen Autoren waren als Iraner Angehörige eines mit den Indern stammverwandten Volkes, das im dritten vorchristlichen Jahrtausend aus der asiatischen Steppe nach Süden gezogen war. Die ursprünglichen religiösen Vorstellungen und Praktiken dieser Hirten und Bauern glaubt die Wissenschaft durch Vergleich der ältesten persischen Überlieferung mit der altindischen Überlieferung erschließen zu können. Danach opferten die alten Iraner dem Feuer und dem Wasser unter Gebeten für die Seelen von Mensch und Tier: „Wir verehren unsere eigenen Seelen und diejenigen der Nutztiere, die uns ernähren, […] sowie die Seelen nützlicher wilder Tiere.“ Die Gaben, die vielen Göttern dargebracht wurden, sollten sowohl die Welt in Gang halten als auch das menschliche Leben positiv beeinflussen. Man glaubte, wie vermutet wird, an eine postmortale Existenz des Einzelnen, die durch die Nachlebenden zeitweise entscheidend beeinflusst werden konnte. Allerdings ging es wohl nur um die postmortale Existenz von Fürsten, Kriegern und Priestern, und auch nicht um ein ‚Heil‘ im Sinne eines gesteigerten Lebens als Gabe Gottes oder der Götter, sondern um dessen bloße Fortsetzung. Im Unterschied von einer Förderung des ‚Seelenheils‘ spricht man deshalb vom ‚Seelenkult‘ im Sinne einer Variante des Totenkults. Zarathustra soll die Offenbarung eines höchsten Gottes gehabt und einige fundamentale Änderungen durchgesetzt haben, die achsenzeitlich konnotiert sind. Im Mittelpunkt stand die Entdeckung des Individuums, das sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden und sich für seine Taten in einem endzeitlichen Gottesgericht nach ägyptischem Muster zu rechtfertigen hatte. Bahnbrechend war weiterhin die Botschaft, dass allen Menschen jeden Geschlechts und Standes der Zugang ins Paradies möglich, also das Heil für seine Seele erreichbar sei. Stiftungen hatten nun den Zweck, aber auch die Kraft, den Aufstieg der Seele wie durch Gebete und Opfer durch Leistungen der Wohltätigkeit auch postmortal zu fördern. Für die Verbreitung des Zoroastrismus waren die persischen Reichsbildungen entscheidend; eine Schlüsselrolle spielten wohl schon der Achämenide Kyros der Große (6. Jh. vor unserer Zeitrechnung) und dann besonders der Sasanide Ardašīr (3. Jh. unserer Zeitrechnung). In der Forschung ist wiederholt erörtert worden, ob das sasanidische das islamische Stiftungswesen beeinflusst hat, aber nur wenig hat man darüber nachgedacht, ob die zoroastrischen Stiftungen für die Seele auch Vorbilder der christlichen ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ oder für Stiftungen im Judentum gewesen sein könnten. Dabei hat es kulturelle Kontakte zwischen Persern und Juden beziehungsweise Griechen mindes-

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tens seit den Zeiten Kyros’ des Großen und besonders der Sasaniden gegeben. Eher auszuschließen ist lediglich das umgekehrte Verhältnis von christlichen Vorbildern für die sasanidische Praxis, da die Kirche kaum Stiftungen entgegennehmen konnte, bevor Kaiser Konstantin der Große die christlichen Gemeinden anderen Religionsgemeinschaften gleichgestellt und ihnen Vermögens- und Erbfähigkeit zugebilligt hatte. Schon im frühesten Christentum hat die Ausrichtung auf das jenseitige Seelenheil eine viel größere Rolle als im alten Judentum gespielt. Das ist natürlich für die Frage nach dem Aufkommen von ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ relevant. Allerdings hat sich die Idee des Seelenheils auch bei den Christen nur allmählich entfaltet. Jesus selbst widmete sich kaum der Auferstehungsfrage, da er die Ankunft des Gottesreiches in nächster Zeit erwartete. Auch Paulus lebte in der Zuversicht baldiger Auferstehung. Als den ersten Christen klar wurde, dass sich die Verheißung der Endzeit nicht sogleich erfüllen würde, mussten sie über den Verbleib der Verstorbenen nachdenken. Ein bedeutendes Ergebnis wurde die Annahme eines Zwischenaufenthalts der bußfertigen Seele nach dem Tod, so dass die Nachlebenden mit Gebeten und Gaben zu ihren Gunsten intervenieren konnten. Christlicher Norm gemäß konnte der Gläubige auf zweierlei Weise zum Seelenheil gelangen: durch die Barmherzigkeit Gottes oder durch eigene Leistung. Obwohl Jesus selbst lehrte, dass der Mensch vor Gott kein Verdienst erwerben könne, gab er das uralte Vergeltungsprinzip keineswegs auf, sondern empfahl seinen Jüngern das Gebet: „Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben“. Die Vorstellung vom vergeltenden Ausgleich drang bald wieder in den Vordergrund und bestimmte das christliche Denken über Himmel und Hölle. Gott wurde geradezu zum Schuldner gemacht, der menschliche Leistungen zu begleichen habe. Entsprechendes galt für den Sünder. Für das christliche Stiftungswesen bedeutsam wurde der Gedanke, das Seelenheil anderer Menschen mit Gebeten und guten Werken fördern zu können; diese Lehre entwickelte sich schon in der Frühzeit der Gemeinden. Neben Gebeten und Messfeiern wurden Almosen als Opfer für die Läuterung der Verstorbenen aufgefasst. Schon in der Frühzeit ihrer Geschichte gelang es der Kirche, sich selbst zum Adressaten frommer Gaben für das Seelenheil zu machen. Dazu kam, dass sich die Gemeinden der Christen von jeher zur Caritas verpflichtet fühlten und eine geordnete Liebestätigkeit entwickelten, die der Alten Welt in dieser Weise unbekannt gewesen war. Dabei sollte jedem Notleidenden ohne Ansehen der Person Barmherzigkeit erwiesen werden. Die Gaben konnten als einfache Schenkungen an die Kirche erfolgen, oder aber als Stiftungen, die auf Dauer caritatives Wirken aus dem unvergänglichen Stiftungsgut ermöglichen sollten. Sobald sie allerdings in die Verfügung der Kirche übergingen,

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konnte der Bischof Anspruch auf freie Verfügung erheben, so dass ein dauernder Stiftungszweck keineswegs gesichert blieb. Andererseits wurden fromme Stiftungen im Christentum stets auch von den Erben der Stifter oder durch Konfiskationen seitens der weltlichen Obrigkeit bedroht. Es war deshalb keineswegs allein überlieferungsbedingt, dass in Byzanz, dem christlichen Kaiserreich des mittelalterlichen Ostmediterraneums, die meisten Stiftungsdokumente für Klöster überliefert sind. Monastische Gemeinschaften hatten nämlich einen natürlichen genossenschaftlichen Selbstbehauptungswillen, der sie zum Widerstand gegen Übergriffe durch ‚Kirche‘ und ‚Staat‘ und deshalb auch zur Wahrung des Stifterauftrags prädisponierte. Ähnlich war es im Bereich der lateinischen Kirche des Westens. Auf der arabischen Halbinsel sind Stiftungen inschriftlich schon vor Aufkommen des Islam bezeugt; nachgewiesen sind religiöse Gaben für Götter und Priester, aber auch für den Totenkult. Als Grundlage kommen römische, hellenistische, jüdische oder sasanidische Einflüsse in Betracht, ohne dass Genaueres bekannt oder eine einheitliche Forschungsmeinung erreicht wäre. Wie mein Mitarbeiter Ignacio Sánchez festgestellt hat, fehlen Studien über einen Zusammenhang älterer Stiftungen mit dem muslimischen waqf. Andererseits hat sich neuerdings die Meinung durchgesetzt, dass die muslimische Stiftungen nach ihren Intentionen neben die christlichen ‚Stiftungen für das Seelenheil‘ gestellt werden können. Allerdings waren die dafür maßgeblichen Jenseitsvorstellungen besonders in frühislamischer Zeit ähnlich unklar wie im Christentum oder im Judentum. Heidnische Traditionen emphatischer Diesseitigkeit behaupteten sich neben der Offenbarung des schaffenden und richtenden Gottes, der Höllenstrafen und der Paradiesfreuden. Kein Zweifel besteht aber daran, dass auch im Islam die heilsbezogene Sorge für die Toten durch Gebet und Wohltätigkeit weit verbreitet war. Der Koran schärft zwar ein, dass jeder Einzelne im Endgericht für seine Taten und seinen Glauben Rechenschaft schulde, dass es nun zu spät sei, neue gute Werke zu verrichten, und ihm niemand zu Hilfe kommen könne; doch wurde in sunnitischer Überlieferung auch festgestellt, dass zu Lebzeiten vollzogene gute Werke auch nach dem Tod weiterwirken und das Schicksal des Wohltäters günstig beeinflussen könnten. In zahlreichen religiösen Texten werden Verwandten und Freunden auch verschiedene Hinweise gegeben, wie sie dem Verstorbenen seinen Aufenthalt im Grab angenehmer machen könnten. Unzweifelhaft haben im christlichen und muslimischen Stiftungswesen die Traditionen der römischen oder griechischen resp. hellenistischen Totenkult- und Götterstiftungen nachgewirkt, aber im interkulturellen Kontakt dürften vor allem Impulse des Zoroastrismus von Bedeutung gewesen sein. Die ‚Stiftungen für die Seele‘ beziehungsweise ‚für das Seelenheil‘ verbinden alle drei Religionen miteinander, und es ist

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kaum wahrscheinlich, dass sie sich zwei- oder dreimal unabhängig voneinander ausgebildet haben sollten. Die Trias der stark monotheistisch geprägten Religionen des Westens steht insofern den Stiftungen des asiatischen Ostens gegenüber, die zwar auch in der Achsenzeit eine entscheidende Neuausrichtung erfahren hatten, aber einem ganz anderen Bild vom Dasein und Menschenleben folgten. Zwischen beiden Hemisphären hat es ansonsten selbstverständlich Austauschbeziehungen gegeben, und für das stiftungsgeschichtlich bedeutende Phänomen des Klosters könnten sehr wohl indische Vorbilder seit dem 4. Jahrhundert über die ägyptische Wüste zu Griechen und Lateinern ausgestrahlt haben. Die religiösen Zwecke der Asketen, die Stiftungen unterstützen sollten, waren aber hier und da ganz verschieden. Auch die Stellung der Herrscher oder des ‚Staates‘ unterschied sich. Während im Alten Ägypten oder im heidnischen Rom noch religiöse Stiftungen nur dem Staatskult dienen sollten, duldeten indische und chinesische Herrscher einen religiösen Pluralismus, bedienten sich seiner und förderten ihn durch eigene Stiftungen. Die monotheistische Prägung des Westens bedeutete für religiöse Stiftungen im Prinzip immer auch eine enge Bindung an die staatliche Ordnung. Allerdings standen sie vor allem im christlichen Westen, mit Abstrichen aber auch in Byzanz ebenso im Spannungsfeld von ‚Staat‘ und ‚Kirche‘, was ihnen Freiräume verschaffte. Klöster, die sich tendenziell ebenfalls der Aufsicht von Patriarchen und Bischöfen zu entziehen suchten, wurden gerade deshalb die Prototypen christlicher Stiftungen. Ich schließe mit einem Blick auf das Judentum. Die Lage unterschied sich hier von den anderen betrachteten Kulturen dadurch, dass es keine Herrscher gab; auch eine Heilsvermittlerin wie die Kirche bei den Christen fehlte. Umstritten war unter den Juden, ob überhaupt andere zugunsten eines Menschen bei Gott intervenieren konnten. Selbst die Auferstehungsgeschichte aus dem Makkabäerbuch, mit der sich Gegengaben oder Memorialleistungen für Stiftungen zugunsten des Seelenheils begründen ließen, überzeugte nicht alle. Die Vorbehalte der Gelehrten lassen sich allerdings in der Stiftungspraxis kaum verifizieren; das ergibt sich nicht nur aus der unbefriedigenden Forschungslage, sondern vor allem aus der Sache selbst und der entsprechenden Überlieferung. Stiftungen waren im Judentum fast ausschließlich der Fürsorge gewidmet; als Empfänger der Gaben traten in aller Regel nicht die Armen und Bedürftigen selbst, sondern die Gemeinden beziehungsweise die Gemeindefonds in Erscheinung, die die Verwaltung und Distribution der aufgebrachten Mittel ausübten. Die Bezeichnung des Gemeindefonds heqdesh / qodesh, die vom Tempelschatz abgeleitet war, wurde auch für Stiftungen verwendet; ein eigener Begriff hierfür fehlte also. Eine Wechselbeziehung zwischen dem Stifter und dem Begünstigten, die die Stiftungen für das Seelenheil kennzeichnete, wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass die Gabe als

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besonders fromm und verdienstlich galt, wenn sie unbekannter Weise erfolgte. Außerdem kam im Judentum eine Stiftung (auch) durch mündliche Vereinbarung zustande, so dass es überhaupt nur wenige Urkunden gibt, in denen der Stifter seine Motive und Erwartungen hätte festhalten können. Ob es bei jüdischen Stiftungen um eine autochthone Geschichte geht oder ob sich diese unter dem Einfluss andersreligiöser Mehrheitsgesellschaften entfaltet haben, ist nur Region für Region zu klären. Im Falle von Aschkenas lassen die Einträge des Nürnberger Memorbuches von 1296 darauf schließen, dass bestimmte Gläubige zugunsten der Gemeinde Stiftungen getätigt haben, um durch Gott die Seelenruhe mit den Erzvätern im Paradies zu finden. Die Ähnlichkeit mit der reichen Überlieferung im christlichen Westen könnte dafür sprechen, dass sie lateinischen Vorbildern folgten. Es wäre indessen fahrlässig zu behaupten, dass das jüdische Stiftergedenken unter den besonderen Bedingungen des Judentums in Deutschland im hohen Mittelalter überhaupt erst entstanden sei. Listen von Wohltätern sind jedenfalls auch im Bestand der jüdischen Gemeinde von Fustat (Altkairo), also unter muslimischer Herrschaft, überliefert und sollen in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts zurückgehen. Diese Namenverzeichnisse waren stark familiär geprägt und lassen den Stifter nach mehreren Generationen seiner Vorfahren und als Ahn seiner Nachkommen erscheinen. Als ‚Memoriallisten‘ dienten sie dazu, im öffentlichen Gemeindegottesdienst rezitiert zu werden. Im Unterschied zu Nürnberg bietet die Geniza von Fustat auch eine Reihe von Stiftungsakten, zum Teil als letztwillige Verfügungen. Die Stifter oder Stifterinnen haben hier soweit erkennbar niemals die Hoffnung auf das Paradies oder die Gebetshilfe als Gegenleistung zum Ausdruck gebracht. Ein dritter Raum jüdischen Lebens ist das von christlichen Herrschaften bestimmte Spanien. Aus den neuerdings erhobenen Zeugnissen ergibt sich der eindeutige Befund, dass Zustiftungen für die caritativen Gemeindefonds und selbständige Stiftungen nach Art des muslimischen waqf „für meine Seele“, „für den Nachlass meiner Sünden“ oder „in der Hoffnung auf das ewige Leben“ errichtet wurden. Jüdische Stiftungen im christlichen Spanien beziehungsweise in Südfrankreich weisen allerdings keine Gebetsauflagen zum Totengedenken auf, wie sie in Aschkenas zu erschließen sind. Ich fasse zusammen: Die älteste Schicht des Stiftungswesens bezog sich auf Götterund Ahnenverehrung. Beide sollten durch Stiftungen zusätzlich gefördert werden. Man trifft sie zuerst in Ägypten und Mesopotamien an, später auch in China, Indien, im antiken Rom und Griechenland. Näher betrachtet sind die Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen, hier besonders zwischen dem Land am Nil und dem Zweistromland, nicht so stark ausgeprägt, dass sich ein Schluss auf ein- oder gegenseitige Abhängigkeiten aufdrängte.

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In den meisten Kulturen der betreffenden Jahrtausende und Jahrhunderte bedeutete die sogenannte Achsenzeit eine tiefgreifende Zäsur; statt Göttern und Ahnen wandten die Stifter ihre periodischen Gaben jetzt sich selbst, namentlich genannten anderen Personen und jedenfalls einem genau umschriebenen Kreis von Menschen zu. Zweck war das Nachleben im Diesseits, vor allem aber ein postmortaler Nutzen. Deutlich trennten sich hier zwei große Kulturkreise voneinander. Die indischen und chinesischen Religionen und ‚Weltanschauungen‘ sahen den Gewinn für den Stifter im Nachruhm und, was das Jenseits betrifft, in individueller Auslöschung oder in Leere und Selbstvergessenheit. Im Westen hingegen bildete sich in Ägypten und im persischen Zoroastrismus die Vorstellung von einem gesteigerten Lebensglück nach dem Tod heraus, die offensichtlich auch die jüngeren monotheistischen Religionen Vorderasiens geprägt hat. Die Stiftungsgeschichte von Zoroastrismus, Judentum, Christentum und Islam bildete deshalb bei allen Varianten in Form und Intensität der Jenseitsvorstellungen eine Einheit, die sich deutlich von derjenigen in Süd- und Ostasien unterschied. Historiker und Philosophen haben schon oft einen kulturellen Gegensatz zwischen Orient und Okzident beobachten wollen, und Publizisten und Politiker daraus nicht selten ideologisches Kapital zu schlagen versucht. Die vorgelegten Befunde zur Geschichte des älteren Stiftungswesens geben trotzdem Argumente für derartige Sonderentwicklungen im Osten und Westen. Anders aber als Herodot wissen wollte, verlief die Grenze hier nicht zwischen Griechen und Persern, sondern zwischen Iranern und Indern. Nachtrag. Während der Drucklegung ist das in Anm. 1 erwähnte Werk erschienen, auf dem der Beitrag beruht: Michael Borgolte, Weltgeschichte als Stiftungsgeschichte. Von 3000 v. u. Z. bis 1500 u. Z. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2017. In englischer Übersetzung 2019 bei E. J. Brill, Leiden.

Erasmus und Luther – Einheit und Differenzierung Europas Heinz Schilling

Johannes Helmrath ist in Aachen groß geworden. Das macht ihn zum Europäer von Kindesbeinen an. Allerdings zu einem Europäer, der „Europa“ nicht – wie bei Politikern und selbst bei Zeithistorikern inzwischen üblich – auf die „Europäische Union“ reduziert. Sein europäisch angelegter Bildungsgang ließ ihn tief in die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte des Kontinents, seiner Kultur und Zivilisation eindringen. In Zeiten von Brexit und Europa-Krise (was wiederum nur die Krise der Union meint) ist der Vorteil einer solchen sachlich weiten und zeitlich tiefen Perspektive offensichtlich. Denn „tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, und nur wer bereit ist, einen Blick in das scheinbar „Unergründliche“ zu werfen, vermag die langfristigen und vielschichtigen Voraussetzungen für europäisches Denken und Handeln auch und gerade in der Gegenwart sachgerecht auszuloten und in den Aufgeregtheiten der Gegenwart Gelassenheit des Urteils zu finden. Wie in so manchem, so stellte sich in der Epoche von Renaissance und Reformation auch die Frage nach Einheit oder Vielfalt Europas in einer neuen, neuzeitlichen Weise. So mögen die Überlegungen zu „Erasmus und Luther – Einheit und Differenzierung Europas“, die ich auf dem Jahresempfang 2017 der European-Law-School der Juristischen Fakultät an der Humboldt-Universität zu Berlin vortrug, geeignet erscheinen, den Gelehrten des Humanismus und der Renaissance zu ehren und ihm zu danken für fruchtbarte Jahre des Austauschs und der Anregungen über die Epochengrenze hinweg, die für keinen von uns beiden je eine Demarkationslinie sein konnte. Und wo es einmal zum Disput kam, wie vor Jahren bei der Frage, ob der geeignete Name für eine bedeutende Tübinger Publikationsreihe „Renaissance und Reformation“ sein dürfe, da siegten zwar aktuell meine Bedenken dagegen, so dass man sich auf „Spätmittelalter, Humanismus und Reformation“ einigte. Jenseits der Nomenklatur aber haben Helmraths nachklingende Argumente längst eine Conversio bewirkt, die mich die traditionelle Trennung von Reformation und Renaissance in Frage stellen lässt1. 1

Vgl. dazu meinen Katalogessay Renaissance und Religion. Die neue Welthaftigkeit des Glaubens, in: Schweizerisches Nationalmuseum (Hg.): Europa in der Renaissance, Metamorphosen 1400-1600,

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1 So sehr das Thema auf die Gegenwart hinzielt, so klar ist zu betonen, dass aus einer anderen Welt berichtet wird – aus der Welt des Umbruchs vor einem halben Jahrtausend. Aus einer Zeit der Suche nach neuen Ordnungsprinzipien auch und gerade hinsichtlich des politischen und kulturellen Zusammenlebens in Europa. Sie erinnert in manchem an unsere Gegenwart, vor allem bei der Orientierungssuche der durch den rasanten Wandel verängstigten Menschen. Ausgehend von dem Buch „1517 – Weltgeschichte eines Jahres“ des Münchener Beck-Verlags, haben Leitartikler und Kommentatoren führender Tageszeitungen auf Parallelen zwischen 1517 und 2017 hingewiesen. Dem ist allerding entgegenzuhalten, dass die Grundstrukturen der Vergesellschaftung und mit ihnen das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen andere als die heutigen waren. Die Epoche von Renaissance und Reformation ist von der Gegenwart durch den fundamentalen Wandel des Aufklärungszeitalters getrennt. Vor 500 Jahren war ein magisches Weltbild bestimmend, und zwar auch für die Gelehrten sowie die Fürsten und Politiker an Höfen oder in den Regierungskanzleien. Hexen, Dämonen und Teufel gehörten zur alltäglichen Realität, ebenso die Furcht vor ihrem Schadenszauber. Zeitgeschichte war Heilsgeschichte, das heißt sie wurde als Ausdruck des eschatologischen Ringens zwischen Gott und Teufel, zwischen Kindern des Lichts und Kindern der Finsternis gedeutet; als Ringen um Ordnung oder Unordnung im Diesseits wie im Jenseits, das jede Menschenseele direkt erfasste. Religion und Gesellschaft, Kirche und politische Ordnung waren strukturell verschränkt. Religion und Kirche waren allzuständig, in öffentlichen wie in privaten Räumen. Staatliche Institutionen im modernen Sinne gab es erst in Ansätzen – die Souveränität und das Gewaltmonopol waren gegen den zähen Widerstand älterer, vorstaatlicher Kräfte durchzusetzen und zu behaupten – gegen Adel, Ritterschaft und Klerus, aber auch gegen beharrende Tendenzen in Städten und Dörfern. Widerstand, Aufruhr und Rebellion lagen in der Luft, ebenso die Sorge von Gelehrten wie Politikern um die Einheit Europas. – Wiederum eine Parallele zur Gegenwart, auch wenn die Extreme – Aufruhr und Rebellion – kaum auszumachen sind. Zürich 2016, S. 35–42. – Der Vortragsstil ist im Folgenden weitgehend beibehalten. Für weitere Details und die Literatur verweise ich auf meine zuletzt erschienenen Bücher: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, 4. Aufl. München 2016; 1517 – Weltgeschichte eines Jahres, München 2017. Die Erasmuszitate wird der Kenner leicht zu identifizieren wissen. Nachgewiesen sind sie in meinem Beitrag: Erasmus und die politischen Kräfte seines Zeitalters, in: Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, S. 379–390.

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Nach außen, zwischen den Fürsten und Dynastien, war bereits im 15. Jahrhundert ein gnadenloser Konkurrenzkampf um den mächtepolitischen Vorrang entbrannt, und das in einem Moment, in dem die Osmanen auf dem Balkan und im östlichen Mittelmeer militärisch offensiv wurden. Europa durchlebte eine Phase endemischer Kriege – in Italien zunächst, zunehmend auch nordalpin. Und da Söldnerheere und moderne Kriegstechnik – Kanonen, Festungs- und Flottenbau zumal – sehr teuer waren, hatten die Untertanen auch fiskalisch zu bluten. Trotz der Fremdheit dieser Welt gilt, dass die Probleme, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, in dieser Umbruchzeit vor 500 Jahren ihren Anfang nahmen. Sich mit dieser Phase der europäischen Geschichte näher zu befassen, ist daher alles andere als l’art pour l’art. Das gilt für Luther und die Folgen der Reformation, denen 2017 besonderes Augenmerk geschenkt wurde. Es gilt aber auch für die Ordnung Europas, mit der ich mich heute näher befassen soll. Das wird in drei Schritten geschehen: Erasmus wird als früher Verfechter der europäischen Einheit vorgestellt, der Einheit so hoch ansiedelt, dass er dafür bereit war, seine geistige Unabhängigkeit und Freiheit aufs Spiel zu setzen (Kap. II 1). Als Gegenpol erscheint Luther, der die Einheit in Religion und Kirche, und damit dem strukturellen und kulturellen Kern alteuropäischer Zivilisation sprengte, weil für ihn Wahrheit und geistige Freiheit vor der Einheit stand (II 2). Schließlich ist das mit der Reformation geborene konfessionsfundamentalistische Mächteringen zu skizzieren, das um den geistig-religiösen wie weltlich-machtpolitischen Vorrang ausgefochten wurde, im Endeffekt aber das Prinzip etablierte, dass sich Europa nie in einen alles überwölbenden Machtstaat hineinzwingen ließ (II 3).

2 2.1 Erasmus Mit einer für Gelehrte bemerkenswerten politischen Klarsicht diagnostizierte der Humanistenfürst Erasmus von Rotterdam das Grundübel seiner Zeit: Die Christenheit oder Europa, was man damals noch gleich setzte, werde zunehmend vor den Gegensätzen und Partikularinteressen von Dynastien, Fürsten oder Völkerschaften zersetzt: Colliditur gens cum gente, civitas cum civitate, factio cum factione, princeps cum principe (Ein Stamm wird zum Zusammenstoß mit einem anderen Stamm getrieben, Stadt gegen Stadt, Parteiung gegen Parteiung, Herrscher gegen Herrscher). Auch die protonationalen Strukturen und Mechanismen innerhalb des um 1500 in voller Schärfe ent-

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brannten europäischen Mächteringens erkennt Erasmus klar: Angulus hostis est Gallo, nec ob aliud nisi quod Gallus est (Der Engländer ist der Feind des Franzosen, aus keinem anderen Grund, als weil er Franzose ist). Verantwortlich für diese Fraktionierung sind nach Meinung des Humanisten vor allem die Kirchenpolitiker, voran machtbesessene Päpste nach Art Julius’ II., dessen Kriegspolitik Erasmus mit beißendem Spott kritisierte – nämlich in dem 1513 oder 1514, also kurz nach dem Tod dieses Militärpapstes verfassten Dialogs Julius exclusus e coelis (Julius, des Himmels verwiesen). Den Gipfel der Perversion einer christlichen, auf Einheitlichkeit beruhenden politischen Ordnung in Europa sieht Erasmus dort gegeben, wo die Heere europäischer Herrscher und Mächte mit christlichen Symbolen gegeneinander losschlagen: vexilla crucem habeant (ihre Fahnen tragen das Kreuz); pugnat crux cum cruce, Christus adversus Christum belligertur (das Kreuz kämpft mit dem Kreuz, Christus führt gegen Christus Krieg). Anders als die Politiker, voran Kaiser Karl V., setzte der Humanistenfürst bei der Bekämpfung dieser Partikulartendenzen in der Christenheit aber nicht auf Macht und Krieg, sondern auf eine christliche Erziehung der Politiker und auf die Anziehungskraft des Friedens. Entsprechende Programme arbeitete er in den eingangs erwähnten Schriften Institutio Principis Christiani und Querela Pacis aus. Ihr politisches Credo beruht im wesentlichen auf dem christlich humanistischen Optimismus, dass Frieden und gute politische Ordnung in und zwischen den Völkern sich mehr oder weniger von selbst einstellen, wenn die Kräfte, die die gute, friedliche Ordnung verhindern als moralisch verwerflich dekuvriert sind. Es komme nur darauf an, den Politikern nachzuweisen, dass Krieg, Missgunst und Machtstreben dem wahren Glück und dem christlichen Leben schädlich sind. Die einzelnen Nationen oder Herrschaften Europas seien in Wahrheit nur gentes (Stämme) innerhalb eines einheitlichen Christenvolkes (populus Christianus). Die Menschen unterschiedlicher Sprache und staatlicher Zugehörigkeit seien nichts anderes als Brüder und Schwestern in Christo. Damit setzt der Rotterdamer der eingerissenen, Europas Einheit und Frieden bedrohenden Partikularität die Einheitsidee des „christlichen Volks“ entgegen, das die einzelnen gentes überwölbt. Vornehmster Ort der Einheit ist ihm die ecclesia, in der alle ihre Heimat und ihr Haus haben: eadem omnes habent domus. Wo der Kaiser politisch für die Einbindung der Einzelstaaten in ein christliches Universalkaisertum arbeitete und hierzu wo nötig seine deutschen, italienischen und spanischen Söldnerheere einsetzte, beobachtete Erasmus das wilde Geschehen aus seiner Gelehrtenstube heraus, um es in seinen inneren Widersprüchen zu entlarven und für sich und alle Menschen guten Willens nach Konzepten und Instrumenten zur Überwindung der aufgerissenen Gegensätze und Feindseligkeiten zu suchen. Es geht

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ihm darum, die neuen Kräfte der Partikularstaaten und ihres Ringens um Vormacht in Europa zu zähmen und damit die bedrohte Zivilität Europas zu retten. Nicht anders als für den Kaiser und die meisten Zeitgenossen, waren für Erasmus Zivilität und Christentum in Europa noch weitgehend identisch. Dementsprechend sah er die Türken als Fremde und Feinde an, und die Offensive des osmanischen Weltreiches auf dem Balkan und im Mittelmeer konnte er nur als vitale Bedrohung des Friedens in Europa beurteilen, der für ihn ja nur ein christlicher Friede sein konnte. Dennoch unterscheidet sich das Türkenbild des Erasmus wesentlich von dem in seiner Zeit üblichen Klischee. Denn anders als die politischen und kirchlichen Propagandisten, die ungeachtet oder gerade wegen der innerchristlichen Gegensätze die christliche Welt nach außen aggressiv gegenüber den heidnischen und angeblich besonders inhumanen Türken abgrenzten, nutzte Erasmus die Herausforderung durch das osmanische Reich vorwiegend, um den Christen einen Spiegel vorzuhalten – si cupimus Turcas ad Christi religionem adducere, prius ipsi simus Christiani (wollen wir die Türken zu Christen machen, seien wir erst selbst Christen). Unmittelbaren Erfolg hatte Erasmus ebenso wenig wie Karl V. Wie der Kaiser und sein Konzept eines Universalkaisertums, das Europa überspannen und befrieden sollte, so waren auch Erasmus und seine Einheitsvision historisch gesehen unzeitgemäß. Diese Konzepte waren nicht mehr geeignet, einem politischen Alltag Richtung und Ordnung zu weisen, der zunehmend von den partikularen, bald auch säkularen Kräften der Neuzeit bestimmt war und damit auf Differenzierung und Autonomie der einzelnen Glieder hinauslief. Die Neuordnung und der Friede Europas konnten auf absehbare Zeit nur noch auf Einzelstaatssouveränität sowie auf den Interessen und auf der Macht der neuzeitlichen Staaten basieren. Und selbst die kirchliche Einheit, die Erasmus leidenschaftlich als ein die einzelnen Stämme Europas einigendes Band beschwor, war genau betrachtet nur Fiktion. Als er 1517 zu Papier brachte: Pyrenaei montes Hispanos a Gallis sejungunt, at iidem non dirimunt Ecclesiae communionem („Die Pyrenäen trennen die Spanier von den Franzosen, aber sie heben nicht die Gemeinschaft der Kirche auf “), da waren beide Kirchen längst auf dem Weg hin zur spanischen beziehungsweise französischen Nationalkirche. Auch die Kirche hatte sich längst in Partikulareinheiten entlang politischer Grenzen von Herrschaften oder Staaten differenziert.

2.2 Luther In demselben Jahr, in dem Erasmus das Idealbild der Einheit beschwor, verfasste der Reformator Luther seine 95 Ablassthesen und löste die Reformation aus. Das brachte

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Europa – zunächst den protestantischen, bald aber auch den katholischen Ländern, in denen die Erneuerung durch die Tridentinischen Reformen wirksam wurden, die Wiederbelebung der Religion als heilsgeschichtlich gerichteten, existentiell gelebten und daher tief in die Gesellschaft hineinwirkenden Glauben. Die Religion kehrte mit ganzer Macht als Leitkraft in das private und öffentliche Leben Europas zurück. Das brachte keine De-Modernisierung, sondern bedeutete das Einlenken in einen von der Religion wesentlich mitgeprägten Modernisierungskanal. Durch Luther wurde die im Renaissance-Papsttum eingerissene Verweltlichung der Religion umgekehrt in eine prinzipielle Welthaftigkeit der Religion. Wichtigster und vornehmster Ort für den Glauben und das von ihm generierte Handeln waren nicht mehr Klöster, Abteien, Stifte oder andere Orte separierter Sakralität, sondern der Alltag in der Welt. Dort hatte der einzelne Christ wie die Christenheit insgesamt die Religion zu leben und sich in ihrem Glauben zu bewähren. Luthers Rechtfertigungslehre als theologischer Kern der Rebellion gegen die Papstkirche drang über den engeren religiösen Bereich hinaus und wurde folgenreich für Mentalität und Handeln. Die Wende von der mittelalterlichen Leistungs- zur evangelischen Gnadenfrömmigkeit auf der Grundlage des Sola gratia-Prinzips öffnete den Weg zur neuzeitlichen Berufsethik, die den Christenmenschen auf das ihm angemessene Handeln in der Welt lenkte. Die zuvor dem priesterlichen, vor allem mönchischen Leben vorbehaltene „Heiligkeit“ wurde gleichsam in die Welt hinein genommen und setzte dort im Dienst an der Gemeinde (ecclesia), der Familie (oeconomia) oder dem Staat (politia) eine Dynamik frei, die im Mittelalter durch die Sonderstellung der klerikalen Berufung (vocatio) für die Welt blockiert war. Allgemein- oder europageschichtlich betrachtet, war das ein entscheidender weiterer Schritt auf dem Weg zur Differenzierung Europas und der Christenheit, die sich lange zuvor angebahnt hatte und der sich Erasmus mit seiner skizzierten Beschwörung der ideellen Einheit der christianitas entgegenstemmte. Luther und die anderen europäischen Reformatoren, voran Zwingli und Calvin, gaben diesen Tendenzen einen entscheidenden, weil die religiös-kirchliche Zentralachse vormoderner Vergesellschaftung verändernden Impuls. An die Stelle der Einheitskirche traten die neuzeitlichen Konfessionskirchen auf der Basis unterschiedlicher Lehrbekenntnisse. Das war zugleich eine tiefgreifende kulturelle, ideologische und auch politische Neuordnung der europäischen Gesellschaften im Sinne von Differenzierung, Partikularität und auch Freiheit. In Nachfolge von Erasmus haben sich viele Humanisten auf Jahrzehnte hin zäh der Entscheidung für die eine oder andere der innerchristlichen Konfessionsparteiungen entzogen, bis auch sie sich schließlich den Kräften der Separation und Teilung nicht mehr entziehen konnten.

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Die von Luther ausgelöste konfessionelle, seit dem 18. Jahrhundert dann auch überreligiös weltanschauliche Differenzierung Europas brachte eine gewaltige Dynamik des Wandels hervor. Das bedeutete Gewalt und tiefes Leid im Innern wie zwischen den Staaten und Gesellschaften, zugleich aber auch jenen kraftvollen Motor der Freiheit des Denkens und des Handelns, der ohne die von Luther zugunsten der Wahrheit in Kauf genommene „Spaltung“ oder richtiger gesagt „Differenzierung“ der Christenheit nicht oder erst wesentlich später hätte angeworfen werden können. Das belegt nicht zuletzt das weitere Schicksal unseres anderen Kronzeugen: Wie wir sahen, war er bereit, zugunsten seiner christlichen Einheitsvision auf seine Freiheit zu verzichten. Genutzt hat das ihm und seinen Anhängern jedoch nichts. In Italien wurde er der Häresie bezichtigt und seine Schriften gelangten auf den Index; in Spanien verfiel er der damnatio memoriae, bildlich-symbolisch zu erfahren in einer frühen Enzyklopädie europäischer Denker, in der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts das Bild des Erasmus mit gewaltigen Strichen vernichtet wurde.

2.3 Mächtevielfalt statt Einheitsmacht Mit dem Auftreten Luthers erhielt die politische und religiöse Partikularisierung Europas eine entscheidende Vertiefung und Dynamisierung. Denn nicht anders als seine papstkirchlichen Gegenspieler setzte auch der Wittenberger seine evangelische Wahrheit absolut. Und so schlossen die lutherischen Territorien alle anderen Glaubensrichtungen aus – die päpstliche ebenso wie die anderen protestantischen, einschließlich der reformiert-schweizerischen, die Luthers Abendmahlswahrheit nicht anerkennen wollte. Die von Erasmus kritisierte innerchristliche Ideologisierung der religiösen Symbole schritt rasch voran, bis sie in den Konfessions- und Glaubenskriegen des frühen 17. Jahrhunderts den höchsten Grad an Feindseligkeit entfaltete. Katholiken zogen unter der Marienfahne und Protestanten unter dem Kreuz Christi gegeneinander zu Feld. Der Glaubenskrieg war zugleich Staatenkrieg um die politische Ordnung Europas. Wie beides eng zusammen gehört, tritt schlagartig vor Augen, wenn wir uns bewusst machen, dass dem 500. Reformationsgedächtnis binnen Jahresfrist das Gedächtnis an den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges vor 400 Jahren folgt. Auch das ein Ereignis von kaum zu unterschätzender europäischer Bedeutung, bis in unsere Tage. Entschieden wurde in diesem mörderischen, Europa selbst in den nicht direkt betroffenen Regionen wie Skandinavien hohen Blutzoll abverlangenden Krieg über nichts weniger als über drei Grundpfeiler moderner Zivilisation. Die Länder Europas lassen sich erstens durch keine noch so stark daher kommende

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Einheitsmacht unterwerfen – damals durch die Hegemonialmacht Spanien-Habsburg nicht, später durch Frankreich-Napoleon, und auch durch Hitler oder Stalin nicht. Zweitens war die infolge der Reformation aufgebrochene religiös-kulturelle Differenzierung auf Dauer gesichert und weitete sich rasch aus – auf die nicht-konfessionellen Kräfte innerhalb des Christentums wie Täufer, Böhmische Brüder oder Baptisten, aber auch auf nicht christliche Religionen, zunächst vor allem die Juden, schließlich auch auf Atheisten. Drittens wurde die Überwindung des religiösen Fundamentalismus, wie er sich ausgangs des 16. Jahrhunderts ausgebildet und dann in den Dreißigjährigen Krieg geführt hatte, durch die Abkoppelung von Religion und Politik in den großen Europäischen Friedensschlüssen zu Mitte des 17. Jahrhunderts überwunden, voran dem Westfälischen Friedensinstrument. Das war eine große Leistung der Juristen und des Römischen Rechts, das stets konfessionsneutral geblieben war. Aber auch eine Leistung der Religion selbst, die sich im Zuge des Kriegs-Chaos änderte, sich vom Lehr-Dogmatismus der Orthodoxie ab- und der Herzensfrömmigkeit des Pietismus oder Jansenismus zuwandte. Wenn die neuzeitliche Zivilisation Europas etwas eint, dann ist es die Ablehnung des religiösen Fundamentalismus, mag er an einzelnen, isolierten Orten, etwa in Nordirland oder jüngst im Kosovo, auch noch einmal auflodern.

3 Nachdem die skizzierte leidvolle Erfahrung Toleranz zur Norm erhob und auch zwischen den Staaten und Völkern nicht mehr Krieg und Machtkampf, sondern friedliche Zusammenarbeit und Abstimmung vorwalten, hat sich das markierte Unzeitgemäße in den politischen Ansichten des Humanisten Erasmus von Rotterdam ins Gegenteil gewendet: Seine Ratschläge und Konzepte, die im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts unsachgemäß oder gar utopisch waren, sind in unserer heutigen Welt längst selbstverständliche Richtlinien der Politik – zwischen den Kirchen und Religionen nicht anders als zwischen den Staaten und Völkern. Das erklärt auch, warum uns gegenwärtig Erasmus und die Humanisten, die lange Zeit eher wie Sonderlinge abseits von den vorherrschenden Kultur- und Geistesströmungen Europas gestanden haben, weit aktueller erscheinen als Machiavelli, Luther oder Ignatius von Loyola, deren auf geistige oder politische Abgrenzung und Machtentfaltung ausgerichteten Lehren über Jahrhunderte hin die Oberhand besessen hatten. Und doch – ohne Luthers persönlichen Mut zu abweichender Wahrheit und dadurch bedingter Sprengung des Einheitszwanges im strukturellen Kern der damaligen europäischen Zivilisation – nämlich Religion und römischer Kirche – wäre Euro-

Erasmus und Luther – Einheit und Differenzierung Europas

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pa heute nicht das, was es ist. Das moderne Europa ruht auf beidem, der Einheitssehnsucht eines Erasmus von Rotterdam und der von Luther erzwungenen Differenzierung des kulturellen Kerns, mit der Folge, dass Europa auch politisch keine Einheitsmacht duldet. Eine direkte Gebrauchsanweisung für das politische Handeln in den gegenwärtigen Turbulenzen der Europapolitik wird man aus unserem geschichtlichen Überblick nicht ziehen wollen. Eins ist allerdings klar: Wer die Geschichte Europas mit der Geschichte der Europäischen Union gleichsetzt, greift zu kurz. Er läuft Gefahr, die Grundlagen europäischer Identität in der Spannung zwischen Einheit und Differenziertheit zu verfehlen. Eine kluge Europapolitik wird sich weder der absoluten Einheit noch grenzenloser Differenziertheit verschreiben. Richtschnur könnte das sein, was der bedeutende Mailänder Dramaturg und europäische Kulturmanager Giorgio Strehler Ende des vorigen Jahrhunderts als den für Europa typischen Geisteszustand beschrieb „ein Land / eine Kultur ist nie anders zu denken als in Bezug zu den anderen Ländern / Kulturen.“ Ein solches Europakonzept gibt Raum für Differenzen wie für Einheit, in politischer und kultureller wie auch – in der gegenwärtigen Situation besonders wichtig – in religiöser Hinsicht zwischen den christlichen Konfessionen, die sich einst bis auf Blut bekriegt haben, aber auch für alle übrigen Religionen und Weltanschauungen, die sich denken und definieren nicht gegen die jeweils anderen, sondern „in Bezug auf “ sie, ohne damit die Unterschiede zu negieren.





Zur Wahrnehmung der Europäer durch die indigenen Völker Südamerikas in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts1 Gert Melville

Was wollten die Europäer eigentlich in dieser neu entdeckten Welt, die sie dann „Amerika“ nannten? In erster Linie wohl begehrten sie das Gold von „Indien“, von dem schon während des Mittelalters – und gerade auch auf der Iberischen Halbinsel – fortwährend die Rede war2. Bereits Columbus suchte es dann auf der Schildkröteninsel (Île de la Tortue, nördlich von Haiti), suchte gar die Insel des Goldes selbst mit Namen Baneque oder Baveque, von der ihm die Eingeborenen erzählten und auf der es angeblich einen Berg aus reinem Gold gebe3. Doch die Europäer sahen auch die landwirtschaftlichen Ressourcen, die schon Columbus auf der Insel Hispaniola bemerkte. Andere wiederum glaubten an ungeahnte Möglichkeiten des Handels, als sie schon bei den ersten Tauschgeschäften mit europäischem Plunder und indianischen Produkten, wie Goldschmuck, die hohen Gewinnspannen bemerkten. Fromme Menschen indes erkannten die Chance, den christlichen Glauben durch die Mission zu vermehren, andere brauchten das Abenteuer, die Gründung von Herrschaften, das Ausleben von Gewalt. Sie alle brauchten, erhofften, nutzten oder nahmen etwas von diesem Kontinent – und sie fragten nicht, ob sie auch das Recht dazu hatten gegenüber denen, denen dies alles gehörte. Sie fragten nicht, weil sie davon überzeugt waren, dass sie das Recht dazu besaßen4. Sie hatten den wahren Glauben, und der einzige Gott war mit ihnen. Sie hatten die besseren Waffen, hatten Pferde, die größeren Schiffe, das höhere Wissen, die brauchbarere Technik, die wirkungsvollere Politik. Die anderen, die Eingeborenen, 1

Dieser Beitrag ist die Überarbeitung und Erweiterung einer englischen Fassung, die in den Schriften der Academy of American Franciscan History unter dem Titel: The Native American Perception of Europeans in Early Travelogues of the 16th Century, in: Burns/Johnson (Hg.): Franciscans and American Indians, erscheint. 2 Zu der Hauptquelle und ihrer Verbreitung vgl. Gier: Alexandre le Grand. 3 Vgl. Gužauskytė: Christopher Columbus’s Naming, S. 94–102. Zu den Motiven der Reise des Columbus, bei denen Gold an vorderer Stelle stand, siehe im Überblick: Dyson/Christopher: Columbus. 4 Dazu schon Melville: Medieval Understandings, S. 49f. Zu der Gesamtentwicklung vgl. Todorov: The Conquest of America.

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waren die Heiden, die Wilden, die Primitiven, die Schwachen, deren Ordnungen sofort zerfielen, wenn sie angegriffen wurden. Columbus sah in ihnen noch die künftigen Untertanen seines Königs und die bald getauften Christen5, doch die Zeit ging rasch über ihn hinweg. Die Gewalttaten eines Cortés und Pizzaro, die Metzeleien, die Versklavung, die Seuchen stellten mehr dar als Verbrechen, sie waren die grausamen Symbole eines Antagonismus zweier Zivilisationen, welcher Millionen Menschen versklaven oder vernichten ließ. Es hatte nicht eine Kommunikation stattgefunden, die einander hätte aufnehmen und verbinden lassen, – wie es anfangs noch bei jenem Häuptling in der Karibik die Intention war, der sein ganzes Land mit Columbus hatte teilen wollen, weil dieser ihm vom Himmel geschickt worden sei6. Der Häuptling erlag einem Missverständnis, das jede echte Kommunikation von vorneherein verhinderte. Die gegenseitige Unkenntnis, die Vorurteile und die Unfähigkeit, das Wesen des Anderen zu verstehen oder verstehen zu wollen, hatten umgehend eine Kluft geschaffen, die beide Seiten zu nichts anderem treiben konnte als zur Konfrontation – zu einer sehr ungleichen, wie wir wissen7. Jedoch sprachlos und unreflektiert war zumindest die Seite der europäischen Invasoren nicht. Es gab schon von Anfang an – also im 16. Jahrhundert – eine nicht geringe Zahl von schreibenden Beobachtern, die immerhin genau aufzeichneten, was sie erlebten, sahen und hörten, und die durchaus in der Lage waren, die fremden Völker der Neuen Welt in ihrer Eigenart zu ergründen. Dies betraf vornehmlich die indianischen Hochkulturen, die etwa durch einen Pedro de Cieza de León († 1554), Toribio de Benavente, gen. „Motolinía“ († 1568), Diego Durán († 1588) oder Bernardino de Sahagún († 1590) – um nur einige Autoren zu nennen – gelehrte Analysen fanden, welche zudem sogar den zu erhaltenden Eigenwert der Ethnien anerkannten und sich dadurch den machtpolitischen Interessen der Konquistadoren oftmals substantiell entgegenstellten8. Neben diesen Schriften, bei deren Autoren ein hohes Maß an theologischer und staats- und gesellschaftskundlicher Bildung vorausgesetzt werden kann, gab es eine zweite Textsorte, die dagegen auf den ersten Blick überwiegend wie Groschenromane erscheinen mögen, wenn sie von den großen Abenteuern erzählen, von den Kämpfen mit Menschenfressern und Untieren, von langen Kriegszügen durch Sümpfe, Dschungel, Wüsten und Gebirge, von Plünderungen, Schändungen und Tötungen. Sie betrafen indianische Ethnien vornehmlich in Südamerika, die keine Staatswesen hervorge5 6 7 8

Kolumbus. Bordbuch, ed. Gewecke, S. 182, 185f. Ebd., S. 185. Für vertiefende Einblicke in die höchst komplexen Strukturen jener Begegnung von Europa und dem neu entdeckten Kontinent siehe Reinhard: Unterwerfung der Welt, S. 603–623. Siehe im Überblick Rössner (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte, S. 1–60.

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bracht hatten, vielmehr in Stammesverbänden organisiert waren und die dem Klischee entsprachen, das der Europäer jener Zeit mit dem Begriff der inferioren Wilden verband9. Ihr Zweck scheint im Besonderen gewesen zu sein, die Europäer zuhause unterhaltend zu informieren und für sich selbst Bewunderung zu erzeugen. Und doch lieferten solche Schriften, die in Gestalt von Reiseberichten oder allgemein Historien10 verfasst worden waren, auch genaue Beschreibungen von den Sitten, den Wohnverhältnissen, der Ernährung, den Ritualen und gesellschaftlichen Strukturen der Eingeborenen. Indes zu wahrer Kommunikation gehörte immer auch die Gegenperspektive – also die Wahrnehmung der Europäer durch die Eingeborenen. Bedauerlicherweise kennen wir sie nicht aus einem Schrifttum der indianischen Kulturen selbst. Zwar haben Autoren wie beispielsweise Bernardino de Sahagún auch über die Eroberung des Aztekenreiches geschrieben und sind dabei auf die erkennbaren Reaktionen und Haltungen der Azteken gegenüber den Europäern eingegangen11, aber eine indigene Autorenschaft indianischer Hochkulturen verlosch überall rasch nach deren Vernichtung. Wir sind also auf die Texte aus der Feder der europäischen Beobachter angewiesen, wollen wir wissen, wie diese wiederum von den Beobachteten empfunden worden sind. Ein zeitgenössisches Interesse daran sollte bestanden haben, kann man doch nur auf diese Weise das Verhalten eines Gegenübers differenziert deuten12. Um exakt dieses Problem wird es mir in meinem kurzen Beitrag gehen. Ich habe dafür folgende sechs Werke exemplarisch herangezogen: • Das Bordbuch des Columbus, das während seiner ersten Reise, die ihn 1492/93 zu den Bahamas, nach Cuba und Hispaniola führten, angefertigt hatte13. • Die Indianische Historia des Nikolaus Federmann aus Augsburg in Süddeutschland, der als Angestellter der Handelsgesellschaft der Welser im Norden Südamerikas tätig war. Er schrieb in diesem Werk über seine militärische Expedition in das Innere von Venezuela im Jahre 153014. • Die Wahrhafte Historie einer wunderbaren Schifffahrt, die Ulrich Schmidel aus Bayern verfasste. Dort wird der spanische Eroberungszug vom Rio de la Plata bis nach

9 Vgl. Bernheimer: Wild Men. 10 „Historien“ sind hier als eine Textsorte zu verstehen, die – abgeleitet vom griechischen ἱστορία (Nachforschung, Kunde) – empirisch gewonnene Erkenntnisse aus der Natur sowie dem menschlichen Sozial­leben wiedergibt und nicht zwingend auch geschichtliche Abläufe; vgl. Knape: Historie. 11 Siehe Bernardino de Sahagún. Historia de la conquista de Mexico. 12 Anregend dazu: Harms/Jaeger (Hg.): Fremdes wahrnehmen. 13 Diario del primer viaje de Colón, ed. Ramos Pérez/ González Quintana, hier deutsch zitiert nach Christoph Kolumbus. Bordbuch. Vgl. auch Jane: Four Voyages. 14 Niclaus Federmann. Indianische Historia; N. Federmanns und H. Stades Reisen, ed. Klüpfel.

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Paraguay geschildert, an dem er als Söldner zwischen 1534-54 teilnahm15. • Die Historia del Mondo Nuovo des Girolamo Benzoni, eines Abenteurers aus Mailand, der von 1541 bis 1556 die westliche Karibik, Mittelamerika und Peru bereiste und autobiographisch darüber erzählte16. • Die Historia von den nackten, wilden Menschenfressern. Sie ist ein Bericht des Hans Staden aus Hessen über seinen Aufenthalt in Brasilien als Kanonenschütze in portugiesischen Diensten während der Jahre 1548 bis 1555, wobei er in eine längere Gefangenschaft von Kannibalen geriet17. • Die Histoire d’un voyage fait an la terre du Bresil, die gelehrte und sich damit von den anderen aufgezählten Werken sich abhebende Erzählung einer Erkundungsreise nach Brasilien von Jean de Léry, einem calvinistischen Theologen aus Burgund, im Jahre 155718. Es kam mir darauf an, Berichte auszuwählen, die in ihrer Gesamtheit den südamerikanischen Bereich umgriffen und die zeitlich sehr früh angesiedelt sind, um tatsächlich möglichst erste, frische Reaktionen zu erhalten. Vor allem aber schien mir wichtig, sich auf Autoren zu stützen, die tatsächlich ihre persönlichen Erfahrungen des Alltags in den Vordergrund stellten. Denn es ist zu erwarten, dass dabei auch der Reflex des eigenen Handelns und Verhaltens bei den Eingeborenen thematisiert wurde, da dies schlicht das Überleben sichern konnte. Aber, um es vorwegzunehmen, die Ausbeute dieser ersten ‚Probebohrung‘ ist noch bemerkenswert gering. Obwohl die Reiseberichte bzw. Historien sehr ausführlich und teilweise mit ausgezeichneter Beobachtungsgabe über den Lebensstil der Indianer informierten, werden in seltenen Fällen explizite Äußerungen von Eingeborenen über Europäer berichtet, zumeist handelt es sich um Bemerkungen der Autoren über das Verhalten von Eingeborenen, aus dem wir dann Schlüsse über deren Meinung über die Europäer ziehen können. Vermutlich ist dieses Ergebnis meiner Studien bereits die wichtigste Antwort auf unsere Frage: Europäischen Beobachtern, die zwar intensiv mit dem Lebensalltag der Eingeborenen in Kontakt kamen, aber sich doch nur für eine gewisse Zeit auf dem neuen Kontinent aufhielten, gelang es kaum oder mangelte es an tieferem Interesse, sich in den fremden Verständnishorizont der Eingeborenen soweit hineinzuversetzen, dass sie tatsächlich ermessen konnten, inwiefern ihre eigene 15 Wahrhafte Historie, ed. Aymoré; in englischer Übersetzung: Conquest of the River Plate, ed. Dominguez. 16 Benzoni. History of the New World, ed. Smyth. Die historische Ausgabe von Venedig 1572 ist als Faksimile einfach zugänglich. 17 Staden. Brasilien 1548–1555, ed. Faber. 18 Jean de Léry. Brasilianisches Tagebuch 1557, Tübingen 1967 (deutsche Übersetzung). Die Originalausgabe von 1557 ist als Faksimile zugänglich. Vgl. Steinkohl: Die gottlosen Guten Wilden; Hupfeld: Zur Wahrnehmung, S. 65–139.

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Lebenswelt hinwiederum fremdartig und unverständlich wirken musste. Eingehendere Erkenntnisse über die Wahrnehmung der Europäer durch die Eingeborenen können indes vielleicht bei solchen Beobachtern festgestellt werden, die sich dauerhaft in der „Neuen Welt“ ansiedelten und von Berufs wegen sich mit der Denkweise der Eingeborenen auseinanderzusetzen hatten – also vor allem die Missionare. Aber auch hier hat sich die Forschung noch zu wenig mit der hier angesprochenen Sachlage auseinandergesetzt19. Zumeist blieb es bei Bemerkungen darüber, dass die Indianer nicht glaubten, was ihnen die Europäer von sich erzählten, und dass sie folglich lieber beim Staunen über deren unfassliche Erscheinung bleiben wollten. Hierfür gibt es tatsächlich einige aussagekräftige Beispiele. Im Bordbuch des Columbus beispielsweise wurde anlässlich des Besuches eines indianischen Häuptlings auf dem Schiff der Spanier, wo Columbus die Macht des Königs von Kastilien erklären wollte, gesagt: „Allein weder die an Bord der Karavellen befindlichen Indianer, die als Dolmetscher wirkten, noch der Häuptling selbst glaubten mir auch nur ein Wort, da sie alle fest überzeugt waren, dass wir Christen von Himmel herabgestiegen seien und das Königreich von Kastilien im Himmel und nicht auf Erden gelegen sei“20. Das mochte darauf zurückzuführen sein, dass die plötzliche Erscheinung, die anhand der großen Schiffe und bedrohlichen Waffen Überlegenheit suggerierte, auf den ersten Blick in keiner Weise zu durchschauen war und dass sie deshalb übergroße Furcht einflößten, wie z. B. Nikolaus Federmann über das Verhalten der venezolanischen Eingeborenen ausführte, welches generell bestimmt sei „von der Angst, dem Schrecken und Entsetzen vor den ungewohnten, nie zuvor gesehenen, bekleideten und bärtigen Leuten und ihren Rössern“21. Es war eine Furcht, die sich leicht zum besänftigenden Gefühl von überirdischer Bedeutung verschieben konnte, wie etwa bei jenen Dorfbewohner, die angeblich im Anblick von Columbus` Mannschaft riefen: „Seht euch doch die Männer an, die vom Himmel herabgestiegen sind, und bringt ihnen etwas zu essen und zu trinken“22. Doch an einer anderen Stelle bei Columbus wurde vermeintliche Spontaneität als Grund für diese falsche Erklärung dann doch wieder entschieden entkräftet: „Sie waren felsenfest davon überzeugt, dass ich und meine Leute vom Himmel heruntergekommen seien. Von diesem Glauben ließen auch jene Indianer nicht ab, die ich von den anderen Inseln – nämlich von den Bahamas – an Bord genommen habe, obzwar sie darüber entsprechend aufgeklärt worden waren“23. Eine solche Unsicherheit in der Einschätzung der Europäer bzw. die19 20 21 22 23

Gute Ansätze finden sich allerdings in dem Beitrag von Righetti: Indians. Kolumbus. Bordbuch, S. 167. Klüpfel: Reisen, S. 19. Kolumbus. Bordbuch, S. 52 Ebd., S. 181.

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ses Numinose, das ihnen anzuhaften schien, ist wohl auch die Erklärung dafür, dass die Europäer mit so großer Nachhaltigkeit immer wieder auf eine derart rasche Akzeptanz ihrer Dominanz bauen konnten – eine Akzeptanz, die die militärischen Erfolge erst möglich machten. Im Umgang mit religiösen Transzendierungen aber sollte man, insbesondere wenn man missionieren und die Seele der Menschen erreichen wollte, tiefer eindringen in das Verständnis vom anderen. Die zahllosen Bemerkungen in den europäischen Schriften, dass die Eingeborenen überhaupt nicht fähig seien für die Erkenntnis eines Gottes als höchstem Wesen oder eines Lebens nach dem Tode, zeigen deutlich, welchem Missverständnis man da auflief. Girolamo Benzoni erzählte denn auch24, wie einmal ein spanischer Grande im heutigen Nicaragua anwesenden Indianern die Vorzüge des Himmels verdeutlichen wollte, den der christliche Glauben eröffne. Die Indianer haben sich dies alles angehört und dem Dargelegten zugestimmt. Dann aber seien sie unbeeindruckt fortgegangen, weil sie gemäß ihrem Glauben auch bereits ein glückliches Leben nach dem Tod zu erwarten hätten. Welche Vorstellungen von der Religion der Europäer gab es auf der Seite der Indianer – abgesehen von der schon erwähnten Identifizierung der Europäer selbst mit Göttern? Gab es sie nur als Ergebnis einer missionarischen Tätigkeit mit der nötigen Tiefen- und Breitenwirkung25? Oder wurde der Europäer in der Frequenz ganz profaner Begegnungen nicht auch zwar oberflächlich, aber nicht minder wirkungsvoll in seinem religiösen Verhalten wahrgenommen? Hans Staden ist hierfür ein hervorragender Kronzeuge, denn er lebte monatelang in der extremen Situation als Gefangener von rituellen Kannibalen an der Küste Brasiliens. Seiner Erzählung nach rettete ihn sein Gott vor dem Schicksal, verspeist zu werden – oder genauer gesagt: rettete ihn der Gott, den die Eingeborenen für den seinen hielten. Nachdem er nämlich einmal vor einem Sturm zu Gott um Hilfe betete und daraufhin das Unwetter wieder abzog, forderten ihn die Eingeborenen pikanterweise immer wieder auf, seinen Gott um Unterstützung anzurufen, etwa z. B.: Sie kamen in meine huetten / begerten / Jch solte mit meinem Gott machen / das der regen auff hoerete / Dann wo es nicht auffhoerete / wuerde es jre pflantzung verhindern. / Dann jre pflantz zeit war da. Jch sagte es were jr schuldt / sie hetten meinen Gott erzuernet / das sie das holtz hetten außgeraufft. Dann bei dem holtz pflegte ich mit meinem Gott spraach zuhalten. Wie sie nun meynten dass die vrsach zu sein des regens / halff mir meines herrn sohn wider eyn Creutz vffrichten / es war vngeferlich vmb eyn awr nach mittage / nach der sonnen zu24 Benzoni. History, ed. Smyth. 25 Vgl. Righetti: The Indians.

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rechnen. Wie es auffgerichtet / wurde es von stundan widerumb schoen wetter / vnd war vormittage sehr vngestuemb / Sie verwunderten sich alle / meynten mein Gott thet was ich woelte26.

Die Eingeborenen sahen den Nutzen dieser persönlichen Beziehungen ihres Gefangenen zu einem Gott und sie sahen auch die Kommunikationstechnik in Form des Betens: Nun sehe ich / das du mit deinem Gott geredt hast, so sprach man ihn immer wieder an, und erzählte es in der Dorfgemeinschaft weiter: Wie wir nun inn die huetten kamen / sagten die beyde den andern Wilden / Das ich mit meinem Gott geredt hette / vnd sich solche ding begeben hetten / Solches verwunderten sich die andern27. Man nahm aber auch die Kraft dieses Gottes als eine besondere wahr, die die aller anderen Götter übertraf. Als Staden beweisen musste, dass er keiner von den verhassten Portugiesen sei, half sozusagen ihm in den Augen der Eingeborenen erneut sein Gott. Sein Gott sandte nämlich eine Seuche auf das Volk der Eingeborenen, weil Staden vermeintlich von diesen gequält worden war. Daraufhin wurde ihm gesagt: Auch so haben wir schon etliche Portugaleser gehabt vnd gessen / abere jr Gott wurd so zornig nicht / als deiner / Darbei sehen wir nun / das du keyn Portugaleser must sein. So liessen sie mich da eyn zeitlang gehen / sie wusten nicht wol wie sie es mit mir hatten / ob ich eyn Portugaleser oder eyn Frantzoß were. Sie sagten ich hette eynen roten bart wie die Frantzosen / vnnd sie hetten auch wol Portugaleser gesehen / aber die hatten gemeynlich alle schwartze baerte28.

Eine famose Schlussfolgerung, die zeigt, dass nach Ansicht jener Eingeborenen keineswegs alle europäischen Nationen, deren Vertreter (neben Portugiesen auch Franzosen und Spanier) vor der Küste Brasiliens aufgetaucht waren, die gleichen Götter besaßen – wie sie ja auch unterschiedliche Haarfarben besäßen. Eigene Vorstellungswelten sind also auch von der Seite der Indianer sehr bewusst auf die Europäer übertragen worden: hier die Stammesgliederung mit je eigenen Göttern, deren jeweils größere Kräfte direkt miteinander konkurrierten, wie es die Menschen untereinander auch taten. Ein gelehrter Mann wie Jean de Léry verglich diese religiösen Strukturen denn auch gar nicht so falsch mit der antiken Götterwelt29. 26 27 28 29

Hans Staden, c. 51, http://gutenberg.spiegel.de/buch/warhaftige-historia-5531/51. Ebd., c. 52, http://gutenberg.spiegel.de/buch/warhaftige-historia-5531/52. Ebd., c. 39 http://gutenberg.spiegel.de/buch/warhaftige-historia-5531/39. Jean de Léry. Brasilianisches Tagebuch, c. 17, S. 276–298 (mit dem Titel ‚Was man unter den Wilden als Religion bezeichnen könnte’); zum Begriff des Religiösen in den damaligen Diskursen vgl. Smith: Religion.

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Andererseits nahmen die Eingeborenen alltägliche Dinge der Europäer, die ihnen fremd waren, durchaus auch als solche wahr und sahen darin – weil sie sich sie nicht erklären konnten – oftmals Produkte des Übernatürlichen. So berichtete zum Beispiel Jean de Léry, dass die Eingeborenen, die selbst keine Ahnung von der Funktion einer Schrift hatten, es für Zauberei hielten, als er sich Notizen machte und später daraus vorlas. Wörtlich sagte er: „Die Indianer wussten, dass sich die Spanier miteinander verständigen konnten, ohne einander zu sehen, indem sie Briefe von einem Ort zum anderen schickten. Deshalb glaubten die Indianer, dass die Spanier entweder die Gabe der Weissagung besaßen oder dass die Briefe sprechen könnten.“ Und er wies sofort auf den praktischen Gewinn dieser erkannten Wahrnehmung hin: „Das führte dazu […], dass die Indianer, da sie fürchteten, überführt oder bei einer Missetat ertappt zu werden, durch dieses Mittel sehr gut bei ihren Pflichten gehalten werden konnten und nicht mehr wagten, die Spanier zu belügen oder zu bestehlen.“30 Andererseits durchschauten sie auch sehr rasch europäische Techniken, die sie anfänglich als Hexerei empfunden hatten, als durchaus auch mit ganz konkreten Mängel behaftet. Jean de Léry legte zum Beispiel dar, dass sie verdutzt über die Wirkung einer Hakenbüchse gewesen seien, da sie die Kugel nicht hatten fliegen sehen können, bald erkannten sie aber die Langsamkeit des Ladeprozesses und meinten, „dass sie mit ihren Bögen in kürzerer Zeit fünf oder sechs Pfeile verschießen könnten“31. Der gleiche Autor betonte auch immer wieder den hohen Grad der Aufmerksamkeit, der die Eingeborenen den ihnen fremden Gegebenheiten widmeten: „Ich möchte betonen, dass die Wilden bei allem, was man zu ihnen sagt, erstaunlich aufmerksam sind, ohne jemals zu unterbrechen.“32 Dies führte sogar dazu, dass Eingeborene im Fremden Eigenes, Vertrautes zu erkennen glaubten: Als er einmal lauthals einen Psalm gesungen hatte, seien drei Indianer hinter ihm hergelaufen. Nachdem die Melodie verklungen war, sei einer von ihnen vor Jean de Léry getreten und habe mit strahlendem Gesicht gesagt: „Du hast aber bezaubern schön gesungen. Dein wunderbarer Gesang hat mich an das Lied eines mit uns verbündeten Nachbarvolkes erinnert, und ich war hocherfreut, es zu hören.“33 Doch derartige Vorstellungswelten bezogen sich durchaus auch auf Wahrnehmungen der Codes des sozialen Verhaltens. Dazu ein Beispiel: Als man Staden nach seiner Gefangennahme eröffnete, dass er bald gebraten und gefressen werde, überfiel ihn begreiflicherweise schreckliche Angst. Die Reaktion der Eingeborenen beschrieb er später in seiner Historia. Die Eingeborenen hätten ihn genau beobachtet, wie er mit 30 31 32 33

Ebd., c. 17, S. 277. Ebd., c. 15, S. 255. Ebd., c. 17, S. 296. Ebd., c. 17, S. 295.

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Tränen in den Augen einen Psalm betete, und sie sagten: „Schaut nur, wie er um sein Leben fürchtet.“34 Dies gewinnt eine besondere Bedeutung vor dem Hintergrund (den auch Jean de Léry in gleicher Weise beschreibt), dass gefangene Eingeborene mit der gleichen Todesaussicht sich völlig anders verhielten: nämlich stolz, ja geradezu fröhlich zu sein, weil sich der Rache durch seine Stammesgenossen sicher, und mit einem rituellen Fest an der Vorbereitung seiner Tötung genüsslich teilnehmend. Staden – wie auch die anderen Europäer mit dem gleichen Schicksal – war für die Eingeborener ein kurioser Fall von Mensch, der gar nicht wusste, welche Freuden ihm durch sein Verhalten entgingen. Lässt man aber alle jene Berichte der Reisenden vor sich Revue passieren, so stand doch unbenommen eine Thematik immer im Vordergrund: jenes Ausnutzen, Nehmen und Erhoffen von dem neuen Kontinent, als ob es von vorneherein der eigene wäre. Raubzüge, Eroberungen und Landnahmen waren zweifelsohne die Tätigkeiten der Europäer, die vor allem anderen Unternehmungen den Betroffenen ins Auge stachen. Besonders deutlich wird dies anhand des Berichts von Ulrich Schmidel, wo es um die Besitznahme des Gebietes nördlich des Rio de la Plata ging und wo gewissermaßen Stamm für Stamm als unterworfen abgehakt wurde. Solche Unternehmen erzeugten Grausamkeit und Niederträchtigkeit auf beiden Seiten, manchmal aber auch Zeichen der Brüderlichkeit. „Wir blieben bei ihnen vier Tage, und diese Leute teilten mit uns ihre Armut, dergleichen wir auch mit ihnen“, schrieb Schmidel über einen kleinen Stamm in der Einöde des Mato Grosso35; über einem weiteren aber notierte er: „Die kamen uns auf Friedensweise entgegen, empfingen uns aber mit falschem Herzen.“36 Dort im Süden des Kontinents lernten die Eingeborenen die Europäer auch in einer anderen Ambivalenz kennen: als stark zwar, gleichwohl auch verletzlich. Buenos Aires und die davor liegenden Schiffe vermochten sie im Jahre 1541 zu zerstören, der Nimbus der Unbesiegbarkeit der Europäer war verloren gegangen37. Wir wissen aber nicht, wie die Eingeborenen dies beurteilten und inwiefern es das Bild vom Europäer dort verändert hatte. Schmidel hatte genug damit zu tun, seine eigenen Erfahrungen mitzuteilen. Doch es gab andere Darstellungen, die auch den Gefühlen der Eingeborenen angesichts der Unterdrückungspolitik der Europäer Raum gaben. Girolamo Benzoni zum Beispiel war ein Autor, der sogar die schärfste Kritik der Eingeborenen nicht zurückhielt. Indianer aus dem kolumbianischen Cartagena ließ er als Antwort auf die Verlesung eines Friedensangebots des spanischen Königs antworten, „dass sie die Freund34 35 36 37

Hans Staden, c. 20, http://gutenberg.spiegel.de/buch/warhaftige-historia-5531/24. Wahrhafte Historie, ed. Aymoré, S. 78. Ebd., S. 99. Vgl. ebd., S. 64f.

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schaft des Königs von Kastilien nicht wünschten und sie [die Unterhändler] baten, zurückzukehren, woher sie gekommen seien. Sie wünschten, dass nur gute Menschen in ihnen kommen, und nicht solche, die nicht anderes tun als Böses“38. An anderer Stelle präsentierte Benzoni die Verachtung, die den Europäern entgegengebracht wurde, noch drastischer. Ein gefangener Häuptling, so schrieb er, brachte gegenüber dem Gouverneur der gleichen Gegend diese Anklage vor: „Er könne sich nicht vorstellen, wie Christen so ein Geschlecht von Vipern seien, welche so ungeheuer Böses vollbringen, wo auch immer sie gehen. Er wundere sich nur, wie die Erde sie zu ertragen vermöge.“39 Vom Gott zum Teufel – eine beachtliche Karriere, die das Bild vom Europäer in Amerika in wenigen Jahrzehnten durchschritten hat. Eigenhändig zeichneten die Eingeborenen Amerikas ein solches Bild nicht, sie waren vor dem Urteil der Geschichte darauf angewiesen, dass dies ihre Beobachter für sie taten, die aus dem Kreis ihrer Feinde und Zerstörer auch dann kamen, wenn sie die Gewalttaten verurteilten. Die europäischen Autoren taten es aber nur nebenbei und zumeist ganz unbeabsichtigt. Einiges indes ließ sich daraus erkennen, wie wir sahen: anfängliche Verehrung, Missverständnisse, Sprachlosigkeit, Staunen und Verachtung, Zorn und Selbstverdemütigung sowie schließlich ein rasch wachsendes Maß an Durchblick gegenüber dem Verhalten und den Techniken der Europäer. Doch mit Sicherheit wird sich noch mehr finden lassen, wenn unserer Fragestellung einmal komplett und systematisch nachgegangen würde.

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Zur Wahrnehmung der Europäer durch die indigenen Völker Südamerikas

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It’s raining men, halleluja? Zur Transformation eines antiken historiographiegeschichtlichen Motivs in Modesto Lafuentes Historia general de España (1850–1866) Barbara Schlieben

Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht Modesto Lafuentes Bild der ersten großen „Reconquista“-Schlacht, das er Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner Historia general de España zeichnete. Dabei geht es um ein bislang kaum beachtetes Detail: um den Regen, der sich während der Schlacht von Covadonga – so will es Lafuente – über den Kämpfenden ergießt. Dieser Regen wird im Folgenden als die Adaption eines antiken historiographiegeschichtlichen Motivs gedeutet, mithin als Antikentransformation. Für Transformationen der Antike, verstanden als dynamische Prozesse „selektiver Aneignung“, in dem sich der „antike Referenzbereich ebenso wie die beteiligte Aufnahmekultur verändert“, hat mich der Jubilar in den vergangenen Jahren sensibilisiert1; ich hatte überdies die Freude, das Beispiel, das im Zentrum des Folgenden steht, mit ihm in Gesprächen auf dem Institutsflur zu diskutieren. Nach einer knappen Charakterisierung von Autor und Werk (1) soll zunächst gezeigt werden, dass und warum die Frage nach Antikentransformationen für Lafuentes Historia general de España bislang nicht auf der Hand lag (2). Vor diesem Hintergrund gilt es dann, die in Lafuentes Œuvre auf den ersten Blick kontraintuitive Transformation eines antiken, historiographiegeschichtlichen Motivs herauszuarbeiten (3), um so auf das spezifische Verhältnis von expliziter Antiken-Negation einerseits und ihrer Transformation anderseits hinzuweisen, das erst auf den zweiten Blick einen spezifischen ,Antikenbedarf ‘2 zu erkennen gibt (4).

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Vgl. zuletzt, das Konzept des Berliner Sonderforschungsbereichs „Transformationen der Antike“, dessen Sprecher er war, noch einmal resümierend: Helmrath: Transformation, Zitat S. 308. Siehe auch Bergemann u. a.: Transformation, S. 39. Helmrath: Transformation, S. 306.

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1 Lafuente war kein Unbekannter, als er die Arbeit an seinem opus magnum in Angriff nahm. Bereits in jungen Jahren hatte er sich als Journalist und Satiriker einen Namen gemacht. Sein ganzes Leben lang blieb er stets beides: Kommentator und Akteur des politischen Lebens auf der einen Seite (Mitglied der Kommission zur Ausarbeitung der neuen Verfassung, Mitglied der Union Liberal von O’Donnell, Vizepräsident des Kongresses in Astorga), Forderer und Förderer einer Professionalisierung der Geschichtswissenschaften auf der anderen Seite (Direktor der Escuela Superior de Diplomatica, Mitglied des Cuerpo Facultativa de Archiveros, Bibliotecarios y Anticuarios, Mitglied der Real Academia de Ciencias Morales)3. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Strömungen wird Lafuente als „liberal“ bzw. als „liberal-moderat“ charakterisiert4. Die Wirkmacht der monumentalen Historia general de España ist unstrittig: Publiziert in den Jahren zwischen 1850 und 1866 erfuhr sie rasch mehrere Neuauflagen. Zahlreiche städtische und universitäre Bibliotheken in Spanien subskribierten das Werk, das sich auch in zahlreichen Privatbibliotheken von Politikern und Militärs findet. Als Ausgangs- und Referenzpunkt für mehrere Schulbücher wirkte es bis weit ins 20. Jahrhundert. Entsprechend hat die Forschung Lafuentes Historia als „Bibel der Mittelklasse“ und „historiographisches Referenzwerk des 19. Jahrhunderts par excellence“ gewürdigt5. Sie wird mit der Sigle „romantisch“ belegt und damit in die generel3

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Zur Biographie siehe bes. Pérez Garzón: Biografía; sowie wegen der Quellen nach wie vor: Ferrer del Río: Modesto Lafuente; siehe auch: Pellistrandi: Escribir la historia; Esteban de Vega: Castilla, S. 90–92. Vgl. z. B. Hertel: Crescent, S. 23; Ríos Saloma: Reconquista, S. 157; García Cárcel: Introducción, S. 30; López Vela: Carlos V. – Lafuentes eigene Biographie sowie die vielschichtigen Begriffsnuancen von „liberal“ in Spanien seit Beginn des 19. Jahrhunderts lassen erahnen, dass diese Charakterisierung präzisiert werden müsste, umso größere Vorsicht ist geboten bei der Übertragung dieser Kategorie auf sein Werk. Zu den vielfältigen Liberalismus-Begriffen, die im Spanien des 19. Jahrhunderts früher als irgendwo anders in Europa Konjunktur hatten, vgl. die Studien von Fernández Sebastián: Introducción; Ders.: Liberales; Ders.: Espirítu; Ders.: Patriotism (hier insbesondere aus historisch-semantischer Perspektive); sowie die Beiträge des Sammelbandes: Cruz Romero/Sierra Alonso (Hg.): España liberal; und des Sammelbandes: García Monerris u.  a. (Hg.): Culturas; zur Herrschaftszeit Königin Isabellas insgesamt grundlegend: Burdiel: Isabel II. Esteban de Vega: Castilla, S. 87 u. 92 („caracter semioficial“); Asis López Serrano: Modesto Lafuente, S. 332 („una historia oficial“); Wulff Alonso: Esencias patrias, S. 107 („es muy difícil […] exagerer la importancia de su Historia“). – Zur Popularisierung: Peiró Martín: Difusión; López Facal: Nacionalismo; zu den Subskribenten: http://www.filosofia.org/ave/001/a270.htm [zuletzt abgerufen am 15.12.2017]; zu Privatbibliotheken in Madrid: Martínez Martín: Lectura; zum Fortwirken in Schulbüchern: Boyd: Historia patria; generell zur Bedeutung wie Einordnung von Lafuente neben der in Anm. 6 u. 7 genannten Literatur siehe auch Álvarez Junco: Mater, bes. S. 201–214; Álvarez Junco/Fuente: Relato, S. 266–283; López Vela: Numancia; Pellistrandi: Reflexiones, S. 750–752; Ders.: Escribir la historia, S. 139–150; García Cárcel: Herencia, bes. S. 398–403.

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len Tendenzen der spanischen Geschichtsschreibung jener Jahre eingeordnet, in der das Volk Protagonist wie Adressat historiographischer Arbeiten ist: Einer großen, entwicklungsgeschichtlichen Erzählung verpflichtet, in der die Vervollkommnung des spanischen „Volksgeistes“ kontinuierlich voranschreitet, vermag das Geschichtswerk dank seiner farbigen Darstellung die Essenz des spanischen Volkes einzufangen, den Leser so zu berühren und deshalb zu erziehen. Bei all dem wird dem Mittelalter ein zentraler Platz eingeräumt6. Mediävisten ist Lafuentes Historia nicht nur als ein Œuvre des Mediävalismus ein Begriff, sondern auch als einer der Basis-Texte für den „Reconquista-Mythos“ bekannt, der durch die Erfahrungen des „Unabhängigkeitskrieges“ gegen Napoleon zu Beginn des 19. Jahrhunderts an Kontur gewann: So wie das spanische Volk gegen Napoleon unter großen Opfern und zum Wohle ganz Europas vereint gekämpft hätte, so hätte es dies bereits im Mittelalter gegen die Muslime getan und Europa so vor der drohenden Ausbreitung des Islam beschützt – das ist Lafuentes Botschaft7. In Lafuentes Werk gerinnt die „Reconquista“ zum Epochenbegriff: Zwar überschreibt der Autor die fraglichen Bände mit „Mittelalter“, doch ist es in seinen Augen „diese unglaubliche Anstrengung, der wir den Namen Reconquista geben“8, die die Geschichte Spaniens in „natürliche Epochen“ einteile, in „ein Spanien vor und nach der Reconquista“9. Diese Epochensetzung lässt sich gut mit Lafuentes übergeordneter Lesart der Geschichte Spaniens in Einklang bringen: Kein anderes Volk habe so viele „Invasionen“ zu erleiden gehabt wie die Spanier10. Von diesen „Invasionen“ erscheint die muslimische Lafuente als besonders gravierend – einerseits, weil der Kampf gegen die Muslime sich so lang hinzog; vielfach spricht der Verfasser der Historia general in diesem Sinne von den „Jahrhunderten der Reconquista“11. Andererseits verlangt gera6

Zentral nach wie vor Moreno Alonso: Historiografía; Morales Moya: Historiografía; Cirujano Marín u. a.: Historiografía, S. 3–26; López Vela: Numancia; vgl. allgemeiner auch den Forschungsüberblick zur spanischen Geschichte der Geschichtsschreibung von Antolín Hofrichter: Historiography; europäisch vergleichend zu den Charakteristika romantischer Geschichtsschreibung zuletzt prägnant: Berger: Invention. 7 Vgl. hier und im Folgenden aus mediävistischer Perspektive: Jaspert: Reconquista; Ríos Saloma: Reconquista, S. 210–220; Ders.: Restauración, bes. S. 403–413; Hertel: Crescent, 20–22; Álvarez Junco: Mater, S. 119–185; 218; Álvarez Junco/Fuente: Relato, S. 272–274; zum Begriff des „Unabhängkeitskrieges“ für den Widerstand gegen Napoleon, s. Álvarez Junco: Invención; Ders.: Identity, S. 91–97. 8 Lafuente: Historia, Bd. 1, Prólogo, S. 6: ese esfuerzo gigantesco a que damos el nombre de Reconquista […]. 9 Ebd., Bd. 1, Prólogo, S. 13: La historia de España ofrece sin embargo períodos naturales […] la España antes y después de la reconquista. 10 Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 18: jamás pueblo alguno sufrió tantas invasiones. El Oriente, el Norte y el Mediodía, la Europa y el África, todos se conjuran sucesivamente contra él. 11 Vgl., Reconquista als langgestreckten Prozess gedeutet, z. B: ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 45: sig-

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de dieser Kampf den Spaniern besonders viel ab, weil die Muslime auf die Iberische Halbinsel gekommen seien, um dort „eine andere Religion, einen anderen Kult und eine andere Moral“ zu etablieren12. Die „Krieger des Koran“ wertet er deshalb als eine besondere Bedrohung, nicht nur für Spanien, sondern für die gesamte Welt13. Gleichwohl, Lafuente kann den Einwanderern im Allgemeinen und den Muslimen im Besonderen auch Positives abgewinnen: Auf lange Sicht und nachhaltig hätten sie nämlich die resistencia bzw. independencia der Spanier, und damit das für den Charakter des Volkes Typische, gestärkt14, wie Lafuente mit Verweis auf die rezente Vergangenheit belegt. So konnten die Spanier 1808 vereint gegen die Truppen Napoleons kämpfen „wie in den Jahrhunderten des Krieges gegen die Muslime“15 und die Welt auf diese Weise lehren, was es bedeutet, Widerstand zu leisten16. Lafuentes mutig vorgetragener Epochenentwurf sowie zahlreiche seiner Begriffsbildungen („Reconquista“ oder „Guerra de la Independencia“) sollten sich als langlebig erweisen. Der Verfasser selbst machte insbesondere in seiner Berücksichtigung arabischsprachiger Quellen sowie seinen umfangreichen Archivstudien den eigentlichen Fortschritt seines Werkes gegenüber der älteren Geschichtsschreibung aus17. Zeitgenossen wie spätere Forscher sahen indes seine Historia general überwiegend kritisch: Kaum Neues, das allerdings gut lesbar, habe der Verfasser in seinem Monumentalwerk zu sagen gehabt, so lautete und lautet bis heute die einhellige Meinung18. Doch lohnt sich ein frischer Blick in Lafuentes Historia general. So evoziert unser eigenes ,postsäkulares‘ Zeitalter zum Beispiel die Frage, was wir meinen, wenn wir von

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los de la reconquista; ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 9, S. 409: Tales eran los españoles de los primeros tiempos de la reconquista; ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 13, S. 462: estos primeros siglos de la reconquista; ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 16, S. 503: La reconquista avanza de los extremos al centro; Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 19, S. 544: los siglos de la reconquista; ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 25, S. S. 597: ¿Necesitaremos ya investigar las causas por que no progresaba como debía la reconquista? – Allerdings verwendet Lafuente reconquista auch für einzelne Eroberungen, s. z. B.: ebd., Bd. 2, Buch II, Kap. 5, S. 72: la reconquista de la importante plaza de Tortosa. Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 33: Vienen a imponer otra religión, otro culto y otra moral. Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 33: No la España sola, el mundo entero oyó absorto que los guerreros del Corán habían vencido a los soldados del Evangelio. Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 18. Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 87: como en los siglo de la guerra con los musulmanes. Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 88: España ha enseñado al mundo a resistir. Ebd., Bd. 1, Prólogo, S. 11: He visitado y examinado nuestros archivos, y principalmente los generales de las antiguas coronas de Aragón y de Castilla, establecidos el uno en Barcelona y el otro en Simancas; zu den arabischen Quellen Ebd., Bd. 1, Prólogo, S. 10. Baumgarten: Rez. Lafuente: Historia, S. 510: „er begnügt sich, in seiner leichten, klaren Weise das bisher Bekannte zu erzählen“ (hier mit Blick auf Band 21 u. 22), für weitere zeitgenössische Urteile: Asis López Serrano: Modesto Lafuente, S. 318; Álvarez Junco/Fuente: Relato, S. 267; Pérez Garzón: Memoria, S. 715; López Vela: Numancia, S. 205 u. S. 207.

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religiös motivierter Gewalt sprechen – eine Frage, die sich unter anderen Vorzeichen auch bei der Lektüre von Lafuentes Werk aufdrängt: Wer genau kämpft in dem mit „Reconquista“ umschriebenen Prozess gegen wen? „Soldaten des Evangeliums“ gegen „Krieger des Koran“, wie die oben zitierten Passagen nahelegen19? Inwiefern wären diese dann mit „Nation“ bzw. „Volk“ gleichzusetzen20, die bei Lafuente (wie überall in der Geschichtsschreibung in Europa in der Mitte des 19. Jahrhunderts21) die eigentlichen Protagonisten der Geschichtsschreibung sind? Fragen wie diese bedürften einer umfassenderen Analyse als sie hier geleistet werden soll. Doch lässt sich die folgende Untersuchung, die der Transformation eines antiken Motivs gilt, als Beitrag zu diesem Problemkomplex lesen.

2 Dass man bislang nicht nach antiken Motiven innerhalb der Historia general gesucht hat, lässt sich zunächst forschungsgeschichtlich erklären: Man hat den Geschichtsschreibern der Romantik stets einen besonderen Hang zum Mittelalter attestiert, den man auf Kosten der Antike verwirklicht sah22. Zwar hat Johannes Helmrath unlängst darauf hingewiesen, dass sich auch im 19. Jahrhundert Mittelalterforschung und die Suche nach Antikentransformationen avant la lettre keineswegs ausschließen mussten, bezeichnenderweise stammen seine Beispiele jedoch aus der Kunstgeschichte, nicht aus der zeitgleich romantisch gefärbten Geschichtsschreibung23. Für Lafuentes Werk lässt sich zunächst quantitativ (und durchaus in Einklang mit der traditionellen Sicht) konstatieren, dass die Antike mit drei knappen Büchern in einem Band, zu denen Lafuente interessanterweise auch noch die Herrschaft der Goten zählt, gegenüber dem Mittelalter, das immerhin zwei Bände und vier umfangreiche Bücher füllt, vergleichsweise wenig Raum einnimmt. Und auch qualitativ wird der Antike nicht ansatzweise jene Bedeutung für die spanische Geschichte zugemessen, wie sie der Autor der mittelalterlichen „Reconquista“ zugesteht. Zudem kommt die Antike bei Lafuente auffallend schlecht weg. Insbesondere Rom fällt – Napoleon-gleich – die Rolle einer unrechtmäßigen Invasorin zu, die das nach Unabhängigkeit strebende spanische Volk auf dem Weg der Selbstperfektionierung 19 Vgl. oben, Anm. 13 (Zitat) u. Anm. 12. 20 In diesem Sinne, nämlich als gleichsam ‚säkularisierte‘ Auseinandersetzung möchte Riós Saloma, Reconquista, die Begriffsbildung von Lafuente verstanden wissen; vgl. auch Jaspert, Reconquista. 21 Vgl. oben, Anm. 6. 22 Vgl. Riós Saloma: Reconquista. 23 Helmrath: Transformation, S. 298–302.

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gehindert habe24. In Lafuentes Lesart sind die Iberer und die Kelten die wahren „Schöpfer des spanischen Charakters“25, weil sie sich in Sagunt gegen Hannibal, in Numantia gegen die Römer erhoben hätten. Seither ist das Widerständige des spanischen Volkscharakters für jedermann offenbar und der Widerstand gegen Napoleon vorgezeichnet: „von Sagunt bis Zaragoza, von Hannibal bis zu Napoleon. Was für ein einzigartiges Volk!“26, ruft Lafuente seinen Lesern programmatisch zu und: Numancia, la inmortal Numancia27. Hier, gegen Rom, zeige sich erstmals der unbedingte Wille der Spanier zur Unabhängigkeit, der die Geschichte Spaniens fortan prägen wird28. Konsequenterweise wird der Status Spaniens als Provinz des Römischen Reichs als Unterbrechung der eigenen Geschichte gedeutet: Zwar habe Rom Spanien Sprache und Gesetze, die Künste, großartige Bauten, Straßen und Aquädukte beschert; als „Katastrophe“ wertet Lafuente die Zeit der „Römischen Besetzung“ gleichwohl, beraubt sie die Spanier doch ihres höchsten Guts, der Unabhängigkeit29. Trotz dieser für die spanische Geschichte so kennzeichnenden „Katastrophe“ – zu verändern vermochte sie in Lafuentes Augen nichts. In seinen Augen blieb der spanische Charakter, was er war; keine Fremdherrschaft vermochte ihn zu transformieren30. Auch und gerade den (wiederholt als hochmütig31, grausam und perfide32 charakterisierten) Römern gelang dies nicht. Sie vermochten die Spanier zu „besiegen, aber nie zu unterjochen“33. Überdies gelang das Besiegen zunächst nur unvollständig. Denn

24 Wulff Alonso: Historia, bes. S. 870f., sowie allgemeiner Ders.: Esencias patrias, S. 107–115; Álvarez Junco: Mater, S. 209. – Die Assoziation von Rom und Napoleon findet sich zeitgleich auch andernorts, insbesondere in der italienischen Geschichtsschreibung, vgl. die klassische Studie von Mascioli: Anti-Roman Sentiment. 25 Lafuente: Historia, Bd. 1, Discurso preliminar, S. 19: Los íberos y los celtas son los creadores del fondo del carácter español. 26 Ebd: ¿Quién no ve revelarse este mismo genio en todas las épocas, desde Sagunto hasta Zaragoza, desde Aníbal hasta Napoleón? ¡Pueblo singular! 27 Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 21. 28 Ebd. 29 Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 23: Reducida España a simple provincia de Roma, con dioses, lengua, leyes y costumbres romanas, cesa o se interrumpe por siglos enteros la que podemos llamar su historia activa y propia […]. España vencida ganó en civilización lo que perdió en independencia. Recibió artes y letras, lenguaje, culto y leyes tutelares; vio su suelo cubierto de obras magníficas de utilidad y de belleza, de puentes, de acueductos, de grandes vías de comunicación abiertas por entre las barreras de sus montañas […] Sufrió una catástrofe […]. – Vgl. ähnlich auch: Bd. 1, Buch III, Kap. 8, S. 248f. 30 Ebd., Bd. 1, Discurso preliminiar, S. 18: se conserva siempre un fondo de carácter común, que se mantiene inalterable al través de los siglos, que no bastan a extinguir ni guerras intestinas ni dominaciones extrañas. 31 Vgl. Ebd., Bd. 1, Buch II, Kap. 1, S. 144; ebd., Bd. 1, Buch II, Kap. 3, S. 158. 32 Ebd., Bd. 1, Buch II, Kap. 1, S. 149. 33 Ebd., Bd. 1, Buch II, Kap. 3, S. 160: que una vez pudo ser vencida, pero jamás subyugada.

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„die Kantabrer und die Asturier hielten sich unabhängig und frei“34, sie „bewahrten sich ihren Hass auf die Römer, weil sie nicht ohne Freiheit leben konnten“35. Auch nach der „totalen Unterwerfung“36 blieben die Römer „immer Eroberer“, die die Spanier „versklavten“, als Freunde gewannen sie sie nie37. Mit anderen Worten: Nach Lafuente mochte die Herrschaft Roms über Spanien einen Schicksalsschlag bedeuten, der die eigene Geschichte zurückwarf, ja die vorgesehene Entwicklung „unterbrach“38; substanziell veränderte sie indes nichts. Es ist daher nur stringent, wenn vor diesem Hintergrund das Ende Roms für Lafuente keinen Einschnitt in der Geschichte der Iberischen Halbinsel bedeutet. Damit steht Lafuente – das sei hier nur am Rande bemerkt – einem aktuellen Vorschlag der Forschung, der für das Spanien dieser Zeit von einer continuatio anstelle einer transformatio spricht39, überraschend nahe – freilich unter anderen Vorzeichen und geleitet von einem anderen Erkenntnisinteresse. Nach Lafuente jedenfalls ist das Ende der Herrschaft Roms durch ihre „Imperfektion“ („eine Zivilisation des Krieges, der Eroberung und der Sklaverei“) vorgezeichnet40. Die auf Rom folgende Herrschaft der Westgoten stellt in Lafuentes Augen auch deshalb keine wirkliche Zäsur dar, weil Spanien es mit „den am wenigsten unwürdigen“ „Barbaren“ nicht so schlecht getroffen hat41. Es ist weniger die ausgemachte Abneigung gegen alles Antike, es ist die Unveränderlichkeit der Essenz, um die es Lafuente im Kern geht, die eine wechselseitige Beziehung zwischen Römern und Spaniern und damit Transformationsprozesse ausschließt. Solche Transformationen sind der blinde Fleck, der sich aus der Gesamtkonzeption des Werkes, aus Lafuentes übergeordneter Deutung der spanischen Geschichte ergibt. Der Zusammenhang lässt sich auch noch intentionaler fassen: Lafuentes Lesart der spanischen Geschichte lässt die Vorstellung wechselseitiger 34 Ebd. Bd. 1, Buch II, Kap. 7, S. 181: Todavía los cántabros y astures se mantenían independientes y libres. 35 Ebd., Bd. 1, Buch II, Kap. 7, S. 183: Los cántabros y astures, conservando vivo el odio a los romanos, no pudiendo vivir sin libertad […]. 36 Ebd., Bd. 1, Buch II, Kap. 8, S. 185: sumisión total. 37 Ebd., Bd. 1, Buch II, Kap. 8, S. 187: en ser siempre conquistadores, nunca civilizadores; en hacer esclavos, no súbditos, mucho menos amigos; no en hacer a España una provincia tributaria de Roma, sino en explota ria como una mina siempre abierta a su voracidad. 38 Vgl. oben, Anm. 29. 39 Bredekamp/Trinks: Continuatio. Hier ist es freilich die Antike, nicht die spanische Kultur, die unverändert fortbesteht. 40 Lafuente: Historia, Bd. 1, Discurso preliminiar, S. 24: Pero la civilización romana era demasiado imperfecta para que pudiera llenar los altos fines de la creación. Era la civilización de la guerra, de la conquista y de la servidumbre, y el mundo necesitaba ya otra civilización mas pura, mas suave y mas humanitaria. 41 Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 27. – Vgl. ähnlich auch Ebd., Bd. 1, Buch IV, Kap. 4, S. 282 (mit Verweis auf Augustin Thierry und dessen Bewertung der Westgoten).

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Transformation nicht zu, sie muss daher negiert werden. Oder, und bewusst ins Anachronistische gewendet: Lafuentes Werk lässt sich als eine explizite Absage an eine Transformationstheorie lesen. Freilich, die Negation bezieht sich zunächst und vor allen Dingen auf den Volkscharakter, über in Lafuentes Augen weniger Essentielles ist damit noch nichts gesagt; es bliebe im Einzelfall zu prüfen. Überdies müssen sich die Negation der Antike und ihre Transformation keineswegs ausschließen42. Eine Negation, die so eindeutig wie die bei Lafuente ausfällt, fordert indes dazu auf, weniger die programmatischen und expliziten Aussagen in den Blick zu nehmen, als die Praxis der Geschichtsschreibung selbst zu untersuchen. Im Folgenden wird daher Lafuentes Darstellung von Covadonga in den Mittelpunkt der Analyse gestellt und damit eine Szene, die zwar auf den ersten Blick für die oben formulierte Frage nach der Natur religiöser Gewalt von Belang ist, sich jedoch zugleich scheinbar antikenfrei präsentiert.

3 Die Schlacht von Covadonga wird erstmals in der um 880 entstandenen, sogenannten „Chronik Alfons’ III.“ (866–910) erwähnt43, auf der Lafuentes Darstellung im Wesentlichen aufbaut. Der Bericht über den von Wundern begleiteten Sieg, den ein kleines christliches Heer unter der Führung Pelayos und mit Gottes Hilfe gegen übermächtige Muslime erringt, erfüllt im Gesamtgefüge des Werks erzähllogisch die Funktion, die moralischen Verfehlungen der letzten Gotenkönige zu überschreiben. Mit Pelayo, der hier erstmals verwandtschaftlich an die Westgoten angesippt und zugleich als erster König der Asturier gezeichnet wird, erhält die Königsfamilie den perfekten Spitzenahnen. Die Chronik stellt mithin eine zentrale Quelle für das Herrschaftsverständnis der asturischen Könige dar. Über den Quellenwert der Chronik für das vermeintliche Ereignis in Covadonga, das (je nach Datierung) mindestens 150 Jahre vor der Niederschrift der Chronik stattgefunden haben soll, mag man streiten44, doch steht hier nicht die Historizität des 42 Helmrath: Transformation, S. 311. 43 Chronique d’Alphonse III, ed. Bonnaz, Kap. 6.1–6.4, Kap. S. 38–44. Zu dieser Chronik und den früheren, die Covadonga nicht erwähnen, vgl. Martín: Sources, Nr. 1618–1622, dort auch die unterschiedlichen Positionen zu Verfasser und Datierung, die in der Forschung umstritten bleiben. 44 Nach wie vor zentral für die Interpretation der Chronik aus Perspektive ihres Entstehungszeitraums: Martin: Chute, bes. S. 227–233; Linehan: Historians, S. 101–127; die Frage nach der Historizität ist alt, und noch älter, als die Forschung gemeinhin annimmt, siehe dazu unten, Anm. 45; zu den Positionen des 20. Jahrhunderts vgl. zusammenfassend Bronisch: Reconquista, S. 256–258. – Auch wenn für Historizität votiert wird, bleibt die Datierung der Schlacht zwischen 718 und 737 ebenso umstritten,

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Ereignisses zur Diskussion, sondern dessen Deutung durch Modesto Lafuente in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und anders als den englischen Historiker Samuel Astley Dunham, der zu Beginn der 1830er Jahre ebenfalls eine Universalgeschichte Spaniens vorgelegt hatte45, plagten Lafuente in dieser Hinsicht keinerlei Zweifel. Vielmehr zog er mit Gusto über seinen englischen Kollegen her, der die Quellenlage viel zu düster zeichnete und zu schnell die Segel strich: „Entkleidet von Übertreibungen und Fabeln, von wunderbaren Erfindungen und von extravaganten Behauptungen“ ließe sich ausgehend von arabischen wie christlichen Autoren durchaus ein wahrscheinlicher Kern der Ereignisse herausschälen46: War ganz Spanien sarazenisch? Gehorchte es ganz dem Gesetz Mohammeds? […] War Spanien als Nation gestorben? Nein noch lebte es, wenn auch arm und hilfsbedürftig […]47.

Häufig leitet Lafuente mit solchen, sein didaktisches Anliegen nicht verhehlenden Kaskaden rhetorischer Fragen ein Kapitel ein. Sie erzeugen Aufmerksamkeit, lenken den Leser auf das Wesentliche und bereiten ihn auf das Kommende vor. Asterixisch formen sie hier den Auftakt zur Darstellung der Schlacht von Covadonga, die Martín Ríos Saloma zu Recht als eine jener Schlüsselszenen bezeichnet hat, die den „Reconquista-Mythos“ etablieren48. „Bischöfe, Priester, Mönche, Arbeiter, Handwerker und Krieger, Männer, Frauen und Kinder“49, eben Repräsentanten des gesamten Volkes kämpften in der Schlacht

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wie deren Lokalisierung unsicher ist, vgl. Ebd., S. 95, mit Anm. 246 u. 247; zur Darstellung der Schlacht in den asturischen Chroniken siehe zuletzt Herbers: Europa, S. 65–75. – Zum Nachleben in der späteren spanisch-mittelalterlichen Historiographie siehe Henriet: Reconquête. – Die auf Arabisch verfassten Berichte sind ebenso programmatisch wie die asturische Historiographie, indes spät überliefert, zu diesen siehe zuletzt allgemein Clarke: Conquest, sowie König: Arabic-Islamic Views, S. 154–161; direkt zu den Deutungen von Covadonga nach wie vor Münzel: Feinde, S. 93–101, sowie Arbesú: Pelayo. Dunham: History of Spain, Bd. 2, Buch III,1, Kap. 1, S. 123: We find so much confusion, so much contradiction, sometimes so much improbability, in the obscure authorities for this period, whether Arabic or Christian, that we almost despair of forming a rational connected narrative of the reign of Pelayo. […] Almost every sentence of the proceeding paragraph in the text ought to commence with „probably“, „it is said“, „it is believed“. Lafuente: Historia, Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 353: hemos recogido cuanto hemos hallado de más comprobado y verosímil en los escritores árabes y cristianos, desnudo de las exageraciones y fábulas, de las invenciones maravillosas y de las extravagantes aserciones con que algunos parece haberse propuesto embrollar este brillante periodo de nuestra historia, los unos llevados del fanatismo propio de su época, los otros arrastrados de una especie de pirronismo histórico. Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 351: ¿Era toda la España sarracena? ¿Obedecía toda a la ley de Mahoma? […] ¿Había muerto la España como nación? No: aún vivía, aunque desvalida y pobre […]. Ríos Saloma: Reconquista, S. 210–220, siehe auch die oben, Anm. 7, genannte Literatur. Lafuente: Historia, Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 351: Obispos, sacerdotes, monjes, labradores, artesanos y

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nach Lafuente gemeinsam (und ebenso wie 1808) gegen einen Feind der „patria und des Glaubens“50. Und bei allen „wuchs der große, glorreiche, rettende, tollkühne Gedanke, die verlorengegangene Nationalität wiederherzustellen“51. Sieht man von den zitierten Passagen ab, nimmt sich der Bericht über den triunfo cristiano glorioso y completo52 überraschend nüchtern aus. So stellten in Lafuentes Augen die Zahlenangaben, die sich bei den christlichen Autoren fänden, eine ebenso große Übertreibung dar, wie die muslimischen Autoren dazu neigten, die Zahlen zu untertreiben53. Und anders als in der „Chronik Alfons’ III.“ werden in seiner Darstellung weder die Wurfgeschosse der Muslime von einem in der Höhle situierten Marienschrein zurück auf die Angreifer gelenkt54, dessen Existenz als solche bestritten wird55, noch findet das in der asturischen Chronik verzeichnete Gespräch zwischen dem maliziösen Bischof Oppa und dem heldenhaften Pelayo bei Lafuente einen Widerhall. Zwar mag es auch bei Lafuente so scheinen, als kämpfe Gott für die Christen56, tatsächlich weiß der Historiker jedoch, Pelayos Sieg mit „natürlichen Gründen“ (causas naturales) zu erklären57: Ein Unwetter hob an, der Regen weichte die Erde auf, sodass die Muslime reihenweise ausrutschten, stolperten und übereinander fielen, und deshalb Steinen und Ästen nicht ausweichen konnten58. Lafuente reinigt also die mittelalterlichen Berichte sowie die spätere Historiographie von allem Wunderbaren59; stattdessen lässt er Covadonga im Schlamm versinken. Er legt seinem Bild das Volk als maßgeblichen Akteur zu Grunde, passt es auf diese Weise dem „Geschmack der Epoche“60 an und konstruiert so eine für das 19. Jahrhun-

guerreros, hombres, mujeres y niños. – Eine solche Präzisierung findet sich in keiner von Lafuentes Vorlagen. 50 Ebd. 51 Ebd.: nació el pensamiento grande, glorioso, salvador, temerario entonces, de recobrar la nacionalidad perdida. 52 Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 325. 53 Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 354. 54 Chronique d’Alphonse III, ed. Bonnaz, Kap. 63, S. 42f. 55 Lafuente: Historia, Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 354. 56 Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 352. 57 Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 354. 58 Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 352. 59 Noch Juan de Mariana, dessen Geschichte Spaniens sich Lafuente anschickte abzulösen (vgl. Zitat, Anm. 60), erklärt den Sieg zweimal mit Verweis auf ein milagro, s. Mariana: Historia, Bd. 1, Buch VII, Kap. 2, S. 192a. 60 Lafuente: Historia, Bd. 1, Prólogo, S. 9: Resultando de este rapidísimo examen ser la obra del P. Mariana la única historia general española que poseemos, resta sólo, para justificar mi ardua empresa, inquirir si aquella llena las condiciones que los progresos literarios, el gusto de la época y las nuevas necesidades intelectuales reclaman hoy en las obras de este género.

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dert „wahrscheinliche“61 Vergangenheit. Lafuente tut aber noch mehr. Erkennen lässt sich dies durch den Vergleich mit seinen Vorlagen: Der Regen, der in der Historia general die natürliche Begründung für Pelayos Erfolg liefert, findet sich dort nirgends, nicht in der „Chronik Alfons’ III.“, nicht in späteren mittelalterlichen Geschichtswerken, die sie weiter ausschreiben, und auch nicht in der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung. Der Regen über Covadonga ist Lafuentes Schöpfung. Geleitet auch durch unsere eigenen Wahrnehmungsmuster übersieht man den kreativen Akt des Historikers leicht. Denn viele Verfilmungen lassen uns mittelalterliche Schlachten kaum ohne Schlamm, Schmutz und eben Regengüsse imaginieren62 – man denke nur an die Schlacht von Azincourt in Kenneth Branaghs „Heinrich V.“ Die durch Regen begleitete und gewonnene Schlacht ist indes keine Erfindung der Filmindustrie, sondern ein altes, genau genommen, ein antikes Motiv: Marc Aurel und seine Truppen sollen im Krieg gegen die Germanen durch göttliches Eingreifen mittels eines plötzlich einsetzenden Regensturms gerettet worden sein. Tertullian, Cassius Dio und später zum Beispiel auch Gregor von Nyssa und Eusebius berichten davon, die Marc-Aurel-Säule setzt das sogenannte „Regenwunder“ ins Bild. Bei den christlichen Autoren ist es der christliche Gott, der gegen den heidnischen Gegner ins Schlachtgeschehen eingreift63. Dass Lafuente mit dem „Regenwunder“ vertraut war, lässt sich auf Grund seiner Bildung und seines Universitätsstudiums vermuten64, doch ist man hier nicht auf Spekulationen angewiesen. Lafuente zitiert es nämlich im römischen Abschnitt seiner „Geschichte“ mit Verweis auf Tertullian um zu belegen, wie verbreitet das Christentum in den 170er Jahren bereits war65. Einmal für das Motiv sensibilisiert, erkennt man, dass es Lafuente häufig, allerdings keineswegs immer, während Schlachten regnen lässt. Der Regen fällt während kriegerischer Auseinandersetzungen im Mittelalter, und zwar vornehmlich dann, wenn sich Christen und Muslime gegenüberstehen. Auch in den der Neuzeit gewidmeten Bänden werden weiterhin Schlachten geschlagen, doch bleibt der Regen aus.66 The rain in 61 Vgl. oben Anm. 46. 62 Scharff: Rekonstruktion. 63 Vgl. klassisch zu den Quellen Harnack: Quelle; Mommsen: Regenwunder, sowie neueren Datums: Kovács: Rain Miracle. 64 S. Pérez Garzón: Biografía, S. xii–xix, sowie die oben, Anm. 3 genannte Literatur. 65 Lafuente: Historia, Bd. 1, Buch III, Kap. 3, S. 204: Citámoslo como prueba de lo que ya entonces habían cundido las doctrinas del cristianismo. 66 Vgl. z. B. ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 4, S. 369; ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 24, S. 594; ebd., Bd. 2, Buch II, Kap. 2, S. 23; ebd., Bd. 2, Buch II, Kap. 4, S. 89; ebd., Bd. 2, Buch II, Kap. 14, S. 188; ebd., Bd. 2, Buch III, Kap. 8, S. 346. – Es regnet auch noch in der Neuzeit, doch ist dieser Regen nicht mehr auf gleiche Weise unmittelbarer Teil des Schlachtengeschehens, vgl. z. B. ebd., Bd. 4, Buch I, Kap. 5, S. 72 (la lluvia que a

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Spain stays mainly in the […] Middle Ages. Oder anders gewendet: It never rains in […] Modern Spain! Aus dieser Diskrepanz wird man kaum ableiten wollen, dass das spanische Mittelalter (im Gegensatz zur Neuzeit) verregnet war. Möglicherweise lässt sich der Befund in Teilen auf die Quellengrundlage zurückführen. Martin Clauss hat unlängst darauf hingewiesen, dass die Wetterlage in der Darstellung mittelalterlicher Schlachten über Sieg und Niederlage entscheiden konnte67, doch gilt dies gerade nicht für die mittelalterlichen Berichte zu Covadonga, in denen kein Regen fällt. Lafuente scheint also eine selektive Adaption des Regenwunders vorgenommen zu haben. Die christlich-antiken Autoren betonen in den Berichten zum „Regenwunder“ die Konfrontation zwischen Christen und Heiden, auf die auch Lafuente im Römischen Abschnitt der Historia general abhebt. Es liegt daher nahe, dass es eben diese Konstellation war, die Lafuente den Regen für christlich-muslimische Auseinandersetzungen reservieren ließ. Die Transformation des antiken „Regenwunders“ lässt sich für Lafuentes Darstellung von Covadonga weiter präzisieren: Michael M. Sage hat gezeigt, wie ambivalent die Haltung zum „Regenwunder“ bei den antiken Autoren ausfallen konnte68. Für Eusebius bereitete das Verhältnis von göttlicher Vorsehung und dem Gebet, dass Gott es regnen lassen möge, Schwierigkeiten; der von Lafuente angeführte Tertullian problematisierte, dass das christliche (anders als jüdische Gebete) nicht destruktiv auf die Vernichtung des Gegners, sondern konstruktiv, z. B. auf die Stärkung des Freundes zielen solle69. Diese Ambivalenzen finden sich in Lafuentes Schlachtengemälde auf spezifische Weise miteinander verknüpft, ja aufgehoben: Lafuente lässt Pelayo und die Seinen weder vor noch während der Schlacht beten. Stattdessen kommentiert er das Schlachtgeschehen folgendermaßen: Sie „stärkte der Glaube und ermutigte die Vorstellung, dass Gott für sie kämpfte“70 – ein Kommentar, der auf Tertullians Vorbehalte, dass die eigenen Reihen gestärkt, nicht die fremden geschwächt werden sollen, zu antworten scheint. Bei Lafuente ist es der gemeinsame Glaube, der den Spaniern zum Sieg verhilft. Die sich auf den Regen beziehenden „natürlichen Gründe“71, die Lafuente gegen Ende des Kapitels anführt, mögen auf einer anderen Ebene angesiedelt sein, schließen la sazón se desgajaba copiosa); ebd., Bd. 5, Buch III, Kap. 3, S. 28 (las lluvias del otoño). 67 Clauss: Kriegsniederlagen, S. 213–217, hier ohne den Verweis auf antike Motive, aber mit der zu unterstreichenden Beobachtung, dass Regen eigentlich stets ein Problem für beide Parteien darstellt. 68 Sage: Eusebius. 69 Ebd., S. 103 (Tertullian, De Oratore 29.2). 70 Lafuente: Historia, Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 352: vigorizaba la fe y alentaba la idea de que Dios peleaba por ellos. 71 Siehe oben Anm. 57.

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aber ebenfalls aus, die Schauer auf unbotmäßiges Bitten der Spanier zurückzuführen. So gesehen kommt das „Regenwunder“ bei Lafuente erstaunlich ‚säkularisiert‘ daher. Allerdings verweist Lafuente abschließend (und die Interpretation erschwerend) auf den „Schutz des Himmels“72. Doch bezieht er die protección ausdrücklich auf den Ereigniskomplex als Ganzes (conjunto)73, nicht auf den ‚erlösenden‘ Regen. Die in seinen Augen offensichtliche Manifestation des himmlischen Schutzes lässt den Historiker die Forderung formulieren, die mittelalterlichen Berichte zu historisieren: Es überrasche kaum, dass ein religiöses Zeitalter wie das der „Reconquista“ den Sieg über die Muslime mit Wundern und dem unmittelbaren Eingreifen Marias zu erfassen suche74. Tertullians Vorbehalte gegenüber dem „Regenwunder“ hegt Lafuente also ein, indem er die Spanier nicht und daher auch nicht ‚falsch‘ beten lässt. Doch geht er deswegen nicht so weit, den „Schutz des Himmels“ als Erklärung für den Schlachtenerfolg auszuschließen. Auf eine explizite Hierarchisierung der Erklärungen für den Sieg (gemeinsames Handeln und gemeinsamer Glaube, Regen als natürliche Begründung sowie den Schutz Gottes) verzichtet Lafuente an dieser Stelle. Mit dem Verzicht ist implizit das von Eusebius angesprochene Problem der göttlichen Vorsehung berührt. Ausdrücklich macht er sie jedoch bereits noch vor der eigentlichen Schlachtenschilderung zum Thema75: „Die göttliche Vorsehung hatte ihnen einen ehrenwerten Goten namens Pelayo beschert“76. Gleichwohl, die Entscheidungen und das Handeln der Akteure bleiben für den Fortgang der Geschichte bedeutsam. Es sind die Spanier, die Pelayo „einmütig als Chef akklamieren und zum Kapitän der improvisierten religiösen Miliz“ erheben77, und es ist Pelayo, der dies „akzeptiert, als religiöser und tapferer Mann und als Liebhaber seiner patria“78. Aktivischer lassen 72 Lafuente: Historia, Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 354: En pocas ocasiones ha podido ser más manifiesta […] la protección del cielo. 73 Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 354. 74 Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, 354: Por lo mismo no nos maravilla que los escritores de una edad de tanta fe lo dieran todo al milagro y a la mediación de la Virgen María, cuya imagen había llevado consigo Pelayo a la cueva. 75 Insgesamt wird providencia in der Historia general häufiger angeführt, vgl. etwa ebd., Bd. 1, Prólogo, S. 5; ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 15, 18, 34, 51. – Der an Koselleck geschulten Leserin sticht das Nebeneinander von providencia und progreso (Ebd., Bd. 1, Prólogo, S. 5; Ebd., Bd. 1, Discurso preliminar, S. 19 u. 26) ins Auge, die die das Werk als Ganzes prägt. Es wäre lohnend, genauer zu untersuchen, ob und wenn ja, wie und weshalb sich „göttliche Vorsehung“ und „Fortschritt“ in Lafuentes Augen synthetisieren lassen. 76 Lafuente: Historia, Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 352: La providencia les deparó un noble godo nombrado Pelayo. 77 Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 352: le aclamaran unánimemente por jefe y capitán de aquella improvisada milicia religiosa. 78 Ebd., Bd. 2, Buch I, Kap. 3, S. 352: Pelayo aceptó, a fuer de hombre religioso y de varón esforzado y amante de su patria.

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sich die Vorgänge kaum schildern. In der Wahl der Verben „einmütig akklamieren“ und „akzeptieren“ schwingt mit, dass die Entscheidung der Akteure auch anders hätte ausfallen können. Die Frage nach der Gewichtung der einzelnen Begründungen ist also falsch gestellt: Providenz und Protektion rahmen Lafuentes Darstellung von Covadonga; sie bilden die gedankliche Klammer der Schlachtenerzählung. Doch erst durch das einmütige Handeln der Akteure und durch den Regen als natürliche Begründung für den Schlachtenerfolg erhält Covadonga seine historische Spezifität. Im Szenenbild verdichtet, entfaltet Lafuente auf diese Weise sein historiographisches Programm, wie er es im Prolog zu seiner „Geschichte“ darlegt: Die Aufgabe des Historikers besteht demnach in beidem: in der „Untersuchung der Ursachen“ ebenso wie in der „Enthüllung der großen Ziele der göttlichen Vorsehung“ und im Aufzeigen ihrer Verknüpfung79. Eben dabei leistet die Transformation des antiken „Regenwunders“ hier einen zentralen Beitrag.

4 Man mag den Regen bei Covadonga als einen unhistorischen Zusatz, als verfälschendes Ornament in Lafuentes Historia general Regen sein lassen80. Die Historizität des Ereignisses an sich steht in Frage, die Lektüre der Historia general hat zu diesem Problem nichts beizutragen81. Lafuentes Erzählung ist nicht wahr, doch ist sein Covadonga im Rahmen der Geschichte, die er erzählen möchte, gut erfunden. Dass sich in Covadonga Christen und Muslime gegenübergestanden haben sollen, mag die Adaption des antiken „Regenwunders“ evoziert haben. Doch erschöpft sich die Übernahme nicht in einer ähnlichen Ausgangslage. Vielmehr unterstreicht Lafuentes spezifische Transformation sein historiographisches Programm. Zugleich dient das transformierte „Regenwunder“ dazu, die Probleme, die die mittelalterlichen Berichte von Covadonga einem Historiker des 19. Jahrhunderts bereiten mochten, abzumildern und so überdies seine eigene, zentrale Botschaft zu untermauern. Von Anfang an, seit dem 9. Jahrhundert, wurde in den Deutungen von Covadonga mehr verhandelt als nur das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen. So hoben die Autoren der „Chronik Alfons’ III.“ den Antagonismus zwischen Bischof und König 79 Ebd., Prólogo, Bd. 1, S. 5: Menester es entrar en el examen de sus causas, descubrir el enlace de los acontecimientos, revelar por medio de ellos hasta lo posible los grandes fines de la Providencia, las relaciones entre Dios y sus criaturas. 80 Zum Ornamenthaften bei Lafuente siehe oben Anm. 6. 81 Siehe oben Anm. 44.

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hervor, aus dem sie letzteren siegreich hervorgehen ließen; spätere Geschichtsschreiber nutzten die Diskussion um Marias Engagement, um wahlweise Toledo gegen andere Bischofssitze oder den König zu stärken oder zu schwächen82. Diesen ‚Interpretationsüberschuss‘, den Covadonga freisetzte, erbte Lafuente vom Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Doch schrieb er mit seiner Version von Covadonga zugleich gegen das Entweder-Oder früher Berichte an. Damit die „Reconquista“ bzw. ihre erste bedeutende Schlacht zum Nationalmythos taugt, muss Lafuente auf die Darstellung von Konflikten, wie sie sich in früheren Werken verzeichnet finden, verzichten. Deshalb ‚fehlt‘ seiner Lesart von Covadonga der Streit zwischen Pelayo und Bischof Oppas83, den er mit Schweigen übergeht; deshalb lässt er Bischöfe zwar auftreten, aber eben nur als eine Gruppe neben Arbeitern, Handwerkern und Kriegern, mit denen sie gemeinsam das gesamte Volk repräsentieren84. Zeitgenössisch betrachtet war der Verzicht auf kirchliche Würdenträger keineswegs die einzig mögliche Sicht auf Covadonga. Denkbar wäre es zum Beispiel auch gewesen, Pelayo einen Bischof zur Seite zu stellen und nur ihre Auseinandersetzung, von denen frühere Werke berichteten, aus der Darstellung zu verbannen. Nämliches tat der Künstler Luis de Madrazo y Kuntz, dessen Gemälde „Don Pelayo en Covadonga“ im Jahr 1856, also unmittelbar nach dem Erscheinen der Historia general, mit dem Preis der „Academia de Bellas Artes“ ausgezeichnet wurde. An der Seite und auf Augenhöhe des titelgebenden Helden fand sich hier ein Bischof. Hier waren Krone und Zepter vereint und gemeinsam die Sieger der Schlacht. Auch deshalb ist bei der Bewertung von Lafuentes Werk als offiziöse Geschichtsschreibung schlechthin Vorsicht geboten85. Das Volk zu formen, hieß im Spanien in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer auch, Stellung zum Katholizismus und zur Kirche zu beziehen. Lafuentes ser de España ist fraglos katholisch, anders lässt sich das spanische Volk in diesen Jahren nicht imaginieren. Doch geht es ihm dabei weder um das Institut der katholischen Kirche oder ihre Funktionsträger noch um spezifische Inhalte des Katholizismus – sie haben in Lafuentes Covadonga keinen Platz. Stattdessen setzt er die einende Kraft des Glaubens zentral, die das Volk gegen den Feind von außen, wenn nicht hervorbringt, so doch zusammenhält. Im Vergleich zu zeitgleichen Optionen erscheint das Katholische bei Lafuente auf diese Weise nahezu säkular, gleichsam als ein (wenn auch zentraler) Bestandteil des „Volksgeistes“. Und eben dazu passt das von Lafuente gezähmte „Regenwunder“, das 82 83 84 85

Siehe ebd. Vgl. oben Anm. 53. Vgl. oben Anm. 49. Vgl. oben Anm. 5.

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den Sieg der Spanier auf natürliche Weise begünstigt, ganz ‚wunder‘bar. Ohne konkreten Bedarf, darauf hat Johannes Helmrath unlängst noch einmal hingewiesen, wird kein antikes Motiv adaptiert, findet keine Antikentransformation statt86. In der Historia general antwortet das „Regenwunder“ in seiner spezifischen Transformation auf handfeste zeitgenössische Diskussionen und Deutungsprobleme. Vermutlich lassen sich eine Reihe weiterer solcher Transformationen antiker Motive in Lafuentes Werk nachweisen. Man muss weder die römische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel gutheißen noch muss man ihr substantielle Bedeutung zumessen, um von römischen Historiographen zu lernen. Auch und gerade in der „negativen Bezugnahme“ kann Antikes „präsent“ bleiben87. Wenn man das Römische allerdings mit so viel Verachtung bedenkt, wie es Lafuente tut, dann erscheint es ratsam, Akte der Antikentransformation nicht als solche explizit zu kennzeichnen – schon gar nicht in der Darstellung von Schlüsselszenen wie Covadonga, die auf Wirksamkeit im Deutungskampf um das spanische Volk Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt sind. So gesehen erschwert der Modus der Negation der modernen Historikerin, Transformationen diesen Typus aufzuspüren. Gleichwohl, die Suche und die Analyse lohnen sich, erlauben sie doch, die Komplexität eines Werks auf andere Art aufzufächern.

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86 Helmrath: Transformation, S. 306. 87 Ebd., S. 311.

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Die griechisch-römische Antike und die sozio-kulturelle Evolution bei Max Weber und Niklas Luhmann Aloys Winterling

1 Fragestellung Max Weber hat sich in seinen frühen Schriften intensiv mit der Antike beschäftigt1, seine Arbeiten zur Alten Geschichte mit einer Theorie sozio-kultureller Evolution in Verbindung zu bringen, dürfte jedoch auf größeren Widerspruch stoßen: Seine Habilitationsschrift „Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht“ von 1891 war zwar noch von evolutionistischen Grundannahmen ausgegangen2. In einem Aufsatz über den „Charakter der altgermanischen Sozialverfassung“ von 1904 wies er dagegen die „neuerdings so zahlreichen Versuche, die Kulturentwickelung nach Art biologischer Prozesse als ein gesetzliches Nacheinander verschiedener, überall sich wiederholender ‚Kulturstufen‘ zu begreifen,“ explizit zurück3, so dass man in der althistorischen Weber-Forschung eine frühe Abkehr Webers von evolutionistischen Vorstellungen konstatiert hat4. Auch in den späteren universalhistorischen und soziologischen Arbeiten Webers scheinen evolutionstheoretische Fragen keine Rolle zu spielen. Die berühmten kulturvergleichend angelegten Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ versuchten, Gründe für die Entstehung einer modernen Gesellschaft in Europa und für ihr Ausbleiben in anderen Weltregionen, namentlich in China, Indien und im Vorderen Orient, zu ermitteln. Vor allem aber zeichnet sich Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“, der aus Manuskripten unterschiedlicher zeitlicher Provenienz postum zusammengestellte und in der neuen Max Weber-Gesamtausgabe wieder in seine Bestandteile zerlegte Riesentorso, gerade durch das Fehlen von Zeitdimension und 1

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Die Schriften Webers werden nach der neuen Max Weber-Gesamtausgabe und zusätzlich nach den gängigen Ausgaben von „Wirtschaft und Gesellschaft“ sowie der „Gesammelten Aufsätze“ zitiert. Kursivierungen in den wörtlichen Zitaten folgen den Originaltexten. Weber: Römische Agrargeschichte. Vgl. zu Webers Konzept einer „autonomen Agrarverfassung“ Winterling: Max Webers Analysen, S. 417–428. Weber: Streit, S. 247 (SW, S. 513f.). Nippel: Methodenentwicklung.

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Entwicklungsperspektiven aus: Dort geht es bekanntlich vor allem um universale Typologien von sozialem Handeln, von Formen der Vergesellschaftung, der Herrschaft und der Wirtschaft, die zeit- und raumunabhängig gelten sollen, die in unterschiedlichen historischen Kontexten anzutreffen sind und die erst in einem zweiten Schritt, nämlich durch den Vergleich der Idealtypen mit konkreten historischen Erscheinungen die Individualität letzterer zu ermitteln helfen sollen. Zwar deuten wichtige Studien zu Webers Werk darauf hin, dass seine Denkangebote für eine Theorie gesellschaftlichen Wandels damit nicht erschöpft sind5, dominant sind aber nach wie vor Ansichten wie die von Wilhelm Hennis, der „evolutionstheoretische Elemente“ in Webers Werk grundsätzlich abstreitet6, oder von Detlev Peukert, wonach Weber „jede Konstruktion von universalgeschichtlichen Entwicklungsprinzipien und von daraus abgeleiteten Evolutionslinien [...] abgelehnt“ habe7. Anders als Max Weber hat sich Niklas Luhmann8 in einer ganzen Reihe von Aufsätzen seit den 1970er Jahren mit der Thematik „Evolution und Geschichte“ befasst9, in der soeben unter dem Titel „Systemtheorie der Gesellschaft“ aus dem Nachlass publizierten umfangreichen frühen Fassung seiner Gesellschaftstheorie, entstanden um die Mitte der 1970er Jahre, nimmt die Evolution der Gesellschaft eine wichtige Rolle ein10, und in seinem Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (1997) ist die temporale Dimension (unter der Überschrift „Evolution“) neben der sozialen und der sachlichen (unter den Überschriften „Kommunikationsmedien“ und soziale „Differenzierung“) sowie der Ebene der gesellschaftlichen „Selbstbeschreibungen“ eins der Zentralthemen seiner universal angelegten Gesellschaftstheorie11. Entsprechend widmen auch seine seit den 1980er Jahren publizierten Bücher zu den modernen gesellschaftlichen 5

Siehe bes. Schluchter: Entwicklung; Roth: Max Webers Entwicklungsgeschichte; Kalberg: Max Webers historisch-vergleichende Untersuchungen; vgl. auch mit weiteren Hinweisen zur Forschung Winterling: Römische Republik, bes. S. 606–610. 6 Hennis: Max Webers Fragestellung, S. 204. 7 Peukert: Max Webers Diagnose der Moderne, S. 45. – In der neueren Weber-Forschung scheint die Frage als geklärt zu gelten, jedenfalls kaum mehr diskutiert zu werden. Vgl. Müller/Sigmund (Hg.): Max Weber-Handbuch, wo man z. B. unter 41 behandelten „Begriffen“ zur theoretischen Erschließung des Weberschen Werks „Evolution“ oder „Geschichte“ vergeblich sucht. Selbst bei Stichwörtern wie „Entzauberung und Säkularisierung“ oder „Rationalität, Rationalisierung, Rationalismus“ spielen temporale Dimensionen kaum eine Rolle, was in seltsamem Kontrast zu der dann folgenden Übersicht der Werke Webers steht. 8 In den wörtlichen Zitaten aus Luhmanns Werk folgen Kursivierungen – sofern nicht anders vermerkt – den Originaltexten. 9 Luhmann: Evolution; Ders.: Prozess; vgl. auch Ders.: Evolution. Kein Menschenbild; Ders.: Problem der Epochenbildung; Ders.: Evolutionary Differentiation; Ders.: Paradox; Ders.: Direction of Evolution. 10 SG, S. 259–450 („Gesellschaftliche Evolution“). 11 GG I, S. 413–594 („Evolution“).

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Teilsystemen Wissenschaft, Recht, Kunst, Politik und Religion jeweils ein eigenes Kapitel der jeweiligen Teilsystemevolution12. Die Antike ist zwar durchaus, vor allem in theoriegeschichtlichen Kontexten, präsent in Luhmanns Werk. Als historische Materialbasis zur Plausibilisierung seiner Theorie sozio-kultureller Evolution zieht er jedoch neben „archaischen Gesellschaften“ und den außereuropäischen „Hochkulturen“ (vor allem im Vorderen Orient und in China) vornehmlich die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Gesellschaft Europas heran, die bei der Schilderung der gesellschaftlichen Differenzierungsform „Stratifikation“ in den Vordergrund gerückt wird13 und die – dem Thema entsprechend – auch bei seinen im engeren Sinne historischen Untersuchungen zur Relation von „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ beim Übergang zur Moderne den Hauptuntersuchungsgegenstand bildet14. Auch die Diskussion von Luhmanns Evolutionstheorie in der Geschichtswissenschaft hat sich vor allem auf die Frage ihrer Angemessenheit für die Epoche des Übergangs von der spätmittelalterlichen zur modernen Gesellschaft und auf die These einer in dieser Zeit erfolgenden Durchsetzung funktionaler Differenzierung als der primären Form des Gesellschaftssystems konzentriert15. In der Alten Geschichte ist das Erkenntnispotential systemtheoretischer Konzeptionen eher selten herangezogen bzw. überprüft worden16. Die Stellung der griechisch-römischen Antike in Luhmanns Evolutionstheorie scheint bislang kaum in den Blick der Forschung geraten zu sein17. Viel Beschäftigung mit der Antike also und keine Evolutionstheorie bei Max Weber, viel Evolutionstheorie und wenig Analysen der Antike bei Niklas Luhmann – so kann man die Forschungslage vereinfacht zusammenfassen. Ein Vergleich beider am Beispiel der Evolution der antiken Gesellschaft scheint also auf den ersten Blick nicht sehr vielversprechend. Meine Thesen, die die Anregungen der beiden bedeutenden Soziologen für eine gegenwärtige Erforschung der antiken Geschichte ermitteln wollen, gehen in eine andere Richtung. 12 Vgl. die Werkübersicht in: Luhmann-Handbuch, Kap. V (lediglich in den Bänden zu den Teilsystemen Wirtschaft und Erziehungssystem fehlen eigenständige Kapitel zur Evolution); siehe auch allgemein Nassehi: Systemtheorie, S. 47–51, und Mellmann: Evolution, S. 81–83. 13 Vgl. GG II, S. 682. 14 Siehe GS I–IV sowie Luhmann: Liebe als Passion; Ders.: Ideenevolution. 15 Siehe allgemein Walz: Theorien sozialer Evolution; Buskotte: Resonanzen; Becker: Rezeption. Vgl. als konkrete Beispiele die Arbeiten von Stollberg-Rilinger (Hg.): Vormoderne politische Verfahren; Schlögl: Anwesende und Abwesende; Krischer: Macht des Verfahrens. 16 Z. B. Beck: Freiheit und Herrschaft; Mann: Politische Gleichheit; Grote, Genese; Ders., Homerische agore. 17 Siehe aber Fögen: Römische Rechtsgeschichten; einige Überlegungen bei Winterling, Wie modern war die Antike.

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Zunächst soll anhand der in der nicht-althistorischen Weber-Forschung meist ignorierten, für seine Beschäftigung mit der Antike aber zentralen, umfangreichen Schrift „Agrarverhältnisse im Altertum“ von 1908 gezeigt werden, dass Weber die griechisch-römische Geschichte im Rahmen einer idealtypischen gesellschaftlichen Stufen- und Entwicklungstheorie verortet, die auf eine implizite Evolutionstheorie hinausläuft. Sodann, dass die explizite Evolutionstheorie Luhmanns in ihren Grundzügen der impliziten Theorie Webers entspricht. Zudem soll gezeigt werden, dass Luhmanns – in den verschiedenen Phasen seines Werkes unterschiedliche – Systematik von vormodernen Gesellschaftsdifferenzierungen implizit einen methodischen Status hat, der den explizit als solchen bezeichneten Idealtypen Webers entspricht. Abschließend wird argumentiert, dass beider Versuche, die griechisch-römische Antike in evolutionstheoretischen Zusammenhängen zu verorten, mit ähnlichen Schwierigkeiten ringen und dadurch gemeinsam auf zentrale Sachverhalte und Probleme verweisen, die aufschlussreich für die gegenwärtige althistorische Forschung sind.

2 Webers Theorie der soziokulturellen Evolution in der Antike 2.1 Idealtypische Entwicklungen In seinem berühmten Aufsatz „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904) hatte Weber erstmals den „Idealtypus“ als heuristisches Mittel der historischen Erkenntnis sozialer Erscheinungen definiert: Ein Idealtypus – so die bekannten Sätze – werde gewonnen durch die einseitige Hervorhebung bestimmter, an realhistorischen Phänomenen feststellbarer Merkmale, die zu einem „in sich einheitlichen Gedankengebilde“ zusammengeschlossen würden. „In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankengebilde nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nah oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht.“18 Aufschlussreich ist nun, dass er im Objektivitätsaufsatz auch vorschlug, anhand von Ähnlichkeiten und Analogien historischer Abläufe unterschiedlicher Zeiten und Kulturkreise auch gesellschaftliche Entwicklungen idealtypisch zu konstruieren, also gewissermaßen diachrone Idealtypen zu entwerfen, die es ermöglichten, im Vergleich mit den realhistorischen Entwicklungen deren jeweilige Individualität und Besonder-

18 Weber: „Objektivität“, S. 65, vgl. S. 69 (WL, S. 191, 194).

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heit zu verdeutlichen19. Genau dieses Verfahren, so lässt sich zeigen, wendet er nun in den „Agrarverhältnissen im Altertum“ an.

2.2 Feudalismus und Kapitalismus der Antike Der Lexikonartikel, der in der 2006 erfolgten Neuedition 465 Seiten umfasst und der als Webers Hauptwerk zur Antike zu gelten hat20, beginnt mit dem Satz: Den Siedelungen des europäischen Okzidents ist im Gegensatz zu denjenigen der ostasiatischen Kulturvölker gemeinsam, dass – wenn man eine kurze und daher nicht ganz genaue Formel anwenden will –, bei jenen der Übergang zur endgültigen Sesshaftigkeit ein Übergang von einem starken Vorwalten der Vieh-, spezieller noch: der Milchviehzucht, gegenüber dem Bodenanbau zum Überwiegen der Bedeutung des Bodenanbaues über die mit ihm kombinierte Viehhaltung, – bei diesen dagegen von extensiver und deshalb nomadisierender Ackernutzung zum gartenmäßigen Ackerbau ohne Milchviehhaltung ist21.

Weber geht also aus von Unterschieden zwischen okzidentalen und ostasiatischen Völkern hinsichtlich der Relation von Ackerbau und Viehhaltung sowie den daraus resultierenden Arten der Bodenappropriation, die sich beim Übergang zur Sesshaftigkeit ergaben. Im okzidentalen Bereich selbst unterscheidet er sodann die agrarischen Verhältnisse des Vorderen Orients von denen Europas, d. h. des Mittelmeerraumes und Zentraleuropas. Trotz ähnlicher „Ausgangspunkte der Entwicklung“ im Okzident insgesamt sei „jener Entwicklungsgang“ in Mesopotamien und Ägypten „sehr stark alte19 Ebd., S. 76f. (WL, S. 203): „Auch Entwicklungen lassen sich [...] als Idealtypen konstruieren, und diese Konstruktionen können ganz erheblichen heuristischen Wert haben. [...] Ob der empirisch-historische Verlauf der Entwicklung tatsächlich der konstruierte gewesen ist, wäre nun erst mit Hilfe der Kon­ struktion als heuristischem Mittel zu untersuchen im Wege der Vergleichung zwischen Idealtypus und ‚Tatsachen‘.“ 20 Auch in der neueren althistorischen Weberforschung steht eine ausführlichere Würdigung des Textes trotz der Neuedition von Jürgen Deininger in der MWG noch aus. Bislang stand meist die Diskussion von Einzelproblemen im Vordergrund, insbesondere die Verwendung des Kapitalismus-Begriffs für die Charakterisierung der antiken Wirtschaft, die meist mit mehr oder weniger großem Befremden konstatiert wurde. Nicht beachtet wurde, dass Weber den Kapitalismus-Begriff in Relation zu weiteren Begriffen, v. a. „Feudalismus“ und „Seßhaftigkeit“, benutzt, was auf eine Typologie gesellschaftlicher Entwicklungsstufen deutet. Vgl. etwa Wollheim: Aufstieg; Heuss: Max Webers Bedeutung, S. 539f.; Deininger: Politische Strukturen, S. 91–94; Nippel: Methodenentwicklung, S. 369f.; Winterling: Max Webers Analysen, S. 435–444; zuletzt Bruhns: Agrarverhältnisse, S. 175. – Zu Webers Konzept des „Stadtfeudalismus“ vgl. Deininger: Antike Stadt, S. 271–273; Winterling: Römische Republik, S. 606–608; Capogrossi Colognesi: Max Weber und die Wirtschaft der Antike, S. 318–324. 21 AV3, S. 320 (SW, S. 1f.).

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riert (worden) durch die einschneidende Bedeutung der Stromufer- und Bewässerungskultur“, die der gesamten Wirtschaft ein spezifisches Gepräge gegeben habe, während „die hellenischen und [...] auch das römische Gemeinwesen in ihrer agrarischen Unterlage wesentlich mehr Verwandtschaft mit unseren mittelalterlichen Zuständen“ zeigten22. Die „entscheidenden Unterschiede“ der Antike gegenüber den mittelalterlichen Zuständen wiederum hätten sich „herausgebildet auf derjenigen Entwickelungsstufe, auf welcher, bei vollzogener fester Siedelung, [...] eine Berufskriegerschaft sich herausdifferenzierte“23: Die unterschiedliche Art des Imports einer neuen militärischen Technik – auf dem Seeweg im Mittelmeerraum, auf dem Landweg in Zentraleuropa – habe in der Antike zu einem „‚Stadtfeudalismus‘“ und zur Bildung „feudaler Stadtstaaten“, im frühen Mittelalter dagegen zu einem ländlichen Feudalismus und der Entstehung der Grundherrschaft geführt24. Weber stellt also eine Abfolge bestimmter „Stufen“ gesellschaftlicher Entwicklung fest – Vorsesshaftigkeit, Sesshaftigkeit, Ausdifferenzierung einer Berufskriegerschaft, d. h. eines kriegerischen Adels – und konstatiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den jeweiligen Ausprägungen dieser Entwicklungsstufen in Ostasien, dem Vorderen Orient, dem Mittelmeerraum und Europa nördlich der Alpen. Als Ursachen für die Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden einerseits naturräumliche Bedingungen angeführt (die großen Flüsse in Vorderasien und Ägypten, das Mittelmeerbecken, die großen Binnenlandflächen Zentraleuropas), andererseits die damit gegebenen unterschiedlichen Möglichkeiten des Kulturtransfers (Verbreitung der Militärtechnik von Süden nach Norden). Auffällig bei der Herausstellung der Gemeinsamkeiten zwischen früher antiker und frühmittelalterlicher Gesellschaft auf der Entwicklungsstufe der „Berufskriegerschaft“ ist die idealtypische Fassung des Begriffs „Feudalismus“, der nicht auf seine „spezielle Ausprägung“ im europäischen Mittelalter beschränkt, sondern für „alle jene sozialen Institutionen“ verwandt wird, „welchen die Herausdifferenzierung einer für den Krieg oder den Königsdienst lebenden Herrenschicht und ihre Sustentation durch privilegierten Landbesitz, Renten oder Fronden der abhängigen waffenlosen Bevölkerung zugrunde liegt“25. Bei dieser abstrakteren Fassung des Begriffs zeigten sich die jeweiligen historischen Besonderheiten und Unterschiede dann „in der verschiedenen Art, wie die Kriegerklasse gegliedert und ökonomisch gesichert ist“26: Einerseits eine 22 AV3, S. 321 (SW, S. 2). 23 Ebd. 24 AV3, S. 323 (SW, S. 3f.). 25 AV3, S. 322 (SW, S. 3). 26 Ebd.

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„‚individualistische‘ Form des Feudalismus“ im okzidentalen Mittelalter, die durch „die Dislokation des Herrenstandes als Grundherren über das Land“ gekennzeichnet war; andererseits in der Frühzeit des Altertums die spezifische Form des „‚Stadtfeudalismus‘“, der durch „in befestigten Orten zusammengesiedelte Berufskrieger“ bestimmt war27. Hinsichtlich der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung, die durch die Verbreitung der Geldwirtschaft gekennzeichnet ist, hebt Weber nun zunächst vor allem die Differenz zwischen antiken und mittelalterlichen Verhältnissen hervor. Er fragt nach dem „Verhältnis jenes antiken Stadtfeudalismus zur Verkehrswirtschaft“. Sie erinnere an „das Emporwachsen des freien Gewerbes in unseren mittelalterlichen Städten [...] und die Zersetzung des feudalen Staates durch die Geldwirtschaft im späten Mittelalter und der Neuzeit“ – also an die Entstehung des modernen Kapitalismus28. Er weist „diese Analogien mit mittelalterlichen und modernen Erscheinungen, scheinbar auf Schritt und Tritt vorhanden“, jedoch als nicht selten „trügerisch“ und „unverlässlich“ zurück und konstatiert: „Die antike Kultur hat spezifische Eigentümlichkeiten, welche sie von der mittelalterlichen wie von der neuzeitlichen scharf unterscheiden.“ Sie sei, anders als das Mittelalter, im Okzident bis an den Beginn der Kaiserzeit „Küstenkultur“, im Orient und in Ägypten „Stromuferkultur“29. Weber widerspricht zeitgenössischen Auffassungen von der „Modernität“ antiker Wirtschaft, die in der sogenannten Bücher-Meyer-Kontroverse – wie Weber schon früh sah: unproduktiv30 – diskutiert wurden, und stellt die Frage: „Kennt das Altertum (in einem kulturhistorisch relevanten Maß) kapitalistische Wirtschaft?“31 Er weist auch hier die Beschränkung des Begriffs auf ein historisch-individuelles Phänomen, auf die moderne Ausnutzung „formell ‚freier‘ Arbeit“ im Großbetrieb und die daran anschließenden Formen des Wirtschaftens zurück und definiert Kapitalismus stattdessen idealtypisch als Wirtschaftsform, „wo Besitzobjekte, die Gegenstand des Verkehrs sind, von Privaten zum Zweck verkehrswirtschaftlichen Erwerbes benutzt werden“32. Bei solcher Fassung des Begriffs stehe, so Weber, „nichts fester als ein recht weitgehend 27 AV3, S. 323 (SW, S. 3). 28 AV3, S. 323 (SW, S. 4). 29 AV3, S. 323f. (SW, S. 4). 30 Die Texte sind zusammengestellt bei Finley (Hg.): Buecher-Meyer Controversy; vgl. Schneider: Bücher-Meyer Kontroverse; zuletzt Reden: Antike Wirtschaft, S. 91–93. – Webers Stellungnahme (AV3, S. 327–334 [SW, S. 7–12]) läuft auf die Feststellung einer methodisch-theoretischen Unhaltbarkeit beider Positionen hinaus, die ihren Grund in einem ihnen – trotz ganz unterschiedlicher inhaltlicher Folgerungen – gemeinsamen evolutionistischen Ansatz hat. Dazu Winterling: Römische Republik, S. 607f. 31 AV3, S. 334 (SW, S. 12). 32 AV3, S. 338 (SW, S. 15).

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‚kapitalistisches‘ Gepräge ganzer – und gerade der ‚größten‘ – Epochen der antiken Geschichte.“33 Die Besonderheiten des antiken gegenüber späteren europäischen Formen des Kapitalismus sieht Weber in dessen Abhängigkeit von politischen Rahmenbedingungen. Die wichtigsten antiken Arten kapitalistischen Wirtschaftens, der Sklavengroßbetrieb in der Landwirtschaft sowie die Steuerpacht, hätten jeweils einen erfolgreich Eroberungskriege führenden Stadtstaat zur Voraussetzung gehabt34. Nur dieser bewirkte die Billigkeit von Boden und Menschenmaterial, gleichzeitig mangelte es ihm an einer bürokratischen Organisation zur Steuereinnahme, so dass sich das System der Steuerpacht etablierte. Umgekehrt seien unter den Bedingungen antiker Monarchie, die an einer dauerhaften Ausnutzung – und damit Schonung – der Steuerkraft der Untertanen interessiert war und die daher eine eigene Steuerbürokratie aufbaute, die Möglichkeiten kapitalistischen Wirtschaftens nachhaltig behindert, der Kapitalismus insgesamt schließlich „erdrückt“ worden35. Der politisch zunächst ermöglichte und dann politisch gehemmte Kapitalismus der Antike hatte daher, nach Vorläufen in Griechenland, seinen Höhepunkt in der Zeit der späteren römischen Republik, sein Ende fand er in der römischen Kaiserzeit. Weber behandelt also, so kann man festhalten, „Kapitalismus“ als ein allgemeines, idealtypisch definiertes Stadium der Wirtschaftsentwicklung und ermittelt sodann die Differenzen seiner besonderen Ausprägungen in der Antike im Gegensatz zu denen des Mittelalters und der Neuzeit. Pointiert zusammenfassend schreibt er: Im Altertum „lebte der Kapitalismus [...] letztlich allein vom Politischen, er war, sozusagen, nur indirekt ökonomisch“36. Webers Erörterungen im ersten Teil der Einleitung der „Agrarverhältnisse“ lassen sich nun in dem skizzierten Schema 1 darstellen: Ausgangspunkt sind verschiedene, idealtypisch definierte gesellschaftlich-kulturelle Entwicklungsstufen. Diese prägten sich aufgrund unterschiedlicher räumlich-zeitlicher Voraussetzungen in unterschiedlicher Form aus. Die Möglichkeit des Fortgangs der Entwicklung von einer zur nächsten Stufe war wiederum abhängig vom Vorliegen bestimmter, historisch-individuell gegebener Bedingungen.

33 AV3, S. 338 (SW, S. 15f.). 34 AV3, S. 341–355 (SW, S. 18–29). 35 AV3, S. 353 (SW, S. 28). 36 AV3, S. 715 (SW, S. 271).

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2.3 Organisationsstadien städtischer Entwicklung Auf den letzten Seiten der Einleitung präsentiert Weber ein weiteres Entwicklungsschema (vgl. Schema 2), das er mit dem Hinweis auf die Verflechtungen von Agrarund Stadtgeschichte in der Antike motiviert und das dann die Überleitung zu seinen komplexen Analysen der Verhältnisse Mesopotamiens, Ägyptens, Altisraels, des klassischen Griechenland, des Hellenismus, des republikanischen Rom und der Kaiserzeit darstellt37. Er unterscheidet sieben „Organisationsstadien, die sich, bis zu einem gewissen Maße, bei allen denjenigen ‚antiken‘ Völkern, von der Seine bis zum Euphrat, welche überhaupt städtische Entwicklung gekannt haben, wiederholt zu haben scheinen“38. Als frühesten Zustand nimmt Weber eine Siedlungsart an, die durch Hausgemeinschaft und Dorf sowie durch einen sie umgebenden Schutzwall gekennzeichnet ist. Es existiert ein politischer Häuptling, der in seinen Funktionen beschränkt ist und dessen Sippe durch freiwillige Geschenke eine ökonomische Vorrangstellung besitzt39. In einem zweiten Stadium tritt als Vorstufe der Stadt die Burg auf. Sie ist im Besitz eines „Königs“, der durch Boden-, Sklaven-, Vieh- und Edelmetallbesitz sowie durch eine persönliche Gefolgschaft ausgezeichnet ist, die zunächst mit ihm an seiner Tafel speist, dann von ihm mit Land oder anderen Besitztümern beschenkt oder belehnt wird und die vom übrigen bäuerlichen Volk unterschieden ist. Als Voraussetzung für die Entstehung dieses „Burgenkönigtums“ nennt Weber fruchtbaren Boden und Handelsgewinne. Es kann bei kriegerischen Eroberungen zu Reichtumsdifferenzierungen und Herrschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen Burgherren führen, zu einem „primitiven Heerkönigtum“, das als Anfang aller antiken „Staaten“ bezeichnet wird40. Als drittes Stadium schließt sich die Entwicklung der „‚Polis‘“ vom „Typus des ‚Adelsstaates‘“ an: Eine Schicht von adligen Geschlechtern, die aufgrund ihrer ökonomischen Lage zu militärischer Selbstausrüstung und zu ritterlicher Lebensführung befähigt ist, beherrscht eine Akropolis und von ihr aus das platte Land. Als Bedingung dieser Entwicklung nennt Weber wiederum die Bodenqualität als Bedingung der Bildung von Grundrenten, sodann Geldgewinnchancen durch Handel, was eine Küstennähe der städtischen Siedlung bedeutete. Typische Arbeitskräfte seien – neben den nicht zu den Geschlechtern gehörenden Bauern – Schuldsklaven oder Klienten. Die Emanzipation des „Lehenadels des alten Burgkönigs“ von dessen Herrschaft stellt nach Weber eine Analogie zur „feudal-grundherrlichen Entwicklung im kontinentalen 37 AV3, S. 360–371 (SW, S. 34–43). 38 AV3, S. 362 (SW, S. 35). 39 AV3, S. 362 (SW, S. 35f.). 40 AV3, S. 363f. (SW, S. 36f.).

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frühen Mittelalter“ dar. Der entscheidende Unterschied sei die Konstituierung des städtischen Adels als „sich selbst verwaltende, militärisch gegliederte städtische Gemeinde, vom König als primus inter pares oder (fast immer im weiteren Verlauf) Wahlbeamten, aber, – das ist das Entscheidende – ohne Bureaukratie, geleitet.“41 Eine vierte Form stellt nach Weber das „bureaukratische Stadt- oder Stromuferkönigtum“ dar. Es bedeutet „eine Entwicklung nach anderer Richtung hin“, die sich aus dem zweiten Zustand, dem „Burgenkönigtum“ ergeben kann. Hier gelingt es dem König, durch ökonomischen Machtgewinn die militärischen Mittel zu monopolisieren, seine Gefolgschaft in ein Leibeigenenheer zu verwandeln und einen von ihm abhängigen hierarchischen „Beamtenstand“ zu schaffen, durch den ein Zugriff auf Fronden oder Tribute der Untertanen ermöglicht wird. Weber nennt als Beispiele die Frühzeit Ägyptens und Mesopotamiens (Assur und Babylon). Die Frage, ob die Entwicklung vom Burgenkönigtum zur Adelspolis oder zum bürokratischen Stadtkönigtum hin verläuft, ist nach Weber „offenbar [...] von verwickelten teils geographischen, teils rein historischen Bedingungen abhängig“42, also in hohem Maße kontingent. Verkehrswirtschaftliche Verhältnisse, die Monopolisierung des Außenhandels und die damit ermöglichte Bildung eines Hortes, spielten schon bei der Etablierung des Burgenkönigtums eine Rolle. Geldwirtschaft ist bereits auf der Stufe der Adelspolis bzw. des bürokratischen Stadtkönigtums vorhanden. Aus dem vierten Zustand könne sich sodann mit zunehmender „Rationalisierung der staatlichen Bedarfsdeckung“ bruchlos als fünftes Stadium der „autoritäre Leiturgiestaat“ entwickeln, „der planmäßig die Deckung der Staatsbedürfnisse durch ein kunstvolles System von öffentlichen Lasten erstrebt und die ‚Untertanen‘ als reine Objekte behandelt“. Weber bezieht diesen Typus auf den „‚aufgeklärten‘ Despotismus der orientalischen Antike“43. Aus dem Zustand der Adelspolis entsteht nun im antiken Mittelmeerraum mit verschiedensten „Übergangsstufen“ sechstens der „Typus der ‚Hoplitenpolis‘“. Sie ist gekennzeichnet durch die Brechung der Herrschaft der Geschlechter, das politische Vollbürgerrecht aller Grundbesitzenden, die gleichzeitig das sich selbst ausrüstende Bürgerheer stellen. Ihre Konstituierung geht einher mit den archaischen Gesetzgebungen, deren Ziel es ist, festes und allgemein zugängliches Recht zu schaffen und den Kampf zwischen adligen Gläubigern und bäuerlichen Schuldnern zu schlichten44. Ihre „Fortentwicklung“ wiederum sei siebtens die „demokratische Bürgerpolis“. Hier ist die Wehrpflicht und damit das Vollbürgerrecht unabhängig vom Grundbesitz geworden: 41 AV3, S. 364f. (SW, S. 37f.). 42 AV3, S. 365–367 (SW, S. 38f.). 43 AV3, S. 367f. (SW, S. 39f.). 44 AV3, S. 368 (SW, S. 40).

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Es bestehe die Tendenz der Zulassung aller (in den Seestädten) zum Flottendienst qualifizierten zu den politischen Ämtern45. Im Stadium der Hoplitenpolis sieht Weber in wirtschaftlicher Hinsicht „die kapitalistische Entwickelung“ eingreifen46, die zur Ersetzung der Schuld- durch die Kaufsklaverei führte. Die klassische Epoche der Antike sei vornehmlich durch deren Auswirkungen bestimmt. Sie bewirkte eine Veränderung der Bodenbesitz- und Betriebsverhältnisse in der Landwirtschaft, das Vordringen von Sklaven- oder Parzellenpächterbetrieben, damit das Sinken der freien grundbesitzenden Bauernschaft und auf militärischem Gebiet das Vordringen des Soldheeres oder – wie in Rom – des „caesaristischen Proletarierheeres“. Letzteres wiederum führte zur „endgültigen Ablösung des Stadtstaates durch die universelle Militärmonarchie“47. Im römischen Weltreich sieht Weber den „Abschluss der Antike“. Am Ende der Agrarverhältnisse charakterisiert er das Kaiserreich als einen „Leiturgiestaat nach hellenistisch-ägyptischem Muster“, der den antiken, auf politischen Verhältnissen basierenden Kapitalismus „erstickt“ habe48. Dies bedeutet: Die Entwicklung im Mittelmeerraum mündete in einer Organisationsform, die sich im vorderorientalischen Raum bereits lange zuvor etabliert hatte: im (fünften) Typus des autoritären Leiturgiestaates. Im Gefolge der Verlagerung des Kulturschwerpunktes von der Küste zum Binnenland sei dann in der Spätantike eine neue Erscheinung hervorgetreten: die ländliche Grundherrschaft mit an die Scholle gebundenen Kolonen49. In ihrer Durchsetzung und den daran anschließenden ökonomischen, sozialen und politischen Konsequenzen sieht Weber „den Übergang zu unserer mittelalterlichen Gesellschaft“ angelegt50. Weber selbst hat den theoretischen Status dieses Schemas von „Organisationsstadien“ folgendermaßen erläutert: Die verschiedenen Typen existierten in der Realität selten „reinlich geschieden neben- oder nacheinander“. Es handle sich um „idealtypische Begriffe“, die die Funktion hätten, „den einzelnen Staat danach orientierend zu klassifizieren: ob er sich, im ganzen oder in bestimmten einzelnen Beziehungen, zu einem gegebenen Zeitpunkt dem einen oder dem anderen jener begrifflichen Typen mehr oder minder annähert. „Denn“, so fügt er an, „die realen Staatswesen spotten naturgemäß in den historisch wichtigsten Bestandteilen ihrer Eigenart meist jeder so einfa45 Ebd. 46 AV3, S. 369 (SW, S. 41). 47 AV3, S. 370 (SW, S. 42). 48 AV3, S. 720f. (SW, S. 275). 49 AV3, S. 370 (SW, S. 42). 50 AV3, S. 371 (SW, S. 43). – Zur hier vorgelegten graphischen Darstellung von Webers zweitem Entwicklungsschema ist zu bemerken, dass die Typen „universale Militärmonarchie“ und „ländliche Grundherrschaft“ über das Schema hinausweisen, da sie nicht mehr auf städtischer Organisation basieren.

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chen Klassifikation.“51 Er weist ausdrücklich auf Einzigartigkeiten der „Entwicklungsvorgänge“ von Sparta, Athen in der Hegemonialzeit sowie Rom hin und betont, dass generell Elemente aus verschiedenen Stadien sich zu einem konkreten historischen Ganzen zusammenschließen könnten52. Schließlich erwähnt er die im Schema nicht berücksichtigten bundesstaatlichen Zusammenschlüsse, z. B. Aitoler und Samniten, die von ihm als „militärisch [...] konstituierte Samtgemeinde von Bauernschaften“ charakterisiert werden, und betont die Reduktion auf militärisch-politische Faktoren, die die Differenzen zwischen weltlicher und theokratischer Orientierung sowie die damit zusammenhängenden unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen außer Acht ließen53.

2.4 Evolution ohne Evolutionismus Weber betont also bei beiden Schemata, dass es sich jeweils nicht – wie das „evolutionistische“ Theorien des 19. Jahrhunderts unterstellten – um die Abfolge von realen Entwicklungsstufen oder um reale städtische Organisationsstadien, dass es sich vielmehr um konstruierte typologische Stufenfolgen handle, die den Zweck hätten, als Vergleichsgröße zu dienen, um die realen historischen Entwicklungen in Abweichung vom konstruierten Verlaufstypus zu ermitteln. Die Typologie gesellschaftlicher Entwicklungsstufen (das erste Schema) eröffnet so den Blick auf die Besonderheiten des ländlichen Feudalismus des Frühmittelalters einerseits, des Stadtfeudalismus der antiken Adelspolis andererseits; auf die Besonderheit des im Spätmittelalter entstehenden modernen Kapitalismus einerseits, die Formen kapitalistischen Wirtschaftens in der klassischen Antike andererseits. Die Typologie der Organisationsstadien erlaubt es, reale antike städtische Gemeinwesen in ihren wesentlichen Eigenschaften zeitlich bestimmten Entwicklungsstufen und sachlich bestimmten Organisationsstrukturen zuzuordnen. Die methodische Funktion, die Weber beiden Entwicklungstypologien zuweist, zielt somit auf historische Forschung. Über die den Schemata selbst zugrundeliegende Theorie gesellschaftlicher Entwicklung hat er sich nicht explizit geäußert. Aufschlussreich für deren Rekonstruktion ist zunächst die Zeitdimension beider Schemata. Betrachtet man sie genauer, zeigt sich folgendes: Die Entwicklungsstufen, die die räumlich abgegrenzten Kulturkreise in verschiedenen Ausprägungen durchlaufen, sind in unterschiedlichen historischen Zeiten angesiedelt (Schema 1). So fand 51 Ebd. 52 AV3, S. 372 (SW, S. 44). 53 AV3, S. 371f. (SW, S. 43f.).

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die Ausdifferenzierung einer „Berufskriegerschaft“ im mittelmeerischen Stadtfeudalismus etwa ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland, ab dem 7. in Italien statt, das vergleichbare Phänomen ist andererseits im zentraleuropäischen ländlichen Feudalismus erst mehr als 1500 Jahre später greifbar. Vergleicht man in Schema 2 Rom und den Vorderen Orient auf den analogen Entwicklungsstufen, so befindet man sich einmal wiederum im 7. Jahrhundert v. Chr. (Adelspolis), das andere Mal – beim bürokratischen Stadtkönigtum – irgendwann im 3. Jahrtausend v. Chr. Entsprechend variiert auch die zeitliche Dauer der in den Schemata parallelisierten Entwicklungsstadien. Man kann nun, wie dies Weber in der Einleitung der „Agrarverhältnisse“ an einigen Stellen selbst andeutet, beide Entwicklungsschemata miteinander verbinden und graphisch ineinander projizieren (vgl. Schema 3). Hier ergibt sich nun folgendes Problem: Das gesamte Entwicklungsschema ist räumlich und zeitlich nicht mehr zuzuordnen. Im Mittelmeerraum folgt auf den politischen Kapitalismus ab der römischen Kaiserzeit der Leiturgiestaat vorderorientalischen Musters, auf diesen wiederum – nach Weber – ländlich feudale Strukturen und damit auf geldwirtschaftliche naturalwirtschaftliche Wirtschaftsformen. Dies bedeutet aber, dass, wenn man das raum-zeitliche Raster beibehält, die individuellen Entwicklungslinien entweder ihre räumliche Zuordnung aufgeben müssen oder dass – bei Beibehaltung der räumlichen Zuordnung – die zeitliche Sukzession der Entwicklungsstufen verloren geht. Die Unvereinbarkeit des Schemas mit einer raum-zeitlichen Verortung ist nun keineswegs ein Mangel desselben. Sie indiziert vielmehr einen zentralen Sachverhalt bezüglich der ihm zugrundeliegenden Theoriekonzeption. Bei Webers Schema handelt es sich nicht um eine Abbildung realer strukturgeschichtlicher Verläufe, auch nicht um eine ausschließlich idealtypische Konstruktion realhistorischer Veränderungen, vielmehr hat Weber hier – von realhistorischem Material ausgehend – eine generelle, von historischen Räumen und Zeiten abstrahierende, Theorie der Möglichkeiten gesellschaftsstrukturellen Wandels aufgestellt, d. h. in der oben entwickelten Begrifflichkeit: eine Theorie soziokultureller Evolution. Diese Evolutionstheorie lässt sich nun folgendermaßen charakterisieren: 1. Sie geht von verschiedenen Entwicklungsniveaus von Gesellschaften aus (Sesshaftigkeit, Ausdifferenzierung eines Adels, Geldwirtschaft, Modernität). Es gibt jedoch weder eine Uniformität der jeweiligen Entwicklungsniveaus, noch eine gesetzmäßige Stufenfolge im Sinne eines regelmäßigen „Fortschritts“ zur nächst höheren Stufe. Vielmehr sind einerseits ganz unterschiedliche jeweilige Ausprägungen möglich (Stadtfeudalismus, ländlicher individualistischer Feudalismus), andererseits sind auch Rückentwicklungen, Regressionen, möglich, indem sich ein Entwicklungsniveau als

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überlegen erweist (z. B. in der Spätantike der Leiturgiestaat gegenüber dem politisch bedingten Kapitalismus). 2. Der Verlauf gesellschaftlicher Evolution wird nicht uni-, sondern multilinear angenommen. Das heißt, die Entwicklung kann von gleichen Ausgangslagen aus ­verschiedene Richtungen nehmen (die Gabelungen der Entwicklungslinien). Die eingeschlagene Richtung ist dabei kontingent. Es können geographisch-ökologische Faktoren eine Rolle spielen (Bedeutung der großen Flüsse im Vorderen Orient; Mittelmeerbecken; ländliches Zentraleuropa), im Zusammenhang damit wirtschaftliche Bedingungen (Handelsbeziehungen) oder die Nähe zu komplexeren Gesellschaften (Import überlegener Militärtechnik). Es können auch „rein historische Bedingungen“, wie Weber sich ausdrückt, d. h. Zufälle, eine Rolle spielen. 3. Ebenso wie sich von gleichen Ausgangslagen verschiedene Entwicklungen ergeben können, können sich umgekehrt ähnliche gesellschaftliche Strukturen von verschiedenen Ausgangslagen her entwickeln: So kann der autoritäre Leiturgiestaat aus dem bürokratischen Stadtkönigtum (Orient) oder aus der Desintegration einer erfolgreichen Hoplitenpolis (Rom) entstehen; ländlicher, individualistischer Feudalismus kann sich (im frühmittelalterlichen Zentraleuropa) aus einem Burgenkönigtum oder (im spätantiken römischen Reich) aus einem überforderten Leiturgiestaat entwickeln. 4. Die Theorie stellt in diachroner Perspektive Diffusionsphänomene in Rechnung: Die Neuentwicklung, die der antike Stadtfeudalismus darstellt, stand im Zusammenhang mit dem Import neuer militärischer Techniken auf dem Seeweg aus dem Orient, der frühmittelalterliche Feudalismus hing zusammen mit ihrer Verbreitung auf dem Landweg aus dem Mittelmeerraum. Schon vorhandene evolutionäre Errungenschaften können somit an ihrer Peripherie neue evolutionäre Weiterentwicklungen auslösen, die schließlich – im Falle des frühmittelalterlichen Zentraleuropa – zur Entstehung der modernen Gesellschaft führen. Veränderungen werden also nicht ausschließlich endogen, sondern auch exogen verursacht, sie weisen keinerlei Zielrichtung oder Notwendigkeit auf. Evolution erscheint damit als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit, indem sie die Voraussetzung für ihren Fortgang selbst schafft. Den beiden Entwicklungsschemata, die Max Weber in der Einleitung der „Agrarverhältnisse“ präsentiert und die er als raum-zeitlich individualisierte idealtypische Verlaufsreihen bei seinen historischen Analysen der Agrarverhältnisse der wichtigsten antiken Kulturräume zu Anwendung bringt, liegt, so lässt sich festhalten, eine Theorie soziokultureller Evolution zugrunde, die auf die Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlichen Strukturwandels überhaupt abzielt und die hinsichtlich ihrer Komplexität, wie im Folgenden zu zeigen ist, dem Niveau gegenwärtiger Evolutionstheorien vergleichbar ist.

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3 Die Antike in Luhmanns Theorie soziokultureller Evolution 3.1 Evolution der Evolutionstheorie Bei Luhmanns Umgang mit der griechisch-römischen Antike im Rahmen seiner Forschungen zur sozio-kulturellen Evolution lassen sich drei Phasen unterscheiden, die jeweils im Zusammenhang mit Entwicklungen seiner soziologischen Theorie insgesamt stehen dürften54. In der ersten Phase, in der System- und Evolutionstheorie verbunden werden55, wird die Antike ausführlicher in der 1972 publizierten Rechtssoziologie zum Gegenstand gemacht. Die zweite Phase, etwa ab Mitte der 1970er Jahre, bezieht im Anschluss an Talcott Parsons zusätzlich eine Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien (vor allem Macht, Eigentum/Geld, Wahrheit und Liebe) ein, die, sofern ausdifferenziert, als Verstärkung von Kommunikationserfolgen und damit als Voraussetzung für weitere gesellschaftliche Entwicklung angesehen werden56. Die Konzeptualisierung der Antike in dieser Phase lässt sich an der jüngst unter dem Titel „Systemtheorie der Gesellschaft“ aus dem Nachlass publizierten, 1973–1975 geschriebenen, 1100 Seiten starken Version seiner Gesellschaftstheorie zeigen57. Die dritte Phase geht einher mit Luhmanns seit 1980 publizierten, im engeren Sinne historischen Studien zu „Gesellschaftsstruktur und Semantik“, die den Wandel der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung in der europäischen Frühen Neuzeit als Reaktion auf die sich durchsetzende funktionale Differenzierung der Gesellschaft untersuchen, sowie mit der etwa gleichzeitig erfolgten Einführung des Konzepts der Autopoiesis, 54 Schon angesichts des immensen Umfangs des Luhmannschen Werks (vgl. die Werkübersicht in: Luhmann Handbuch, S. 443–462) und des Fehlens von einschlägigen Untersuchungen zu diesem Thema mag es überflüssig sein zu betonen, dass die folgenden Analysen – um es in Luhmanns eigene Worte zu kleiden – höchst selektiv vorgehen, die Komplexität des Gegenstandes stark reduzieren und der Evolution der Luhmannschen Evolutionstheorie (z. B. durch die einfache Phaseneinteilung) kaum gerecht werden dürften. Zudem ist drauf hinzuweisen, dass wir uns gewissermaßen in einem kleinen Kellerraum eines großen Theoriegebäudes bewegen, und das althistorische Interesse gilt daher nicht der Frage „Hat Luhmann recht?“. (Vgl. dazu Luhmann: „Mittelalter“ [zu: Oexle: Luhmanns Mittelalter].) Vielmehr geht es darum, die Beobachtungen von Unterschieden in Luhmanns Beobachtungen der Antike als Indikatoren für aufschlussreiche (althistorische) Problemstellungen zu nutzen. – Ich danke meinen studentischen Mitarbeitern Marius Bensley, Marcel Kiefer, Thore Menze und Anna-Sophia Rösche für das kundige Aufsuchen von einschlägigen Stellen in Luhmanns Werk. 55 Vgl. Luhmann: Gesellschaftliche Evolution. Vgl. das Nachwort von André Kieserling zu dem aus dem Nachlass herausgegebenen, Mitte der 1960er Jahre geschriebenen Buchmanuskript: Luhmann: Politische Soziologie, S. 450f. 56 Luhmann hat diese Ergänzung und Neufassung seiner Evolutionstheorie in einem Beitrag auf dem Deutschen Soziologentag 1974 vorgestellt: Luhmann: Systemtheoretische Konstruktion; vgl. Ders.: Einführende Bemerkungen. 57 Berlin 2017.

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das Gesellschaft als ein sich über sinnhafte Kommunikation selbstreferentiell reproduzierendes System beschreibt58. Für seine Theorie der Evolution des Gesellschaftssystems hatte dies zur Folge, dass einerseits die als „Ideenevolution“ thematisierte „Selbstbeschreibung“ von Gesellschaften intensiver in den Blick genommen wurde59 und dass andererseits die moderne funktionsdifferenzierte Gesellschaft stärker von allen vormodernen Epochen distanziert wurde. Hier ist es die 1997, kurz vor Luhmanns Tod, unter dem Titel „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ erschienene, 1150-seitige letzte Fassung der Gesellschaftstheorie, in der die Antike in einem entsprechend veränderten systematischen Kontext thematisiert wird60.

3.2 Nichtevolutionistische Evolution Eine Art Kurzfassung seiner allgemeinen Theorie soziokultureller Evolution kann zunächst Luhmanns Aufsatz über „Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution“ entnommen werden, der aus der Diskussion mit Historikern hervorgegangen ist und 1978 publiziert wurde61. Luhmann setzt hier in gewisser Hinsicht bei den Problemen an, die bei Webers Idealtypik sichtbar werden. Er rekapituliert die ethnologische, soziologische und historische Forschung, durch die praktisch sämtliche Elemente der klassischen „evolutionistischen“ Evolutionstheorie widerlegt worden waren: Demnach lassen sich evolutionäre Prozesse nicht als unilinear und zielgerichtet beschreiben, sie sind weder kontinuierlich noch irreversibel, nicht nur endogen, sondern auch exogen, nicht notwendig und nicht mit Fortschrittsvorstellungen zu assoziieren62. Er schlägt eine alternative Evolutionstheorie vor, die sozio-kulturelle Evolution als selbstreferentiellen Prozess konzeptualisiert, der sich im Verlauf seine eigenen Bedingungen schafft: „Man kann [...] davon ausgehen, dass Evolution selbst als Ergebnis von Evolution zu begreifen ist.“63 Anfang und Ende sind – im Gegensatz zu teleologischen Entwicklungsmodellen – somit offen64. 58 Luhmann: Autopoiesis; Ders.: Autopoiesis als soziologischer Begriff; wieder in: Jahraus (Hg.): Niklas Luhmann, S. 137–158; vgl. Klymenko: Autopoiesis. 59 Luhmann hat dieses neue „kulturgeschichtliche“ Thema 1980 mit einem Beitrag auf dem Deutschen Soziologentag vorgestellt: Luhmann: Ideengeschichten; vgl. Ders.: Gesellschaftliche Struktur. 60 Vgl. zuletzt Nassehi: Gesellschaft der Gesellschaft. 61 Prozess, SA III, S. 178–197; vgl. die umfangreichen früheren bzw. späteren Ausarbeitungen SG, S. 311– 385 („Mechanismen soziokultureller Evolution“) und GG, S. 451–505 (im Kapitel „Evolution“). 62 Prozess, SA III, S. 182–184. 63 Prozess, SA III, S. 193. 64 Prozess, SA III, S. 194. – Die in Historikerkreisen gelegentlich anzutreffende Behauptung, Luhmanns Theorie sei evolutionistisch und teleologisch, beruht somit auf unklaren Vorstellungen von Evolutionismus und Teleologie oder von Luhmanns Evolutionstheorie oder von allen drei Sachverhalten.

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Den Ausgangspunkt bilden neo-darwinistische Theorien der organischen Evolution, wonach Evolution verstanden wird als „ein spezifischer Mechanismus für Strukturänderungen, und zwar als ein Mechanismus, der ‚Zufall‘ zur Induktion von Strukturänderungen benutzt.“65 Entsprechend werden drei evolutionäre Mechanismen, nämlich Variation, Selektion und Stabilisierung66 angenommen und für sozio-kulturelle Evolution, die nicht auf Leben, sondern auf Kommunikation basiert, in folgender Weise angewandt67: Variation läuft über Sprache ab, die über unbegrenzte Negationsmöglichkeiten verfügt. Für evolutionäre Veränderungen ist daher von zentraler Bedeutung die Entstehung von schriftlicher, zusätzlich zu mündlicher Kommunikation sowie von – zusätzlich zu mündlicher und schriftlicher Kommunikation – technisch verbreiteter Massenkommunikation. Der Selektionsmechanismus wird im Bereich der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien verortet, die, sofern sie ausdifferenziert sind, den an sich unwahrscheinlichen Erfolg kommunikativer Neuerungen wahrscheinlicher machen. Stabilisierung schließlich erfolgt durch Systembildung bzw. Systemdifferenzierung, wobei Luhmann in den verschiedenen Phasen seiner Theorie unterschiedliche Typologien vormoderner Gesellschaften entwirft. Betont wird, dass sich aus den historisch vorfindbaren Gesellschaftstypen keine Prozessstruktur ableiten lasse. Vielmehr weisen die beobachtbaren unterschiedlichen Formen vielfältige Übergangslagen auf68: Ältere, obsolet gewordene Strukturen können lange beibehalten werden, ja einmal etablierte Systemstrukturen können „überstabilisiert“ und „involutiv“ gesteigert und dabei umso wichtiger werden, je weniger sie ihre ursprüngliche Funktion erfüllen69; im Gegenzug können sich Neuerungen etablieren, deren Funktion vielleicht erst später bedeutsam wird70; auch regressive Entwicklungen können stattfinden71. Luhmann nennt vier „Hilfskonzepte der Evolutionstheorie“, die die „Zeitelastizität“ und Vielfalt evolutionärer Veränderungsformen beschreiben72. So besteht die Möglichkeit, dass einzelne wichtige evolutionäre Errungenschaften, wie z. B. Schrift, Eigentum oder Stadtbildung in unterschiedlichen Gesellschaften von unterschiedlichen Ausgangspunkten her entwickelt und etabliert werden können. Das Phänomen deutet auf einen Bereich begrenzter Problemlösungen und wird mit dem Terminus „Äquifi65 Prozess, SA III, S. 184. 66 Für die Annahme eines dritten Mechanismus für die Aufdauerstellung evolutionärer Errungenschaften war Campbell: Variation, von Bedeutung; vgl. Nassehi: Systemtheorie als Evolutionstheorie, S. 49. 67 Prozess, SA III, S. 185f. 68 Prozess, SA III, S. 186. 69 Vgl. SG, S. 357f.; GS I, S. 89f., 98. 70 Prozess, SA III, S. 179f. 71 SG III, S. 357. 72 Prozess, SA III, S. 179f., 191f.

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nalität“ bezeichnet. Hervorbringungen und Stabilisierungen von Innovationen, die eine Gesellschaft selbst gewissermaßen noch gar nicht braucht, die erst später oder von anderen Gesellschaften aufgenommen und für weitere Veränderungen erfolgreich genutzt werden können, werden im Anschluss an Untersuchungen zur Entstehung früher Hochkulturen als „preadaptive advances“ bezeichnet. Die Unwahrscheinlichkeit des Wechsels der primären Systemdifferenzierung zeigt sich an „evolutionären Überleitungen“, mit denen Gesellschaften den Umfang ablaufender Neuerungen für sich selbst intransparent halten. Luhmann nennt als Beispiel die Selbstbeschreibung der Gesellschaft als bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert, die den systemstrukturellen Wechsel zu funktionaler Differenzierung gewissermaßen erleichterte, indem sie den Eindruck erweckte, es gehe nur um die Veränderung der Führungsschicht, den Aufstieg des Bürgertums. Ähnliches vermutet er für die Zukunftsvorstellungen jener Zeit. Als ein viertes Konzept werden „typenprägnante Problemlösungen“ angeführt, Fälle, wo die Identifikation des gesamten Gesellschaftssystems aus der Perspektive eines funktionsspezifischen Teilsystems erfolge73. Im Rahmen dieser allgemeinen Bestimmungen sind für die Frage nach konkreten Typologien vormoderner Gesellschaften und nach der Einordnung und evolutionären Bedeutung der griechisch-römischen Antike nun die verschiedenen Phasen des Luhmannschen Werkes genauer in Betracht zu nehmen.

3.3 Unvollständige funktionale Differenzierung und der gesellschaftliche Primat antiker Politik In der 1972 publizierten Rechtssoziologie unterscheidet Luhmann im Blick auf die Frage der Ausdifferenzierung rechtlicher Entscheidungsverfahren archaische, auf Verwandtschaft und segmentären Strukturen beruhende Gesellschaften, vorneuzeitliche Hochkulturen und die moderne Gesellschaft. Generell bildeten sich vorneuzeitliche Hochkulturen in „Gesellschaften mit unvollständiger funktionaler Differenzierung“74. Im Orient hätten sich zwar bereits ein politisches und ein religiöses Teilsystem aus der Verwandtschaftsordnung ausdifferenziert, beide jedoch nicht voneinander losgelöst, was zu religiös gebundenem Recht führte. In Fällen von patrimonialer Hausverwaltung habe sich das Recht zwar vom religiösen Bereich losgelöst, sei aber an häusliche Strukturen gebunden geblieben. Demgegenüber habe sich in der Antike ein religiös und vom Haus des Herrn weitgehend unabhängiges, vom gerichtlichen Verfahren aus und auf dieses hin konzipiertes Recht ent73 Prozess, SA III, S. 191f. Vgl. das Folgende. 74 RS I, S. 166.

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wickelt. „Wie die Geschichte der antiken Stadtstaaten belegt“, sei die Voraussetzung dafür ein „gesellschaftlicher Primat des politischen Funktionszentrums“75 gewesen. Dieser Primat wird beschrieben als eine „politische Verfasstheit der Gesellschaft in Ämtern und Verfahren“. Sie ging mit „Rangdifferenz“ und „Prestigegefälle“ einher und wurde gestützt durch Statussymbolik und besondere Kommunikationsweisen. Die politische Aufgabenteilung wurde entsprechend der Rangdifferenz hierarchisch geregelt76. Unvollständige funktionale Differenzierung und Primat der Politik bedeuten somit, dass eine nicht ungewöhnliche vorneuzeitliche Schichtungsstruktur der Gesellschaft („Rangdifferenz“) einherging mit der außergewöhnlichen Ausdifferenzierung politischer Ämter und Verfahren, die an die Schichtungsstruktur rückgebunden blieben. Die daraus resultierende Selbstreflexion der Gesellschaft als politischer Gesellschaft referiert Luhmann zustimmend: „Die politische Verfasstheit der Gesellschaft […] gilt für die griechische Selbstinterpretation und damit für die gesamte alteuropäische Tradition als Bedingung der Realisierung freien menschlichen Zusammenlebens in vernünftiger Rechtsform – und die Soziologie kann diese These nur bestätigen.“77 Dies und die Hervorhebung der außergewöhnlichen Eigenschaften des antiken, vor allem des römischen Rechts gegenüber dem anderer vorneuzeitlicher Hochkulturen78, etwa dem chinesischen Recht79, sowie die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts im späteren Europa zeigen, dass Luhmann hier der Antike in Bezug auf das Recht Eigenschaften zuerkennt, die zwar nicht zu einer modernen Positivierung des Rechts führten80, die sich im evolutionstheoretischen Kontext jedoch als eine Art „Vorerrungenschaft“ (preadaptive advance) für spätere Rechtsentwicklungen bezeichnen ließen.

3.4 Multiple Systemdifferenzierungen und Rückprojektion des politischen Funktionsprimats auf die Gesellschaft In der „Systemtheorie der Gesellschaft“ erfahren die unterschiedlichen Gesellschaften verschiedener Zeiten eine doppelte typologische Einordnung in zweien der fünf 75 RS I, S. 168. 76 RS I, S. 169. 77 Ebd. 78 Vgl. die Hinweise auf die „verblüffende Institution eines ‚politischen Privatrechts‘“ in den antiken Stadtstaaten und auf die „Lernfähigkeit, die wir am römischen Recht bewundern“ (RS I, S. 164, 167). 79 Z. B. RS I, S. 167. 80 RS I, S. 200: „Obwohl die athenische Nomothesie in der Form einer institutionalisierten, jährlich wiederkehrenden Gelegenheit zur Überprüfung des gesamten kodifizierten Rechts geradezu als Musterfall kontingent aufgefassten Rechts gelten kann, war der antike Stadtstaat für eine volle Positivierung des Rechts als System nicht groß und nicht komplex genug.“

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Hauptteile. Im Hauptteil „Gesellschaftliche Evolution“ werden sie als „Gesellschaftsformationen“ bezeichnet und in „archaische Gesellschaften“, „Hochkulturen“ und (gegenwärtige) „Weltgesellschaft“ unterteilt81. Im Teil „Gesellschaft als System“ werden sie unter der Überschrift „Innendifferenzierung des Gesellschaftssystems“ mittels der Kategorien „segmentäre Differenzierung“, „Schichtung“ und „funktionale Differenzierung“ analysiert82. „Systemdifferenzierung“ erscheint zwar als spezifisch systemtheoretisches Konkurrenzkonzept zur traditionellen evolutionstheoretischen Unterscheidung von Gesellschaftsformationen, das diese teilweise unterläuft und aufhebt. Die traditionelle Typologie wird aber trotzdem parallel weitergeführt. Der Grund dafür scheint zu sein, dass die Formen der Systemdifferenzierung, wie sie hier eingeführt werden, jeweils nicht exklusiv sind, sondern in verschiedenen Kombinationen gemeinsam auftreten können. So zeigt sich zwar ein Nacheinander der drei Formen insofern, als, so Luhmann, in der Regel geschichtete Gesellschaften auf segmentäre und funktional differenzierte auf geschichtete folgen83. Zwar ist die primäre Innendifferenzierung archaischer Gesellschaften eine segmentäre auf der Basis von Verwandtschaft oder Siedlungs- und Wohngemeinschaften84, ist Schichtung als gesellschaftsweit institutionalisierte vertikale Rangordnung von Familien, die zu besonderen Systemen sozialer Kommunikation innerhalb ranggleicher Personenkreise führt85, typisch für vormoderne Hochkulturen und funktionale Differenzierung als primäre Form des Gesellschaftssystems der modernen Weltgesellschaft zugeordnet86. Aber die Differenzierungsformen sind mehrfach kompatibel miteinander: So zeigen sich nach Luhmanns Analyse schon in spätarchaischen Gesellschaften Ansätze funktionaler Differenzierung von Teilsystemen87; in Hochkulturen findet sich ein Nebeneinander segmentärer und funktionaler Differenzierung bis in die Neuzeit88, und Minimalbedingung für hochkulturelle Gesellschaften ist die (sc. funktionale) Ausdifferenzierung des politischen Teilsystems89. Schichtung kann bereits in spätarchaischen Gesellschaften entstehen90, hat in Hochkulturen eine zentrale Bedeutung hinsichtlich 81 SG, S. 426–450. 82 SG, S. 770–802 (wobei segmentärer Differenzierung gegenüber der Behandlung als „archaische Gesellschaft“ kein zusätzlicher Abschnitt mehr gewidmet wird). 83 SG, S. 786: „Im Laufe der gesellschaftlichen Evolution hat sich zunächst segmentäre Differenzierung in Verwandtschafts- oder Wohngemeinschaften, dann Schichtung und dann funktionale Differenzierung ausgebildet.“ 84 SG, S. 426. 85 SG, S. 775 86 SG, S. 211f., 442f. 87 SG, S. 207. 88 SG, S. 433. 89 SG, S. 437. 90 SG, S. 429.

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der Integration unterschiedlicher Funktionssysteme durch die Erleichterung der Kommunikation zwischen Ranggleichen, und sie ist auch ein unbestreitbares Phänomen in modernen Gesellschaften, obwohl sie hier Ungleichheit erzeugt, die die Funktionsdifferenzierung konterkariert und legitimationsbedürftig wird91. Insgesamt bemerkenswert ist Luhmanns Feststellung einer Kombination unterschiedlicher Formen von Systemdifferenzierung in denselben Gesellschaften bzw. derselben Form von Systemdifferenzierung in unterschiedlichen Gesellschaften, wobei die Annahme funktionaler Differenzierung in spätarchaischen und hochkulturellen Gesellschaften auffällt. Dies entspricht durchaus der Grundstruktur seiner Evolutionstheorie, die ja starre, letztlich auf Spekulationen basierende Ablauftypologien durch die Feststellung großer zeitlicher Flexibilität bei der Entwicklung von Gesellschaften ersetzt. Das Problem der Epochenbildung und der Typologie von Gesellschaften – die schon zur Herstellung von Vergleichbarkeit notwendig sind – wird damit allerdings gravierender. Klare Epochenschwellen, so Luhmann, ließen sich allenfalls ausnahmsweise feststellen, nämlich „wenn einzelne evolutionäre Errungenschaften eine strategische Bedeutung für das gesamte Gesellschaftssystem gewinnen und dadurch eine definierende Prominenz erhalten.“92 Die Vorstellung von „Stauungen“ vor evolutionären „Engpässen“93 verweist auf Situationen, in denen weitere Entwicklungen an der Lösung zentraler Probleme hängen und in denen es so etwas wie bestimmte notwendige Bedingungen für die Möglichkeit weiterer Evolution gibt94. Als epochemachende evolutionäre Errungenschaften werden dann solche angesehen, die im Zusammenhang mit der Ausbildung von Teilsystemen stehen und die die Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems und damit Vorstellungen über seine Identität prägen95. Schließlich werden – wie im „Prozess“-Aufsatz – aus der Evolution selbst Kriterien ihrer eigenen Strukturierung abgeleitet. Als epochenbildend werden hier die evolutionären Ermöglichungen weiterer Evolution angesehen, die im unterschiedlichen Grad der Differenzierung der Mechanismen Variation, Selektion und Stabilisierung feststellbar sind96. Insgesamt, so Luhmann, sei aufgrund des Abstraktionszwangs nur eine 91 92 93 94

SG, S. 444, 771. SG, S. 420. SG, S. 420. Auch wenn man auf Annahmen über eine notwendige Linearität der Evolution verzichte, schreibt Luhmann, „wird schwerlich zu bestreiten sein, dass einige Entwicklungen Vorbedingungen für andere sind, so dass Reihenfolgen unter den empirisch nachweisbaren Gesellschaftsformationen nicht beliebig sein können.“ Als „Dachformel für diese Einsicht“ halte er an der „klassischen Vorstellung der Entwicklung von einfacheren zu komplexeren Systemen“ fest. (SG, S. 386f.) 95 SG, S. 422f. 96 SG, S. 423f.

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„sehr grobe Typisierung“97 möglich. Sie greift, wie zu sehen war, auf die drei (für die Vormoderne traditionellen) Formen „archaische Gesellschaften“, „Hochkulturen“ und „Weltgesellschaft“ zurück. Welche Sichtweise der Antike ergibt sich nun aus diesen komplexen Kombinationsmöglichkeiten von Differenzierungsformen? Bei der Behandlung von „Diffusionsphänomenen“ werden die Griechen ebenso wie die Phönizier im evolutionären Kontext zunächst als „Randvölker der entwickelten Welt“, also der Hochkulturen des Alten Orients, charakterisiert, die durch den „Einbau fremder Errungenschaften“ Veränderungen erfuhren98. Generell wird Schriftlichkeit als zentrales Phänomen für den Übergang zur Hochkultur angesehen, da durch sie eine zeitliche und räumliche Entkopplung von Kommunikation und persönlicher Interaktion möglich wurde und somit grundlegend neue Bedingungen der Kommunikation entstanden99. Für das entscheidend Neue wird dabei die Alphabetschrift gehalten, die zugleich als Beispiel dafür angeführt wird, dass oft „erst die aufnehmenden Gesellschaften einer Errungenschaft die perfekte Form gegeben haben“100: „Lesen und Schreiben kann sich dann in der ganzen Gesellschaft verbreiten, wird aus einer kunstvollen Spezialistenrolle [...] zur Voraussetzung der Teilnahme an gesellschaftsweiter Kommunikation schlechthin. Die Folgen dieser evolutionären Errungenschaft lassen sich kaum überschätzen.“101 Und sie wurden – Luhmann verweist auf Platons Phaedrus102 – bereits von den Zeitgenossen, und zwar als Gefahr wahrgenommen. Es sei daher kein Zufall gewesen, dass in der „polyzentrischen Stadtgesellschaft“103 Griechenlands „mit erstmals weiter Verbreitung der alphabetischen Schrift die klassischen Codemuster für Kommunikationsmedien entwickelt werden“104. Luhmann nennt die Generalisierung des „Unverborgenen“ (ἀληθής) zur „Wahrheit“ (ἀλήθεια), verbunden mit der Unabhängigkeit von Wissensquellen und der Unterscheidung von Wissen und Meinung (ἐπιστήμη und δόξα), die Generalisierung des φίλος zu φιλία (Freundschaft/Liebe) sowie politische Macht, die in rechtsförmige Ordnungen gebracht wurde, und Geld als Medium für Tausch und Kredit105. Nicht ganz klar wird, in welcher Relation die für Griechenland festgestellte Entwicklung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien (ohne technisch ver97 98 99 100 101 102 103 104 105

SG, S. 425. SG, S. 372. SG, S. 207. SG, S. 371. SG, S. 342f. Platon. Phaidr., §§ 274c–275b. Vgl. SG, S. 386. SG, S. 343. SG, S. 344f.

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breitete Massenkommunikation) zu einer in der Moderne mit ihnen einhergehenden Ausdifferenzierung von Funktionssystemen steht. So werden einerseits symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien in den Zusammenhang mit „relativ hoch entwickelter funktionaler Differenzierung“ gebracht106. Andererseits heißt es, bezogen auf die Etablierung von Kommunikationsmedien in der Antike, es seien fortan „nur noch“ Probleme „der gesellschaftsweiten universellen Relevanz und der Stabilisierung durch Teilsystembildung zu lösen“ gewesen107. Im Abschnitt über „funktionale Differenzierung“ wird festgehalten, dass diese im Falle komplexerer und in der weiteren Evolution chancenreicherer Gesellschaften „an die Differenzierung der Kommunikationsmedien“ anschließe108 und dass sich die Funktionsdifferenzierung der neuzeitlichen Gesellschaft in besonderem Maße auf Mediendifferenzierung stütze109. In kommunikationstheoretischem Zusammenhang erscheint das antike Griechenland also in nicht ganz klarer Bestimmung als nah an modernen Verhältnissen. Wenn sich „mindestens eines der primären Teilsysteme nicht mehr dem alten Muster der Siedlungen und Geschlechter fügt, sondern auf der Basis einer besonderen Funktion gebildet“ werde, so Luhmann, handle es sich um eine Hochkultur110. Die griechischen „Stadtstaaten“ werden nun als Beispiel für die Ausdifferenzierung eines politischen Teilsystems der Gesellschaft und der damit verbundenen Kompetenz zu kollektiv bindenden Entscheidungen angeführt. Dabei wird als „besondere Errungenschaft“ herausgestellt, dass sich in der Antike nicht nur die Vorstellung von „Stellen“ etablierte, d. h. Rollen, die ihre Identität bei einem Wechsel der Inhaber behielten – für solche habe es hinreichend Vorbilder in den Großbürokratien der Alten Welt gegeben. Vielmehr sei es die schwierige Übertragung des Stellengedankens auf den Herrscher selbst gewesen, „die wohl erstmals einigen griechischen Stadtstaaten und dann in Rom gelang“111. Wobei dies nicht notwendig zugleich eine Neutralisierung des Eigeninteresses der Stelleninhaber bedeutete112, die nach wie vor in verwandtschaftlichen und schichtgeprägten Kontexten agierten. Die „Möglichkeit, zwischen Rollen und Personen zu differenzieren“ sei zugleich ein preadaptive advance für die (zwei Jahrtausende später erfolgende) gesellschaftsweite Ausbreitung des modernen Organisationsmecha106 SG, S. 352: „Erst bei relativ hoch entwickelter funktionaler Differenzierung wird es möglich, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien auszudifferenzieren und mit spezifischen Teilsystemen zu integrieren derart, dass es Teilsysteme gibt, die sich auf Produktion und Verwendung von Macht, von Wahrheit, von Geldwerten, von Liebesbindungen usw. spezialisieren.“ 107 SG, S. 345. 108 SG, S. 792. 109 SG, S. 799. 110 SG, S. 432. 111 SG, S. 408. 112 SG, S. 409.

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nismus gewesen113. Die „Brechung der Adelsherrschaft durch Ämterreformen mit Wahlen und nur periodischer Besetzung“114 wird somit als außergewöhnliche evolutionäre Errungenschaft der antiken Stadtgesellschaften angesehen. Die Annahme eines Primates des politischen Systems in den antiken Stadtgesellschaften, die in der Rechtssoziologie vertreten wurde, wird in der „Systemtheorie der Gesellschaft“ aufgegeben. Auch funktionale Differenzierung wird jetzt nicht mehr als „unvollständig“115, also defizitär, sondern mit Begriffen wie „anlaufend“, „beginnend“ charakterisiert. Die Sonderstellung der Politik in den antiken Gesellschaften insgesamt wird in der „Systemtheorie der Gesellschaft“ nicht im Kontext von Systemdifferenzierung analysiert, sondern im Hauptteil über „Selbstthematisierungen“ vergangener Gesellschaften abgehandelt. In komplizierten Argumentationen, in denen Luhmann unter anderem die Theorie des Historischen Materialismus von der Dominanz der Wirtschaftsverhältnisse in allen Gesellschaften als unhaltbaren Apriorismus zurückweist116, wird das Konzept der „Rückprojektion funktionaler Primate“ entwickelt. Ein einzelnes Teilsystem sei dann „dominant“, wenn es ihm gelinge, seine teilsystemspezifische Perspektive auf das Gesamtsystem zur projizieren und dessen Identität und Selbstbeschreibung zu prägen. Voraussetzung dafür sei das „Anlaufen“ der Funktionsdifferenzierung des Gesellschaftssystems unter Bedingungen einer nur ansatzweisen Differenzierung der Systembildungsebenen Gesellschaft und Interaktion, also unter der Voraussetzung einer weiterhin größeren Bedeutung der Kommunikation unter Anwesenden117. „Unter diesen besonderen (und evolutionär vorübergehenden) strukturellen Bedingungen liegt es nahe, die Gesellschaft im Ganzen durch Rückprojektionen eines funktionalen Primates zu identifizieren.“118 Ähnlich wie im Alten Israel das religiöse, „dominierte“ in den antiken Stadtgesellschaften somit zwar das politische System. Die Bezeichnung als koinonia politike (ebenso wie die als Volk Gottes in Israel) wird jedoch nicht als Ausdruck einer tatsächlichen Einheit von politischem (bzw. religiösem) und gesellschaftlichem System, son113 SG, S. 410. 114 SG, S. 432 f. 115 Vgl. RS I, S. 166: „Hochkulturen vorneuzeitlicher Art bilden sich in Gesellschaften mit unvollständiger funktionaler Differenzierung.“ Vgl. das Folgende. 116 SG, S. 926. 117 SG, S. 927: „Die Funktionsdifferenzierung des Gesellschaftssystems muss schon anlaufen, sie darf aber nicht zu hohe Anforderungen an die Differenzierung der Systembildungsebenen Gesellschaft und Interaktion stellen.“ Zu den drei Ebenen der Systembildung (Interaktion, Organisation, Gesellschaft), die v. a. in den ersten beiden Phasen von Luhmanns Werk eine besondere Rolle in der Architektur der Gesellschaftstheorie spielten, vgl. Luhmann: Interaktion, und den ersten Teil der „Systemtheorie der Gesellschaft“ (SG, S. 19–258); Heintz/Tyrell (Hg.): Interaktion. 118 SG, S. 927.

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dern als Ergebnis einer zeitgenössischen Selbstdeutung gesehen119: „Für die Griechen war die Etablierung bindend entscheidender Ämter über den Haushalten der Geschlechter diejenige Errungenschaft, die Stadtbildung in Recht und Frieden ermöglichte und deshalb die ‚politische‘ Gesellschaft definierte.“120 Obwohl es sich bei den altisraelischen und griechischen Selbstthematisierungen somit um „Projektionen“ handelt, die sich einer vorübergehenden evolutionären Sondersituation verdankten, hatten sie nun aber evolutionäre Folgen von großer Reichweite: „Sie gewinnen [...] eine gewisse Unabhängigkeit von ihrer genetischen und ihrer implizierten Geschichte; sie werden in den Synthesen des Mittelalters sogar kombinierbar, obwohl ihre Generalisierungsansprüche nie in einem Gesellschaftssystem gleichzeitig hätten entstehen können [...]“121. Die „griechische Bestimmung der Stadtgesellschaft als politisch konstituierter Gemeinschaft“122 hat dadurch – worauf Luhmann in seinen Schriften häufig rekurriert123 – zusammen mit der jüdisch-christlichen Selbstdeutung das nachantike Gesellschaftsdenken Europas, die „alteuropäische Tradition“, bis in die Neuzeit geprägt. Erstmalige Ausbreitung der Alphabetschrift und damit Ermöglichung außergewöhnlicher evolutionärer Neuerungen, Ausdifferenzierung eines neuartigen politischen Funktionssystems, das Rollen und Personen trennte und sich als dominantes Teilsystem der Gesellschaft etablieren konnte, erstmalige Ausdifferenzierung modern erscheinender funktionsspezifischer Kommunikationsmedien, eine eng mit der Systemstruktur verbundene Identität als politische Gesellschaft, die bis in die Neuzeit die Selbstbeschreibung der europäischen Gesellschaften prägte und auf deren Strukturen zurückwirkte – der griechisch-römischen Antike, obwohl ein in quantitativer Hinsicht eher marginales Thema im Rahmen einer Gesellschaftstheorie, die die moderne Weltgesellschaft als ihren Hauptgegenstand hat, wird in Luhmanns „Systemtheorie der Gesellschaft“ im Kontext der soziokulturellen Evolution eine bedeutende Sonderstellung im Rahmen vergangener Gesellschaften zugeschrieben, hinsichtlich ihrer evolutionären Neuerungen ebenso wie hinsichtlich ihrer Bedeutung als Bedingung der Möglichkeit weiterer Evolution in Richtung auf die in Europa entstandene moderne Gesellschaft.

119 120 121 122 123

SG, S. 924f., 928f. SG, S. 421, vgl. S. 432f. SG, S. 929. SG, S. 440. „Kein Satz von fremder Hand ist innerhalb des Luhmann’schen Œuvres so häufig zitiert wie jener aus dem ersten Abschnitt des Ersten Buchs der „Politik“ des Aristoteles (1, 1252a 5–7), der die koinonia politike näher bestimmt.“ (Kauppert/Tyrell: Ebenendifferenzierung, S. 155).

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3.5 Evolutionäres Dreierschema und Typenprägnanz der griechischen Stadtgesellschaften Was Luhmann für die sozio-kulturelle Evolution generell feststellt, lässt sich auch auf die Entwicklung seiner eigenen Theorie derselben anwenden: Gewisse Begriffe und Konzepte sind schon sehr früh da, obwohl sie im Gesamtkontext seiner Theorie noch nicht unbedingt gebraucht werden, andere werden noch weitergeführt, obwohl sie nicht mehr recht in die weiter entwickelte Gesellschaftstheorie passen124. Die in unseren Untersuchungen vorgenommene Drei-Phasen-Einteilung der Luhmannschen Theorieentwicklung bezogen auf die Behandlung der Antike hat daher einen – im Weberschen Sinne – idealtypischen Charakter. Zwei Aufsätze – „Geschichte als Prozess“ von 1978 und „Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition“ von 1980 (der einleitende Aufsatz des ersten Bandes von „Gesellschaftsstruktur und Semantik“) – weisen einerseits durch eine Neufassung der Typologie vormoderner Gesellschaften und durch die Beschäftigung mit der Konstruktivität gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen voraus auf die „Gesellschaft der Gesellschaft“, die letzte Fassung von Luhmanns Gesellschaftstheorie. Der „Prozess“-Aufsatz erinnert in der Umdeutung von Talcott Parsons’ Konzept der „seed-bed society“ dagegen eher an die frühen Beschäftigungen mit der Antike in der Rechtssoziologie. In beiden Aufsätzen wird die doppelte Gesellschaftstypologie aufgegeben125. Die Begriffe „archaische Gesellschaft“ und „Hochkultur“ werden nur noch erläuternd gebraucht, haben aber keinen systematischen evolutionstheoretischen Stellenwert mehr. Ähnliches gilt für den evolutionstheoretischen Status des Begriffs der „Weltgesellschaft“126. Die Typologie nach Formen der Systemdifferenzierung wird zur entscheidenden Bestimmung für die evolutionstheoretische Zuordnung von Gesellschaften. Zudem wird ihr „multipler“ Charakter durch eine präzisere Fassung der Begriffe aufgehoben. Einerseits wird der Begriff „Schichtung“, der stark modern konnotiert ist, durch „Stratifikation“ ersetzt und auf vormoderne (auf Rangdifferenzen basierende, im weitesten Sinne „ständische“) Adelsgesellschaften beschränkt127. Andererseits wird der Begriff der „primären Differenzierung“ des jeweiligen Gesellschaftssystems schärfer gefasst und damit der Status der Gleichzeitigkeit verschiedener Differenzierungsformen geklärt: Die primäre Form der Differenzierung einer Gesellschaft wird nach 124 Dieser Eindruck dürfte sich noch verstärken, wenn weitere, hier nicht berücksichtigte Texte Luhmanns herangezogen würden – und weitere Manuskripte aus dem Nachlass veröffentlicht werden. 125 Sie wird noch verwandt in dem 1975 erschienenen Aufsatz: Luhmann: Evolution und Geschichte. 126 Er findet sich in GG im einleitenden Teil „Gesellschaft als soziales System“ wieder (I, S. 145–171). 127 Der Begriff „stratification“ in Luhmanns 1977 auf Englisch publizierten Aufsatz: Luhmann: Differentiation of Society, entspricht noch seinem deutschen Begriff „Schichtung“.

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Luhmann bestimmt durch den Leitgesichtspunkt, unter dem „die Bildung einer ersten Schicht von Teilsystemen eingerichtet ist“128. Das Prinzip der Bildung gleicher Einheiten – Familien, Geschlechter, Wohngemeinschaften, Dörfer – liegt segmentärer Differenzierung zugrunde. Im Falle einer Fortentwicklung zu stratifikatorischer Differenzierung liegt „das primäre Einteilungsprinzip [...] in ungleichen Schichten der Gesellschaft, die erst intern dann wieder segmentär, nämlich nach Familien, differenziert sind“129. Der Typ der stratifikatorischen Differenzierung, der die Voraussetzung für die Bildung von Hochkulturen geschaffen habe, finde seine Schranken in der Notwendigkeit, anhand von übergreifenden Rangkriterien Ungleichheit zu hierarchisieren: „Auch stratifizierte Gesellschaften kennen durchaus eine Aussonderung von funktionsspezifischen Situationen, Rollen, Problemen, Interessen. Sie regulieren sie aber nach Maßgabe von Schichtdifferenzen.“130 Luhmann bringt als Beispiel frühneuzeitliche Regeln für Liebeserklärungen zwischen Personen ungleichen Standes, die differieren je nachdem, ob sie von unten nach oben oder von oben nach unten erfolgen. Die Kommunikation zur Herstellung von Intimität ist funktional ausdifferenziert, hat sich aber am Ordnungsprimat anderer, eben durch Schichtung bestimmter, Systemgrenzen zu orientieren. Diese Beschränkung entfällt dann, so Luhmann, mit der Durchsetzung primärer funktionaler Differenzierung. „Diese Differenzierungsform ist nur ein einziges Mal realisiert worden: in der von Europa ausgehenden modernen Gesellschaft. Diese Gesellschaft hat infolge ihrer Differenzierungsform einzigartige Züge, die historisch ohne Parallele sind. Sie bildet an nur einem Fall einen Typus für sich.“131 Das Prinzip ihrer Teilsystembildung ist ein für jedes Teilsystem besonderes Bezugsproblem, u. a. wirtschaftliche Produktion, Ermöglichung kollektiv bindender Entscheidungen, rechtliche Streitregulierung, medizinische Versorgung, Erziehung und wissenschaftliche Forschung. Solche Funktionen, so Luhmann, lassen sich nicht in eine allgemein gültige Rangordnung bringen, Vorrang oder Wichtigkeit sind nur situationsweise zu entscheiden. Jedes Teilsystem hat für sich selbst einen Funktionsprimat, der aber nicht gesamtgesellschaftlich durchgesetzt werden kann. Mit dem Konzept der „primären Differenzierung“ des Gesellschaftssystems wird somit die multiple Systemdifferenzierung in einen stimmigen Zusammenhang 128 GS I, S. 22. 129 GS I, S. 25. 130 GS I, S. 26. Vgl. GS I, S. 27: „Funktionale Differenzierung hatte es auf der Ebene von Situationen, Rollen und (in begrenztem Umfange) Interaktionssystemen schon lange gegeben.“ Nicht aber „die Umstellung eines gesamten Gesellschaftssystems auf eine primäre, die Gesamtordnung bestimmende Differenzierung dieses Typs.“ 131 GS I, S. 27.

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gebracht: In einer primär stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft können segmentär und funktional differenzierte Teilsysteme bestehen, sie beziehen sich aber auf – und werden beschränkt durch – die stratifizierte Gesellschaftsstruktur. Auch bei funktionaler Differenzierung können die jeweils anderen Differenzierungsformen in untergeordneter Form vorkommen: segmentäre Differenzierung in weitgehend gleiche Teilsysteme etwa in Form von Gerichten, Universitäten oder Krankenhäusern und Schichtung – so Luhmann – als tendenziell dysfunktionaler Nebeneffekt vor allem des Wirtschafts- und des Erziehungssystems132. Mit der klaren Typologie „segmentäre Gesellschaften – stratifizierte Gesellschaften – funktional differenzierte Gesellschaft“ lässt sich nun auch das Modell soziokultureller Evolution insgesamt präzisieren: Die Kommunikationstechniken, die den evolutionären Variationsmechanismus ausmachen, sind Sprache, Schrift und technisch verbreiterte Kommunikation (beginnend mit dem Buchdruck). Kommunikativer Erfolg, der Selektionsmechanismus, wird ab der Erfindung und Durchsetzung der Schrift durch die Ausdifferenzierung von Kommunikationsmedien gesichert. Stabilisierung erfolgt durch segmentäre, stratifikatorische bzw. funktionale Formen der primären Systemdifferenzierung, die zugleich als „historische Schwellen“ die Übergänge markieren und die Komplexitätsniveaus der jeweiligen Gesellschaften bestimmen133 (vgl. Schema 4). Damit wird zugleich das Epochen- und Periodisierungsproblem lösbar134: Da Evolution als selbstreferentieller Prozess erscheint, der sich seine Bedingungen selbst schafft, indem die Möglichkeiten für weitere Evolution durch die Ausdifferenzierung neuer Systemstrukturen jeweils verbessert werden, strukturiert sich Evolution durch die Dreiertypologie von Systemdifferenzierungen, und die „Schwellen“ des Übergangs von segmentärer zu stratifikatorischer sowie von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung markieren die Phasen der Evolution als zusammenhängendem Prozess. Dabei handelt es sich im Normalfall nicht um „historische Epochen“, da die Entstehung und Stabilisierung eines neuen Systemtyps eine unwahrscheinliche Ausnahme darstellt. Der Normalfall besteht im Verharren in der einmal erreichten Differenzierungsform, in Überstabilisierung, Involution, Regression oder Zerstörung durch äußere Einflüsse. Welche Stellung hat nun die Antike im Rahmen der Dreier-Typologie? Im Prozess-Aufsatz von 1978 wird ihr – ebenso wie dem Alten Israel – die schon erwähnte Besonderheit einer „typenprägnanten Problemlösung“ zugeschrieben. Der Begriff meint systemstrukturelle Formen, die durch Zufall entstehen, da sie „bestands- und 132 Vgl. Luhmann: Zum Begriff der sozialen Klasse. 133 Prozess, SA III, S. 186f., 190. 134 Vgl. auch Luhmann: Problem der Epochenbildung.

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erhaltungsfunktional [...] nicht zu erklären“ sind, die aber, „wenn sie auftreten, weitere Entwicklungen sozusagen faszinieren, wenn nicht binden“135. Gesellschaften dieses Typs würden sich auf ein bestimmtes Bezugsproblem spezialisieren. Als Beispiel nennt er „Fälle der Identifikation des gesamten Gesellschaftssystems aus der Perspektive nur eines funktionsspezifischen Teilsystems – so die griechische Formel der politischen Gesellschaft oder die hebräische Formel der religiösen Gesellschaft.“136 Gemeint sind also Gesellschaften, bei denen ein bestimmtes Funktionssystem – in Israel die Religion, in Griechenland die Politik – so ausdifferenziert wurde, dass es – bei einer offensichtlich nicht primär funktionalen Differenzierung des Gesamtsystems – zum entscheidenden Strukturmerkmal der gesamten Gesellschaft wurde. Aufschlussreich sind die Folgen für die weitere, nachantike Evolution, die Luhmann konstatiert: „Die Kombination dieser Errungenschaften in der Gedankenwelt und den Institutionen des europäischen Mittelalters hat dann endgültig den Gesellschaftstypus des haushaltsförmig verwalteten politisch-ökonomischen Großreiches überwunden und damit den Weg gebahnt für eine Gesellschaftsformation mit stärkerer funktionaler Differenzierung und stärkerer Abstraktion und Spezifikation der Interdependenzen.“137 „Typenprägnanz“ charakterisiert damit die Gesellschaften, die Parsons in seiner Evolutionstheorie als einen bedeutenden Sonderfall unter dem Begriff „seed-bed-societies“ behandelt hatte und denen er kulturelle Innovationen von außergewöhnlicher Reichweite zuschrieb138. Luhmann kritisiert, dass Parsons diese beiden „Fälle besonderer Typenprägnanz“ in seiner auf einem Phasen-Konzept beruhenden Evolutionstheorie nicht systematisch habe einordnen können und daher nur mit einer „ad-hoc-Bezeichnung“ versehen habe139. In Luhmanns eigenem Theoriekontext wird der Begriff „typenprägnante Problemlösungen“ ebenso wie Äquifinalität, preadaptive advances und evolutionäre Überleitungen als „analytisches Hilfsmittel“ der Evolutionstheorie eingeordnet. Er verweist also auf das Nicht-prozesshafte der sozio-kulturellen Evolution, auf Nicht-Linearität, Fortführung von Obsoleszenzen oder „Vorweg-Errungenschaften“, d.  h. insgesamt auf eine Temporalstruktur, die auf Simultaneität aller gesellschaftlichen Bereiche verzichten kann. Bei der Beschreibung des antiken Phänomens im „Prozess“-Aufsatz ergibt sich eine gewisse Spannung zur Konzeption der „Rückprojektion funktionaler Primate“, die in 135 136 137 138

Prozess, SA III, S. 191f. Prozess, SA III, S. 192. Prozess, SA III, S. 192. Parsons: Societies, S. 95–108, 96: „Two societies, though having a relatively small consequence to the society-systems of their time and place, were the agents of cultural innovations that have proved the highest significance for a wide range of societies which were not their direct evolutionary sequels.“ 139 Prozess, SA III, S. 192, A. 33.

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der (1973–1975 entstandenen) „Systemtheorie der Gesellschaft“ entwickelt wurde. Dort wurde der antike Sachverhalt der „Selbstthematisierung“ der Gesellschaft zugeordnet, also nicht als gesellschaftsstrukturelles „Realphänomen“, sondern als eine Art Artefakt der Selbstdeutung charakterisiert. Demgegenüber erscheint hier „die griechische Formel der politischen Gesellschaft“ (ebenso wie „die hebräische Formel der religiösen Gesellschaft“) als erklärungsbedürftiges Realphänomen, das sich der Dreiertypologie nicht fügt. „Denn an sich genügen funktional diffuse, multivalent strukturierte Einrichtungen zur Erhaltung sozialer Systeme – in älteren Gesellschaften etwa auf der Basis von Familiensystemen oder Wohn- und Siedlungsgemeinschaften, sodann auf der Basis von Schichtung.“140 Auch hinsichtlich der Wirkung auf die Entstehung der modernen Gesellschaft scheinen reale Kausalitäten angenommen zu werden. Die Angabe, dass typenprägnante Problemlösungen die weitere Entwicklung „faszinieren, wenn nicht binden“ und der Hinweis, dass die „Kombination“ der griechischen und altisraelischen „Errungenschaften“ nicht nur in der „Gedankenwelt“, sondern auch in den „Institutionen“ des Europäischen Mittelalters den Typus des patrimonialen Großreiches überwinden und der modernen Gesellschaft den Weg bereiten half, deutet darauf hin, dass es sich um das Anknüpfen an konkrete evolutionäre Errungenschaften und nicht um eine letztlich von der rezipierenden Kultur geprägte Aufnahme und Deutung semantischer Materialien („Selbstthematisierungen“) handelt. Dies würde wiederum für die Annahme einer systemstrukturellen (nicht nur semantischen) präadaptiven Funktion der Antike (und des Alten Israel) für die moderne Gesellschaft sprechen. Wie der evolutionär zufällig entstandene Typus „Typenprägnanz“ selbst im Rahmen der Dreiertypologie segmentär-stratifikatorisch-funktional einzuordnen ist, wie diese Form der Differenzierung genauer zu beschreiben ist und warum eine Weiterentwicklung zu Formen primärer funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung offensichtlich nicht stattfand, wird im „Prozess“-Aufsatz (und auch später) nicht näher behandelt141 und findet in der Weiterentwicklung der Luhmannschen 140 Prozess, SA III, S. 192. 141 In SG, S. 786f., heißt es zu ähnlichen Fragen: „[...] Man blickt auf ein umfängliches Experimentierfeld zurück mit zahlreichen Sackgassen in Gesellschaftssystemen, die zum Beispiel Schichtung als historisch vorliegende Struktur von funktionaler Differenzierung nicht unterscheiden konnten, sondern beginnende Funktionsdifferenzierungen in der Form von Schlichtung zu legitimieren suchten, vor allem durch ein berufsspezifisches Kastensystem oder durch Aufnahme des wachsenden wirtschaftlichen Reichtums als besonderer Stand in die Ordnung der Schichten. Ein solcher Ausweg, der historisch nahe gelegen haben muss, blockiert jeweils die Weiterentwicklung funktionaler Differenzierung und verhindert darüber hinaus die Überleitung des Schichtungssystems in ein kompensatorisches Korrelat funktionaler Systemdifferenzierung. Die hieraus für bestimmte historische Gesellschaftsformationen sich ergebenden, ihr Entwicklungspotenzial betreffenden Hypothesen können nur am Einzelfall ausgearbeitet werden. Darauf müssen wir hier verzichten.“

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Theorie eine überraschende Lösung durch die Einführung eines vierten Typs sozialer Differenzierung.

3.6 Zentrum/Peripherie-Differenzierung und evolutionär folgenreiche semantische Innovationen In der „Gesellschaft der Gesellschaft“, der letzten Fassung seiner Gesellschaftstheorie von 1997, haben sich die „Selbstthematisierungen“, die in der „Systemtheorie der Gesellschaft“ nur einen etwa 70-seitigen Abschnitt des letzten Kapitels über „Reflexion“ bildeten, zu einem knapp 300-seitigen Teil über (vormoderne und moderne) gesellschaftliche „Selbstbeschreibungen“ ausgeweitet. Die Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst hat damit in der Grundstruktur von Luhmanns Gesellschaftstheorie (auch vom Umfang her) den gleichen Stellenwert wie die Kapitel über Kommunikationstheorie/Medientheorie, Evolutionstheorie und Systemtheorie/ Differenzierungstheorie (neben dem einführenden Kapitel über „Soziale Systeme“) bekommen. Vormoderne Gesellschaften im Zusammenhang erscheinen (wie schon in den zitierten Arbeiten von 1978 und 1980) nicht mehr im Kontext evolutionärer „Gesellschaftsformationen“, sondern nur im Rahmen der Typen sozialer Differenzierung. Diese allerdings haben sich geändert: Zwischen segmentäre und stratifizierte Gesellschaften hat sich der Typus „Zentrum und Peripherie“ geschoben142, und zwischen den stratifizierten Gesellschaften und der funktional differenzierten Gesellschaft findet sich ein Abschnitt über „Ausdifferenzierung von Funktionssystemen“143. Dabei werden Zentrum/Peripherie-Differenzierung und Stratifikation, obschon verschiedene Differenzierungsformen, nicht als gegenseitig exklusiv verstanden. Zu Beginn des Kapitels über Zentrum und Peripherie heißt es: „Vormoderne Hochkulturen [...] verwenden, wenn voll ausgebaut, sowohl stratifikatorische als auch Zentrum/ Peripherie-Differenzierungen. Sie können im Hinblick auf diese Errungenschaften als Adelsgesellschaften oder auch als städtische Gesellschaften bezeichnet werden, wobei aber diese Prominenzmerkmale jeweils nur auf einen kleinen Teil der Bevölkerung zutreffen.“144 Das Kapitel über stratifizierte Gesellschaften beginnt mit den Worten: „Alle hochkulturellen, über Schrift verfügenden Gesellschaften sind Adelsgesellschaften gewesen. Wie verschieden auch immer die ökonomische Grundlage der Distinktion einer Oberschicht gewesen sein mag: dass es eine Oberschicht gegeben hat und 142 GG II, S. 663–678. 143 GG II, S. 707–743. 144 GG II, S. 663 (Hervorhebung A.W.).

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dass ihre Existenz und Auszeichnung in der Kommunikation honoriert wurden, kann schwerlich bestritten werden.“145 Die Begrifflichkeit ist etwas verwirrend, da die Typologie der Differenzierungsformen, die zunächst auf territoriale und siedlungsgeographische Unterscheidungen abhebt, durch die gemeinsame Bestimmung als „hochkulturelle Adelsgesellschaften“ gleich wieder unterlaufen wird. Wenn man es genau nimmt, werden „voll ausgebaute“ hochkulturelle Adelsgesellschaften, die über stratifikatorische und über Zentrum/ Peripherie-Differenzierung verfügen, von weiteren hochkulturellen Adelsgesellschaften, die demnach nur durch stratifikatorische Differenzierung gekennzeichnet sind, begrifflich unterschieden. Dies ist aber eine in gewisser Hinsicht unglückliche Begriffswahl, da sich die Zentrum/Peripherie-Differenzierung durch eine spezifische Unvollständigkeit auszeichnet, indem sich jenseits der Zentren weiterhin segmentäre, beim Wegfall der Zentren für sich allein überlebensfähige und damit vom Zentrum unabhängige Differenzierungsformen erhalten haben146. Der Typ Zentrum/Peripherie scheint sich auch der Unterscheidung primärer von weiteren Differenzierungsformen nicht zu fügen, denn die Peripherie ist segmentär, das städtische Zentrum ist stratifikatorisch differenziert147. De facto dient der neue Typ der Zentrum/Peripherie-Differenzierung zur Unterscheidung derjenigen Gesellschaften, die Parsons in seinen komparatistischen Untersuchungen vormoderner Gesellschaften als „archaic societies“ bzw. als „the ‚historic‘ intermediate empires“ bezeichnet hatte148: v. a. die bürokratischen Großreiche, als deren „eindrucksvollste Prototypen“ Luhmann das Alte Ägypten und China nennt149, sowie Mesopotamien, Indien und – als den „(vorläufig) letzten Fall eines solchen Reiches“ – die Sowjetunion150. Bei der Analyse des Typs der stratifizierten Gesellschaft beschränkt Luhmann sich, obwohl ja auch die genannten Reiche in ihren Zentren dazu zu zählen sind, „aus Raum- und Materialgründen auf den Fall einer Gesellschaft mit einem besonders deutlichen Primat von Stratifikation als Form gesellschaftlicher Systemdifferenzierung: das spätmittelalterlich-frühmoderne Europa“151, also auf eine Gesellschaft, die zunächst keinen stadtsässigen Adel gekannt hatte152. Neben „Raum- und Materialgründen“ ist es natürlich auch die evolutionäre Sonderstellung dieser Adelsgesell145 146 147 148 149 150 151 152

GG II, S. 678f. (Hervorhebung A.W.). Ähnlich GS I, S. 72 (ohne Zentrum/Peripherie-Differenzierung). GG II, S. 663. Vgl. das Folgende. Parsons: Societies, S. 51–94. GG II, S. 675, A. 148, 669f., 672, A. 142. GG II, S. 666f., 671. GG II, S. 682. Vgl. GG II, S. 674, A. 147.

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schaft, die Luhmann zugleich erklären will: Er will zeigen, dass es „kein Zufall [ist], dass hier und nur hier die Katastrophe der Neuzeit passiert ist.“153 Nur hier entstand erstmals das auf funktionaler Primärdifferenzierung basierende Gesellschaftssystem, das aus systemtheoretischer Sicht die gegenwärtige Weltgesellschaft prägt. Im Einzelnen geht der Begriff „Stratifikation“, den Luhmann in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ entwickelt, aus von einer Schichtung (nicht von Individuen, sondern) von Familien, die auf „akzeptierten Reichtumsunterschieden“ beruhe, und einer damit einhergehenden endogamen Schließung der Oberschicht, wodurch auch ausgeschlossen werde, dass sich die Gesellschaft noch als Verwandtschaftszusammenhang versteht. Stattdessen wird die Gesellschaft als differenziert in Ränge repräsentiert, ohne die eine Ordnung nicht vorstellbar erscheint. Luhmann verweist auf die Multifunktionalität der Zugehörigkeit zur Oberschicht, die sich als Kommunikationszusammenhang ausdifferenziert, und auf die Symbolisierung und laufende Reproduktion der Rangdifferenzen durch Kommunikationspraktiken, Ehrerbietung und Zeremoniell in der Interaktion154. Die grundlegende Differenz „ständischer Differenzierung“155 von allen Schichtungsverhältnissen in modernen Gesellschaften wird herausgestellt: Trotz der Bedeutung schichtinterner Gleichheit (zum Beispiel: Satisfaktionsfähigkeit beim Duell) darf man nicht davon ausgehen, dass die Schichten ihr Verhältnis zueinander als Ungleichheit wahrgenommen hätten; denn das würde ja voraussetzen, dass Angehörige verschiedener Schichten sich gegenseitig vergleichen, dem Vergleich gemeinsame Kriterien zugrunde legen und im Ergebnis zur Feststellung von Ungleichheit kommen. [...] Für die alltäglichen Verständnismöglichkeiten jener Zeit handelte es sich aber einfach um verschiedenartige, um andersartige Menschen, und Anderssein ist eine Qualität, nicht eine Relation156.

Neben der grundsätzlichen Akzeptanz von Ungleichheit zwischen den Schichten157 wird eine Reihe weiterer grundlegender Struktureigentümlichkeiten herausgestellt: 153 GG II, S. 683. Mit dem Begriff „Katastrophe“ – im altgriechischen Drama zur Bezeichnung des Wendepunktes der Handlung benutzt – bezeichnet Luhmann verschiedentlich den unwahrscheinlichen, keineswegs automatisch „Fortschritt“ implizierenden, sondern zunächst die Gesellschaft mit gravierenden „Nebenfolgen“ belastenden (vgl. SG, S. 816–863, zu „Nebenfolgen funktionaler Differenzierung“) Übergang von einer Differenzierungsform zu einer anderen. 154 GG II, S. 679–681. 155 GG II, S. 684. 156 GG II, S. 693f. 157 Sie zeigt sich z. B. auch darin, dass Aufruhr und Rebellion der Unterschichten stets nur gegen die Verschlechterung der eigenen Lage gerichtet sind, die der jeweiligen Oberschicht zur Last gelegt wird, dass nie aber die Ungleichheit als solche in Frage gestellt wird. Vgl. GG II, S. 694f.

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die zentrale Bedeutung von Haushalten und daran anschließenden Patron/Klient-Verhältnissen158, also von fortbestehenden segmentären Strukturen, und die Entstehung eines „politischen Zentralismus“, der „zugleich der Vorbereitung einer funktionalen Ausdifferenzierung eines politischen Systems“ diene159. Trotz verschiedener erkennbarer Besonderheiten der Verhältnisse des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Europa entwirft Luhmann mit dem Typus der stratifizierten Gesellschaft insgesamt das Konzept einer spezifisch vormodernen Art gesellschaftlicher Schichtung, die dann von ihm auch auf die Zentrum/Peripherie-Gesellschaften (bzw. ihre Zentren) angewandt (und ihnen damit übergeordnet) wird. Er weist darauf hin, dass „der Glanz“ der „unitarischen Form bürokratischer Herrschaft“, der „von Zeitgenossen und auch im historischen Rückblick“ als Eigenschaft der Alten Imperien vor allem wahrgenommen werde, die Schichtungsstruktur der Gesellschaft nur „optisch, aber nicht funktional in den Hintergrund“ treten lasse160. So verweist er auf die „erheblichen und stabilen Reichtumsunterschiede“ im Alten Ägypten und auf die nur scheinbare „bürokratiebedingte Mobilität“ im chinesischen Reich, die bei genauerer Untersuchung „sehr rasch den Einfluss von Schichtung, und zwar gerade aufgrund eines an Leistungskriterien ausgerichteten Prüfungssystems“ erweise161. Eine konterkarierende Grundstruktur stratifikatorischer Differenzierung wird nun auch für den Fall einer „Stadtregierung griechisch-hellenistischen Typs“ angenommen, wo „auf Gleichheit der Beteiligung aller Bürger Wert gelegt wurde“. Auch dort habe „die Oberschicht deutlich bevorzugten Zugang und deutlich stärkeren Einfluss“ gehabt162. Dies lässt nun nach der Einordnung der griechisch-römischen Antike in die Vierer-Typologie gesellschaftlicher Differenzierungsformen fragen. Die Antike wird auf einer halben Seite zusammen mit Israel am Ende des Zentrum/ Peripherie-Kapitels als „Ausnahme“ und „Abweichung“ von den orientalischen Reichbildungen eingeordnet163. Es wird – diesmal ohne kritische Distanzierung – auf Parsons’ Konzept der „seed-bed societies“ verwiesen: „Auch für diese Gesellschaften gelten jedoch die Differenzierungsformen Zentrum/Peripherie und Stratifikation. Es handelt sich um städtische Gesellschaften und um Adelsgesellschaften.“164 Ihre Ausnahmestellung sei ermöglicht worden durch „geographische Bedingungen, etwa in 158 159 160 161

GG II, S. 695–701. GG II, S. 681f. (Zitat auf S. 682). GG II, S. 675. GG II, S. 675, A. 148; vgl. GG II, S. 675: „Jedenfalls bleibt die Stratifikation so stark, dass ein großräumiges Reich weder mit dem Adel noch gegen ihn regiert werden kann.“ 162 GG II, S. 679. 163 GG II, S. 677. 164 Ebd.

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der Ägäis“, oder auch durch „Grenzlagen zwischen Großreichen, der Fall Israels“165, und habe zugleich „weitreichende Konsequenzen für semantische Innovationen“ gehabt. Offenbar habe das [...] Abweichen von der Typik des Großreiches genügt, um ein hohes Maß an selbstkritischer Semantik zu ermöglichen – in Israel in der Form der Prophetie, in Griechenland in der Form eines neuartigen, schriftgebundenen Erkenntnisstrebens; und in beiden Fällen in der nicht an etablierte Positionen gebundenen Form der Beobachtung zweiter Ordnung: der Beobachtung von Beobachtern166.

Diese semantischen Innovationen werden mit der Situation im Europa der Frühmoderne verglichen. Anders als in der Frühmoderne seien diese Gesellschaften jedoch auf einen „Wechsel der Differenzierungsform (sc. in Richtung auf primär funktionale Differenzierung)“, auf eine „‚Katastrophe‘“, auf einen „take off“ nicht vorbereitet gewesen167. Luhmanns Kurzcharakteristik der griechischen Stadtgesellschaften im Rahmen des Zentrum/Peripherie-Differenzierungstyps arbeitet also mit der Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur (Differenzierungsform) und Semantik (gesellschaftliche Deutungsmuster)168. Dabei wird auf der Ebene der Semantik ein neuartiges Erkenntnisstreben und die – für moderne Gesellschaften typische – Beobachtung zweiter Ordnung herausgestellt169. Hinsichtlich der Gesellschaftsstruktur wird angenommen, dass die Differenzierungsform im Rahmen des „hochkulturell“ oder vormodern Üblichen verharrt. In dem folgenden Stratifikations-Kapitel wird in diesem Sinne in verschiedenen Bemerkungen auf Griechenland eingegangen: auf die schon erwähnte Konterkarierung der Bürgergleichheit durch faktische politische Bevorzugung der Oberschicht170; auf die athenische „‚Demokratisierung‘ der Adelsbegrifflichkeit (arete eines jeden

165 Ebd. 166 Ebd. 167 Ebd. 168 Vgl. GS I. S. 19 mit A. 13, wo Luhmann – im Anschluss an die Terminologie Kosellecks – „Semantik” definiert als „einen höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn“. 169 Zur „Beobachtung zweiter Ordnung“ unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft vgl. GG II 766–768. 170 Vgl. GG II, S. 679, A. 156: „Man kann dies sehr gut an den Familientraditionen der Oberschicht verfolgen, die in Athen (anders als in Rom) nicht auf das Innehaben von Stadtämtern Wert legen, wohl aber auf kriegerische und sportliche Präsenz, auf Gesandtschaften, Friedensverhandlungen und sonstiges Managen internationaler Beziehungen; und vor allem natürlich: auf finanzielle Großzügigkeit.“

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Stadtbürgers)“, die als solche „nur ausgedehnt, aber nicht unterbrochen“ worden sei171; auf die aristotelische Definition von Adel (eugeneia) als „alter Reichtum und Tüchtigkeit“, die als charakteristisch angesehen wird für eine „Spätzeit, in der die Stellung vornehmer Geschlechter schon nicht mehr durch die Stadtverfassung festgelegt ist, sich aber gleichwohl noch unübersehbar bemerkbar macht“172; oder auch in Bezug auf Platons Vorschlag einer „haushaltslosen Weibergemeinschaft“, die Luhmann im Kontext der Bedeutung von Haushalten für Geschlechterhierarchien in stratifizierten Gesellschaften lobt: „Sie ist [...] konsequent durchdacht, wenn man in einer auf Haushalte aufbauenden stratifizierten Gesellschaft Frauen gleiche Rechte und gleiche Berufschancen verschaffen möchte.“173 Das antike Rom wird neben den griechischen Poleis nur nebenbei erwähnt: im Stratifikations-Zusammenhang bzgl. der Bedeutung der Übernahme von „Stadtämtern“ für die Oberschicht und im Zentrum/Peripherie-Kapitel, wo im Kontext vormoderner Großreiche die außergewöhnliche Leistung der „Post des römischen Reichs“ erwähnt wird174. Die in der „Systemtheorie der Gesellschaft“ noch hervorgehobenen gesellschaftsstrukturellen Innovationen Griechenlands und im Anschluss daran Roms, vor allem die erstmalig erfolgte Trennung von Person und Rolle bei der Ausdifferenzierung politischer Ordnungen, die temporäre Besetzung führender politischer Stellen durch Wahl, die Bedeutung des von Religion und patrimonialen Strukturen gelösten Rechts und ähnliches treten dagegen nicht mehr in Erscheinung. Insgesamt erscheint die Behandlung Griechenlands und Roms in Luhmanns „Gesellschaft der Gesellschaft“ stark an Parsons’ „Societies“ orientiert. Dort stehen die „Saatbeet-Gesellschaften“ Israel und Griechenland – in einem eigenen Kapitel – nach den „intermediären Reichen“, zu denen auch das römische und die islamischen Reichsbildungen gezählt werden, am Schluss einer Analyse vormoderner Gesellschaften, die das mittelalterliche Europa nicht einschließt. Bei Luhmann werden sie – allerdings nur als kleines Anhängsel und Ausnahmefall der Großreiche der Alten Welt – hinter diese und vor die auf die mittelalterliche europäische Gesellschaft konzentrierte „stratifizierte Gesellschaft“ gesetzt. Es zeigt sich jeweils ein Spannungsfeld zwischen dem Versuch, historische Reihenfolgen und damit evolutionäre Anschlüsse einerseits, eine Systematik der Typen andererseits zu berücksichtigen. Bei Parsons werden dadurch das römische und die islamischen Reiche vor Altisrael und dem frühen Griechenland positioniert. Bei Luhmann fallen diese beiden intermediären Reiche weg, und das antike Griechenland bildet gewissermaßen eine Brücke zwischen dem Alten Orient 171 172 173 174

GG II, S. 690. GG II, S. 690f., Zit. S. 690, A. 178. Die aristotelische Adelsdefinition: Aristot. Pol. 1294 a 21 f. GG II, S. 697, A. 196. GG II, S. 679, A. 156 (Zitat oben Fn. 170), 672.

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und dem Mittelalter, indem es als Sonderfall für Zentrum/Peripherie-Differenzierung einerseits, als Beispiel für eine stratifizierte Gesellschaft andererseits typologisch eingeordnet wird. Während die (zusätzliche) Charakterisierung der antiken griechischen Poliswelt durch den Differenzierungstyp Stratifikation im Blick auf die Überlieferung sicher angemessen ist, erscheint ihre primäre Rubrizierung unter die Kategorie Zentrum/Peripherie eher als Verlegenheitslösung. Historisch-genetisch und in evolutionärer Perspektive ist sie natürlich als Diffusionsphänomen der Alten Hochkulturen zu verstehen. Aber die auf den siedlungsgeographischen Stadt/Land-Unterschied bezogene Zentrum/ Peripherie-Differenzierung lässt sich im kleinräumigen polyzentrischen Griechenland lediglich in der Frühzeit feststellen, während die spätarchaische und klassische Zeit durch die politische Einbeziehung des Landes in die Stadt gekennzeichnet war175, so dass eine Polis nicht vom Land, sondern von anderen Poleis umgeben war. In dem einleitenden Abschnitt über „Formen der Systemdifferenzierung“ bezeichnet Luhmann selbst die vier Typen – segmentär, Zentrum/Peripherie, stratifikatorisch, funktional – als „Formenkatalog“. Er begründet ihn mit den wenigen Differenzierungsformen, die sich in der bisherigen Gesellschaftsgeschichte ausgebildet hätten176, also am historischen Material, und konstatiert: „Wie leicht ersichtlich, gibt es keine theoretische Begründung für diesen Katalog.“177 Aus dem theoretischen Rahmen fällt aber im Grunde nur die Zentrum/Peripherie-Differenzierung. Wegen ihr muss das evolutionstheoretisch rückgebundene Dreier-Schema (segmentär – stratifikatorisch – funktional) und auch das Konzept des Primats einzelner Differenzierungsformen aufgegeben werden – dieses stelle „keine Systemnotwendigkeit“ dar, heißt es hier178. Und von ihr sagt er, man könne sie „überspitzt“ als „eine Differenzierung von Differenzierungsformen, auf dem Lande noch segmentärer und in der Stadt schon stratifikatorischer Differenzierung“ bezeichnen: „Großreiche können mithin zwei verschiedene Differenzierungsformen auf der Basis von Ungleichheit kombinieren und in dieser Kombination ausbauen: Zentrum/Peripherie-Differenzierung und Stratifikation. Die von ihnen entwickelte Form bürokratiegestützter Herrschaft ist diejenige Form, die diesen Kombinationsgewinn ermöglicht [...].“179 Die Frage ist, ob man die Zentrum/Peripherie-Differenzierung dann nicht besser als stabilisierte Übergangslage zwischen segmentärer und stratifizierter Gesellschafts175 Ein gutes Beispiel ist die Integration ganz Attikas in die politischen Strukturen der Polis Athen durch Kleisthenes am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. 176 GG II, S. 612. 177 GG II, S. 614. 178 Ebd. 179 GG II, S. 674: Das tue die Bürokratie, „indem sie sich selbst unterscheidet.“

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differenzierung, gewissermaßen als „unvollständige Stratifikation“180 bezeichnen sollte. Sie stünde dann als (dauerhaftes) Übergangsphänomen ebenso zwischen diesen beiden Differenzierungsformen wie die (temporäre) „Ausdifferenzierung von Funktionssystemen“, der Luhmann ebenso ein eigenes Kapitel widmet, das im Aufbau der „Gesellschaft der Gesellschaft“ zwischen stratifizierter und funktional differenzierter Gesellschaft steht. Es bliebe damit bei einem Dreier-Schema von Grundformen gesellschaftlicher Evolution, das durch zwei Zwischentypen ergänzt würde. Auf systemstruktureller Ebene, so kann man die Darstellung im Differenzierungskapitel der „Gesellschaft der Gesellschaft“ zusammenfassen, sind die griechisch-römischen Stadtgesellschaften der Antike von einem wichtigen preadaptive advance weiterer Evolution zu einem kleinräumigen Ausnahmefall des Alten Orients geschrumpft, der ansonsten typische Elemente einer stratifizierten Gesellschaft aufweist. Immerhin wird im Zusammenhang mit den Innovationen auf semantischer Ebene auf einen fehlenden take off zu modernen Formen der gesellschaftlichen Differenzierung hingewiesen. Dies verweist auf die antiken Kommunikationsbedingungen. Wie in der „Systemtheorie der Gesellschaft“ kommt Luhmann auch in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ im Rahmen des Hauptteils „Kommunikationsmedien“ auf die Antike zu sprechen: „Die Sonderleistung des Alphabets als perfekt-phonetischer Schrift wird vielleicht überschätzt. Man sieht hier eine weltweit untypische Evolution abzweigen, die dann Geschichte gemacht hat. Aber woran genau könnte das gelegen haben angesichts der Tatsache, dass so viele Kulturen für sie brauchbare Schriften hervorgebracht haben?“181 Er weist darauf hin, dass die alphabetisierte Schrift jedenfalls den Rahmen von Palastverwaltungen, Tempeln und Fernhandel überwand und in den kleinräumigen Städten zu einem „allgemeinen Medium“ wurde, das genutzt werden konnte, um Sonderbereiche auszudifferenzieren, neben der Stadtverwaltung mit wechselnd besetzten Ämtern und geschriebenen Gesetzen weist er hin auf die „Debattenkultur in vielen Themenfeldern, von der Medizin und Geometrie bis zur Poesie, zum Theater, zu Rhetorik und zur Philosophie“, die im Athen der klassischen Zeit dazu führte, „dass literarische Texte mit Streuwirkung für unbekannte Empfänger und unabsehbare Situationen verfasst und dass Kontroversen, selbst auf begrenzten Gebieten wie Medizin, schriftlich ausgefochten werden konnten.“182 Luhmann betont als unmittelbare Konsequenz „die Einübung von Kritik auf der Grundlage einer Beobachtung zweiter Ordnung, einer Beobachtung anderer Beobachter. Die Folgewirkungen 180 Zu Luhmanns Charakterisierung von vorneuzeitlichen Hochkulturen als „Gesellschaften mit unvollständiger funktionaler Differenzierung“ siehe RS I, S. 166; vgl. oben Abschnitt III 3. 181 GG I, S. 280. 182 GG I, S. 281.

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waren, sowohl kurzfristig als auch langfristig gesehen, immens.“183 Er erläutert, dass durch Schrift Texte zum Gegenstand von Kommunikation werden, was Kontrollmöglichkeit, Vergleiche und neuartige Konsistenzzwänge hervorruft, dass mündliche Kommunikation schriftlich dargestellt werden kann und dass schließlich die Schriftlichkeit auch das gesprochene Wort verändert. Die eine Reaktion auf die Alphabetisierung der Schrift und die damit verbundene Ausbreitung der Schriftbeherrschung im klassischen Griechenland war, so Luhmann, die Bemühung um die Verstärkung der Überredungs- oder Überzeugungsmittel der mündlichen Kommunikation. „Auf diesem Wege kam es im Laufe der Zeit, für das Mittelalter vermittelt vor allem durch Cicero und Quintilian, zu einer Allianz von Rhetorik, Topik und Moral.“184 Die andere Folge der alphabetischen Schrift sei die Entwicklung und Differenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien gewesen185. Mit dem Satz: „Wir kehren daher zu den griechischen Quellen zurück,“186 wendet sich Luhmann – ausführlicher und differenzierter als in der „Systemtheorie der Gesellschaft“ – terminologischen und sachlichen Fragen von Wahrheit, Freundschaft, Münzgeld und politischer Macht im antiken Griechenland zu und betont die Unwahrscheinlichkeit ihrer Ausdifferenzierung187: Im Rückblick gesehen leuchten diese Differenzierungen ein. Es ist gut zu verstehen, dass zum Beispiel Wahrheit und Liebe unterschieden werden müssen, denn Liebe würde die Wahrheit ebenso stören wie die Wahrheit die Liebe. Vor der Evolution einer entsprechenden Semantik war jedoch gerade das Gegenteil plausibel gewesen. Musste man nicht den Aussagen von Nahestehenden mehr vertrauen als irgendwelchen anderen? Es bleibt daher eine Frage, die letztlich an die Evolutionstheorie zu richten wäre: wie ein solcher Umbruch von Plausibilitäten passieren konnte188.

Luhmann selbst bietet als Erklärung nur die „Vermutung“ an, dass neben der Ausbreitung der alphabetischen Schrift das „Fehlen jener mächtigen Allianz von Religion und Moral [...], die in anderen Hochkulturen das öffentliche Leben beherrschte“ verantwortlich war sowie das Fehlen von über die einzelnen Städte hinausgehenden Organi-

183 Ebd. 184 GG I, S. 322. 185 GG I, S. 324. 186 Ebd. 187 GG I, S. 324–332. 188 GG I, S. 330.

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sationen von Priesterschaften189. Die Schriftkultur hätte sich gewissermaßen an der Religion vorbeientwickelt, und erst in den hellenistischen Reichen sei es „zur Glaubensreligion des Christentums [gekommen], die als neue Religion sich mit Hilfe kanonisierter Texte ausbreiten konnte“190: Dass es bereits in der Antike zur Vollentwicklung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien gekommen ist, wird man gleichwohl nicht behaupten wollen,

folgert Luhmann mit Verweis auf deren Rolle für die „Autokatalyse“ von modernen Funktionssystemen. Immerhin fällt auf, dass [...] bedeutende Vorentwicklungen geleistet waren; und wir können auch bemerken, dass sie die Bezugsprobleme herausgegriffen hatten, die sich später als Leitprobleme einer Medienentwicklung erwiesen haben: Wahrheit, Liebe, Macht/Recht und Eigentum/Geld191.

Auch die Bedeutung der erstmaligen Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien im antiken Griechenland wird also – zwar bewundert und als preadaptive advance gewürdigt, aber doch – von den Phänomenen moderner Funktionssysteme klar abgesetzt. Überhaupt werden in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ an anderer Stelle die Auswirkungen der symbolisch generalisierten Medien auf die Evolution des Gesellschaftssystems relativiert und die Annahme einer unmittelbaren, eindeutigen Korrelation von Medienentwicklung und Differenzierungsform der Gesellschaft zurückgewiesen192. Im griechischen Fall wird darauf hingewiesen, dass sie für eine historische Gesellschaft entwickelt wurden, mit deren Welt- und Selbstsicht sie harmonieren mussten. Und er verweist auf „(die im Vergleich zu den strukturellen Gegebenheiten auffällige) Überbewertung des Politischen mit der Definition der Gesellschaft als politischer Gesellschaft“, sowie auf „die Reduktion des Ökonomischen auf Haus und Handel“, auf die Hierarchisierungen der philia (bei Aristoteles) mit der (bürgerlichen) Tugendfreundschaft an der Spitze und schließlich auf die „zweiwertige Logik und die ihr entsprechende Ontologie“, deren geringer Strukturreichtum kriti189 GG I, S. 330 f. 190 GG I, S. 331. 191 Ebd. 192 Vgl. den Abschnitt „Auswirkungen auf die Evolution des Gesellschaftssystems” im Rahmen des Kapitels 2 zu „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien” (GG I, S. 405–412, bes. S. 405–408); zur fehlenden Korrelation zwischen Kommunikationsmedien und Formen gesellschaftlicher Differenzierung: GG I, S. 515f. (im Abschnitt über „Evolutionäre Errungenschaften“).

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siert wird und „die den kommunikativen Beschränkungen des Beobachtens von Beobachtungen in dieser Gesellschaft Rechnung trug“193. Man würde als Leser der „Gesellschaft der Gesellschaft“ gern mehr über die Strukturen dieser antiken griechischen Gesellschaft erfahren, deren politisches System – gerade auch im Vergleich zu den anderen zitierten Luhmann-Texten – in den Differenzierungskapiteln unterbelichtet bleibt. Man wüsste gerne mehr über die strukturellen Bedingungen, die die außergewöhnlichen preadaptive advances im Kommunikationsbereich ermöglichten, neben denen, die sie beschränkten. Zumal der Vorwurf, die Griechen seien bei einer zweiwertigen Logik stehen geblieben, die ja in Luhmanns Zeit vorherrschend war und es vermutlich auch heute noch ist, erneut zeigt, dass – wie in der kurzen Behandlung im Zentrum/Peripherie-Kapitel – das antike Griechenland hier offensichtlich mit der frühneuzeitlichen Gesellschaft Europas und ihrem take off zur Moderne verglichen wird. Luhmann verweist am Ende der eben zitierten Stellen über die griechischen „Beschränkungen und ihre Strukturabhängigkeiten“ auf den letzten Teil seines Buches, den Teil über „Selbstbeschreibungen“194. Der Teil über die Selbstbeschreibungen verdankt sich Luhmanns Forschungen zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik am Beispiel der Frühen Neuzeit. Das, was zum Beispiel in der „Systemtheorie der Gesellschaft“ unter der in ihren ­systematischen Bezügen unklar verorteten Kategorie „Selbstthematisierungen“ verhandelt wurde, wurde dem Bereich einer Semantik gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen zugeordnet und als Ideenevolution, die in Koevolution mit der gesellschaftsstrukturellen Evolution verlaufe, systematisch – gewissermaßen als „kulturelle Dimension“ – in die Gesellschaftstheorie eingebunden. In der 1980 veröffentlichten Einleitung zum ersten Band von „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ beschäftigt sich Luhmann grundsätzlich mit der Frage nach der Korrelation und gegenseitigen Beeinflussung von gesellschaftlichen Strukturen und Wissensbeständen195. Er spricht von „Schwellen“ semantischer Evolution, die der Veränderung der primären Struktur der Systemdifferenzierung entsprächen196, und stellt die These auf, dass sich eine Grundsemantik „typisch nach der Entwicklung einer Differenzierungsform und für diese“ konsolidiere197, dass aber durchaus auch andere Korrelationen vorkämen. Es könnten die für spätere Beobachter erkennbaren Veränderungen für die zeitgenössische gesellschaftliche Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung lange intranspa-

193 194 195 196 197

GG I, S. 331f. GG I, S. 332. GS I, bes. S. 15; vgl. auch den Abschnitt über „Ideenevolution“ in GG I, S. 536–557. GS I, S. 24. GS I, S. 39.

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rent bleiben – so beim Übergang zu funktionaler Differenzierung198. Während in diesem Fall die Semantik also gewissermaßen nachhinkte, kämen umgekehrt „intellektuelle Vorbereitungen“ vor, die die Funktion von preadaptive advances einnähmen199 und vorweg den Weg für spätere strukturelle Veränderungen würden ebnen helfen. Dies verweist schließlich auf eine gewisse Autonomie der Ideenevolution gegenüber der gesellschaftlichen Evolution. So könnten zum Beispiel durch Systematisierung und Dogmatik Sinngehalte ein Eigengewicht mit Resistenz gegen gesellschaftsstrukturelle Veränderungen bekommen, wofür das römische Recht als Beispiel angeführt wird200. Im Rahmen der umfangreichen Behandlung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen bis hin zur „sogenannten Postmoderne“ erfolgt nun die ausführlichste Beschäftigung mit der griechisch-römischen Gesellschaft in der letzten Fassung von Luhmanns Gesellschaftstheorie. Fünf der 23 Abschnitte widmen sich der „Semantik Alteuropas“. Zwar hätten, konstatiert Luhmann in diesem Zusammenhang, „vormoderne Gesellschaften [...] von ihrer Differenzierungstypik her deutliche strukturelle Ähnlichkeiten,“ indem sie eine im Wesentlichen durch mündliche Lehre tradierte Schriftkultur (sc. ohne Buchdruck) besessen und sich jeweils selbst „als Mitte der Welt betrachtet“ hätten201. Eine Beschränkung auf „griechisch-römisch-christliches Gedankengut“ sei gleichwohl notwendig, „denn nur diese Tradition hat die moderne Gesellschaft in ihrem Entstehen begleitet, und nur sie beeinflusst die an sie gerichteten Erwartungen noch heute“202. Im Einzelnen behandelt Luhmann Ontologie, die Unterscheidungen Ganzes/Teile, die Unterscheidung von Politik und Ethik sowie die „Barbarisierung“ des Fremdbereichs. Der Status der antiken Selbstbeschreibungen wird dabei ambivalent gezeichnet: Einerseits werden antike Ansätze der Ablösung einer hierarchisch geordneten „Adelssemantik“, d. h. der an Stratifikation orientierten Selbstbeschreibungsmuster, durch „auf Funktionsbereiche bezogenes Wissen“ herausgestellt. Dabei seien die Diskurse entlang der Differenzierung der Kommunikationsmedien im klassischen Griechenland und auch im spätrepublikanischen Rom „besonders eindrucksvoll“203. Diese Ansätze seien jedoch gescheitert. Für ein „Durchhalten“ der Tendenz hätten die kommunikationstechnischen (gemeint ist offensichtlich der Buchdruck) und sozialstruk198 199 200 201

GG I, S. 550. GS I, S. 49. GS I, S. 50. GG II, S. 893. Und in der Fußnote wird erwähnt, dass „die jüdische Tradition [...] auf Grund des Primats, den sie der Kommunikation Gott/Mensch zuspricht, der Theoriedarstellung unseres Textes viel näher kommt als die alteuropäische Tradition“ (GG, S. 893, A. 47). 202 GG II, S. 893. 203 GG II, S. 959.

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turellen Vorgaben (gemeint ist wohl die Stabilität der Schichtungsstruktur der Gesellschaft) nicht ausgereicht. Stattdessen hätten „regressive Entwicklungen“ diesen Umbau der Semantik mehr als tausend Jahre aufgehalten204. Auch die ideengeschichtlichen Auswirkungen der antiken Selbstbeschreibungen werden ambivalent gezeichnet: Einerseits seien seit dem Hochmittelalter und vor allem dann durch den Buchdruck „erneute Vorstöße in gleicher Richtung“ ausgelöst worden, die zunächst von der römischen Unterscheidung von Religion, Recht und Politik ausgingen205. Zwar seien seit etwa 1600 auch neue, funktionssystembasierte gesellschaftliche Selbstbeschreibungen, im politischen Bereich etwa zum Thema „Staatsraison“, entstanden, andererseits hätten die Begriffsdispositionen der alteuropäischen Semantik das europäische Denken bis in die Neuzeit (im wörtlichen Sinne) „gefesselt“206. Ja, tiefer liegende Denkstrukturen – dies wird gegen Kosellecks Begriffsgeschichte eingewandt – kontinuierten sich bis heute: Die moderne Gesellschaft muss ohne Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft zurechtkommen, und sie hat dafür noch keine semantischen Formen gefunden, die der eigentümlichen Geschlossenheit und Überzeugungskraft der alteuropäischen Semantik die Waage halten könnte207.

Die antike Semantik für das Ganze der Gesellschaft, die Selbstbeschreibung als „politische Gesellschaft“ (koinonia politike, societas civilis), war somit ein preadaptive advance der Ideenevolution, das die unwahrscheinliche Entstehung einer funktional differenzierten Gesellschaft seit dem Hochmittelalter befördert hat, das der entstandenen modernen Gesellschaft jedoch keineswegs mehr angemessen ist. „Dennoch bleibt diese Tradition“, so Luhmann, „Bestandteil unserer Überlieferung und in diesem Sinne orientierungsrelevantes Kulturgut.“208 Insgesamt lässt sich die Antike in der dritten Phase von Luhmanns Evolutionstheorie folgendermaßen charakterisieren: Nach der anfänglichen Einordnung in ein Dreierschema, bestimmt durch die primären Formen segmentäre, stratifikatorische sowie funktionale Differenzierung, und nach der Sonderkennzeichnung als „typenprägnante Problemlösung“ wird die Antike neu konstelliert, und zwar in ambivalenter Weise: Einerseits wird der gesellschaftsstrukturelle historische Sachverhalt hinsichtlich der Form der Systemdifferenzierung als marginaler Sonderfall dem neuen, 204 Ebd. 205 Ebd. 206 GG II, S. 961. 207 GG II, S. 963. 208 GG II, S. 894.

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für die bürokratischen Großreiche der Alten und der außereuropäischen Welt entworfenen Typ „Zentrum/Peripherie“ zugeordnet und außerdem zusammen mit dem Typus „Stratifikation“, dem Normalfall für vormoderne hochkulturelle Gesellschaften, abgehandelt. Auffällig ist, dass dabei der ganze Bereich neuartiger politischer Systemstrukturen, die ja für die antike Selbstsicht als „politische Gesellschaft“ zentral waren, allenfalls nebenbei erwähnt wird, etwa im Zusammenhang mit der Konterkarierung der politisch egalitären griechischen Bürgergesellschaft durch die gesellschaftliche Stratifikation. Eine irgendwie aus dem Kontext vormoderner stratifizierter Gesellschaften herausfallende Sonderstellung wird nur mit Blick auf das Parsons’sche Konzept der Saatbett-Gesellschaft erwähnt, und als Bedingungen dafür werden die naturräumlichen Gegebenheiten des Ägäisraums sowie die fehlende interlokale Organisation religiöser Macht vermutet. Auf Ansätze oder sekundäre Formen funktionaler Differenzierung, also auf Ansätze einer „Modernisierung“, wird im dafür vorgesehenen systematischen Zusammenhang – anders als in den beiden ersten Phasen – nicht mehr eingegangen. Es scheint eher, dass jeder Anschein von Modernität der Antike verhindert werden soll. Andererseits aber wird auf die welthistorisch erstmalige Ausdifferenzierung von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, auf die mit ihnen verbundenen, auf Funktionssysteme bezogenen Selbstbeschreibungen und auf die Form der Beobachtung zweiter Ordnung ausführlich hingewiesen. En passant wird eine Vielzahl von „modern“ anmutenden Besonderheiten der Griechen und Römer erwähnt, so die „großen polit-ökonomischen Reformen“ der Frühzeit (d. h. die solonischen Reformen und die sogenannten Ständekämpfe in Griechenland und Rom, die die politische Ordnung selbst zum Gegenstand von Politik machten)209, die besonderen Formen des griechischen, dann hinsichtlich der Systematisierung vor allem des römischen Rechts210, die in klassischer Zeit entstandenen schriftlich dokumentierten Diskussionen über spezialisierte Wissensbereiche wie Medizin und Geographie211, der außergewöhnliche, nicht auf technische Anwendbarkeit bezogene Erfindungsreichtum griechischer „Intellektueller“ (mit einem Hinweis auf den Tunnel des Eupalinos auf Samos)212 oder der Beginn der abendländischen Geschichtsschreibung bei den Griechen und die damit verbundene Veränderung temporaler Strukturen213. Ja es scheint an zwei Stellen erklärungsbedürftig zu sein, dass es im klassischen Griechenland nicht zu einem take off zu einer modernen Gesellschaft kam wie in der Frühen Neuzeit. Die209 210 211 212 213

GG I, S. 573. GG I, S. 465, A. 98, S. 551, A. 241. GG I, S. 281. GG I, S. 529, A. 199. GG I, S. 573.

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ser sei verhindert worden durch gesellschaftsstrukturelle Beschränkungen und regressive Entwicklungen214. Im evolutionären Kontext wird nur en passant (s.o.) die Frage gestellt, wie es zu den griechischen Besonderheiten kam; die Frage, wie es weiterging, bleibt ungestellt. Angeboten hätte der Theoriekontext, nach „Überstabilisierungen“ oder „Involution“ der griechischen und römischen städtischen Adelsgesellschaften zu fragen, wie dies am Beispiel des Duells und der zunehmenden Bedeutung der Ehre für den frühneuzeitlichen Adel getan wird215. Ein Versuch, die – ebenfalls en passant angenommenen – „regressiven“ evolutionären Entwicklungen etwa am Beispiel des Christentums, der kirchlichen Organisationen oder der spätantiken bürokratischen Strukturen weiter zu verfolgen, wird nicht unternommen216. Insbesondere die Griechen bis zur hellenistischen Zeit erscheinen als temporäres Phänomen, als merkwürdiges, begabtes kleines Volk an der Peripherie der Alten Hochkulturen, die Römer (der Kaiserzeit), auf die kaum eingegangen wird, offenbar als Normalfall eines ebenfalls temporären vormodernen Großreiches. Aufschlussreich ist, dass die evolutionäre Bedeutung der Antike stattdessen vollständig in den Bereich der Semantik gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen und damit in den Bereich der Ideenevolution verschoben wird. Dabei ist wiederum Ambivalenz vorherrschend. Einerseits wird herausgestellt, wie die politische Selbstbeschreibung der Antike und die damit verbundene Verbannung der Ökonomie in den Bereich des Hauses und des Handels zu einem entscheidenden semantischen preadaptive advance wurde. Das antike Konzept der koinonia politike konnte zu einem zentralen Element der Selbstbeschreibung der in der frühen Neuzeit entstehenden modernen funktionsdifferenzierten Gesellschaft werden und half damit, neue Strukturen auf den Weg zu bringen und zu stabilisieren. Andererseits wird diese bis in die Gegenwart wirkende Selbstbeschreibung den neu entstandenen Strukturen der modernen Gesellschaft gegenüber für inadäquat gehalten. Der Rückgriff auf die Antike wird als Blockade oder Behinderung einer angemessenen Selbstbeschreibung des welthistorisch einzigartigen und völlig neuen Systems funktionaler Differenzierung der modernen Gesellschaft gesehen. Insgesamt wird die Antike in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ somit hinsichtlich ihrer Systemstruktur und ihrer Differenzierungsform grundsätzlich von modernen Verhältnissen distan214 GG I, S. 331f., GG II, S. 677. 215 GG II, S. 734–738. 216 Anders z. B. Luhmann: Politik der Gesellschaft, S. 416f., wo es heißt, dass das „europäische Mittelalter die aus der Antike überlieferte Ordnung des Hauses“ aufgenommen habe. „So kann nach dem Zusammenbruch der römischen Reichsbürokratie ein Residuum ausdifferenzierter politischer Macht überdauern und mit der Adelswelt fusionieren.“

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ziert. Der antiken Selbstbeschreibung werden dagegen wichtige evolutionäre Überleitungsfunktionen und insofern große Nähe bei der Entstehung der modernen Welt zugeschrieben.

4 Vergleich In der letzten Fassung von Luhmanns Gesellschaftstheorie beginnt das Kapitel über die „Ausdifferenzierung von Funktionssystemen“ mit den Sätzen: Im evolutionstheoretischen Kontext muss zunächst akzeptiert werden, dass die gesellschaftliche Ausdifferenzierung einzelner Funktionssysteme zu eigener, autopoietischer Autonomie und erst recht die Umstellung des Gesamtsystems der Gesellschaft auf einen Primat funktionaler Differenzierung ein extrem unwahrscheinlicher Vorgang ist [...]. Es hat daher wenig Sinn, die Frage weiterzuverfolgen, weshalb in den agrarischen Großreichen der Weltgeschichte keine kapitalistische Wirtschaft entstanden ist – so als ob es einen natürlichen Trend zum rationalen Wirtschaften gebe, der irgendwie gehemmt und im mittelalterlichen Europa dann freigesetzt worden sei217.

In der Fußnote fügt Luhmann an: „Gemeint ist natürlich die Fragestellung Max Webers. [...] Die Kritik an der Unterscheidung von agrarischen Großreiche[n] verschärft aber nur den Bedarf für eine Erklärung der Einmaligkeit der spezifisch europäischen Entwicklung.“218 Die Sätze zeigen Nähe und Distanz der Fragen und methodischen Positionen beider Theoretiker gleichermaßen. Die Frage nach der Sonderentwicklung Europas in der Neuzeit war natürlich auch eine der zentralen Fragen Max Webers. Und dass diese sich nicht auf den Bereich der Wirtschaft reduzieren ließ, wurde Weber gerade als Ergebnis seiner kulturvergleichenden Studien deutlich, wie die berühmte „Vorbemerkung“ seiner „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ zeigt. Aber bei Luhmann erfolgt in programmatischer Weise ein bei Weber nur implizit beobachtbarer methodischer Wechsel von Kausalanalysen auf Analysen der Bedeutung von Zufall, Kontingenz und damit Unwahrscheinlichkeit bei der Erklärung sozio-kulturellen Wandels – was ihn im Übrigen nicht daran hinderte, ebenfalls nach Ursachen der Sonderentwicklung Europas zu fragen219. 217 GG II, S. 707. 218 GG II, S. 707, A. 216. 219 GG II, S. 682f.

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1. Hinsichtlich der Theorie sozio-kultureller Evolution ist zunächst festzuhalten, dass die Ansicht, man müsse Weber von dem Vorwurf des Evolutionismus reinwaschen bzw. man müsse Luhmann denselben machen, auf der Verwechslung von älterer und neuerer Evolutionstheorie beruht. Keiner von beiden hält an Vorstellungen von Unilinearität, Notwendigkeit oder Fortschritt gesellschaftlicher Entwicklungen fest. Die Frage nach der evolutionstheoretischen Einordnung der Antike zeigt, dass beide Evolutionstheorie als eine Art Metatheorie zur Klärung der Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlichen Wandels ansehen und nutzen. Dabei ist die bei Weber implizit erkennbare, gewissermaßen vorausgesetzte Theorie gesellschaftlicher Evolution bei Luhmann in eine explizite, komplexe Form gebracht, die gesellschaftlichen Wandel als kontingenten, selbstreflexiven Prozess erklärt. 2. Zugleich zeigt sich allerdings auch bei Luhmann etwas, was bei Weber explizit ist, nur in impliziter Weise. Auch Luhmanns Evolutionstheorie liegt eine Art Idealtypik von Formen sozialer Differenzierung zugrunde: Trotz aller Variabilität und Kontingenz von Veränderung gibt es doch offensichtlich (bislang) nur drei Grundtypen von Gesellschaftssystemen: segmentär, stratifikatorisch und funktional differenzierte Gesellschaften (die Zentrum/Peripherie-Differenzierung beschreibt er selbst als Kombination der ersten beiden). Die Limitierung auf drei ergibt sich aus Luhmanns Verbindung von Systemtheorie und Kommunikationstheorie sowie aus der Trias „mündliche – schriftliche – technisch verbreitete Kommunikation“ und ist daher selbst nicht variabel. Zugleich handelt es sich aufgrund der Variabilität und Zeitelastizität der evolutionstheoretisch rekonstruierten Gesellschaften nicht um klar abgrenzbare Realphänomene, sondern genau um das, was Weber Idealtypen nennen würde, die in der historischen Realität in vielfach unterschiedenen Ausprägungen vorkommen können: In stratifizierten Gesellschaften kann die („adlige“) Oberschicht zum Beispiel aus Priestergeschlechtern im Alten Israel, aus senatorischen politischen Amtsträgern im antiken Rom, aus mittelalterlichen Feudalherren oder aus involutiv im Zeremoniell festgefahrenen Hofadligen im europäischen Absolutismus der frühen Neuzeit bestehen – um außereuropäische Beispiele wegzulassen. Auch die drei Haupttypen bei Luhmann haben also offensichtlich die Funktion, als Referenzgrößen für vergleichende gesellschaftshistorische Forschung zu dienen, und dies macht sie für Historiker wertvoll. Da sie, anders als die Weberschen Idealtypen, nicht handlungs-, sondern systemtheoretisch abgeleitet sind, bieten sie zudem mehr und abstraktere Vergleichsmöglichkeiten, indem sie nicht nur auf den „gemeinten Sinn“ von Akteuren zielen, sondern auch ganz unterschiedlich erscheinende gesellschaftliche Einrichtungen als funktionale Äquivalente deuten können220. 220 Siehe dazu Luhmann: Zweck-Herrschaft-System.

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3. Beide Soziologen fragen bei ihren Analysen der Antike im Kontext der sozio-kulturellen Evolution nach dem, was man als antike Ansätze der Ausbildung moderner gesellschaftlicher Formen bezeichnen könnte. Bei Weber führt dies (1908) zur Frage nach einem antiken Kapitalismus, bei Luhmann zur Frage nach funktionaler Differenzierung in der Antike. Beide stoßen dabei auf die Sonderstellung antiker Politik – bei Weber in Form des „politischen“ Kapitalismus, bei Luhmann als Dominanz und Rückprojektion eines „Primats des politischen Systems“ auf die Gesellschaft. Mit der Sonderstellung der Politik kommt zugleich bei beiden die antike Stadt, genauer: die politische Segmentierung der Gesellschaft auf der Basis städtischer Siedlungen als entscheidende Referenzgröße ins Spiel – als kriegerischer „Städtepartikularismus“ bei Weber, als „polyzentrische Stadtgesellschaft“ bei Luhmann221. 4. Bei keinem von beiden führt die Frage nach „modernen“ Erscheinungen in der Antike – trotz intensiver Beschäftigung und gelegentlich offener Bewunderung – zu anachronistischen modernisierenden Sichtweisen, vielmehr ist eine Distanzierung der antiken Vergangenheit von der jeweiligen Gegenwart charakteristisch. Schon der frühe Weber bemerkte lapidar: „Für unsere heutigen sozialen Probleme haben wir aus der Geschichte des Altertums wenig oder nichts zu lernen.“222 Und bei Luhmann zeigt sich die Distanzierung der Antike schon an der extremen evolutionären Unwahrscheinlichkeit, durch die für ihn die moderne Gesellschaft charakterisiert und von allen früheren Gesellschaften unterschieden ist. 5. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die antiken Strukturen sozialer Ungleichheit, die beide in Rechnung stellen. Weber hat in den „Agrarverhältnissen“ auf „ständische“ Differenzierungen verwiesen und später die klassischen Definitionen von ständischer, auf Abstammungsprestige und Lebensführung basierender Differenzierung gegenüber einer Klassengliederung geliefert, bei der primär die ökonomische Lage das Lebensschicksal bestimmt223. Luhmann beschreibt die antiken Stadtgesellschaften als stratifizierte Gesellschaften und ordnet sie damit dem typischen Fall einer vormodernen, auf Rangdifferenzen beruhenden und als solche akzeptierten Schichtung zu. Dadurch wird die – trotz politischer Bürgergleichheit – große Ähnlichkeit griechischer Oberschichten und römischer Senatorengeschlechter mit Adelsgesellschaften, Ständen oder bürokratischen Eliten vormoderner „Hochkulturen“ deutlich: Trotz aller Differenzen handelt es sich – anders als in der Moderne – stets um die endogame Schließung einer Oberschicht, die als Kommunikationssystem ausdifferenziert ist, deren Stellung in der Interaktion durch symbolische und zeremonielle For221 AV3, S. 469 (SW, S. 102); SG, S. 386. 222 Weber: Untergang, S. 102 (SW, S. 291). 223 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie Unvollendet, MWG I/23, S. 592–600 (WuG1/5, S. 177– 180): „Stände und Klassen“.

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men zutage tritt und die durch eine Art multifunktionaler Kommunikation die Belange der Gesellschaft regelt. 6. Für Weber wie für Luhmann gilt, dass sie der Frage nach modernen Elementen der antiken Gesellschaft zwar nachgegangen, jedoch zu keinen überzeugenden Ergebnissen gekommen sind224. Luhmann, der die Entdeckung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien im antiken Griechenland mit Bewunderung kommentiert, schreibt der griechischen wie der römischen Gesellschaft in den verschiedenen Phasen seines Werkes Ansätze und Mischungen aller von ihm ermittelten Formen gesellschaftlicher Differenzierung zu, zuletzt noch den Typ Zentrum/Peripherie, einen Typ, den er an den die Jahrtausende überdauernden, weit von allen Modernisierungstendenzen entfernten bürokratischen Großreichen der Alten Welt entwickelt. Webers antiker Kapitalismus changiert in seiner Kombination aus wirtschaftlicher Rationalität und Abhängigkeit von Eroberungskriegen und niedrigen Sklavenpreisen zwischen spezifisch modernen und archaischen Verhältnissen. 7. Beide soziologischen Theoretiker verweisen somit trotz unterschiedlicher eigener historischer Ausgangslagen und trotz unterschiedlicher Theoriegebäude gemeinsam auf zentrale Strukturmerkmale ebenso wie auf ungeklärte Probleme der antiken Gesellschaft und Kultur. Dies zeigt sich zuletzt auch an der Frage der Bedeutung der Antike für die Entstehung der neuzeitlichen Gesellschaft Europas. Luhmann arbeitet mit der Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik und verlagert die „Wirkungen“ der Antike ganz in den Bereich der Ideenevolution und des frühmodernen Rückgriffs auf die überlieferten antiken Selbstbeschreibungen. Weber, dem eine entsprechende Theorie nicht zur Verfügung stand, der aber in einer Zeit noch viel stärkerer Präsenz der Antike lebte, bringt mit wortgewaltiger Metaphorik denselben Gedanken über die evolutionäre Bedeutung der Antike zum Ausdruck: Das Niedersinken der antiken Kultur in der Spätantike erinnere an jenen Riesen der hellenischen Mythe, der neue Kraft gewann, wenn er am Busen der Mutter Erde ruhte. Fremdartig wäre freilich den alten Klassikern ihre Umgebung erschienen, wäre etwa einer von ihnen in der Karolingerzeit in seinen Pergamenten erwacht und hätte er die Welt aus seiner Klosterzelle gemustert: die Düngerluft des Fronhofes hätte ihn angeweht. [...] Erst als auf der Grundlage der freien Arbeitsteilung und des Verkehrs die Stadt im Mittelalter wieder entstanden war, als dann der Übergang zur Volkswirtschaft die bürgerliche Freiheit vorbereitete und die Gebundenheit unter den äußeren und inneren Autoritäten des Feu224 Insbesondere für Luhmann, aber auch für den späten Weber ist allerdings daran zu erinnern, dass die Antike keineswegs ein Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, eher – so vor allem bei Luhmann – ein kleines Nebenfeld betraf, das eine auf Universalität zielende Gesellschaftstheorie nicht auslassen konnte.

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dalzeitalters sprengte, da erhob sich der alte Riese in neuer Kraft und hob auch das geistige Vermächtnis des Altertums empor an das Licht der modernen bürgerlichen Kultur225.

Dass aus dem „geistigen Vermächtnis“ der Antike bei Luhmann eine „alteuropäische Semantik“ geworden ist, die eine angemessene Selbstbeschreibung der gegenwärtigen Weltgesellschaft nachhaltig behindert, ändert nicht, sondern unterstreicht die bleibende Bedeutung, die er der antiken Tradition zuweist: Sie kann nicht absterben – gerade weil sie offensichtlich nicht mehr passt, gerade weil sie ständig negiert werden und dafür zur Verfügung stehen muss226.

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Die griechisch-römische Antike und die sozio-kulturelle Evolution bei Max Weber und Niklas Luhmann 135

Schema 1

OKZIDENT EUROPA

OSTASIEN VORDERASIEN

ZENTRALEUROPA

MITTELMEERRAUM

[Moderne]

moderner Kapitalismus

Geldwirtsch.

vormoderner Kapitalism. (ma. Stadt)

politischer Kapitalism.

Berufskriegerschaft

individualist. Feudalism.

Stadtfeudalism.

Sesshaftigkeit Vor Sesshaftigkeit

Bodenanbau mit Viehwirtsch.

Bewäss.kultur

Milchviehzucht m. Ackerbau

Ackerbau ohne Viehhaltung nomadis. Ackernutzung

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Schema 2 ländliche Grundherrschaft (ma. Feudalismus) univers. Militärmonarchie der römischen Kaiserzeit (autoritärer Leiturgiestaat)

7. demokrat. Bürgerpolis 6.Hoplitenpolis

5.autoritärer Leiturgiestaat

3.Adelspolis

4.bürokratisches Stadtkönigtum 2.Burgenkönigtum 1.Bauerngemeinwesen

Die griechisch-römische Antike und die sozio-kulturelle Evolution bei Max Weber und Niklas Luhmann 137

Schema 3 (Kombination der Schemata 1 und 2)*

individualistischer Feudalismus (Grundherrschaft)

moderner Kapitalismus

Ende des pol. Kapitalismus, autoritärer Leiturgiestaat

vormoderner Kapitalismus (mittelalterliche Stadt)

politischer Kapitalismus

individualist. Feudalismus

Stadtfeudalismus

5. autoritärer Leiturgiestaat

7. demokratische Bürgerpolis 6. Hoplitenpolis

(Grundherrschaft) 3. Adelspolis

Bodenanbau mit Viehwirtschaft

2. Burgenkönigtum 1. Bauerngemeinwesen

Milchviehzucht mit Ackerbau

* Ohne Ostasien; kursiv: Angaben aus Schema 2.

4. Bürokratisches Stadtkönigtum

Bewässerungskultur

2. Burgenkönigtum 1.Bauerngemeinw.

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Schema 4

Gesellschafts-

Kommunikation:

Medien:

Typen der Systemdifferenzierung:

mündlich

Sprache

segmentär

[Symbol. generalisierte Kommunikationsmedien:]

Zentrum/Periph.

formationen:

Archaische Gesellschaften

‚Hochkulturelle’ Gesellschaften

mündlich und schriftlich

Ansätze

stratifikatorisch

Moderne Weltgesellschaft

mündlich und schriftlich/techn.

Ausdifferenzierung

funktional

Begriffliche Konzepte einer selbstreferentiellen Evolutionstheorie:



Evolutionäre Errungenschaft



Evolutionäre Überleitung



Äquifinalität



Überstabilisierung



preadaptive advances



Involution



Typenprägnante Problemlösungen



Regression

II. KIRCHEN- UND KONZILSGESCHICHTE



Sancta Plectrudis Regina? Eine Spurensuche in St. Maria im Kapitol zu Köln Heribert Müller

Johannes Helmrath zu Ehren – da darf ein Kollege, der seit Jahrzehnten auch und vor allem Freund ist, jenseits der diese Festschrift prägenden Themen einen eigenen, persönlichen Weg einschlagen. Und dabei weist das Wegschild in Richtung Novalis: „Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause“. Seit über zwei Jahrzehnten ist der Jubilar in Berlin tätig, er schätzt die an- und manches Mal auch aufregende Atmosphäre der Metropole und der Humboldt-Universität, doch seine Wurzeln hat er im Rheinland, in Köln und Aachen (sieht man einmal ab vom Sehnsuchtsort des Italien der Antike und der Renaissance). Eine seiner und des Freundes Lieblingsstätten in Köln ist die romanische Kirche St. Maria im Kapitol, deren Schönheit den sie Aufsuchenden, so er in den ihn geradezu bergenden Triconchos eintritt, Heimat spüren lässt. Und durch diese Dreikonchenanlage zogen und ziehen seit Jahrhunderten Prozessionen, heute noch in der Weihnachtsnacht, wie es bereits im Mittelalter der Kölner Erzbischof mit seinem Gefolge tat, wenn er in dem der Gottesmutter geweihten kölnischen Bethlehem die erste Messe in der Heiligen Nacht feierte. Heinrich Böll, der den im 19. Jahrhundert vollendeten Dom als Preußenwerk geradezu verachtete, liebte die romanischen Kirchen seiner Geburtsstadt; er wusste um Wurzeln und Heimat, wenn es ihn immer wieder zur glasäugigen Nikopoia, einer Madonna in dieser Kirche, zog: „die einzig wahre / schieläugig / großartig / graue / irdische Himmelskundige / auf dem Hügel am Kapitol“1. Maria und nur ihr ist diese auf den Fundamenten des römischen Tempels errichtete Kirche geweiht, obgleich deren Gründerin Plektrud, Gattin des karolingischen Hausmeiers Pippin des Mittleren, eigentlich alle Voraussetzungen erfüllte, um – wie 1 Heinrich Böll. Köln III. Spaziergang am Nachmittag des Pfingstsonntag 30. Mai 1971, in: Böll (Hg.): Heinrich Böll und Köln, S. 104. Vgl. auch Ders.: Köln gibt’s schon, aber es ist ein Traum, in: ebd., S. 183: „eine Madonna, die mich sehr reizt, die ich sehr liebe. Es ist eine ganz alte, häßliche, fast noch Erdmutter“; Ders.: Stichworte (1964), in: ebd., S. 59: „nicht schön, aber groß, sehr alt, erdhaft, unsymmetrisch, mit gläsernen Augen. Sie steht in St. Maria im Kapitol“. Einem anderen Kölner, Dr. Joachim Oepen, dem seit den Tagen seiner Dissertation (s. hier Anm. 14b) St. Maria im Kapitol verbundenen stellvertretenden Direktor des Historischen Archivs des Erzbistums Köln (im Folgenden: HAEK), danke ich für guten Rat und generöse Hilfe; kundige Stütze bei der Erstellung der Druckvorlage waren Sabine Strupp M.A. (Freiburg i. Br.) und Annette Strupp (Frankfurt a. M.).

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Abb. 1 Grabplatte der Plektrudis (2. Hälfte 12. Jh.), Köln Maria im Kapitol (Foto: © Bildarchiv Foto Marburg, Franz Stoedtner).

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Abb. 2 Grabplatte der Plektrudis (um 1300), Köln, Maria im Kapitol (Foto: © Rheinisches Bildarchiv, rba_035090).

etwa eine Gertrud von Nivelles, Tochter des Maiordomus Pippin des Älteren – Adelsheilige und so (Mit)Patronin an eigener Grabstätte zu werden. Doch erst mit dem späteren 12. Jahrhundert werden Bemühungen um ihre Verehrung als Heilige fassbar, deren Spuren sich dann aber bis in die Neuzeit verfolgen lassen, wobei das vorherige,

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fast fünf Jahrhunderte währende völlige Schweigen der Quellen natürlich Rätsel aufgibt. Sieht man einmal von einem 1956 aus dem Boden des Mittelschiffs gehobenen und heute im Umgang der Ostkonche stehenden merowingerzeitlichen Sarkophag ab, der Plektrud indes nur mit hoher Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden kann, so setzt die Überlieferung erst mit einer frühestens auf 1150/60, in jedem Fall aber in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datierbaren romanischen Grabplatte mit der Inschrift S. Plectrudis Regina ein, zu der dann um 1300 eine weitere, gotische kommt, die sie mit Krone und als Kirchstifterin zeigt2. Heilig und königlich im Schweigen der Steine: „Combien faudra-t-il de prières / Devant la pierre au coeur de pierre / Pour éveiller une âme qui s’est tue / Dans l’éternel silence des statues“. Im Angesicht ihrer Schönheit möchte man es bei diesen Versen des französischen Chansonpoeten Georges Moustaki belassen3, doch den Historiker drängt es, auf die Fragen zu Plektruds Gründung, zu ihrem Schicksal und vor allem ihrem Nachleben mit den ihm eigenen Mitteln nach Antworten zu suchen, will man sich nicht mit der Feststellung einer Kultkontinuität in schweigender Tradition begnügen4. Neue Probleme und Merkwürdigkeiten – dies sei vorab gesagt – werden sich dabei auftun bis hin zu einer grotesk anmutenden Plektrud-Verschieberei über Jahrhunderte innerhalb ihrer Kirche. Doch der Versuch lohnt schon, wenn sich über die Gründerin und über St. Maria im Kapitol einiges an bislang Unbekanntem in Erfahrung bringen lässt: Heimat-Kunde als Geburtstagsgeschenk.

1 Zu den klösterlichen Anfängen in St. Maria im Kapitol zu Köln Ohne Plektrud keine Herrschaft der Karolinger – so ließe sich vereinfacht und zugespitzt formulieren, da wahrscheinlich erst die Ehe mit ihr Pippin dem Mittleren den Wiederaufstieg im Majordomat nach dem Grimoald-Desaster eröffnete. Ihren Besitz und ihr Vermögen, die sie als Tochter der Irmina von Oeren und des Pfalzgrafen/Seneschall Hukbert wie Schwester der Adela von Pfalzel und damit als Spross einer von der 2

Seidler: Grabmal der Plektrudis; Dahm: Grablege der Plectrudis; Sauer: Fundatio und Memoria, S. 186f.; Bergmann: Gotische Grabplatte; Mühlberg: Grab; zuletzt kurz Stehkämper/Dietmar: Köln im Hochmittelalter, S. 243, 413. Auf die Darstellung der gotischen Reliefplatte bezieht sich die 1990 im Rahmen des Figurenprogramms am Kölner Rathausturm in der Reihe ‚Herrscher und herrschergleiche Persönlichkeiten‘ angebrachte Plektrud-Statue: Dreher: Plektrudis, S. 329f. Zum Sarkophag Riemer: Merowingerzeitliche Funde, S. 266, 365f. (mit Verweis auf Ristow); Mühlberg: Grab, S. 21–23, 25, 28, sowie Ders.: St. Marien, S. 3. Vgl. hier Anm. 23. 3 Georges Moustaki. La Pierre (1970). Aus dem Album ‚Bobino 70 ou Le Temps de vivre (enregistré en public à Bobino)‘. 4 So Borger: Abbilder des Himmels, S. 250; vgl. Kitschenberg: Kleeblattanlage, S. 19.

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Mosel bis an Niederrhein und Maas mächtigen austrasischen Adelsfamilie in diese Verbindung einbrachte, verstand sie in eine außerordentlich starke Mitbeteiligung an Pippins Regiment umzusetzen, wodurch im Übrigen der Osten Austrasiens mit dem Rheinland und Köln als dessen Vorort innerhalb des Frankenreichs erheblich an Gewicht gewann. So suchte sie denn auch nach dem Tod ihres Gatten 714 von Köln aus über mehr als zwei Jahre die Nachfolge im Hausmeieramt in ihrem Sinn, d. h. zugunsten ihrer Enkel, allen voran des unmündigen Theudoald, zu lenken. Dagegen erhob sich der aus einer Verbindung Pippins mit einer Lütticher Adeligen stammende und schon im Mannesalter stehende Karl Martell, der seinen Sukzessionsanspruch dank zunehmender Unterstützung, vor allem aus der Heimat seiner Mutter, nach gewaltsamen Auseinandersetzungen in Köln schließlich 717 durchzusetzen vermochte5. Plektrud, in den wenigen Quellen der Zeit wie dem Liber Historiae Francorum oder dem ersten Fortsetzer Fredegars gerade in jenen Jahren der pippinidisch-karolingischen Sukzessionskrise durchaus im Fokus, entschwindet seitdem aus deren Blick und sollte, wie gesagt, erst wieder im 12. Jahrhundert steinernes Profil in der Kapitols­ kirche gewinnen, alsbald aber als deren Gründerin auch mehrfach in schriftlichen Zeugnissen begegnen. Doch ist jenes Schweigen über ein halbes Jahrtausend nur Überlieferungszufall? Wurden die frühen Dokumente auf dem Kapitol Opfer des großen Stadtbrands von 11506? Oder fiel Plektrud gezielter damnatio memoriae durch Karl Martell zum Opfer?: eine Möglichkeit, die meines Wissens bislang allein Friedrich Prinz erwog7. Und suchten obendrein, so ließe sich des Weiteren fragen, auch die Nachfahren des Siegers als Familie vergessen zu machen, dass sie ihren Verbleib an der Macht über Plektrud einer anderen Sippe als der eigenen verdankten? Wir wissen es nicht, doch mag zumindest für die Anfänge von St. Maria im Kapitol von Belang sein, dass in Plektruds Familie Klöster und Klostergründungen, zum Teil auf römischem Fundament, Tradition hatten. So stand ihre Mutter Irmina im trierischen Oeren einer auf römischen Getreidespeichern errichteten Abtei vor, und ihre Schwester Adela gründete in Pfalzel nahe Trier, mit Unterstützung einer anderen Schwester Regentrud, ihr Kloster in einer spätrömischen Palastanlage8. Vielerorts tat 5 Hierzu Müller: Köln (mit Quellen und Lit.). 6 Stehkämper/Dietmar: Köln im Hochmittelalter, S. 418; Krings: St. Maria im Kapitol, S. 357; Rathgens: Kirche St. Maria im Kapitol, S. 44. 7 Prinz: Frühes Mönchtum im Frankenreich, S. 503. 8 Grundlegend Werner: Adelsfamilien, der allerdings neben Plektrud, der Tochter Irminas und Hukberts, die – nach vorherrschender Meinung der einschlägigen Forschung wenig wahrscheinliche – Möglichkeit der Existenz einer zweiten zeitgenössischen Trägerin dieses Namens nicht ausschließen will; vgl. Müller: Köln, S. 7. Zur Tradition der Gründungen, für die zudem schlicht der dabei mögliche Rückgriff auf vorhandene römische Bausubstanz eine Rolle gespielt haben wird, s. auch Gauthier/ Hellenkemper: Cologne, S. 66; Gauthier: Évangélisation, S. 279f., 294, 323f.

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man sich durch Klosterstiftungen hervor: Man denke an die von Irmina gestiftete Abtei Echternach oder an die Fundierung von Prüm durch Bertrada die Ältere, eine weitere Schwester Plektruds, die wiederum gemeinsam mit ihrem Gatten Echternach privilegierte und an dessen Gründungen Kaiserswerth und Susteren entscheidenden (Fundations)Anteil hatte9. Mit Matthias Werner ist schließlich davon auszugehen, dass „die für Plektrud überlieferte Gründung von St. Marien im Kapitol wohl eine Reihe von persönlichen Besitzungen Plektruds in der engeren oder auch weiteren Umgebung Kölns“ voraussetzt10. In der Tat liegt das frühe Gut des Konvents zwischen Bonner Raum und Kalkar fast ausschließlich in einer Region, in welcher der Besitz der Irmina/Hukbert-Sippe weitaus größer als derjenige der Pippiniden war11. Dass Plektrud – möglicherweise im Bund mit ihrem Ehemann12 – als Gründerin anzusehen ist, belegen neben der zweiten, sie mit einem Kirchmodell in der Hand als Fundatorin ausweisenden Grabplatte, wie gesagt, gleich mehrere schriftliche Zeugnisse, so die ausgangs des 12. Jahrhunderts auf dem Kapitol entstandenen und nach dem späteren Aufbewahrungsort der Handschrift benannten Historiae Francorum Steinveldenses, deren Bericht über die Gründung (im Gegensatz zum ansonsten die Continuatio Fredegarii ausschreibenden Text) Eigengut darstellt, oder die 1217/18 im nahen St. Pantaleon verfasste Recensio B der Kölner Königschronik: Erat huic [Pippin] uxor nobilissima et sapientissima nomine Plectrudis, que etiam Colonie in capitolio egregiam ecclesiam in honore sancte Dei genitricis Marie construxit, sanctimoniales ad serviendum Deo et beate virgini illic constituens13. Einer Urkunde von 1283 über die Stiftung eines Maria 9 Müller: Köln, S. 16f. 10 Werner: Adelsfamilien, S. 249 Anm. 329. 11 Gechter: Quellen, S. 40f. (mit Verweis auf eine – ungedruckt gebliebene – Beobachtung von Joachim Oepen, dass die Strukturen des frühen Grundbesitzes auf die karolingische Villikationsverfassung zurückgehen dürften). Nach zwar erst im 18. Jahrhundert ausgezeichneter, sich indes auf ältere Nachrichten stützender Tradition soll der Besitz von St. Maria im Kapitol zu Keyenberg (bei Erkelenz) direkt auf Plektrud zurückgehen, die dortige Kirche von ihrem und Pippins Vertrauten Suitbert geweiht worden sein: Werner, Adelsfamilien, S. 249 Anm. 329; Ewig: Frühes Mittelalter, S. 77. 12 Aegidius Gelenius. De admiranda, S. 324, berichtet von Bildnissen Plektruds und Pippins in der Kirche, unter denen sich eine u. a. rura, vasallos, praedia plura auflistende Inschrift befand, welche die beiden St. Maria im Kapitol schenkten; vgl. auch Gechter: Quellen, S. 40. 1866 noch unter der Orgel bezeugt, wurden sie 1868/71 im Zuge der Restaurierung des Langhauses zerstört: Düntzer: Capitol, S. 92f.; Mühlberg: Grab, S. 93 mit Anm. 262. Zur Echtheit der Inschrift (unter speziellem Rekurs auf Honnefer Besitzungen) Ewig: Bistum Köln, S. 117 mit Anm. 147; Ders.: Rheinischer Besitz, S. 184 Anm. 8; siehe auch Gechter: Quellen, S. 47 Anm. 100; Hemgesberg: Peter- und Paulskirche, S. 36; Mühlberg: Grab, S. 93. 13 Historiae Francorum Steinveldenses, ed. Waitz, S. 728; Chronica regia Coloniensis, ed. Waitz, S. 12. Vgl. Gechter: Quellen, S. 39; Kitschenberg: Kleeblattanlage, S. 12f.; Hlawitschka: Zu den klösterlichen Anfängen, S. 1 Anm. 1; Mühlberg: Grab, S. 23. Speziell zu den Historien Werner: Lütticher Raum, S. 426–430.

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Magdalena-Altars in der Vierung der Kapitolskirche zufolge befand sich dieser Altar ad caput sepulchri quondam Blitrudis reginae fundatricis eiusdem loci, und auch das älteste, um 1300 entstandene Memorienbuch gedenkt Plektruds als fundatricis huius ecclesiae, als die sie ebenfalls kurz zuvor der als Kanoniker an St. Maria im Kapitol tätige Alexander von Roes in seinem Memoriale erwähnt14. Die Liste der Belege ließe sich unschwer über das ausgehende Mittelalter bis in die frühe Neuzeit des Stifts fortsetzen (fundatrix dieses stiffts15), doch sagen sie alle nichts über die Form der Gründung aus. Der Behauptungen und Vermutungen hierzu – Kloster, Stift, Eigen- und Pfarrkirche – sind viele, und einige Autoren lassen dazu Unterschiedliches, teilweise in einund derselben Publikation, verlauten16. Bietet nun eine Passage aus Ruotgers Vita des Erzbischofs Brun von Köln (953–965) eine Lösung, die Eduard Hlawitschka 1966/67 zur Grundlage einer Studie machte, welche bis heute geradezu kanonische Geltung besitzt und deren Titel hier als Kapitelüberschrift bewusst aufgegriffen wurde? Bei Ruotger heißt es in der Sache wie im Satzbau etwas kryptisch: De ancillis Dei, quę in monasterio sanctę Mariae divinę religioni fuerant deditę, deque canonicis ad sancti Andreę apostoli ecclesiam translatis, et si qua erant huiusmodi, scrupulum quidem reliquit non modicum …17. Mit Hlawitschka und schon Friedrich Wilhelm Oediger ist in der Tat davon auszugehen, dass Brun nicht nur die auf dem Kapitol lebenden Kanoniker in das von ihm begründete Andreasstift versetzte, sondern auch Nonnen aus dem lothringischen Remiremont, wie weitere Zeugnisse erweisen, an diesen Ort brachte. Schon wenig später bestätigen Abbatiate der Schwestern Bertrada und Adelheid von Vilich den Status von St. Maria im Kapitol als Benediktinerinnenkloster18. Indes wurde 14 a) Druck der Urkunde bei Schäfer: Alter der Parochie, S. 98–101, Zitat: S. 99; Abb. bei Oepen: Totengedenken, S. 227. Vgl. Mühlberg: Sarkophag, S. 71f.; Ders.: St. Marien, S. 3; Ders.: Grab, S. 24f., 86; Bergmann: Gotische Grabplatte, S. 78; Rathgens: Kunstdenkmäler, S. 245. b) Memorienbuch: Oepen: Totenbücher, S. 193f. n. 222; Walterfang: Studien, S. 3 (Ein Exemplar der Arbeit befindet sich im HAEK unter der Signatur CP 16,9). c) Roes: Memoriale de prerogativa Romani Imperii, ed. Grundmann/ Heimpel, c. 21 (S. 118). 15 So bezeugt etwa 1482 eine Urkunde des Kölner Erzbischofs Hermann von Hessen, Plektrud sei in eadem ecclesia [Maria in Kapitol] in eius medio sicuti fundatricem decet honorifice sepultam: Schäfer: Pfarrarchiv, n. 434; vgl. Bergmann: Gotische Grabplatte, S. 80; Mühlberg: Grab, S. 23; Rathgens: Kunstdenkmäler, S. 245; Keussen: Topographie, Bd. 1, S. 46a. – Frühe Neuzeit: Gechter: Quellen, S. 40 mit Anm. 94 (Zitat). 16 Siehe etwa Dietmar/Trier: Colonia, S. 128 (Eigenkirche), 182 (Kloster). Auch Eugen Ewig ging einmal von einem Kloster, dann wieder von einem Stift aus, u. a. in: Teilreiche, S. 225 Anm. 208 (Stift) – Kirche und Civitas, S. 14 (Kloster). Nach Schäfke: St. Maria, S. 26, errichtete Plektrud einen Frauenkonvent, nach Schäfke: Kölns romanische Kirchen, S. 143, war ebendies nicht der Fall. 17 Ruotgeri Vita Brunonis archiepiscopi Coloniensis, ed. Ott, c. 34 (S. 34). Cf. Regesten der Erzbischöfe von Köln, Bd. 1, ed. Oediger, n. 469 – Hlawitschka: Anfänge; ihm zuletzt noch zustimmend Mühlberg: St. Marien, S. 3, 31. 18 Hlawitschka: Anfänge; Oediger: St. Maria im Kapitol, S. 60–83 – Bertrada/Adelheid: Gechter:

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Brun hier nie, sehr wohl dagegen Plektrud verehrt, was sie und eben nicht den Erzbischof nach Ansicht von Marianne Gechter als Fundatorin ausweist19. Nur ist auch damit die Frage nach der Gründungsform nicht beantwortet. Für Hlawitschka muss eine hofherrliche Pfarrkirche in einem pippinidisch-karolingischen Hofbezirk am Anfang gestanden haben20. Ob sich indes eine Adelige von Plektruds Rang wirklich mit dem Rückzug in die Eigenkirche eines Hofs begnügt haben wird, scheint doch zweifelhaft21 – es sei denn, man will darin eine demütigende Strafmaßnahme des Stiefsohns sehen. Aufgrund von Begriffen wie ancillis Dei, monasterio oder später sanctimoniales lässt sich natürlich kein eindeutiger Status definieren, umso weniger als Bruns Vita 250 und die Königschronik 500 Jahre nach der Gründung geschrieben wurden. Doch scheinen sie zumindest auf eine bereits bestehende und nicht erst durch Brun geschaffene, wie auch immer geartete Gemeinschaft zu deuten; man beachte zudem das fuerant deditę. In diesem Kontext bleibt nun an die nach wie vor gültige Feststellung Wilhelm Levisons zu erinnern, dass bei Vereinigungen von Sanktimonialen bis weit ins 8. Jahrhundert von einer großen Mannigfaltigkeit klösterlicher Lebensformen und Regeln – darunter der Benediktregel –, doch nicht von Stiften auszugehen ist, für die, worauf auch Oediger hinweist, mit der Aachener Regel erst 816 als Stichjahr zu gelten hat22. Demnach scheint Etliches darauf hinzuweisen, dass die „klösterlichen Anfänge in St. Maria im Kapitol zu Köln“ nicht mit Hlawitschka auf Brun, sondern bereits auf eine ihrerseits durch familiäre Tradition geprägte Gründerin Plektrud zurückgehen, mithin ein monastischer Ursprung anzunehmen steht, in die kein Kölner Bischof involviert war, was auch das Fehlen von St. Maria im Kapitol in der Guntharschen Güterumschreibung von 866 erklärt. Von der Möglichkeit solchen Ursprungs gingen im Übrigen bereits Keussen und später Oediger – dieser in einer Stellungnahme zu Hlawitschkas Aufsatz – aus, ohne dass dies meines Wissens von der Forschung aufgenommen wurde23. Brun dürfte also wohl in eine bereits bestehende

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Quellen, S. 33f. (unter Rekurs auf die Vita Adelheidis); vgl. bereits Levison: Geschichte der Kanonissenstifter, S. 504–506; nach ihm Walterfang: Studien, 551. Gechter: Quellen, S. 38f. Hlawitschka: Anfänge, S. 15f. Seinerzeit bin ich selbst im Anschluss an Hlawitschka noch von einer auf einem Hofgut errichteten Eigenkirche ausgegangen: Müller: Köln, fränk.-karolingische Zeit, Sp. 93. Als m. W. bislang Einzige hat Gechter: Quellen, S. 44, solchen Zweifel artikuliert. Levison: Geschichte, S. 490, 497, 499, 501 u. ö.; nach ihm Walterfang: Studien, S. 4; Oediger: St. Maria im Kapitol, S. 66f. (Nachwort zum ND). Keussen: Ursprung der Kölner Kirchen, S. 27; Oediger: St. Maria im Kapitol, S. 66f. (Nachwort zum ND), der allerdings hinzufügt: „Aber bei dem fast völligen Fehlen aller Zeugnisse, bislang auch der archäologischen, werden wir wohl noch weiter im Dunkeln tappen“. Unsere archäologischen Kenntnisse über den ‚Plektrudisbau‘ – übrigens ein Thema von speziellem Interesse für den Sprecher des früheren Berliner SFB ‚Transformationen der Antike‘ (vgl. unten Anm. 77) – basieren wesentlich auf einer

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Kommunität eingegriffen haben, wobei er insbesondere die auf dem Kapitol zur geistlichen Versorgung der Insassinnen tätigen Kanoniker ins Visier nahm. Ob aber jene Frauen zum Zeitpunkt der Intervention noch immer der Benediktregel folgten oder im bzw. seit dem späten 9. Jahrhundert – vielleicht nach einem durch den Normanneneinfall bedingten Unterbruch? – eine Kanonissengemeinschaft bildeten, und somit möglicherweise auf dem Kapitolshügel ein Bruns Missfallen erregendes Doppelstift existierte, bleibe dahingestellt24. Hierfür könnte der Umstand sprechen, dass das wohl kurz vor diesem Zeitpunkt in der Nachbarschaft gegründete Caecilienstift bisweilen als monasterium vetus, Maria im Kapitol dagegen als (wiederbegründetes) monasterium novum bezeichnet wird25. Fazit: Klösterlicher Ursprung wahrscheinlich, klösterliche Kontinuität unsicher. Auch bleibe dahingestellt, ob die von Hlawitschka ins Spiel gebrachten Pfarrrechte von St. Maria im Kapitol in einer einfachen Kirchstiftung Plektruds gründeten. Denn es ist von einer Kirchenfamilie St. Marien sowie St. Peter und Paul auf dem Kapitolshügel auszugehen, wobei letztere sich zu einer von besagten Kanonikern getragenen Annexkirche mit Pfarrfunktion entwickelte. Im 12. Jahrhundert sollte diese Funktion an die nördlich der Abtei gelegene, auf Initiative und Kosten von Pfarrmitgliedern aus der südlichen Rheinvorstadt errichtete Kirche Klein St. Martin übergehen. Zum einen führte dies zum zeitweiligen Verfall der alten Pfarrkirche, zum anderen erwuchs hieraus lang währender, in einem großen Prozess 1299/1300 gipfelnder und sich bis ins 14. Jahrhundert fortziehender Streit zwischen der Gemeinde und einer Äbtissin, die ihrer Kirche einen Teil der parochialen Rechte wie Taufe, Eheschließung und Totenamt vorbehielt und sie von ihren Kanonikern ausüben ließ, mit denen sie auch immer wieder unter Berufung auf ihr Patronatsrecht die Pfarrerstelle an Klein St. Martin zu besetzen suchte. Die personell wie durch Zuwendungen und Gedächtnisse aufs Engste mit St. 1956 von Otto Doppelfeld entsprechend den damaligen Möglichkeiten durchgeführten Ausgrabung: Fundbericht [19]56.36; vgl. Kühnemann/Binsfeld: Grabungen im Kapitolbezirk; s. auch Mühlberg: St. Marien, S. 3f.; Neu: St. Maria im Kapitol, S. 341. Für Kubach/Verbeek: Romanische Baukunst, Bd. 1, S. 558, wurden aufgehende Mauern des römischen Kapitols im vorbrunschen bzw. vorromanischen Bau nicht nur für die Kirche, sondern auch den sich anschließenden Konvent verwendet. – Ob eine Dicke der Fundamentwände des Westchors von nur 95 cm in diesem Bau nicht der damals bei Nonnengemeinschaften für Westemporen üblichen entsprach, wie Mann: Kölns ottonische Kirchen, S. 109–111, behauptete, bleibe dahingestellt; s. dagegen Kitschenberg: Kleeblattanlage, S. 21. 24 Diese Möglichkeit erwog Päffgen: Stifte, S. 58 Anm. 46. Stein: Religious Women, S. I–6, konstatiert in seiner (fehlerreichen) Arbeit, dass St. Maria im Kapitol zur Zeit von Bruns Intervention „definitely“ ein Stift gewesen sei. (Ein Exemplar der Untersuchung befindet sich unter der Signatur CG a/b im HAEK, dort wurde wohl auch die Seitenzählung der unpaginierten Arbeit vorgenommen). 25 Zur monasterium vetus/novum-Problematik zuletzt Gechter: Quellen, S. 36, die dabei jedoch von Hlawitschkas These einer Klostergründung auf dem Kapitol erst durch Brun ausging; s. auch Päffgen: Stifte, S. 58 Anm. 46. – Zu den Anfängen von St. Caecilien kurz Diederich: Stift, S. 37.

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Maria im Kapitol verbundenen, reich begüterten Familien aus der Rheinvorstadt dürften ihrerseits eine der renommiertesten Adressen in Stadt und Erzbistum als ‚Pfarrkirche für die großen Gelegenheiten‘ gern und generös genutzt haben. Eduard Hegel ist zuzustimmen, dass frühe Pfarrfunktionen und klösterliche Anfänge keineswegs einander ausschließen müssen, wobei jene sich hier eben von St. Peter und Paul her erklären und bei besagten Akten in der vornehmen Haupt- und Mutterkirche fortlebten26. Die südlich von St. Marien am Kreuzgang gelegene Nebenkirche der Abtei aber sollte nunmehr, und d. h. einmal mehr seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als eine dem Pfarrer von Klein St. Martin unterstehende St. Notburgiskapelle fungieren. Notburgis wiederum war eine Nichte der Plektrud, die ein monasterium, quod puellarum dicitur in honorem gloriosissimae virginis Marie construxit … et ibidem cum filia sororis suae, sancta Noitburga, laudabilem vitam Domino persolvebat. So die Notbur­ gisvita, deren älteste Handschrift aus dem 13. Jahrhundert datiert; sie beruht nach eigener Aussage auf einem libello reginae nostrae Plectrudis, einer verlorenen Vorlage auch für die erwähnten Historiae Francorum Steinveldenses wie noch für das 1640 vom Kölner Historiographen Aegidius Gelenius publizierte Compendium vitae b. Plectrudis ex manuscripto Capitolij Coloniensis27. 1163/67 ist das Notburgispatrozinium erstmals belegt; damals müssen – vielleicht im Zuge von Arbeiten an der baufälligen Kirche – die Gebeine der Heiligen aufgefunden worden sein, die schließlich 1303 in einen in der Stiftskirche aufgestellten Schrein gelegt wurden, der zudem corpus sacerdotis, militis, clerici et famuli, qui fuerunt de familia et curiales s. Plectrudis barg28. Plektrud und Notburgis wurden zudem beide in einer zwischen 1183 und 1190 entstandenen Allerheiligenlitanei angerufen29. Solche Parallelität ist hier kein Zufall, sie lässt gegen Ende 26 a) St. Peter und Paul/Anfänge von Klein St. Martin: Wulf: Pfarrgemeinden, S. 28f.; Stehkämper: Bürger, S. 65; Groten: Größe Kölns, S. 48; Hemgesberg: Peter- und Paulskirche, S. 22, 37; Oediger: Bistum Köln, S. 295 mit Anm. 135; Ders.: Älteste kirchliche Einteilung, S. 14. Allenfalls als phantasievoll lassen sich die Ausführungen von Heinrich K. Schäfer zu den angeblich spätrömisch-frühmerowingischen Anfängen der Pfarreien St. Peter und Paul wie auch Klein St. Martin bezeichnen: Kirchen und Christentum, S. 97–99, 101. b) Streit: Keussen: Rotulus (Edition der Prozessakten); vgl. Wulf: Pfarrgemeinden, S. 67–72; Kurze: Pfarrerwahlen, S. 342–352; Schäfer: Beiträge zur Kölner Topographie, S. 85–95. c) Hegel: Entstehung des mittelalterlichen Pfarrsystems, S. 73f. 27 Vita S. Notburgis virginis, ed. De Buck, c. 3, S. 843 (1. Zitat); c. 4, S. 843 (2. Zitat). Zum Libellus als Vorlage für die Historien Werner: Lütticher Raum, S. 426f. (vgl. oben Anm. 13), für Gelenius s. unten S. 148f. 28 Hemgesberg: Peter- und Paulskirche, S. 27–30 (Zitat: S. 30); Oediger: Bistum Köln, S. 295 Anm. 135 (Patrozinium 1163/67); Mühlberg: Grab, S. 28. Siehe auch Arntz u. a. (Bearb.): Kunstdenkmäler, S. 348–350. 29 Oediger: St. Maria im Kapitol, S. 64, 83 (Edition); vgl. Gechter: Quellen, S. 38. Gegen Oedigers Datierung der Litanei meldet Oepen erhebliche, auch von weiteren Kollegen wie Toni Diederich geteilte Bedenken paläographischer Art an (mündl. Mittteilung am 4.9.2017); er nimmt, wie schon Schä-

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des 12. Jahrhunderts unternommene Anstrengungen zur Kanonisation Plektruds und ihrer Nichte annehmen.

2 Plektrud: Gründerin, Heilige und Königin Folgen wir dem übereinstimmenden Urteil zweier Sachkenner wie Matthias Werner und Joachim Oepen, so zeichnet sich die älteste Überlieferung zum Leben Plektruds, wie sie in den ‚Steinfelder Frankengeschichten‘ und im – lediglich auf eine ausführliche Nutzung der Fredegarschen Fortsetzung durch den Libellus hindeutenden – Compendium des Gelenius begegnet, durch besondere Glaubwürdigkeit aus, da sie Plektruds Verdienst als Fundatorin und nicht deren Heiligkeit in den Vordergrund rückt, denn im Rahmen einer Heiligenvita hätte sie sich nur allzu leicht zu einer Gründerin jenseits aller Historizität stilisieren lassen30. Ihr Fazit: Gründerin von St. Maria im Kapitol ja, Heilige wohl kaum. Zumal Plektrud in der Tat weder schreins- noch vitenwürdig war, ihre Gebeine also nie erhoben wurden und nie eine Kanonisation erfolgte. (Dagegen zierte ein 1322 belegter Vitalisschrein nach dem Zeugnis des Gelenius den Hochaltar von St. Maria im Kapitol, wo der Märtyrer auch als später Kopatron belegt ist und eine nach ihm benannte Bruderschaft noch im 17. Jahrhundert zugelassen wurde31.) Jene älteste Tradition verstand sich also mehr als Gründungsbericht denn als Vita, und es lässt sich nur spekulieren, warum eine solche nie verfasst wurde: Lastete wirklich karolingisches Verdammungsurteil auf Plektrud, deren Kampf um die Sukzession man als „unangebrachte Zügelführung einer Frau“ empfunden haben mag? Wusste man – bis auf die in später Kölner bzw. Lütticher Überlieferung gründende Darstellung einer stellvertretend und entsagend für ihren ehebrecherischen Gatten Büßende – vielleicht auch einfach zu wenig über sie, was sich in einen geistlichen Rah-

fer: Beiträge, S. 164, eine Entstehung um 1300 an. Dennoch behält die Litanei auch in diesem Fall als ein Zeugnis der Plektrud- und Notburgisverehrung auf dem Kapitol ihren Wert. 30 Werner: Lütticher Raum, S. 430 Anm. 123; Oepen: Totenbücher, S. 15. Sauer: Fundatio, S. 186f., erweckt den irrigen Eindruck, es habe sich aller Kürze zum Trotz um eine ‚komplette‘ Vita gehandelt. 31 Gelenius. De admiranda, S. 326; vgl. Kulenkampff: Marienbruderschaft, S. 3, 5; Dies.: St. Maria im Kapitol, S. 383; Mühlberg: Grab, S. 76, 78; Rathgens: St. Maria im Kapitol, S. 193. – Obwohl der Schrein bei Prozessionen mitgeführt wurde und der Heilige um 1630 in dem auch für die Vitalisbruderschaft wichtigen Amtsbuch des Heinrich Berchem (siehe unten Anm. 40) oftmals und so auch als Zweitpatron belegt ist (HAEK: A II 16, fol. 11r/v, 12r, 15r/v, 16r, 18r, 24r, 28r), soll der Tag des Märtyrers laut Kulenkampff nicht zu den festa solemniora des Stifts gehört haben: St. Maria im Kapitol, S. 388f. Anm. 18. 1798 taucht der Schrein in einem von Franz Ferdinand Wallraf erstellten Verzeichnis des zum Verkauf anstehenden Kirchensilbers auf und wurde denn auch bald darauf eingeschmolzen: Ebd., S. 387; Dies.: Inventarisation der Schätze, S. 190f.

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men hätte fügen lassen32? Ob das Fehlen klösterlicher Kultur am Ort nach Plektruds Tod es nie zur Abfassung eines Lebens kommen ließ, und ob nach dem für 950/60 postulierten Statuswechsel von St. Maria im Kapitol zur Abtei die große Zeit der Heiligenkreationen bereits vorüber war, wie Hlawitschka vermutet, dürfte nach obigen Ausführungen über die anzunehmenden klösterlichen Anfänge wenig wahrscheinlich sein. Überdies lassen sich Kanonisationen und Kultverdichtungen vom 10. bis ins 12. Jahrhundert in einer Fülle nachweisen, die selbst noch Gestalten der Frühe wie etwa den im Köln des 7. Jahrhunderts wirkenden und 1168 translatierten Bischof Kunibert einschließen konnte33. Im späteren 12. Jahrhundert rückt dann zeitgleich mit der fundatrix auch die zwar vitenlose, so doch heilige Plektrud in den Fokus, wie die zitierte Allerheiligenlitanei und die Inschrift S. Plectrudis am oberen Rand der romanischen Grabplatte belegen, die zudem hinter ihrem Haupt einen Muschelnimbus in der Art eines Heiligenscheins zeigt (Regina, ,deplaziert‘ im Innenfeld stehend, wurde anscheinend später zugefügt; die Figur selbst trägt keine königliche Insignie)34. Dieser Zeitpunkt scheint kein bloßer Überlieferungszufall, sondern dürfte seinen konkreten – noch zu erörternden – kölnischen Hintergrund haben. Doch bleibt vorab zu konstatieren, dass der einschlägigen Belege relativ wenige sind, sie sich aber in loser Kontinuität bis weit in die Neuzeit fortsetzen. So vermerkt die älteste Überlieferung des Memorienbuchs des Stifts, wie erwähnt, zum 10. August zwar nur das Fest der Gründerin und Königin Plektrud, doch wird später auch der Heiligen gedacht; zudem ist von einem scyphus sanctae Plectrudis in einem nachträglich angebundenen Kellereibuch des 15. Jahrhunderts die Rede, in dem am Sonntag Exsurge den Kanonissen und Kanonikern Wein gereicht wurde35. (Eine Memoria außerhalb von St. Maria im Kapitol lässt sich nur für das mit dem Konvent eng verbundene Stift Essen nachweisen36.) Durch Schreinsüberlieferung ist für 1305 und 1308 ein Paulusaltar iuxta sepulchrum sanctae Plectrudis ebenso bezeugt wie von 1315 an eine am Kapitol bestehende Hl. Kreuzbruderschaft, 32 Müller: Köln, S. 22f. (mit Quellen und Lit.) – Zitat: Schieffer: Karolinger, S. 36. 33 Hlawitschka: Anfänge, S. 19; nach ihm u. a. Kitschenberg: Kleeblattanlage, S. 16f. – Zu Kuniberts Translation 1168 siehe Schmid: Von den Heiligen Drei Königen, S. 115f.; Sauer: Fundatio, S. 108. 34 Nach Mühlberg: Grab, S. 42, soll sie einstmals über ihrem steinernen Schleier einen metallenen Kronreif getragen haben, zu dessen Fixierung zwei links und rechts über den Schläfen eingeritzte Kerben gedient hätten – eine Spekulation, für die sich kein bestätigender Anhalt findet: Seidler: Grab, S. 113. Dagegen Mühlberg, ebd., überzeugend zum Muschelnimbus als Zeichen der Heiligkeit durch Verweis auf weitere Beispiele. – Zur Datierung der Allerheiligenlitanei vgl. allerdings hier Anm. 29. 35 Oepen: Totenbücher, S. 193f. n. 222; vgl. Ders.: Plektrud in Köln, S. 77. Zum scyphus (HAEK A II 13, fol. 105v, 110v) siehe Schäfer: Alter, S. 99, und Mühlberg: Grab, S. 77. Für neuerliche Prüfung und Präzisierung danke ich Joachim Oepen. 36 Mühlberg: St. Marien, S. 3; Ders.: Grab, S. 78; Kitschenberg: Kleeblattanlage, S. 13; Werner: Lüttich, S. 429f. Anm. 117, 123; Rathgens: Kunstdenkmäler, S. 191; Schäfer: Altar, S. 91.

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für die als Empfänger und Verteiler eines Erbzinses der Rektor des Maria Magdalena-Altars beim Grab der heiligen Plektrud fungierte37, welche für den Verfasser der Koelhoffschen Chronik (1499) in ihrer Gründung schon zu Lebzeiten in alre hillichkeit ein moder aller armer elendiger ind bedroefder minschen gewesen war38. Seit 1445/46 verteilte das Stift am Sankt-Plektrudentag einen Malter Weizen an die Armen; davon und von weiteren Zuwendungen an die Kanonissen und Kanoniker und deren Personal wie auch von Feierlichkeiten am Grab der Seeligen [!] Fundatrix Plectrudis Königin an ihrem Festtag ist ebenso die Rede in einem um 1600 verfassten Führer durch das kirchliche Jahr im Stift39. Ausführlich auf diese Feierlichkeiten wird später auch Heinrich Berchem, Rektor und Vikar des Aegidiusaltars, in seinem zwischen 1630 und 1636 geführten Amtsbuch eingehen. Danach erstreckten sie sich sogar über mehrere Tage und begannen oder schlossen mit der Aufstellung einer großen Kerze am Grab durch die Schuhmacherzunft am Sonntag vor bzw. nach dem Fest. Berchem zählt den 10. August allerdings nicht zu den festa solemniora des Stifts; es ist keine Rede von einer Heiligenverehrung, die – wie etwa bei St. Vitalis – in einer Prozession Ausdruck gefunden hätte, sehr wohl dagegen von der Gründerin und Königin Plektrud40. Für Aegidius Gelenius, den Hofhistoriographen des Kölner Erzstifts und Kanoniker an St. Andreas, ein unhaltbarer Zustand, den er 1640 mit einer eigenen Schrift zu ändern suchte (Par Sanctorum Svvibertus et Plectrudis post Millenarium fere Annum Illustratum meditatione historica Aeg. Gelenii41). Darin sprach er sich für eine Kanonisation der von ihm als sancta und beata bezeichneten Plektrud aus, weil sie dem von ihr geförderten – und kanonisierten – angelsächsischen Missionar Suitbert doch an Rang und Würde gleichkomme (canonizatus et tanto honore adhuc dum carens ... B.

37 a) 1305/08: Keussen: Topographie, Bd. 1, S. 45b; vgl. Dahm: Grablege, S. 211; Bergmann: Gotische Grabplatte, S. 80; Mühlberg: Grab, S. 27. b) Hl. Kreuzbruderschaft/Altar: Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften, ed. Militzer, n. 76 (S. 905–907). Spätestens seit 1305/08 befand sich indes das Grab an anderer Stelle (vgl. hier Anm. 63); offenbar rekurrierte man aber auf die alte, enge Beziehung zur hl. Plektrud. 38 Die cronica van der hilliger stat van Coellen 1499, ed. Cardauns/Schröder, S. 398. 39 1445/46: Gechter: Kirche und Klerus, S. 149 (der Reichtum des Stifts gründete primär auf Getreide: S. 146, vgl. 172). – Um 1600: Kulenkampff: Marienbruderschaft, S. 21 (mit Quelle). 40 HAEK, A II 16, fol. 7r (moderne Paginierung: S. 57): Collegium saeculare nobile ac liberum a serenissima Plectrude Regina Franciae … Regis Pippini coniuge fundatum (Eine spätere Hand fügte ergänzend bei Plektrud ducissa am Rand hinzu, ohne aber Regina zu streichen. Vgl. auch Schäfer: Beiträge, S. 163f.; Kulenkampff: Marienbruderschaft, S. 21f.; Mühlberg: Grab, S. 77. – Zu St. Vitalis vgl. Anm. 31. 41 Köln 1640 – Die Schrift gliedert sich in a) Vita et Annales S. [!] Plectrudis Pipini Crassi Heristalli maioris domus Franciae repudiatae coniugis, fundatricis praenobilis Capitolij B. V. Mariae Coloniensis, deinde viduae sanctissimae [!], et a morte opinione beatitatis clarae (24 S.) – b) Clypeus Svvibertinus, iacula, quae in scriptorem vitae S. Svviberti contorquentur, avertens (14 S.).

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Plectrudis princeps42). Neben dem erwähnten Compendium vitae b. Plectrudis, das auf die verlorene Urform der Gründungsnotiz zurückgeht, führt Gelenius mehrere Carmina von Köln aufsuchenden Adeligen der Zeit als Zeugnisse einer Plektrudverehrung an, so ein Epitaphium sanctae Plectrudis und eine Ode Sepulchrum eius gloriosum erit, deren Verse Si Carolus magnis dicatur MAGNUS ab actis / Plectrudis dici MAXIMA iure potest die literarische Qualität charakterisieren mögen43. Anlass für drei dieser Gedichte war der in einem der Kirche benachbarten Kelterhaus befindliche Sankt-Plektrudenbrunnen, von dessen Wasser Pilger und Kranke zum Zeichen ihrer Devotion und in Hoffnung auf Heilung ihrer Gebrechen tränken, wie sie natürlich auch das Grab der heiligen Gründerin aufsuchen würden (in Ecclesiae navi Mausoleum in quo sacra eius ossa spectantur et a devoto populo honorantur), in deren Umgebung zu Lebzeiten Wunder geschehen seien, ohne dass sie aber je selbst solche gewirkt hätte44. Gelenius widmete diese Schrift dem Kölner Nuntius Fabio Chigi – dem späteren Papst Alexander VII. –, stellte aber darin keinen klaren und eindeutigen Antrag auf Kanonisation; das etwas gekünstelt-disparat wirkende Sammelsurium – vielleicht weniger aus eigenem Antrieb denn im Auftrag des Konvents verfasst? – zeitigte denn auch keine Folgen. Im Gegenteil, als man sich gut 90 Jahre später (seitens des Stifts?) offenbar u. a. mit Gelenius’ Dossier um eine Aufnahme Plektruds in die Acta Sanctorum bemühte, lautete die – 1735 im zweiten Augustband veröffentlichte – Antwort der Bollandisten, nur auf Grundlage dieses Materials und paucis popularibus Beatae, Sanctae et Divae titulis könne man dem Anliegen nicht stattgeben, zumal für einen Heiligenkult konstitutive Elemente wie Elevation, Reliquienausstellung, Martyrologeinträge und ähnliches mehr fehlten. Würden nicht entsprechende Belege nachgereicht, so der Redaktor, non video licitum esse inter Sanctos in hoc opere collocare. (Bei Notburgis, hinter deren Historizität sich ein veritables Fragezeichen sehen lässt, sollte man weit weniger streng verfahren, wurde sie, von der indes eine – obendrein ihre Jungfrauenschaft bezeugende – Vita vorlag, doch 1883 in die Acta Sanctorum aufgenommen)45. 42 So Gelenius in seiner Widmung der Schrift an den Kölner Nuntius Fabio Chigi. 43 Gelenius. Par Sanctorum, S. 21f. (Compendium), 22f. (Carmina), Zitat: 23. Ebenfalls bei Gelenius. De admiranda, S. 325, 328f. Vgl. Oepen: Totenbücher, S. 24; Kulenkampff: Marienbruderschaft, S. 20 mit Anm. 57, 22. Ansonsten bliebe noch auf ein Plektrud preisendes Gedicht in Hexametern wohl aus dem 16. Jahrhundert in HAEK II 559, fol. 1r–2r, hinzuweisen. Historische Notizen in dem kleinen Konvolut (fol. 4r–v) wiederholen Altbekanntes wie die aus dem Hochmittelalter stammende „Chalpaida-Pippin-Lantbert-Karl Martell“-Geschichte (dazu Müller: Köln, S. 22f.). 44 Gelenius. Par Sanctorum, S. 18–20; Zitat: 18. – Gelenius. De admiranda, S. 330: fons ille extra Basilicam in privatae domus vinaria cella nomen S. Plectrudis adhuc retinet, et sanitatis recuperandae augendaeque devotionis causa ab Aegris et Peregrinis bibitur. 45 Acta Sanctorum, Aug. t. II, S. 607, dazu kurz Gugumus: Plettrude, Sp. 969; Stadler/Ginal (Hg.): Vollständiges Heiligen-Lexikon, Bd. 4, S. 947. – Zur Vita der Notburgis siehe hier Anm. 27.

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Man reichte nichts nach, hielt aber am Ort wohl bis zum Ende des Stifts still und beharrlich an der sancta und beata fest, wie etwa die der 1758/66 im barocken Stil neu errichteten Plektrudgrabstätte beigegebene Inschrift auf einer hölzernen, noch auf Erzbischof Clemens August zurückgehenden Kartusche zeigt, die am heutigen Grab wieder angebracht wurde46. Trotz alldem besteht wohl kein Zweifel, dass man – bis auf das spätere 12. Jahrhundert – den Nachweis einer Heiligkeit der Gründerin auf dem Kapitol offenbar als cura posterior betrachtete. Von Seiten eines im 12./13. Jahrhundert zur Lebensform eines adeligen Damenstifts übergehenden Konvents, der immerhin zu den vornehmsten und begütertsten Instituten der Kölner Kirche überhaupt zählte und Kölner Geschlechter wie die Jude, Kleingedank, Scherfgin, Hardevust, Overstolz oder Lyskirchen als ,Mannen von Lehen‘ und Gönner über Generationen hinter sich wusste – die gotische Reliefplatte dürfte Konstantin von Lyskirchen zu verdanken sein – scheinen in dieser Hinsicht in der Folgezeit keine entschiedenen und entscheidenden Impulse mehr ausgegangen zu sein47, wofür auch der Umstand spricht, dass für keinen der mittelalterlichen Altäre in St. Maria im Kapitol Reliquien von Plektrud bezeugt sind, die auch nicht unter den immerhin 24 Patronen der Hardenrath-Kapelle des 15. Jahrhunderts begegnet48. Verebbte jener in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts einset46 a) Bis heute begegnet Plektrudis durchaus in einigen Heiligenlexika wie der ‚Biblioteca Sanctorum‘ (vgl. hier Anm. 45) und vor allem in denjenigen, für die der frühere Kölner Erzbistumsarchivar Jakob Torsy (mit)verantwortlich zeichnet: Lexikon der deutschen Heiligen, Sp. 448 („Klug und weise, fromm und wohltätig, aber geprüft durch schweres Leid“); Ders./Kracht: Namenstagskalender, S. 280. Natürlich sind hier auch die hl. Notburgis (Sp. 417 bzw. S. 382) und die selige Äbtissin Ida (Sp. 248 bzw. S. 413) vermerkt; zu letzterer siehe unten Anm. 67. b) Text der Inschrift bei Rathgens: Kunstdenkmäler, S. 246. 47 a) Umwandlung des Klosters in ein Stift: Oepen: Totenbücher, S. 15; Kulenkampff: Marienbruderschaft, S. 2 (mit späterem Ansatz); Päffgen: Stifte, S. 47; Oediger: Bistum, S. 418. b) Zum Rang des Stifts heißt es in dessen Statuten (14. Jahrhundert): Item ecclesia … est senior et dignior omnium ecclesiarum domino[a]rum seu canonico[a]rum et ideo vocata est Capitolium (§ 19); Item domina abbatissa … est primitiva et dignior abbatissa omnium abbatissarum totius dioc. Coloniensis et debet habere et habet locum superiorem in capitulo Maioris ecclesiae pre aliis abbatissis (§ 28): Schäfer: Pfarrarchiv, S. 100. Vgl. Oepen: Totenbücher, S. 16; Beuckers: Rex iubet, S. 130; Schieffer: Regesta, S. 167; Diederich: Stift, S. 36f.; Oediger: Bistum, S. 345; Mühlberg: Grab, S. 83 Anm. 232; Rathgens: Kunstdenkmäler, S. 191f. c) Geschlechter: Stehkämper: Bürger, S. 65f.; Groten: Köln im 13. Jahrhundert, S. 194f.; Diederich: Stift, S. 36. Dementsprechend bildete die Marienbruderschaft vom silbernen Bild und zur großen Glocke (ca. 1345–1563) mit ihrem hohen Anteil von Mitgliedern aus den Geschlechtern eine der exklusivsten Konfraternitäten Kölns: Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften, ed. Militzer, Bd. 2, n. 77 (S. 908–957), vgl. Bd. 1, S. LXII, LXIX. d) (Konstantin von) Lyskirchen/Grabplatte: Oepen: Totengedenken, S. 228; Dahm: Grablege, S. 216; Bergmann: Gotische Grabplatte, S. 84; Mühlberg, S. 36; Rathgens: Kunstdenkmäler, S. 240, 242; skeptisch gegenüber dieser Zuordnung Seidler: Grabmal, S. 192. 48 Kulenkampff: Marienbruderschaft, S. 4–6; Mühlberg: Grab, S. 78.

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zende Elan in Sachen Kanonisation schon in der ersten Hälfte des folgenden, weil das Stift – so Hugo Stehkämper – aus bislang ungeklärten Gründen in eine Krise geriet, die sich u. a. in merklich rückläufigen Zuwendungen jener führenden Familien spiegelt49? Eine mögliche Erklärung wäre aber auch, dass man aufs Ganze schlicht zufrieden war mit dem Patrozinium einer Himmelskönigin und einer Königin als Gründerin, die als Regina – ob nun in der zitierten Urkunde von 1283, dem Memorialbuch, den Stiftsstatuten oder noch im Handbuch Berchems und in einem Protokoll aus dem Jahr 1666 – immer wieder und weitaus häufiger denn als Heilige tituliert wurde und als solche auch auf besagter gotischer Grabplatte ihre Darstellung fand. Entsprechend galt für den römisch-deutschen König und Kaiser denn auch laut Stiftsstatuten: in primi­ tivo adventu suo Colonie debet visitare ecclesiam b. Virginis in Capitolio et ei offerre zyndonum ad signandam ecclesiam predictam ab imperatoribus, regibus et principibus fundatam50. (Mit einer Krone auf dem Haupt trat übrigens die Äbtissin selbst bis 1794 bei festlichen Anlässen wie dem mit einer Prozession zum Kapitol begangenen Bürgermeisterwechsel in Erscheinung51.) Höheren Gründerrang konnte in Köln jedenfalls nur St. Gereon mit Kaiserin Helena für sich in Anspruch nehmen52. Eine nach wie vor ausstehende und wohl auch nicht erwartbare Stiftsgeschichte53 würde sicherlich neue 49 Stehkämper: Bürger, S. 66, vgl. 222. In den zwanziger und dreißiger Jahren sah sich die Äbtissin auch zu erheblichen Konzessionen an die Parochianen von Klein St. Martin genötigt: Stehkämper: ebd.; Wulf: Pfarrgemeinden, S. 67; Groten: Köln, S. 88; Schäfer: Pfarrarchiv, n. 11, 14 (zu 1223 und 1230). Im Fall Stehkämpers bleibt allerdings kritisch nach Umfang bzw. Vollständigkeit des berücksichtigten Quellenmaterials zu fragen (Freundlicher Hinweis von Joachim Oepen). 50 Belege für Plectrudis regina aus dem 16. Jahrhundert bei Heinrich Berchem: Oepen: Totengedenken, S. 123, 245; zu Berchems Memorienkalender ebd., S. 80; zum Protokoll von 1666 siehe unten Anm. 65 (Rathgens) – Statuten: Schäfer: Pfarrarchiv, S. 101 (§ 33) (Zitat). Vgl. Oepen: Totenbücher, S. 16; nach Mühlberg: St. Marien, S. 28, soll allein dem Herrscher der Zugang zur Westempore vorbehalten gewesen sein. 51 Weyer: Bildliche Darstellung, S. 13. 52 Bergmann: Gotische Grabplatte, S. 79. Jene von Gelenius überlieferte Stifterinschrift in St. Maria im Kapitol (De admiranda, S. 324; vgl. oben Anm. 12) scheint sich in ihren ersten Versen auf eine ebensolche, Helena rühmende, in St. Gereon zu beziehen: Düntzer: Capitol, S. 93; Rathgens: St. Maria im Kapitol, S. 34f. Anm. 9. Als Vorfahrin Kaiser Maximilians I. begegnet Plektrud 1518 in einem Holzschnitt des Augsburger Künstlers Leonhard Beck: Mühlberg: Grab, S. 93. 53 Nach Rathgens: St. Maria im Kapitol, S. IV, bereitete Heinrich K. Schäfer zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Geschichte von Kloster und Stift vor, die aber – wegen der an seinen Aufsätzen zur Thematik u. a. von Hermann Keussen und Otto Oppermann geäußerten scharfen Kritik? – nie erschien. Es hat im Übrigen seinen Grund, wenn bislang kein einziges Kölner Institut im Rahmen der ‚Germania Sacra‘ bearbeitet wurde. Welche Materialfülle erfasst sein will, zeigt exemplarisch die auf über 900 Seiten ‚nur‘ über die Wirtschaftsgeschichte von St. Aposteln handelnde Dissertation von Rosen: Ökonomie; vgl. dazu Müller, Heribert, in: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 437f. Der Kernbestand der Überlieferung zu St. Maria im Kapitol befindet sich im Kölner Diözesanarchiv, ist also nicht von den Folgen

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Aufschlüsse liefern, doch scheint fraglich, ob sich über manch zusätzliche Belege für Plektrud als Gründerin, Heilige und Königin hinaus Grundsätzliches am hier skizzierten Bild ändern würde.

3 Plektrud: heilig im heiligen Köln des 12. Jahrhunderts An einer wichtigen Stelle – eben jenem wiederholt ‚auffälligen‘ späteren 12. Jahrhundert – lässt es sich indes genauer konturieren. Köln erlebte in jenem Saeculum eine bis dahin ungekannte Akkumulation von Sakralkapital an darob zwangsläufig miteinander konkurrierenden Orten54. Da war zunächst zwischen Ursula- und Kunibertstift der ager Ursulanus, wo die Auffindung und Ausbeutung von Jungfrauenreliquien geradezu industrielle Ausmaße annahm und dies unter wesentlicher Beteiligung eines Klosters Deutz, das seinerseits seit Mitte des 12. Jahrhunderts den Kult seines Gründers Heribert mit Erfolg auf- und ausbaute. Hinzu kam die Entdeckung von Grab und Leichnam Gereons 1121 durch einen ohnehin reliquienhalber Köln aufsuchenden Norbert von Xanten, was in der Folge die Zahl neu aufgefundener Märtyrer der Thebäischen Legion bis auf 6666 anwachsen ließ. Der Kölner Heiligenhimmel wurde immer größer und erhielt schließlich mit der Überführung der Gebeine der Hl. Drei Könige durch Erzbischof Rainald von Dassel 1164 zudem neue und höchste Qualität (worüber die von ihm ebenfalls mitgebrachten sterblichen Überreste der makkabäischen Brüder und von deren Mutter Salomone nicht vergessen seien). Wurden die Nonnen – oder schon Kanonissen? – damals Augenzeuginnen des denkwürdigen Einzugs in Köln, da er später, vielleicht gar erst im 19. Jahrhundert aufkommender Überlieferung zufolge seinen Weg durch jene zur Stiftsimmunität führende Pforte südöstlich des Chors der Kirche genommen haben soll, die im 14. Jahrhundert einen wegen ihres Figurenschmucks ‚Dreikönigenpförtchen‘ genannten Nachfolger fand55? des Einsturzes des Stadtarchivs 2009 betroffen; siehe Diederich/Helbach (Hg.): Archiv des Erzbistums Köln, S. 288–291. 54 Über das Folgende zuletzt Schmid: Von den Heiligen Drei Königen, S. 97–128; Müller: Erinnerungsort des Christentums, S. 59–61; Burkhardt: Stab, S. 482–485; Sauer: Fundatio, S. 187f. 55 Bock, Ulrich/Wagner, Rita, in: Beer u. a. (Hg.): Die Heiligen Drei Könige, n. 58 (S. 159–161), n. 65 (S. 178); Baumgarten: Dreikönigenpförtchen; Rathgens: Kunstdenkmäler, S. 223–227; Keussen: Topographie, Bd. 1, S. 52. Wenn der Zug tatsächlich nicht vom Rhein aus oder über den alten cardo maximus seinen Weg zum Dom nahm, wollte man damit vielleicht die Könige zur ersten Verehrung der Gottesmutter auf das Kapitol führen? Oder folgte man einem Zeremoniell für den Herrscheradventus in Köln (vgl. oben bei Anm. 50)? Beides erwog Beuckers: Rex iubet, S. 130f., 134. Es sei aber einschränkend angemerkt, dass im 19. Jahrhundert kolportiert wurde, bei der Geschichte handle es sich um eine Erfindung aus dem Umkreis von Joseph de Noël, dem Gründungsdirektor des Wallrafianum, der, als das Tor in den dreißiger Jahren abgerissen zu werden drohte, damit beim preußischen

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Klar aber war in jedem Fall: „Die Hl. Drei Könige lösten im Kölner Erzbistum einen regelrechten Wettbewerb um sakrales Kapital aus. Die kostbaren Reliquien hatten die Gewichte sakraler Macht gründlich verschoben, und viele geistliche Institutionen mussten ihre Heilswirksamkeit erneut unter Beweis stellen“56. Was lag näher, als ihren Gründern durch Erhebungen, Translationen und Schreine, durch Viten, Mirakel und echte wie gefälschte Kanonisationsbullen neuen Glanz der Heiligkeit zu verleihen? St. Kunibert machte 1168 den Anfang, gleichzeitig erreichten die Bemühungen um den Klosterheiligen in Deutz um 1165/70 ihren Höhepunkt und Abschluss mit der Vollendung des Heribertschreins, 1183 wurde Erzbischof Anno II. heiliggesprochen und ein Schrein für seine Siegburger Gründung und Grabstätte angefertigt. Seit dem späten 12. und noch im 13. Jahrhundert verstärkte auch St. Pantaleon seine Bemühungen, den erzbischöflichen Gründer Brun als heilig darzustellen57. Ein guter Platz in der Kölner Sakraltopographie wollte errungen, behauptet und gesichert sein, zumal sich so von Pilgerscharen bis hin zu Stiftungen mannigfach materieller Nutzen generieren und mehren ließ58. Auf dem Kapitolshügel reagierte man gleich doppelt auf die Herausforderung: mit den heiligen Plektrud und Notburgis (wobei man obendrein die Gründerin zu den Vorfahren des soeben, 1165, in Aachen wiederum von Rainald von Dassel heiliggesprochenen Karl den Großen zählen mochte). Obendrein gab man sich mit dem erstmals 1189 belegten Zusatz in Capitolio ein unter den Marienkirchen unverwechselbares Profil59. Nur wenig mehr als ein Jahrhundert nach dem Neubau der Kirche mit seiner Dreikonchenanlage kam es damals auch zu bemerkenswerten

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Kronprinzen – dem späteren König Friedrich Wilhelm IV. – erfolgreich für den Erhalt bzw. die dann 1842 ausgeführte Restaurierung des Monuments plädiert habe: Bock, S. 160; Baumgarten, S. 127. Sehr stark auf den legendarischen Charakter hebt auch ab Finger: Translation, S. 46f. Burkhardt: Stab, S. 482. a) Kunibert: s. oben Anm. 33. b) Heribert: Sinderhauf: Abtei Deutz, S. 127–168; Müller: Heribert, Kanzler Ottos III., S. 319–321; über den Schrein zuletzt mit teilweise neuen Thesen Seidler: Schrein des Heiligen Heribert. c) Anno II.: Schmid: Von den Heiligen Drei Königen, S. 117f.; Sauer: Fundatio, S. 187f.; Wisplinghoff: Benediktinerabtei Siegburg, S. 11, 107; Legner (Hg.): Monumenta Annonis, S. 23, 65, 192. d) Brun: Gädeke: Zeugnisse bildlicher Darstellung, S. 165–169, 175f., 182. Auch wenn Brun in eine heiligmäßige Aura gerückt wurde, unterblieb – wie im Falle Plektruds – die (allerdings 1870 durch Approbation ‚nachgeholte‘) förmliche Erhebung: Sauer; Fundatio, S. 189. Schwarz: Heiligsprechungen im 12. Jahrhundert. a) Zum Bezug von Kölner Akt (1164) und Aachener Kanonisation (1165) Finger: Translation, S. 55–57. Im Fall solcher ‚Ansippung‘ Plektruds an Karl den Großen war offensichtlich ihr Part in der Sukzessionskrise entweder vergessen oder wurde verdrängt. b) ecclesia(e) beatae Mariae que est in Capitolio: Lacomblet (Hg.): Urkundenbuch, Bd. 4, n. 63 (S. 687); vgl. Gechter, Quellen, S. 31; Schieffer: Regesta, S. 166; Rathgens: Kunstdenkmäler, S. 189. Zum wohl noch auf das Ende des 12. Jahrhunderts zurückgehenden entsprechenden Siegel Schäfer: Beiträge, S. 96; vgl. Mühlberg: St. Marien, S. 31. Als erster Autor verwendete Caesarius von Heisterbach um 1220/25 den Begriff: Rathgens: St. Maria im Kapitol, S. 2; Keussen: Topographie, Bd. 1, S. 45b.

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neuerlichen Bauaktivitäten: Sie standen zwar nicht allesamt in diesem Kontext der Konkurrenz; so machten nachgebende Fundamente am Osthang der Kirche umfassende Sicherungsmaßnahmen unabdingbar. Auch könnte der große Stadtbrand von 1150 für das Kapitol Folgen gezeitigt haben. Doch Weiteres kam hinzu: St. Peter und Paul wurde als Kapelle der hl. Notburgis renoviert, um 1175 erfuhr die dreiteilige Westturmgruppe samt Glockenturm neue Gestaltung, und ebenfalls noch im 12. Jahrhundert erfolgten die Erneuerung des Oberbaus der Querschiffapsiden wie wohl auch des Unterbaus des Vierungsturms. Es wurden ein neuer Kreuzgang und nicht zuletzt die beiden (1832 abgebrochenen) Vorhallen der Eingänge zur Kirche in der Nord- und Südkonche angelegt – im so geschützten Scheitelportal der Nordkonche waren übrigens die berühmten romanischen Türflügel des 11. Jahrhunderts angebracht, die das sich zur Stadt hin öffnende Haupttor bildeten60. Die in die Kirche Eintretenden befanden sich mithin sogleich im Umgang des Triconchos: Waren sie damit auch direkt auf einem Prozessionsweg, in dessen Zentrum, d. h. etwas entfernt in der Vierung, Plektruds Grab lag? Dies vermutete schon Hugo Rathgens, der vor über einem Jahrhundert St. Maria im Kapitol für die „Kunstdenkmäler der Rheinprovinz“ inventarisierte. Seine These einer Prozessionskirche61 zu Plektruds Ehren gewänne noch erheblich an Plausibilität, wenn sich das Grab im Umgang selbst und zwar im Scheitel der die Apsis bildenden Ostkonche situieren ließe und dies schon seit dem Bau des salischen Triconchos oder aber seit der – in unserem Kontext besonders relevanten – zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als die Tumba mit der romanischen Platte bedeckt wurde: Die zu sanktifizierende Gründerin wäre ins zentrale Blickfeld sowohl der im Ostteil der Kirche tätigen Kanoniker als auch der Nonnen bzw. Kanonissen im Westen gerückt, und der Weg aller in das Heiligtum Eintretenden hätte direkt zu ihr geführt. Von besonderem Interesse sind in diesem Kontext Ausführungen von Friedrich Dahm, wonach die mit der Platte geschmückte Tumba auch gar nicht frei in der Vierung gestanden haben kann, weil sie ein Nischen- oder Arkosolgrab war. Denn lediglich ein einziger der vier die Rahmenaußenseiten bildenden Wülste ist palmettenreliefiert, nämlich derjenige auf der dem Betrachter zugewandten Schauseite des eben in einer Nische untergebrachten Grabs. Nur bot die gerundete Ostkonche keinen entsprechenden Platz, wie er dagegen sehr wohl mit 60 Stehkämper/Dietmar: Köln im Hochmittelalter, S. 412; Kaiser: Kirchen in Köln, S. 109; Beuckers: Rex iubet, S. 133f.; Krings: St. Maria im Kapitol, S. 357, 359; Mühlberg: Grab, S. 42; Rathgens: Kunstdenkmäler, S. 194. Zur romanischen Tür siehe neben Beuckers auch Stracke: St. Maria im Kapitol. Für einen Haupteingang in der Südkonche plädierte dagegen Mühlberg: St. Marien, S. 31. 61 Rathgens: St. Maria im Kapitol, S. 94, 192–194 Ähnlich auch Nyssen: Heiliges Köln, S. 90f. Als unbelegbare These abgelehnt von Kitschenberg: Kleeblattanlage, S. 168f., 194; Mühlberg: Grab, S. 77.

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einer Apsisnische in der Krypta zur Verfügung stand, wo das Grab 1870 eine neue, weitere Heimstatt finden sollte: Eine Materialuntersuchung 2002 ergab denn auch, dass der Palmettenschmuck an der Außenseite erst bei dieser Gelegenheit gefertigt wurde und mithin alle Spekulationen über eine im Ortssinn zentrale und zentrierte Heiligenverehrung Plektruds im 12. Jahrhundert hinfällig sind62.

4 Plektrud: eine translozierte und verschwundene Königin (14.–21. Jahrhundert) Das Grab wird sich also, der erwähnten Urkunde von 1283 entsprechend, damals noch in der Vierung der Kirche befunden haben, wurde jedoch spätestens 1305/08, wie die zitierte Schreinsüberlieferung belegt, wegen des von Daniel Jude gestifteten Altars oder auch wegen neuen Chorgestühls und (gotischen) Lettners in das Mittelschiff vor den seit 1304 mit dem Gabelkreuz ausgestatteten Kreuzaltar auf Höhe der ersten Langhauspfeiler transloziert, wo es 1482 nach dem Zeugnis des Kölner Erzbischofs und noch 1645 nach dem des Aegidius Gelenius seinen Platz hatte: Mausoleum in media navi Ecclesiae … exhibet reliquias corporis divae Plectrudis63. Es liegt auf der Hand, dass die kurz vor oder um 1300 wohl in der Kölner Dombauhütte gefertigte und dem Stil der Epoche entsprechende gotische Platte eben für diesen neuen Grabort bestimmt war, um Plektrud fortan als kirchstiftende Gründerin und gekrönte Königin und weniger als Heilige ins Bild zu rücken64. Stifterinne und Königinne wird sie auch in jenem Protokoll genannt, das für 1666 die neuerliche Verlegung des Grabs hinter den Kreuz-

62 Dahm: Grablege, S. 211–222. Zur Materialuntersuchung Maul: Restaurierungsbericht, S. 196f. (vgl. unten Anm. 69). – Klaus Gereon Beuckers, einer der besten kunsthistorischen Kenner der Kirche, stimmte zunächst Dahms These zu: Rex iubet, S. 138f., um sich später generell gegen eine Prozessionsund Wallfahrtsfunktion des Konchenumgangs auszusprechen: Neubau von St. Maria im Kapitol, S. 54f. 63 Belege zu 1283, 1305/08 und 1482 siehe Anm. 14, 37, 15. Zu 1645 Gelenius. De admiranda, S. 328 (Zitat); vgl. Bergmann: Gotische Grabplatte, S. 80; Mühlberg: Grab, S. 88. Vieles deutet darauf hin, dass damals jener – von Otto Doppelfeld aufgefundene – merowingerzeitliche Kalksteinsarkophag (vgl. Anm. 2, 23), Plektruds sehr wahrscheinliche Ruhestätte, an diesem Ort eingelassen wurde und – unabhängig von allen weiteren Translozierungen des Grabs wie auch ohne sterbliche Überreste – bis zu seiner Wiederentdeckung 1956 ebenda verblieb: Krings: St. Maria im Kapitol, S. 366; Mühlberg: Sarkophag, S. 72. 64 Hierzu grundlegend Bergmann: Gotische Grabplatte; vgl. Mühlberg: Grab, S. 31. Eine für möglich gehaltene Identifizierung der Figur mit Äbtissin Ida halte ich für wenig überzeugend; so auch nur Seidler: Grabmal, S. 192, 194; Hagendorf-Nussbaum: St. Maria im Kapitol, S. 23; vgl. auch Krings: St. Maria im Kapitol, S. 366. Ebenso irrig erscheint mir die vor allem von Mühlberg vertretene These, beide Platten seien auf dem Grab übereinander gelegt worden: Grab, S. 87–92; vgl. Schäfke: Romanische Kirchen, S. 156. S. dazu auch treffend Bergmann, Gotische Grabplatte, S. 80.

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altar und unter den (Renaissance)Lettner vermerkt65. Vielleicht sollte damit zudem ihre Position als Heilige, die sie ja trotzdem immer und auch noch war, weiter zurückgenommen werden: der Rückzug aus der exponierten Lage im Mittelschiff als unausgesprochene Degradierung im Gefolge der Übernahme von die Verehrung gerade nicht kanonisierter Personen als Heiliger restriktiv handhabenden Beschlüssen des Tridentinum durch eine Kölner Diözesansynode des Jahres 166266? Ein Jahrhundert später ging es dann Schlag auf Schlag: 1758 wurden von Erzbischof Clemens August Mittel für Tumben im barocken Stil der Zeit gestiftet, woran erhaltene Inschriften auf Holzkartuschen erinnern. Diese Tumben fanden nur acht Jahre später im Zuge umfangreicher Baumaßnahmen und Neuanordnungen vor dem nordbzw. südöstlichen Vierungspfeiler Aufstellung: Es handelt sich wohlgemerkt um zwei Grabmale, nämlich für Plektrud wie nunmehr auch für die ezzonische Äbtissin Ida, Erbauerin der salischen Kirche, deren Grabstätte sich bis dahin an der Nordwand der Kirche befunden hatte. Derweil wurde die romanische Platte – nach einem Jahrhundert neuerlicher Verwendung bis 1758 auf Plektruds Grab? – an der Außenwand der Ostkonche unterhalb des Scheitelfensters angebracht67. Mit der säkularisationsbedingten Umwandlung des Stifts in eine Pfarrkirche stand schon der nächste Umzug an: Die beiden barocken Denkmale erhielten 1818 ihren Platz am westlichen Ende des Mittelschiffs; nach deren Abbruch 1868 traten Plektrud und Ida den Weg in die Krypta an. In deren südlicher Apsis befand sich fortan das Grab der Gründerin in einem wohl zeitgenössischen Sarkophag, der wieder von der romanischen Grabplatte bedeckt war68. Indes auch in der Stille der Geburtsgrotte des kölnischen Bethlehem sollte ihre 65 Rathgens: St. Maria im Kapitol, S. 190f. (mit Zitat aus Protokoll); Ders.: Kunstdenkmäler, S. 246; vgl. Oepen: Totengedenken, S. 232; Seidler: Grabmal, S. 192; Bergmann: Gotische Grabplatte, S. 80; Kulenkampff: St. Maria im Kapitol, S. 383; Mühlberg: Grab, S. 23f. 66 Decreta et statuta dioecesanae synodi Coloniensis, z. B. p. I, tit. III, caput II, § 5 (S. 16) – p. I, tit. VIII, caput I, § 2 (S. 41). Vgl. Molitor: Erzbistum Köln, S. 258, 442. S. auch (ohne Belege) Kulenkampff: Marienbruderschaft, S. 21f.; Mühlberg: Grab, S. 92f., 95. 67 Dahm: Grablege, S. 213, 219; Krings: St. Maria im Kapitol, S. 370; Mühlberg: Grab, S. 25, 27, 96f.; Rathgens: St. Maria im Kapitol, S. 192; Ders.: Kunstdenkmäler, S. 245. Zur Anbringung der romanischen Platte an der Außenwand der Ostkonche Dahm, S. 213f.; Beuckers: Rex iubet, S. 139; Bergmann: Grabplatte der Plektrudis, S. 334. Dass sie das Grab zwischen den Translozierungen von 1666 bis 1766 bedeckte, vermuteten Bergmann: Gotische Grabplatte, S. 81; Mühlberg: Grab, S. 39; dies kann aber nur bis 1758 der Fall gewesen sein, da die – fotografisch belegte – bauchige Form der Tumba (siehe etwa Mühlberg: Grab, S. 95 Abb. 43; vgl. Weyer: Darstellung, S. 39 T. 9) keine Anbringung der Platte mehr erlaubte. Das Grab Plektruds und das der als Selige verehrten Ida sind seitdem an allen neuen Standorten stets parallel angeordnet geblieben; dieses befindet sich heute im südlichen Seitenschiff auf der Höhe jenes, das im nördlichen seinen Platz fand (vgl. Anm. 69). 68 Dahm: Grablege, S. 213; Bergmann: Grabplatte der Plektrudis, S. 334; Mühlberg: Grab, S. 27, 39; Rathgens: St. Maria im Kapitol, S. 192; Ders.: Kunstdenkmäler, S. 246. Zu 1818 auch Schäfer: Pfarrarchiv, S. 98 (n. 521); Kracht/Torsy (Hg.): Reliquiarium Coloniense, S. 434 (n. 626).

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Heimat nicht von Dauer sein. Nach der Zerstörung der Kirche im zweiten Weltkrieg trennte man die Bildplatte von der palmettengeschmückten Tumba, um sie, wie auch die gotische Reliefplatte, in die Seitenwände der Oberkirche einzulassen. Erst 2002 kam es nach umfänglicher Sicherung, Konservierung und Dokumentation zu deren Wiedervereinigung, und in dieser Form erhielt das Grabmal samt ‚clementinischer‘ Inschrift seinen heutigen Platz in der Nische unterhalb eines Fensters im nördlichen Seitenschiff auf der Höhe zwischen zweitem und drittem Langhauspfeiler, während das – 2002 ebenfalls restaurierte – gotische Bildnis der Stifter-Königin sich in die Rückwand der Vorhalle des Langhauses eingelassen findet69. Nunmehr nahe der Böllschen Glasaugenmadonna, bedarf das Grab der Gründerin indes nicht ihres schieläugigen Schutzes, denn die sterblichen Überreste Plektruds in Gestalt eines offensichtlich gut erhaltenen Skeletts, das bis dahin alle Translozierungen überstanden hatte, wurden im März 1945 aus dem Nordwestturm der Kirche gestohlen, wohin man sie in den letzten Kriegsmonaten verbracht hatte …70.

5 Plektrud: Facetten einer Existenz im Spiegel der Zeiten Was bleibt, ist ein Kenotaph, ist das Schweigen der Steine. Einigen Mediävisten und Angehörigen der kleinen Innenstadtpfarrei auf dem Kapitolshügel mag ihr Name noch geläufig sein – zu ihrer Zeit hatte es dagegen noch geheißen: matrona … suo consilio atque regimine cuncta sese agebat71– , doch aufs Ganze dürfte er so unbekannt sein wie den Kölnern jene kleine nach ihr benannte Gasse im Schatten der Kirche, von Plektrudisstraßen an einigen rheinischen Orten, wo das Stift einst begütert war, ganz zu schweigen. Ihre Aufnahme in das Figurenprogramm des Kölner Rathausturms 1990 verdankt sich nicht zuletzt nur damaligem Streit um eine dabei zu erfüllende Frauenquote. Und ihre unstrittige historische Bedeutung für das Gewicht Kölns und des Rheinlands im austrasischen Frankenreich, insbesondere aber für den Fortbestand des pippinidischen Majordomats und damit für den Aufstieg der Karolinger wird, zumindest aus deren Sicht, durch ihr unziemliches, einer Frau unangemessenes Agieren im Kampf um die Nachfolge ihres Gatten verdunkelt (doch denke man an die Rolle manch merowingischer Königin). Noch ein Jahrhundert nach den Ereignissen hieß es auf Seiten der Sieger: Plectrudis … Carolum a legitima paterni imperii gubernatione prohibe69 Seidler: Grabmal, S. 192. Zur Restaurierung beider Platten 2002: Maul: Restaurierungsbericht, S. 194–197 (romanisches Grabmal, vgl. oben Anm. 62), 197–200 (gotische Reliefplatte). 70 Mühlberg: Grab, S. 27, 96 (S. 27 Anm. 27 zum fotografisch belegten Zustand des Skeletts); vgl. Bergmann: Gotische Grabplatte, S. 81; Krings: St. Maria im Kapitol, S. 372; Hlawitschka: Anfänge, S. 14. 71 Chronicarum quae dicuntur Fredegarii scholastici libri IV – Continuationes, ed. Krusch, c. 8 (S. 173).

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bat, ipsa cum infantulo muliebri consilio tanti regni habenas tractare presumebat. Quod dum crudelius quam oportet astu femineo disponere decreverat …72. Auf die Frage, ob Karl Martell und darüber hinaus dessen Familie ebendarum ihre damnatio memoriae betrieben, wissen wir ebenso wenig eine Antwort wie auf die nach dem Grund des Fehlens einer Vita. Galt ihre bewegte Existenz als mitregierende Gattin Pippins des Mittleren und als nach dessen Tod Hoheit über die Sukzession beanspruchende Regentin späteren und stärker verchristlichten Generationen als nicht gerade exemplarisches Muster für ein heiligmäßiges Leben? Sollte es dennoch eine Erinnerung an die Fundatorin oder gar Ansätze eines Plektrudkults in St. Maria im Kapitol gegeben haben, so dürften Unterbrüche in der frühen Geschichte ihrer Gründung hierfür nicht gerade förderlich gewesen sein. Allerdings setzen jene in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts beginnenden Bemühungen um eine Verehrung als Heilige die Existenz einer gewissen Tradition voraus, die für uns jedoch wegen des Fehlens oder Verlusts einschlägiger Überlieferung nicht greifbar ist. Diese sich nunmehr abzeichnenden Bestrebungen sind sicherlich aus dem intensiven, mit der Überführung der Dreikönigsreliquien 1164 seinen Höhepunkt erreichenden Wettbewerb der geistlichen Institute Kölns um einen durch Hausheilige gesicherten guten Platz in der Sakraltopographie der Stadt zu erklären. Seitdem finden sich immer wieder bis in die Neuzeit hinein Belege für eine sancta Plectrudis, allerdings in nicht gerade dichter Folge. Nie ist zudem die Rede von Wundern an ihrem Grab, nie war dieses das Ziel eines populären Kults, der sich im Übrigen ein halbes Jahrtausend nach ihrem Tod und angesichts vielfältiger Kölner Konkurrenz nur schwerlich noch hätte entwickeln können. Somit spricht auch nichts für die These, dass der Triconchos von St. Maria im Kapitol zum Zweck einer Plektrudverehrung durch Prozessionen errichtet worden ist. Allerdings weist der salische Kirchbau mit seiner berühmten Kleeblattanlage auf eine zweite Tradition, die sich mit dem Abbatiat der Ezzonin und Kaiserenkelin Ida (vor 1049–1060) verknüpft und mit der Umwandlung des Klosters in ein Stift des Adels an Profil und Stärke gewann: Man stellte die Kirche mit ihren architektonischen Zitierungen der Kaiserstätten von Aachen im Westwerk und von Speyer in der Krypta als ab imperatoribus, regibus et principibus fundatam dar73. Damit wurde aus der „Entrücktheit einer Heiligen“, wie sie das romanische Grabmal zeigt, in der Folge die „Hoheit einer Königin“, die sich in der gotischen Reliefplatte spiegelt74 (worauf allerdings bereits der Zusatz regina auf jener deutet – die historische Faktizität spielte hierbei natürlich keine Rolle, wenn man die Gründerin unter Karls des Großen Ahnen 72 Annales Mettenses priores, ed. von Simson, ad a. 714 (S. 19f.). 73 Zitat: wie Anm. 50. Vgl. Mühlberg: St. Marien, S. 9, 25, 28; Kitschenberg: Kleeblattanlage, S. 17. 74 Mühlberg: Grab, S. 43.

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einreihen konnte). Der himmlischen Königin als Patronin entsprach mithin eine irdische als Gründerin, ohne dass man den Anspruch auf deren Heiligkeit je ganz aufgegeben hätte, wie noch die 1640 um eine Kanonisation werbende Schrift des Aegidius Gelenius erweist. Nur verfocht man ihn nicht mit entschiedener Konsequenz; vielleicht hatte auch schon jene von Stehkämper konstatierte Krise des Stifts in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts den Elan der – ohnehin von außen durch die Kölner Konkurrenz aufgedrängten – Kanonisationsabsichten vorangegangener Jahrzehnte abebben lassen. Der königlichen Fundatorin gebührte jedenfalls Vorrang vor der heiligen, wie wohl auch noch die erwähnte Verlegung des Grabs 1666 zeigt, das seit Jahrhunderten seinen zentralen Platz im Mittelschiff der Kirche hatte, nun aber im Wortsinn zurückgesetzt wurde, nachdem 1662 ein Kölner Konzil die Dekrete des Tridentinum und damit auch dessen die Heiligenverehrung nicht kanonisierter Personen einschränkende Bestimmungen vor Ort umgesetzt hatte. Gewiss haben auch andere Faktoren wie bauliche Veränderungen, liturgische Erfordernisse, Umgruppierungen des sakralen Apparats nach dem Erwerb neuer Ausstattungsgegenstände und nicht zuletzt ein sich in der Tumbagestaltung spiegelnder gewandelter Zeitgeschmack bei den jeweiligen Translozierungen eine Rolle gespielt, die vom 18. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart Züge eines veritablen Umbettungstourismus annahmen. Mit einem Schrein, wie ihn der Konvent ja für Vitalis und Notburgis besaß, hätte sich jedenfalls der anfallende Verlegungsaufwand minimieren lassen. Allein das Fehlen scheint ein weiteres Mal Zögerlichkeit bei der Sanktifikation zu signalisieren. Oder aber steht das Festhalten an der Grabesform vielmehr für einen bewussten Entscheid zugunsten des Andenkens an eine vom Stift zur Königin erhobene Plektrud? Dies vermutete jedenfalls der frühere Kölner Stadtkonservator Fried Mühlberg, nach dem gerade das Grab für „die Legitimierung des königlichen Anspruchs der ‚heiligen‘ Stifterin bei der Rivalität mit den antiken Märtyrern und den neuen Heiligen der hohen Domkirche“ gestanden haben könnte75. Will wohl sagen: Die nach dem elitären Selbstverständnis des Konvents singuläre Stellung der Gemeinschaft auf dem Kapitol mag, zumindest im schreinträchtigen Hoch- und Spätmittelalter, in Plektruds Grab als Distinktionsmerkmal ihren adäquaten Ausdruck gefunden haben76. In jedem Fall aber war dem Stift eine Königin letztlich mehr wert als eine – offensichtlich schwer durchzusetzende – Heilige in einem an Heiligen ohnehin überreichen Köln. Hier ging es nicht um große Geschichte, sondern nur um die Suche nach Spuren einer einzigen Person in einer einzigen Kirche. Heimat-Kunde für deren Freund und 75 Mühlberg: Grab, S. 86. 76 Wobei einschränkend anzumerken bleibt, dass das Gründergrab in der Kirche im Prinzip ja ein natürliches und wesentliches Modell des Adelsgrabs darstellt; siehe etwa Zotz: Adelsgräber in Kirchen, S. 174, 179, 194.

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Liebhaber will sie sein, Einblick in einen Mikrokosmos gewähren, der darüber hinaus an scheinbar Banales und doch für jede Beschäftigung mit der Historie Grundlegendes erinnert: Es gibt die Plektrud des spätromanischen Grabmals, die der gotischen Reliefplatte und bei weitem nicht nur sie, wie die Geschichte von Kloster und Stift lehrt. Immer aber spiegeln all diese Plektrude An- und Absichten späterer Generationen. Was selbstredend auch für den Autor und den Adressaten dieser Zeilen gilt und gerade für sie, die sich ihrer Gründung in fast Böllschem Sinn verbunden fühlen. Oder um Johannes Helmrath selbst mit einem Schlegel-Zitat zu zitieren, auf das er am Schluss des von ihm über zwölf Jahre wesentlich mitgetragenen Berliner SFB ‚Transformation der Antike‘ verwies: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte oder wünschte, vorzüglich sich selbst“77.

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Heribert Müller

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Sancta Plectrudis Regina?

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Quamvis essent plures apostolici – Eine Mehrzahl von Päpsten gleichzeitig ohne den Makel eines Schismas in Ockhams Dialogus* Jürgen Miethke

Seit dem Rücktritt von Papst Benedikt XVI. wird Joseph Ratzinger ein „emeritierter Papst“ (papa emeritus) genannt1. Ist also anzunehmen, dass derzeit zwei Päpste im Vatikan leben? Wilhelm Ockham2 hat behauptet, eine Mehrzahl von Päpsten könne ganz ohne die Einschränkung durch eine „Emeritierung“ in Sonderfällen nebeneinander die Kirche leiten, ohne dass die Pflicht zur Einheit der Kirche, die im Neuen Testament im Epheserbrief so markant eingeschärft worden ist, dadurch Schaden nähme. Hat er etwa die gegenwärtige Situation vorausgesehen? Hier sei der Behauptung Ockhams nachgegangen, die an fundamentale Fragen kirchlicher Einheit angesichts der konkreten Verfassung erinnern kann und zugleich zeigt, wie schon im Mittelalter Fragen der Kirchenverfassung flexibilisiert werden konnten. Ockham hat nach literarisch fruchtbaren Jahren einer ansehnlichen Universitätskarriere, die er vor allem am Franziskanerstudium an der Universität Oxford (1317 – ca. 1320/1324) und vielleicht (1320–1323?) auch in London verbrachte,3 nach einem Lehrzuchtverfahren in Avignon (1324–1328) unter dem Schutz des „Kaisers der Römer“ Ludwigs des Bayern am Hof in München gelebt. Dort hat er die historisch-politische Situation seiner Zeit kritisch durchdacht und als Franziskaner und scholasti*

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Mit der Diskussion zwischen Wilhelm Ockham und Marsilius habe ich mich bereits mehrfach beschäftigt, ohne dass ich auf all diese Äußerungen hier noch einmal zurückkommen möchte, auch wenn es verschiedentlich naturgemäß Überschneidungen gibt. Zuletzt publiziert wurde etwa ein (im Jahre 2013 in Madrid gehaltener) Vortrag: Miethke: Ockhams Kritik. So etwa in der (deutschen) Wikipedia oder in Presseberichten. Das (hier verkürzte) lateinische Zitat in dem obigen Titel in der Festschrift für Johannes Helmrath, die ihm zum 65. Geburtstag mit herzlichen Glückwünschen zugedacht ist, stammt aus III.1 Dialogus II.26 und kann unten in Anm. 50 nachgelesen werden. Eine handliche biographische Skizze gab zuletzt Leppin: Wilhelm von Ockham; maßgebend immer noch: Baudry: Guillaume d’Occam, Bd. 1; vgl. auch Miethke: Ockhams Weg; eine allgemeine Einführung jetzt in: Spade (Hg.): Cambridge Companion to Ockham, hier bes.: Courtenay: Academic and Intellectual Worlds. Die (vorwiegend aus den Jahren 1317–1328 stammenden) Schriften liegen jetzt in kritischer Ausgabe vor: Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica [künftig abgekürzt: OTh bzw. OPh]. Zusammenfassender Bericht: Miethke: Abschluss der kritischen Ausgabe.

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scher Theologe zu klären versucht. In zahlreichen „politischen“ Traktaten für den publizistischen Tageskampf, an denen er zum Teil nur mitarbeitete, die er aber zunehmend auch selbständig aufsetzte, sowie in mehreren umfänglichen „wissenschaftlichen“ Schriften hat er versucht, seinen Zeitgenossen die Ergebnisse seiner Reflexionen bekannt zu machen4. Insbesondere durch diese „wissenschaftlichen“ Arbeiten hat er eine nachhaltige Wirkung auf die politische Theoriebildung des Spätmittelalters und der beginnenden Neuzeit ausgeübt. Heute gilt er, wie jeder Blick in gängige Nachschlagewerke zeigen kann, weithin als ein „Klassiker“ der politischen Theorie des Mittelalters. Insbesondere mit dem seit etwa 1332 geplanten Großvorhaben seines Dialogus, das er bis zu seinem Tod (also wohl bis 1348) nach einigen Pausen immer wieder aufgriff und fortführte, hat Ockham (wie er selber schrieb) eine „Summe“ der politisch-theoretischen Argumente im Meinungskampf seiner Zeit zusammenstellen wollen. Der Auskünfte erteilende und für den sachlichen Teil der Darlegungen verantwortliche „Lehrer“ erklärt bereits im zweiten Satz des Prologs zur „Ersten Abhandlung“ der Schrift (später von Ockham „Erster Teil“ des Gesamtwerks genannt): Unverschämt verlangst du von mir, dir über den gegenwärtig unter den Christen geführten Streit über den katholischen Glauben und vieles, was damit zusammenhängt, eine systematische „Summe“ oder etwas Derartiges zu verfassen5.

Das war nach den großen theologischen „Summen“ des 13. Jahrhunderts, von denen die Summa theologiae des Thomas von Aquin bis heute am weitesten bekannt geblieben ist, ein steiler Anspruch. Anscheinend wollte Ockham die Antworten auf „die Streitfragen“ seiner Zeit, was immer er bei seinen Zeitgenossen finden konnte, möglichst vollständig in ihrem Für und Wider zusammen mit ihren theoretischen Begründungen darlegen und zusätzlich geeignete Antworten und Lösungswege für die Probleme vorschlagen. Er entnahm sie entweder aus den Texten der scholastischen Diskussion oder hatte sie selber durch eigenes Nachdenken gefunden. Nun wollte er

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Eine Gesamtedition seiner politischen Schriften erscheint seit 1942 in England: Guillelmi de Ockham Opera politica [künftig zitiert als OPol]. In absehbarer Zeit sollen von dieser Ausgabe (verantwortet durch die British Academy und derzeit geleitet von John Kilcullen) noch ausstehende Rest des Dialogus (mit Bd. V–VII und IX) geliefert werden. Vgl. dazu die Homepage der British Academy. Magister: Nam ut de controversia que super fide catholica et multis incidentalibus inter Christianos nunc vertitur nescio quam summam tibi componam impudenter exposcis. Gedruckt etwa im Anhang zu: Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 684f. Zur Charakteristik der Methode etwa Miethke: Projekt „Dialogus“; vgl. die brillante Zusammenfassung von Cardelle de Hartmann: Lateinische Dialoge, S. 539–548 [R 52], sowie bes. S. 74–77 und 145–162; Miethke: Fiktion eines Lehrgesprächs.

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seinen Zeitgenossen vorstellen, wie die „ungeheuerliche“6 Gefahr für das ewige Heil der Welt beseitigt werden könne. Von Anfang an waren drei weit ausgreifende und umfangreiche „Abhandlungen“ (Tractatus) geplant7. Einerseits sollte die zeitgenössische Diskussion eingehend im Horizont der „Glaubenswahrheit“ und der dieser entgegengesetzten „Ketzereien“ erörtert werden. Zugleich wollte Ockham darlegen, wie „Ketzer“ und ihre Freunde in der Christenheit zu behandeln seien. Offensichtlich sollten dabei die Entscheidungen des „Ketzerpapstes“ Johannes XXII. ebenso wie auch die konkreten Handlungen und Haltungen seiner Zeitgenossen – und dabei ausdrücklich auch das eigene (Ockhams) Verhalten – kritisch betrachtet und im Horizont der Glaubenswahrheit gewichtet werden. Anders als es der wohl etwas ältere Dante Alighieri in seinem Weltgedicht der Divina comedia in seiner grandiosen fiktiven Schau dichterisch unternahm, wollte Ockham dieses sein eigenes Weltgericht in einem scholastischen Traktat, an der Methode der Universitätsquästionen orientiert entwickeln, um so die Welt der Christenheit vor dem Abgrund der Hölle zu retten, der ihr, wie er es verstand, unmittelbar drohte. Schon bei der ersten Konzeption des Projekts und erst recht im Verlauf der mühseligen Ausführung erwies sich das Unternehmen nach einem fulminanten Start als zäh und aufhaltsam. Allein die Textmasse des ersten der drei Tractatus, in die er das Werk eingeteilt hatte (d.  h. den I  Dialogus8), war in seinen von Buch zu Buch immer 6

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Das sagt Ockham klar am Ende des ‚Offenen Briefes‘, den er an seine (am Pfingstfest 1334) in Paris zum Generalkapitel seines Ordens versammelten Ordensbrüder gerichtet hat: In hoc enim probationis tempore cogitationes de multorum cordibus revelantur. Nolite autem nimis emungere, quia cum ille qui nunc regnat [scil. papa Iohannes XXII.] sit mortalis, nescitis quid superventuri parient dies. Monstra [!] autem in bonum convertere Omnipotens dignetur. Amen. [ed. Offler, in: OPol III (1956), S. 17,4-8]. Dies Vorhaben schildert Ockham programmatisch in den Prologen zu den einzelnen partes (den „Teilen“) seines Dialogus. In I Dialogus Prolog wird als Thema des Gesamtprojekts eine Summa de controversia que super fide catholica et multis incidentalibus inter Christianos nunc vertitur genannt (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, Bd. 2, S. 684). In I Dialogus wollte Ockham allgemein De haereticis handeln, in II Dialogus sollte dann eine Abhandlung De dogmatibus Iohannis vicesimisecundi vorgestellt werden, d. h. er wollte die Handlungen und die Haltung seines Hauptgegners im Armutsstreit, Papst Johannes’ XXII. erörtern, um schließlich in III Dialogus unter dem Titel De gestis circa fidem altercantium orthodoxam ein Panorama der verschiedenen Beteiligten, von Kaiser Ludwig dem Bayern und Papst Benedikt XII. – über seine Franziskanerfreunde ebenso wie über die Gegner im Orden sollte dann ausdrücklich gehandelt werden – bis hin zu einem ganzen „Buch“: De gestis et doctrina fratris Wilhelmi de Ockham – das freilich merkt Ockham als Programm allein im Prolog zu III.1 Dialogus an (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 82–89, hier bes. 84). Im alten Druck (einem Sammelband des 17. Jahrhunderts): Goldast (Hg.): Monarchia, Bd. 2, S. 398– 739, umfasst der Text der sieben „Bücher“ des ersten Tractatus (wie es im Prolog noch heißt, während der genannte Titel die prima pars ankündigt) allein fast 350 Seiten im Folio-Format. Um eine realistische Vorstellung zu ermöglichen, sei notiert, dass für III.1 Dialogus I in Goldasts Druck p. 771–889 gebraucht werden, d. h. den ca. 109 Folioseiten (nur ungefähr, da mehrere Paginierungsfehler vorkommen!) entsprechen in der kritischen Ausgabe in OPol VIII: S. 115–371 (also etwas mehr als 255 S.).

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umfangreicher geratenen Dimensionen nicht von Beginn der Niederschrift an minuziös so geplant, wie es heute vor uns steht. Als Ockham in München vom Tod seines Hauptgegners, des Papstes Johannes’ XXII. († 4.12.1334) erfuhr, hatte er diesen Teil offenbar bereits vollendet. Doch begann das Projekt jetzt zu stocken. Dem geradezu rasanten Beginn mit dem ersten Abschnitt (der schon in den Jahren 1332–1334 zum Abschluss gekommen war) folgte jetzt eine lange Pause, in der Ockham nicht völlig verstummte9, in der er aber auch den Dialogus nicht fortsetzen wollte. Diese Arbeit hatte er zunächst abgebrochen, vielleicht auch weil die geplante „II. Abhandlung“ (II Dialogus) über Johannes XXII. nach dessen Tod nicht mehr unmittelbar dringlich erschien, vielleicht auch, weil am kaiserlichen Hof in München zunächst jede Hoffnung auf ein großes Konzil der lateinischen Christenheit zu einer Abrechnung mit dem „Ketzerpapst“ aufgegeben werden musste10, vielleicht auch weil den im kaiserlichen Schutz in München lebenden Minoriten ein weiteres Mal vom Hof eine Schweigepause auferlegt worden war11. Erst einige Jahre später (zu einer nicht näher fixierbaren Zeit zwischen 1338 und 134212) hat Ockham dann auch seinen Dialogus wieder fortsetzen wollen. Obwohl er in der gleichen Zeit auch wieder andere größere Schriften wissenschaftlicher Objektivität in Angriff nahm, hat er sich dann offenbar bis zu seinem Tod (wohl am 9. April 134813) wahrscheinlich intermittierend weiter mit dem Dialogus beschäftigt, ohne ihn definitiv zu Ende führen zu können14.

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Demnach sind für die knapp 350 p. des Alten Drucks von I Dialogus etwa 800 S. der modernen Edition zu erwarten. Er hat seit 1335 einige kürzere persönlich gehaltene aggressive „Streitschriften“ verfasst, die aber allesamt in nur ganz wenigen Handschriften bezeugt sind, insbesondere die beiden von fremder Hand später als II Dialogus eingesetzten Traktate (jetzt ed. Kilcullen/Scott, in: OPol VIII, S. 17–102, die offenbar noch in das Jahr 1334 gehören (ebd., S. 11f.), während die (ebenfalls nur schwach bezeugten) Streitschriften Contra Iohannem und Contra Benedictum (ed. Offler, in: OPol III, S. 29–164, bzw. 165–322) auf 1335 bzw. 1337/1338 zu datieren sind (OPol III, S. 24 bzw. 162). Diese Abzweckung des Dialogus-Teils De Haereticis vermutete mit guten Gründen bereits Baudry: Guillaume d’Occam. Dazu ist auch die verschlungene Geschichte der sog. ‚Chronik des Nicolaus Minorita‘ zu beachten, dazu etwa Miethke: Druck. Dazu am Beispiel eines „Schweigegebots“ (bereits in den Jahren um 1331/1332) Offler: Meinungsverschiedenheiten. Insbesondere sind hier zunächst die Octo quaestiones (ed. Offler, in: OPol I2, S. 15–217; Datierung: S. 10f.) sowie das Breviloquium zu nennen (ed. Offler, OPol IV, S. 97–277; Datierung: 86–89), um 1346/1347 ist dann die letzte größere Streitschrift zu datieren: De imperatorum et pontificum potestate (ed. Offler, in: OPol IV, S. 279–355; Datierung: S. 265f.) Diese Ansetzung hat zu begründen versucht Miethke: Ockhams Tod; in der internationalen Diskussion ist aber der um ein Jahr frühere Ansatz von Gedeon Gál rezipiert worden: Ockham Died; vgl. auch Leppin: Wilhelm von Ockham, S. 268–270. Hilary Seton Offler zögert (OPol IV, S. 266), das Datum 1347 für den Tod Ockhams zu akzeptieren, ohne sich auf 1348 festlegen zu wollen. Ich halte jedoch daran fest. Dies halte ich weiterhin gegen andere Vorstellungen, die den Abbruch der Arbeiten an den beiden

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Allerdings war die Welt nicht stehen geblieben, seit die erste Planung mit I Dialogus ein gutes Stück weit realisiert war. Schon die politische Großwetterlage im Konflikt Ludwigs des Bayern mit den Päpsten in Avignon hatte sich mit dem neuen Papst Benedikt XII. erheblich geändert. Eine „historische“ Aufarbeitung der Haltung des Vorgängers schien nach dessen Tod zunächst wohl nicht mehr ganz so dringlich. Ockham sah sich jedenfalls veranlasst, seine Ausarbeitung gegenüber seiner alten Planung (wie er sie im ersten Prolog des Werkes geschildert hatte15) erheblich zu ändern. Sicherlich wollte er dabei auch der Entwicklung seiner eigenen Reflexionen Rechnung tragen. Auffällig ist, dass er gleichwohl den allgemeinen Titel De gestis circa fidem altercantium orthodoxam aus dem ursprünglich angekündigten Projekt jetzt für einen neu benannten „III. Teil“ (Tertia pars) unverändert beibehalten wollte. Diese abstrakte Formulierung erlaubte ihm jetzt jedenfalls eine erweiternde Abänderung des Gesamtprojekts, da der Gattungsbegriff der gesta nicht ausschließlich eine enge Personalchronistik assoziieren ließ, sondern ganz allgemein historische Bemühungen versprach. Um jetzt Raum für die erwünschten konzeptionellen Änderungen zu schaffen, hat Ockham eine weitere (2.) Gliederungsebene in den geplanten Aufbau seines Werkes eingezogen, indem er jetzt unter dem neu formulierten blassen Titel „Dritter Teil“ (Tertia pars) nicht weniger als neun geplante „Abhandlungen“ (tractatus) einordnen wollte, die sich ihrerseits, wie der Prolog mitteilt, jeweils in „mehrere Bücher“ gliedern sollten16. Thematisch sollte es weiterhin um die politischen Ereignisse, Entscheidungen und Handlungen der Zeitgenossen gehen, Ockham wollte aber offensichtlich die Komplexität der Gliederung seiner Darlegungen steigern17, indem er den geplanten, an einzelnen Personen und Positionen orientierten zeithistorischen Analysen noch fragmentarischen Abhandlungen III.1–2 Dialogus noch in die Regierungszeit Papst Benedikts XII. († 25.04.1342) ansetzen wollten, weiterhin für die wahrscheinlichste Erklärung, vgl. Miethke: Ockhams Weg, S. 117–121, 547f. Allerdings wird Ockham an beiden erhaltenen Abhandlungen der Tertia pars etwa intermittierend oder gleichzeitig gearbeitet haben. 15 Vgl. oben Anm. 7. 16 Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 82: […] ad tertiam partem nostri dialogi […] nostram intencionem vertamus […], quam in novem tractatus volo secari, quorum unumquemque in diversos libros censeo dividendum. 17 Sie wurde auch damit gesteigert, dass die ursprünglich als „zweite Abhandlung“ des Dialogus (secundus tractatus heißt sie in I Dialogus, Prologus) geplante Behandlung der Tätigkeit des in Ockhams Augen zum Ketzerpapst gewordenen Johannes XXII. jetzt als „dritte Abhandlung“ (also als III.3 Dialogus) angekündigt wird, siehe III.1 Dialogus, Prologus (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 84): […] tertius [tractatus] De gestis Johannis XXIIi, quem nonnulli putant propter hereticam pravitatem diu antequam de hoc mundo migraret omni dignitate ecclesiastica fuisse privatum, alii ipsum fuisse catholicum et in vero papatu finisse dies suos existimant; quartus […]. Diese veränderte Systematik ist dann offenbar in den Querverweisen auf die Secunda pars des Dialogus in der letzten Streitschrift De imperatorum et pontificum potestate nicht mehr festgehalten worden, da dort mehrfach eine Behandlung Johannes’ XXII. für II Dialogus (im Futur!) angekündigt wird.

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Überlegungen zum Rechts- und Verfassungsrahmen ihres Handelns vorschaltete. Anscheinend wollte er sich erst nach diesen von ihm selbst „Präambeln“ genannten Vorschalttraktaten (seiner ursprünglichen Planung gemäß) einer „chronistischen“ Reflexion des Wirkens einzelner Personen und Gruppen widmen. In den beiden Prologen, die diesen (heute einzig erhaltenen) zwei „Traktaten“ der Tertia pars programmatisch vorgeschaltet sind, wird mit fast identischen Worten erklärt, die Texte sollten die Ausführungen der geplanten Abhandlungen zur Geschichte bestimmter Personen nur ein wenig erweitern, stellten dafür nur jeweils eine „Vorbereitung und Präambel“ (preparatorii et preambuli ad sequentes) dar18. Mit dieser Umorganisation seines Konzepts19 sollte jetzt „Die Amtskompetenz von Papst und Klerus“ (De potestate papae et cleri) einerseits sowie „Die Amtskompetenz und das Recht (iura) des ‚Kaisertums‘ [bzw. Kaiserreichs]“ (De potestate et iuribus Romani imperii) andererseits20 behandelt werden. Dadurch, dass diese Formulierung 18 Prolog zu III.1 Dialogus (OPol VII, S. 115,5–17; mit deutscher Übersetzung in: Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 82/84, wo es zusammenfassend heißt): […] ad terciam partem [!] nostri dialogi, quam ab inicio ‚De gestis circa fidem altercancium orthodoxam‘ volui appellari, nostram intencionem vertamus, […] quam in novem (sic!) tractatus volui secari […]. Primi autem duo erunt preparatorii et preambuli ad sequentes […], primus quidem disputando ‚De potestate papae et cleri‘, secundus ‚De potestate et iuribus Romani imperii‘, in quo quamplurima de iuribus regum ac principum ac eciam laicorum aliorum tractabimus; tercius de gestis Iohannis xxIIi (etc.). Dazu III.2 Dialogus, Prologus, in der kritischen Ausgabe von Ubl/Heinen (publiziert auf der Homepage der British Academy), S.  3,7–12: […] post tractatum ‚De potestate pape et cleri‘ tractatus ‚De iuribus Romani imperii‘, quem nonnulli literati ex litteris sacris nituntur elicere, subnectatur, presertim cum occasione Romani imperii quidam, quorum gesta sicut et multorum aliorum in tractatibus secuturis, ad quos isti duo primi tercie partis [!] nostri dialogi sunt preparatorii et preambuli, nitemur discutere, de fide altercari ceperint orthodoxa. Dieser Text ist (zusammen mit einer Übersetzung) in: Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 690–697, abgedruckt, freilich dort nach der – nur geringfügig abweichenden – Fassung der alten Drucke! 19 In III.2 Dialogus, Prologus (ed. Ubl/Heinen, S. 3f.) kommt Ockham auf diese Umgliederung nicht mehr zu sprechen, er kündigt ausschließlich für diesen Tractatus fünf Bücher an, jeweils mit Kurztiteln konkretisiert. III.2 Dialogus besteht dann real ausschließlich aus drei Büchern. Buch III bricht mitten in einer Erörterung an drei nicht sehr weit voneinander entfernten Stellen ab (an der ersten Stelle sogar mitten im Satz): ed. Ubl/Heinen, S. 292,95; 322,37; 327,180. 20 Die wörtliche deutsche Übersetzung der Titelformulierung, die wörtlich etwa mit „Die Amtskompetenz und das Recht (iura) des ‚Kaisertums‘ [bzw. Kaiserreichs]“ zu übersetzen wäre, kann vielleicht mit „Das Recht von Kaiser und Reich“ am treffendsten wiedergegeben werden. Dieser Titel von III.2 Dialogus wird leicht variierend benannt: im Prolog zu III.1 Dialogus wird neben der potestas von Papst und Klerus auch die potestas des Kaisertums bzw. Kaiserreichs neben dem Recht des imperium zum Gegenstand der Überlegungen erklärt, vgl. die vorhergehende Anm. Die Vermutung liegt nahe, dass diese (neue) Formulierung insgesamt vor allem durch die Kenntnis von De iuribus regni et imperii des Lupold von Bebenburg zu erklären ist: das Buch war Ockham bekannt, er hat es von Anfang an etwa gleichzeitig mit der Niederschrift von III.2 Dialogus und Octo Quaestiones benutzt. Lupolds Text (der in seiner ersten Fassung spätestens im November 1339 vorgelegen haben muss – und der damit einen Terminus post quem für Ockhams Titelwahl bereithält) vgl. die Editio maior: Politische Schriften, ed. Miethke/Flüeler, S. 233–409, zur Datierung des Textes: dort S. 199f. Die Ausgabe steht im Internet

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sich von den unmittelbar folgenden sieben einzeln geplanten und parallel dazu eingesetzten ‚Personenabhandlungen‘ De gestis … methodisch und thematisch radikal unterscheidet, zeigt es sich bereits genauer, was Ockham als Lücke seiner ursprünglichen Konzeption empfunden hat: Er wollte den zeitgenössischen Streit um die Amtskompetenz zwischen Papst und Kaiser vor dem Hintergrund einer kritischen Darstellung des Rechtsrahmens aller politischen Handlungen und Maßnahmen der Amtskirche und der weltlich-„staatlichen“ sozialen Organisation bedenken und darstellen. Damit kündigt er einen Rückgriff auf die breiten Diskussionen De potestate papae an, die seit mindestens einem halben Jahrhundert die scholastischen Gelehrten im lateinischen Europa beschäftigt hatten21. Das Versprechen, darüber eine „Summe“ zu liefern, greift also Anliegen der zeitgenössischen exoterisch nach außen gerichteten22 scholastischen Diskussion der Universitätsgelehrten auf. Hier ist nicht nachzuzeichnen, welche Lektüre bei Ockham diese konzeptuellen Veränderungen induziert haben mag. Neben anderen Möglichkeiten23, ist es evident, dass sich Ockham hier ausdrücklich mit Thesen auseinandersetzt, die Marsilius von Padua in seinem zuerst (am 24. Juni 1324 zum ersten Mal in Paris abgeschlossenen) Defensor pacis24 entwickelt hatte, da Ockham über Seiten hinweg aus diesem Text wörtliche Auszüge anführt, ohne dabei allerdings Titel oder auch nur den Verfasser, dem er in München täglich begegnen konnte, ausdrücklich zu nennen25. auf der Homepage der MGH. Zur Beziehung Lupolds zu Ockham vor allem Wittneben: Lupold von Bebenburg. 21 Zusammenfassend Miethke: De potestate papae. 22 Zu dem ‚exoterischen‘ Charakter der politischen Stellungnahmen der gelehrten spätmittelalterlichen Politikberatung im 13. Jahrhundert vgl. Miethke: Entwicklung des politischen Denkens, insbes. S. 1552–1554. 23 Nahe liegt etwa Lupold von Bebenburg (vgl. oben Anm. 20). Nach den alten Drucken wäre Augustinus [von Ancona] in III.1 Dialogus von Ockham sogar ausdrücklich genannt worden: (Goldast (Hg.): Monarchia, Bd. 2, S. 891,28–29) pro eadem opinione allegatur August. sic … [„Für dieselbe Auffassung wird auch ein Zitat des August[inus] angeführt“]; doch ursprünglich hatte es bei Ockham wohl nur geheißen: pro eadem opinione allegatur aliter [!] sic. vgl. den kritischen Text von Ubl/Heinen (S. 83,3– 5). Die ausdrückliche Nennung dieses Zeitgenossen ist demnach nicht Ockham selbst, sondern wohl dem Hg. des Druckes zuzuschreiben, der ein aliter zu August. „verbesserte“. Dabei konnte es sich naturgemäß nicht um den Kirchenvater handeln, der von einer „Prüfung“, „Bekräftigung“ oder „Bestätigung“ einer „Salbung“ oder „Krönung“ eines „Kaisers“ durch den „Papst“ noch nichts wissen konnte. Damit bleibt aber eine genauere Kenntnis Ockhams von dieser Schrift keineswegs ausgeschlossen: Augustinus von Ancona (später Augustinus Triumphus genannt, † 1328), hat in seiner Summa de ecclesiastica potestate, q. 41 art. 2–3 die hier genannten Themen tatsächlich behandelt. Zusammenfassend zu Augustinus von Ancona Miethke: De potestate papae, S. 170–177. 24 Hier benutzt nach: Marsilius von Padua. Defensor pacis, ed. Kusch/Miethke, dort S. XLVIII–XCIII auch ein Abriss seiner politischen Theorie. 25 Eine Auflistung dieser (12) Stellen in: Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 735a–b (Index der ‚Autorenzitate‘).

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Diese anonyme Behandlung entsprach aber völlig dem Usus bei gelehrten Auseinandersetzungen in den Hörsälen scholastischer Universitäten. Ockham hatte das bedeutende Buch des Marsilius jedenfalls noch nicht so deutlich im Visier gehabt, als er I Dialogus niederschrieb. Obwohl eine recht lange Liste von thematischen Berührungen der früheren Teile des Dialogus mit Marsilius inzwischen vorgelegt wurde26, bleibt es fraglich, ob Ockham schon vom Beginn seiner Arbeit an den eigenwilligen „Verteidiger des Friedens“ überhaupt genauer gekannt hat oder zunächst eher von einem Hörensagen zehrte. Offenbar jedoch hat er spätestens in München, nachdem ihm der Tod des Papstes Johannes XXII. bekannt geworden war, Gelegenheit gefunden, das Werk seines italienischen Mitexulanten gründlicher zu studieren. Jetzt hielt Ockham offensichtlich eine ausführlichere Diskussion mit einigen seiner Thesen im Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen politischen Handelns für angebracht27. Der kasuistisch-analytische Ansatz von Ockhams Überlegungen zur politischen Situation seiner Zeit, der stets von konkreten casus, also von „Vorfällen“ ausgehend nach den dort sichtbar werdenden Rahmenbedingungen des Handelns der jeweils beteiligten Menschen fragt, kann hier nicht in allen seinen Facetten in Augenschein genommen werden. Ein kleiner Ausschnitt aus diesem Komplex muss hier dazu genügen, Ockhams theoretische Arbeit zu vergegenwärtigen. Das weitläufige Programm für die nunmehr „Dritter Teil“ des Dialogus (Tertia pars) genannte neue Abteilung des Großprojekts sah vor, dass in diesem „Die Geschichte der um den rechten Glauben streitenden Christen“ (De gestis circa fidem altercantium orthodoxam) betitelten Abschnitt des Gesamtwerks mit 9 „Abhandlungen“ (Tractatus) sich jeweils (!) in „verschiedene Bücher“ gliedern sollte, die jeweils (dem erhaltenen fragmentarischen Textkomplex nach zu urteilen) etwa 20 bis 30 Kapitel umfassen sollten. Das war kein geringer Umfang! Gleich zu Beginn des ersten Buches der ersten Abhandlung fasst der Schüler ein zuvor in wenigen Zeilen leichthin und komplex entwickeltes Frageprogramm konzentriert entschlossen in einer einzigen Frage zusammen, und erklärt, die Mehrheit der Christen zweifele nicht daran, dass (nach Matthäus 16:1828) der Papst als Nachfolger des Apostels Petrus von Christus selbst seine Amtskompetenz (potestas) erhalten habe. Schon damit stellt er sich, wenngleich zunächst noch unbestimmt, gegen die entschieden gegensätzliche Aussage des Defensor pacis, wonach Petrus keineswegs aufgrund 26 Kilcullen, John: „Endnote 4: Ockham and Marsilius“, in: OPol VIII (wie Anm. 4), S. 360–364, hat sie sorgfältig zusammengestellt. 27 Dazu näher in der „Einleitung“ in: Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 55–69. 28 Diese Bibelstelle wird sofort in c. 2 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 92f.) vom „Lehrer“ nachgeliefert. Damit wird der theologische Horizont der folgenden Erörterung deutlich klargestellt.

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eines besonderen göttlichen Auftrags der princeps apostolorum gewesen sei. Vielmehr habe er wie alle Prälaten seine Stellung in der Kirche ganz einer (menschlichen) Beauftragung durch die Apostel zu verdanken29. Das wird von Ockham durch den Hinweis des „Schülers“ auf die „Menge der Christen“, die das Gegenteil behaupte, mit dem ersten Satz der gesamten Abhandlung stark relativiert: Schüler: Dass die Schlüssel des Himmelreiches von Christus an den Römischen Bischof, d. h. an den Heiligen Petrus übergeben worden sind, daran zweifelt, wie ich glaube, die Menge der Christen nicht. Darum zieht sie auch nicht in Zweifel, dass ihm von Christus einige Amtsvollmacht übertragen worden ist. Mehrere Autoritäten Heiliger Väter scheinen zu behaupten, dass er auch aus menschlicher Anordnung eine gewisse Amtsvollmacht erhalten hat. Über diese beiden Kompetenzen, wenn er sie denn besitzt, will ich Dir eine Menge Fragen stellen [...]30.

Nachdem er das Problem in eine Fülle von Einzelfragen aufgefächert hat, erklärt der „Schüler“: Vor allem jedoch bin ich entschlossen zu fragen, ob die Amtsvollmacht des Papstes sich auf alles erstreckt, was nicht gegen das göttliche Gesetz und auch nicht gegen das natürliche Gesetz verstößt. Diese Frage nämlich umfasst anscheinend alles soeben von der Amtsvollmacht des Papstes Gesagte. Vielleicht wird sich mir aus den Urteilen und Meinungen, die du mir dazu vortragen willst, die Gelegenheit bieten, noch besondere Fragen in Sonderfällen an dich zu richten31.

Dieser Übergang zu den Grenzen der Amtskompetenz des Papstes ist typisch für Ockhams Vorgehen bei der Entwicklung seiner „Summe“. Bis zum Ende der Abhandlung wird dies zentral wirksam bleiben, ermöglicht es doch, die Erörterungen im Einzelnen aus einer zentralen Perspektive heraus zu entwickeln und die päpstliche plenitudo 29 Ausführlicher dazu Miethke, in: Marsilius von Padua. Defensor pacis, ed. Kusch/Miethke, S. LXXf. 30 III.1 Dialogus I.1 (hier zitiert nach: Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 90f.): Discipulus: Claves regni celorum esse datas a Christo Romano pontifici, id est beato Petro, Christianorum non ambigit, ut estimo, multitudo; quare non dubitat quin sit a Christo aliqua concessa potestas. Plures eciam auctoritates sanctorum patrum videntur asserere quod aliquam ex humana ordinacione acceperit potestatem. Plures eciam auctoritates sanctorum patrum videntur asserere quod aliquam ex humana ordinacione acceperit potestatem. De quarum utraque, si utramque habeat, interrogabo quamplura […] 31 Ebd.: Ante omnia autem interrogare decrevi an potestas pape ad omnia que non sunt contra legem divinam neque contra ius nature se extendat. Hec enim interrogacio videtur comprehendere omnia predicta de potestate pape, et forte ex sentenciis et opinionibus circa ipsam, quas recitare studebis, dabitur michi occasio de singulis in speciali querendi.

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potestatis, von der die Zeitgenossen so gerne sprachen32, abzuschreiten, ohne sich zu verzetteln. Das wird sofort daran deutlich, da der Lehrer bereits in seiner ersten Antwort nicht weniger als fünf diverse et adverse sententie namhaft macht, die jeweils eine Antwort auf diese Frage entwerfen. Die Positionen können dann nacheinander vor dem Hörer (und damit vor jedem Leser) Revue passieren und dabei (methodisch den scholastischen universitären Quaestionen folgend) miteinander argumentativ streiten, bis dann endlich in III.1 Dialogus I.16–17 die (fünfte) „Meinung“ vorgestellt werden kann, die – wie der Schüler dann ausdrücklich gleich zu Beginn des zweiten Buches in seinem ersten eröffnenden Satz feststellt – zwischen den Widersprüchen der anderen (vier) Antworten (gut aristotelisch) „auf einer via media einherschreitend“33 eine Vermittlung der Gegensätze übernimmt und damit für Buch II gewissermaßen einen roten Faden liefert, der die weitere Untersuchung anleitet. Somit darf diese (5.) Position nicht allein als die Meinung des „Lehrers“, sondern als die Auffassung Ockhams selber identifiziert werden34, die sodann sorgfältig abwägend entwickelt wird. Markant beschreibt der Lehrer hier die plenitudo potestatis des Papstes gemäß dieser Auffassung (die offensichtlich Ockhams eigener Meinung entspricht)35: Der Papst hat eine derartige ‚Gewaltenfülle‘ in zeitlichen und geistlichen Angelegenheiten, dass er mit seiner ordentlichen und absoluten Vollmacht alles tun kann, was nicht gegen das göttliche Recht oder gegen das Naturrecht verstößt. Nicht hat er sie im Regelfall und schlechthin inne, weder aufgrund göttlichen Rechts noch aufgrund menschlichen Rechts. Er besitzt jedoch eine derartige Fülle der Amtskompetenz kraft Christi Anordnung, bzw. kraft göttlichen Rechts fallweise, d. h. im Sonderfall oder in bestimmter Hinsicht.

Und wenig später kann der Lehrer seine Erklärungen folgendermaßen zusammenfassen36: 32 Zur mittelalterlichen Entwicklung dieses Kernkonzepts päpstlicher „Gewaltenfülle“ (bis zum 12. Jahrhundert) vgl. vor allem Benson: Plenitudo potestatis. 33 Der Schüler selbst wird im Rückblick auf die beiden Kapitel (16 und 17) diese quinta assercio als „auf einem Mittelweg einherschreitend“ charakterisieren [quoniam ista quinta assercio via media inter alias quatuor incedendo cum qualibet illarum in quibusdam concordat et in aliquibus discrepare dinoscitur]. 34 Eingehender dazu Miethke: III.1 Dialogus I–II, bes. S. 45 mit Anm. 82. 35 III.1 Dialogus I.16 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 176f.): Illa sentencia […] tenet quod papa talem plenitudinem potestatis habet in temporalibus et spiritualibus, ut omnia per potenciam ordinatam vel potenciam absolutam possit que non sunt contra ius divinum nec contra ius naturale. Non habet regulariter et simpliciter neque a iure divino neque humano, sed ex ordinacione Christi sive iure divino habet casualiter sive in casu et secundum quid huiusmodi plenitudinem potestatis. 36 III.1 Dialogus II.16 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 180f.): Et ita secundum istos papa casualiter a iure divino tam in temporalibus quam in spiritualibus habet plenitudinem potestatis, non

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Somit hat der Papst [...] im Einzelfall kraft göttlichen Rechts in geistlichen wie in weltlichen Angelegenheiten die Fülle der Amtskompetenz inne, nicht schlechthin, aber in bestimmter Hinsicht. Diese Amtskompetenz, wenn sie auch nicht die allergrößte Fülle besitzt, ist dennoch bedeutend, einzigartig und sehr umfangreich. Denn kraft ihrer kann er im Sonderfall Kaiserwürden und Königreiche übertragen, Könige und Fürsten oder jeden anderen Laien ihres weltlichen Besitzes, ihrer Rechte und ihres Eigentums entheben und das an jemand anderen übertragen. Auch in geistlichen Angelegenheiten kann er im Einzelfall alles.

Unmittelbar nach dieser umfassenden Kompetenzzuweisung setzt der Lehrer (und damit Ockham) dieser weit gefassten Definition ganz unvermittelt eine deutliche Warntafel hinzu, in der er vor allzu raschen Folgerungen warnt:37 Allen solchen Einzelfällen hier aber Ausdruck zu geben und insbesondere [auszuführen], in welchem [Fall] er [scil. der Papst] das eben Gesagte vermag oder doch einiges davon, das ist nicht leicht. Und vielleicht lässt sich darüber überhaupt keine allgemeine Theorie entwickeln, durch welche jedermann ohne Irrtum sofort wissen könnte, besonders aber die einfachen Leute, wann der Papst solches vermag und wann nicht, und was er in dem einen Fall und was er in einem anderen Fall tun kann. Denn in der Tat kann er einiges von dem, was gesagt wurde, in einem bestimmten Fall tun, was er in einem anderen Fall keineswegs tun darf.

Oberflächliche Konsequenzen soll also niemand vorschnell ziehen, „besonders aber nicht die einfachen Leute“ (die mit einer differenzierten Argumentation und ihren Nuancierungen und Konditionen nicht umzugehen wissen). Politische Patentrezepte sollte man daraus nicht entwickeln können. Nach Ockham verlangt politisches Handeln, wie er wiederholt schreibt, stets genaue Überlegungen und vernünftige Beratung im Kreis von einer Mehrzahl von geschäftserfahrenen Experten (zu denen der Verfasser sich ohne Frage auch selber gerechnet hat). Wenn der Schüler am Ende noch weitere Aufklärung verlangt, weil diese Aussagen nach seinen eigenen Worten „vieles enthalten, was mir dunkel ist“38, so hofft er doch simpliciter sed secundum quid, que, quamvis non sit plenissima potestas, est tamen grandis, singularis et quam magna. Per ipsam enim potest in casu imperia et regna transferre, reges et principes aliumque laicum quemcumque temporalibus, iuribus et rebus privare aliisque conferre. In spiritualibus eciam omnia potest in casu. 37 Ebd.: Exprimere autem omnes casus et in particulari in quibus predicta potest, vel aliquid predictorum, non est facile; nec forte de ipsis potest dari doctrina universalis per quam certitudinaliter et absque errore sciatur, maxime a simplicibus, quando potest talia papa et quando non, et qualia potest in uno casu et qualia in alio; plura enim talia potest in uno casu que in alio casu minime potest. 38 III.1 Dialogus I.17 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 182f.): Quamvis inter predicta aliqua sint michi obscura, que forsitan postea occasione habita lucidabis […].

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auf Lernerfahrungen im weiteren Gesprächsgang, der zu neuen Themen führen soll. Der Lehrer verweigert ihm jedoch weiter jede glatte „allgemeine Theorie“, die für politische Patentrezepte zur Lösung sämtlicher Probleme taugen könnte. Wenn die Frage nach der päpstlichen „Gewaltenfülle“ wirklich von der Konfrontation mit Marsilius von Padua induziert war, so greift Ockham hier jedenfalls noch nicht nach wörtlichen Zitaten aus dem Defensor pacis. Vielmehr gibt er nur auf einige bereits von Marsilius aufgeworfenen Fragen eigene Antworten und begründet sie danach eigenständig und abweichend von den Lösungen, die Marsilius vorgeschlagen hatte39. Etwas erstaunt nimmt man zur Kenntnis, dass das nun beginnende II. Buch entsprechend der Forderung des Schülers „in einiger Ausführlichkeit“ (aliquantulum diffuse) weitere Fragen zu der uns bereits als via media bekannten Position behandeln soll. Die erste Teilfrage geht dann erst recht in eine (zumindest für einen Historiker) nicht gerade naheliegende Richtung: Der Lehrer soll nämlich zunächst die Antwort auf die Frage geben, ob Christus den Heiligen Petrus zum Haupt, Fürsten und Prälaten der anderen Apostel und Gläubigen bestellt hat. Um das umfassender zu verstehen, wollen wir vor allem in unserer Unterhaltung erforschen, ob es der gesamten Gemeinschaft der Gläubigen zuträglich ist, einem [einzigen] Haupt, einem Fürsten und gläubigen Prälaten unter Christus unterworfen zu sein und ihm zu unterstehen40.

Damit werden die sozialtheoretischen Voraussetzungen einer Einsetzung des Petrus zum „Apostelfürsten“ (im emphatischen Sinn der im I. Buch entwickelten Charakteristik zur Erörterung gestellt, bevor die „historische“ Frage beantwortet werden kann, was eigentlich geschehen ist, als Christus den Petrus mit der Leitung der Kirche beauftragte. Wie sich im Gespräch auch alsbald herausstellt, zielt die Frage darauf, ob die Leitung der Kirche „am besten“ geregelt werden konnte durch einen monarchischen princeps apostolorum (wie er nach dem Vorbild etwa des römischen Kaiserrechts als 39 In III.1 Dialogus I.17 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 182–193) werden zunächst eingehend die von Christus unmittelbar an Petrus übertragenen besonderen Kompetenzen genannt, um schließlich noch die später dann von Menschen dem Apostel und seinen Nachfolgern, den Päpsten durch Menschen aufgetragenen Amtskompetenzen darzulegen. Das unterscheidet sich erheblich von der Schilderung des Marsilius zur kirchengeschichtlichen Entwicklung, greift aber ein Thema auf, das im Defensor pacis präludiert worden war. 40 III.1 Dialogus II.1 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 194f.): Ideo de ipsa diffuse aliquantulum inquiramus, incipientes a prima eius particula: an scilicet Christus constituerit beatum Petrum caput, principem et prelatum aliorum apostolorum et universorum fidelium. Ad cuius intelligenciam pleniorem ante omnia conferendo scrutemur an expediat toti communitati fidelium uni capiti, principi et prelato fideli sub Christo subici et subesse.

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princeps, Kaiser und Fürst vorstellbar ist) oder in einer anderen Verfassungsform, etwa der „aristokratischen“ Regierung durch eine Mehrzahl von gleichberechtigten Regenten – denn Christus konnte seiner Kirche nur eine Verfassung geben, die „der besten Vorsorge“ für die Zukunft entsprach41. Damit prüft dies Vorhaben, sehr abgekürzt und etwas vergröbernd gesagt, die Überlegungen, die Christus bei seinem Auftrag an Petrus geleitet haben könnten, unter der Voraussetzung des aristotelischen Verfassungsschemas. Diese Voraussetzung macht dann wirklich das gesamte II. Buch der Abhandlung De potestate papae et cleri zu einer differenzierten Abwägung zwischen einer Regierung durch einen einzigen Regenten und einer Leitung durch eine Mehrzahl. Immer wieder wird hier die Überlegung des Aristoteles geprüft, dass eine Monarchie dann die beste Verfassungsform sein könne, wenn wirklich ‚der Beste‘ an der Spitze steht oder an sie gestellt wird, während die Regierung durch einen einzelnen „Schlechten“ allergrößte Gefahren für alle Untergebenen herbeiführen muss. Die Erfahrungen mit dem Ketzerpapst glaubt man hier durchzuhören! Markant erklärt etwa der Lehrer in den letzten zusammenfassenden Sätzen des Buches II, was er von der weltlichen „staatlichen“ Organisation der Menschen hält: Dennoch ist das Königtum [d. h. hier die „Monarchie“] nicht die beste Verfassung im gesamten Erdkreis und auch nicht in jedem Teil der Erde, denn der gesamte Erdkreis und verschiedene Königreiche werden besser regiert von einer Mehrzahl von Herrschern, von denen keiner höher steht als ein anderer, als von einem allein. [...] Es ist der Gesamtheit der Sterblichen nicht zuträglich, von einem einzigen Alleinherrscher über den gesamten Erdkreis regiert zu werden. Vielmehr ist es ihr in der Regel zuträglich, von einer Mehrzahl von Herrschern geleitet zu werden, von denen keiner höher steht als ein anderer, wenngleich es in einem bestimmten Fall, der eintreten könnte, eher zuträglich wäre, wenn der gesamte Erdkreis von einem einzigen [Manne] regiert wird, als von mehreren42. 41 Dieses Argument zieht sich stets durch Ockhams Überlegungen zur durch Christus selbst gestifteten Kirchenverfassung und lässt sich in zahlreichen Stellen immer wieder finden. Argumentativ vorgebildet war diese Vorstellung in der Kanonistik, vor allem bei dem Juristenpapst Innozenz IV., der in seiner Lectura zum Liber Extra (unter X 2.27.27) auch dem eigenen Absetzungsdekret gegen den Stauferkaiser Friedrich II. (Ad apostolicae dignitatis von 1245) eine Glossierung widmet, obwohl diese Dekretale noch nicht im Liber Extra enthalten war (in Auszügen gedruckt auch etwa in: Miethke/Bühler (Hg.): Kaiser und Papst, S. 111f., dort s. v. privamus: papa deponit imperatorem [...] et est hoc de iure, nam cum Christus filius dei, dum fuit in hoc seculo et etiam ab eterno dominus naturalis fuit et de iure naturali in imperatores et quoscumque alios sententias depositionis ferre potuisset et damnationis et quascumque alias utpote in personas, quas creaverat [...], et eadem ratione et vicarius eius potest hoc, nam non videretur discretus dominus fuisse, ut cum reverentia eius loquar, nisi unicum post se talem vicarium reliquisset, qui haec omnia posset. Fuit autem iste vicarius Petrus [...]. 42 III.1 Dialogus II.30 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 388f.): […] regnum non est optima poli-

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Die letzte Einschränkung verdeutlicht wiederum Ockhams kasuistische Vorsicht. Auch im Fall der staatlichen Organisation ist eine für immer gültige generelle Aussage unmöglich. Es kommt stets darauf an, einen möglichen Sonderfall zu identifizieren, für den dann alle Rahmenbedingungen neu geprüft werden müssen, ob sie noch Handlungsmöglichkeiten übrig lassen oder neue Wege erfordern und damit eröffnen. Immer wieder hat Ockham im windungsreichen Fortgang seiner Erörterung des II. Buches im Für und Wider von Einzelbelegen und juristisch-kanonistischen oder historisch-theologischen Argumenten auf die mögliche Diskrepanz zwischen dem Verfassungsrahmen im Normalfall und den Ausnahmebedingungen jedes „Sonderfalls“ hingewiesen, die er unermüdlich aufsucht und beschreibt. So hat er etwa immer wieder das aristotelische Argument zugunsten der Monarchie als geeigneter Leitungsstruktur bestätigt. Wenn ein Einzelner „der Beste“ ist, dann muss er auch zum Herrscher erhoben werden. Doch überlegt der Lehrer (fast) immer sogleich, was zu tun ist, wenn „der Allerbeste“ nicht zu finden ist. Mehrmals kommt er zu dem Ergebnis, dann müsse zumindest ein „guter“ und vor allem ein „geeigneter“43 Bewerber gefunden werden, der dann auch, sei es zum Herrscher, sei es zum Papst zu wählen sei. Solche Überlegungen lassen sich sogar bisweilen direkt auf den Defensor pacis beziehen44. Marsilius hatte die These entwickelt, Christus habe alle Priester und die Apostel ausschließlich mit der Verwaltung der Sakramente und der Verkündigung betraut und ihnen keinerlei „Zwangsgewalt“ (potestas coactiva) verliehen45. Sehr viel schwieriger war von dieser Basis aus freilich die Ekklesiologie zu konstruieren, wenn die traditionelle Auslegung der Betrauung des Petrus mit der Schlüsselgewalt durch Christus selbst in Rechnung zu stellen war, was Ockham offenbar festhalten wollte. Marsilius von Padua hatte einen radikalen Schnitt vollzogen, indem er die cia in toto orbe nec in omni parte orbis, quia totus orbis et diversa regna melius reguntur a pluribus quorum nullus sit superior alio quam ab uno solo. […] Non expedit universitati mortalium ut regatur ab uno monarcha tocius orbis, sed regulariter expedit ut regatur a pluribus quorum nullus sit superior alio, quamvis in aliquo casu qui possit accidere magis expediret quod totus orbis regeretur ab uno quam a pluribus. 43 In aller Breite wird die notwendige „Idoneität“ des Bewerbers immer wieder herausgestellt: III.1 Dialogus II.11–17 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 258–293). Damit unterstreicht Ockham den traditionellen Gesichtspunkt der „Idoneität“. Im Text tauchen auch idoneus und idoneitas immer wieder zentral auf, vgl. etwa III.1 Dialogus II.11; II.15; II.17 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 258, 268, 270, 288, 302)! 44 Evident etwa in III.1 Dialogus II.19 (302, 304; bzw. 670), wo über die idoneitas principantis gesprochen wird und mit principans eine typisch marsilianische (aus dem Griechischen des Aristoteles übersetzte) Bezeichnung eines princeps Verwendung findet, die für Marsilius charakteristisch ist, die im Defensor pacis auch etwa in pars principans gebraucht wird. 45 Nachweise zuletzt bei Miethke, in: Marsilius von Padua. Defensor pacis, ed. Kusch/Miethke, S. LXVIII–LXII.

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gesamte Tradition für fehlgeleitet erklärte, wollte er doch nachweisen, dass Christus in seinem irdischen Leben ebenso wie nach Ostern Petrus niemals allein mit der eigentlich geistlichen Kompetenz begabt habe, sondern zu verschiedenen Malen stets allen seinen Jüngern gemeinsam die priesterliche Kernkompetenz anvertraut hat. Leitungsaufgaben in der Kirche seien von Anfang an aus menschlicher Entscheidung durch Wahlen – Marsilius spricht ausdrücklich von einer eleccio – und durch gemeinsame Beschlüsse, jedenfalls nicht durch einen göttlichen Auftrag vergeben worden.46 Ockham holt diese Argumentation auf die Ebene der aristotelischen Sozialtheorie zurück, indem er die theologische Tradition der „Einsetzung“ des Petrus durch Christus selbst in ausgedehnten Erörterungen dadurch auf die Probe stellt, dass er die Konsequenzen aus dieser „göttlich“ gegebenen Verfassungseinrichtung bedenkt: Hat Christus damit nicht die Einheit der Kirche an den einen Prälaten und Papst unabdingbar gebunden? Bleibt der Kirche damit jegliche Kompetenz zur Veränderung dieser sanktionierten Verfassung, also etwa jeder Wechsel und jede gewollte Veränderung der „Monarchie“, des kirchlichen regnum zu einer „aristokratischen“ Regierungsverfassung versagt? Diese beunruhigende Frage wird verschiedentlich aufgeworfen. Einmal etwa fragt der Schüler: […] berichte, wie auf die Worte des Aristoteles geantwortet wird, in denen er anscheinend den Schluss zieht, dass eine Aristokratie besser ist und erstrebenswerter als das Königtum. [Lehrer:] Die Antwort ist: Aristoteles möchte doch nicht den Schluss ziehen, dass eine Aristokratie schlechthin und immer besser und erstrebenswerter ist als das Königtum, auch wenn die Regierung durch einen Einzelnen, der der Beste ist, ausgeübt wird. Vielmehr möchte er den Schluss ziehen, dass eine Aristokratie bisweilen besser und erstrebenswerter ist als das Königtum47.

Damit wird hier von vorneherein verdeutlicht, dass es auch bei Aristoteles nicht um immer gültige Strukturen geht, sondern um die Beurteilung von einzelnen Situationen und unterschiedlichen „Fällen“ (casus). Auch die Feststellung des griechischen Philosophen, dass eine aristokratische Verfassung einer Monarchie vorzuziehen ist, gilt nicht immer und überall, sondern nur „bisweilen“. Es ist dann nicht mehr allzu weit 46 Marsilius von Padua. Defensor pacis, II.15.8–10, ed. Scholz, S. 331–336. Zu eleccio etwa die Bemerkungen von Miethke, in: Marsilius von Padua. Defensor pacis, ed. Kusch/Miethke, S. LXXf.; allgemein zum (häufigen) Gebrauch des Wortes vgl. dort das Wort- und Sachregister, S. 1154f. 47 III.1 Dialogus II.19 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 308): Nunc narra quomodo respondetur ad verba Aristotelis [Politik III.15, 1286a38–b8] quibus videtur concludere quod aristocracia melior et eligibilior est quam regnum. Magister: Respondetur quod non intendit Aristoteles concludere quod simpliciter et semper melior est et eligibilior aristocracia quam regnum, eciam si regitur ab uno optimo vel bono, sed intendit concludere quod interdum melior est et eligibilior aristocracia quam regnum.

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hergeholt, wenn Ockham im unmittelbar folgenden Kapitel den Spieß umdreht, den er hier listig gegen die aristokratische Verfassung gerichtet hatte, und nun konstatiert, dass auch die kirchliche Verfassung, und das heißt die Herrschaft des Papstes in der Kirche, zwar von Gott allein eingerichtet wurde, dass es jedoch damit keineswegs ausgeschlossen sei, dass sie in vielem doch offensichtlich menschlich ist: Mag auch die päpstliche Herrschaft göttlich sein vor allem deswegen, weil Christus angeordnet hat, dass es sie in der Kirche geben soll, in vielen Dingen ist sie aber doch offensichtlich menschlich: Menschen nämlich kommt es zu, anzuordnen, wer zu dieser Herrschaft zu berufen ist, wer das Wahlrecht ausüben soll, wer den Erwählten zurechtzuweisen hat, wenn er einer Zurechtweisung bedarf, u. dgl. Also wird sie auch hinsichtlich dessen menschlich sein, dass durch Menschen angeordnet werden muss, ob nur ein Einziger oder eine Mehrzahl von Menschen, wenn das zuträglich ist, zu solcher Herrschaft bestellt werden sollen48.

Zusätzlich gibt der Lehrer zu bedenken, Christus habe es der Kirche doch an nichts Notwendigem fehlen lassen können, also habe er ihr auch die Möglichkeit geben müssen, eine durch die Herrschaft eines „Schlechten“ ins Verderben geführten Kirche wieder zurechtzubringen, etwa durch die Veränderung (mutare) der Kirchenverfassung aus einer „monarchisch“ papalen zu einer „aristokratischen“, zumal die königliche Verfassung, mag sie auch prinzipiell die beste Verfassungsform sein, doch stets in die allerschlechteste (die Tyrannei) entarten kann. Damit wird hier übrigens ein Argument aufgenommen, dass Thomas von Aquin in seiner Schrift De regno ad regem Cypri bereits unübersehbar benutzt hatte49. Nach eingehender Betrachtung zahlreicher Argumente und Beispiele aus kanonistischen Belegen, (darunter auch pseudoisidorischen Dekretalen), die er in Gratians Dekret finden konnte, sowie auch aus anderen Quellen (wie der ausführlich herangezogenen „Kirchengeschichte“ Eusebs, welche Marsilius nicht benutzt hatte), die im Für und Wider ausführlich besprochen werden, kann der Lehrer eindeutig resümieren: Wenn in einer Notlage oder zum Nutzen der Gesamtkirche der monarchische Papst durch eine Mehrzahl von Amtsträgern ersetzt würde, dann wäre das erlaubt und würde nichts daran ändern, dass diese Amtsträger als vere apostolici betrachtet werden 48 III.1 Dialogus II.20 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 312): […] licet principatus papalis sit quoad hoc divinus, quod Christus ordinavit ipsum debere esse in ecclesia, quantum ad multa tamen videtur esse humanus. Nam ad homines pertinet ordinare quis assumi debeat ad ipsum, et qui debeant eligere, et qui debeant assumptum corrigere si correccione indigeat, et consimilia. Ergo consimiliter quantum ad hoc erit humanus, quod per homines debeat ordinari an unus tantummodo vel plures, quando expedierit, ad talem assumi debeat principatum. 49 Dazu Schmidt: König und Tyrann. Allgemein zu der Schrift des Thomas etwa Miethke: Schrift.

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müssen, das heißt als wahre Nachfolger nicht allein der Apostel, sondern damit auch des Apostels Petrus selbst. Damit ist jeder von ihnen als Vicarius Christi zu betrachten. Das könne bereits an der Analogie zu der weltlichen Herrschaftsordnung abgelesen werden, da es im Römischen Reich (seit Diokletian) ein System mehrerer gleichzeitiger Kaiser gegeben habe. In den europäischen Königreichen gebe es auch „bisweilen“ (aliquando) eine Mehrzahl von Königen nebeneinander, wenn etwa Vater und Sohn nebeneinander regierten, ohne dass die Einheit des Reichs damit aufgehoben sei. Vielmehr sei ihre völlige Einheit im Übergang der Generationen kontinuierlich beibehalten worden50. Bezeichnend genug bekräftigt Ockham diese Aussage noch damit, dass er die Pluralisierung der Herrschaftsträger in den verschiedenen Päpsten nebeneinander sorgfältig von dem ursprünglich ins Auge gefassten Erklärungsmodell „aristokratisch“ geteilter Herrschaft unterscheidet, denn eine Gruppe je für sich zur alleinigen Herrschaft Berechtigten übe keine „aristokratische“ Herrschaft im Sinne des aristotelischen Schemas. Dann untersucht er noch in einem Gedankenexperiment, ob auch eine Mehrzahl auf weiteren Ebenen der Amtshierarchie, etwa bei Primas-Erzbischöfen und Metropoliten denkbar und möglich seien. Überall kommt er zu dem Schluss, dass damit die im Epheserbrief [4:4–6] so prononciert angesprochene Einheit der Kirche durch die Vervielfachung der Ämter nicht notwendig aufgehoben würde. Gewissermaßen eine Bestätigung aus einem anderen Gesichtswinkel erfährt der Schüler schließlich am Ende des von Ockham ausgearbeiteten Textes in einer Zusammenfassung, die noch einmal auf die Thesen des II. Buches zurückverweist. Um erneut dem Argument zu begegnen, mit seinem Auftrag an Petrus habe Christus unabänderlich die „königliche“ Herrschaftsform und Verfassung für die Gesamtkirche festgelegt und damit die monarchische Rolle des Papstes für alle Zeiten festgeschrieben, gebraucht der Lehrer ein sonst ganz und gar ungewöhnliches Argument, das er durch eine überraschende Verbindung politiktheoretisch-psychologischer „aristotelischer“ Analyse von Amtsbesetzungen mit einer „theologisch“ motivierten Erkenntnistheorie über das göttliche Wissen Christi entwickelt: Der Lehrer betont damit die unterschied50 III.1 Dialogus II.26 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 362): quamvis propter necessitatem vel utilitatem essent plures principantes [!] catholicis, tamen principatus eorum esset apostolicus et quilibet eorum esset vere successor beati Petri et vicarius Christi, quemadmodum si essent plures imperatores, quilibet eorum esset verus imperator. Et ita quamvis essent simul plures apostolici, tamen ecclesia esset vere in apostolica radice fundata et esset principatus apostolicus vere per successiones episcoporum absque omni scismate continuatus, si unanimes, pro utilitate communi, de concordi voluntate fidelium, plures simul in apostolica sede sederent, quemadmodum imperium Romanorum fuit unum et idem per successiones imperatorum continuatum quando fuerunt simul plures imperatores et quando fuit unus solus. Sic eciam in diversis regnis simul aliquando fuerunt plures reges, scilicet pater et filius, et tamen idem fuit regnum et per successiones regum continuatum.

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liche „Gewissheit“ der Erkenntnis politisch handelnder Menschen im Vergleich zur göttlichen Klarsicht Christi bei der Auswahl des Petrus für das Schlüsselamt. Daraus leitet er die Freiheit der mit beschränkter Einsicht handelnden Menschen im Vergleich zu dem aus unerreichbarer Klarheit der Erkenntnis handelnden Gottessohnes bei der Wahl von Amtsträgern ab. Christus „wusste“ jedenfalls ganz sicher, dass Petrus der geeignetste und vielleicht auch der Allerbeste für das vorgesehene Schlüsselamt war. Den Menschen in der Kirche, denen diese göttliche Klarheit nicht zur Verfügung steht, muss aber die Möglichkeit bleiben, diesem Defizit zum Trotz im Falle einer Notwendigkeit oder bei evidentem Nutzen einer Maßnahme dieses unerreichbare Vorbild eines Wahlhandelns nicht etwa ewig nachzuahmen. Sie müssen vielmehr „neue“ Wege beschreiten und auf eine Wahl unter bestimmten Umständen überhaupt verzichten oder aber auch, wenn das hilft, mehrere Amtsträger bestellen, die gemeinsam die von Christus vorgesehene Funktion der Kirchenleitung ausfüllen könnten. Das erste, jahrelange Sedisvakanzen beim Heiligen Stuhl, hat es in der Kirchengeschichte bereits häufiger gegeben. Also dürfen die Christen offenbar folgern, dass eine Mehrzahl von Päpsten nebeneinander nicht notwendig eine Zertrennung der kirchlichen Einheit bedeute, wie sie im Epheserbrief so energisch eingefordert wird. Geschichtliche Erfahrung also belegt für Ockham, dass seine These zutrifft: Der Kirche war es von größerem Vorteil, dass Christus, der mit größter Gewissheit wusste, wer für die Leitung [der Kirche] der Bestgeeignete war, den Petrus erhob, als wenn die Kirche ihn gewählt hätte, die von seiner besten Eignung nur vermutungsweise wissen konnte. Christus hat also nach der Meinung mancher Leute damit, dass er ihr einen Einzelnen voranstellte, seiner Kirche die beste Regierungsform verbindlich gemacht mit der Ausnahme eines Falls eindeutiger Notwendigkeit oder eindeutigen Nutzens. Indem er aber nicht irgendjemanden, sondern Petrus zum Leiter bestimmte, der entweder schlechthin der Allerbeste war oder doch der Beste und für die Leitung der am besten Geeignete, hat er in dieser Tat deutlich gemacht, dass er seine Kirche auf die beste Leitungsform ausschließlich dergestalt verpflichtet hat, dass sie im Falle einer eindeutigen Notwendigkeit oder ebensolchen [eindeutigen] Nutzens diese Form der Leitung überspringen oder auch verändern [!] könne, indem sie eben niemanden wählte oder auch mehrere, wenn das eine oder das andere der Gemeinschaft der Gläubigen eindeutig eher zuträglich wäre, oder wenn sie sich zu einem von beidem gezwungen sähe, wie es schon einmal sinnvoll war, dass die Gläubigen mehrere Jahre lang den Apostolischen Stuhl vakant gelassen haben […]51. 51 III.1 Dialogus IV.24 (Ockham. Amtsvollmacht, ed. Miethke, S. 670): Plus autem profuit ecclesie quod Christus, qui scivit certissime quis esset magis idoneus ad regendum, prefecit Petrum, quam si ecclesia, que non nisi per coniecturam scire potuit maiorem idoneitatem ipsius, elegisset eundem. Christus itaque, secundum quosdam, preficiendo unum alligavit ecclesiam suam optimo generi regiminis extra casum

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Hier brauchen wir nicht mehr die Aufsplitterung der Argumentation in zahlreiche Einzelüberlegungen zu verfolgen, die sich sorgfältig möglichst vielen „klassischen“ Argumenten widmet. Ständig wird das Organisationsmodell einer spontan am allgemeinen Wohl orientierten Handlungsmacht verteidigt und in die jeweiligen Rechtsgrundlagen hinein subtil verfolgt. Das muss nicht bedeuten, dass jede dieser Argumentationen noch heute überzeugen könnte. Schon 30 Jahre, eine Generation nach Ockhams Tod, wird das sogenannte „Große Schisma“ die lateinische Christenheit für Jahrzehnte (von 1378 bis 1415 und länger) in eine verwirrende Krise führen, ohne dass dieses Angebot Ockhams direkt in die Erwägungen zu den Wegen aus dem Schisma eingegangen wäre52. Doch kann das den Doppelbezug auf Freiheit und Verantwortung der politisch handelnden Menschen nicht aufheben, den Ockham unermüdlich vertreten hat. Auch heute noch macht diese Diskrepanz politisches Handeln zu einem schwierigen Geschäft.

Bibliographie Quellen Goldast, Melchior (Hg.): Monarchia Sacri Romani Imperii, Bd. 2, Frankfurt am Main 1614. Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica ad fidem codicum manuscriptorum, edita cura Instituti Franciscani universitatis S. Bonaventurae [= OTh bzw. OPh], OTh I–X, St. Bonaventure, NY 1967–1986; OPh I–VII, St. Bonaventure, NY 1977–1988. Guillelmi de Ockham [bzw.: William Ockham]: Opera politica [= OPol] [Bd. I, ed. Jeffrey Garret Sikes u. a., Manchester 1940], Bd. I2, II, III, ed. Hilary Seton Offler, Manchester 1963, 1956, 1974, bzw. OPol IV, ed. Hilary Seton Offler (Auctores Britannici Medii Aevi, 14), Oxford 1998; OPol VIII: William of Ockham: Dialogus, Part 2; Part 3, Tract 1, ed. John Kilcullen u. a., Oxford 2011 (Auctores Britannici Medii Aevi, 20). Marsilius von Padua. Defensor pacis, ed. Richard Scholz, Hannover 1933 (Monumenta Germaniae Historica. Leges, 8). Marsilius von Padua. Defensor pacis. Der Verteidiger des Friedens, auf der Grundlage der Edition von Richard Scholz übersetzt, bearb. und kommentiert v. Horst Kusch (†) [11958], neu eingeleitet v. Jürgen Miethke, Darmstadt 2017 (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Reihe A: Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, 50). manifeste necessitates vel utilitatis. Preficiendo autem non quemcumque unum sed Petrum, qui vel erat simpliciter optimus inter omnes vel optimus et maxime idoneus ad regendum, innuit facto quod non taliter ecclesiam suam optimo generi regiminis obligavit quin in casu manifeste necessitatis vel utilitatis posset modum illum regendi omittere vel mutare, nullum scilicet eligendo vel eligendo plures, si unum vel alterum manifeste communitati fidelium expediret, vel aliquod illorum facere cogeretur, sicut aliquando oportuit fideles dimittere per plures annos vacare apostolicam sedem. 52 Zum konkreten Weg, die via concilii, vgl. etwa Miethke: Via concilii.

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„Geht ein Mann zum Papst …“ – Humor und Ironie in der juristischen Kommentarliteratur des Spätmittelalters Kerstin Hitzbleck

Die juristische Zunft des Mittelalters ist humoristischer Umtriebe unverdächtig. Diesen Schluss legt jedenfalls die Lektüre des schönen Bandes von Gerd Althoff und Christel Meier über Ironie im Mittelalter nahe, die sich, ausgehend von den Erkenntnissen der Literaturwissenschaften1, auf der Suche nach dem Humor im Mittelalter der theologischen Kommentarliteratur, heilsgeschichtlichen Texten, der Historiographie, dem Schrifttum der Klöster und der mündlichen Kommunikation zuwenden, während die juristischen Texte der Zeit gar nicht erst in den Fokus der Untersuchung geraten. Dies erstaunt umso mehr, als das juristische Denken in seinem Kampf um die korrekte oder die unanfechtbare Formulierung, um die Auffindung der gesetzgeberischen Lücke, aber ganz grundsätzlich auch in seiner Mittlerposition im Spannungsfeld von rechtlicher Norm und alltäglicher Praxis geradezu prädestiniert zu sein scheint für doppelsinnige Bemerkungen und ironische Kommentare. Und tatsächlich führt die Arbeit mit juristischer, im vorliegenden Falle kanonistischer Kommentarliteratur des Spätmittelalters bei der Lektüre zwar nicht regelmäßig zu Heiterkeitsausbrüchen, doch sieht der Leser sich immer wieder mit Situationen konfrontiert, in denen die Überlegung zumindest naheliegt, dass der ehrwürdige Autor sich einen bissigen Kommentar erlaubt haben könnte. Wenn etwa der südfranzösische Jurist Guillaume de Montlauzun († 1343) in seinen Ausführungen zur Dekretale Sedes (Extr. Comm. 1.6.1) Johannes’ XXII. bezüglich des in der Praxis offenbar recht kreativen Umgangs mit päpstlichen Provisionsreskripten lakonisch meint Quotidie hoc faciunt, quo iure non video2, schmunzelt man nach Stunden und Tagen zwischen Staunen und Verzweiflung verbrachter Lektüre unwillkürlich – die wussten es also auch nicht! Doch schmunzelt man unbegründet? Ist das nun tatsächlich auch hintersinnig gedacht, oder erweckt die 1

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Für weiterführende Literatur siehe das Literaturverzeichnis bei Althoff/Meier (Hg.): Ironie. Einen weiterführenden Einblick in die Forschung zur Ironie in antiken Texten bietet Glei (Hg.): Ironie, besonders die Einleitung des Herausgebers, Glei: Einleitung, sowie der grundsätzliche Beitrag von Heckel: Was ist Ironie? Einen breiteren Überblick über den Einsatz von Humor und Ironie im Mittelalter bietet Grebe/Staubach (Hg.): Komik und Sakralität. Guillaume de Montlauzun, Glosse executores zu Sedes (Extr. comm. 1.6.1).

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zeitliche und fachliche Distanz nur den Eindruck von Spott und lakonischer Ironie? Darf man sich Guillaume tatsächlich mit hochgezogener Augenbraue denken? Darf man sich vorstellen, dass seine akademischen Schüler in der Vorlesung anlässlich dieses Bonmots subtil gekichert haben? Ist Ironie, ist Humor ein „Tatbestand“3, unter den sich demnach gewisse Äußerungen in der juristischen Kommentarliteratur des Spätmittelalters subsumieren lassen würden? Ich möchte im folgenden nach einigen einleitenden Bemerkungen zum Wesen und zum Gebrauch von Ironie in Texten des Mittelalters den Blick auf ausgewählte Beispiele aus der spätmittelalterlichen kanonistischen Kommentarliteratur lenken, welche Anlass zu der Vermutung geben, dass ungeachtet des meist als trocken erachteten juristischen Sujets zumindest einige Autoren in ihren Werken eine Neigung zu Humor und Ironie erkennen lassen. Und wie unter den Geschichtsschreibern scheinen auch unter den spätmittelalterlichen Kanonisten Neigung und Talent zur witzigen Bemerkung durchaus ungleichmäßig verteilt. Bei der Recherche ist die Autorin dieser Zeilen der Methode Gerd Althoffs gefolgt, der sich auf der Suche nach der Ironie bei den Historiographen des Hochmittelalters darauf verlegte, bei Ironieverdacht ein Eselsohr in seine MGH-Ausgabe der Scriptores zu knicken, um schließlich festzustellen, dass etwa der Band mit den Annalen Lamperts von Hersfeld eine signifikante Spitze an Knickstellen aufwies4. Und auch wenn auf die Eselsohren in diesem Falle verzichtet wurde, fanden sich am Ende mehr rosa Zettel bei Guillaume de Montlauzun als bei Johannes Andreae, mehr bei Hostiensis als bei Panormitanus. Wobei Humor und Ironie freilich erst einmal entdeckt sein wollen, weshalb eine hermeneutische Einschränkung angesichts der im Vergleich zur historiographischen Überlieferung des Früh- und Hochmittelalters schier unüberschaubaren Menge an kanonistischer Kommentarliteratur des Spätmittelalters ratsam schien. Da das Erkennen abseitiger und womöglich ironischer und lustiger Bemerkungen eine gewisse Vertrautheit mit dem traktierten Sujet voraussetzt5, konzentrierte sich die Suche weitgehend auf die Literatur zum päpstlichen Benefizialwesen, was allerdings nicht bedeutet, dass sich nicht auch anderswo Beispiele für juristischen Humorgebrauch finden lassen würden6. Entsprechend sind die folgenden Überlegungen als Versuchsballon zu 3 4 5

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Althoff/Meier (Hg.): Ironie, S. 9. Ob die Autoren dieses Werkes wussten, dass sie hier einen genuin juristischen Begriff benutzen? Mündliche Schilderung von Gerd Althoff. „Wenn Ironie eine ambivalente, indirekte Redeweise ist, […] setzt das Erkennen und Verstehen von Ironie […] Vertrautheit mit den Kontexten der Kommunikationsakte bei den Forschern voraus“, Althoff/Meier (Hg.): Ironie, S. 12f. So ist der Kommentar des Helia Regnier zur Dekretale Quoniam (Clem. 3.1.1) zumindest einer ironischen Spitze verdächtig: In dieser auf dem Konzil von Vienne entstandenen Dekretale versucht Clemens V. zu definieren, welche Bekleidung für einen Kleriker angemessen ist und wie Fehlverhalten

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sehen, welche hoffentlich den Blick für bislang vernachlässigte Dimensionen der juristischen Schriftlichkeit des Mittelalters öffnen können. Denn wie das Recht und das Rechtswesen als Norm und Kommentar der Lebenswirklichkeit gelesen werden können, erschließt sich im Augenzwinkern des Rechtslehrers womöglich die zeitgenössische Perspektive auf die Norm in der Welt und gibt damit einen Hinweis auf die Mentalität des akademischen Gelehrten in seiner Zeit. Denn Juristen mögen Paragraphenreiter, mögen Virtuosen der Gesetzeslücke sein – sie sind es nicht zuletzt aus der Not, die Lebensrealität in ihrer Vielfältigkeit in die stets zu kurze Decke der Rechtsnorm wickeln zu müssen7. Jakob Burckhardt mag der Meinung gewesen sein, dass der Witz kein „selbständiges Element des Lebens“ im Mittelalter war, gar nicht sein konnte, weil eben erst in der Renaissance „das ausgebildete Individuum mit persönlichen Ansprüchen“ „als sein regelmäßiges Opfer“ in die Welt getreten sei8. Doch wird heute wohl kein Forscher mehr bestreiten wollen, dass auch die Menschen des Mittelalters grundsätzlich witzund ironiefähig gewesen sind9, die mittelalterliche, an der Antike geschulte Rhetorik wie sogar Theologie und Philosophie sich intensiv mit dem sprachlichen Phänomen der Ironie als uneigentlichem Sprechen auseinandergesetzt haben. Die Studien Althoffs über die Ironie in den Werken hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber belegen

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geahndet werden soll, wobei er zwischen den unterschiedlichen Weihegraden unterscheidet. Der Text der Dekretale wird – durchaus zum Erstaunen der Autorin – rege kommentiert. Helia verzichtet hier allerdings auf einen casus, beschränkt sich stattdessen auf vergleichsweise kurze Bemerkungen. Er fasst zunächst den Inhalt der Dekretale zusammen: Dicit quod clerici debent abstinere a veste diverso colore colorata et si utantur publice ipsi incurrunt penas hic contentas. Damit wäre der Tenor des Textes eigentlich hinreichend wiedergegeben, doch belässt Helia es eben nicht dabei und schiebt noch einen Satz nach, der sich auf den letzten Abschnitt der Konstitution bezieht, welcher den Klerikern verbietet, schachbrettartig gemusterte Beinkleider zu tragen. Bei Helia klingt das dann so: Sed queritur nunquid presbyteri possunt portare caligas scacatas. Dicit quod non. Hec dicit Helias Regnerii. Notwendig ist diese Erklärung nicht, auch werden in der Dekretale mit Hinblick auf die Beinkleider nur allgemein clerici, praesertim beneficiati erwähnt. Zusammen mit der expliziten Namensnennung stellt sich zumindest der Verdacht ein, dass Helia hier einen Kommentar für Insider gemacht haben könnte. Um dies endgültig zu entscheiden, wäre freilich eine genaue Analyse der Kommentartradition der Stelle notwendig, weshalb es hier bei der Vermutung bleiben soll. Mit dem steigenden Interesse an den Biographien mittelalterlicher Juristen wurde in den letzten Jahren auch die juristischen Kommentarliteratur für genuin historische Fragestellungen herangezogen, was geradezu zwangsläufig zu einer Verschiebung des Erkenntnisinteresses weg von Problemen etwa der Rechtsfortentwicklung hin zu Aspekten der mittelalterlichen Lebenswelt führen musste. Besonders zu erwähnen ist hier die Arbeit von Woelki: Pontano. Auch in seiner kleinen Studie zu den sogenannten singularia – kurzen Texten, welche ein juristisches Problem auf den Punkt bringen – stellt Woelki den Quellenwert dieser Textgattung auch für alltagsgeschichtliche Fragestellungen heraus, etwa hinsichtlich der Karrierestationen und des sozialen Umfelds der Autoren. Woelki: Singularia, S. 134–136. Burckhardt: Kultur der Renaissance, S. 166. Es sei an dieser Stelle einmal mehr auf die Einleitung des erhellenden Bandes von Gerd Althoff und Christel Meier verwiesen, Althoff/Meier (Hg.): Ironie, S. 11–16.

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denn auch eindrucksvoll die Existenz ironischer, witziger und beißender Kommentare, auch wenn zu konstatieren ist, dass die Kenntnis mittelalterlicher Ironiedefinitionen bei ihrer Dingfestmachung nicht unbedingt weiterhilft. So bedient sich auch Althoff selbst bei der Erkennung und Interpretation der ironischen Schilderungen eines Liutbrant von Cremona oder eines Lampert von Hersfeld zur Charakterisierung der jeweiligen Erzählhaltung des flexibleren Begriffs der „ironischen Distanz“10 ohne im Einzelfall jeweils mittelalterliche Ironiedefinitionen durchzudeklinieren. Althoffs Ausführungen zeigen zudem einmal mehr, dass Ironie als eine Form des uneigentlichen Sprechens sich von selbst oder nur unter allergrößten Mühen erklärt: Besonders die Beispiele für wohlwollende Ironie11 erweisen sich als in höchstem Maße erklärungsbedürftig und erschließen sich zumindest dem uneingeweihten Leser nicht ohne weiteres12. Doch in medias res. In diesem Fall bedeutet das, Witze zu erklären, was spätestens seit dem Diktum Wilhelm Diltheys, wonach Beobachten das Erleben zerstörte13, als absurdes Unterfangen gelten muss. Doch wollen wir uns davon nicht entmutigen lassen. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts verfasste der südfranzösische Kanonist Helia Regnier seine Casus longi zum Liber VI und zu den Clementinen. Auch wenn der Autor selbst in der rechtshistorischen Forschung kaum präsent und über die von ihm überlieferten Werke hinaus auch wenig genug von ihm bekannt ist14, haben zumindest einige dieser casus longi breitere Wirkung dadurch erzielen können, dass sie in der Frühneuzeit den kommentierten Ausgaben des Liber VI wie der Clementinen als Teil der Glossa ordinaria beigegeben worden sind, wenn auch ohne explizite Nennung ihres Urhebers15. Sie finden sich stets zu Beginn des Kommentars zu den einzelnen capitula und dienen der Beschreibung, Veranschaulichung und Klärung des in der

10 Althoff/Meier (Hg.): Ironie, S. 94. 11 Althoff/Meier (Hg.): Ironie, S. 98–104. 12 Besonders die Episoden vom Hof des polnischen Herzogs Boleslaw III. sind erst nach umfangreichen Erläuterungen Althoffs als ironieverdächtig erkennbar, Althoff/Meier (Hg.): Ironie, ebd. 13 Dilthey: Aufbau, S. 239. 14 Eine kurze, aber sehr wohlwollende Würdigung erfährt er durch immerhin Johannes Trithemius in dessen Liber de scriptoribus ecclesiasticis: Helias Regnier: Iureconsultus celeberrimus: et tam in divinis scripturis quam in saeculari philosophia egregie doctus: ingenio subtilis: eloquio clarus: consilio cautus: qui in gymnasio Pictavensi iura multo tempore publice docuit: Scripsit quaedam praeclara opuscula: quibus memoriam sui posteris commendavit: […] vivit adhuc in universitate Pictavensi: sub Maximiliano Rege: Anno Domini Millesimo CCCC XCIIII. Seine Erwähnung bei Friedrich von Schulte fügt dem außer der Verballhornung seines Namens zu „Helias Bognier“ und einigen Druckausgaben nichts hinzu. Schulte: Quellen I, S. 374 15 Die Autorin hat Helia Regniers casus zu Litteras (Clem. 1.2.5) in einer anderen Publikation deshalb fälschlich Francesco Zabarella zugewiesen, Hitzbleck, Exekutoren, S. 1.

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zugehörigen Dekretale behandelten Rechtsproblems16. Der größere Teil dieser kleinen Texte ist entsprechend nüchtern und erwartungsgemäß an den Lesebedürfnissen eines studentischen Publikums orientiert, wobei der Autor sich in vielen seiner casus der wörtlichen Rede bedient. Wo Helia neben einem ausgesprochen raumfordernden ego die fachtypischen Protagonisten Titius, Sempronius, Gaius und – hin und wieder – Berta auftreten lässt, wirken diese bisweilen wie lebensechte Beteiligte in einem Rechtsstreit, deren Handeln der Autor mit professioneller Distanz schildert.17 Die casus sind damit zum größeren Teil eine zwar anschauliche und lebensnahe, aber in keiner Weise außergewöhnliche, gar besonders reizvolle Lektüre. Doch gibt es Ausnahmen, erklärungsbedürftige Ausnahmen. Ein schon auf den ersten Blick erstaunlicher Fall ist der Kommentar zur Dekretale Litteras (Clem. 1.2.5) Clemens’ V., die in äußerster Kürze ein für den Umgang mit Benefizialreskripten zentrales Problem pragmatisch regelt: Ein päpstliches Benefizialreskript, welches zum Erwerb eines freiwerdenden Benefiziums (beneficio vacaturo) ausgestellt worden ist, darf nicht auf eine Stelle angewendet werden, die erst nach der Ausstellung der Urkunde geschaffen worden ist18. Soweit, so einfach. Der zugehörige casus des Helia Regnier erstaunt dann allerdings zunächst durch seine Länge, sodann durch seinen Inhalt, zuletzt durch seine Form, weshalb er hier vollständig wiedergegeben sei. Quidam cupidus beneficiorum (et per consequens credo, quod cupidus suae damnationis) ivit ad papam et eum requisivit, quod sibi provideret de beneficio aliquo, a quo posset levius et blandius in futurum sustentari. Papa videns, suam supplicationem esse gratiosam, dedit ei gratiam, quae erat datae mensis Ianuarii: in qua continebatur, quod provideretur sibi de beneficio proxime vacaturo. Iste reversus ad provinciam suam, non expectans nisi mortem alicuius, et cogitans quis antiquior curatus vel canonicus esset in ecclesia, et ipse videns, quod omnes erant iuvenes et non naturaliter in proximo morituri, valde contristatus est. Sed quid accidit? Certe una dierum accidit, quod quidam miles qui multas gallinas eundo et redeundo de bello devicerat existens in grabbato, tendens et anhelans ad mortem ut aliqualem recompensationem de forefactis suis Deo perageret, quandam capellam construxit et aedificavit: sic aedificatam dotare voluit, et centum marchas auri cuidam qui per tempora perpetua Deum, Mariam, et sanctos peroraret pro redemptione animae suae, contulit. His peractis ut 16 Zum casus als Gattung juristischer Literatur siehe Horn: Legistische Literatur, S. 328–330. Der Einschätzung des Autors, wonach die Casus-Literatur „als Literaturform noch weiterer Untersuchung“ bedarf, kann man sich auch nach über 40 Jahren nur anschließen. 17 Siehe etwa Regnier: Casus longi, Auditor (Clem. 1.2.3). Der mehrseitige Kommentar zu Romani (Clem. 2.9.1), in welcher Papst Clemens V. die von Heinrich VII. geleisteten Eide als Treueeide definiert, trägt Züge einer turbulenten historischen Erzählung. 18 Litteras nostras super conferendo tibi beneficio vacaturo directas, ad beneficium post datam ipsarum creatum statuimus non extendi (Clem. 1.2.5).

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donatio sua esset valida, et ut beneficium crearet in sua capella de novo aedificata, misit ad episcopum ut de licentia eius beneficium crearet, qui quidem episcopus, omnia quae voluit decretavit, et beneficium creavit calendis Novembris. Iste qui impetraverat gratiam suam, iocundus illam accepit, et episcopum requisivit, ut virtute gratiae suae beneficium sibi conferret. Episcopus videns istam gratiam et datam esse de calendis Ianuarii, et creationem beneficii de data calendarum Novembris, respondit: Amice ego non teneor tibi conferre beneficium istud noviter creatum, virtute tuae gratiae, quia tua gratia habet vires suas in beneficio ante datam tuae gratiae seu literarum tuarum, modo ista capella est creata post datam literarum tuarum. Iste impetrans non contentus de episcopo, ivit ad papam et narravit sibi casum, ut supra. Cui respondit papa: Amice, nos statuimus literas directas super beneficio vacaturo tibi conferendo, non extendi ad beneficium creatum post datam ipsarum litterarum.

Helia Regnier hat aus der im Grunde recht simplen Problemstellung der Dekretale eine ganze Geschichte gemacht, welche sich geradezu als Einblick in die Pfründenvergabe- wie die Lebenspraxis vor Ort liest. Entsprechend macht seine geradezu novellen­ hafte Geschichte den Eindruck eines bissigen Kommentars zur ambitio exsecrabilis19 der pfründensuchenden Kleriker wie zur Jenseitsangst der Laien, in welche Helia aus der Position des mit den juristischen wie mit den moralischen Problemen der Pfründenpraxis vertrauten Spezialisten Einblick hat. Gleich der erste Satz lässt aufmerken und vermuten, dass hier nicht einfach ein gewöhnlicher casus präsentiert wird. Ein Mann, begierig auf Benefizien – und damit, so Helia, begierig auf seine Verdammnis –, ging zum Papst und bat diesen, ihn mit einem weiteren Benefizium zu providieren, auf dass er umso leichter und angenehmer leben könne. Helia nutzt diese kurze Schilderung für gleich zwei Kommentare zur Entlarvung seiner geistlichen Zeitgenossen, wenn er zunächst die in der zeitgenössischen Beichtliteratur umfangreich diskutierte, dem Benefizialwesen inhärente Simoniegefahr aufnimmt20, um dann die Intention des Klerikers lakonisch zu beschreiben, 19 Exsecrabilis quorumdam tam religiosorum quam saecularium ambitio (Extr. Joh. 1.3.1). 20 Siehe etwa die umfassende Summa de poenitentia des Kanonisten und Kompilators des Liber X, Raymundus de Peñaforte, der sich unter dem Schlagwort De simonia auch zu den Gefahren äußert, welche des Streben nach kirchlichen Benefizien für das Seelenheil bedeutet. Raymundus de Peñaforte widmet den gesamten ersten Teil seiner Summa der Simonie, welche als die schlimmste aller kirchlichen Verbrechen gilt: Quoniam inter crimina ecclesiastica simoniaca haeresis obtinet primum locum, […] videndum est primo, quid sit simonia. Raymundus de Peñaforte. Summa, S. 3. Wie kritisch die Zeitgenossen – unabhängig von der faktischen Alternativlosigkeit des Systems – die päpstliche Provisionspraxis sahen, erhellt auch die farbige Schilderung bei Matthäus von Krakau, der den Papst eben wegen des Pfründenwesens als obersten Simonisten kritisiert, der dadurch die ganze Christenheit kompromittiere. Matthäus von Krakau. Squaloribus, S. 96f.: Certum est enim, quod supplicans sic pape ex intencione vult assequi ius ad beneficium vel dignitatem ecclesiasticam [...]. Et papa signans vult sibi hoc conferre per se vel per alium […]. Et quantum in utroque est, iste dat et ille acceptat, et hoc totum non fit nisi aliquo

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welche schlicht und ergreifend in dem Wunsch liegt, ein materiell angenehmeres Leben führen zu können. Der Papst entspricht seinem Wunsch, da gegen die Supplik formaljuristisch nichts einzuwenden ist, und versieht ihn mit einer Expektanz für das nächste vakante Benefizium, also ein Kanonikat an einem Kollegiatstift oder eine Pfarrstelle. Sodann folgt Helia seinem klerikalen Protagonisten in die Heimat, wo dieser nur noch darauf wartet, dass jemand sterben möge und sich dazu sogar in der Gegend umtut, um herauszufinden, wo denn ein älterer Kanoniker oder Kuratpriester zu finden sei. Doch leider sind alle Pfründeninhaber jung und auch in keiner Weise todgeweiht, was ihn sehr betrübt. Helia greift hier ein zentrales Problem des mittelalterlichen Benefizialwesens auf, denn selbstverständlich ist es grundsätzlich unzulässig, zum eigenen Vorteil auf den Tod eines Menschen zu hoffen21. Entsprechend nennen selbst die päpstlichen Benefizialreskripte niemals eine bestimmte, durch den absehbaren Tod des Inhabers freiwerdende Stelle, sondern sprechen immer allgemein und unbestimmt von einem beneficium vacaturum oder einer praebenda vacatura22. Ganz konkret war es also unmöglich, sich beim Papst gezielt eine Anwartschaft auf die Präbende des moribunden Kapitelsältesten zu besorgen. Wenn nicht die Möglichkeit der Absprache mit dem moribunden Kapitelsältesten gegeben war, bestand der einzige Weg zu dieser Pfründe darin, angesichts des näherrückenden Todes des Pfründeninhabers um die praebenda prima vacatura an der Kirche zu supplizieren und zu hoffen, dass kein Konkurrent mit einer früheren oder mächtigeren Urkunde um die Ecke biegen möge23. Helias Schilderung liest sich deshalb einerseits als wohl durchaus lebensweltlicher Einblick in die lokalen Wege zur Pfründe, zugleich aber auch als typisierende Überzeichnung klerikalen Verhaltens, wie sie unter anderem aus der kurienkritischen Arbeit des Matthäus von Krakau bekannt ist24. Dass der Beispielkleriker auch noch

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temporali, hinc dato et illinc accepto […]. Ergo quantum in eis est, ille vendit et iste emit spiritualia; ergo uterque est symoniacus; S. 106f.: adhuc forsan aliquis profundius volens impugnare predicta dicet, quod papa non committat symoniam. Et quia non dum audivi nec credo quemquam esse tam modice racionis, ut dicat papam quoad hoc scelus impeccabilem esse magis quam quoad alia peccata maiora ut heresim, vel minora ut fornicacionem. Siehe VI 3.7.2 Detestanda und VI 3.7.3 Ne captandae. Zu den verschiedenen Typen von Benefizialreskripten und den aus ihnen resultierenden, rechtlichen Konsequenzen siehe Hitzbleck: Exekutoren, S. 148–171 (unbestimmte Benefizien und Präbenden), S. 171–184 (eindeutig definierte Benefizien und Präbenden). Dass die Realität bisweilen an Zynismus nicht zu überbieten war und die Kleriker sich bei ihrem Streben nach einem auskömmlichen Benefizium von moralischen Bedenken nur wenig beeindruckt zeigten, wird aus einem Consilium des italienischen Rotaauditors Oldradus de Ponte († 1335) deutlich, wo angesichts des absehbaren Todes eines alten und moribunden Kanonikers der Neffe alles unternimmt, um sich dessen wohldotierte Stelle zu sichern. Der Fall wird ausführlich geschildert und besprochen bei Hitzbleck: Exekutoren, S. 128–131. Zu Person und Werk von Matthäus von Krakau siehe Nuding: Matthäus von Krakau; zu seinem Reformtraktat De squaloribus Curiae Romanae bes. S. 146–173. Matthäus von Krakau. Squaloribus, S.

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betrübt ist über den Mangel an bevorstehenden Todesfällen, charakterisiert seine ambitio exsecrabilis umso erbarmungsloser. Dabei hat man freilich nie das Gefühl, dass hier ein moralisches Lehrstück präsentiert würde, vielmehr erinnert die Schilderung in ihrer distanzierten Leichtigkeit an die Novellen, welche etwa Bocaccio in seinem Decameron erzählen lässt. Die anschließende Frage „Doch was geschah dann?“ unterstreicht den Erzählungscharakter des casus und leitet zum zweiten Teil des Sittengemäldes über, in dessen Zentrum nun ein Laie steht, ein Ritter nämlich. Da dieser auf seinen zahlreichen Kriegszügen multas gallinas devicerat, worunter wohl eine gewisse Neigung zum außerehelichen erotischen Abenteuer verstanden werden darf, fürchtet er auf der Bahre keuchend ob seiner Untaten um sein Seelenheil. Um seine Schuld vor Gott auszugleichen, erbaut und dotiert er eine Kapelle, in der ein Kleriker zur Rettung seiner Seele auf ewige Zeiten Gott, Maria und die Heiligen verehren solle. Helia erweist sich auch hier als bissiger und kritischer Zeitgenosse, der die von Laien oft geübte Praxis frommer Stiftungen im Angesicht des Todes als späte Heuchelei entlarvt. Helias pfründenjagender Kleriker greift, als er von dem neu geschaffenen Benefizium hört, glücklich zu seinem Reskript und bittet den zuständigen Bischof, ihm die Stelle zu übertragen. Und erst jetzt kommt Helia zum eigentlichen juristischen Gehalt der kommentierten Dekretale: Der Bischof verweigert die Kollation des Benefiziums mit dem Argument, dass die Gratie nur für solche Pfründen und Benefizien gelte, welche zum Zeitpunkt der Urkundenausstellung bereits existierten. Dies will unser Pfründenjäger nicht akzeptieren und macht sich ein weiteres Mal auf nach Rom. Der Papst bestätigt freilich nur die Meinung des Erzbischofs: Freund, wir haben entschieden, dass Dein Reskript nicht für solche Benefizien gelten soll, welche erst nach der Datierung desselben geschaffen worden sind. Die außergewöhnliche, ja geradezu novellenhafte Qualität dieser kleinen Erzählung erweist sich im direkten Vergleich mit dem Kommentar des Guillaume de Montlauzun. Auch Guillaume nutzt die Chance, die Dekretale mit Beispielen aus der Realität zu hinterlegen und bringt dabei sogar noch einen Hinweis auf seine persönliche Vertrautheit mit der päpstlichen Kurie unter: pone casum: sic vidi de facto in curia de quodam clerico sub forma pauperum […] ad presentationem cuiusdam abbatisse expectante. In dem in der Diözese Poitiers angesiedelten Fall hatte eine Äbtissin nach der Ausstellung der Urkunde eine Stelle geschaffen, welche der Kleriker dann natürlich nicht bekommen durfte. Der zweite Fall spielt in Cathalonia, wo durch eine testamen66: Tota siquidem curia et omnes officiales eius ac eorum ministri non apparent circa aliud occupari, sed dies ac noctes expendere, corda simul et copora fatigare, diligentissime scrutando et inquirendo vacancias […].

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tarische Stiftung eine neue Stelle geschaffen worden war. Für irgendwelche quasiliterarischen, anekdotischen Ausführungen nutzt Guillaume die Dekretale jedoch nicht und er verzichtet auch auf jeglichen ironischen Kommentar25. Auch an anderer Stelle zeigt sich Helia Regnier als lakonischer und bissiger Kommentator der Rechtsrealität seiner Zeit. In seinem casus zur Clementine Gratiae (Clem. 1.2.4) richtet er seinen Spott auf die studierten armen Kleriker, die an der Kurie in forma pauperum impetrierten, um dann nur allzu oft feststellen zu müssen, dass die Kollation des erwünschten Benefiziums auf sich warten ließ26. Die Dekretale selbst legt fest, dass ein Kleriker, der vor der Kollation eines Benefiziums sich auf anderem Wege eine andere Stelle verschafft, ohne sich der päpstlichen Urkunde zu bedienen, seines durch die Gratie erworbenen Rechtsanspruchs verlustig geht, und dies auch dann, wenn er die bereits erworbene Stelle resigniert. Auch diese Dekretale ist, wie schon Litteras von lakonischer Kürze und lässt grundsätzlich wenig Raum für Zweifel und juristische Spitzfindigkeit. Dies hindert Helia Regnier freilich nicht daran, wieder eine Art juristische Novelle zu schreiben, welche in der Druckausgabe eine komplette Spalte füllt und eine akademische Lehrsituation evoziert: His praesuppositis figura sic casum pro iuvenibus canonistis qui subtilitates iuris non noverunt, sine quibus profundi esse non possunt. Quidam Petrus ivit ad romanum pontificem. Ein gewisser Petrus ging zum Papst … Auch in diesem Fall greift Helia wieder intensiv auf das Stilmittel der wörtlichen Rede zurück, indem er den pfründensuchenden Kleriker im – fiktiven – Vieraugengespräch mit dem Papst zeigt. Zunächst lässt er den jungen und etwas naiven Kleriker seine Situation schildern: Pater sancte, ego per multos annos studui in iure canonico et ut studium mihi afferret aliquam utilitatem alias veni ad vos et impetravi gratiam quam gratis mihi contulistis favore mei studii, ut provideretur mihi de primo beneficio proxime vacaturo. Steti bene decem annos cum gratia vestra, quia per ipsam aliquod beneficium non potui habere. Videns hoc inveni alium modum taliter quod consecutus sum beneficium curatum, sed est modici valoris. Es geht dann weiter, wie es weitergehen muss: Der Rektor mee parochie ist gestorben, die Stelle ist deutlich besser dotiert als die bereits angenommene und unser Kleriker möchte seine alte Gratie aktivieren um das Benefizium übernehmen zu können, was der Papst ihm natürlich verweigert. Auch in diesem Falle ist die Erzählhaltung Helia Regniers von ironischer Distanz geprägt. Sein studiosus entspricht einmal mehr dem zeitgenössischen Klischee des pfründensuchenden Klerikers, der die Augen stets nach einer weiteren, besser dotierten Stelle aufhält – kritisiert en passant aber auch die zeitgenössischen Motivationen, 25 Guillaume de Montlauzun. Apparatus in Clementinas, zu Litteras (Clem. 1.2.5), fol. xviiv–xviiir. 26 Zur Provision in forma pauperum siehe Meyer: Arme Kleriker; Hitzbleck: Exekutoren, S. 184–192.

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ein Studium aufzunehmen: ut studium mihi afferret aliquam utilitatem, damit das Studium ihm irgendeinen Nutzen bringe, hat der Kleriker sich mit seiner Bitte um eine Benefizium an den Papst gewandt, wobei der Vorteil hier in der kostenlosen Expedition der Urkunde bestand. Ob das Studium der Kanonistik darüber hinaus noch weitere Frucht getragen hat, verrät der casus nicht, doch ist man angesichts des weiteren Lebenslaufs des jungen Mannes, der zehn Jahre auf eine Vakanz gewartet hat, dem Zweifel zugeneigt. Die Bemerkung hinsichtlich der „jungen Kanonisten“ ist ferner vordergründig eine Mahnung an seine Studenten, dass wer ein guter Jurist werden will, sich mit den Feinheiten des Rechtes vertraut machen muss. Hintergründig, soviel ist zu vermuten, steht Helia bei seinen Studenten aber auch genau der Klientel gegenüber, welche er dann in seinem casus in dem sich gewitzt dünkenden, doch etwas naiven und am Ende scheiternden Kleriker karikiert. Dabei wird wie schon bei Litteras nie der Eindruck moralinsaurer Gegenwartskritik erweckt, vielmehr schildert Helia mit der Kennerschaft des Eingeweihten und ironischem Augenzwinkern die Benefizialrealität seiner Zeit. Übrigens nicht nur die: In seinem Kommentar zur Dekretale Cum ecclesiae (Clem. 1.6.1), in der es um die Eignung kirchlicher Würdenträger geht, fasst Helia unter anderem zusammen, welche intellektuellen Anforderungen an diese zu stellen sind. So soll ein Bischof sich durch gute Sitten auszeichnen, theologisch beschlagen und darüber hinaus auch noch Jurist sein, um die Rechte seiner Kirche verteidigen zu können. Helia referiert hier die kanonistische Tradition und communis opinio seit Innozenz IV.27, was zu einem Werk für Studenten auch trefflich passen will. Aufmerken lässt dann allerdings, was er über die an Äbte zu stellenden Anforderungen zu sagen weiß: In abbate vero non requiritur magna scientia, sed sufficit quod sit expertus in negotiis. Diese Formulierung mag einer pessimistischen Erwartungshaltung hinsichtlich des Bildungsstandes spätmittelalterlicher Äbte unzweifelhaft entgegenkommen, doch stellt sich die Frage, was Helia Regnier hier vermitteln wollte. Eine Allegation zur Erklärung seiner Aussage sucht der Leser vergeblich, Helia genügt der Verweis auf die juristische Tradition. Die Antwort – und die Enttarnung des ironisch-distanzierten Juristenwitzes – findet sich in dem ironischer Distanziertheit im großen und ganzen unverdächtigen Kommentar des Nicolaus de Tudeschis († 1445). Der König der Kanonistik des 15. Jahrhunderts kommentiert die zugrundeliegende Dekretale Cum in cunctis (X 1.6.7) ausführlichst und stellt fest, dass Innozenz IV., der den maßgeblichen Kommentar der 27 Die Grundlage für die folgende Diskussion hatte Alexander III. († 1181) mit seiner Dekretale Cum in cunctis (X 1.6.7) gelegt, wo die Anforderungen an die verschiedenen kirchlichen Amts- und Würdenträger definiert werden. Die Stelle war dann seit Innozenz IV. intensiv kommentiert worden, so dass Nicolaus de Tudeschis auf der Basis der Tradition eine so umfangreiche wie umfassende Auslegung präsentieren kann.

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Stelle verantwortet, der Meinung war, dass Äbte keine besonderen Kenntnisse des Rechtes oder der Theologie benötigten28. Was Panormitanus freilich nicht gefallen will und von ihm mit guten Gründen kritisiert wird: Sed ego non video qualiter posset primum dictum saltem de iure procedere, cum quilibet abbas habeat saltem curam forem principalis, respectu monachorum suorum29. Helia fängt in seinem bissigen Bonmot die gesamte, jahrhundertelange Kommentartradition der Stelle ab. Es mag ja sein, dass in der kanonistischen Tradition Äbte über keine spezifische akademische Bildung verfügen mussten – allerdings steht auch nirgendwo, dass eine besondere Qualifikation zum Geschäft zu den Schlüsselqualifikationen ihrer Zunft gehörte30. Helias Sottise greift also neben der etwas fragwürdigen kanonistischen Kommentartradition die Lebensrealität seiner Zeit an und auf und erweist ihn einmal mehr als scharfsinnigen Beobachter und spöttischen Geist. Helia Regnier mag zu seiner Zeit rezipiert, seine Werke sogar separat gedruckt worden sein, doch hat dies nicht verhindern können, dass er schon den Zeitgenossen, erst recht der Nachwelt unbekannt geblieben ist. Vielleicht ist er zu spät gekommen, vielleicht haben die intellektuellen und formalen Veränderungen im juristischen Lehrbetrieb, welche der Erfolg der humanistischen Jurisprudenz31 vor allem im französischen Raum bedeutet hat, seinem Werk die Relevanz und ihm die Anerkennung seiner Zeitgenossen genommen. Und tatsächlich scheint sein Kommentar in weiten Teilen zwar belesen und differenziert, aber doch recht konventionell zu sein. Wären da nicht seine hin und wieder aufblitzenden ironischen und spöttischen Kommentare! Ich denke, die vorangehenden Beispiele konnten aufzeigen, dass auch die juristische Zunft des Mittelalters zu Spott und Ironie fähig war – und dass es wohl oftmals an den modernen Rezipienten und ihrer Lese- und Erkenntniserwartung liegt, welche die hintersinnigen Dimensionen des spätmittelalterlichen juristischen Schaffens nicht zulassen wollen oder nicht sehen können: Die Enttarnung eines feinsinnigen Witzes erfordert, es wurde bereits gesagt, profunde Kenntnisse der traktierten Materie. In diesem Sinne sei dem Bearbeiter mittelalterlicher juristischer Literatur ans Herz gelegt, mit aller gebotenen Vorsicht dem eigenen Gefühl zu folgen, wenn etwas witzig zu sein scheint – und vielleicht an der betreffenden Stelle einen Zettel zwischen die Seiten zu legen. Des öfteren mag der Witz mit steigender Kenntnis der Materie auf dem granite28 Unde dicit Innocentius, quod in abbate non requiritur magna scientia, et dicit Archidiaconus […] sufficere sibi, ut sciat cantare et legere. Panormitanus. Commentarium I, Cum in cunctis (X 1.6.7), S. 320. 29 Panormitanus. Commentarium I, Cum in cunctis (X 1.6.7), S. 320. 30 Allerdings scheint Helia selbst den Bezug auf die negotia aus der kanonistischen Literatur übernommen zu haben. Innozenz IV. definiert in seinem Kommentar zur Dekretale Cum in cunctis (X 1.6.7) ille habet mediocrem [scientiam] qui scit aliquo modo examinare negotia; quamvis ad omnia nesciat respondere. Innozenz IV. Commentaria, fol. 17v. 31 Zum Siegeszug der humanistischen Jurisprudenz siehe Troje: Graeca.

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nen Fundament kanonistischer Allegation zerschellen, Artefakt fachlicher Ahnungslosigkeit gewesen sein. Doch hin und wieder zwinkert der hochintellektuelle Autor seinem Leser über alle Zeiten hinweg zu, tongue in cheek. Es wäre deshalb ein Ansatz, die abundante juristische Kommentarliteratur des Spätmittelalters auch als das zu lesen, was sie neben allem anderen eben auch ist: die persönliche Äußerung eines hochgebildeten „Ego“, das hinter allen Allegationen in der Ironie und im spöttischen Kommentar seine Meinung über seine Zeit und die vielleicht doch nicht so unantastbaren Vorgänger – und damit seinen Charakter verrät.

Bibliographie Quellen Friedberg, Emil (Hg.): Corpus Iuris Canonici, 2 Bde., Leipzig 1879. Helia Regnier. Casus Longi Sexti et Decretalium, Straßburg 1496. Innozenz IV. Commentaria in quinque Libros Decretalium, Lyon 1554. Johannes Trithemius. Liber de Scriptoribus Ecclesiasticis, Basel 1494. Matthäus von Krakau. Der Sumpf der Römischen Kurie – De Squaloribus Curiae Romanae, in: Miethke, Jürgen/Weinrich, Lorenz (Hg.): Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der Großen Konzilien des 15. Jahrhunderts, 1. Teil: Die Konzilien von Pisa (1409) und Konstanz (1414–1418), Darmstadt 1995 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, 38a). Panormitanus (Nicolaus de Tudeschis). Commentaria in quinque Libros Decretalium, Bd. I: Primae Partis in primum Decretalium Librum, Venedig 1582. Raymundus de Peñaforte. Summa de Poenitentia et Matrimonii, Rom 1603.

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Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit, Frankfurt am Main 2005 (Tradition – Reformation – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters, 9). Heckel, Hartwig: Was ist Ironie?, in: Glei, Reinhold F. (Hg.): Ironie. Griechische und lateinische Fallstudien, Trier 2009 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Kolloquium, 90), S. 15–31. Hitzbleck, Kerstin: Exekutoren. Die außerordentliche Kollatur von Benefizien im Pontifikat Johannes’ XXII., Tübingen 2009 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 48). Horn, Norbert: Die legistische Literatur der Kommentatoren und der Ausbreitung des gelehrten Rechts, in: Coing, Helmut (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1: Mittelalter (1100–1500). Die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung, München 1973, S. 261–364. Meyer, Andreas: Arme Kleriker auf Pfründensuche. Eine Studie über das in forma pauperum-Register Gregors XII. von 1407 und über päpstliche Anwartschaften im Spätmittelalter, Köln u. a. 1990 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, 20). Nuding, Matthias: Matthäus von Krakau. Theologe, Politiker, Kirchenreformer in Krakau, Prag und Heidelberg zur Zeit des Großen Abendländischen Schismas, Tübingen 2007 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe, 38). Schulte, Friedrich von: Die Geschichte der Quellen und Literatur des Canonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart, 3 Bde., Stuttgart 1875–1880. Troje, Hans E.: Graeca leguntur. Die Aneignung des byzantinischen Rechts und die Entstehung eines juristischen Corpus iuris civilis in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, Köln u. a. 1971. Troje, Hans E.: Humanistische Jurisprudenz. Studien zur europäischen Rechtswissenschaft unter dem Einfluß des Humanismus, Goldbach 1993 (Bibliotheca eruditorum, 6). Wejwoda, Marek: Spätmittelalterliche Jurisprudenz zwischen Rechtspraxis, Universität und kirchlicher Karriere. Der Leipziger Jurist und Naumburger Bischof Dietrich von Bocksdorf (ca. 1410–1466), Leiden 2012 (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 42). Woelki, Thomas: Lodovico Pontano (ca. 1409–1439). Eine Juristenkarriere an Universität, Fürstenhof, Kurie und Konzil, Leiden/Boston 2011 (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance, 38). Woelki, Thomas: Singularia. Eine fast vergessene Gattung der juristischen Literatur, in: Maffei, Paola/Varanini, Gian Maria (Hg.): Honos alit artes. Studi per il settantesimo compleanno di Mario Ascheri, Bd. 1: La formazione del diritto comune. Giuristi e diritti in Europa (secoli XII–XVIII), Florenz 2014, S. 281–290; wieder in: Bulletin of Medieval Canon Law 34 (2017), S. 225–247.





Kriegsherren des Konzils Mailänder Condottieri als Verteidiger des Basler Konzils* Thomas Woelki

Anfang Dezember 1433 bewegte ein Skandal das Basler Konzil: Briefe aus Venedig und von Papst Eugen IV. berichten von militärischen Invasionen im Kirchenstaat1. Vor allem die Kriegsherren Francesco Sforza und Niccolò Fortebraccio, Condottieri in Diensten des Herzogs von Mailand, eroberten in dramatischer Geschwindigkeit die päpstlichen Länder, Sforza in der Mark Ancona und Fortebraccio in Umbrien und im Lazio. Das eigentlich Skandalöse: Sie taten dies angeblich im Auftrag des heiligen Konzils. Kriegsherren des Konzils – eine Parlamentsarmee der Kirche gegen den tyrannischen Papst? Der Fall eines kriegführenden Konzils wäre singulär. Diese extreme Form der Aneignung der Konzilsautorität, hier durch den Herzog von Mailand zum Krieg gegen den Papst, verdient jedenfalls nähere Untersuchung. Das angebliche Konzilsheer wurde in der Forschung mehrfach thematisiert, am ausführlichsten von Noël Valois, vor allem auf der Basis der Konzilschronik des Johannes von Segovia2. Weiteres Material findet sich in den Handakten des Kardinals Giordano Orsini (Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Plut. 16.13), nämlich vor allem Briefe, die auf dem Konzil bekannt wurden3. Bislang unberücksichtigt ist die weitere archivalische Überlieferung, vor allem in Mailand und Orvieto findet sich unbekanntes Material, das hier vorgestellt wird. Damit wird vielleicht eines der zahlreichen noch nicht eingelösten Desiderate angegangen, die Johannes Helmrath vor nunmehr 30 Jah*

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Der Text basiert auf einem Vortrag, den ich am 1. April 2017 auf dem 63rd Annual Meeting der Renaissance Society of America in Chicago hielt. Johannes Helmrath führte den Vorsitz der Sektion „(Mis)Using the Council? Pushing Secular Interests at the Council of Basel (1431–49)“. Eine englische Fassung erschien in: American Cusanus Society Newsletter 34 (2017), S. 17–26. Ausführliche Wiedergabe der Debatte in der Konzilschronik des Johannes von Segovia; MC II, S. 529–534; RTA XI, S. 149–156 Nr. 73–77. Wichtiges Material darüber hinaus in den venezianischen Gesandtschaftsinstruktionen; RTA XI, S. 156–160 Nr. 78, S. 339–344 Nr. 183. Valois: Crise religieuse, Bd. I, S. 295–302, 349–354. Weitere Schilderungen der Debatten und Ereignisse bei Pastor: Geschichte der Päpste, Bd. I, S. 301; Cognasso: Ducato Visconteo, S. 299–304; Decker: Politik der Kardinäle, bes. S. 322–325, 368–373, 394–397. Diese Briefe sind teilweise ediert in RTA XI, S. 123–126 Nr. 62f., 159–161 Nr. 79–81. Zur Handschrift Florenz, BML, Plut. 16.13 siehe Miethke: Handschriftliche Überlieferung, S. 317; Woelki: Lodovico Pontano, S. 40, Anm. 79b; S. 125, Anm. 109; S. 244, Anm. 65; S. 253; S. 537, Anm. 3.

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ren in seinem noch immer unersetzlichen Magistralwerk zum Basler Konzil aufschlüsselte4. Die Analyse des Problems der Kriegsherren des Konzils muss drei Ebenen berücksichtigen: 1) die Diskussion auf dem Basler Konzil, insbesondere zwischen Kaiser, Kardinälen und den Mailändischen Gesandten: Gab es tatsächlich ein Konzilsmandat zum Krieg gegen den Papst, und wie kam es zustande? 2) Auf der Ebene des Herzogs von Mailand: Führte er tatsächlich im Namen des Konzils Krieg? 3) Auf der Ebene der Condottieri: Setzten sie wirklich auf eine Legitimation durch das Konzil, um in Italien Krieg zu führen?

1 Die Konzilsdebatte Es war Kaiser Sigismund, unermüdlich um einen Ausgleich zwischen Papst Eugen IV. und dem Basler Konzil bemüht, der das Thema auf die Tagesordnung des Konzils brachte5. Er war am 5. Dezember 1433, in der Dominikanerkirche in Basel: Der Kaiser verhandelte mit den Kardinälen und einigen Konzilsdeputierten. Sigismund spricht über den Frieden, eine der zentralen Aufgaben und Pflichten des Konzils: de pace per concilium procuranda in Francia, Almania et Ytalia6. In Frankreich und Deutschland sei man auf einem guten Weg die bestehenden Konflikte zu lösen, aus Italien jedoch höre man Schlimmes: Der Mailänder Condottiere Niccolò Fortebraccio erobere die Länder der Kirche. Das Konzil müsse dem Treiben Einhalt gebieten und einen Legaten zum Herzog von Mailand entsenden. Noch war keine Rede von einer Mitschuld des Konzils. Dann die Eskalation am 16. Dezember7. Sigismund spricht wieder vor dem Ausschuss. Inzwischen habe er erfahren, dass die Invasion von einem Mandat des Konzils gedeckt sein soll. Er werde unverzüglich an den Herzog von Mailand, dessen Capitaneus generalis Niccolò Piccinino und die Vikare im Kirchenstaat schreiben. Das Konzil solle seinerseits nach Mailand schreiben und richtigstellen, dass ein solcher Auftrag absurd sei8. Es folgen Beratungen der Konzilsväter: Ein Teil möchte derartige Briefe 4 5 6 7 8

Helmrath: Basler Konzil, S. 261f. Zur Rolle König Sigismunds auf dem Basler Konzil siehe Helmrath: Basler Konzil, S. 284–289, 653 s.v.; Hoensch: Kaiser Sigismund, S. 400–428. MC II, S. 529f.; RTA XI, S. 154f. Nr. 76. MC II, S. 530–532; RTA XI, S. 155f., Nr. 77. Giovanni da Massa, Sienesischer Gesandter auf dem Basler Konzil, berichtet darüber hinaus, dass auch Briefe an Sforza und Fortebraccio zur Debatte standen; RTA XI, S. 198, Anm. 1 (nach Siena, ASt, Lett. conc. 1433): Et voleva lo ’mperatore a questi di loro facessero scrivere una lettera al duca di Milano, che facesse, che ’l conte Francesco nonnandasse contra il papa, e una al conte e una a Fortebraccio. Nonnano voluto fare nulla.

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versenden, weil man gehört habe, dass sich die Städte der Mark Ancona freiwillig Francesco Sforza ergeben, als sie hörten, dass er im Namen des Konzils handle9. Der andere Teil gibt zu bedenken, dass der Papst sich noch immer nicht dem Konzil unterworfen habe und man keine Machtmittel besitze, ihn dazu zu zwingen. Wenn man jetzt nach Mailand schriebe, würde der ungehorsame Papst das Konzil nur noch stärker bekämpfen. Außerdem: Wieso soll denn ein Konzil kein Recht haben, zum Krieg gegen diejenigen aufzurufen, die seine Autorität angreifen. Letztlich versandte der Kaiser allein seine Briefe, das Konzil blieb passiv10. Aber der Kaiser versuchte es weiter. Am 4. Januar sprach er vor der Deutschen Nation des Konzils11. Unterdessen brachte der Konzilspräsident Giuliano Cesarini die Sache vor die Generalkongregation des Konzils. Die Meinung der Konzilsväter ging in zwei Richtungen: Erstens, das Konzil hätte durchaus das Recht einen Capitaneus zu ernennen. Zweitens: Es gab überhaupt keinen Konzilsauftrag – denn niemand könne sich einer solchen Bulle entsinnen12. Was steckte nun hinter der Sache? Ende Januar 1434 schickte der Papst eine Reihe belastender Dokumente zum Konzil, verbunden mit einem eindringlichen Appell zur schärfsten denkbaren Sanktion – einem vom Konzil zu verhängenden Interdikt über das Herzogtum Mailand13. Diese Sanktion hätte der Papst freilich selbst verhängen können, doch durch den Verweis auf den berühmten Ambrosius-Brief In causa Bonosi14, einer Königsstelle des Konziliarismus, lieferte der Papst einen demonstrativen Nachweis seines guten Willens gegenüber dem Konzil, das er nur wenige Wochen zuvor wieder anerkannt hatte, und setzte die Konzilsväter erheblich unter Druck. Denn nun wurde auch klar, dass es tatsächlich eine Konzilsbulle für den Herzog von Mailand gab, auf den sich der Streit bezog: Sie datierte vom 21. August 143215. Darin 9 MC II, S. 533f. 10 Vgl. RTA XI, S. 123f., Nr. 62 (Kaiser Sigismund an Eugen IV., 1433 Dezember 20). Die Briefe Kaiser Sigismunds an die Städte und Vikare im Kirchenstaat, an den Herzog von Mailand und an Niccolò Piccinino sind überliefert in: Florenz, BML, Plut. 16.13, fol. 125v–126v. 11 MC II, S. 533. Zur Rolle der Nationen auf dem Konzil siehe Helmrath: Basler Konzil, S. 47–51; Gilomen: Bürokratie und Korporation, S. 217–223. 12 MC II, S. 588 (14. Januar 1434): Nunquam illud a concilio fuisse commissum, licet attenta pape alienacione ab ecclesie potuisset fieri iuste. 13 MC II, S. 657. Ein Konzilsinterdikt scheint in der kanonistischen Kasuistik nicht vorgesehen. Das Thema verdient eine eigene Untersuchung. 14 Ambrosius, Epistula LXXI de causa Bonosi, ed. Migne: PL XVI, Sp. 1172–1174; CSEL 82,3, S. 10. Die Kernaussage lautet: Papst Damasus maßt sich selbst kein Urteil an, weil er nicht in die Zuständigkeit des Konzils eingreifen darf. Zur Verwendung dieser Stelle s. Woelki: Lodovico Pontano, S. 381, 389, 654f. 15 MC II, S. 227f.: Basler Konzil an Filippo Maria Visconti (21. August 1432): [...] tibi in virtute sancte obediencie strictissimo precipiendo mandamus, quatenus omnes et singulos huic sacro concilio adherentes et adherere volentes quibuscumque favoribus et presidiis tuis foveas atque iuves ipsosque et quoscumque alios, quocumque nomine censeantur, omnibus modis et viis ad eius sacri concilii adherenciam obedienci-

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befahl das Konzil dem Herzog, die Anhänger des Konzils zu schirmen und alle anderen – omnibus modis – zur Obödienz gegenüber dem Konzil zu zwingen. Ein Krieg im Kirchenstaat war nicht direkt angesprochen, die Formulierung jedoch sehr offen gehalten. Der Kaiser reagierte verbittert auf das Bekanntwerden dieser Bulle16. Cesarini verteidigte das Konzil: In jener Zeit, als der Papst direkte Angriffe auf Konzilsanhänger befahl und in Avignon Prälaten eingekerkert wurden, weil sie zum Konzil gingen, musste man weltliche Mächte um Schutz anrufen17. Gemeint war wohl tatsächlich der Schutz durchreisender Prälaten, um die es in der damaligen Korrespondenz zwischen Herzog, Konzil und Kaiser hauptsächlich ging18. Einen Krieg im Kirchenstaat habe man jedenfalls nicht beabsichtigt, so Cesarini. Sigismund darauf: Wieso hat man die Existenz der Bulle dann abgestritten? Cesarini: Niemand wusste davon19. Die Bulle war in einer kleinen Kommission auf Betreiben des Erzbischofs von Mailand, Bartolomeo della Capra, verfasst worden, und der war inzwischen verstorben20. Es gab zu diesem Zeitpunkt offenbar noch kein amtliches Bullenregister, in dem man nachschlagen konnte21. Damit trat ein strukturelles Problem des Konzils offen zu Tage, das der Kaiser mehrmals ansprach: Die Geschäftsordnung des Konzils begünstigte die Unterwanderung durch weltliche Mächte. In den Kommissionen konnte die Stimme eines mächtigen Prälaten ausschlaggebend sein, hinter dem ein Fürst stand22. Und der Herzog von Mailand hatte viele der Prälaten seines Territoriums dazu gebracht, zum Konzil zu gehen und seine Interessen zu vertreten23.

amque adhorteris, excites et inducas nichil obmittendo eorum, que a te prestari poterunt, quo predicta, unde summa utilitas ipsi synodo et ecclesie deu successura est, locum habeant. Zu den Hintergründen siehe Valois: Crise religieuse, Bd. I, S. 298f.; Cornaggia-Medici: Vicariato visconteo, S. 89–128, hier S. 108; Cognasso: Ducato Visconteo, S. 299; Decker: Politik der Kardinäle, S. 325. 16 MC II, S. 657. 17 MC II, S. 659. Vgl. RTA XI, S. 353f. Nr. 188. 18 Vgl. die entsprechende Korrespondenz in: Documenti diplomatici, Bd. III, ed. Osio, v.a. S. 32, Nr. 38; S. 38–40, Nr. 43; S. 66f., Nr. 78; S. 78f., Nr. 93; S. 82, Nr. 97. Weitere aufschlussreiche Briefe sind verzeichnet in: Inventari e Regesti, Bd. II 2, ed. Vittani, S. 75–94. 19 MC II, S. 659. 20 Siehe Decker: Politik der Kardinäle, S. 325. Zur Person siehe Valois: Crise religieuse, Bd. I, S. 352; Helmrath: Basler Konzil, S. 263. 21 Zum Bullenregister und der Konzilskanzlei siehe Helmrath: Konzil als Behörde, S. 97, mit näheren Hinweisen zum Aufbau der Bullenregistratur in Anm. 20f. 22 Vgl. die ausführliche Darlegung des Problems in den Instruktionen an die venezianischen Gesandten Gian Francesco Capodilista und Pietro Donato, Bischof von Padua, vom 18. Dezember 1433; ed. RTA XI, S. 156–160, Nr. 78. 23 So Kaiser Sigismund in einem Brief an Francesco Foscari, Doge von Venedig, vom 21. Dezember 1433; ed. RTA XI, S. 124–126, Nr. 63, nach Florenz, BML, Plut. 16.13, fol. 123rv. Ähnlich bereits vorher im Oktober 1433: RTA XI, S. 149, Nr. 73. Vgl. Cognasso: Ducato Visconteo, S. 297–299.

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In der zweiten Hälfte des Jahres 1433 war Filippo Maria Visconti der einzige weltliche Fürst, der das Konzil offen und vorbehaltlos unterstützte24. Seinen Einfluss auf dem Konzil schätzten Beobachter als nahezu unbegrenzt ein; so der sienesische Gesandte Cione di Battista Orlandi: lui fa fare et diffare el choncilio, chome gli piacie25. Für Sigismund war das heilige Konzil förmlich von Mailändern „vergiftet“ 26. Erst Ende 1433 schickten die Venezianer selbst die Prälaten der Terraferma gewissermaßen als Antidotum zum Konzil27. Die Debatte wurde nun vor allem zwischen den beiden Lagern kontrovers geführt, immer wieder in Ausschüsse verwiesen und versandete schließlich, als der Kaiser im Juni 1434 das Konzil verließ28. Die offiziellen Gesandten Mailands blieben in der Debatte jedoch weitgehend passiv29. Erst im Mai 1434 bekamen sie Instruktionen aus Mailand, wie sie sich gegenüber Kaiser und Konzil verhalten sollen. Man sollte abstreiten, dass die Condottieri überhaupt im Mailänder Auftrag handeln. Vielmehr seien sie unabhängig und operierten auf eigene Faust30.

2 Der Herzog von Mailand als Verteidiger des Konzils Tatsächlich sind keine direkten Aufträge an die beiden wichtigsten Condottieri Francesco Sforza und Niccolò Fortebraccio erhalten. Überhaupt ließen sich die mächtigen Condottieri schwer kontrollieren und rivalisierten eher gegeneinander, als dass sie so etwas wie ein „Mailänder Heer“ bildeten. Im Januar 1434 schickte Filippo Maria Visconti seinen Gesandten Francesco da Bologna zu Fortebraccio und Sforza: Er solle auf beide einwirken, dass sie im Interesse des Mailänder Staates zusammenarbeiten und sich nicht gegenseitig bekriegen31. 24 Siehe die Einschätzung Kaiser Sigismunds bei Verhandlungen mit den Kardinälen (17. Oktober 1433): RTA XI, S. 149, Nr. 73: non videbat alium principem esse in favorem concilii nisi prefatum ducem. Beckmann: RTA XI, S. 26f.; Helmrath: Basler Konzil, S. 160–164. 25 RTA XI, S. 27, Anm. 1 nach Siena, ASt, Lett. conc. 1433. Vgl. auch Helmrath: Basler Konzil, S. 260. 26 RTA XI, S. 124–126, Nr. 63: [...] in isto concilio cum suis adherentibus vocem habens intoxicat. 27 Zu diesen Vorgängen umfassend: Helmrath: 11 ottobre 1433. 28 Vgl. Decker: Politik der Kardinäle, S. 394–397. 29 Vgl. MC II, S. 660; RTA XI, S. 354f., Nr. 189. Zu den Mailänder Gesandten s. Beckmann: RTA XI, S. 28f., 199; Cognasso: Ducato Visconteo, S. 299; Helmrath: Basler Konzil, S. 263. 30 Filippo Maria Visconti an Cristoforo da Velate, Mailänder Gesandten auf dem Basler Konzil (1434 Mai 12); Mailand, ASt, Carteggio Visconteo, 13, sub dato; Documenti diplomatici, Bd. III, ed. Osio, S. 118f., Nr. 130; RTA XI, S. 356f., Nr. 191: Habetis dicere, nos guerram non movisse contra ipsum sed gentes illas contra eum militantes in sui esse libertate se transferendi quocunque voluerint. Vgl. Inventari e Regesti, Bd. II 2, ed. Vittani, S. 94. Vgl. Valois: Crise religieuse, Bd. I, S. 354, mit Verweis auf den Bericht der Florentiner Gesandten. Vgl. auch Cornaggia-Medici: Vicariato visconteo, S. 118. 31 Mailand, ASt, Carteggio Visconteo-Sforzesco, 13, sub dato 1434 Januar 27; Documenti diplomatici, Bd.

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Für die venezianische Seite war jedoch klar, dass Filippo Maria Visconti direkt hinter den Angriffen steckte: Der Doge Francesco Foscari schrieb am 21. Dezember an den Kaiser, Visconti habe den Frieden mit dem Kaiser ausgenutzt und seine Leute gegen den Papst geschickt, die er unterstützt und ernährt32. Auch der Kaiser behauptete vor dem Konzil, das Mailand viel Geld ausgebe, um dem Papst zu schaden33. Überdies hatte Filippo Maria Visconti selbst gegenüber Venedig unumwunden erklärt, dass er vorhabe, die Länder der Kirche in die Obödienz des Konzils zu führen; so in den Gesandtschaftsintruktionen für Giovanni Francesco Gallina, der im September 1433 nach Venedig entsandt wurde34. Aufschlussreich über den tatsächlichen Auftrag an die Kriegsherrn ist ein Schreiben an den Condottiere Jacopo da Lonato, der Ende Oktober nach Umbrien gesandt wurde, um Fortebraccio zu unterstützen35. Er rückte gemeinsam mit Tagliano von Forlì und Antonello da Siena im Herzogtum Spoleto vor und gebrauchte dabei die gleiche Legitimation wie Sforza und Fortebraccio. Dieses Schreiben wurde auf dem Konzil bekannt und ist deshalb in den Handakten des Kardinals Orsini erhalten. Hierin erklärt Filippo Maria Visconti, im Auftrag des Konzils zu handeln und inseriert die besagte Konzilsbulle vom 21. August 1432. Es dürfte also außer Frage stehen, dass der Visconti die Condottieri mit dem angeblichen Konzilsauftrag auf den Kirchenstaat losließ, auch wenn sie sich im Nachhinein seiner Kontrolle entzogen.

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III, ed. Osio, S. 111–114, Nr. 128. Vgl. Inventari e Regesti, Bd. II 2, ed. Vittani, S. 93; Cognasso: Ducato Visconteo, S. 301. Florenz, BML, Plut. 16.13, fol 123rv; ed. RTA XI, S. 124–126 Nr. 63: [...] gentes suas ad destructionem domini nostri transmittit, illas ingrossat, fovit et nutrit guerras illas suis denariis terrasque ecclesie sub nomine aliorum ad potestatem suam reducit. S. MC II, S. 497f.; RTA XI, S. 149, Nr. 73: Sed quia mencio fiebat de Venetis tamquam suspectis, ipse certum esse dicebat, quod maxima pars prelatorum, qui in concilio essent, ex dominio ducis Mediolani erat, qui pape inimicibatur faciens omnes expensas Nicolao de Fortebracchiis in guerra adversus papam. Mailand, ASt, Carteggio Visconteo-Sforzesco, 13, sub dato 1433 September 13: Et si vero se debe maraviglare homo del mondo, si nuy non solamente la citta di Bologna ma tutte le altre terre de la ghiexa fecissiro et dassissemo y nostri favori, cio chel venesseno al’obedientia del sacro concilio et de la sancta madre ghiexa. Vgl. Inventari e Regesti, Bd. II 2, ed. Vittani, S. 91. Florenz, BML, Plut. 16.13, fol 124rv (1433 Oktober 27). Zu Jacopo da Lonato vgl. Beckmann: RTA XI, S. 28; Valois: Crise religieuse, Bd. I, S. 299, 302; Cognasso: Ducato Visconteo, S. 299. Zu seiner Präsenz in Umbrien siehe die Korrespondenz der Stadt Orvieto: Codice diplomatico, ed. Fumi, S. 697f. Weitere Angriffe erfolgten Ende Dezember 1433 im Herzogtum Spoleto durch die Mailänder Condottieri Italo Furlano und Antonello da Siena, ebenfalls mit angeblicher Konzilsautorität; siehe RTA XI, S. 164f., Nr. 84; S. 167f., Nr. 86.

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3 Condottieri als Kriegsherren des Konzils Was dieses angebliche Mandat für die Condottieri selbst wert war, ist allerdings unklar. So erklärte der kaiserliche Gesandte Mitte Januar vor Eugen IV., es sei doch verwunderlich, dass das Basler Konzil in Italien eine solche Macht besitzen solle, dass eine einzige Bulle, oder vielmehr die Abschrift, die Sforza und Fortebraccio vor sich hertragen, ausreichen sollte, um die Macht des Papstes zu brechen36. Es lohnt sich also einen Blick auf die konkreten Legitimationsstrategien der Condottieri zu werfen.

3.1 Francesco Sforza Beginnen wir mit Francesco Sforza. Er war Anfang Dezember 1433 mit dem Vorwand in die Mark Ancona gezogen, dass er Erbstreitigkeiten in Apulien auszufechten habe. Der Papst hatte ihm einen Durchzug gewährt. Nun eroberte er stattdessen innerhalb weniger Wochen die päpstliche Provinz37. Aufschlussreich über seinen Einsatz des Konzilsauftrags ist ein Brief, den er am 7. Dezember an die Stadt Macerata schickte38. Darin behauptet er eindeutig, er sei auf direkten Befehl des heiligen Konzils gekommen (per commandamento del Santo Concilio), das die schlechte Regierung des Papstes beenden wolle. Die Formulierungen sind streckenweise an die Konzilsbulle für Filippo Maria Visconti angelehnt; die Legitimation mit dem Konzilsauftrag ist offensichtlich. Allerdings führt Sforza nicht den 36 RTA XI, S. 165–167 Nr. 85 (Rede des kaiserlichen Gesandten Baptista Cigala in Rom, ca. 12. Januar 1434; nach Flavio Biondo, Decades III 5): Querentibus vero et diligenter preconantibus, qua id arte, quibus adminiculis id esset factum, nunciant ex Italia qui adveniunt, epistole narrant quotquot perferuntur: concilii Basiliensis tanti factam esse in Italia auctoritatem, ut unica eius epistola, immo illius exemplum, quod Sfortia et Fortebraccius pre se ferant, omnibus pontificis et Romane ecclesie copiis prevalent, […]. 37 Zu den Ereignissen Steger: Geschichte Franz Sforza’s, S. 201–203; Beckmann: RTA XI, S. 27; ­Cognasso: Ducato Visconteo, S. 299–304; Partner: Lands of St Peter, S. 407–409; Rolfi: Giovanni Vitelleschi, S. 126f. Zur Sforza-Herrschaft in der Mark Ancona sind auch ältere Studien heranzuziehen, die aus regionalen Archiven schöpfen; Benadduci: Signoria di Francesco Sforza; Gianandrea: Signoria di Francesco Sforza; Rosi: Signoria di Francesco Sforza. 38 Francesco Sforza an die Stadt Macerata (1434 Dezember 7), ed. Compagnoni: Reggia Picena, S. 324: Spectabiles Viri, Amici, & tamquam Patres Carissimi. Perche porria esser, non sapendo Vuij la casion de la venuta mia in queste parti, ne starete dubiosi, ve adviso per questa, per cavarve da omne admiratione, che ne potesseno avere, chomo io gia son venuto per commandamento del Santo Concilio, el quale essendo pienamente informato de la cattiva vita di Eugenio PP., ut ipse dicit, e de li mali modi per lui continuamente tenuti, lo quale non ha mai fatto per lo bono Stato di Santa Ecclesia, e di li suoi fautori, chomo doveria haver fatto el bono Pastore, ma piu tosto el contrario, […] Der Text findet sich in modernisierter Orthographie auch bei Benaducci: Signoria di Francesco Sforza, S. 14–16. Vgl. Valois: Crise religieuse, Bd. I, S. 300f.; Cognasso: Ducato Visconteo, S. 300; Rolfi, Giovanni Vitelleschi, S. 127.

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Titel eines Vikars oder Capitaneus des Konzils. Ebenso fehlt jeder Hinweis auf den Herzog von Mailand als Dienstherrn oder Auftraggeber. Sforza erwartete vielmehr eine Unterwerfung unter sein persönliches Regiment: er trat im eigenen Namen auf, nicht als Stellvertreter. Macerata und die meisten anderen Städte der Mark unterwarfen sich freiwillig. Eine ganze Serie der Kapitulationsurkunden ist erhalten, niemals unterzeichnet Sforza als Repräsentant des Basler Konzils oder des Herzogtums Mailand39. In den meisten Kapitulationsurkunden ist das Konzil noch nicht einmal erwähnt; ebensowenig in den erhaltenen Protokollen der Ratsversammlung von San Severino, die über die Unterwerfung entschieden40. Das Konzil jenseits der Alpen spielte für die meisten Städte in Mittelitalien also keine Rolle bei der Entscheidung, sich dem übermächtigen Kriegsherrn auszuliefern, und wurde auch nicht zur Selbstvergewisserung und Ehrenrettung gebraucht. Eine Ausnahme ist die Kapitulation der umbrischen Stadt Todi. Nachdem Francesco Sforza die Mark Ancona erobert hatte, überschritt er im Januar den Apennin und drang nach Umbrien vor. Todi ergab sich bereits Mitte Januar 143441, die förmliche Kapitulation wurde am 12. März geschlossen. Im ersten Artikel der von Todi formulierten Urkunde wird der Eroberer als vicario de la sancta ecclesia et del sacro consiglio de Basilea bezeichnet42. Sobald das Konzil einen neuen Papst gewählt habe oder falls das Konzil Eugen IV. in seinem Amt bestätige, solle Sforza sich um ein Vikariat für Todi bemühen, damit die Stadt nicht als Rebell gegen die Kirche angesehen werden 39 Mailand, ASt, Carteggio Visconteo-Sforzesco, 20, sub dato 1434 Januar 1/2 (S. Victoria), 1434 Januar 20 (Castrum Patregnonum, Montisalti und Cosignano), 1434 März 12 (Todi), 1434 Mai 23 (Mandula); ebd. ein Kopialheft mit den Abschriften der Kapitulationen von Ascoli (fol. 5v–7r, 1433 Dezember 25/1434 Januar 1), Recanati (fol. 7v, 1433 Dezember 18), Camerino (fol. 8v–9r, 1433 Dezember 18). Vgl. ergänzend die (jeweils variierenden) Listen der eroberten Städte bei Steger: Geschichte Franz Sforza’s, S. 202; Valois: Crise religieuse, Bd. I, S. 301; Cognasso: Ducato Visconteo, S. 301. 40 Ratsbeschluss der Kommune von San Severino (1433 Dezember 18), ed. Gianandrea: Signoria di Francesco Sforza, S. 4–6. Siehe auch ebd., S. 8–12, die Kapitulationsurkunde vom 23. Dezember 1433 ohne Erwähnung des Basler Konzils und des Herzogs von Mailand. 41 Siehe Fabretti: Cronaca della città di Perugia, S. 379. 42 Mailand, ASt, Cart. Visconteo-Sforzesco 20, sub dato 1434 März 12, fol. 1r: Imprima che la magnifica et excelsa v(estra) s(ignoria) se digne pigliare et in se assumere la signoria de la cipta et contado de Tode come vicario de la sancta ecclesia et del sacro consiglio de Basilea et, quando fosse creato altro sommo pontefice overo confirmato papa Eugenio per lo dicto sacro concilio, cerchare et procurare et operare iusta posse, che la magnifica v. s. habia la dicta cipta et contado de Tode in vicariato per quello modo, tempo et tempy, che ad la m. v. parera et serra possibile. Et in caso che lo dicto vicariato non potessetis optenere, degnise la magnificentia vestra la dicta cipta et contado de Todi relassare in la loro propria liberta et in de le mani del presente stato che oggi regie. Et si cum sancta chiesia ve occorresse concordarvi o cum la santita de qualunca pastore esse comunita in genere et in spetie da ogni pena de ribellione o vero altra nota de infamia per la dicta chasione cum tucte le vestre forze defenderete durante lo dominio de la v. magnifica s. in ipsa cipta.

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könne. Sforza betont dabei, dass er selbst Herr über die Stadt sein wolle43. Auch in der Unterschrift Sforzas fehlt jeder Hinweis auf die Funktion des Konzilsvertreters44. Die konziliare Legitimation war den Unterworfenen in diesem Fall offenbar wichtiger als dem Eroberer. Man wollte wohl Vorsorge treffen für den Moment, in dem der Papst die Kontrolle zurückerlangen werde. Sforza versprach, sich um Vikariat zu bemühen. Und in der Tat, knapp zwei Wochen später wechselte er das Lager und trat zu Eugen IV. über45. Dieser bestätigte ihm alle eroberten Besitzungen und übertrug ihm den Titel eines Gonfaloniere della chiesa46. Und diesen Titel führte Sforza tatsächlich47. 1442 überwarf er sich dann wieder mit dem Papst und führte aufs Neue Krieg im Kirchenstaat. Auch dieses Mal bemühte er sich um eine konkurrierende Legitimation durch das Konzil, wie im Übrigen auch der Mailänder Condottiere Niccolò Piccinino48. Wieder standen sich ein Capitano generale della Chiesa und ein Gonfaloniere della Chiesa im Kampf gegenüber. Inzwischen gab es jedoch einen Gegenpapst, Felix V. Als Kriegsherr eines Konzils musste nun niemand mehr auftreten.

3.2 Niccolò Fortebraccio Niccolò Fortebraccio war erst Anfang 1433 aus den päpstlichen Diensten ausgeschieden und zum Herzog von Mailand übergelaufen, offenbar wegen ausstehender Soldzahlungen49. In einem Schreiben an Orvieto im Januar 1433 bezifferte Fortebraccio die Ausstände auf 44.000 Florin50. Er führte den Titel des päpstlichen Capitaneus generalis jedoch vorerst weiter und besetzte im falschen päpstlichen Auftrag die Stadt Città di

43 Ebd., fol. 1r: Dominus vult omnino dictam civitatem sub dominio suo, tamen pro posse operabitur habere vicariatum et veniens ad concordiam operabitur totaliter pro remissione et tutela. 44 Ebd., fol. 11r: Franciscus Sfortia, vicecomes Cotignole et Ariani comes, Marchie Anconitane, Tuderti etc. dominus, armorum capitaneus. 45 Siehe Documenti diplomatici. Bd. III, ed. Osio, S. 120, Nr. 132. Vgl. Beckmann: RTA XI, S. 199; Cognasso: Ducato Visconteo, S. 302. 46 Siehe Woelki: Lodovico Pontano, S. 336f. mit Anm. 48. 47 Siehe beispielsweise Mailand, ASt, Carteggio Visconteo-Sforzesco, 20, sub dato 1435 Juli 6 (Kapitulation von Fabriano). Auch das in Anm. 39 zitierte Kopialheft enthält Kapitulationen vor Francesco Sforza als de n(ostra) s(antità) lo papa et sancta ecclesia confaloniero; so fol. 48r–49r (Serra San Quirico, 1434 Juli 6). 48 Siehe die Dokumente bei Documenti diplomatici, Bd. III, ed. Osio, S. 275, Nr. 250; S. 279f., Nr. 253; S. 283f., Nr. 258. Vgl. Cognasso: Ducato Visconteo, S. 347–352; Helmrath: Basler Konzil, S. 264. 49 Zu den Ereignissen siehe Beckmann: RTA XI, S. 27f.; Valois: Crise religieuse, Bd. I, S. 294–298, 350; Cognasso: Ducato Visconteo, S. 299–304; Lucci: Niccolò Fortebraccio, S. 147–56 mit Konzentration auf die Stadt Amelia. 50 Niccolò Fortebraccio an Orvieto (1433 Januar 28); Codice diplomatico, ed. Luigi Fumi, S. 693f.

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Castello51. Im August und September 1433 sehen wir, dass Fortebraccio nun den Titel des Capitaneus generalis des Konzils führte, und zwar vor allem in einem Schreiben, verfasst während der Belagerung von Tivoli, an die Benediktinerabtei Farfa nordöstlich von Rom52. Hierin teilt er den Mönchen mit, er sei per Konzilsbulle zum Capitano der Kirche ernannt worden und habe weitreichende Vollmachten und sogar entsprechende Bullen erhalten. Daher sollen die Mönche alle Güter innerhalb von acht Tagen dem Konzil unterstellen, andernfalls werden sie als Feinde des Konzils betrachtet. Außerdem stehe ihm das Recht zu, über die Ernennung des neuen Abtes zu bestimmen. Binnen weniger Wochen stieß Fortebraccio bis nach Rom vor, konnte den in der Engelsburg verschanzten Papst aber nicht gefangen nehmen. Also zog er sich nach Città di Castello zurück und bedrohte weiterhin die päpstlichen Städte in Umbrien. Sehr aufschlussreich für diese Zeit ist der Briefwechsel der permanent von mehreren Seiten bedrohten Stadt Orvieto, der die komplexen Beziehungen zu den Condottieri Sforza, Fortebraccio, Piccinino und zum Papst dokumentiert53. Gleichzeitig sehen wir, dass der Papst bzw. der Kardinal von San Clemente, der Papstneffe Francesco Condulmer, Orvieto minutiös über die aktuellen Entwicklungen am Basler Konzil auf dem Laufenden hielt54. Man erhielt sogar Kopien der kaiserlichen Schreiben vom Konzil. Vor allem aber sehen wir immer wieder verzweifelte Hilfeappelle an den Papst und die Kardinäle, endlich Truppen zu schicken. Zurück kamen nur Ermahnungen, treu zur Kirche zu stehen und vor allem nicht mit Fortebraccio zu paktieren. Denn für Orvieto war Fortebraccio offenbar nicht die größte Gefahr. Francesco Sforza war nämlich trotz seines Ausgleichs mit dem Papst weiterhin auf dem Vormarsch in Umbrien und brachte alle größeren Städte im Norden und Osten von Orvieto unter seine Kontrolle55. Insgesamt suchte Orvieto in dem komplizierten und dynamischen Machtgefüge nach 51 Muzi: Memorie civili, Bd. II, S. 3–9; Kirshner: Bartolo of Sassoferrato’s De tyranno, S. 314–316. 52 Niccolò Fortebraccio an die Abtei Farfa (1433 September 6); Florenz, BML, Plut. 16.13, fol. 76v, ed. Mansi, Amplissima collectio, Bd. XXXI, Sp. 179f.: Venerabiles viri, amici carissimi nostri, quam plurimum salutem. Pensamo debbiatis sapere, como dal sacro consiglio ho avuto le bolle del capitanato de sancta ecclesia et ad noi e stata facta piena commessione de riponere et reintegrare omne casa male in essa per qualliche persone o signori che de beneficii et le roccha della ecclesia avessero tolto et occupato. Vgl. Beckmann, RTA XI, S. 28; Valois, La crise religieuse, Bd. I, S. 296. Zu einer Verwendung am 10. August 1433 gegenüber der Stadt Amelia s. Lucci: Niccolò Fortebraccio, S. 151. 53 Umfangreiche Dokumentation im Bestand Orvieto, ASt, Lettere originali, B 673. Ergänzend dazu die in Codice diplomatico, ed. Luigi Fumi, S. 692–699, gedruckten Materialien. Zu den Vorgängen vgl. ausführlich Peyronnet: Documenti dell’Archivio di Stato di Orvieto. Zur Situation Orvietos vgl. auch Cognasso: Ducato Visconteo, S. 301. 54 Codice diplomatico, ed. Luigi Fumi, S. 695f. In einer ähnlichen Situation befand sich Perugia, deren weitgehend parallele Politik in: Cronaca della città, ed. Fabretti, S. 377–380, dokumentiert ist. 55 Vgl. Cognasso: Ducato Visconteo, S. 302.

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einem moderaten Mittelweg (viam mediam et utrique parti satisfactibilem), nicht vom Papst abzufallen, aber sich dennoch nicht der Plünderung durch die Condottieri preiszugeben56. Daher blieb man in Verhandlungen mit Niccolò Fortebraccio. Und dieser trat weiterhin als Kriegsherr des Konzils auf57. Das späteste Zeugnis dieser Legitimationsstrategie stammt vom 11. August 1435: Fortebraccio entschuldigt sich für die Festnahme eines Bürgers von Orvieto und beteuert seine Freundschaft zu der Stadt58. Wenige Tage später wurde Fortebraccio in der Schlacht bei Camerino gegen die Truppen Sforzas verwundet und starb an seinen Verletzungen.

4 Schluss Damit war die Episode des angeblichen Konzilsvikariats beendet. Zeit für ein kurzes Fazit. Es zeigt sich, dass es besonders in der Frühphase des Basler Konzils für weltliche Fürsten nicht schwer war, sich die Autorität des Konzils für ihre politischen Interessen anzueignen, selbst ohne die Meinungshoheit auf dem Konzil zu erringen. Die egalitäre Geschäftsordnung des Konzils machte das Problem der Unterwanderung durch weltliche Mächte erst virulent. Massiver Besuch durch Prälaten eines Territoriums veränderte die Machtverhältnisse entscheidend und setzte das Konzil dem Willen weltlicher Herren aus. Mailändische Prälaten waren gegenüber den Franzosen und Deutschen zwar nominell in der Minderheit, aber sie traten als geschlossene Gruppe auf und konnten die Meinungsbildung auf dem Konzil phasenweise dominieren. Erst Ende 1433, also genau in der Zeit, als die Diskussion um den Krieg im Kirchenstaat hochkochte, trafen nach und nach immer mehr venezianische Prälaten ein, die ein Gegengewicht zu der papstfeindlichen Mehrheit bildeten. Die Diskussionen wurden hitziger, kontroverser; widersprüchliche Positionen traten deutlicher hervor und bildeten sich in der Auseinandersetzung voll heraus. Die zentralen Aufgaben des Konzils – hier die Funktion als Friedensstifter – mussten konkret umgesetzt werden, ohne die Autorität des Konzils zu gefährden. Worin diese genau bestand, war jedoch längst nicht klar, 56 Am deutlichsten zusammengefasst in einem Beschluss, den die Conservatores der Stadt zusammen mit 12 Deputierten und dem B. von Orvieto am 18. Januar 1434 verabschiedeten; Codice diplomatico, ed. Fumi, S. 697f. Hieraus auch die zitierte Passage. 57 Vgl. Cronaca della città, ed. Fabretti, S. 367 mit Verweis auf eine Verwendung des Titels sacrosante sinodi et s. matris ecclesie capitaneus generalis am 27. Juli 1435. 58 Orvieto, ASt, Lettere originali, 673/5/20/1 (Niccolò Fortebraccio an Orvieto, 1435 August 11): ... dovete essere certi che non e de mia intentione, per che li homini de Orvieto tutti reputo miei singulari amici fratelli, et quando simile cose advengono, e fuor de ogne mia volunta. Die Unterschrift lautet: Nicolaus de Fortebracciis sacrosancte sinodi et s(acre) ro(mane) Ecclesie capitaneus generalis etc.

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besonders was die weltliche Macht eines Konzils betrifft. Erst langsam setzte sich die Überzeugung durch, ein Konzil kann alles, was auch der Papst kann. Und dass der Papst Condottieri ernennen und als weltlicher Herrscher Krieg führen kann, war ja selbstverständlich. Unsere Episode zeigt aber auch, welche Attraktivität die Konzilsautorität für weltliche Appropriationen haben konnte und wo ihre Grenzen lagen. Die angebliche Legitimation durch das Konzil war selbst bei regionalen Konflikten in Mittelitalien nicht ganz bedeutungslos, sonst hätten sich die Condottieri, mehr noch die unterworfenen Städte, nicht darauf berufen. Sicher war die angebliche Konzilsbulle nie ein wirklicher Beweggrund zur politischen Unterwerfung. Jedoch bot sie den Parteien die Möglichkeit in der komplizierten politischen Lage des Kirchenstaats, wo sich das Machtgefüge zwischen Papst, den Kommunen und den verschiedenen, gegenseitig rivalisierenden Condottieri fortlaufend änderte, den Anschein der Legalität zu wahren und die Verhandlungsposition bei der Rückkehr in den Machtbereich des Papstes zu verbessern. Dennoch war das Konzilsvikariat kein Ersatz für das Vikariat eines Papstes, und sei es nur das eines Konzilspapstes.

Bibliographie Handschriften Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana (= BML), Plut. 16.13. Mailand, Archivio di Stato (= ASt), Carteggio Visconteo, 13 und 20. Orvieto, Archivio di Stato (= ASt), Lettere originali, B 673. Siena, Archivio di Stato (= ASt), Lett. conc. 1433.

Quellen Codice diplomatico della città d’Orvieto. Documenti e regesti dal secolo XI al XV, ed. Luigi Fumi, Florenz 1884. Cronaca della città di Perugia dal 1309 al 1491 nota col nome di Diario del Graziani, ed. Ariodante Fabretti, in: Archivio storico italiano 16 (1850), S. 69–750. Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, Abt. 5: 1433–1435, ed. Gustav Beckmann, Göttingen 1898 (Deutsche Reichstagsakten. Ältere Reihe, 11) (= RTA XI). Documenti diplomatici tratti dagli Archivi Milanesi, Bd. III: 1431–1448, ed. Luigi Osio, Mailand 1872.

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Trost für den Papst Die Cythara spiritualis consolationis des Heinrich Kalteisen OP für Eugen IV. Thomas Prügl

Im überlieferten Schrifttum des Dominikaners Heinrich Kalteisen findet sich ein umfangreiches Werk, das der Aufmerksamkeit der jüngeren Forschung weithin entgangen ist. Der Grund dafür war neben dem beträchtlichen Umfang wohl auch der Titel: Cythara spiritualis consolationis – Zither der geistlichen Tröstung1. Was kann man von einer dezidiert geistlichen Schrift erwarten, verfasst im Jahr 1434, als auf dem Basler Konzil weltbewegende Agenden anstanden: Kirchenreform, „Rückführung“ der Böhmen, Frieden im Hundertjährigen Krieg, Durchsetzung der konziliaren Superiorität in der Kirche? Der Autor der Schrift befand sich im Epizentrum dieser Auseinandersetzungen: Konzilsteilnehmer seit 1432, Theologieprofessor, Protagonist in den Verhandlungen mit den Hussiten, Vertreter sowohl des Mainzer Erzbischofs als auch seines Ordens, der Predigerbrüder, Inquisitor der deutschen Nation und deren gewählter Sprecher auf dem Konzil. Seine Wortmeldungen in Basel waren reformerisch engagiert, theologisch scharfsinnig und rhetorisch ambitioniert; ein Prototyp des agilen Konzilsvaters, der zwischen den Loyalitäten mäandernd die Geschicke mitzubestimmen versuchte. Was veranlasste ihn, auf dem Höhepunkt des „Weltereignisses Konzil“ die Politik hintanzustellen und sich auf aszetisch-spirituelles Gebiet zu begeben, nicht rhapsodisch, sondern opulent, auf über 120 zweispaltig beschriebenen Folia? Die Cythara war Papst Eugen IV. gewidmet, als Trost in schweren Tagen, da sich Himmel und Erde gegen den Summus Pontifex zu verbünden schienen. Also doch eine politische Schrift? Trost und Zuspruch hatte der Papst in seinem stürmischen Pontifikat allemal nötig. Politisch setzten ihm zeitlebens die Colonna, die Familie seines Vorgängers, zu. Noch mehr belastete sein Pontifikat das Ringen mit dem Basler Konzil, dessen er sich bereits im Dezember 1431 durch eine unbedachte Translation entledigen wollte, ehe das Konzil überhaupt Fuß fassen konnte. Durch diesen hastigen Zug wurde der Machtkampf 1

Albert Auer hat in seiner magistralen Arbeit über die Trostbücher von 1928 bereits wichtige Informationen darüber vorgestellt, doch haben seine Forschungen nur einen kurzen Eintrag im Dictionnaire de Spiritualité nach sich gezogen: Viller: Consolation, Sp. 1615; Auer: Johannes von Dambach, S. 295– 299; Erwähnungen des Werks auch in Haage: Kalteisen, S. 973; Kaeppeli: SOPMA II, S. 203 (Nr. 1786); Prügl: Heinrich Kalteisen, S. 19f. (mit unzureichender Charakterisierung der Cythara).

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in der Kirche aber erst voll entfacht. Im Laufe der Auseinandersetzungen fiel ein Großteil der Kardinäle von ihm ab und begab sich nach Basel. Als der Papst nach schmerzhaftem Ringen und dem Druck Kaiser Sigismunds nachgebend im Dezember 1433 das Konzil doch wieder anerkannte, braute sich neues Ungemach zusammen. Die Condottieri Francesco Sforza und Niccolò Fortebraccio besetzten Teile des Kirchenstaats, während die Colonna dem Papst das Leben in Rom schwer machten und ihn zwangen, sich zu verbarrikadieren. Ende Mai 1434 brach die Revolte aus, in Rom wurde die Republik ausgerufen. Eugen musste aus der Stadt fliehen und kehrte erst acht Jahre später, dann allerdings im Triumph, an den Tiber zurück2. Die Cythara ist in zwei Abschriften überliefert, einmal als eigenhändiges Entwurfs­ exemplar im handschriftlichen Nachlass Kalteisens: Koblenz, Landeshauptarchiv 701/216, fol. 2r–132v (= K), und zum anderen als Widmungsexemplar in einer bibliophilen Ausführung mit kolorierten Initialen im Kodex Vat. lat. 999 (= V)3. Das Kolophon von K datiert den Text eindeutig auf das Jahr 1434. Der Vaticanus reproduziert dieses Kolophon, wobei die Jahreszahl 1434 von späterer Hand allerdings zu 1437 ausgebessert wurde. Dieser Befund bedarf der Deutung und ist für die Absicht und den Zweck der Schrift nicht unerheblich. Die beiden vollständigen Textfassungen K und V sind weithin identisch, differieren aber, von kleineren Abschreibevarianten abgesehen, in zwei markanten Textpassagen. Zunächst wurde das ursprüngliche Vorwort von K in V aktualisiert, sodann findet sich in V ein längerer Texteinschub, der eine Überarbeitung eines kürzeren Texts bezüglich der drohenden Absetzung Eugens IV. darstellt. Gerade dieser letzte Einschub verleiht der Cythara consolationis einen explizit politischen, ja polemischen Charakter und wirft bezeichnendes Licht auf die Auseinandersetzungen zwischen Papst und Konzil am Ende der ersten Konzilsperiode des Basiliense. Der Befund einer ursprünglichen Abfassungszeit 1434 und einer Aktualisierung im Widmungsexemplar auf 1437 deutet auf zwei unterschiedliche kirchenpolitische Kontexte und wohl auch auf Zäsuren in der Biographie des Autors der Cythara consolationis hin. 2

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Zu Eugen IV.: Reinhardt: Martin V.; Helmrath: Eugen IV.; Hay: Eugenio IV; Diener/Schwarz: Itinerar; über die aufregenden Monate von 1433 bis zur Flucht 1434 v. a. S. 210–212; sowie Helmrath, Das Basler Konzil, S. 253–255 mit treffenden Charakterisierungen und weiterer Literatur. Vgl. die Kataloge: Overgaauw: Handschriften, S. 140–143; Pelzer: Codices, S. 482. Der Vat. lat. 999 ist seit 1443 in den Inventaren der päpstlichen Bibliothek nachgewiesen: Müntz/Fabre: Bibliothèque, S. 92; Manfredi: Codici, S. 358; Fohlen: Bibliothèque, S. 244. Im Inventar von 1443 (Vatikanstadt, ASV, Collect. 490) wird V ungeachtet der hochwertigeren Ausführungen beschrieben: Cithara spiritualis consolationis, in papiro, mala littera, cohopertus corio rubeo, incipit Quia Beate pater olim improuise (Fohlen: Bibliothèque, S. 52). — Daneben hat sich in Kalteisens literarischem Nachlass ein fünf Folia langes Fragment mit dem Titel De cythara spirituali erhalten, das als Vorarbeit für den längeren Text angesehen werden darf: Koblenz, LHA 701/245, fol. 126r–130r. Vgl. Overgaauw: Handschriften, S. 235–246, das Fragment ebd., S. 240. Der Entwurfscharakter dieses Textes wird dadurch unterstrichen, dass darin so gut wie keine Autoritäten vorkommen.

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1 Die Vorworte Über den Anlass der Schrift berichtet das Vorwort in K, Kalteisen sei „unerwartet und unvorhergesehen“ vom neu gewählten Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach zum Papst geschickt worden, um dessen kürzlich erfolgte Wahl durch den Papst bestätigen zu lassen. Kalteisen wollte vor dem Papst nicht mit leeren Händen erscheinen und verfasste als Gastgeschenk eine Trostschrift, für deren Kürze (!) er sich ob der knappen Vorbereitungszeit für die Reise ein wenig zu offenkundig entschuldigt. In Anlehnung an den Anfang von Ps. 32 gab er dem Werk den Titel Cythara (spiritualis) consolationis4. Dass Kalteisen mit der Aufgabe, die Wahl Dietrichs in Rom bestätigen zu lassen, betraut wurde, entsprach seinem Rang als Vertreter des Erzstiftes Mainz auf dem Basler Konzil und seiner Nähe zum Mainzer Hof. Kalteisen wurde von Erzbischof Konrad III. von Daun, der am 10. Juni 1434 das Zeitliche segnete, geschätzt und gefördert. Er 4

Koblenz, LHA 701/216, fol. 2r–v: Überschrift: Cythara spiritualis consolacionis collecta et missa pape eugenio 4° per magistrum henricum kaltisen ordinis predicatorum. – Inc.: Quia beatissime pater improuise et inopinate ad vestre sanctitatis directus sum maiestatem per rev. patrem et dominum dominum Theodericum electum Maguntinum archipresulem nunc per vestre sanctitatis clementiam confirmandum, animaduertens mente sepenumero locum Dei omnipotentis vestram sanctitatem gerere in terris, ut patet De transl., Inter corporalia (X 1.7.2), preceptumque altissimi fore strictissime in locis sacre scripture plurimis mandatum ac per talem mandati reiterationem me arcius obligatum, ‘non’ inquit ‘apparebit in conspectum meo vacuus’, Exod. 23°, Deut. 16° et Eccli 35°, perpendens eciam temporis breuissimam morulam que vix ad preparationem tanti itineris suffecisset, fluctuans mente ‘aurum et argentum mihi non esse’ cum apostolico principe (cf. Act 6,3), quid tante vestre sanctitatis maiestati offerrem, quod saltem habere possem ex ingenii mei modicitate ac temporis tam exilis oportunitate, cogitaui non mala, sed bona prophetare, ymmo merito placibilia offerrem, considerando vestre sanctitatis statum et personam multiplici subiacere persecucioni iocale seu strenam consolacionis apportare. Et quia sub metaphora cythare hanc consolacionis strenam decrevi figurare, placuit eam cytharam consolationis appellare. Revera pater beatissime, licet sacre theologie immeritus sim professor ac prauitatis heretice inquisitor indignus ordinis predicatorum frater Henricus Kaltisen de Confluencia voca, non tamen potui pro nunc cum eximiis et magnis ac divitibus sacre theologie scriniis iuxta tanti nominis exal munera magna aut plura, sed cum paupercula vix duo era offerre minuta, confidencia in vestram sanctitatem ex eo gerens quod secundum eulogium apostoli ‘libenter suffertis insipientes cum sitis ipse sapiens’ (2 Cor 11,19), non presumpcionem sed filialis pietatis acceptando intencionem, non quantum sed ex quanto, non censum sed affectum pensando, vestre sanctitatis ad beatorum pedum humillima cum subiectione oscula prosternens ac opusculum presens quemadmodum quecumque per me conscripta aut scribenda eedem sanctitati corrigenda ac emendanda subiciens, utique Mineruam tocius sapiencie fontem docere non presumo, sed consolacioni in tantis vestre sanctitatis tribulacionibus constitute mederi opto quam oro et orabo ‘Pater misericordiarum et Deus tocius consolacionis consoletur in omni tribulacione vestra’ (cf. 1 Cor 1,3–4), ipso promittente cum psalmo ‘qui habitat in adiutorio altissimi in proteccione Dei celi commorabitur’ (Ps 90,1). ‘Cum ipso sum in tribulacione, eripiam eum et glorificabo eum. amen.’ (Ps 90,15) Filialis compassionis affectum depromere satagens ac cytharam paterne consolacionis vestre sanctitati conficere intendens, a verbo dauitico qui cytharizando precinit in psalmo ad vestram sanctitatem sic exoro: ‘Confitemini Domino in cythara’, ps. 32 [...].

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firmierte als Beichtvater des Bischofs und war wohl einer der wichtigsten Theologen am erzbischöflichen Hof5. Der neue Bischof, Dietrich von Erbach, behielt zunächst das eingespielte Mainzer Personal bei und bat Kalteisen offenbar in die Gesandtschaft, die die Wahlapprobation an der Kurie erwirken sollte. Warum Kalteisen letzten Endes diese Reise nicht unternahm, entzieht sich unserer Kenntnis. Waren es politische, gesundheitliche, organisatorische Gründe? In der zweiten Version des Vorworts der Cythara consolationis in der Handschrift V deutete er lediglich an, dass er mit seinem Gastgeschenk „verspätet“ eintreffe und dass er damals nicht persönlich kommen konnte. Bei den Verhandlungen zwischen der Kurie und der Legation des neuen Mainzer Erzbischofs im Sommer und Herbst 1434 spielte stattdessen Johannes Hofmann von Lieser (Lysura) ein wichtige Rolle6. In dem kürzeren Vorwort in V erwähnte Kalteisen den Wechsel auf dem Mainzer Bischofsstuhl als Reiseanlass nicht mehr. Da der Papst nach wie vor von zahllosen Widrigkeiten bedrängt werde, habe er sich entschlossen, ihm das damals unternommene Werk nun doch als Trostgabe zu übersenden. Es sollte darin auch sein „Mitleiden“ zum Ausdruck kommen, denn immerhin habe er – so ein nachträglicher Zusatz am oberen Rand der Handschrift – mehr als fünf Jahre auf dem Basler Konzil ausgehalten7. 5

6 7

Voss: Dietrich von Erbach, S. 314–316 (Kalteisen als erzbischöflicher Rat). Einer der verschollenen Codices aus Kalteisens Nachlass, den Friedrich Steill 1688 im Koblenzer Dominikanerkloster kurz inventarisierte, enthielt Texte, die die Verbundenheit Kalteisens mit Erzbischof Konrad von Daun belegen. Im vierten Band des Steillschen Inventars fanden sich u. a.: Tractatus quomodo qui praesunt se debeant habere cum mala exorta perseverant, ubi multa de Ecclesiae regimini contra schismaticos ad Conradum episcopum Moguntinum. – Ad archiepiscopum Conradum Ryngraff Moguntinum recommendatio episcopi et ordinis pro praesentatione Fratris. – Sermones aliqui habiti in Cartusia et summa aede Moguntina anno MCCCCXXIV et Confluentiae etc. Zit. nach Quétif/Échard: SOP II, S. 829 Daniels: Diplomatie, S. 69–74; Voss: Dietrich von Erbach, S. 106. Das aktualisierte Vorwort in V, fol. 1v, lautet: Quia beatissime pater olim inprovise ad vestram sanctitatem mitti ordinabar, volvebam consternata mente eandem sanctitatem locum Dei omnipotentis tenere in terris ut patet in c. ‘Inter corporalia, de translatione’ (X 1.7.2), preceptum quoque altissimi fore pluribus in locis scripture sacre, utpote Exo 23, Deut° 16, et Eccli 35, ‘Non apparebit in conspectu meo vacuus’, et licet pro tunc retardatus fuerim copore, mente tamen et spiritu alloqui semper vestram sanctitatem optavi, quam tantis obvolvi conspicio anxietatibus, quatenus in loco Christi eciam martirio Christi, cuius tota vita martirium exstiterat, multiplicibus adversitatum eventibus undique confluentibus videatur configurari, considerans nichilominus causas non cessare pro tunc assumpti operis, cogitavi pro nunc transmittere opusculum tocius vestri doloris dulcorativum adiutor in tribulacionibus seu cythara consolacionis nominatum, confidencia in vestre sanctitatis pietatem eo gerens quod ‘libenter suffertis insipientes cum sitis ipse sapiens’ (2 Cor 11,19), non presumpcioni sed filialis conpassionis cui merito ut capiti succurrere debent membra tocius corporis Christi misticum conpati {add. in marg. sup.: prout ego plus quam annis quinque in sacro concilio Basiliensi iam continuaui} hac dumtaxat ex causa nunc eiusdem sanctitatis ad beatorum pedum humillima devotissimaque cum prostracione me offero oscula, iuxta conformitatem dicendorum sub cythare materialis ad spiritualis cythare comparacionem cum ympnidico cytharedo inquiens sub metaphpora hoc thema: ‘Confitemini Domino in cythara’. Huius thematis est sentencia

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Die Leiden Eugens IV. werden zu Beginn des zweiten Teils der Cythara konkretisiert und dramatisch geschildert: Gesundheitlich geschwächt, von Tyrannen verfolgt, des Kirchenstaats beraubt, aus Rom vertrieben und im Exil gebunden, erscheint der Papst wie der Dulder Hiob, der seiner Gesundheit und seines Besitzes beraubt und von den Freunden verlassen auf dem Misthaufen sitzend seine Wunden schabt8.

2 Der Aufbau des Werks9 Die Cythara consolationis setzt sich aus fünf Teilen zusammen. Nach dem Vorwort beginnt der Text mit einer Sammlung von knapp 40 Autoritäten und geistlich-moralischen Beispielen aus der Natur, der Physik, der Kosmologie, der Medizin etc., die Kalteisen aus dem Traktat Lumen animae eines unbekannten Autors aus dem frühen 14. Jahrhundert entnahm10. In diesem beliebten und weit verbreiteten Manuale für Prediger finden sich Exzerpte von altchristlichen und monastischen Autoren wie Cassiodor, Orosius oder Haymo von Auxerre ebenso wie heidnische Philosophen und antike Schriftsteller wie Hegesipp, Avicebron, Ptolemaeus, Sidonius, Salust, Solinus, Archytas von Tarent, Philartius, Galienus u. a. Man gewinnt den Eindruck, als ob Kalteisen mit ‘Confitemini Domino’ votis omnibus in graciarum accionibus continuis [...]. K fol. 13va; V fol. 14ra: Quis enim non condoleat, ymmo quis det oculis meis aquas lacrimarum ut defleam dolorem et passionem sanctissimi domini nostri pape Eugenii quarti? Nunc corpore debilitatur, nunc a tyrannis persequitur, nunc patrimonio sancti Petri expoliatur, nunc quasi exilio quodam relegatus de Roma profugus concernitur velud alter Iob, corpore invalidus spoliatus temporalibus et ab amicis multis derelictus. 9 Schematisch lässt sich der Aufbau folgendermaßen veranschaulichen: I. Prooemium (K, fol. 2ra–va). II. Auctoritates aus dem Predigtmanuale Lumen animae (K, fol. 2va–4vb). III. Cythara materialis (K, fol. 5ra–13ra) (Allegorie der gegenständlichen Zither; Quästionen zu Musik, Gesang, Gotteslob, Bibel.) IV. Cythara spiritualis (K, fol. 13rb–40ra) 1. quoad formam. – 2. quoad materiam (gewölbter Corpus, Saiten, Wirbel, Plectrum) 3. quoad melodiam (K, fol. 40rb–51ra) a) numerus notarum b) numerus cordarum (Psalterium decem cordarum; geistliche Tugendlehre) c) numerus cytharedorum (K, fol. 51rb–114va). = 28 Klagen des Papstes und entsprechende Tröstungen. V. Epilogus (K, fol. 114va–132va); geistliche Sinne nach Wilhelm von Auxerre und Thomas von Aquin. 10 K fol. 2va–5ra; V fol. 1vb–4rb. – Für den Hinweis auf das Lumen animae danke ich Christina Traxler. Vgl. dazu: Harris (Hg.): Light. Das Werk existiert in zahllosen Handschriften und wurde schon im 15. Jahrhundert durch den Tiroler Pfarrer und späteren Bischof von Brixen Ulrich Putsch ins Deutsche übersetzt. Sowohl diese Übersetzung als auch die lateinische Fassung wurden im 15. Jahrhundert mehrmals gedruckt, so z. B. Augsburg 1477, Reutlingen 1479, Straßburg 1482, Lübeck 1484. 8

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diesem massiven Aufgebot an philosophischem Wissen seine humanistisch gebildeten Leser an der Kurie zu beeindrucken versuchte. Gleichwohl sind die einzelnen Zitate nur aphoristisch aneinandergereiht, wodurch sich rasch der Verdacht nahelegt, dass sie aus einer Anthologie entnommen wurden. Die dort beschriebenen naturwissenschaftlichen Phänomene werden allegorisch als geistliche Trostbotschaft ausgelegt. Nach diesem Einstieg folgt der eigentliche erste Teil der Abhandlung, eine allegorische Auslegung der biblischen Zither, Synonym für die musica spiritualis, die die Tiefen des geistlichen Lebens ergründet. Der geistliche Musiker weiß um eine doppelte Zither: eine materielle, aus Holz gefertigte, mit der David seine Lieder vortrug, und jene andere, geistliche bzw. mystische, die die tieferen Geheimnisse des Lebens mit Gott besingt. Im ersten Teil des Traktats deutet Kalteisen die materielle Zither aus, „mit welcher der Herr den Juden erlaubt hat, ihn zu loben“, weil sie vorbildhaft auf die zweite, die geistliche Zither verweise, welcher der zweite Hauptteil des Traktats gewidmet ist. Als Besonderheit im Teil über die materielle Zither erörtert Kalteisen einige theologische Fragen bezüglich musikalischer Praxis im Gottesdienst, theologischer Bildung und Schriftauslegung: Warum hat die Kirche den Text, aber nicht die Melodien der alttestamentlichen Psalmen übernommen? Warum singen die zeitgenössischen Juden nicht so wie ihre Vorfahren? Darf man Prälaten und Studenten erlauben, ihre Phantasien mit Instrumentalmusik zu vertreiben? Vertreibt das Saitenspiel die Dämonen aus Besessenen und Schwermütigen? (Ein Anlass für den Inquisitor Kalteisen, sich lange über Dämonen auszulassen.) Überhaupt, die Wirkungen der Musik! Kalteisen scheint sie vor allem aus Boethius, weniger aus eigener Praxis zu kennen. Aufgrund der Wirkkraft der Musik sei es angemessener, die Hymnen und Orationen der Kirche zu singen als nur zu rezitieren. Und dennoch seien die novitates et singularitates lascivae et curiosae aus dem Kirchengesang zu verbannen, wie auch die discantus distorti, die vociferationes fractiosae, da diese die Menschen ablenkten und zu eitlem Genuss verführten11. Die Zither selbst wird hinsichtlich ihrer Form, Materie und Melodie betrachtet. Diese Einteilung bietet einen Anlass, wichtige Themen geistlicher Theologie, die in der Tröstung gipfeln, zur Sprache zu bringen. Hier kommen die Klassiker der Konsolationstheologie ausführlich zu Wort: Die Moralia in Iob Gregors des Großen, die Consolatio philosophiae des Boethius, Petrarcas De secreto conflictu curarum mearum, Seuses Horologium sapientiae, Hugo von St. Victors De claustro animae, Wilhelm von Auxerres Summa de vitiis et virtutibus, und immer wieder Thomas von Aquin, um nur die wichtigsten zu nennen12. 11 K fol. 12vb. 12 Da es der begrenzte Raum verbietet, die Cythara consolationis in die reiche Tradition der mittelalterli-

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Mit dem Bild der Zither bewegte sich Kalteisen spiritualitätsgeschichtlich auf traditionellem Terrain. Gewiss kannte er das populäre Betrachtungsbuch seines zeitgenössischen Ordensbruders Johannes Nider OP, der 1428 für ein lateinunkundiges Publikum die 24 goldenen Harfen geschrieben hat13. Die zehnsaitige Harfe (Psalterium decem cordarum) wurde durch Joachim von Fiore als Betrachtungsgegenstand populär, und aus der Viktorinerschule stammt das Vorbild, biblische Gegenstände zum Ausgangspunkt allegorisch aufgefächerter theologischer Abhandlungen zu machen14. Kalteisen zitiert zwar nicht Joachim, aber den Sermo De decem cordis des hl. Augustinus15. Wie seine Vorgänger unterlegt er die „geistliche Zither“ mit bedeutungsvollen Zahlenreihen. Die sechs Noten (gradus notarum), welche auf sechs Arten von Tugenden hinweisen, entnimmt er Hugo von St. Viktors De claustro animae16. Die Sänger unterteilt er in drei Gruppen (incipientes, proficientes, perfecti), die in jeder Gruppe getrennt lamentatio, consolatio und delectatio anstimmen; dahinter steht das bekannte dreistufige Aufstiegsschema nach Dionysius Areopagita. Die erste Gruppe singt sieben Klagelieder, daraus entstehen acht Danklieder (octo thoni sive octo discantus inter se symphonice concordantes)17. Danach schlagen die proficientes die zehnsaitige Harfe an, die zunächst eine geistliche Auslegung der zehn Gebote (nach Augustinus) einschließt. Danach stimmen die proficientes 15 Gradualpsalmen an, die in drei Quinarien gegliedert sind, welche die Gruppe der proficientes wiederum nach ihrem geistlichen Fortschritt in drei Untergruppen teilt18. Die „Vollkommenen“ (perfecti) singen schließlich neun Weisen, vier des (geistlichen) Einübens (exercitium) und fünf, die der Ruhe (quies) gewidmet sind. Die erreichte Zahl neun führt Kalteisen dazu, den dreifachen Aufstieg von meditatio – lectio – contemplatio darzustellen19.

13

14 15 16 17 18 19

chen Konsolationsliteratur einzuordnen, sei nur auf die Klassiker verwiesen: Auer: Leidenstheologie; von Moos: Consolatio; Bernt: Trostbücher. Nider: Goldene Harfen, ed. Abel. Hinter den 24 Harfen verbergen sich die Instrumente der 24 Ältesten in der Thronsaalvision der Offenbarung des Johannes, Offb 5,8f. Johannes Nider legte den 24 Ältesten aber jeweils auch Aussprüche der Wüstenväter aus den Apophtegmata Patrum zugrunde, einem Klassiker der monastisch geistlichen Unterweisung. Die Wüstenväter kommen bei Kalteisen nur am Rand vor, aber die 24 Ältesten und die vier Wesen, die sich vor dem Lamm niederwarfen und ihre Instrumente nahmen, bildeten den Rahmen für einen wichtigen Unterabschnitt des zweiten Teils der Cythara consolationis, wie wir gleich sehen werden. Stellvertretend sei nur erwähnt McGinn: Growth, S. 363–418 (= The Victorine Ordering of Mysticism). Augustinus: De decem cordis, ed. Lambot. K fol. 40rb–vb. K fol. 41ra–45ra. K fol. 45ra–46rb. K fol. 46rb–50vb.

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3 Die Klagen des Papstes und das Basler Konzil Für den dritten Hauptteil des Werkes wählt Kalteisen den dramatischen Rahmen der Thronsaalvision aus dem fünften Kapitel der Offenbarung. Dort wird dem Lamm auf dem Thron von den vier Wesen und den 24 Ältesten gehuldigt20. Vor dieser himmlischen Kulisse lädt Kalteisen Papst Eugen IV. ein, seine Sorgen vorzutragen. Für jede der 28 Betrübnisse (maestitiae) weist das Lamm auf dem Thron einen der Ältesten an, ein Trostlied für den so geplagten Papst anzustimmen21. Die meisten der 28 Klagen greifen vertraute Probleme des geistlichen Lebens eines jeden Gläubigen auf: So bedrückt zunächst die Unsicherheit über das eigene Heil angesichts von Vorherbestimmung und der Möglichkeit ewiger Verwerfung, oder der Zweifel, ob die eigenen Verdienste für das ewige Leben reichen. Man leidet unter der Vernachlässigung des geistlichen Lebens, beklagt, dass die eigene Frömmigkeit erkaltet. Den Papst bedrückt aber auch der Zustand der Welt: In der Christenheit ist die Glut der Liebe erloschen, die Bösen nehmen überhand, die Guten werden immer weniger. Das Papstamt legt sich wie ein beklemmender Ring um den Amtsträger, der ihm buchstäblich den Atem nimmt; denn die geistlichen Gefahren seien für einen Papst noch schwerwiegender: Wird er angesichts seines irdischen Ansehens auch die himmlische Aureole erlangen? Wie soll er überhaupt mit der Ehre umgehen, die ihm die Welt entgegenbringt? Birgt der äußere Pomp nicht große Gefahren für die Seele? Kalteisen nimmt diese Fragen zum Anlass, auch das päpstliche Zeremoniell und die höfischen Gepflogenheiten an der Kurie zu erörtern22. Die Warnung vor dem unaufhörlichen Betrieb und dem Geschrei der Gerichtsangelegenheiten an der Kurie sprach bereits Bernhard von Clairvaux in seinem Papstspiegel De consideratione ad Eugenium aus; der Text wird hier wörtlich zitiert. Mit der 17. Klage näherte sich Kalteisen der persönlichen Situation Eugens IV.: die Beschwernisse des hohen Alters und die Krankheiten, die ihn seit Jahren plagen; die Verfolgung durch „Tyrannen“; die Enttäuschung über abgefallene Freunde und Gefolgsleute, denen er doch so viel Gutes tat. Dies könnte noch als topisch abgetan werden, auch wenn die historischen Umstände unverkennbar sind, aber mit der 21. Klage war Kalteisen bei der aktuellen politischen Lage angelangt. Es geht um den Aufstand in der Stadt Rom, die Ausrufung der Republik im Mai 1434, das 20 Et cum aperuisset librum quattuor animalia et viginti quattuor seniores ceciderunt coram agno habentes singuli citharas et fialas aureas plenas odoramentorum quae sunt orationes sanctorum. Et cantant novum canticum dicentes: Dignus es accipere librum et aperire signacula eius (Offb 5,8). 21 Ymaginor ergo sanctitatem vestram in medio 28° citharedorum predictorum constitutam Deo et Agno vestrarum desolacionum excessum querulantem. Et quilibet ipsorum per suam cytharam consolacionis dulcedinem Deo iubente ad sibi querulatam turbacionem resonantem. K fol. 51vb. – Der Textteil mit den 28 Klagen umfasst in K fol. 51rb–114va. 22 K fol. 82vb–84ra.

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unfreiwillige Exil des Papstes in Florenz, und schließlich den Streit mit dem Basler Konzil. Die Situation wird als bekannt vorausgesetzt, so dass die historischen Details nur angedeutet werden, um die Bühne für die topische Tröstung frei zu machen. Der exilierte Papst möge sich erinnern, dass seine Heimat nicht Rom sei, sondern die Welt (ubi papa ibi Roma), und der Verlust seiner Besitzungen möge ihn nicht grämen, da er ja ohnehin das dominium über alle weltlichen Güter auf Erden besitze. Den weltlichen Fürsten stehe aber die Ausübung und Verwaltung der Besitzrechte zu. Die Besitzungen seien ihnen als „Stipendien“ zurückzugeben, nicht nur um die Kirche zu verteidigen und das christliche Volk zu regieren, sondern auch, weil sie ein gewisses göttliches und natürliches Recht darauf haben23. Die 22. Klage spricht die Plünderung des Kirchenstaates an, die 23. Klage die daraus folgende materielle Not des Papstes, da sich viele an den Gütern des Kirchenstaats bereicherten und dieser in der Folge verwahrlost, und die 28. Klage thematisiert den Eid auf die Wahlkapitulationen, den der Papst im Konklave geleistet hat und der jetzt sein Gewissen belastet24. Die brisanteste Klage jedoch ist die 24., die sich auf die von den Vätern des Basler Konzils angestrebte Absetzung Eugens vom Papstamt bezieht. Diese wurde aus Basler Sicht immer dringlicher, da Eugen IV. nach der überhasteten Translation des Konzils im Dezember 1431 sich trotz inständigen Bittens nicht erweichen ließ, den Translationsbefehl zurückzunehmen. Das Konzil antwortete mit einer Bekräftigung der Konstanzer Superioritätsdekrete, in denen dem Papst schärfste disziplinarische Konsequenzen angedroht wurden. Im Februar 1433 wird Eugen der Halsstarrigkeit angeklagt und nach Basel zitiert. Sollte er binnen vier Monaten nicht vor dem Konzil erscheinen, um sich zu reinigen, gelte er ipso facto als abgesetzt. In der angespannten Situation gelang es Sigismund, der anlässlich der Kaiserkrönung nach Rom gezogen war, den Papst zum Einlenken zu überreden. Die bedingungslose Anerkennung des Konzils leistete Eugen allerdings erst im Dezember 143325. Die Bedenken des Konzils dem 23 Non enim pati poteris exilium ubique, totus mundus tibi est ut Roma altera, solium proprium habes enim loco Petri iurisdiccionem spiritualium omnium in toto orbe simulque temporalium. K fol. 95rb. – Imperatoribus ergo et regibus reddenda sunt temporalia quasi pro stipendiis ipsorum quia ministri Dei sunt ut dicit apostolus. Tenentur enim ecclesiam Dei defendere et populum christianum gubernare et rem publicam in pace conseruare. Pro quo ministerio stipendiandi sunt thesauro ecclesie corporali quia quodam nature iure et diuino pro tali ministerio debetur eis tale stipendium temporale. Ebd. 95vb. – Ex quo patet quod solus papa habet immediatam uniuersalem iurisdiccionem super omnem temporalitatem et ita satis inproprie dicitur pati exulacionem. Ebd. 96ra. 24 Vicesima octaua nimirum consternacionis mentis vestre sanctitatis potest esse expressior perplexitas consciencie causa, videlicet prestita quedam iuramenta forsitan ante uel post assumpcionem vestre sanctitatis ad papatum, quedam nonnulla collegia restringere conuenerunt tempore eleccionis episcoporum ad pontificatum ipsum eligendum seu eciam electum. K fol. 112rb–va. 25 Zum ersten Streit zwischen Papst und Konzil: Decaluwe: A Successful Defeat, S. 53–151; Ourliac: Das Schisma und die Konzilien, S. 111–114.

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Papst gegenüber konnte damit freilich nicht ausgeräumt werden, Zitation und Monitorium standen weiterhin im Raum. Was riet Kalteisen dem Summus Pontifex im Sommer 1434 angesichts der latenten Bedrohung eines Prozesses gegen ihn? Er stellte dem Papst als Entscheidungshilfe zwei Möglichkeiten vor Augen: Entweder der Papst habe sich tatsächlich etwas zu Schulden kommen lassen, oder aber der Prozess werde grundlos angestrengt. In beiden Fällen lief der tröstende Rat auf dasselbe Ergebnis hinaus: Nimm das Gerichtsurteil an und tritt zurück! Kalteisen hielt also ein echtes Verschulden seitens des Papstes nicht nur für denkbar (weniger eine Häresie, die man ihm damals hätte kaum nachweisen können, als vielmehr eine obstruktionistische Haltung dem Konzil gegenüber), sondern er gestand dem Konzil unabhängig von der Richtigkeit der Anschuldigungen zu, über den Papst zu Gericht sitzen und auch ein gültiges Urteil sprechen zu können. Sollte der Papst tatsächlich schuldig geworden sein, so möge er die Ursache beseitigen (also seine Blockadepolitik, die Weigerung vor dem Konzil zu erscheinen, etc.), damit auch die Folgen (also die Anklage und die drohende Absetzung) obsolet würden. Die Unterwerfung unter den konziliaren Gerichtsspruch würde dem Papst immer noch zum Heil gereichen; denn wenn er schuldig sei, halte ihn jetzt der Teufel in seinen Krallen, und im zukünftigen Leben würden ihn Höllenqualen und Fegefeuer quälen. Nimmt er in diesem Zustand aber das Übel einer kanonischen Absetzung an, so würde es ihm eine Besinnungspause (lucidum intervallum) geben, damit er wieder zur Vernunft komme26. Anders gesagt, eine Absetzung hätte auch eine positive Wirkung für das Heil des Papstes. Wenn aber die Vorwürfe an den Papst und seine Anklage grundlos seien, dann möge er die Absetzung ebenfalls geduldig ertragen und dem Herrn Dank sagen für alle Schmach, die er ungerechterweise erleiden darf. Die öffentliche Schande, die in diesem Fall auf ihn fallen würde, sei nichts im Vergleich zur Ehre, die ihm im Himmel zuteil werden wird27. Kalteisen wählte einen besänftigenden Ton. Wie ein gütiger Seelenführer stellte er dem Papst die ewige Gerechtigkeit im Himmel in Aussicht, die jeden irdischen Skan26 Animaduerte pater sancte, si hoc tue deposicionis opprobrium ex tuis optetur demeritis aut absque illis: Si ex demeritis, auffer causam ut cesset effectus, quod si causa manente effectus subqueretur – quod a Ihesu Christi vicario idem Saluator dignetur auertere – hoc adhuc in bonum cederet tue sanctitati tamquam res saluberrima tue saluti, utpote subieccionis, qua in tali statu hosti humani generis et in futuro infernalibus cruciatibus aut purgatorii penis grauissimis subicereris, in toto uel in magna parte depositiua. Cuius subieccionis deposicio preualet in bono, malo deposicionis illius temporalis eciam iudicio pacientis talem deposicionem, quando ob ipsam insaniens lucidum habuerit interuallum. K fol. 102va–vb. 27 Si autem – quod pariformiter Agnus Dei auertere dignetur – talis deposicio absque tue sanctitatis demeritis machinaretur nequaquam (ms.: condignas), clementissimo Domino referre posses gracias si in hoc pacienciam non fictam seruares. Nulla enim tunc est comparacio confusionis ipsius temporalis ad gloriam que sequeretur in celis, presertim cum confusio ista temporalis esset aput paucos et terricolas temporaliter tantum, et gloria sit aput Deum atque apud infinitos celicolas eternaliter duratura. K fol. 102vb.

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dal verblassen lässt. Doch Kalteisen war nicht der Beichtvater des Papstes, sondern sprach als Basler Konzilsvater, der mit seinen Ratschlägen die Ansichten selbst des gemäßigten Flügels in Basel zum Ausdruck brachte, und diese waren unmissverständlich: Das Konzil ist der rechtmäßige Richter über den Papst und kann ihn zur Verantwortung ziehen. Der Text (in Fußnote 26) wirkt syntaktisch und terminologisch kompliziert, so als ob der Autor eine klare Aussage verschleiern möchte. Plagte den Dominikaner ob der Kühnheit dieses „geistlichen Rats“ doch das schlechte Gewissen? Wie auch immer. De facto gab er dem Papst zwei schallende Ohrfeigen, denn er hielt es für wahrscheinlich, dass sich dieser falsch verhielt, und er verurteilte die Bestrebungen des Basler Konzils, den Papst juristisch in die Pflicht zu nehmen, nicht; ganz im Gegenteil! Drei Jahre später allerdings war Kalteisen diese Passage mehr als peinlich, und so ersetzte er sie mit einem anderen Text, ehe er die – revidierte – Cythara consolationis dem Papst zuschickte. Der neue Text fällt formal und inhaltlich aus der Reihe. Er ist nicht nur etwa fünfmal so lang wie die ursprüngliche 24. Tröstung, sondern er verlässt auch den sprachlichen Stil einer Trostschrift und argumentiert stattdessen scholastisch-kontroverstheologisch. Die Tröstung mündet nun nicht mehr in eine geforderte Unterwerfung unter den Richterspruch des Konzils, sondern der Papst wird über seine Rechte unterrichtet, nach denen er im gegebenen Fall eben nicht abgesetzt werden könne. Zu diesem Zweck hat Kalteisen eine knappe Anthologie von Texten des Thomas von Aquin zusammengestellt, die über die Gewalt des Papstes handeln. Er verband den thomistischen Nachhilfeunterricht für den Papst mit einer Ergebenheitsnote des gesamten Dominikanerordens, welcher die hohe Autorität des Papsttums zu jeder Zeit aufrecht erhalten habe28. Die Texte aus dem Werk des hl. Thomas werden neun papalistisch-ekklesiologischen Thesen zugeordnet, die darin gipfeln, dass der Papst nur abgesetzt werden dürfe, wenn er gegen den Glauben verstoße29. 28 Pater beatissime, in hac tam graui re debes consolacionem ex beati doctoris sancti Thome Aquinensis ordinis predicatorum dictis sparsim hinc inde collectis recipere qui ostendere volens deuocionem, quam ipse et nunc subsequenter totus ordo predicatorum habuit semper et habet ad apostolicam sedem, magnam attribuit summo pontifici auctoritatem, quibus in unum comportatis melos suauissimum conficere poteris. V fol. 94va. 29 Primum, quod papa caput uniuersalis ecclesie est, cuius gubernacio ad totam uniuersalem ecclesiam se extendit. Hanc ostendit Parte 3a q. 8 a. 6 [...] Secundum, quod uniuersalis ecclesie tenere primatum papam pertinet de neccesitate salutis confiteri ad ecclesiam catholicam. Hanc ponit in tractatu Contra errores grecorum dicens [...] Tercium quod eadem plenitudo potestatis a Christo beato Petro super uniuersalem ecclesiam collata est integraliter ad eiusdem successores legittimos deriuata. Hanc ponit idem sanctus Thomas in tractatu preallegato Contra errores grecorum [...] Quartum quod crimen heresis incurrit qui sentencie pape in hiis que fidei sunt aut bonorum morum contradicit. Patet per eundem in tractatu Contra impugnantes religionem c. 4° in fine [...] Quintum: Plenitudo potestatis papalis includit utrumque gladium auctoritatis spiritualis et temporalis, per eundem sanctum patet in fine secundi Sentenciarum [...] Sextum: Tanta est plenitudo potestatis pape in temporalibus quod sibi debetur subuencio seu prouisio

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Bereits in früheren Schriften, inklusive der Cythara consolationis, hatte Kalteisen reichlich aus dem hl. Thomas zitiert, nie zuvor hatte er aber eine ganze thomistische Anthologie als papalistisches Argument ins Feld geführt. Danach, in seinen dezidiert antikonziliaristischen Schriften, finden sich häufig Verweise und Zitate aus dem Werk des Aquinaten30. Um das Jahr 1436 verfasste allerdings auch Johannes de Torquemada auf Bitten Kardinal Cesarinis ein Florilegium von thomistischen Texten auf 73 Quästionen aufgeteilt, das als Argumentations- und Textarsenal für den sich zuspitzenden Kirchenkampf gedacht war. Kalteisen scheint seine Texte jedoch nicht aus diesen berühmteren Flores sententiarum beati Thomae bezogen zu haben. Dazu war er mit dem Werk des großen Ordenslehrers zu vertraut. Womöglich muss man sich auch den Plan, aus den Texten des Aquinaten eine kohärente Papsttheologie bzw. papalistische Ekklesiologie zusammenzustellen, als Gemeinschaftsunternehmen vorstellen, zu dem um 1436 vor allem die Dominikaner unter den Basler Konzilsvätern beigetragen haben31. Kalteisen war mit den neun Thesen, die die Autorität des Papstes unterstreichen sollten, als „Tröstung“ noch nicht zufrieden. Für den zweiten Teil des revidierten Textes fühlte er sich veranlasst, das Konstanzer Superioritätsdekret Haec sancta einer kritischen Interpretation zu unterziehen. Damit wurde der Trostcharakter der Schrift ein weiteres Mal gesprengt, und Kalteisen war endgültig bei der Kontroverstheologie angelangt32. Offenbar bedurfte der Papst nicht mehr des Trostes, sondern einer Argumentationshilfe für die bevorstehenden Auseinandersetzungen. Die Auseinandersetab omnibus christianis. Hanc ponit idem in Secunda Secundae q. 87 art. 4° ad 3 arg. dicens: [...] Septimum, quod auctoritas congregandi concilium generale residet regulariter in summo pontifice sine cuius auctoritate interueniente nec sancti patres in conciliis generalibus potuissent quidquid rite statuere. Istud ipse idem ponit in tractatu Contra impugnantes religionem c. 5° parum ante finem dicens: [...] Octauum quod tanta est plenitudo potestatis papalis quod potest dispensare circa decreta patrum statuta in genera­ libus conciliis patet per eundem Quodlibeto 4° art. 13° [...] Nonum ad propositum, propter quod et omnia precedencia sunt introducta, est, quod non debet papa ab officio papatus deponi nisi sit contrarius catholice fidei. Istud uidetur de mente huius sancti Aquinensis in 4° Sentenciarum dist. 19 dicentis quod [...] Ecce pater sancte hec sunt que sparsim et multa similia ponit sanctus ille. Perpendat ergo sanctitas vestra quantum illum predicatorum ordinem debeatis diligere ac fouere ex quo tam dulcia cantica dragmatis apostolica sedes meruit recipere. V fol. 94vb–100ra. 30 In seiner frühen, von der Concordantia catholica des Kusaners abhängigen Studie De ecclesia etwa findet sich eine Liste von 13 Verweisen auf Thomastexte, die sich allerdings nicht mit den in der Cythara consolationis verwendeten deckt. Prügl: Heinrich Kalteisen, S. 282f. Zur Verehrung des hl. Thomas im Schrifttum Kalteisens vgl. ebd., S. 147–151. 31 Zu den Flores sententiarum beati Thomae de auctoritate summi pontifices bzw. Tractatus compendiosus septuaginta trium questionum super potestate et auctoritate papali ex sentenciis sancti Thomae collectarum vgl. Antonio da Cannara: De potestate Pape, ed. Prügl, S. 137–146; Meuthen: Stellungnahme, S. 161 (v. a. Anm. 63); Kaeppeli: SOPMA III, S. 31 (Nr. 2714). 32 V fol. 97va–100ra.

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zung mit Haec sancta in dieser Schrift ist insofern von Interesse, als sich 1436/37 unter den Verteidigern des Papstes noch kein Konsens über die Tragweite und Autorität des Konstanzer Dekretes herausgebildet hatte, was erst mit der Bulle Moyses vir Dei von 1439 erfolgte. Kalteisen hat in seinen früheren Schriften keine Zweifel an der Geltung von Haec sancta erkennen lassen. Nun nahm er dessen Aussagen näher in den Blick: Zunächst relativierte er den Anspruch, dass das Konzil „unmittelbare Gewalt von Christus habe“. Ganz gegen die ursprüngliche Aussageabsicht von Haec sancta insistierte Kalteisen darauf, dass eine Unmittelbarkeit zwischen Christus und einem Konzil nur in der Vermittlung des Papstes verstanden werden könne, der das Konzil einberuft und bestätigt33. Wenn jedes Konzilsdekret unmittelbare Autorität von Christus erhielte, benötigten diese keine päpstliche Approbation mehr. Dagegen stehe aber die eindeutige Ansicht des hl. Thomas, die weiter oben ins Feld geführt wurde. Eine Gewaltenübertragung von Christus an das Konzil war für Kalteisen ohne jegliche päpstliche Vermittlung nicht vorstellbar34. Danach unterzog Kalteisen die Strafbestimmungen von Haec sancta der Kritik und zeigte bereits ein differenziertes Wissen um die Begründungen der Immunität des Papstes. Der folgende Textauszug ist jedoch ein nur leicht adaptiertes Zitat aus dem Tractatus de causa immediata ecclesiastice potestatis, der große Parallelen mit dem Tractatus de potestate papae des Petrus de Palude OP aufweist35. Auf diese „dominikanische“ Antwort legte sich Kalteisen auch in seinen späteren umfangreichen Schriften gegen die Basler fest, offenbar exzerpierte und zitierte er sie erstmals an dieser Stelle in der Cythara consolationis36. Die Theorie besagt, dass der häretische Papst von selbst aufhöre, das Oberhaupt der Kirche zu sein. Seine Absetzung wäre demnach de facto, nicht aber de iure. Bildlich gesprochen wäre der Papst dann ein vom Leib abgetrenntes Haupt, und damit tot. In allen anderen Fällen müsse man einen schlechten Papst eher ertragen als absetzen, um einen größeren Skandal oder ein Schisma zu vermeiden. Andere vertraten die Ansicht, dass der Papst, solange er treu im Glauben bestehen bleibe, niemals abgesetzt werden dürfe, denn sein einziger Oberer sei Gott. Im Falle 33 Unde sicut solus Christus immediate baptizat, consecrat et absoluit a peccatis, non tamen nisi concurrente ministerio agentis instrumentalis hec facit Christus, ita diceremus auctoritatem concilii a solo Christo esse immediate, sed non nisi papa congregante et confirmante. V fol. 98ra. 34 Unde sicud se habet corpus ad caput, radii ad solem, riuuli ad fontem, rami ad radicem, sic se habere dicamus auctoritatem Christi ad ecclesiam. Et tum sic necessario dicemus mediante papa hanc fieri communicacionem, quemadmodum radii immediate a sole sparguntur super terram et cum per medium aeris riuuli ex fonte per medium tamen canalis, rami ex arbore sed per medium radicis. V fol. 98va. 35 Zu diesem Text und der Verfasserfrage vgl. Miethke: De potestate papae, S. 146–148. 36 Guillaume de Pierre Godin: De causa immediata ecclesiastice potestatis, ed. McCready, S. 192–194; Petrus de Palude: De potestate papae, ed. Stella, S. 195. Zu Kalteisens Ansichten über die Bestrafung des Papstes: Prügl: Heinrich Kalteisen, S. 177–194.

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einer Sünde würde er zwar zum „siechenden Haupt“ (caput languidum) mutieren, er bliebe aber immer noch (funktionierendes) Haupt. Damit ist auch die Glosse (des Johannes Teutonicus) zu Di. 40, can. 6 (Si papa) entkräftet, worin behauptet wird, dass der unbelehrbare Papst wegen eines jeglichen notorischen Verbrechens angeklagt und „beseitigt“ werden dürfe. Welches Mittel stünde aber der Kirche zur Verfügung, wenn sie einen so schlechten Papst habe, dass sie an ihm zugrunde gehen würde? Als Ausweg bliebe allein die Bitte an Gott, einen solchen Papst zu bessern oder ihn sterben zu lassen. Interessanterweise konnte man sich im 14. Jahrhundert gut vorstellen, dass die Kardinäle in einem solchen Fall ein Konzil einberiefen, welches den Papst mahnen möge. Kalteisen ließ diesen Satz, obwohl er als Legitimation des konziliaren Vorgehens gegen Eugen IV. gelesen werden konnte, nicht beiseite. Kalteisen blieb aber nicht beim Referat der traditionellen Begründungen einer engen Immunität des Papstes stehen, sondern blickte nochmals auf die aktuellen Herausforderungen. Wie sollte sich Eugen IV. angesichts der im Raum stehenden Zitation verhalten, mit der ja ein förmlicher Prozess in Gang gesetzt worden war37? Kalteisen spielte die Causa herunter und gab vor, den Grund dafür nicht zu wissen. In Basel sei man sich in dieser Frage nicht einig. Nur Gott kenne die Herzen und könne sagen, aus welcher Wurzel diese Pläne erwuchsen. Der Papst möge daher einzig und allein auf sein Gewissen hören, das ihm den richtigen Weg weise. Wenn er sich für schuldig befinde, solle er die Ursache aufheben, um auch der Folgen ledig zu sein – eine Wiederholung des Satzes aus der ersten Textversion. Wenn der Prozess gegen ihn ohne legitimen Grund angestrengt worden sei, dann würden seine Todfeinde nicht aufhören, den Papst in aller Welt zu diffamieren. All das brauche ihn nicht zu beunruhigen, sondern er solle sich der Worte aus den Abschiedsreden des Herrn erinnern: „Wenn die Welt mich gehasst hat, dann wird sie auch euch hassen“ (Joh 15,19)38.

37 Zum Prozess gegen Eugen: Rosenblieh: Violation; Rosenblieh: Justifier la condamnation. 38 Sed quid agendum cum sit emissum quoddam citatorium per Basiliense sacrum concilium? Certe animaduerte, pater beatissime, et oculos apperi undique hoc citatorium, ex qua processerit radice, ny fallar ego, non omnes eadem mente usi sunt. Nouit, cui omne cor patet et cui muta loquuntur omnia. Tu autem pater sancte, attende, inter Deum solum et teipsum te constitue. Sit gloria tua testimonium consciencie tue, ut dicas cum cytharedo: ‘Retribuet mihi Dominus secundum iusticiam meam secundum puritatem manuum mearum retribuet mihi, quia custodiui uias Domini nec inpie gressi a Deo meo’ (Ps 17,21–22). Et si ex tuis ista repereris procedere demeritis, quod ego credere numquam potui referentibus, auffer causam ut cesset effectus. Quod si absque legittima causa adhuc aliqui, qui uidentur tue sanctitatis persone letalis inimici, non cessarent te coram toto mundo infamare et in tue deposicionis confusionem machinare, quod Agnus Dei clementissimus dignetur auertere, tunc puto te ueraciter posse mente concludere uerum Dei electum et ab eterno quod eternum consolacionem predestinatum fore, quemadmodum Christus suis ait discipulis: ‘Si de hoc mundo fuissetis, mundus quod suum erat diligeret. Modo odit uos mundus, quia ex hoc mundo non estis’ (Ioh 15,19). V fol. 99va–vb.

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4 Schluss Die überarbeitete 24. Tröstung der Cythara consolationis markiert den Beginn einer neuen Karrierestufe Kalteisens. Er empfahl sich als Verteidiger der päpstlichen Rechte im nun anhebenden Kampf um die öffentliche Meinung. Dass er neben dem hl. Thomas dem Papst auch den Dominikanerorden als Verbündeten in Erinnerung rief, war Teil dieser Strategie. Thomas von Aquin wurde damit zum Bannerträger einer pro-päpstlichen und anti-konziliaristischen Ekklesiologie stilisiert, und der Dominikanerorden an seine alte Loyalität mit dem Apostolischen Stuhl erinnert. Welche ursprünglichen Absichten verfolgte aber der Autor der Cythara consolationis und wie veränderte sich ihr Zweck? Kalteisen wollte dem Papst 1434 mit einem theologischen und literarisch ambitionierten Betrachtungsbuch seine Aufwartung machen. Es sollte dazu beitragen, die Verhandlungen zwischen dem neu gewählten Mainzer Erzbischof und der Kurie günstig zu beeinflussen. Kalteisen brachte dem Papst damals zwar Sympathien entgegen, aber er hütete sich davor, die Maßnahmen des Basler Konzils, die er vermutlich für gerechtfertigt hielt, zu kritisieren. Als er sich im Lauf des Jahres 1437 vom Basler Konzil abwandte und die Nähe des Papstes suchte, kam es ihm gelegen, dass die Cythara 1434 nicht überreicht worden war. Damit verfügte er über ein „neues“ Geschenk für den Papst, mit dem er seine Loyalität und seine ekklesiologische Überzeugung darlegen konnte. Nun wurde die Cythara zu einem Bewerbungsschreiben, um an der Kurie eine Visitenkarte abzugeben und um sich für diplomatische Aufgaben im Dienste der römischen Kirche zu empfehlen. Als Kontroversschrift taugte die Cythara allerdings nicht. Überarbeitet musste sie werden, um den Adressaten nicht zu brüskieren und den Autor nicht in Verlegenheiten zu stürzen. Auch wenn wir keine Nachricht darüber haben, wie Eugen IV. das Werk aufnahm, so hat es seinem Autor gewiss nicht geschadet.

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Das Projekt einer deutschen Pragmatischen Sanktion und die Germania des Enea Silvio Piccolomini* Matthias Thumser

Auch wenn er manches Bittere und Widrige enthalte, sei ihm sein Brief durchaus angenehm gewesen, so erklärte Kardinal Enea Silvio Piccolomini dem erzbischöflich-mainzischen Kanzler Martin Mayr1. Doch war das Wohlwollen des Kardinals lediglich vorgeschützt und das auf den 31. August 1457 datierte Schreiben des Kanzlers fiktiv. Enea hatte es selbst verfasst, um mit einem umfangreichen Brieftraktat darauf antworten zu können2. Punkt für Punkt folgt dieses Werk den schematischen, dem Kanzler unterstellten Ausführungen, die sich auf die schwierige Lage Deutschlands und seines Klerus beziehen, und nimmt sie zum Anlass, in humanistischem Latein die persönliche Haltung Eneas zu den Verhältnissen nördlich der Alpen wie auch zu grundlegenden Fragen der römischen Kirche kundzutun3. Das erste von drei *

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Der Beitrag beruht in Teilen auf einem Vortrag mit dem Titel „Nationalkirchliche Pläne im deutschen Reich der nachkonziliaren Zeit – Die Frankfurter Avisamenta (1456)“, den ich am 24. Juni 1992 anlässlich meines Habilitationskolloquiums vor dem Rat des Fachbereichs Geschichtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg gehalten habe. Wenige Wochen später, am 4. und 5. August, durfte ich in Köln einschlägige Materialien der ‚Deutschen Reichstagsakten‘ einsehen und wurde dabei von deren damaligem Mitarbeiter Johannes Helmrath, den ich bei dieser Gelegenheit kennenlernte, betreut. Nachdem ich dort in Fotokopien aus dem Hauptstaatsarchiv Dresden entdeckt hatte, dass die Frankfurter Avisamenta ein Jahr später als bis dahin angenommen zu datieren sind und somit einen engen Bezug zur Germania des Enea Silvio Piccolomini aufweisen, stellte ich meinen Vorsatz, den Beitrag zu publizieren, fürs erste zurück. Es war mir nun, nach fast genau einem Vierteljahrhundert, eine Freude, die alten Unterlagen hervorzuholen und sie, dem Jubilar zu Ehren, mit veränderter Fragestellung endlich abschließend zu bearbeiten. Aeneas Silvius. Germania, ed. Schmidt; Enea Silvio Piccolomini. Germania, ed. Fadiga, I 1/7: Quamvis amara et rancida quedam scriptis admisces tuis, pergrata tamen fuit nobis epistola … Der Traktat wird hier und im Folgenden nach beiden Editionen, deren Kapitelzählung voneinander abweicht, zitiert, zunächst nach Schmidt, dann nach Fadiga, getrennt durch einen Schrägstrich. Die wörtlichen Zitate folgen der zuverlässigeren Ausgabe von Schmidt. Germania. Brief Martin Mayrs. Zum fiktiven Charakter des Schreibens siehe unten bei Anm. 83. Eine kenntnisreiche Einführung liefert Worstbrock: Piccolomini, einen Überblick über den Inhalt Paparelli: Germania, S. 206–211. Vornehmlich Buch II mit seiner Landesbeschreibung Deutschlands referieren (in Auswahl): Amelung: Bild, S. 59–61; Voigt: Italienische Berichte, S. 130–148; Kloft: Germania, S. 99–106; Heitmann: Deutschlandbild, Bd. 1, S. 88–95; Krebs: Negotiatio, S. 143–155. Buch I und III wurden von der Fachliteratur weit weniger oder gar nicht berücksichtigt.

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Büchern repliziert in extenso auf eine Liste von Anschuldigungen, die in dem fiktiven Schreiben geäußert werden. Enea widerspricht dem Vorwurf, Papst Kalixt III. würde sich nicht an die Beschlüsse des Konstanzer und des Basler Konzils halten. Weiterhin wendet er sich, teilweise ausführlich, gegen diverse Beschwerden hinsichtlich eines vorgeblich unrechtmäßigen Verhaltens von Papst und Kurie bei Bischofswahlen, der Verleihung von niederen Kirchenämtern, der Eintreibung von Abgaben an die Kurie und anderem mehr. Im zweiten Buch wechselt der Traktat in seiner Darstellungsweise und behandelt Deutschland an sich, seine Ursprünge, seine Ausdehnung, den Reichtum seiner Städte und seine politische Macht. Diese Ausführungen gelten gemeinhin als die früheste Landesbeschreibung Deutschlands. Sie zeichnen das Bild eines durch und durch wohlsituierten Landes und wollen damit den Kritikpunkt ausräumen, das Papsttum habe Deutschland in Armut gebracht und politisch herabgesetzt. Das dritte Buch gibt endlich den eigentlichen Anlass des Traktats zu erkennen. Strikt wendet sich Enea gegen das Projekt einer Pragmatischen Sanktion, eines grundlegenden Gesetzes, welches das Verhältnis der deutschen Nation zum Apostolischen Stuhl neu regeln soll. Die Unzulässigkeit einer Appellation vom Papst an ein Konzil ist in diesem Zusammenhang wichtiges Argument, ungeachtet der Tatsache, dass Enea einst selbst über Jahre hin Angehöriger des Basler Konzils gewesen war. Das Dokument, auf das er sich hier bezieht, lässt sich identifizieren. Es handelt sich um die sogenannten Frankfurter Avisamenta, die am 9. September 1457 auf einer Versammlung von kurfürstlichen Räten in einer Entwurfsfassung verabschiedet wurden4. Da sie allerdings in der einzigen, ganz abgelegen publizierten und unzureichenden Edition von Wilhelm Roßmann aus dem Jahr 1858 irrig auf 1456 datiert wurden, hat man den ursächlichen Zusammenhang mit Eneas Brieftraktat bislang fast durchweg übersehen5. Enea Silvio Piccolomini hat seinem Brieftraktat keinen Titel gegeben. Der für weite Passagen stimmige Titel Germania kam erst im 16. Jahrhundert auf und ist heute in 4 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 403–423 Nr. 6,1. Bekannt sind drei Textzeugen: 1. Dresden, Hauptstaatsarchiv, 10024, Loc. 7384/2, fol. 106r–126v; Datum: in dieta, que die Veneris post festum Nativitatis Marie virginis proxime Frangfurdie observata fuerat (fol. 124r); in anderem Zusammenhang die Jahreszahl 1457 bzw. lviio (fol. 103r, 105r, 106r, 126r). Der Aktenband kurfürstlich-sächsischer Provenienz enthält Aufzeichnungen zu Versammlungen der Zeit zwischen 1440 und 1461. 2. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4016, fol. 1r–10r (Vorlage der Edition von Roßmann); Datum wie oben, aber ohne Angabe des Jahres. Die Abschrift befindet sich in einem Sammelkodex aus dem Besitz Konrad Peutingers. Zur Handschrift vgl. Chmel: Fortsetzung des Reiseberichtes, S. 594–598, 651–677. 3. Nach einer Abschrift im ehemaligen Preußischen Provinzialarchiv Koblenz, ed. Leopold von Ranke: Deutsche Geschichte, Bd. 6, S. 23–29 (nur die deutschsprachige Intelligentia). 5 Das korrekte Jahresdatum 1457 nennt als einziger Voss: Dietrich von Erbach, S. 196 mit Anm. 488 (anhand des Dresdener Textzeugen). Dass der Traktat unmittelbar auf die Frankfurter Avisamenta reagiert habe, konstatiert, ohne dies zu vertiefen, Werminghoff: Nationalkirchliche Bestrebungen, S. 114.

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der Wissenschaft fest etabliert6. Verfasst wurde das Werk im Winter 1457/58, was aus dem Text heraus erkennbar ist: In einer Art Nachruf auf den ungarischen und böhmischen König Ladislaus Postumus, der am 23. November 1457 verstarb, erklärt Enea, dass ihn die Nachricht von seinem Tod während der Arbeit an der Schrift erreicht habe7. Fertiggestellt war sie, der Datierung eines Widmungsbriefes an den Kardinal Antonio de Cerdá zufolge, am 1. Februar 14588. Die Überlieferungssituation ist insofern günstig, als sowohl das Autograph Eneas wie auch eine frühe, an der römischen Kurie entstandene Abschrift erhalten sind9. Beide weisen weder eine Kapitelzählung noch strukturierende Elemente auf. Größere Verbreitung erhielt das Werk erst mit zwei Drucken, die 1496 in Leipzig10 und 1515 in Straßburg11 verlegt wurden. Die lange Zeit sehr zurückhaltende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Germania hat mit der ersten kritischen Edition von Adolf Schmidt aus dem Jahr 1962 einen veritablen Schub erhalten12. Hingegen bedeutet die 2009 publizierte Neuedition von Maria Giovanna Fadiga mit ihrem nicht durchweg zuverlässigen Editionstext und einem ebenso ausladenden wie defizitären Sachapparat keinen wirklichen Fortschritt13. In der Fachliteratur hat man den Blick vornehmlich auf das zweite Buch mit der Landesbeschreibung Deutschlands und der damit verbundenen Nationalproblematik gerichtet. Dabei wurde verschiedentlich die Frage der frühen Tacitus-Rezeption, bei der Enea „der Anreger und Wegbereiter“ war, aufgeworfen14. Dieser Beitrag beschreitet 6 7 8 9

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Siehe unten Anm. 11. Zu den verschiedenen Titeln vgl. Schmidt: Deutschland, S. 8 f.; Fadiga, Germania, S. 17–20. Germania II 22/62–63. Enea gibt als Todestag fälschlich den 24. Nov. 1457 an (VIII. Kal. decembris anno superiore). Germania, Brief Eneas an Antonio de Cerdá.  Autograph: Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 3886 (Digitalisat: http://digi.vatlib.it/view/MSS_ Vat.lat.3886; aufgerufen am 14.9.2017). Abschrift: Ebd., Vat. lat. 3885. Zu Handschriften und Drucken vgl. Fadiga, Germania, S. 101–111. Enee Siluij de Ritu, Situ, Moribus, et Condicione theutonie descriptio, Leipzig: Wolfgang Stockel 1496 (GW M33835). Germania Enee Siluij, Straßburg: Reinhard Beck 1515 (VD 16 P 3125). Siehe oben Anm. 1. Die gleichzeitig mit der Edition erschienene deutsche Übersetzungsausgabe enthält einen wertvollen Sachapparat: Enea Silvio Piccolomini. Deutschland, ed. Schmidt. Siehe oben Anm. 1. Der Editionstext, der im Gegensatz zur Ausgabe von Schmidt auch die Korrekturen des Autographs dokumentiert, weist diverse unzulängliche, auch falsche Lesarten auf. Zu bemängeln ist weiterhin, dass Fadiga von der eingeführten Kapitelzählung Schmidts abgewichen ist und hierfür nicht einmal eine Konkordanz erstellt hat. Auch gibt sie im Gegensatz zu Schmidt nicht die Folienangaben des Autographs an. Im Sachapparat wird vielfach auf die Erklärung von geschichtswissenschaftlich relevanten Sachverhalten verzichtet. Da aus diesen Gründen nicht auf die Ausgabe von Schmidt verzichtet werden kann, sollten grundsätzlich beide Editionen herangezogen und auch zitiert werden, wie in diesem Beitrag durchgeführt. Zur Tacitus-Rezeption in Eneas Germania vgl. Joachimsen: Tacitus, S. 704; Amelung: Bild, S. 61–64; Ridé: Germania, S. 279–281; Ders.: L’image, Bd. 1, S. 173 f., 178–181; Blusch: Rezeption, S. 99–106;

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hingegen einen ganz anderen Weg. Weit mehr geht es darin um den Entstehungszusammenhang als um Inhaltsanalysen. Er will die Germania keineswegs erschöpfend behandeln, sondern viel eher die Ursachen für die Niederschrift darlegen und damit auch die Voraussetzungen für eine zukünftige wissenschaftliche Beschäftigung mit allen ihren Teilen schaffen. Ausgangspunkt der Vorgeschichte sei die Wahl Papst Kalixts III. am 8. April 1455, die indirekt eine Kette von Versammlungen im deutschen Reich bewirkte15. Auf die Mitteilung vom Amtsantritt des Papstes hin berief der Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach für den 15. Juni eine Provinzialsynode in seine Residenzstadt Aschaffenburg ein, wo er die Suffraganbischöfe versammelte16. Im Zentrum der Verhandlungen stand die Regelung diverser innerkirchlicher Angelegenheiten. Am Ende wurde darüber hinaus Klage erhoben, dass Deutschland verarmt sei, weil der Apostolische Stuhl das 1448 zwischen dem Papst und der deutschen Nation abgeschlossene Wiener Konkordat nicht einhalte. Damals, sieben Jahre zuvor, hatte man sich auf die Regelung von Detailfragen des kirchlichen Ämterwesens und der daraus resultierenden finanziellen Abgaben geeinigt, wobei die Rechte des Papstes definitiv festgeschrieben wurden. Nach dem langen Konflikt um das gerade zu Ende gehende Basler Konzil war damit eine Lösung geschaffen worden, die zwar dessen Dekrete für Deutschland außer Kraft setzte und deshalb den Episkopat als Verlierer erscheinen ließ, auf die Dauer aber die Interessengegensätze ausräumte und sich in der Zukunft als tragfähig erweisen sollte17. Dies freilich konnte oder wollte man auf der Aschaffenburger Synode nicht erkennen, weswegen man Überlegungen führte, das Wiener Konkordat zu revidieren. Der Mainzer Erzbischof wurde gebeten, sich um die Einberufung einer umfassenden Mertens: Instrumentalisierung, S. 64–72, Zitat S. 101; Krebs: Negotiatio, S. 120–127; Fadiga: Germania, S. 53–56. Die von Perret: Recherches, S. 142–151, begründete Ansicht, Enea habe die taciteische Germania nur vom Hörensagen gekannt, gilt heute als widerlegt. 15 Die Versammlungen der Jahre 1455–1457 wurden in der älteren Literatur mehrfach behandelt, wobei die Frankfurter Versammlung vom Sept. 1457 aufgrund der irrigen Datierung von Roßmann auf 1456 stets falsch eingeordnet wurde: Menzel: Friedrich, S. 19–29; Voigt: Enea, Bd. 2, S. 198–213; Bachmann: Die ersten Versuche, S. 311–330; Pastor: Päpste, Bd. 1, S. 731–734; Hefele/Hergenröther: Conciliengeschichte, Bd. 8, S. 85–92; Schrötter: Martin Mair, S. 94–111; Kraus: Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 321–328. Als einziger mit korrekter Chronologie: Voss: Dietrich von Erbach, S. 193–196. 16 Zur Mainzer Provinzialsynode von 1455 vgl. Gebhardt: Gravamina, S. 14–18; Michel: Wiener Konkordat, S. 43–51; Hannappel: Provinzialsynoden, S. 451–461; Voss: Dietrich von Erbach, S. 194 f.; Annas: Wiener Neustadt, S. 397 mit Anm. 63. 17 17. Febr. 1448, Abkommen zwischen dem Kardinallegaten Juan de Carvajal und König Friedrich III., ed. Mercati: Raccolta, S. 177–181 Nr. 28,1. 19. März 1448, Bestätigung durch Papst Nikolaus V. in Form einer Bulle, ed. ebd., S. 181–185 Nr. 28,2. Vgl. Michel: Wiener Konkordat, S. 25–33; Helmrath: Basler Konzil, S. 314–322; Meyer: Wiener Konkordat; Ders.: Wiener Konkordat, 1448, in: Historisches Lexikon Bayerns, 2010, URL: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Wiener_ Konkordat,_1448 (aufgerufen am 14.9.2017).

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Versammlung zu bemühen. Sie sollte entweder als convencio nationalis oder wenigstens als Zusammenkunft aller Erzbischöfe sowie der wichtigen Bischöfe und Fürsten Maßnahmen gegen die Belastungen Deutschlands, das durch das Wiener Konkordat einmal mehr seines Augenlichts beraubt worden sei, ergreifen18. Weiterhin nahm man sich vor, im Anschluss an die geplante Versammlung eine Gesandtschaft an den Apostolischen Stuhl abzustellen, für die auch gleich ein Forderungskatalog ausformuliert wurde19. Sollte es nicht dazu kommen, wollte man die Gesandtschaft wenigstens im Namen der Mainzer Kirchenprovinz abschicken. Der Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach, damals schon ein älterer Herr und seit über 20 Jahren im Amt, wird auf der Aschaffenburger Synode erstmals als „Wortführer der Kurienkritik“20 erkennbar. Das Bemühen um eine convencio nationalis mit dem Ziel einer Revision des Wiener Konkordats und damit die Einbeziehung der gesamten deutschen Kirche dürften auf ihn und seine Berater zurückzuführen sein. Dietrich scheint damals große Pläne entwickelt zu haben, die sich mit der Zeit weiter konkretisieren sollten. Die in Aschaffenburg vereinbarte convencio nationalis kam in dieser Form nicht zustande, da auf einem für den 13. Juli nach Frankfurt angesetzten Tag neben kurfürstlichen Gesandten lediglich der Trierer Erzbischof Jakob von Sierck erschien und die Verhandlungen überdies ergebnislos verliefen21. So berief der Mainzer Erzbischof für den 29. Februar 1456 dorthin eine weitere Provinzialsynode ein. Der Eindruck, vom Apostolischen Stuhl über Gebühr belastet zu werden, war durch einen neuen Gesichtspunkt noch verstärkt worden. Von Beginn seines Pontifikats an sah Papst Kalixt III. seine vorrangige Aufgabe in der militärischen Bekämpfung der Türken, nachdem Konstantinopel im Jahr 1453 von den Truppen des osmanischen Sultans Mehmed II. erobert worden war. Kurz nach seiner Wahl, am 15. Mai 1455, ließ der 18 Dazu der Brief des Wormser Domdekans Rudolf von Rüdesheim an Erzbischof Jakob von Trier vom 23. Juni 1455; Wien, Nationalbibliothek, cod. 5180, fol. 2v–3r (hier nach einer Transkription in der mittlerweile in Frankfurt liegenden Materialsammlung der Deutschen Reichstagsakten; weitere Überlieferung: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8394, fol. 124r/v): ultra que deliberatum et conclusum in eodem est, quod reverendissimus dominus Maguntinus apud vestram paternitatem reverendissimam et reverendissimum dominum Coloniensem etc. laborare debeat pro convencione nationali aut saltem omnium archiepiscoporum et principalium episcoporum et principum nationis nostre ad providendum contra gravamina, quibus heu! involuta est iterum Almania ceca, que miserabiliter permisit erui oculos, quos per saluberrima illa decreta sacri Basiliensis concilii recuperaverat; weiterhin Bitte, einen für den 13. Juli 1455 nach Frankfurt angesetzten Tag zu besuchen. 19 Ed. Hannappel: Provinzialsynoden, S. 459–461. 20 Voss: Dietrich von Erbach, S. 193. 21 Dazu Eintrag in einem Egerer Stadtbuch; Deutsche Reichstagsakten. Ältere Reihe, Bd. 19/3, S. 319 Nr. 23 mit Anm. 2. Der Termin war bereits am 13. Apr. 1455 auf der Wiener Neustädter Versammlung festgesetzt worden. – Den Hinweis hierauf verdanke ich neben einigen weiteren Dr. Gabriele Annas (Frankfurt/Main).

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Papst eine Kreuzzugsbulle ausfertigen, welche die Ausschreibung eines Zehnten und Regelungen zum Ablass verfügte. Im Herbst darauf setzte er in den verschiedenen europäischen Reichen Legaten ein, darunter in Ungarn und Deutschland den Kardinal Juan de Carvajal, und trug ihnen die Einziehung des Zehnten auf. Kalixts Politik bedeutete einen neuen Anlauf zur Bekämpfung der Türken seitens der Kurie, nachdem die drei sogenannten Türkenreichstage von 1454 und 1455 in Regensburg, Frankfurt und Wiener Neustadt letztlich ohne greifbares Ergebnis geblieben waren22. Die Frankfurter Synode reagierte darauf23. Wieder erhob man Klagen über die finanzielle Erschöpfung der deutschen Nation und forderte zudem die Einhaltung der Dekrete von Konstanz und Basel. Im Ergebnis wurde die Erhebung des Türkenzehnts durch Emissäre des Papstes verweigert. Stattdessen wollte man den Türkenkrieg in eigener Regie finanzieren. Die im Jahr zuvor in Aschaffenburg beschlossene Gesandtschaft sollte nun an die römische Kurie geschickt werden. Schließlich wurde erneut eine nationale Versammlung ins Auge gefasst, die nach Ostern in Frankfurt abgehalten werden sollte. Offensichtlich war die mainzische Opposition weiterhin lebendig und hatte sich angesichts der neuen finanziellen Forderungen noch radikalisiert. Treibende Kraft hinter Erzbischof Dietrich von Erbach könnte mittlerweile Martin Mayr geworden sein, der im Jahr zuvor als Kanzler in dessen Dienste eingetreten war. Mayr war damals bereits als ein politisch aktiver Mann bekannt, der lange Jahre für die Stadt Nürnberg und auch für Kaiser Friedrich III. sowie den Trierer Erzbischof Jakob von Sierck tätig gewesen war und sich dabei mehrfach mit Reformfragen befasst hatte24. Es ist gut vorstellbar, dass er nun eine Zeitlang maßgeblichen Anteil an der Organisation einer Oppositionsbewegung hatte. Schon der fiktive Brief an ihn am Beginn der Germania stellt ein Indiz dar, dass der Kanzler hierin involviert war. Gleichzeitig mit der Provinzialsynode hatte der Mainzer Erzbischof für den 29. Februar 1456 auch zu einer Versammlung der Kurfürsten nach Frankfurt eingeladen. Die Erzbischöfe von Mainz und Köln sowie Vertreter der weltlichen Kurfürsten berieten dort über eine gemeinsame Linie im anstehenden Türkenkrieg. Die an Kaiser Friedrich III. gerichtete Aufforderung zur Hilfeleistung wurde vorerst zurückgestellt, statt dessen der Habsburger gebeten, eine Versammlung auszuschreiben, auf der über die notwendigen Maßnahmen befunden werden sollte25. Der Kaiser ließ sich hierauf 22 Pastor: Päpste, Bd. 1, S. 680–686. Auszugsweise Edition der Kreuzzugsbulle: Raynaldus: Annales ecclesiastici, Bd. 18, ad a. 1455 c. 19. 23 Zur Mainzer Provinzialsynode von 1456 vgl. Voigt: Enea Silvio, Bd. 2, S. 202; Hansen: Martin Mair, S. 139; Voss: Dietrich von Erbach, S. 195. 24 Zur Person vgl. Schrötter: Martin Mair; Ringel: Studien, S. 154–165; Hansen: Martin Mair; Voss: Dietrich von Erbach, S. 347–349. 25 Bachmann: Die ersten Versuche, S. 312–314; Hansen: Martin Mair, S. 138f.; Voss: Dietrich von Erbach, S. 182.

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nicht ein, doch wurde am 1. August 1456, wiederum in Frankfurt, ein weiterer Kurfürstentag eröffnet. Nun wurden detaillierte Verfügungen zur Durchführung des Türkenfeldzuges festgelegt und, um diesen in die Tat umsetzen zu können, mit einem Programm zur Befriedung und Reform des Reiches verbunden26. Am 30. November traf man sich in Nürnberg schon wieder, und jetzt richtete sich die Spitze ganz und gar gegen Friedrich III., dem man allzu viel Säumigkeit in der Türkenfrage vorwarf. Die Teilnehmer dieser kurfürstlichen Reichsversammlung wollten massiven Druck auf den Kaiser ausüben und entwarfen hierfür eine förmliche Einung. Geplant war, dem Kaiser einen römischen König an die Seite zu stellen, wozu sich der Pfälzer Friedrich der Siegreiche bereit zeigte. Sollte sich jener dem verweigern, sei er abzusetzen. Die Verabschiedung der Einung scheiterte dann aber am Widerstand Brandenburgs und Sachsens, die ihr gutes Verhältnis zum Kaiser nicht aufs Spiel setzen wollten27. Auf zwei weiteren von kurfürstlicher Seite einberufenen Tagen in Frankfurt im März und im Mai 1457 wurde dann vollends deutlich, dass sich die antikaiserliche Einung nicht verwirklichen lassen würde. Die Bemühungen mündeten in einen völligen Misserfolg28. Sechsmal trafen sich die Kurfürsten innerhalb von nur zwei Jahren zu Versammlungen oder entsandten ihre Räte. Die Initiative hierzu war mehrfach vom Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach ausgegangen, der offenbar die Reaktionen von geistlicher wie auch von weltlicher Seite auf finanzielle Forderungen im Kampf gegen die Türken koordinieren wollte. Dass dann die Angriffe gegen den Kaiser in den Vordergrund rückten, muss allerdings nicht zwingend auf ihn zurückzuführen sein. Nicht zu erkennen ist, ob auf diesen Versammlungen auch über eine Revision des Wiener Konkordats verhandelt wurde, was aber keineswegs auszuschließen ist. Sicher ist hingegen, dass die kirchliche Opposition nach der Frankfurter Provinzialsynode vom Februar 1456 nicht verstummt war. Die Hinweise sind spärlich, aber aufschlussreich. Um den 1. Mai 1457 kamen die Domkapitel von Trier, Mainz und Köln sowie der Klerus des Trierer Oberstifts auf einer Versammlung überein, nicht auf die Forderungen des Apostolischen Stuhls eingehen zu wollen29. Wohl als Reaktion darauf schlossen der Kölner Erzbischof Dietrich von Moers und sein Diözesanklerus am 8. Mai ein Abkommen, in dem die vermeintlichen Belastungen durch die Kurie 26 Akten sächsischer Provenienz; HStA Dresden, 10024, Loc. 7384/2, fol. 54–70, besonders fol. 59r–63r (dabei ein Entwurf zur Reichsreform). Die Versammlung wird von Bachmann: Die ersten Versuche, nicht berücksichtigt. Hansen: Martin Mair, S. 141f., und Voss: Dietrich von Erbach, S. 182f., äußern sich kaum bzw. gar nicht zu den Verhandlungsgegenständen. 27 Bachmann: Die ersten Versuche, S. 315–324; Hansen: Martin Mair, S. 142–146; Voss: Dietrich von Erbach, S. 183f. 28 Bachmann: Die ersten Versuche, S. 326f.; Hansen: Martin Mair, S. 149f.; Voss: Dietrich von Erbach, S. 184f. 29 Lager: Johann II. von Baden, S. 25f. Anm. 3.

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aufgeführt und neue Zahlungen verweigert wurden30. Papst Kalixt III. hielt währenddessen mit seinen Bemühungen um den Türkenkrieg nicht ein. Bereits Ende 1455 und 1456 war der Dominikaner Heinrich Kalteisen als Ablassprediger in Süddeutschland und im Rheinland tätig gewesen31. Im März 1457 setzte der Papst den Italiener Marinus de Fregeno als Kollektor unter anderem in der Kirchenprovinz Magdeburg sowie den Bistümern Bamberg und Münster ein und erneuerte für ihn eine Ablassbulle seines Vorgängers Nikolaus V.32 Inzwischen bereiteten auch die Kurfürsten weitere Maßnahmen vor. Am 23. März 1457 verfassten sie auf ihrer Versammlung in Frankfurt ein Schreiben an Kaiser Friedrich III. und baten ihn, angesichts der Not des christlichen Glaubens und des Reichs am 1. September zu einem Tag zu kommen oder für einen früheren Zeitpunkt selbst einen Tag einzuberufen33. Erst Anfang August schlug der Kaiser diese Bitte aus, entschuldigte sich mit Schwierigkeiten in seinen Erblanden und vertröstete die Kurfürsten auf einen späteren Termin34. An der Abhaltung der lange geplanten Versammlung hielt man dennoch fest, und einmal mehr wurde Frankfurt als Versammlungsort bestimmt. Schon bei den Vorbereitungen wurde klar, dass es diesmal nicht nur um Angelegenheiten des Reichs und den Kaiser, sondern auch um die päpstlichen Geldforderungen an den Klerus gehen würde. Erzbischof Dietrich von Mainz ließ seinen kurfürstlichen Kollegen vorab Unterlagen zukommen, wie man sich zu dem Kreuzzugszehnten zu stellen habe. Der sächsische Kurfürst Friedrich II. zeigte sich hiermit einverstanden und bevollmächtigte seinen Vertreter auf dem Tag, Johann von Bulkenhayn, ein entsprechendes Abkommen zu besiegeln35. So wurde in Frankfurt Anfang September 1457 zum siebten Mal kurz nacheinander eine kurfürstliche Versammlung eröffnet. Allerdings kam keiner der Herren selbst, sondern es trafen ausschließlich Räte zusammen. Nicht einmal der Mainzer scheint sich in persona eingefunden zu haben. Außer ihm ließen sich die Kurfürsten von Köln, der Pfalz, Sachsen und Brandenburg, weiterhin die Erzbischöfe von Salzburg und Bremen sowie die Domkapitel der drei rheinischen Erzbistümer und von Bremen vertre30 Auszugsweise ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 427f. Nr. 6,3. Wohl hierzu eine undatierte Littera patens des Erzbischofs; ed. ebd., S. 423–427 Nr. 6,2. 31 Paulus: Geschichte des Ablasses, Bd. 3, S. 43f. 32 Wiegand: Kollektor, S. 35–37. Ablassbulle vom 26. März 1457: Ed. ebd., S. 143–145 Nr. 2. 33 HStA Dresden, 10024, Loc. 7384/2, fol. 182v–184r. 34 3. Aug. 1457, Kaiser Friedrich III. an die Kurfürsten von Mainz, der Pfalz, Sachsen und Brandenburg; HStA Dresden, 10024, Loc. 7384/2, fol. 103r–104v; Regest: RI Friedrich III., H. 11, Nr. 323. 35 1. Sept. 1457, Grimma, Instruktion Johanns (von Bulkenhayn, Propst von Kemberg); HStA Dresden, 10024, Loc. 7384/2, fol. 136r/v: Als unser herre von Mencz von wegen der pfaffheit den decimam belangende uns geschrieben had etc., was die kurfursten in dem thun und furnemen werden, sullit ir ganczen macht von unser wegen haben zcu vorsigeln … Die Akten sächsischer Provenienz zu dieser Versammlung wurden mutmaßlich von ihm zusammengestellt; ebd., fol. 103–126. Zur Person vgl. Wiegand: Kollektor, S. 258 bei Nr. 82.

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ten. Das Ergebnis dieses Kurfürstentages war ein am 9. September verabschiedetes, umfangreiches Schriftstück, das von der Forschung seit Bruno Gebhardt mit einiger Berechtigung als Frankfurter Avisamenta bezeichnet wird, handelt es sich doch um ein Paket von Dokumenten, die dort beraten worden waren. Kernstück sind die lateinischen Articuli, Regelungen, mit denen Missstände vornehmlich im kirchlichen Ämter- und Finanzwesen behoben werden sollten. Sie wurden in zwei Urkundenentwürfe inseriert, einen lateinischen mit der Überschrift Ordinatio und einen deutschen, bezeichnet als Intelligentia36. Nun wurden also die Ansätze der beiden Mainzer Provinzialsynoden mit ihren Bemühungen, die Belastungen der deutschen Nation von kurialer Seite zu reduzieren, fortgeführt und durch die Beratung in einem Gremium, welches das Reich repräsentieren sollte, wenn es sich auch nur aus Fürstenvertretern zusammensetzte, auf eine höhere Ebene gehoben. Die seinerzeit in Aschaffenburg geplante convencio nationalis war endlich zusammengetreten. Die insgesamt sechs Articuli orientieren sich in bestimmten Fragen des kirchlichen Ämterwesens am Wiener Konkordat von 1448, wollten darüber hinaus aber noch weitere Bereiche regeln37. Die bemerkenswerteste Bestimmung steht gleich zu Beginn im ersten Artikel und betrifft die päpstlichen Kompetenzen bei Bischofs- und Abtswahlen im deutschen Reich. Im Einzelnen wird hier gefordert, dass in allen Erzbistümern und in den exemten Bistümern und Klöstern die Wahlen, die wie ehedem auf kanonische Weise durchzuführen seien, durch den Papst bestätigt würden. In allen anderen Bistümern und Klöstern hingegen, die dem Papst nicht direkt unterstanden, solle der unmittelbare kirchliche Obere die Bestätigung vornehmen38. Damit erhielt die Bestimmung eine fast schon revolutionäre Aussage. War sie von ihrem Äußeren her bis in die Wortwahl hinein eng an die entsprechende Passage des Wiener Konkordats angelehnt, so bekundet der Inhalt nahezu das Gegenteil. In Wien war dem Papst neben 36 Edition und Überlieferung der Frankfurter Avisamenta in Anm. 4. Zu den Bestimmungen vgl. Voigt: Enea Silvio, Bd. 2, S. 204–207; Pastor: Päpste, Bd. 1, S. 732f.; Gebhardt: Gravamina, S. 19–30; Hefele/Hergenröther: Conciliengeschichte, Bd. 8, S. 90f.; Kraus: Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 323f.; Werminghoff: Nationalkirchliche Bestrebungen, S. 113f.; Franke: Ausschreibungen, Tl. 2, S. 39–48; Michel: Wiener Konkordat, S. 52f.; Becker: Appellation, S. 156f. 37 Ed. Rossmann: Betrachtungen (wie Anm. 4), S. 407–410. Die Articuli sind weder in den beiden handschriftlichen Textzeugen noch in der Edition von Roßmann numeriert. Gebhardt: Gravamina, S. 21–28, stellt in einer Synopse die einzelnen Bestimmungen neben ihre jeweiligen Vorlagen und hebt wesentliche Abweichungen durch Sperrung hervor. 38 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 407: Item placet quod in Metropolitanis ecclesiis ac Cathedralibus et Monasteriis sedi apostolice immediate subjectis in antea fiant elecciones canonice, que ad sedem apostolicam deferantur … In ecclesiis autem Cathedralibus et monasteriis ac regularibus beneficiis sedi apostolice immediate non subjectis nec ad eandem devolutis, Electi seu illi, quibus providendum est, pro confirmacione ac provisione sua ad immediatum suum superiorem juxta Juris constituciones et decreti concilii Basiliensis de eleccionibus facti disposicionem recurrant.

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den Erzbischöfen die Bestätigung aller Bischöfe zugestanden worden, womit eine lange geübte Praxis für das deutsche Reich für verbindlich erklärt wurde39. Wenn dem nun ein Ende bereitet werden sollte, zeigt sich hier der Wille, diese Handlungsweise zu unterbinden, den Papst von der deutschen Kirche abzurücken und einen wesentlichen Teil seiner Kompetenzen den Erzbischöfen zu übertragen. Weit weniger umstürzend liest sich der zweite Artikel, mit dem päpstliche Eingriffe in die Besetzung von nichtbischöflichen Kirchenämtern geregelt werden sollten, wobei die beiden wichtigsten Modalitäten der kurialen Vergabepraxis zur Sprache kommen. Pauschal wird dem Papst zunächst die Generalreservation apud sedem apostolicam vacans zugestanden, wonach ihm die Verleihung sämtlicher Kirchenämter zustand, die an der römischen Kurie oder in ihrem unmittelbaren Umkreis freigeworden waren40. Bei der anderen Praxis, Ämter zur Verteilung zu bringen, nämlich durch die Verleihung von als Expektanzen bezeichneten förmlichen Anwartschaften auf ein Kirchenamt, lehnte man sich wiederum eng an das Wiener Konkordat an. Dort war die auf den ersten Blick merkwürdige Bestimmung aufgenommen worden, wonach der Papst auf die Vergabe derjenigen Ämter beschränkt wurde, die in den ungeraden Monaten eines Jahres, also im Januar, März, Mai usw., freiwurden41. Diese Verfahrensweise hatte sich als eine deutliche Stärkung der örtlichen Instanzen bei der Ämtervergabe bewährt, die nun zumindest in den ihnen zugesprochenen geraden Monaten von sich aus und ohne Behinderung durch den Papst Kirchenämter vergeben durften42. Wohl aus diesem Grund hielt man in Frankfurt an der alternativa mensium fest

39 Ed. Mercati: Raccolta, S. 183: Item placet nobis quod in Metropolitanis et Cathedralibus etiam immediate non subjectis ecclesiis et in Monasteriis immediate subjectis sedi apostolice fiant electiones canonice que ad dictam sedem deferantur … Zur Einflussnahme des Papsttums auf die Besetzung von deutschen Bistümern vgl. hier nur Brosius: Päpstlicher Einfluß, der anhand von Beispielen aus den Diözesen Mainz, Regensburg, Ermland, Kulm, Speyer, Utrecht und Lüttich überzeugend darlegt, dass das Papsttum damals bei der Bischofskonfirmation sehr bewusst seine eigenen politischen Interessen ins Spiel brachte. 40 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 407: Et ut eciam S. D. noster ultra premissa super ecclesiarum et beneficiorum ecclesiasticorum quorumcunque provisionibus utatur juris scripti reservacionibus …; es folgen diverse Detailregelungen. Inhaltlich lehnt sich diese Bestimmung eng an das Basler Dekret Et quia multiplices der Sessio XXIII vom 24. März 1436 an, das päpstliche General- und Spezialreservationen auf die in den authentischen Teilen des kanonischen Rechts enthaltenen Bestimmungen zurückführen will (reservationibus in corpore iuris expresse clausis), alle Modifikationen, die in den Extravaganten des Corpus iuris und in den Kanzleiregeln enthalten sind, aber verbietet; Conciliorum oecumenicorum decreta, ed. Alberigo u. a., S. 505. Zur Generalreservation apud sedem apostolicam vacans vgl. hier nur Meyer: Zürich und Rom, S. 33–43. 41 Ed. Mercati: Raccolta, S. 184. Zu den Expektanzen vgl. hier nur Weiss: Päpstliche Expektanzen. 42 Vgl. in diesem Sinne mit überzeugenden Schlussfolgerungen die Wertung des Wiener Konkordats durch Meyer: Wiener Konkordat.

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und brachte eine entsprechende Bestimmung in den Artikel ein43. An der Unverzichtbarkeit der päpstlichen Mitwirkung bei der Vergabe von Kirchenämtern wie auch an der Notwendigkeit der Expektanzen als Steuerungsinstrument bestand damals wohl kein Zweifel. So wurde mit diesem Artikel keine grundlegende Neuregelung in der Ämterfrage angestrebt, sondern die gängige Praxis dem Prinzip nach bestätigt. Eng mit der Ämterfrage verbunden waren die Abgaben, die bei der Besetzung von Kirchenämtern unter Beteiligung des Papstes an die Kurie zu entrichten waren. Schon das Wiener Konkordat hatte die Berechtigung solcher Zahlungen festgehalten44. In diesem Sinne, mit teilweise wörtlichen Übernahmen, lauten auch die Bestimmungen des dritten Artikels. Ausdrücklich werden dort die Bedürfnisse des Papstes und der Kardinäle anerkannt. So sollen von Erzbischöfen und exemten Bischöfen anlässlich ihrer Bestätigung durch den Papst die Servitien in Höhe der taxa antiqua gezahlt werden, wobei Härtefälle zu berücksichtigen seien. Die servitia minuta für die Kurialen sollen moderat sein. Die Inhaber von nichtbischöflichen Kirchenämtern, die vom Papst eingesetzt wurden, zahlen die auch vordem üblichen Annaten in Höhe eines halben Jahresertrages45. So eng sich diese Bestimmungen am Wiener Konkordat ausrichteten, ist eine wesentliche Neuerung doch unverkennbar. Nachdem der Papst künftig nur noch die Wahlen von Erzbischöfen und exemten Bischöfen, nicht aber der großen Zahl von Suffraganen bestätigen sollte, wären Servitienzahlungen in großer Höhe ausgefallen. Der wichtigste Einnahmeposten der päpstlichen Kurie wäre schwer beeinträchtig gewesen – ein Umstand, der dort gewiss nicht ohne weiteres akzeptiert werden konnte. Der vierte, fünfte und sechste Artikel behandeln Fragen, die im Wiener Konkordat keine Rolle gespielt hatten, in den zurückliegenden Jahren aber vielfach bewegt worden waren. Die Zehnterhebung in Deutschland wird angesichts der zunehmenden Verarmung Deutschlands auf den Türkenkrieg beschränkt46. Ablässe sollen geduldet werden, sofern die daraus resultierenden finanziellen Gewinne im Land blieben47. Schließlich soll die geistliche Gerichtsbarkeit künftig anders gehandhabt werden. Unter anderem seien Appellationen an die römische Kurie weitgehend zu unterbinden, weltliche Fälle sollen nur vor weltlichen Gerichten verhandelt, die gesamte geistliche und weltliche Gerichtsbarkeit in Deutschland einer umfassenden Reform unter43 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 407f. Allerdings soll der Papst nur solche Expektanzen vergeben dürfen, die mit dem datum currens und ohne Prärogativen ausgestellt sind. Es folgen weitere Detailregelungen. 44 Ed. Mercati: Raccolta, S. 184f. 45 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 408. Zu den Servitien vgl. hier nur Hoberg: Anteil; Denzel: Zahlungsverkehr, S. 70–83. 46 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 408f. 47 Ed. ebd., S. 409f. Vgl. speziell hierzu Wiegand: Kollektor, S. 39.

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zogen werden48. Speziell diese Regelungen berührten in besonderem Maße die Interessen der weltlichen Landesherren. Als Ordinatio contra gravamina illata Alamanie nationi erscheint in den Frankfurter Avisamenta ein lateinischsprachiger Urkundenentwurf, der die Articuli als Insert aufnehmen sollte49. Formal eine Littera patens, wenden sich die geistlichen und weltlichen Fürsten des deutschen Reiches an die Allgemeinheit und gebieten, die Bestimmungen der Articuli in den Diözesen und Landesherrschaften zu beachten50. Auf eine kurze Arenga, welche die Einhaltung von Konzilsbeschlüssen fordert, folgt eine umfassende Auflistung von Belastungen, denen die deutsche Nation ausgesetzt sei. Geklagt wird, dass das Papsttum trotz geltender Verfügungen immer wieder eigenmächtig in die Vergabe von Kirchenämtern eingreife. Dies führe zur Einsetzung von unwissenden und unwürdigen Männern, die nicht an ihren Kirchen residierten, oft nicht einmal die Landessprache beherrschten und nur auf materiellen Gewinn versessen seien. Bei der Bestätigung von neugewählten Bischöfen und der Vergabe anderer Kirchenämter an der römischen Kurie würden hohe Zahlungen eingefordert, welche die Möglichkeiten der Elekten und Provisen häufig überstiegen und zu schweren Beeinträchtigungen ihrer Kirchen führten. Expektanzen würden immer häufiger vergeben und führten zu großer Verwirrung bei der Ämtervergabe. Weiterhin würden Ablassgelder in großer Menge eingezogen, und es sei mit der Erhebung eines ungerechtfertigten Zehnten begonnen worden. Wenn gegen all dies kein geeignetes Mittel zu finden sei, so lautet die Schlussfolgerung, so werde das ehedem ruhmreiche Deutschland, das sich mit seinen Verdiensten und seinem Blut das Kaisertum erworben habe, völlig verarmen. Die Herrin von einst würde zur Magd. Nun waren gegen das Papsttum gerichtete Beschwerden dieser Art damals nicht völlig neu, doch begegnen sie in dieser umfassenden Form, geäußert von offiziöser Seite, zum ersten Mal in der Überlieferung. Die sogenannten Gravamina der deutschen Nation rissen in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr ab und sollten auch im Vorfeld und in der Frühphase der Reformation eine bedeutende Rolle spielen. Die in Frankfurt formulierten Beschwerden wurden hierfür mehrfach als Vorlage herangezogen und stellen damit gleichsam den Prototyp dar51. Während sich die lateinische Ordinatio schon aufgrund der Wahl der Sprache offenbar primär an den Klerus richten sollte, war die deutsche Intelligentia principum super 48 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 410. 49 Ed. ebd., S. 405–411. 50 Ebd., S. 405 das stark verkürzte Protokoll: Nos A b c etc. Universis et singulis etc. Im weiteren Verlauf werden die Aussteller als Archiepiscopi Episcopi et Principes gekennzeichnet; ebd. S. 407. 51 Zu den sog. Gravamina der deutschen Nation vgl. immer noch grundlegend Gebhardt: Gravamina; weiterhin Michel: Wiener Konkordat, S. 41–84; Cellarius: Reichsstadt Frankfurt; außerdem einschlägige Artikel in verschiedenen Nachschlagewerken, z. B. in: Theologische Realenzyklopädie 14 (1985), S. 131–134 (E. Wolgast).

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gravaminibus nationis Germanie als eine Einung der geistlichen und weltlichen Reichsfürsten angelegt52. Als Aussteller sollten zum einen Erzbischöfe und Bischöfe, zum anderen weltliche Kurfürsten und Fürsten fungieren, dies mit dem Konsens der jeweiligen Landstände und im Fall der geistlichen Prälaten auch der Domkapitel53. Ohne Zweifel sollten sie in dieser Zusammensetzung das Reich repräsentieren. Auch die Intelligentia wird von einer umfangreichen Liste mit Klagen über den Apostolischen Stuhl eingeleitet, die jener in der Ordinatio in vieler Hinsicht entspricht, allerdings eine abweichende Akzentuierung erkennen lässt. Die Expektanzen erscheinen im deutschen Text nämlich gar nicht, stattdessen wird mit Prozessen in geistlichen und weltlichen Angelegenheiten argumentiert, die über Gebühr an die Kurie gezogen würden. Die Erhebung des Zehnten erfährt eine besonders ausführliche Behandlung und nimmt den größten Teil des Beschwerdekatalogs ein. So scheint die Intelligentia stärker auf die Interessen der weltlichen Fürsten ausgerichtet gewesen zu sein als die Ordinatio. Im dispositiven Teil der Urkunde vereinen sich die Aussteller in aller Form und verpflichten sich auf die Einhaltung der Articuli. Neben diversen Beistands- und Detailregelungen wird für den Fall, dass wegen der Articuli ein Prozess eröffnet werde, auf das Formular einer Appellation an den Papst oder ein allgemeines, ökumenisches Konzil verwiesen, außerdem auf eine Protestatio, in der die Fürsten versichern, dass mit der Einung und etwaigen Appellationen dem Apostolischen Stuhl nicht die Obödienz aufgesagt werde. Beide Formulare wurden gesondert in die Frankfurter Avisamenta aufgenommen54. Hinzu kommt ein auf den 9. September 1457 datierter lateinischsprachiger Recessus mit Verhaltensmaßregeln, die sich die Gesandten in Frankfurt für die nahe Zukunft gaben55. Auf einer weiteren Versammlung, die auf den 11. November nach Nürnberg anberaumt wurde, sollten die Entwürfe erneut beraten und dann endgültig verab52 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 417–423 (nach dem Münchener Zeugen); ed. Ranke: Deutsche Geschichte, Bd. 6, S. 23–29 (nach dem Koblenzer Zeugen). Auf die Inserierung der Articuli wird verwiesen, sie erscheinen aber nicht im Wortlaut. 53 Ein Protokoll fehlt. Im weiteren Verlauf werden die Aussteller genannt: … Nemmelich wir Erzbischoffe und Bischoff vorgeschrieben mit Rade, Consenß und begerunge unser Capittel, prelaten und gelerten und anderer unserer trefflichen rede von Edelmannen, Ritterschafft und Steten und wir werntlichen kurfursten und fursten obgenant mit vorbehabtem Rade unser trefflichen frunde und Rede von Edelmannen, Ritterschafft und Steten; ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 418 f. 54 Appellacio: Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 411–416. Becker: Appellation, S. 157, schließt, dass die Kurie mit einer Welle von Berufungen gegen päpstliche Urteile überschwemmt werden sollte. – Forma protestacionis Franckfordie concepte: Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 416 f. 55 Ed. ebd., S. 403–405. – Dazu ein undatierter Abschied des Kurfürstentages mit der Terminsetzung des Nürnberger Tages und den Aufgaben des Erzbischofs von Mainz, der zudem den böhmischen König Ladislaus Postumus und Markgraf Karl von Baden einbeziehen sollte; HStA Dresden, 10024, Loc. 7384/2, fol. 105r/v.

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schiedet und besiegelt werden. Bis dahin sollten alle Erzbischöfe Provinzialsynoden einberufen und dort ihren Suffraganbischöfen und deren Domkapiteln die Ergebnisse der Frankfurter Versammlung unterbreiten. Durch den Mainzer Dietrich von Erbach waren noch die Erzbischöfe von Trier und Magdeburg wie auch der exemte Bischof von Bamberg einzuschalten. Weiterhin sollten zwei wichtige weltliche Landesherren hinzugezogen werden, nämlich Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach und Herzog Ludwig der Reiche von Bayern-Landshut. Schließlich wollte man auf dem Nürnberger Tag überlegen, auf welche Weise Kaiser Friedrich III. bewegt werden könne, sich der Fürsteneinung anzuschließen, entweder durch eine Pragmatische Sanktion oder durch ein anderes geeignetes Mittel56. Der zuletzt genannte Punkt ist von größter Bedeutung. Dass bei alledem die Einbeziehung des Königtums unverzichtbar war, stand für die Beteiligten wohl außer Frage. Eine Promulgation der Articuli als Konkordat zwischen dem Papst und der deutschen Nation, wie dies 1448 in Wien der Fall gewesen war, scheint man von vornherein ausgeschlossen zu haben. Der Papst sollte angegangen werden, mehr aber nicht57. Umso mehr musste man darauf sehen, Friedrich III. zu gewinnen. Nur wenn er das Abkommen als eine Pragmatische Sanktion verkündete und ihm auf diese Weise den Rang eines grundlegenden Reichsgesetzes zuwies, bestand die Aussicht, dass die Bestimmungen allgemeine Akzeptanz erlangten. Leitbild für die beabsichtigte Einbeziehung des Kaisers war die Pragmatische Sanktion von Bourges aus dem Jahr 1438, in welcher der französische König wichtige Basler Konzilsdekrete zum Gesetz erhoben und damit de facto die französische Nationalkirche ins Leben gerufen hatte58. Im Recessus wird sogar als Alternative ins Spiel gebracht, Dekrete der Konzilien von Konstanz und Basel unverändert zu übernehmen, womit man das französische Modell aufgegriffen hätte59. Bevorzugt wurde aber der Weg, den die Articuli aufzeigten. Sie sind zweifellos als Entwurf für eine Neufassung des Wiener Konkordats von 1448 zu verstehen. Dabei 56 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 405: Item quod eo tunc eciam avisetur de modo et forma, quibus Romanorum Imperator possit induci ad concurrendum unacum principibus Alamoniae in re ista et eciam ad providendum nacioni vel per pragmaticam sanccionem vel alio remedio oportuno. In dem sächsischen Aktenband befindet sich ein Zettel, auf dem nur diese Bestimmung ins Deutsche übersetzt wurde; HStA Dresden, 10024, Loc. 7384/2, fol. 125r: Der vorduczschte artikel. Item das alsdanne ouch gerat­ slagt werde von der wise und forme, domit der Romische keiser mocht doryn bracht und gefurt werden, in dißem dinge eynczusin mit den fursten Düczscher lande und ouch vorczusehen der Düczschen nacion durch eyne pragmatica sanxio ader ander bequeme und notturfftige mittel und hulffe. 57 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 405: Item quod consimiliter avisetur, anne dominus Apostolicus vel litteris vel Oratoribus et quibus modis et mediis interpellandus sit super hac re. 58 Vgl. hier nur Müller, Heribert: Pragmatique Sanction (1438), in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 166f. 59 Ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 404.

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hatten seine Verfasser gar nicht versucht, völlig neues Recht zu schaffen. Als Vorlage diente primär der Wortlaut des Konkordats, an das sich die Articuli hinsichtlich der päpstlichen Ämtervergabe sowie der Servitien und Annaten eng anlehnten. Es wurde zwar eine Reihe von teilweise tiefgreifenden Änderungen eingebracht, aufgrund derer der Einfluss des Papsttums auf die innerkirchlichen Belange des deutschen Reiches, wenn nicht völlig beseitigt, so doch stark eingeschränkt worden wäre, eine grundsätzliche Neuregelung war jedoch nicht vorgesehen. Die Articuli sollten das Wiener Konkordat revidieren, womit ein Programm verfolgt wurde, das weit weniger radikal als die Basler Dekrete, dafür aber in mancher Hinsicht differenzierter war. Die Bestimmungen zeigen eine relativ gemäßigte, auf die Sache konzentrierte Haltung ihrer Verfasser, die erkannt hatten, dass die in Wien getroffenen Verfügungen zumindest bis zu einem bestimmten Punkt praktikabel waren. Es bleibt die Frage, auf wen dieses Programm zurückzuführen ist. Alles deutet darauf hin, dass der Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach, der den Abgesandten ja schon im Vorfeld der Verhandlungen schriftliche Unterlagen hatte zukommen lassen, im Mittelpunkt stand. Aus den Reihen seiner Berater dürften die Entwürfe gestammt haben. Gut denkbar ist, dass der Mainzer Kanzler Martin Mayr hierbei die treibende Kraft war, dass das Programm einer Revision des Wiener Konkordats mit dem Ziel der Promulgation in Form einer Pragmatischen Sanktion durch Kaiser Friedrich III. auf ihn zurückzuführen ist. Die Bemühungen um eine Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse im deutschen Reich konnten an der römischen Kurie nicht lange unentdeckt bleiben. Eine Reihe von Briefen Papst Kalixts III. und vor allem des Kardinals Enea Silvio Piccolomini aus jener Zeit zeigt – auch wenn die Gegenschreiben durchweg fehlen –, wie die Informationen, die nach Rom drangen, mit der Zeit immer dichter wurden60. Es muss nicht verwundern, dass man die Angelegenheit an der Kurie sehr ernst nahm und entsprechende Gegenmaßnahmen in die Wege leitete. Enea scheint Anfang Juli 1457 erste Hinweise auf Umtriebe im deutschen Reich erhalten zu haben und äußerte seinen Unmut hierüber61. Möglicherweise war er über 60 Für die folgenden Ausführungen wurden vornehmlich die von Enea selbst zusammengestellten Kardinalsbriefe anhand der immer noch heranzuziehenden alten Werkausgabe ausgewertet: Aeneae Sylvii Piccolominei Opera quae extant omnia, Basel 1551 (zitiert: Opera). Darin sind auch Briefe Kalixts III. eingegangen, die wohl sämtlich von Enea diktiert wurden. Von einiger Bedeutung ist weiterhin das Brevenregister Kalixts III. ASV, Arm. XXXIX, 7; dazu Pitz: Repertorium Germanicum, Bd. 7, Nr. 1338 u. 2035. Die Wiedergabe der drei Mayr-Briefe Nr. 369, 288 und 338 nach der Basler Ausgabe durch Fadiga: Germania, S. 283–294, ist von Abschreibfehlern durchsetzt und somit wertlos. Zu den Briefen vgl. jeweils ohne direkten Bezug auf die Frankfurter Avisamenta Voigt: Enea Silvio, Bd. 2, S. 223–239; Pastor: Päpste, Bd. 1, S. 735–737; Hansen: Martin Mair, S. 151–154; Fadiga: Germania, S. 20–29. – In den Commentarii Eneas finden sich keine einschlägigen Informationen. 61 4. Juli 1457, Enea an Kardinal Juan de Carvajal; Opera, S. 792 Nr. 269: Ex Rheno audiuimus aliqua quae

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die Aktivitäten vom Mai in der Trierer und der Kölner Diözese informiert worden, deren Zielrichtung er nicht gutheißen konnte. Ungefähr einen Monat darauf erhielt er einen Brief vom Mainzer Kanzler Martin Mayr, dem er offensichtlich schon weitaus konkretere Informationen entnehmen konnte. Das Schreiben enthielt Beschwerden über die römische Kurie, die Enea am 8. August ausführlich zu widerlegen suchte62: Die Dekrete der Konzilien von Konstanz und Basel wie auch das Wiener Konkordat würden nicht eingehalten, kanonische Bischofswahlen nicht bestätigt, bei der Besetzung von Kirchenämtern sowie durch Ablässe und Zehnten würde übermäßig Geld aus Deutschland abgezogen. Aus Eneas Antwort wird ersichtlich, dass sich die Argumente Mayrs bestens mit den Beschwerden deckten, wie sie wenig später in die Frankfurter Avisamenta eingehen sollten. Anscheinend hatte man in Mainz frühzeitig die Ausarbeitung von deren Wortlaut in Angriff genommen, und Mayr übermittelte Enea ein erstes Warnsignal. Ein weiterer Brief Eneas an Mayr vom 20. September geht erneut auf derartige Beschwerden ein63. Darüber hinaus bezieht sich das Schreiben auf eine Gesandtschaft des Mainzer Sekretärs Wigand Koneke, der Enea den Vorschlag Erzbischof Dietrichs von Erbach unterbreitet hatte, mit dem Papst eine intelligentia abzuschließen, um den Ränken schlechter Menschen entgegenzutreten64. Der Kardinal zeigte sich hierüber befremdet und erklärte das Anliegen unter nachdrücklichem Verweis auf die Primatsgewalt des Papstes für unwürdig. Dietrich solle sich mit dem begnügen, was seine Vorgänger innehatten. Besonders sein Ansinnen hinsichtlich der Bestätigung von Bischofskirchen würde das Recht des Papstes schwächen65. Alles deutet darauf hin, dass man in Mainz ein doppeltes Spiel trieb. Zu einem Zeitpunkt, als die Frankfurter Avisamenta noch gar nicht verabschiedet waren, wurde der Sekretär Koneke an die Kurie entsandt, um dort ein Abkommen mit dem Papst zu betreiben, das wesentliche, wenn nicht alle Bestimmungen der Articuli enthielt, dies allerdings ausschließlich auf die Kirchenprovinz Mainz bezogen. Auch wenn Eneas

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non placent: nescio an erunt uera […] 1. Aug. 1457, Enea an Kardinal Nikolaus von Kues; Opera, S. 833 Nr. 360: De praelatis Germaniae et dietis eorum multa hic dicuntur non bona […] 8. Aug. 1457, Enea an Martin Mayr; Opera, S. 836–839 Nr. 369. 20. Sept. 1457, Enea an Martin Mayr; Opera, S. 822–824 Nr. 338. – In die Nähe dieses Briefes könnte ein weiteres, undatiertes Schreiben gehören, in dem Enea vorgibt, Mayr Argumente zur päpstlichen Autorität und ihrer Begründung durch Christus an die Hand zu geben; Opera, S. 801–803 Nr. 288, dort zwischen Briefen vom 11. Sept. und 3. Okt. Ein Reflex auf die Frankfurter Avisamenta fehlt. Die Ausführungen entsprechen im wesentlichen Germania III 26–31/100–135. Opera, S. 822: […] et quomodo ad obuiandum peruersorum hominum machinationibus necessarium tibi uidetur, intelligentiam quandam fieri inter sanctissimum dominum et ipsum archiepiscopum. Zu Wigand Koneke vgl. Ringel: Studien, S. 208–213. Opera, S. 824: Quibus ex rebus non essemus ausi ea quoquo modo aperire domino nostro quae nobis pro intelligentia contrahenda significasti. Sunt enim eneruatiua apostolici iuris, et non minus profecto praeiudicii prae se ferentia. Et illa praesertim quae de confirmationibus pontificalium ecclesiarum attigisti.

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Brief den Sachverhalt nicht eindeutig ausdrückt, wird doch die Konfirmation der Suffraganbischöfe durch den Mainzer Erzbischof statt durch den Papst als wichtiger Gesichtspunkt erkennbar. Mit einiger Wahrscheinlichkeit versuchte man, die angestrebte kirchliche Neuordnung, sollte sie im Reich nicht zu vermitteln sein, wenigstens in der Mainzer Kirchenprovinz Wirklichkeit werden zu lassen. Unmittelbar danach gelangten neue Informationen nach Rom, übermittelt von Kardinal Nikolaus von Kues, der sich zu jener Zeit in seinem Bistum Brixen aufhielt66. Am 23. September 1457 oder kurz zuvor ließ Papst Kalixt III. deshalb einen langen Brief an Friedrich III. expedieren67, in dem er die Information weitergab, einige Kurfürsten und andere deutsche Fürsten und Prälaten hätten eine Versammlung abgehalten und daraufhin ihre Gesandten zum Kaiser geschickt, die über den Papst und die Kurie Klage führen sollten. Über die wichtigsten Punkte des Frankfurter Beschwerdekatalogs wusste man nun einigermaßen Bescheid: Zu viel Geld würde der deutschen Nation von der Kurie abgerungen, und das Wiener Konkordat würde nicht eingehalten, indem der Papst immer wieder Bischofswahlen zurückweise und sich bei der Ämtervergabe unrechtmäßig verhalte. Nicht thematisiert wurden in dem Schreiben hingegen die aus den Beschwerden resultierenden Articuli. Die Avisamenta als Ganzes lagen demnach an der Kurie damals noch nicht vor. Auch wenn man sich in Rom bewusst sein musste, dass die Informationen über die Fürstenversammlung noch unzureichend waren, so war doch die Gefahr, die daraus resultierte, evident. Der Papst reagierte deshalb unverzüglich. Er wandte sich nicht nur an den Kaiser, sondern außerdem an diverse Persönlichkeiten, denen er zur Information seinen Brief an Friedrich III. in Kopie zukommen ließ. Neben Nikolaus von Kues ist ein Schreiben an den damals in Ungarn tätigen Kardinallegaten Juan de Carvajal bekannt, außerdem an König Ladislaus Postumus, an den gelehrten Rat Heinrich Leubing und auch an den Trierer Erzbischof Johann von Baden, den Kalixt wohl auf diese Weise aus der oppositionellen Front herauszulösen trachtete68. Enea war maßgeblich an den Bemühungen um eine frühzeitige Nieder66 Ohne Datum, Kalixt III. an Kardinal Nikolaus von Kues; Opera, S. 822 Nr. 337: Considerauimus diligenter ea quae nobis scripsisti super practicis quas nunnulli principes ac praelati in partibus Rheni tenere dicuntur in negociis ecclesiae … Ea propter scripsimus charissimo filio nostro Frederico Romanorum Imperatori semper augusto … Zur Datierung siehe unten Anm. 68. Der Kardinal hatte sich damals aus Furcht vor Herzog Sigmund von Tirol auf sein Schloss Buchenstein in den Dolomiten zurückgezogen, wo er an die Informationen gelangt sein muss; Mutschlechner: Itinerar, S. 531. 67 Ohne Datum, Kalixt III. an Kaiser Friedrich III.; Opera, S. 840–843 Nr. 371, hier S. 840–842. Zur Datierung siehe unten Anm. 68. Das in der Edition angegebene Datum pridie Calend. Septemb. Anno M. CCCCLVII (31. Aug. 1457) kann aus inhaltlichen Gründen nicht stimmen. 68 Von diesen Briefen ist nur jener Kalixts III. an Erzbischof Johann von Trier vom 23. Sept. 1457 datiert; ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 429 (wohl nach dem Original). Da auch allen anderen der kaiserliche Brief in Kopie beigelegt wurde, ist ihre Datierung entsprechend anzusetzen: An Nikolaus von Kues; wie oben Anm. 66. An Juan de Carvajal; Opera, S. 818f. Nr. 329; das in der Edition angegebene Datum die

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schlagung der Aktivitäten in Deutschland beteiligt. Er diktierte alle diese Briefe des Papstes69 und schrieb einen Monat darauf seinerseits den Mainzer Kleriker Johann von Lysura und noch einmal Martin Mayr an, um ihnen deutlich zu machen, dass er sich für eine strikte Einhaltung des Wiener Konkordats einsetze70. Und dann erlangte man an der Kurie endlich, nach ungefähr sieben Wochen, Kenntnis vom genauen Wortlaut der Frankfurter Avisamenta. Als Kalixt III. am 25. Oktober den franziskanischen Kreuzzugsprediger Iacobus de Marchia über den Stand seiner Bemühungen unterrichtete, scheint man in Rom noch nicht im Besitz einer Kopie gewesen zu sein71. Dies war aber der Fall, als Enea am 2. November dem Legaten Juan de Carvajal gegenüber erklärte, Gegner des Papstes würden eine gallikanische Sanktion anstreben72. Tags darauf beschwor er in einem Brief an Johann von Lysura die Gefahr, dass die Deutschen durch Nachahmung Franzosen würden73. Speziell die Passage im Recessus, wonach Kaiser Friedrich III. bewegt werden sollte, die Fürsteneinung als Pragmatische Sanktion zu verkünden, muss an der Kurie wie ein Blitz eingeschlagen haben. Das Frankfurter Dokument war Enea mit einiger Sicherheit von dem brandenburgisch-ansbachischen Rat Peter Knorr hinterbracht worden74. Die nunmehr genaue Kenntnis, was in Frankfurt im Einzelnen verabredet worden war, löste am Jahresende 1457 noch einmal eine Intensivierung der kurialen Bemühungen aus, die oppositionellen Ansätze im Keim zu ersticken und dabei die eigene Position zu rechtfertigen. Enea versorgte deshalb den ihm nahestehenden päpstlichen Subdiakon Lorenzo Roverella mit ausführlichen Anweisungen75. Außerdem richtete er an den Kölner Erzbischof Dietrich von Moers die Bitte, Personen, die Neuigkeiten betrieben, kein Ohr darzubieten76. Daneben sind aus jenen Tagen auch päpstliche Breven bekannt. Dem Legaten Carvajal wurde der Wortlaut der Frankfurter Avisamenta zuge-

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XVI. Octob. Anno M.CCCCLVII kann aus inhaltlichen Gründen nicht stimmen und entspricht auch nicht dem Formular der päpstlichen Littera, in der das Schreiben gehalten ist. An Ladislaus Postumus; Opera, S. 819 f. Nr. 331. An Heinrich Leubing; Opera, S. 821f. Nr. 335. Kenntlich gemacht durch den Vermerk Dictata per Aeneam oder ähnlich. 20. Okt. 1457, Enea an Johann von Lysura; ed. Opera, S. 828 Nr. 349. 20. Okt. 1457, Enea an Martin Mayr; ed. Opera, S. 827 Nr. 345. 25. Okt. 1457, Enea an Iacobus de Marchia; ed. Wadding: Annales Minorum, Bd. 6, S. 366f. Nr. 11, hier S. 367. 2. Nov. 1457, Enea an Kardinal Juan de Carvajal; Opera, S. 801 Nr. 309: Res perniciosae agitantur, qui contra nos sunt gallicanam appetunt sanctionem […] 3. Nov. 1457, Enea an Johann von Lysura; Opera, S. 813f. Nr. 320, hier S. 814: Multa rumor affert, et Germanos fieri Gallos imitatione, contendit. 7. Nov. 1457, Enea an Peter Knorr; Opera, S. 829 Nr. 350: Gratae fuerunt nobis literae tuae quibus nouitates germanicas significasti, et dietarum institutiones. Scimus nos esse tibi charos qui omnia ut amico communicas. 24. Nov. 1457, Enea an Lorenzo Roverella; Opera, S. 821 Nr. 334. 2. Dez. 1457, Enea an Erzbischof Dietrich von Köln; Opera, S. 809 Nr. 305.

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leitet, verbunden mit dem Auftrag, sich beim Kaiser für die Sache des Papstes zu verwenden77. Weiterhin schrieb Kalixt III. mehreren Städten, darunter Bern, wo er den Rat ermahnte, sich nicht durch Einflüsterungen und Sophismen beunruhigen zu lassen78. Nachdem an der Kurie mittlerweile angenommen werden durfte, dass Dietrich von Mainz die Opposition maßgeblich organisiert hatte, richtete Kalixt an ihn ein Schreiben, in dem er vorgab, er könne sich gar nicht vorstellen, dass der Erzbischof gegen die Autorität des Apostolischen Stuhles und des Papstes handle79. Noch um einiges deutlicher äußerte er sich in Briefen an alle drei rheinischen Erzbischöfe, denen er erklärte, er habe mit großem Verdruss über sie Dinge erfahren, die, sollten sie wahr sein, verabscheuungswürdig wären80. Die nachdrücklichste Reaktion auf die in den Frankfurter Avisamenta formulierten Reformforderungen stellt Eneas Germania dar – wiewohl dies von der Forschung bislang weithin übersehen wurde. Der Brieftraktat ist als ein unmittelbarer Reflex auf das Papier zu betrachten. Nur kurze Zeit nach seinem Bekanntwerden an der Kurie muss Enea mit der Arbeit daran begonnen haben. Zweifellos lagen ihm damals die Avisamenta vollständig vor, die lateinische Ordinatio, die deutsche Intelligentia zusammen mit der Appellation und der Protestatio wie auch der von den Räten verfasste Recessus. Explizit weist der Kardinal im dritten Buch seines Traktats auf die Urkundenentwürfe hin, indem er sich auf Abschriften einer Pragmatik bezieht, die ihm von Freunden zugeleitet worden seien (III 4/13)81. Im ersten von zwei Teilen, so Enea, würden die Belastungen durch die päpstliche Kurie wiedergegeben und Gegenmaßnahmen hinsichtlich Bischofswahlen, Ämterverleihung, geistlicher Gerichtsbarkeit, Ablässen und Zehnten genannt. Das kann sich nur auf die Ordinatio mit den inserierten Articuli beziehen. Im zweiten Teil stünden Appellationen, auf die zu rekurrieren sei, sollte sich der Papst der Pragmatischen Sanktion widersetzen. Enthalten sei weiterhin ein Fürstenbund zum Schutz der Sanktion, womit die deutschsprachige Intelligentia gemeint 77 29. Nov. 1457, Kalixt III. an Kardinal Juan de Carvajal; ASV, Arm. XXXIX, 7, fol. 132r–133v; kurze Auszüge ed. Raynaldus: Annales ecclesiastici, Bd. 18, ad a. 1457 c. 42. 78 Ohne Datum, Kalixt III. an Rat und Gemeinde von Bern; ASV, Arm. XXXIX, 7, fol. 145r; Auszug ed. Raynaldus: Annales ecclesiastici, Bd. 18, ad a. 1457 c. 39; Auszüge ed. Pastor: Päpste, Bd. 1, S. 859 Nr. 81. – Ähnlich Consilio et communitati Salatrensium und Consilio et communitati Faburgensium; ASV, Arm. XXXIX, 7, fol. 149r/v. 79 Ohne Datum, Kalixt III. an Erzbischof Dietrich von Mainz; ASV, Arm. XXXIX, 7, fol. 148v–149r; Auszug ed. Raynaldus: Annales ecclesiastici, Bd. 18, ad a. 1457 c. 49. 80 Ohne Datum, Kalixt III. an Erzbischof Dietrich von Mainz, a pari an Erzbischof Dietrich von Köln und Erzbischof Johann von Trier; ASV, Arm. XXXIX, 7, fol. 144v; ed. Raynaldus: Annales ecclesiastici, Bd. 18, ad a. 1457 c. 50. 81 Sunt amici nostri nullis obligati principibus, qui nobis omnium, que apud vos aguntur, notitiam fecere missis exemplaribus eius pragmatice, que ab aliquibus excogitata impublicum deferri debuit. – Kapitelzählung der Germania nach Schmidt und nach Fadiga, getrennt durch einen Schrägstrich.

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ist (III 4/13–14). An anderer Stelle rekapituliert Enea in aller Kürze, wenn auch keineswegs korrekt, den wesentlichen Inhalt der Articuli. Gefordert würden der Verbleib der Prozesse im Land, die Überstellung der Prälatenwahlen an die Erzbischöfe, die Vergabe von Kirchenämtern ausschließlich durch die Ordinarien und das Verbot der Erhebung von Annaten (III 5/18). Ähnlich deutlich sind die Bezüge zwischen dem angeblichen Brief Martin Mayrs, der dem Traktat vorangestellt ist, zu den in Frankfurt verabschiedeten Entwürfen, speziell zur Ordinatio. In aller Kürze, fast schon stichpunktartig, werden zunächst die verschiedenen Kritikpunkte angeführt. Sie wirken mehr wie ein Inhaltsverzeichnis als die Argumentationslinie eines Briefes. Inhaltlich korrespondieren sie weitgehend mit dem Beschwerdekatalog der Ordinatio. Dem schließt sich die Konsequenz der kurialen Eingriffe an: Die deutsche Nation, die sich mit ihrem Verdienst und ihrem Blut das Kaisertum erkauft habe, einst Herrin und Königin der Welt, sei nun Magd geworden und verarmt. Teilweise wortgleich erscheint hier die Argumentation der Ordinatio wieder82. Und schließlich wird auf die Frankfurter Versammlung verwiesen, wenn in dem Brief zu lesen steht, dass die deutschen Optimaten nun gleichsam vom Schlaf aufgeschreckt seien und beschlossen hätten, das Joch abzuwerfen und die alte Freiheit einzufordern. Hinfällig ist aufgrund all dessen am Ende des Briefes die Datierung auf den 31. August, Ex Haschaffemburga pridie Kal. septembris 1457, für die sich Enea entschieden haben mag, um seine frühzeitige Kenntnis von den Vorgängen im Reich vorzuspiegeln. Keine Frage, der Mayr-Brief ist fiktiv. Er rekapituliert in gekürzter Form den narrativen Teil der Ordinatio und wurde von Enea als Exposition seiner Germania verfasst83. Der Brieftraktat antwortet mit seinen drei Büchern auf die Frankfurter Ordinatio und bedient sich hierfür des Mayr-Briefes gleichsam als eines Filters. Im ersten Buch geht es um die Gravamina, im zweiten um den vermeintlichen Niedergang Deutschlands, im dritten um das Aufbegehren der deutschen Fürsten. In vollem Umfang handelt Enea im ersten Buch den Beschwerdekatalog der Ordinatio ab, nimmt sich allerdings bestimmte Punkte, den Zehnten (I 13/35), die Gerichtsbarkeit (I  44/96–98), die Ablässe (I  45/99–101) sowie die Servitien und Annaten (I 46/102), nur kursorisch vor, als ob er dies allein der Vollständigkeit halber täte. Offensichtlich geht es ihm hier nicht primär um finanzielle Fragen. Umso ausführli82 Germania, Brief Martin Mayrs: Ob quas res natio nostra quondam inclita, que sua virtute suoque sanguine Romanum imperium coemit fuitque mundi domina ac regina, nunc ad inopiam redacta ancilla et tributaria facta est et in squalore iacens suam fortunam, suam pauperiem multos iam annos meret. Entsprechende Passagen in der Ordinatio; ed. Rossmann: Betrachtungen, S. 406: […] ut illa quondam inclita et gloriosa Alamania, que suis virtutibus et sanguine meruit imperium; […] ut que olim fuerat domina nunc squalore oppressa et facta tributaria habeat ancillari. 83 Der fiktive Charakter des Briefes wird heute weithin konstatiert, so etwa von Worstbrock: Piccolomini, Sp. 652.

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cher kommt der Vorwurf zur Sprache, Papst Kalixt III. missachte die Dekrete der Konzilien von Konstanz und Basel. Enea widersetzt sich dem, indem er grundsätzliche Kritik an den Versammlungen übt und dabei speziell das Konzil von Basel als einen einzigen Misserfolg erscheinen lässt (I 6–18/17–47). Überhaupt würden Konzilien von ungeeigneten Personen dominiert, denen es nur um ihren eigenen Vorteil zu tun sei (I 8/21–22). Außerdem hätten die Päpste das Recht, Konzilsbeschlüsse auszulegen, zu verbessern oder aufzuheben. Eine allzu häufige Einberufung von Konzilien, wie im Konstanzer Dekret Frequens festgelegt, würde zwangsläufig ihre Autorität mindern (I 9/25). Darüber hinaus widersetzt sich Enea strikt dem Vorwurf im fiktiven MayrBrief, Bischofswahlen würden vom Papst vielfach verworfen (I 19–36/47–75). In einer ellenlangen Aufzählung handelt er 21 deutsche Erzbischofs- und Bischofserhebungen seit dem Wiener Konkordat von 1448 ab, um aufzuzeigen, dass kaum einmal ein Kandidat zum Zuge gekommen sei, der nicht vom Domkapitel gewählt wurde (I 20–32/51– 67). Des Weiteren nimmt die Rechtfertigung der Vergabe von nichtbischöflichen Kirchenämtern durch den Papst einigen Raum ein. Hinsichtlich der Expektanzen verweist Enea auf das Wiener Konkordat, wonach der Papst in den ungeraden Monaten Anwartschaften vergeben dürfe. Er räumt allerdings ein, dass diese Gunsterweisungen zu häufig gewährt würden. Dem werde der göttliche Kalixt bestimmt entgegentreten, wenn er erst einmal ein wenig Ruhe vor den Türken finde (I 37/76–79). Auch ansonsten erkennt Enea Mängel bei der Verleihung von Kirchenämtern. Dabei fließe mitunter ungerechtfertigter Weise Geld, wie dies an jedem Hof, wenn wichtige Amtsgeschäfte erledigt werden, der Fall sei. Noch am wenigsten gelte dies aber für die römische Kurie. Denn an keinem Ort sei so viel Gelehrsamkeit, Erfahrung und Beschäftigung mit den Wissenschaften, seien so viele durch ihr gottgefälliges Leben hervorstechende Männer anzutreffen wie dort, so dass mit Recht von einer Heimstätte der Bildung und einem Sitz der Tugenden gesprochen werden könne (I  40–43/87–95). In diesem Zusammenhang bezieht Enea auch in eigener Sache Stellung, nachdem er von Kalixt III. eine Expektanz auf Kirchenämter in den drei Kirchenprovinzen Mainz, Köln und Trier erhalten hatte, die zusammen Einkünfte von bis zu 2000 Gulden jährlich erbringen durften84. Er argumentiert hier mit seiner engen Verbindung zu Deutschland, das ihm wie ein Vaterland sei. Für die deutsche Nation habe er sich einst in Diensten Friedrichs III. eingesetzt, was wiederum seinen Aufstieg zum Kardinalat bewirkte. Er hätte angesichts einer so engen Verbindung nicht geglaubt, dass in Deutschland Kritik an seinem Verhalten aufkommen könne (I 38–39/80–86). So griff Enea vornehmlich 84 Zur sog. Generalreservation Eneas vom 4. Febr. 1457 vgl. Brosius: Pfründen, S. 286–307. Dazu auch die Briefe Eneas an den Wormser Domdekan Rudolf von Rüdesheim vom 22. Juli 1457, an Martin Mayr vom 8. Aug. 1457, an dens. vom 20. Okt. 1457 und an Peter Knorr vom 7. Nov. 1457; Opera, S. 831f. Nr. 356, S. 838f. Nr. 369, S. 827 Nr. 345, S. 829 Nr. 350.

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drei Punkte aus der Frankfurter Ordinatio auf und brachte sie über den fiktiven MayrBrief in das erste Buch seiner Germania ein. Seine Gegendarstellung zeigt eine ablehnende Haltung gegenüber den Konzilien von Konstanz und Basel, sie rechtfertigt das Verhalten des Papstes bei Bischofserhebungen und bekundet die grundsätzliche Zulässigkeit von päpstlichen Provisionen. Im zweiten Buch mit der von der Forschung vielfach traktierten humanistischen Landesbeschreibung vergleicht Enea zunächst das gegenwärtige Deutschland mit dem alten Germanien und bezieht sich dabei auf die klassischen Autoren Cäsar, Strabon und – das ist das Neue – Tacitus. Damals sei alles abscheulich, hässlich, grob und barbarisch gewesen (II 2–4/2–6). Jetzt aber biete Deutschland einen viel herrlicheren Anblick (II 7/12). Enea beschreibt blühende Landschaften und bezieht sich hierbei in besonderem Maße auf die deutschen Städte. Der umfangreiche Städtekatalog der Germania hat längst Berühmtheit erlangt (II 7–15/13–43). Am Ende erfährt der Leser, dass in keiner Nation Europas die Städte so sauber und ansehnlich seien wie in Deutschland (II 16/44). Wiederum ausführlich bezieht Enea sodann Stellung zu den politischen Verhältnissen. Im Einzelnen behandelt er den Episkopat, die Laienfürsten und die Reichsstädte, welch letztere große Freiheiten genössen (II 18–24/50–70). Im Ergebnis verwirft Enea die betreffenden Aussagen des Mayr-Briefes und damit der Frankfurter Ordinatio: Deutschland ist, anders als das alte Germanien, weder arm noch machtlos noch verachtungswürdig (II 28/84–88). Deutschland ist vielmehr reich, und wenn dort gewisse Missstände herrschen, namentlich die Machtlosigkeit des Kaisers, so kann dies nicht der Kurie angelastet werden (II 31–33/95–102). Das dritte Buch stellt den vielleicht interessantesten, sicher aber den schwierigsten Teil der Germania dar. Gleich zu Beginn wendet sich Enea mit deutlichen Worten gegen den Stand der Fürstenräte, was auf die Zusammensetzung der Frankfurter Versammlung zu beziehen ist, zu der sich keine Fürsten, sondern ausschließlich deren Vertreter eingefunden hatten. Man solle besser von Plebejern als von Optimaten sprechen, führt er aus, denn schlechte Menschen dunkler Abkunft versuchten, den ruhigen Zustand des Gemeinwesens in Unordnung zu bringen. Im Gegensatz zu ihnen stünden aber die geistlichen und weltlichen Fürsten Deutschlands zum Papst (III 1–3/1–11). Das Dokument, gegen das sich dieses dritte Buch in besonderem Maße wendet, die Frankfurter Avisamenta und speziell die Articuli, wird als ein Werk von Rabulisten abqualifiziert (III 4/12). Enea bezeichnet es durchweg provokant als pragmatica sanctio oder kurz pragmatica – was verfehlt ist, denn der Kaiser, der allein es in diesen Rang erheben konnte, war ja noch längst nicht gewonnen. Drei Argumente führt Enea gegen diese Pragmatik an. Sie habe den Geschmack der Undankbarkeit gegenüber der römischen Kirche, sie wolle dem Apostolischen Stuhl seine Vorrang-

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stellung entreißen, und sie sei darauf abgestellt, das dieser arm, niedrig und machtlos werde (III 5/17–18, III 23/88–89). Die weiteren Ausführungen zu diesen drei Punkten sind jeweils mit einem weitausgreifenden Exkurs verbunden, wobei grundsätzliche Fragen von Religion und Kirche angesprochen werden. Undankbar sei die deutsche Nation vor allem deshalb, weil nicht gewürdigt werde, dass das Papsttum ihr einst den Glauben und die rechte Lebensweise gebracht habe, wobei es immer noch Menschen geben könne, die am rechten Glauben zweifeln (III 6–8/20–29). Darauf baut sich – nicht eben schlüssig motiviert – eine umfangreiche Abhandlung zur Göttlichkeit Christi einschließlich seines Lebens auf Erden und seiner Wunder auf (III 9–23/30– 88). Ähnlich ausführlich äußert sich Enea, wiederum exkursartig, zum päpstlichen Primat, der von den Verfassern der Pragmatischen Sanktion bestritten werde, indem sie Gesetze aufstellten, die dem Papst Zügel anlegen und für den Fall des Widersetzens Appellationen vorsehen, womit sie der Häresie verfielen (III  24–31/90–135). Ihr Ansinnen, den Fluss von Annaten und anderen Abgaben zu unterbinden und die Armut des Papstes, der Kardinäle und der ganzen Kurie durchzusetzen, hält Enea für inakzeptabel. Deshalb widmet er sich in einem dritten großen Exkurs den Amtspflichten des Papstes und der Organisation der päpstlichen Kurie, die mit der Vielzahl ihrer Ämter beschrieben wird. An keinem anderen Hof seien so viele gelehrte und moralisch ausgewiesene Männer, so viel Weisheit, Ordnung und Befolgung der religiösen Gebräuche zu finden, wird erneut bekundet. Das alles sei ohne einen gewissen Reichtum nicht zu leisten (III 32–46/136–221). Zum Schluss knüpft Enea an sein Verdikt der Pragmatik am Beginn dieses Buches an und bestreitet vehement die Zulässigkeit, an ein Konzil zu appellieren. Der Papst sei das alleinige Oberhaupt der Kirche, gegen das nicht Berufung eingelegt werden könne (III 47–52/221–259). Die Formeln für etwaige Appellationen innerhalb der Frankfurter Avisamenta scheinen bei Enea besonders Wirkung gezeigt zu haben, so dass er diesen Sachverhalt an exponierter Stelle ganz am Ende des Traktats behandelt. Es bleibt die Frage nach der Intention, die Enea mit seiner Germania verband, wie auch nach dem angestrebten Rezipientenkreis. Zunächst stellt der Traktat eine Gegenposition zu den Frankfurter Avisamenta dar, die von Enea und den Angehörigen der römischen Kurie zumindest eine Zeitlang als wirkliche Gefahr angesehen wurden. Der Text zeigt in seinen verschiedenen Teilen, dass man in Rom einen solchen fürstlichen Zusammenschluss fürchtete, vor allem weil damit finanzielle Verluste und das Wiederaufleben von konziliaren Bestrebungen verbunden sein konnten. Selbst wenn ein neues allgemeines Konzil in absehbarer Zeit wenig wahrscheinlich war, durfte man die auf Selbständigkeit bedachten Bestrebungen der deutschen Erzbischöfe, welche die Konfirmation der Bischofswahlen zu ihrem alleinigen Recht machen und damit auch den

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Geldstrom an die Kurie reduzieren wollten, keinesfalls hinnehmen. Dabei äußerte sich Enea mit aller Vorsicht. Nicht die geistlichen Kurfürsten und namentlich den Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach, der doch die Opposition initiiert hatte, benannte er als Schuldige, sondern allein die in Frankfurt versammelten Fürstenräte. Indem er den Sack schlug und doch den Esel meinte, vermied er den Eindruck, dass keine Möglichkeit eines gütlichen Ausgleichs mehr bestünde. Dies bedeutet aber nicht, dass die Germania bestimmt gewesen wäre, speziell in Deutschland für die kurialen Positionen zu werben. Ganz im Gegenteil, Enea wandte sich mit seinem Brieftraktat primär an ein kuriales Publikum, im Besonderen wohl an bestimmte Kardinäle85. Schon die Überlieferung mit dem erhaltenen Autograph und einer nahezu gleichzeitigen Abschrift, die beide bis auf den heutigen Tag in der Vatikanischen Bibliothek aufbewahrt werden, steht hierfür als Indiz. In Deutschland hingegen setzte die Rezeption in größerem Umfang erst um die Wende zum 16. Jahrhundert ein, nachdem in Leipzig die Editio princeps erschienen war. Anzunehmen ist, dass es Enea gar nicht ausschließlich darum ging, die Argumente der Frankfurter Avisamenta zu widerlegen, sondern er sich mit dem Traktat überdies für eine in naher Zukunft zu erwartende Papstwahl in Stellung bringen wollte. Kalixt III. war damals bereits 79 Jahre alt und gesundheitlich angegriffen. Mit seinem baldigen Tod musste gerechnet werden86. Wohl aus diesem Grund präsentierte sich Enea mit seiner Germania versiert in allen Fragen, die an der Kurie von Bedeutung waren. Ohnehin war er dort als Deutschlandspezialist bekannt und hatte zuletzt auch entsprechende Aufgaben übernommen. So ließ er dieses Spezialistentum in dem Traktat immer und immer wieder aufscheinen, was im zweiten Buch mit der humanistisch ausgerichteten, attraktiven Landesbeschreibung, die an der Kurie gewiss gerne aufgenommen wurde, besonders deutlich wird. Vermutlich noch wichtiger sind in dieser Hinsicht die drei exkursartigen Abhandlungen im dritten Buch, mit denen Enea unter Beweis stellen wollte, dass er sich ohne weiteres in den zentralen Bereichen der Kirchenführung argumentativ zu bewegen wusste. Die verschiedenen Aspekte des Primats berühren grundlegende Positionen des päpstlichen Selbstverständnisses, die detaillierten Ausführungen zum Aufgabenbereich von Papst und Kurialen verweisen auf eine intime Vertrautheit mit den organisatorischen Fragen und Problemen des römischen Hofes, und mit dem Diskurs über die Göttlichkeit Christi, mag er sich in dem Traktat auch wie ein Fremdkörper ausnehmen, präsentierte sich Enea als ein Kleriker, der auch in den zentralen Fragen des Glaubens gut bewandert ist. Dazu passt, dass er sich zumindest unterschwellig von seiner eigenen konziliaren Vergangenheit 85 Vgl. in diesem Sinne Schmidt: Germania, S. 7; Ders.: Deutschland, S. 10; aufgegriffen von Krebs: Negotiatio, S. 141, 156 mit Anm. 142. 86 Vgl. Pastor: Päpste, Bd. 1, S. 776f.

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distanzierte, wenn er in aller Ausführlichkeit das Versagen des Basler Konzils darstellte87. Insgesamt wollte er mit der Germania einen Einblick in sein umfassendes kuriales Wissen gewähren und vermochte damit mutmaßlich zu überzeugen. Ob der Traktat dann wirklich mithalf, dass Enea am 19. August 1458 als Pius II. zum Papst gewählt wurde, lässt sich freilich nicht nachvollziehen. Der höchstwahrscheinlich vom Mainzer Erzbischof und seinem Kanzler ausgegangenen Initiative, das Wiener Konkordat von 1448 zu revidieren und das Verhältnis zwischen dem Papsttum und der deutschen Nation neu zu definieren, war am Ende kein Erfolg beschieden. Martin Mayr schied schon um die Jahreswende 1457/58 aus den Diensten Dietrichs von Erbach aus88. Dass die für den 11. November 1457 nach Nürnberg anberaumte Versammlung, auf der die Avisamenta ratifiziert werden sollten, überhaupt stattfand, ist zweifelhaft89. Im Juni und dann noch einmal im Oktober 1458 trafen kurfürstliche Vertreter wiederum in Frankfurt zusammen, um die Angelegenheit weiterzuverfolgen. Nun wurde überlegt, von dem neuen Papst Pius II. eine Pragmatische Sanktion zu verlangen oder aber ein allgemeines Konzil nach Deutschland einzuberufen90. Doch eine wirkliche Chance, derartige Vorhaben in die Wirklichkeit umzusetzen, war, wenn es sie je gegeben hatte, offensichtlich schon dahin.

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lings „Antworten und Einwendungen gegen Enea Silvio“, übersetzt und erläutert v. Adolf Schmidt, Köln/Graz 1962 (Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 104). Enea Silvio Piccolomini. Germania, ed. Maria Giovanna Fadiga, Florenz 2009 (Il ritorno dei classici nell’Umanesimo, IV/5). Germania Enee Siluij, Straßburg: Reinhard Beck 1515 (VD 16 P 3125). [Opera] Aeneae Sylvii Piccolominei Opera quae extant omnia, Basel 1551. Pitz, Ernst (Bearb.): Repertorium Germanicum VII. Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten Calixts III. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien 1455–1458, Tübingen 1989. Raynaldus, Odoricus (Hg.): Annales ecclesiastici, Bd. 18, Köln 1776. Wadding, Lucas (Hg.): Annales Minorum, Bd. 6, Lyon 1648.

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III. REICHSTAGE UND ORATORIK

Schätze im Verborgenen Neue Quellenfunde zur Frankfurter Reichsversammlung im Herbst 1454 Gabriele Annas

1 Einleitende Bemerkungen „Die Reichstagsakten“ – so Johannes Helmrath – „sind kein authentischer mittelalterlicher Quellentyp, sondern das Produkt gelehrter Komposition durch das gleichnamige Editionsunternehmen. Die Reichstagsakten publizieren diejenigen Schriftquellen, die im Reich bei Vorbereitung und Abhaltung von königlichen und kurfürstlichen Tagen sowie von Fürsten- und Städtetagen bzw. flankierend zu ihnen entstanden sind: Ladungsschreiben, Teilnehmer- und Quartierlisten, Briefe, Gesandtenberichte, Reden, protokollarische Aufzeichnungen, königliche Propositionen, (Gegen-)Vorschläge der Stände, Abschiede etc.“1. Aktensammlungen mit zentralen Schriftstücken zur Geschichte einzelner Reichsversammlungen wurden zwar bereits seit der Mitte des 15. Jahrhunderts vereinzelt angelegt – zunächst offenbar an fürstlichen Höfen, durch städtische Ratsherren und gelehrte Räte, später auch in kurfürstlichen Kanzleien2. Die betreffenden Initiativen waren jedoch weder offiziell-verbindlich ausgewiesen noch auf Vollständigkeit ausgerichtet, sondern orientierten sich je individuell an den politisch-rechtlichen (Sammel-)Interessen der jeweiligen Protagonisten. Der „zumindest in deutschen Fürstenkreisen einzigartige diplomatisch-archivalische Sammeleifer“3 eines Markgrafen Albrecht von Brandenburg († 1486) ist hier ebenso zu beobachten wie die Bestrebungen einer politischen Funktionselite, sich über den 1 2

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Helmrath: Reichstagsakten, Sp. 643. Siehe hierzu sowie zum Folgenden auch: Annas/Müller: Reichsgeschichte oder Reichstagsgeschichte, S. 28f. Siehe hierzu mit entsprechenden Beispielen RTA 19/2, S. 47–49, 620. Zu verweisen ist darüber hinaus auf die heute im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv aufbewahrte Aktensammlung des „Mainzer Erzkanzlerarchivs Reichstagsakten“, die – obwohl erst im ausgehenden 15. Jahrhundert angelegt – mit einzelnen Aktenstücken bis in die Zeit Kaiser Karls IV. (1366) zurückreicht. Mit weiterführenden Angaben zur Geschichte dieses Bestandes und Literaturhinweisen: http://www.archivinformationssystem. at/detail.aspx?ID=254 [letzter Zugriff: 28.10.2017]. RTA 19/2, S. 48.

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Besitz ‚privater‘ Aktendossiers als eigenständige Träger politischen Machtwissens zu positionieren4. Für die Reichsversammlungen des 14. und 15. Jahrhunderts kann die Edition der ‚Deutschen Reichstagsakten‘ denn auch nicht auf festgefügte und an zentralen Aufbewahrungsorten eingelagerte Quellenbestände zurückgreifen; diese müssen vielmehr durch langwierige und bisweilen mühsame Recherchen in zahlreichen Archiven und Bibliotheken jeweils neu konstituiert und konfiguriert werden. Reichstagsrelevante Bestände befinden sich im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (München) und im Landesarchiv des Saarlandes (Saarbrücken-Scheidt) ebenso wie im Fürstlich Fürstenbergischen Archiv in Donaueschingen und in der historischen Bibliothek des Johannes-Turmair-Gymnasiums in Straubing, in der Bibliothèque Nationale de France (Paris) und der Österreichischen Nationalbibliothek (Wien) ebenso wie im Archivio di Stato in Modena und den Archives départementales du Nord in Lille5. Und so eröffnen denn auch die je eigenen Überlieferungs- und Sammlungsgeschichten der komplexen europäischen Archiv- und Bibliothekslandschaften vielfältige Referenzpunkte. Dass in diesem Zusammenhang trotz sorgfältiger Quellenrecherchen und intensiver Vorbereitung entsprechender Archiv- und Bibliotheksreisen immer wieder überraschende Neufunde vor Ort gelingen, verweist auf eine editorische Grunderfahrung in der inzwischen mehr als 150-jährigen Geschichte der ‚Deutschen Reichstagsakten‘, die trotz einer zwischenzeitlich intensivierten (digitalen) Tiefenerschließung zahlreicher Archiv- und Bibliotheksbestände6 auch künftige Generationen begleiten wird. 4

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Siehe hierzu die Überlegungen von Annas: Fürstliche Diplomatie, S. 171f. (mit Beispielen für den Besitz diesbezüglicher Aktensammlungen durch die gelehrten Räte Gregor Heimburg [† 1472], Martin Mair [† 1480] und Heinrich Erlbach [† 1472]). Vgl. Isenmann: Integrations- und Konsolidierungsprobleme, S. 135; RTA 19/2, S. 48f. – Als besonders markantes Beispiel für ein entsprechendes ‚privates‘ Dossier eines gelehrten Rates jener Zeit sei auf eine heute im Budapester Nationalmuseum, Nationalbibliothek Széchényi (Országos Széchényi Könyvtár), als Cod. lat. 211 aufbewahrte Aktensammlung mit umfangreichem Material zur Türkenthematik sowie zu Reichsversammlungen des 15. Jahrhunderts verwiesen, die der Augsburger Stadtschreiber Heinrich Erlbach um 1471 angelegt hatte. Vgl. RTA 19/2, S. 123, 620. Zu dieser lateinisch-deutschen Sammelhandschrift selbst auch: RTA 19/1, S. XIV, 7, 14f.; http://www.handschriftencensus.de/13698 [letzter Zugriff: 28.10.2017]. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf die Verzeichnisse der benutzten Archiv- und Bibliotheksbestände in den Bänden RTA 19/1, 19/2 und 19/3 zu den Reichsversammlungen der Jahre 1454/55 in Regensburg, Frankfurt und Wiener Neustadt verwiesen: RTA 19/1, S. XI–XVI; RTA 19/2, S. 967–992; RTA 19/3, S. 815–831. – Mit dem expliziten Hinweis auf die Berücksichtigung der historischen Bibliothek des Johannes-Turmair-Gymnasiums die Rezension Martin Wagendorfers zu RTA 19/2 und 19/3, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 72 (2016), S. 251–253, hier S. 252. Neben dem Online-Portal Manuscripta Mediaevalia (www.manuscripta-mediaevalia.de) zur Handschriftenerschließung im deutschsprachigen Raum sei an dieser Stelle nur exemplarisch auf das länderübergreifende Kooperationsprojekt des Archivinformationssystems Arcinsys verwiesen, das viel-

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Nur drei Beispiele seien hier erwähnt: eine abschriftliche Überlieferung der ‚Regensburger Ordnung‘ von Anfang Juli 1454 in einer Colmarer Handschrift, die durch eine fehlerhafte Zuordnung und Datierung im entsprechenden Bibliothekskatalog zunächst nicht als solche identifiziert werden konnte7; ein Nürnberger Originalschreiben auf Pergament mit Hinweisen auf die reichsstädtische Distribution der Ladungen Kaiser Friedrichs III. zu den Frankfurter Beratungen im Herbst 1454, das als Einband des Nördlinger Missivbuchs von 1455 eine pragmatische Wiederverwendung finden sollte8; ein Originalschreiben einzelner Reichsfürsten auf dem kayserlichen tag zcu Nurmberg im Oktober/November 1480, das gemäß einem beigefügten älteren Archivvermerk zunächst auf das Jahr 1471 datiert worden war9. – Wer weiß schon um jene

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fältige Online-Recherchemöglichkeiten zu Archivbeständen in Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein eröffnet (vgl. https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/start; https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/start.action). Im Rahmen der Beschreibung der Handschrift ms. 45 der Bibliothèque de la Ville de Colmar hatte der Catalogue général, Bd. 56, S. 202, zu fol. 11v ein abschriftlich überliefertes Ladungsschreibens Kaiser Friedrichs III. zu den Frankfurter Beratungen im Herbst 1454 verzeichnet (fol. 11v–12r), die fol. 12r nachgestellte Angabe des Adressaten – hier des Basler Bischofs Arnold von Rotenhan – jedoch fälschlicherweise der ebenfalls in Abschrift beigefügten ‚Regensburger Ordnung‘ (fol. 12r–15v) zugewiesen. Diese aber wurde als „Instructions adressées à l’évêque Arnold de Bâle relatives à la guerre contre les Turcs“ bezeichnet und auf das Jahr 1453 datiert. Siehe hierzu auch die entsprechenden Angaben in RTA 19/2, Nr. 2,4 I, S. 119–123, hier S. 121. Vgl. RTA 19/2, Nr. 2,4 I, S. 119–123, hier S. 121 mit Anm. 5. Ebenfalls als Einband des genannten Nördlinger Missivbuchs wurde darüber hinaus ein zweiter, allerdings nur bruchstückhaft lesbarer Brief Nürnbergs an die Stadt Nördlingen vom 11. September 1454 verwendet, bei dem es sich offenkundig um die kürzere Fassung einer Ladung gleichen Datums zu einem fränkischen Städtetag handelt, der auf den 19. September 1454 nach Nürnberg anberaumt worden war. Vgl. RTA 19/2, Nr. 8,2a, S. 282–284, hier S. 282. Im Landesarchiv Saarbrücken(-Scheidt) wird im Bestand N-S II die ursprünglich aus dem Staatsarchiv (heute: Landeshauptarchiv) Koblenz stammende Akte 4607 aufbewahrt, die aus einem 16 Blätter umfassenden Heft mit Originalschreiben des 16. Jahrhunderts sowie zwei gesondert in einem Umschlag beigefügten Schreiben des 15. Jahrhunderts besteht (Akte 4607 [a] und 4607 [b]). Gemäß den Archivvermerken fol. 1r des erwähnten Hefts enthält die Akte 4607 (b) ein auf 1471 zu datierendes Ladungsschreiben des Kölner Erzbischofs Hermann von Hessen an einen Grafen von Nassau-Saarbrücken mit der Aufforderung, sich zu Beratungen „wegen des Türckenkriegs“ nach Nürnberg zu begeben. Tatsächlich jedoch handelt es sich hierbei um ein Schreiben einzelner Kurfürsten sowie geistlicher und weltlicher Fürsten, die sich persönlich nach Nürnberg zu den dortigen Beratungen im Oktober/ November 1480 begeben hatten und sich nun unter dem Datum des 20. November 1480 an den Grafen von Nassau-Saarbrücken mit der Aufforderung wandten, Truppen für einen geplanten Feldzug gegen die Türken bereitzustellen und eine von den kaiserlichen Gesandten erneut in die Pegnitzstadt anberaumte Reichsversammlung zu besuchen. Zunächst auf den 18. März 1481 anberaumt und dann auf den 3. Juni 1481 verlegt, sollte diese schließlich im Juli/August 1481 in Nürnberg stattfinden. Die Akte 4607 (a) besteht im Übrigen – auch dies ein bemerkenswerter Quellenfund – aus einem im Vorfeld der Wiener Neustädter Beratungen (Frühjahr 1455) ausgefertigten Originalschreiben Kaiser Friedrichs III. an Graf Johann II. von Nassau-Saarbrücken († 1472), das auf der Grundlage des im Herbst 1454 vereinbarten Frankfurter Anschlags die Höhe der von den einzelnen Reichsständen zu stellenden

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verborgenen Schätze, die sich hinter manchen kurz gehaltenen Einträgen in älteren Findbüchern und Bibliothekskatalogen verstecken, ohne die betreffenden Archiv- und Bibliotheksbestände tatsächlich eingesehen zu haben? Und so kann denn auch die Suche nach bislang unbekannten Quellen in Archiven und Bibliotheken der editorischen Tätigkeit jene reizvolle intellektuelle Spannung verleihen, die in weit größerem Maße bereits die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts bei ihrer Jagd nach Handschriften antiker Autoren begleitet hatte. Als ein Beispiel für diese Schätze im Verborgenen seien im Folgenden neue Quellenfunde aus dem Historischen Archiv der Stadt Wetzlar vorgestellt, die im Rahmen aktueller Quellenrecherchen zu Band 20 der ‚Deutschen Reichstagsakten‘ im Frühjahr 2017 entdeckt wurden und die noch einmal bemerkenswerte Schlaglichter auf die im Herbst 1454 zu Frankfurt am Main geführten reichspolitischen Verhandlungen werfen10. Die editorische Präsentation der insgesamt drei bislang unbekannten Schriftstücke – mit Kopfregest, Text, Varianten- und Sachapparat – verbindet sich dabei nicht nur mit Überlegungen zur zeitlichen Einordnung und historischen Kontextualisierung, sondern zugleich mit Bemühungen um eine inhaltliche und typologische Verortung im Rahmen des zum Frankfurter Reichstagsgeschehen bereits vorgelegten Quellencorpus. In diesem Zusammenhang konzentrieren sich die hier vorgestellten Betrachtungen auf den in Anhang I dokumentierten Brief eines unbekannten Verfassers aus der ersten Hälfte des Oktober 1454, dem mit Blick auf die Wetzlarer Quellenfund-Trias und das Frankfurter Reichstagsgeschehen die weitaus größere historiographische Bedeutung zugesprochen werden kann. Nur erwähnt seien demgegenüber die beiden verbleibenden Quellendokumente, die in Anhang II und III entsprechend präsentiert werden: ein kurzer Brief Graf Philipps II. von Nassau-Saarbrücken an Bürgermeister und Rat der Stadt Wetzlar vom 18. Oktober 145411 sowie ein textlich bereits bekanntes Schreiben der Stadt Frankfurt mit der Gewährung von Geleit zum dortigen Reichsstädtetag im Dezember 145412. Truppenkontingente benennen sollte. Bislang war dieses Schreiben nur durch eine aus dem 17. Jahrhundert stammende sekundäre Überlieferung im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden – in Gestalt von drei Regesteneinträgen – bekannt gewesen (vgl. RTA 19/3, Nr. 4, S. 70–77, hier S. 74). 10 Für die vielfältige und engagierte Unterstützung bei den Recherchen im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar möchte ich der dortigen Archivleiterin Frau Dr. Irene Jung sehr herzlich danken, ohne die eine Publikation der hier vorgestellten Quellenzeugnisse in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. 11 Schreiben Graf Philipps II. von Nassau-Saarbrücken an Bürgermeister und Rat der Stadt Wetzlar, o. O. 1454 Oktober 18, Original (Papier), mit einem – heute fehlenden – aufgedrückten Verschlusssiegel und Adresse auf der Rückseite: Wetzlar, Historisches Archiv der Stadt, Urkunden sub dato 1454 Oktober 18 (Anhang II). 12 Schreiben der Stadt Frankfurt mit Gewährung von Geleit zum dortigen Reichsstädtetag im Dezember 1454. o. O. [Frankfurt] o. D. [1454 Ende Oktober bis Anfang Dezember]: Wetzlar, Historisches Archiv der Stadt, Urkunden Kasten Undatierte Stücke VII fol. 1r (Anhang III). Vgl. RTA 19/2, Nr. 27,2c, S. 832f., hier S. 833 [2].

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2 Frankfurt, im Herbst 1454: ein unbekannter Bericht Neben zahlreichen anderen undatierten Schriftstücken wird im Bestand „Urkunden Kasten Undatierte Stücke V“ des Historischen Archivs der Stadt Wetzlar auch das Bruchstück eines Briefwechsels zwischen zwei bislang nicht identifizierten Korrespondenzpartnern aufbewahrt, (Anhang I), das zu einem unbekannten Zeitpunkt und aus nicht näher zu bestimmenden Gründen dorthin gelangt war. Bei dem zweiseitig beschriebenen und ursprünglich mehrfach gefalteten Papierblatt handelt es sich um die zeitgenössische Abschrift eines zuvor nicht bekannten Schreibens aus dem unmittelbaren zeitlichen Umfeld der im Oktober 1454 abgehaltenen Frankfurter Reichsversammlung, das als Ego-Dokument ebenso wie als Medium des kommunikativen Austauschs persönliche lebensweltliche Erfahrungen mit Nachrichten über regionale und überregionale Ereignisse übergangslos verknüpfen sollte13. Da die betreffende kopiale Überlieferung weder den ursprünglichen Verfasser noch den Adressaten benennt (und auch auf die Wiedergabe der Datierung verzichtet), müssen sich die nachfolgenden Überlegungen notwendig allein auf textimmanente Hinweise stützen – ein interpretatorischer Unschärfefaktor, den es entsprechend zu berücksichtigen gilt. Im vorliegenden Bericht antwortet der unbekannte Schreiber auf einen zuvor eingegangenen Brief des als lieber meister und besunder gude frunt angesprochenen Korrespondenzpartners, der sich am 26. September 1454 (uff donerstag vor sant Michels dag) in der Stadt Frankfurt aufgehalten und den Absender dort vergeblich an drijen end gesucht hatte. Dieser – möglicherweise in der Mainmetropole wohnhaft und verheiratet – habe sich nach Hinweisen eines mehrfach als myn herr angesprochenen höhergestellten Herrn14 nun ebenfalls auf die Suche nach dem Adressaten zunächst in der Stadt und dann vor der parten15 gemacht, um eine abendliche Einladung zum gemeinsamen Essen auszusprechen (selde uch gelad han, das ir die nacht mitges13 Exemplarisch zu Briefen als Medium der Informationsvermittlung: Maurer: Briefe, insbes. S. 349f.; Schmid: Briefe. – Für das spätere Mittelalter: Rachoinig: Wir tun kund, insbes. S. 95–123; Petersohn: Diplomatische Berichte; Heimann: Kommunikationspraxis; Herold: Empfangsorientierung. 14 Im Rahmen der rechtlich und sozial stratifizierten Gesellschaft des späten Mittelalters verweist die in zahlreichen zeitgenössischen Aufzeichnungen auftretende Formulierung myn/min herr(e) zunächst nur auf eine entsprechende hierarchische Zuordnung zweier Personen, die nicht zwingend auch durch ein mögliches Dienstverhältnis – sei es zu einem adligen Herrn, sei es im städtischen Kontext – begründet wurde. So wird die betreffende Formulierung – nun allerdings in der Pluralform myn herren – erneut im Zusammenhang mit den in abs. [4] geschilderten Vorgängen auf dem Straßburger Territorium aufgenommen. 15 Gemeint sind hier offenbar die Tore der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erfolgten zweiten Stadterweiterung, die auf der Grundlage eines vom 17. Juli 1333 datierten Diploms Kaiser Ludwigs des Bayern erfolgt war. Zu den einzelnen Tor- und Turmanlagen: Wolff/Jung: Baudenkmäler, S. 6–58. Hierzu auch allgemein: Schwind: Frankfurt.

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sen hettent; abs. [1]). Jedoch ohne Erfolg – trotz der detailreich geschilderten eigenen Bemühungen. Nach diesen persönlich gehaltenen und gegenüber dem Korrespondenzpartner exkulpatorisch gestimmten Bemerkungen des Verfassers widmen sich die nachfolgenden Ausführungen übergangs- und einleitungslos den in der Stadt Frankfurt geplanten reichspolitischen Beratungen, die vor allem der weiteren Vorbereitung eines projektierten Feldzugs gegen die Türken nach dem Fall Konstantinopels (Mai 1453) dienen sollten. Bereits im Rahmen der im April/Mai 1454 abgehaltenen Regensburger Reichsversammlung war die Vereinbarung getroffen worden, zur endgültigen Beschlussfassung einen ander[en] gemaine[n] tag nach Frankfurt oder – im Falle einer persönlichen Anwesenheit des Reichsoberhauptes – Nürnberg auf den 8. bzw. 29. September 1454 anzuberaumen16. Unter dem Datum des 10. Juli 1454 wandte sich schließlich Kaiser Friedrich III. an einzelne Reichsstände mit der Aufforderung, sich auf sannd Michels tag schiristkunfftig (1454 September 29) nach Frankfurt zu begeben und daselbs [...], was zu auffenthaltung und merung der heiligen Cristenheit, zu lobe gott dem allmechtigen und unserm Kristenlichen glauben zu eren furer wider die veinde dez kreutz Cristi furzenemen notdurfft sey, helffen ze raten und zu besliessen17. Obgleich Kaiser Friedrich III. erneut – ebenso wie bereits im Zusammenhang mit den Regensburger Beratungen im Frühjahr 1454 – auf einen persönlichen Besuch der Frankfurter Reichsversammlung verzichtet hatte18, waren in den letzten Septemberund ersten Oktobertagen verschiedene fürstliche Vertreter und städtische Gesandtschaften in der Reichsstadt am Main eingetroffen. Während jedoch die drei bislang bekannt gewordenen Teilnehmerverzeichnisse offenkundig erst nach dem 20. Oktober

16 Gemäß den Angaben der kaiserlichen Proposition zur Vorbereitung und Weiterberatung eines geplanten Feldzugs gegen die Türken: RTA 19/1, Nr. 38 II, S. 314–319, hier S. 317f., abs. [14] und abs. [15] (Zitat: S. 317) (deutsche Fassung); Nr. 38 I, S. 309–314, hier S. 313, abs. [14] und [15] (lateinische Fassung); Nr. 38 III, S. 319–323, hier S. 322, abs. [14] und [15] (französische Fassung). Ebenfalls mit dem Hinweis auf Nürnberg als Versammlungsort im Falle eines persönlichen Besuchs der Beratungen durch Kaiser Friedrich III.: RTA 19/1, Nr. 35,3, S. 277–279, hier S. 279, abs. [15] (Scedula der kaiserlichen Gesandten, 1454 Mai 18). Siehe hierzu auch: RTA 19/2, S. 42–44, 109–113. 17 RTA 19/2, Nr. 2,4 I, S. 122f. (Schreiben Kaiser Friedrichs III. an verschiedene Reichsstände einzeln, 1454 Juli 10). 18 Bereits im Verlaufe des August 1454 hatte Enea Silvio Piccolomini verschiedentlich gegenüber einzelnen Korrespondenzpartnern die Möglichkeit einer Vertretung Kaiser Friedrichs III. bei den Frankfurter Verhandlungen durch eine entsprechende Gesandtschaft angedeutet (vgl. RTA 19/2, Nr. 3,6, S. 141– 146, hier S. 143, abs. [4a] [an Kardinal Juan de Carvajal, 1454 August 21]; Nr. 3,8, S. 149–151, hier S. 150, abs. [5] [an Heinrich Senftleben, 1454 August 21]). Am 26. August 1454 schließlich bemerkte der kaiserliche Rat gegenüber dem Franziskanerprediger Johannes Capistran: nam cesar, quamvis non ibit illuc urgentibus ex causis, tamen mittet legatos ac presidentes cum plenissimo mandato, nec ex latere suo quidquam deerit (ebd., Nr. 3,9, S. 151f., hier S. 152, abs. [2]).

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1454 angelegt worden waren19, dokumentieren die Wetzlarer Aufzeichnungen die personelle Situation in der ersten Oktober-Hälfte 1454 – im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld der Frankfurter Verhandlungen, die am 15. Oktober 1454 mit der berühmten Türkenrede Constantinopolitana clades des Enea Silvio Piccolomini eröffnet wurden20. Hierarchisch geordnet – und mithin nicht im Sinne einer chronologisch ausgerichteten Ankunftsliste angelegt21 – verzeichnet der unbekannte Schreiber zunächst in einer kunstlosen anaphorischen Reihung jene Besucher, die iczunt zu Franckenfurt zu dem dage von herren sin (abs. [2]): von den Gesandtschaften Kaiser Friedrichs III. und König Ladislaus’ von Böhmen-Ungarn über den persönlich anwesenden Trierer Erzbischof Jakob von Sierck (cum propria persona; abs. [2c]) bis zu den reden Herzog Philipps des Guten von Burgund und der Kurfürsten von Mainz, Köln, der Pfalz und Brandenburg, vom Deutschmeister Jost von Venningen über die Botschaften Herzog Ludwigs IX. von Bayern-Landshut und des Salzburger Erzbischofs Sigismund von Volkersdorf bis zu den Gesandtschaften italienischer Fürsten aus Ferrara (Borso d’Este) und Mantua (Ludovico III. Gonzaga). Der nachfolgende Hinweis auf unsers gned herren des lantgraven von Hessen rete (abs. [2n]) bestätigt darüber hinaus die entsprechenden Angaben in einer nach dem 20. Oktober 1454 aus den Akten der kaiserlichen Gesandtschaft angefertigten Liste, die den bislang einzigen quellenmäßigen Beleg für die Frankfurter Anwesenheit einer landgräflichen Botschaft bereitgestellt hatte22. 19 Vgl. RTA 19/2, Nr. 4,1, S. 162–166 (Liste – aus den Akten der kaiserlichen Gesandtschaft angefertigt, 1454 Oktober nach 20); Nr. 4,2, S. 166–170 (Liste – aus den Akten der Gesandtschaft König Ladislaus’ von Böhmen-Ungarn, 1454 Oktober 26/27); Nr. 4,3, S. 171–174 (Liste – möglicherweise als Anhang zum Bericht des Konrad Rottenauer, vielleicht auch Teil des Frankfurter Abschieds, 1454 um Oktober 27). Zur personellen Zusammensetzung der Frankfurter Reichsversammlung siehe auch die entsprechenden Ausführungen ebd., S. 153–162 (mit den Tabellen 1 und 2); Annas: Hoftag – Gemeiner Tag – Reichstag, Bd. 2, S. 407–410. 20 Zur Eröffnung der Frankfurter Beratungen am 15. Oktober 1454 siehe die lakonisch-knappen Bemerkungen des Regensburger Gesandten Jörg Gaisler in einem vom 16. Oktober 1454 datierten Schreiben an den Kämmerer Konrad Grafenreuter und die Stadt Regensburg: Bißher ist nichtz beschehen, dann als gestern (1454 Oktober 15) sein wir von erst zueinander komen auf dem rathaws, daselbs sein unsers herren des kaisers rat gehort worden, und ist sunst nichtz beschehen (RTA 19/2, Nr. 14,1 b, S. 419f., hier S. 420, abs. [5]). Zur Piccolomini-Rede (Text mit Kommentar) als einem Kernstück der Reichstagsaktenedition: ebd., Nr. 16, S. 463–564. 21 Mit Beispielen für entsprechende Ankunftslisten, die im Kontext der Regensburger Reichsversammlung im Frühjahr 1454 angelegt worden waren: RTA 19/1, Nr. 23,1, S. 211f. (Liste der kaiserlichen Kanzlei, als ‚Ankunftsliste‘ entstanden, 1454 April Ende bis Mai 20); Nr. 23,2a, S. 212 (Ankunftsliste der Stadt Regensburg, 1454 April Ende bis Mai 20). 22 Das wohl auf der Grundlage einer Sitzordnung Ende Oktober 1454 angefertigte Teilnehmerverzeichnis der böhmisch-ungarischen Vertretung hingegen vermerkt in diesem Zusammenhang eine Gesandtschaft des illustris principis domini ducis de Brawnczweig, der hier wahrscheinlich mit Herzog Friedrich II. von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel (1445–1459) zu identifizieren ist. Vgl. RTA 19/2, Nr. 4,2, S. 166–170, hier S. 169, abs. [16].

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Gemäß einem neuzeitlichen archivalischen Vermerk (fol. 1r) war bereits eine erste zeitliche Einordnung des Schriftstücks in die Jahre 1440 bis 1457 vorgenommen worden, die offenkundig in Anlehnung an die im Text genannte Gesandtschaft König Ladislaus’ von Böhmen-Ungarn und mit Blick auf die Zeit der Herrschaft des nachgeborenen Sohnes König Albrechts II. (1438/39) erfolgt war. Von entscheidender Bedeutung für eine genauere Datierung dieses Briefberichts ist jedoch die im weiteren Verlauf erwähnte Ankunft des päpstlichen Legaten Giovanni di Castiglione († 1460) in der Reichsstadt am Main, die am gegenwärtigen Sonntag erfolgen sollte: item uff hude sondag sal komen eyn bischoff von Pavey von des babstis wegen (abs. [2o]). Nachweislich aber – nach den übereinstimmenden Angaben des Enea Silvio Piccolomini, des bayerischen Gesandten Konrad Rottenauer sowie des Regensburger Vertreters Jörg Gaisler – war der Bischof von Pavia gleichzeitig mit Markgraf Albrecht von Brandenburg am Sonntag, dem 13. Oktober 1454, in Frankfurt eingetroffen23. Werden diese beiden textimmanenten Hinweise – der Wochentag und die Ankunft des päpstlichen Legaten – nun zusammengeführt, so ergibt sich eine präzisierte Datierung des vorliegenden Schreibens auf den 13. Oktober 1454. Ergänzt werden diese zeitlichen Koordinaten durch die nachfolgenden Bemerkungen (abs. [2p]) über vorbereitende Gespräche der bereits in Frankfurt eingetroffenen Gesandtschaften der Städte Augsburg, Speyer, Aachen, Köln24 und Metz, die uff dinstag nach Francisci nehstvergangen stattgefunden hatten: 1454 jedoch sollte dieser Tag – der Dienstag nach dem Festtag des Hl. Franz von Assisi am 4. Oktober – auf den 8. Oktober fallen25. An diesem Tag seien die genannten kommunalen Vertreter bij(?) eyn zu rade gewest und sin mit eyn uberkomen, das sie keyn sachen wollen(?) anefahen, iß sin dan mee fursten zu Franckenfurt. Dass neben dem zentralen Thema der sogenannten Türkenreichstage der Jahre 1454/55 – den Vorbereitungen für einen geplan23 Mit entsprechenden Hinweisen auf den Zeitpunkt der Ankunft des päpstlichen Legaten Giovanni di Castiglione: RTA 19/2, Nr. 13,1, S. 389–392, hier S. 390, abs. [1a] (Schreiben des Enea Silvio Piccolomini an Kardinal Juan de Carvajal, 1454 Oktober 16: dominus Papiensis et marchio Brandeburgensis [Markgraf Albrecht von Brandenburg] eadem hora die dominica preterita intrarunt); Nr. 14,1, S. 417– 420, hier S. 419, abs. [2] (Schreiben des Jörg Gaisler an den Kämmerer Konrad Grafenreuter und die Stadt Regensburg, 1454 Oktober 16); Nr. 11, S. 353–372, hier S. 363, abs. [3] (Bericht des Konrad Rottenauer, 1454 Oktober 27). Siehe hierzu auch: Nowak: Kardinal, insbes. S. 178. 24 Mit Blick auf die Frankfurter Anwesenheit einer Botschaft der Stadt Köln ist allerdings auf das vom 16. Oktober datierte Schreiben des Jörg Gaisler hinzuweisen, der die Ankunft einer Kölner Gesandtschaft erst für den 15. Oktober 1454 verzeichnet hatte: Item auf gerstern (1454 Oktober 15) seind die von Kln kstlich komen (RTA 19/2, Nr. 14,1, S. 417-420, hier S. 420, abs. [4]). Sollte es sich hierbei um einen Fehler im Wetzlarer Schreiben oder bei Jörg Gaisler handeln, oder waren zwischenzeitlich vielleicht weitere Boten der Stadt Köln in Frankfurt eingetroffen – seien es Everhard vanme Hirtze und Goddart von dem Wasserfass oder der zuvor am kaiserlichen Hof wirkende Johann Vrunt? Vgl. ebd., S. 303. 25 Grotefend: Zeitrechnung, Tafel 31 (Die 35 Kalender), S. 205.

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ten Feldzug gegen die Türken (von des Dorcken wegen) – Luczelnburg als ein weiterer Gegenstand der städtischen Beratungen genannt wird, mag zunächst überraschen. Denn die bereits älteren besitzrechtlichen Auseinandersetzungen um das Herzogtum Luxemburg und die Grafschaft Chiny zwischen Herzog Philipp dem Guten von Burgund als Pfandherrn und König Ladislaus von Böhmen-Ungarn als Erben der betreffenden Territorien gehörten zu den reichspolitisch zentralen Fürstenkonflikten jener Jahre26 – ohne eine unmittelbare reichsstädtische Beteiligung. Vielleicht hat jedoch nicht zuletzt die räumliche Nähe zu den luxemburgischen Besitzungen und dem mächtigen Nachbarn Burgund im Westen des Reichs den sorgenvollen Blick vor allem der genannten Städte Aachen, Köln und Metz auf die dortigen Vorgänge gerichtet. Nach den Angaben des bayerischen Gesandten Konrad Rottenauer hatten zur gleichen Zeit – am 8./9. Oktober 1454 – in des bischofs von Trier herberg und wohl im kleineren Kreis erste Beratungen der kaiserlichen Gesandten mit (kur-)fürstlichen Vertretern stattgefunden: Im Rahmen dieser Zusammenkunft habe zunächst Enea Silvio Piccolomini in lateinischer Sprache und danach der Gurker Bischof Ulrich Sonnenberger in deutscher Sprache Kaiser Friedrich III. in seinem ausbeleiben zu dem tag entschuldigt wegen des dispotz [der Despot von Serbien Georg Branković] flucht und vor ettlichen umbsässen feintschafft27. Im Anschluss daran sei durch den Deutschmeister Jost von Venningen offenlich verlesen margraff Fridrichs von Brandenburg santbrief28, der wohl im Zusammenhang mit den rechtlichen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Orden und Polen stand. Dass auch die in Frankfurt versammelten städtischen Gesandten in diesen Tagen sondierende Vorgespräche geführt hatten, war bislang noch nicht bekannt gewesen. Mit den nachfolgenden Ausführungen zur Frankfurter Predigttätigkeit des charismatischen Franziskaners Johannes Capistran29 († 1456) widmet sich der unbekannte 26 Mit zusammenfassenden Ausführungen zu den politischen Hintergründen und den burgundisch-böhmischen Verhandlungen in der zweiten Hälfte des Jahres 1454: RTA 19/2, S. 757–769. Zu den Auseinandersetzungen um das Herzogtum Luxemburg allgemein (in Auswahl): Vaughan: Philip the Good, S. 274–285; Lacaze: Philippe le Bon, S. 168–180; Miller: Jakob von Sierck, S. 80–113, 236–252. – In der am 23. April 1455 in Wiener Neustadt gehaltenen Rede Optasset hatte Enea Silvio Piccolomini exemplarisch die zu dieser Zeit – in den Jahren 1454/55 – schwelenden politisch-militärischen Konflikte im Reich genannt: RTA 19/3, Nr. 38a, S. 581–590, hier S. 586–588, abs. [4a], [α], [β] und [γ]. 27 RTA 19/2, Nr. 11, S. 353–372, hier S. 360, abs. [1] (Bericht des Konrad Rottenauer, 1454 Oktober 27). In den bislang bekannten Quellen zur Frankfurter Reichsversammlung im Herbst 1454 konnten noch keine weiteren Hinweise auf die hier erwähnten vorbereitenden Beratungen gefunden werden. 28 RTA 19/2, Nr. 11, S. 360, abs. [1a]. 29 Zum Leben und Wirken Johannes Capistrans siehe die immer noch grundlegende zweibändige Biographie Johannes Hofers: Johannes Kapistran 1–2. Siehe hierzu auch: Angiolini: Giovanni da Capestrano; Giovanni da Capestrano, in: Aurini, Raffaele: Dizionario bibliografico della Gente d’Abruzzo.

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Schreiber schließlich einer – wie Johannes Helmrath zutreffend bemerkte – „wichtigen Randfigur“30 des dortigen Reichstagsgeschehens (abs. [3]), die in der zeitgenössischen Korrespondenz ebenso wie in chronikalischen Aufzeichnungen auf ein bemerkenswertes, wohl wesentlich religiös grundiertes Interesse gestoßen war. Ende September 1454 – rechtzeitig zum ursprünglich geplanten Eröffnungstermin der Frankfurter Reichsversammlung am 29. September 1454 – war Johannes Capistran in Begleitung franziskanischer Mitbrüder in der Reichsstadt am Main eingetroffen31. Die in der Wetzlarer Quelle in diesem Zusammenhang genannte Zahl 12 (xij personen) mit ihrer vielschichtigen Symbolik kann dabei sowohl auf die bewusste (Selbst-)Inszenierung des quellenmäßig wiederholt als heilige[r] man bzw. – wie hier – als heilger f(r)ater bezeichneten Kreuzzugs- und Bußpredigers32 verweisen als auch die zeitgenössische Perzeption seines massenwirksamen öffentlichen Auftretens dokumentieren. Dass Johannes Capistran die bisweilen mehrstündigen Predigten in lateinischer Sprache halten sollte und diese von einem Mitbruder danach gekürzt ins Deutsche übertragen wurden (und man dut zwo prediget, eyn zu Latyn und die ander zu Dutsche), war bislang ebenso bekannt gewesen wie die angeführten Heiltumsweisungen und Krankenheilungen33. So berichtet beispielsweise die zeitnah entstandene ‚Speierische Chronik‘ im unmittelbaren Anschluss an eine Schilderung des Frankfurter Reichstagsgeschehens ausführlich über ein[en] helge[n] man, ein[en] barfußer, der hieß Capistranus, der brediget da und det grosse zeichen, er macht lamen gerat und blenden gesehen. [...] und wan er brediget, so brediget er in lattin zwo oder dry stunden, und het ein dolmetschen, der schreibe ez an und sat ez dan in Dutschen. [...] er zaget vil heiltummeß von sant Bernhardin [des Hl. Bernhardin von Siena], sin hubel, da er in starp, und sust vil anders34. Durch den Wetzlarer Quellenfund können diese Angaben nun jedoch nochmals mit

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Nuova Edizione Ampliata 3 (2002), S. 390–432 (mit einer bis 1971 geführten ausführlichen Bibliographie). – Zu seiner Missionsreise, die ihn in jenen Jahren quer durch Mitteleuropa führen sollte: Elm: Kapistrans Predigtreise. RTA 19/2, S. 426. Mit entsprechenden Angaben zum Itinerar des Johannes Capistran sowie zur Anreise nach Frankfurt: RTA 19/2, S. 429, 431f. Siehe hierzu auch: Hofer: Johannes Kapistran, Bd. 1, S. 526f., sowie ebd., Bd. 2, S. 303–307. So beispielsweise im Augsburger Baumeisterbuch zum Jahr 1454 unter der Rubrik Legaciones (RTA 19/2, Nr. 15,1b, S. 432) sowie im Bürgermeisterbuch der Stadt Frankfurt zum Oktober 1454 (ebd., Nr. 15,2a, S. 433f., hier abs. [2]–[4] und [6]). In diesem Sinne auch die Bemerkung im Liber Gestorum des Bernhard Rohrbach: Anno domini 1454 in crastino sanctorum Simonis et Jude (1454 Oktober 29) recessit a Frankfordia venerabilis et devotus dominus et pater Joannes de Capistrano wulgariter heilick man oder geistlich vater (ebd., Nr. 15,2c, S. 436, abs. [1]). Mit dem Hinweis auf entsprechende Krankenheilungen auch der Liber Gestorum des Bernhard Rohrbach: RTA 19/2, Nr. 15,2c, S. 436, abs. [2]. Vgl. ebd., S. 460. RTA 19/2, Nr. 15,2b, S. 434–436, hier S. 434f.

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Blick auf die spezifische Dramaturgie der öffentlichen Capistran-Auftritte präzisiert werden. Denn nach den Ausführungen des unbekannten Schreibers versammelten sich die blind, lamen und krangke[n] lude nach den Predigten des berühmten Franziskaners, die nachweislich sonntags auf dem Samstagsberg – gegenüber dem städtischen Rathaus (Römer) – und an Wochentagen auf dem Friedhof der Bartholomäuskirche stattfanden35, im Kreuzgang des nahegelegenen Barfüßerklosters (an der Stelle der heutigen Paulskirche): da kussen die lude sant Bernhardinus heltem – in der offenkundigen Hoffnung auf eine baldige Heilung. Und tatsächlich habe Johannes Capistran etliche lude, die etliche jare lame und blint gewest sin, gerade und gesehen gemacht (abs. [3]). Eingeleitet von einem vergleichsweise abrupten thematischen und örtlichen Szenenwechsel konzentrieren sich die Schilderungen des unbekannten Verfassers im Folgenden auf aktuelle Vorfälle von zunächst regionaler Bedeutung im Straßburger Gebiet: Offenkundig waren kurz zuvor in Frankfurt Warnungen vor den militärischen Bedrohungen durch eyn grosse samenunge ruter eingetroffen, die ein unbekannter Herr – wohl der im Wetzlarer Schreiben wiederholt erwähnte myn herre – ausgesprochen hatte und die sich gerüchteweise gegen die Stadt Straßburg richten sollten. Als indes der von myn herren – möglicherweise den Frankfurter Ratsherren – entsandte Eilbote in der elsässischen Reichsstadt eintraf, da waren die ruter an eyn ander ende gezogen und branten doch uff den bischoff von Straßburg etliche dorffere (abs. [4]). Bestätigt und zugleich präzisiert werden die hier geschilderten Ereignisse – die Sammlung größerer Truppenverbände und das Niederbrennen von Dörfern im Straßburger Umland – durch einen vom 16. Oktober 1454 datierten Brief des Friedrich zum Rust und des Straßburger Rates an die Stadt Nürnberg: Der Marschall von Burgund (seit 1444 Thiébaut IX. de Neufchâtel; † 1469)36 sei mit 2000 Pferden, Walhen und Andern ins Elsässische gezogen, habe dort im Stift Straßburg zwei Tage lang Dörfer gebrandschatzt und sei schließlich in Richtung Mömpelgard heimgekehrt37. Erneut aber sollte 35 Gemäß den Angaben des Liber Gestorum des Bernhard Rohrbach: [...] predicabat cottidie diebus feriatis in cimiterio ecclesie sancti Bartolomei et diebus festivis wulgariter uf dem Samstagsberge (RTA 19/2, Nr. 15,2c, S. 436, abs. [2]). 36 Mit ausführlichen bio-bibliographischen Angaben zu Thiébaut IX., seigneur de Neufchâtel, d’Épinal et de Châtel-sur-Moselle: de Smedt: Chevaliers, Nr. 59, S. 1414–1416. 37 Nürnberg, Stadtarchiv, A 1 Urkundenreihe – Nr. 1454-10-16 (Original, das aufgedrückte Siegel fehlt). Ergänzend hierzu auch ein ebenfalls im Nürnberger Stadtarchiv aufbewahrtes und vom 19. Oktober 1454 datiertes Schreiben des Hans von Flachslanden und des Basler Rates an die Stadt Nürnberg mit entsprechenden Berichten über das militärische Vorgehen des Marschalls von Burgund: ebd., A 1 Urkundenreihe – Nr. 1454-10-19 (Original, das aufgedrückte Siegel fehlt). – Bislang konnten in der einschlägigen Literatur zur Geschichte Straßburgs und des Elsass hingegen keine näheren Hinweise auf die erwähnten Vorgänge im Straßburger Gebiet gefunden werden. Siehe hierzu exemplarisch: Reuss: Histoire de Strasbourg, S. 93–107; Livet/Rapp: Histoire de Strasbourg, S. 87–164; Reuss: Histoire d’Alsace, S. 47–57; Sittler: Décapole alsacienne, S. 21–42.

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sich der nicht näher genannte Verfasser des Wetzlarer Schreibens als gut informiert erweisen – auch über das Frankfurter Tagungsgeschehen hinaus: hernachmals wil ich uch me schr von der und andere sachen wegen. dan ich was in meynunge, uch doch diß zu schrijben, hette ich eyn boden gehabt. Die brieflichen Ausführungen enden schließlich mit einem offenkundig aktualisierenden Nachtrag über die sonntägliche Predigttätigkeit (uff hude sondag) des Koblenzer Dominikaners und Erzbischofs von Drontheim Dr. theol. Heinrich Kalteisen († 1465), der sich als Vertreter König Christians I. von Dänemark im Herbst 1454 in die Reichsstadt am Main begeben hatte (abs. [5]). Die im Rahmen der dortigen Verhandlungen am 17. Oktober 1454 oder kurz danach gehaltene Rede des dänischen Gesandten ist im Wortlaut nicht überliefert. Nach den Angaben des Konrad Rottenauer habe sich des kunigs von Dennmarckt potschaft mit ainem gelaubbrief erpot[en], die angekündigte Unterstützung für den geplanten Feldzug gegen die Türken jedoch mit entsprechenden Bedingungen verknüpft: doch begert er im frid helffen zu thun und zu sünen mit seinem widersacher dem kunig von Sweden [Karl Knutsson, als Karl VIII. König von Schweden; † 1470] und Hennstat [Hansestädte]38. Dass der Dominikaner Heinrich Kalteisen darüber hinaus in Frankfurt eine oratorische Doppelfunktion – als Gesandter und als Prediger – übernehmen und bereits am 13. Oktober 1454 eine wohl öffentliche Predigt halten sollte, war demgegenüber bislang nicht bekannt gewesen. Gleich aus mehreren Gründen aber ist diese zunächst unscheinbare Nachricht bemerkenswert: zum einen angesichts der in jenen Tagen zeitgleich zu beobachtenden Predigttätigkeit des Franziskaners Johannes Capistran, die sowohl eine spannungsreiche Konkurrenzsituation zwischen den Vertretern der beiden Bettelorden konstituieren konnte als auch ein erfolgreiches Zusammenwirken bei der Kreuzzugs- und Bußpredigt nicht ausschließen sollte; zum anderen mit Blick auf den Umstand, dass eine umfangreichere Predigttätigkeit Heinrich Kalteisens im deutschen Reich erst für das Jahr 1456 dokumentiert ist39.

38 Nach den Angaben eines am 27. Oktober 1454 abgeschlossenen Berichts des Konrad Rottenauer: RTA 19/2, Nr. 11, S. 353–372, hier S. 364f., abs. [5d]. – Zu weiterführenden Literaturhinweisen zur Person des Heinrich Kalteisen siehe die näheren Angaben in Anm. 74. 39 So wurde Heinrich Kalteisen im September 1455 von Papst Calixt III. (1455–1458) mit der Kreuzpredigt im deutschen Reich beauftragt, die sich tatsächlich jedoch auf den süddeutschen Raum sowie die Rheinlande beschränken sollte. Zu Heinrich Kalteisen und seiner Tätigkeit als Kreuzzugsprediger: Wiegand: Marinus de Fregeno, S. 35; Paulus: Geschichte des Ablasses, S. 35–38; Untergehrer: Die päpstlichen nuntii und legati, S. 216f., 627f. (Online-Ausgabe: https://edoc.ub.uni-muenchen. de/15862/1/Untergehrer_Wolfgang.pdf [letzter Zugriff: 31.10.2017]).

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3 Frankfurt, im Herbst 2017: ein Kommentar Bereits in den einleitenden Ausführungen zu Band 19/2 der ‚Deutschen Reichstagsakten‘ hatte Johannes Helmrath auf den bemerkenswerten Umstand hingewiesen, dass im Unterschied zu den Regensburger Beratungen im April/Mai 1454 und den Wiener Neustädter Unterredungen im Frühjahr 1455 keine ausführlichen Aufzeichnungen zu den Frankfurter Verhandlungen im Herbst 1454 überliefert sind40. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang vielmehr vor allem – neben den Ende Oktober 1454 entstandenen detailreichen Briefen des kaiserlichen Rates Enea Silvio Piccolomini an die Kardinäle Juan de Carvajal und Nikolaus von Kues sowie Gregorius Lollius41 – auf den am 27. Oktober 1454 abgeschlossenen Bericht des Konrad Rottenauer, der als Vertreter Herzog Ludwigs IX. von Bayern-Landshut an den Frankfurter Beratungen teilgenommen hatte42, sowie auf die vom 16. Oktober 1454 datierten, deutlich kürzeren Darstellungen des Regensburger Gesandten Jörg Gaisler43. Im hier vorgegebenen Informationsrahmen bewegen sich auch die Schilderungen des Wetzlarer Schriftstücks, die nicht nur bestätigende bzw. präzisierende Angaben zu den Frankfurter Beratungen präsentieren, sondern darüber hinaus zugleich den zeitgenössischen Perzeptionsrahmen des dortigen Reichstagsgeschehens akzentuieren: zwischen dem nüchternen Blick auf den persönlichen Besuch oder die stellvertretende Beschickung durch fürstliche und städtische Gesandtschaften einerseits und der prominenten Erwähnung flankierender Predigtauftritte eines Johannes Capistran und Heinrich Kalteisen andererseits. Typologisch wird die inhaltliche Gestaltung des Schreibens dabei wesentlich durch zwei Textmuster44 mit narrativen und registrativen Elementen bestimmt, die beispielsweise auch den Frankfurter Bericht des Jörg Gaisler auszeichnen45 und erzählende Passagen 40 Vgl. RTA 19/2, S. 49 („Die erhaltenen Texte zum Frankfurter Tag sind kürzer, wenn auch vielfältig“). 41 RTA 19/2, Nr. 13,3, S. 395–403 (an Kardinal Juan de Carvajal, 1454 Oktober 28), Nr. 13,6, S. 406–410 (an Kardinal Nikolaus von Kues, 1454 Oktober 31), und Nr. 13,7, S. 410–417 (an Gregorius Lollius, 1454 Oktober 31). 42 RTA 19/2, Nr. 11, S. 353–372. 43 RTA 19/2, Nr. 14,1, S. 417–420. Nicht berücksichtigt wurde in diesem Zusammenhang das im November/Dezember 1454 bzw. Januar 1455 entstandene Schreiben des Dr. decr. Peter von Andlau († 1480) an einen decanus des Benediktinerklosters Murbach (Elsass), das nicht aus der unmittelbaren Kenntnis des Frankfurter Reichstagsgeschehens im Herbst 1454 verfasst wurde, sondern sich auf Informationen Dritter – hier einer Gesandtschaft des Erzbischofs von Besançon Quintinus Menardi – stützte. 44 Mit dem Begriff der „Textmuster“ werden in diesem Zusammenhang textliche Einheiten auf der Ebene des Textstrukturellen beschrieben, die sich auf mannigfaltige Weise modifizieren und miteinander kombinieren lassen. Entsprechende makrostrukturelle Prototypen können beispielsweise narrative ebenso wie protokollierende oder registrative Elemente enthalten. Vgl. Meier: Städtische Kommunikation, insbes. S. 144f. 45 Hingegen enthalten die zum 27. Oktober 1454 abgeschlossenen Ausführungen des Konrad Rottenauer vor allem protokollierende Elemente. Vgl. RTA 19/2, Nr. 11, S. 353–372.

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– im fließenden Übergang zu chronikalischen Aufzeichnungen – mit kunstlos gereihten Notizen (hier zum Besuch der Frankfurter Reichsversammlung) kontrastieren. Bislang (noch) nicht geklärt werden konnten hingegen Fragen nach der Identität der Korrespondenzpartner und nach den Kommunikationswegen, die schließlich zur Aufbewahrung des anonym überlieferten Schreibens im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar geführt haben. Entsprechende Überlegungen müssen sich dabei auf spärliche textimmanente Hinweise stützen. Mit Blick auf die detailreichen Schilderungen der Vorgänge im zeitlichen Vorfeld der Frankfurter Beratungen ebenso wie der Ereignisse im Straßburger Umland sollte sich der unbekannte Verfasser als bemerkenswert gut informiert erweisen46. Beide Korrespondenzpartner – Absender wie Adressat – waren offenkundig durch gleichgerichtete reichs- und regionalpolitische Interessen miteinander verbunden, die vielleicht auf gemeinsame Kontakte zu städtischen und/oder fürstlichen (Kanzlei-)Kreisen hinweisen könnten. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang die Anrede des Adressaten als meister – eine Wortwahl, die in zeitgenössischen Quellen bevorzugt für Gelehrte bzw. gelehrte Räte, seltener für städtische Bürgermeister verwendet wurde47. Der heutige Aufbewahrungsort des betreffenden Schriftstücks mag die Aufmerksamkeit hier zunächst auf den gelehrten Rat Dr. decr. Peter Knorr († 1478) lenken, der in vielfältigen diplomatischen Diensten tätig war und zugleich in den Jahren 1445 bis 1457 als Propst der Marienkirche zu Wetzlar nachgewiesen ist48. Eine entsprechende Identifizierung mit dem anonymen Adressaten ist in diesem Falle jedoch auszuschließen, da sich Peter Knorr noch Ende September 1454 nachweislich in Prag befunden hatte (also am 26. September 1454 nicht in Frankfurt gewesen sein konnte; siehe abs. [1]) und erst am 13. Oktober 1454 im Gefolge Markgraf Albrechts von Brandenburg in der Reichsstadt am Main eintreffen sollte49. Die editorische Forschung ist ein dynamischer Prozess, der immer wieder von neuen Quellenfunden gestützt und begleitet wird. Und vielleicht werden eines Tages wei46 Und dies durchaus im Unterschied zu Graf Philipp II. von Nassau-Saarbrücken in seinem vom 18. Oktober 1454 datierten Schreiben an die Stadt Wetzlar. Siehe Anhang II. 47 Eine systematische und umfassende Untersuchung mittelalterlicher Gruß- und Anredeformen wurde bislang noch nicht vorgelegt, obgleich es sich – gerade mit Blick auf die Ritual- und Zeremonialforschung – gewiss um ein wichtiges Forschungsdesiderat handelt. Vgl. Behrmann: Wandel der öffentlichen Anrede; Ders.: Herrscher und Hansestädte, S. 68–111; Hack: Gruß, eingeschränkter Gruß und Grußverweigerung. 48 Vgl. Struck: Marienstift zu Wetzlar, S. 752 s. v. Knorre, Peter. – Zur Person des Peter Knorr allgemein: Heinig: Kaiser Friedrich III., S. 1703 s. v.; Hesse: Amtsträger, Nr. 2120, S. 606. 49 Vgl. RTA 19/2, Nr. 7,2d 1, S. 200f. (Schreiben der Stadt Nürnberg an Dr. Peter Knorr in Prag, 1454 September 24). Mit Hinweisen auf seine Anreise nach Frankfurt im Gefolge Markgraf Albrechts von Brandenburg: ebd., Nr. 7,7, S. 236–260, hier S. 249, art. 60, S. 250, art. 84, und S. 251, art. 111 (Reiserechnung anlässlich der Teilnahme des Markgrafen an den Frankfurter Beratungen, für den Zeitraum vom 9. Oktober bis 3. November 1454, erstellt am 8. November 1454).

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tere Recherchen neues Licht in das verbleibende Dunkel um das hier vorgestellte Wetzlarer Schriftstück bringen.

4 Anhang Vorbemerkungen zur Edition Die vorliegenden Transkriptionen orientieren sich an jenen Richtlinien, die Johannes Helmrath in Band 19/2 der ‚Deutschen Reichstagsakten‘ mit Blick auf die „Gestaltung der lateinischen und deutschen Texte“ zusammengestellt hatte50. In Verbindung mit der weitgehend graphiegetreuen Wiedergabe der Vorlagen wurden nur wenige Eingriffe vorgenommen, die vor allem die Lesbarkeit und das damit verbundene Textverständnis erleichtern sollen. So wurden die uneinheitlichen Schreibweisen von /i/ und /j/ sowie /u/ und /v/ entsprechend dem jeweiligen Lautwert normalisiert, der Spatium-Gebrauch ebenso wie die Interpunktion den heute geläufigen Regeln angepasst. Die Auflösung der Abbreviaturen erfolgte – sofern eindeutig ausgewiesen – entsprechend den allgemeinen Transkriptionsregeln, bei unspezifisch abgekürzten Buchstaben und Silben wird diese hingegen durch spitze Klammern gekennzeichnet; runde Klammern verweisen auf unsichere Lesungen. Personen-, Territorial- und Ortsnamen werden durchgängig großgeschrieben, bei Satzanfängen – mit Ausnahme von Absätzen – wird hingegen die Kleinschreibung bevorzugt.

I. Schreiben eines unbekannten Verfassers an einen ungenannten Adressaten: [1] Besuch der Stadt Frankfurt durch den ungenannten Adressaten am 26. September 1454 und dessen vergebliche Suche nach dem unbekannten Absender des Schreibens; Verweis auf eine Wallfahrt des Adressaten – verbunden mit guten Wünschen. Bericht über die intensive, allerdings ebenfalls vergebliche eigene Suche des Absenders nach dem Adressaten in der Mainmetropole.    [2] Bericht über die bislang eingetroffenen Besucher der Frankfurter Reichsversammlung: [2a] Gesandtschaft Kaiser Friedrichs III. – der Sieneser Bischof [Enea Silvio Piccolomini] und der Gurker Bischof [Ulrich Sonnenberger]; [2b] Gesandtschaft König Ladislaus’ von Böhmen-Ungarn – der Passauer Bischof [Ulrich von Nußdorf], zwei weitere Bischöfe aus Ungarn sowie der königliche Kanzler Prokop [(Pflug) 50 RTA 19/2, S. 61f.

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von Rabenstein]; [2c] der Trierer Erzbischof [Jakob von Sierck]; [2d] Gesandtschaft Herzog Philipps des Guten von Burgund; [2e] Gesandtschaft des Mainzer Erzbischofs [Dietrich von Erbach]; [2f] Gesandtschaft des Kölner Erzbischofs [Dietrich von Moers]; [2g] Gesandtschaft des Pfalzgrafen [Friedrich I.]; [2h] Gesandtschaft des Markgrafen [Friedrich II.] von Brandenburg; [2i] der Deutschmeister [Jost von Venningen]; [2k] Gesandtschaft des Herzogs [Ludwig IX.] von Bayern-Landshut; [2l] Gesandtschaft des Salzburger Erzbischofs [Sigismund von Volkersdorf]; [2m] Gesandtschaften des Markgrafen [Borso d’Este] von Ferrara und des Markgrafen [Ludovico III. Gonzaga] von Mantua; [2n] Gesandtschaft des Landgrafen von Hessen; [2o] für den heutigen Tag erwartete Ankunft des päpstlichen Legaten und Bischofs von Pavia [Giovanni di Castiglione]; [2p] Gesandtschaften der Städte Augsburg, Speyer, Aachen, Köln und Metz; diese hatten am 8. Oktober 1454 den Beschluss gefasst, weitere Beratungen erst im Falle der Frankfurter Anwesenheit einer größeren Anzahl an Fürsten zu führen. Thema der Gespräche sei zum einen die Bekämpfung der Türken gewesen, die gegenwärtig die Habsburgischen Erblande bedrohten, zum anderen die Auseinandersetzungen um das Herzogtum Luxemburg.    [3] Das Auftreten des Franziskaners Johannes Capistran in der Stadt Frankfurt: Predigttätigkeit und Krankenheilungen.    [4] Vorgänge im Straßburger Gebiet.    [5] Predigttätigkeit des Dominikaners und dänischen Gesandten Heinrich Kalteisen am heutigen Tag. o. O. [Frankfurt] o. D. [1454 Oktober 13]. Wz aus Wetzlar Historisches Archiv der Stadt Urkunden Kasten Undatierte Stücke V fol. 1rv not. ch. (15. Jahrhundert). Wohl aufgrund von Feuchtigkeit sind an einzelnen Stellen Buchstaben verwischt, so dass eine sichere Lesung der betreffenden Wörter nicht möglich ist und diese daher mit einem Fragezeichen versehen wurden. – Offenkundige orthographische Versehen des Abschreibers wurden im Variantenapparat nicht berücksichtigt.

Mynen fruntlichen willigen dinst zuvor.    Lieber meister und besundera gude frunt. [1] Also als ir mir geschr hat, wie ir uff donerstag vor sant Michels dag ([1454] September 26) zu Fr gewest sijt und mich an drijen end gesucht hat etc., des ich uch dancken, das ir uch umb mynen willen also sere gemuet hat. doch wie den allen so gebe got, das uch uwere wallefart zu gude komeb zu lijbe und zu sele. Amen. want myn herre und myn freuchin han mir solichs wole gesaget und ich hatte eynen grossen verdroß darinn, das ir myn nit eyn halbe(?) uwer gebeid mochte. und myn herre und myn freuchin liessen uch suchen durch(?) mich und seldec uch gelad han, das ir die nacht mitgessen hettent. also lieff(?) ich umb ind der stad unde suchte uch in Groß Conczen huß [und] in Adam Godewalts(?) huß51. und da ich 51 Leider ist eine nähere Identifizierung der hier genannten Häuser – der städtischen Lage ebenso wie der

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uch in den zweyn end nit ankomen mochte, da suchte ich uch vor der parten. [2] Und lassen uch wissen, das iczunt zu Franckenfurt zu dem dage von herren sin [2a] unsers gnedigist herren des keysers rede, und sin zwene bischoff52. [2b] item eyn bischoff von Bassau und sost zwene bischoff uß Ungern und eyner genant Procopius, eyn canczeler, von konig Laslaus wegen zu Behem53. [2c] item unser gnediger herre von Triere cum propria persona54. [2d] item des herczogen von Burgonien

erwähnten Besitzer – nicht möglich. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang jedoch auf die zeitgenössischen Bürgerbücher der Stadt Frankfurt, die zum 10. Oktober 1439 einen Concze Grosse kurssener erwähnen, der hat gehuldet und gesworn und mit den rechenmeistern uberkomen, das gelt zu geben (Andernacht/Berger: Bürgerbücher Frankfurt, S. 125). Zum Beginn des Frankfurter Bürgerbuchs für die Jahre 1440 bis 1470 werden schließlich jene Bürger und Einwohner der Stadt aufgeführt, die den geforderten Bürgereid gelobt und geschworen haben, darunter neben dem bereits genannten Conrad Grosz kurssener (ebd., S. 156) auch ein Adam Godewalt (ebd., S. 144). 52 Neben den beiden hier erwähnten Bischöfen – Enea Silvio Piccolomini (1450–1458 Bischof von Siena) und Ulrich Sonnenberger (1453–1469 Bischof von Gurk) – gehörten zur kaiserlichen Gesandtschaft auch Markgraf Albrecht von Brandenburg (1440–1486), Markgraf Karl I. von Baden (1453–1475), der Reichsfiskalprokurator Dr. iur. utr. Hartung (der Jüngere) Molitoris von Kappel († nach 1476) sowie der Reichserbmarschall Heinrich I. (XI.) von Pappenheim (1439–1482). Vgl. RTA 19/2, S. 180–189 (mit näheren Ausführungen zu den einzelnen Mitgliedern der kaiserlichen Vertretung). Nach den Angaben Johannes Helmraths war die Reisegruppe um Enea Silvio Piccolomini, Ulrich Sonnenberger und Hartung Molitoris von Kappel „um den 7. Oktober in Frankfurt ein[getroffen]“ (ebd., S. 183). 53 Die Zusammensetzung der umfangreichen und prominent besetzten Gesandtschaft König Ladislaus’ von Böhmen-Ungarn (1440–1457) verweist auf die in seiner Hand vereinigten drei Herrschaftsgebiete, die durch den jeweiligen Kanzler bzw. Vizekanzler vertreten wurden: für Österreich der hier einleitend erwähnte Kanzler und Passauer (Bischof-)Elekt Ulrich Nußdorfer (1451/55–1479), für Ungarn der Vizekanzler und Propst zu Erlau Nicolaus Barius (Miklós Bánfalvi; † 1459), für Böhmen der hier ebenfalls genannte Prokop (Pflug) von Rabenstein († 1472). Mit näheren Angaben auch zu weiteren Mitgliedern der königlichen Gesandtschaft: RTA 19/2, S. 196–203. Zu Prokop (Pflug) von Rabenstein, der wiederholt als Korrespondenzpartner des Enea Silvio Piccolomini belegt ist, ausführlich und mit weiterführender Literatur: RTA 19/3, S. 128, Anm. 1. Bislang nicht näher identifiziert werden konnten die hier aufgeführten zwene bischoff uß Ungern, denn nach den Angaben des Regensburger Gesandten Jörg Gaisler sollte sich der bischoff von Ungern – gemeint ist der ungarische Kanzler und Bischof von Großwardein János Vitéz (1445–1465) – zum Zeitpunkt der Abfassung des Gesandtenberichts am 16. Oktober 1454 nicht in der Mainmetropole aufhalten (vgl. RTA 19/2, Nr. 14,1, S. 417–420, hier S. 419, abs. [3]). 54 Jakob von Sierck, Erzbischof von Trier (1439–1456). Zu seiner Person und seiner persönlichen Teilnahme an den Frankfurter Beratungen im Herbst 1454: Miller: Jakob von Sierck, insbes. S. 243–246.

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rede55. [2e] item unsers gnedig herren von Mencze rede56. [2f] item des bischoffs von Colne rede57. [2g] item des Palczgraven rede58. [2h] item des von Brandenburg rete59. [2i] item der hoemeister Deutsches ordens60. [2k] item herczog Lodewig von Beyern rete61. [2l] item des bischoffs von Salczpurg rete62. [2m] item des margrefen 55 Neben dem reichstagserfahrenen langjährigen burgundische Rat Guillaume Fillastre dem Jüngeren, Bischof von Toul (1449–1460), gehörten auch der hennegauische Ritter Simon de Lalaing, Herr von Montigny († 1477), die beiden „Luxemburgspezialisten“ Adrian van der Ee und Lic. in iur. civ. Jean Lorfèvre († 1476), der herzogliche Sekretär Jean de Villers sowie der reitende Bote Adenet Lefèvre zur Vertretung Herzog Philipps des Guten von Burgund bei den Frankfurter Beratungen. Siehe hierzu – mit weiterführenden Hinweisen: RTA 19/2, S. 204–226, insbes. S. 205–207 mit näheren Überlegungen zur möglichen Anwesenheit einer zweiten burgundischen Gesandtschaft (mit dem kastilischen Ritter Pedro Vásquez de Saavedra, dem Brügger Augustinerprovinzial Dr. Jakob von Ostende sowie dem poursuivant Rupelmonde). Hierzu ablehnend: Prietzel: Guillaume Fillastre, S. 176–180. Vgl. auch: Müller: Kreuzzugspläne, S. 73f. 56 Nicht näher identifizierte kurmainzische Gesandtschaft. Der Mainzer Erzbischof Dietrich von Erbach (1434–1459) sollte offenkundig erst am 21. Oktober 1454 in Frankfurt eintreffen. Siehe hierzu die Angaben in einem vom 20. Oktober 1454 datierten Schreiben des Enea Silvio Piccolomini an den Kölner Erzbischof Dietrich von Moers: RTA 19/2, Nr. 13,2, S. 392–395, hier S. 394, abs. [4]. Vgl. Voss: Dietrich von Erbach, S. 177f. 57 Offenbar gehörte zur Gesandtschaft des Kölner Erzbischofs Dietrich von Moers (1414–1463) auch der kurkölnische Rat und Propst von St. Andreas (Köln) Tilmann Jo(h)el von Linz († 1461). Siehe hierzu die vielzitierten Bemerkungen des Enea Silvio Piccolomini in einem vom 16. Oktober 1454 datierten Schreiben an den spanischen Kurienkardinal Juan de Carvajal: Sunt hic omnes illi, de quibus dicere soles, „quia datum est eis nocere terrae et arboribus“: Tilimanus, Lisura [der kurtrierische Rat Johannes Hofmann von Lieser (Lysura)], Gregorius [Gregor Heimburg], Ludovicus [der kurpfälzische Rat Ludwig von Ast] (RTA 19/2, Nr. 13,1, S. 389–392, hier S. 391f., abs. [3]). – Zu Tilman Jo(h)el von Linz allgemein: Podlech: Tilmann Joel von Linz (allerdings ohne Hinweis auf eine Mitwirkung an den Frankfurter Beratungen im Herbst 1454); Miller: Jakob von Sierck, S. 376 s. v. Tilmann von Linz. 58 Zum 16. Oktober 1454 ist der gelehrte Rat Ludwig von Ast, der zu dieser Zeit als Kanzler in den Diensten Pfalzgraf Friedrichs I. des Siegreichen (1451–1476) tätig war, als Mitglied einer kurpfälzischen Vertretung in Frankfurt dokumentiert. Siehe hierzu auch die entsprechenden Quellenangaben in Anm. 57. – Zur Person des Ludwig von Ast: Ringel: Studien zum Personal, S. 262 s. v., inbes. S. 81–89; Voss: Dietrich von Erbach, S. 573 s. v., inbes. S. 227f. 59 Eine nicht näher zu identifizierende Gesandtschaft Markgraf Friedrichs II. von Brandenburg (1440–1470). 60 Nicht der – hier fehlerhaft – genannte Hochmeister des Deutschen Ordens Ludwig von Erlichshausen (1450– 1467), sondern der Deutschmeister Jost von Venningen (1447–1455) hatte sich zu den im Herbst 1454 geführten reichspolitischen Verhandlungen nach Frankfurt begeben. Zum Auftreten des Deutschen Ordens im Rahmen der Frankfurter Reichsversammlung: RTA 19/2, S. 689–728, zu Jost von Venningen insbes. S. 696–700. 61 Ausweislich der Ämterrechnungen des Herzogtums Bayern hatten der langjährige Rat und Hofmeister Wilhelm Truchtlinger (von Treuchtlingen) zum Wasen, der Kaisheimer Abt Dr. Nikolaus Kolb (OCist; 1440–1458), Ulrich von Rechberg und Lic. in decr. Konrad Rottenauer an den Frankfurter Beratungen im Herbst 1454 teilgenommen. Vgl. RTA 19/2, Nr. 7,8a, S. 261 mit Anm. 2–5; Nr. 25,2, S. 763–766, hier S. 764–766, abs. [1] und [3]. 62 Eine bislang nicht näher identifizierte Gesandtschaft des Salzburger Erzbischofs Sigismund von Volkersdorf (1452–1461).

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von Ferrer botschafft, des marggreffen von Manta botschafft, alle bede Walen63. [2n] unsers gned herren des lantgraven von Hessen rete64. [2o] item uff hude sondag ([1454] Oktober 13) sal komen eyn bischoff von Pavey von des babstis65 wegen. [2p] von den sted ist zu Franckfurt die stad Augspurg Spijer Aiche Colne Meczef66. und sin uff dinstag nach Francisci nehstvergangeng ([1454] Oktober 8) bij(?) eyn zu rade gewest und sin mit eyn uberkomen, das sie keyn sachen wollen(?) anefahen [anfangen], iß sin dan mee fursten zu Franckenfurt. und die sachen, die sie verhand(?) han, das ist von des Dorcken67 wegen und von Luczelnburg68 wegen, dan unser gnediger herre der keyser gerne sehe, das man den Dorcken widerstunde, und mag in zehen(?) dagen wole komen in des keysers lant69. [3] Item so ist iczunt [in] Franck eyn heilgerh f(r)ater(?) sant Franciscus ordens70 mit xij personen und man dut zwo prediget, eyn zu Latyn und die ander zu Dutsche. dornach so sameln sich die blind lamen und krangke lude in dem cruc-

63 Nicht genauer dokumentierte Gesandtschaften des Markgrafen (seit 1471 Herzogs) von Ferrara und Herzogs (seit 1452) von Modena und Reggio-Emilia Borso d’Este (1450–1471) sowie des Markgrafen von Mantua Ludovico III. Gonzaga (1444–1477). 64 Nicht näher identifizierte Gesandtschaft eines Landgrafen von Hessen. 65 Gemeint ist der päpstliche Legat Giovanni di Castiglione, Bischof von Pavia (1453–1460), der nach den Angaben eines vom 16. Oktober 1454 datierten Schreibens des Enea Silvio Piccolomini an Kardinal Juan de Carvajal am 13. Oktober 1454 in Frankfurt eingetroffen war: dominus Papiensis et marchio Brandeburgensis [Markgraf Albrecht von Brandenburg] eadem hora die dominica preterita intrarunt (RTA 19/2, Nr. 13,1, S. 389–392, hier S. 390, abs. [1a]; ergänzend: Nr. 11, S. 353–372, hier S. 363, abs. [3]). Zu Giovanni di Castiglione grundlegend: Nowak: Kardinal, zu den Frankfurter Beratungen insbes. S. 175–189. 66 Gesandtschaften der Freien und Reichsstädte Augsburg, Speyer, Aachen, Köln und Metz. 67 Türken: Gemeint ist die Organisation eines geplanten Feldzugs gegen die über den Balkan vordringenden Truppen des osmanischen Sultans Mehmed II. nach dem Fall Konstantinopels im Mai 1453. 68 Luxemburg: der Konflikt um das Herzogtum Luxemburg und die Grafschaft Chiny zwischen Herzog Philipp dem Guten von Burgund und König Ladislaus von Böhmen-Ungarn. 69 Verweise Kaiser Friedrichs III. auf die Bedrohung der Habsburgischen Erblande durch die osmanische Expansion nach dem Fall Konstantinopels im Mai 1453 durchziehen leitmotivisch die Verhandlungen der sogenannten Türkenreichstage der Jahre 1454/55. Exemplarisch hierzu für die Wiener Neustädter Verhandlungen im Frühjahr 1455: RTA 19/3, Nr. 21e, S. 286–289, hier S. 288, abs. [3] (zum 2. April 1455); Nr. 22a, S. 298–304, hier S. 302, abs. [5b] (zum 1. April 1455), und Nr. 22b, S. 304–309, hier S. 306, abs. [4a] (zum 2. April 1455). 70 Zu identifizieren ist der hier namentlich nicht näher genannte Franziskanerbruder mit dem charismatischen Bettelordensprediger Johannes Capistran (OFM; † 1456), der sich im Rahmen seiner langjährigen Missionsreise durch Mitteleuropa im Herbst 1454 nach Frankfurt begeben hatte und dort seine auch chronikalisch viel beachtete Predigttätigkeit fortsetzte. Siehe hierzu – mit entsprechenden Belegen zum Frankfurter Aufenthalt des Johannes Capistran, zu seinem politischen Auftreten und religiösen Wirken ebenso wie zu seinem weitreichenden Briefwechsel: RTA 19/2, Nr. 15, S. 426–460. Mit anschaulichen Schilderungen seiner Frankfurter Predigttätigkeit namentlich die anonyme ‚Speierische Chronik‘: ebd., Nr. 15,2b, S. 434f.

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zegang zu den barfussen71, da kussen die lude sant Bernhardinus heltem72 [Heiltum]. und hat etliche lude, diei etliche jare lame und blint gewest sin, gerade und gesehen gemacht, als ich verstanden han. [4] Item von der von Straßburg weg lassen ich uch wissen, das eyn grosse samenunge ruter bij eyn waren, und nymant wuste, uber wen solicher zog geen mochte. des qwam myn herren warnunge und wart da bij erczalt, man verstunde nit anders dan solicher zog ginge uber die von Straßburg. da schichten myn herren eynen bod uß, der lieff nacht und dag, biß er geyn Straßburg qwamk. da waren die ruter an eyn anderl ende gezogen und branten doch uff den bischoff von Straßburg73 etliche dorffere. hernachmalsm wil ich uch me schr von der und andere sachen wegen. dan ich was in meynunge, uch doch diß zu schrijbenn, hette ich eyn boden gehabt. [5] Item uff hude sondag ([1454] Oktober 13) wil doctor Kaldejsen, eyn bischoff prediger ordenso, predigen undp ist von eyns konigs von Denmargs74 wegen zu Franckf. a) Wz korrigiert aus gesunder. – b) Wz korrigiert aus komen; folgt gestrichen moge. – c) Wz korrigiert aus selder(?). – d) Wz korrigiert aus yn. – e) Wz korrigiert (aus s-). – f) in Wz über der Zeile ergänzt. – g) Wz folgt gestrichen nicht lesbares Wort (bey-?). – h) Wz korrigiert aus heilg. – i) Wz folgt gestrichen d- eli-. – k) Wz folgt gestrichen da sag(e)de man. – l) Wz folgt gestrichen s- erde(?). – m) Wz korrigiert aus henachmals. – n) Wz folgt gestrichen d-. – o) Wz folgt gestrichen unde(?). – p) in Wz vor der nachfolgenden Zeile ergänzt.

71 Das wohl vor 1238 gegründete Kloster der Franziskaner (Barfüßerkloster) mit der um 1270 erbauten und Mitte des 14. Jahrhunderts erweiterten Barfüßerkirche (1786 abgerissen). An deren Stelle – unweit des Römers – erhebt sich heute die in den Jahren 1789 bis 1833 errichtete Paulskirche. Zur Geschichte des Frankfurter Barfüßerklosters im Mittelalter allgemein: Fischer, Barfüßerkloster. 72 Nach den Angaben der ‚Speierischen Chronik‘ gehörte zu diesen von Johannes Capistran gezeigten Heiltümern des Hl. Bernhardin von Siena (OFM; † 1444) auch sin hubel [Kutte, Habit]. Vgl. RTA 19/2, Nr. 15,2b, S. 434f., hier S. 435. 73 Der Straßburger Bischof Ruprecht von der Pfalz (1440–1478). 74 Der Koblenzer Dominikaner Dr. theol. Heinrich Kalteisen († 1465), Erzbischof von Drontheim und wiederholt Gesandter König Christians I. von Dänemark (1448–1481). Zu seiner Person und Predigttätigkeit allgemein (allerdings ohne Hinweise auf seine Frankfurter Predigttätigkeit): Haage: Kalteisen; Tenberg: Kalteisen; Voss: Dietrich von Erbach, S. 314–316; RTA 19/2, S. 191, Anm. 6. Vgl. auch den Beitrag von Thomas Prügl in diesem Band.

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II. Bislang ebenfalls in der Forschung nicht bekannt ist ein vom 18. Oktober 1454 datiertes Originalschreiben Graf Philipps II. von Nassau-Saarbrücken (in Weilburg)75 an Bürgermeister und Rat der Stadt Wetzlar, das im dortigen Historischen Archiv unter der Signatur „Urkunden sub dato 1454 Oktober 18“ aufbewahrt wird. Als Reichsvogt der Wetterau mit dem Schutz der Reichsstadt an der Lahn betraut76 und durch die – selbst bekundete – Bereitschaft bestimmt, sie an guder anwisunge nit [zu] verlaiszen77, gehörte der Adlige gewiss zu den einschlägigen Korrespondenz- und Ansprechpartnern Wetzlars in (reichs-)politischen Angelegenheiten (neben der Stadt Frankfurt als Vorort der wetterauischen Reichsstädte)78. Ähnlich dem in Anhang I dokumentierten Schreiben vom 13. Oktober 1454 stehen im Mittelpunkt auch der hier vorliegenden Ausführungen Nachrichten über die potentiellen Besucher der Frankfurter Reichsversammlung im Herbst 1454, die zugleich durch Überlegungen zu einer möglichen Beschickung der dortigen Beratungen durch die Stadt Wetzlar ergänzt werden. Obgleich ein entsprechendes kaiserliches Ladungsschreiben an die Stadt Wetzlar bislang nicht aufgefunden werden konnte79, mag der briefliche Hinweis auf unsers gnedigsten hern des keysers schrifften zumindest die grundsätzliche Existenz einer derartigen Einladung nahelegen. Mit Blick auf den bereits seit der Mitte des 14. Jahrhunderts zu beobachtenden wirtschaftlichen Niedergang der Stadt Wetzlar, die verarmudet und in feheden und mit groiszen schulden beladen80 war, bedurfte es jedoch sorgfältiger Überlegung hinsichtlich der städtischen Entsendung einer bevollmächtigten Botschaft – selbst in das nahegelegene Frankfurt am Main. Sei es aus finanziellen Gründen, sei 75 Zu Graf Philipp II. von Nassau-Saarbrücken (in Weilburg) († 1492), einem Sohn Graf Philipps I. von Nassau-Saarbrücken († 1429), allgemein: Menzel: Geschichte von Nassau, S. 143–180. 76 Die Wetzlarer Reichsvogtei war bereits im 14. Jahrhundert – 1328/39 – an die Grafen von Nassau-Weilburg übergegangen, die in den folgenden Jahren weitere umfangreiche Rechte an der Stadt Wetzlar erwerben konnten. Im Jahr 1414 wurde die Schutzherrschaft über die wetterauische Reichsstadt schließlich an Graf Philipp I. von Nassau-Weilburg übertragen. Zur Situation des 14. Jahrhunderts: Hahn: Untersuchungen, S. 126f.; Felschow: Wetzlar in der Krise, S. 25, 29f. 77 So die Formulierung in einem vom 29. Dezember 1454 datierten Schreiben Graf Philipps II. von Nassau-Saarbrücken an den Rat der Stadt Frankfurt: RTA 19/3, Nr. 7b, S. 132–134, hier S. 133. 78 Siehe hierzu exemplarisch die Ende Dezember 1454 geführte Korrespondenz zwischen Graf Philipp II. von Nassau-Saarbrücken und den Städten Wetzlar und Frankfurt im Zusammenhang mit der geplanten Entsendung kommunaler Gesandtschaften an den kaiserlichen Hof: RTA 19/3, Nr. 7a-c, S. 131– 134. 79 Mit einer Zusammenstellung der überlieferten Einladungen Kaiser Friedrichs III. zu den Frankfurter Verhandlungen im Herbst 1454: RTA 19/2, S. 109–127, insbes. Nr. 2,4 I, S. 119–123 (zu herrscherlichen Ladungsschreiben an städtische Empfänger). 80 Gemäß den Angaben in einem vom 30. Dezember 1454 datierten Schreiben an Bürgermeister, Schöffen und Rat der Stadt Frankfurt: RTA 19/3, Nr. 7a, S. 131f., hier S. 131.

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es angesichts der wenig ermutigenden Nachrichten des Grafen von Nassau-Saarbrücken: Am Ende verzichtete die wetterauische Reichsstadt auf eine Beschickung der Frankfurter Reichsversammlung81. Graf Philipp II. von Nassau-Saarbrücken hingegen, der Mitte Oktober 1454 offenkundig in Frankfurt weilte und wahrscheinlich an den dortigen (reichs-)politischen Beratungen persönlich mitwirkte82, sollte sich als bemerkenswert schlecht informiert erweisen – gerade auch im Vergleich zu dem anonymen Verfasser des in Anhang I vorgelegten Berichts vom 13. Oktober 1454. Denn entgegen den Angaben des Adligen, dass die korefursten noch nit zü Franckfurdt sin und die stede auch noch nit dar geschickt haben, befanden sich zum Zeitpunkt der angegebenen Datierung – am 18. Oktober 1454 – nicht nur Gesandtschaften des Mainzer Erzbischofs Dietrich von Erbach, des Kölner Erzbischofs Dietrich von Moers, des Königs Ladislaus von Böhmen-Ungarn, des Pfalzgrafen Friedrich I. sowie des Markgrafen Friedrich II. von Brandenburg in der Reichsstadt am Main83; spätestens Anfang Oktober 1454 hatte sich darüber hinaus der Trierer Erzbischof Jakob von Sierck persönlich nach Frankfurt begeben84. Und zumindest am 13. Oktober 1454 ist die dortige Anwesenheit bevollmächtigter Gesandtschaften der Freien und Reichsstädte Augsburg, Speyer, Aachen, Köln und Metz quellenmäßig dokumentiert85. Hatte Graf Philipp II. von Nassau-Saarbrücken diesen Bericht vielleicht deutlich früher – spätestens Anfang Oktober 1454 – abgefasst und die Datierung erst zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt? Das Schriftbild des Originalschreibens selbst zumindest liefert hier keine diesbezüglichen Hinweise.

***

81 Mit einem zusammenfassenden Überblick zum Besuch der Frankfurter Reichsversammlung im Herbst 1454 durch Gesandtschaften der Freien und Reichsstädte: RTA 19/2, Tabelle 1, S. 159–161, hier S. 161 (ohne Erwähnung der Stadt Wetzlar). 82 Als Besucher der Frankfurter Reichsversammlung konnte Graf Philipp II. von Nassau-Saarbrücken bislang noch nicht namentlich dokumentiert werden. 83 Zusammenfassend zu den kurfürstlichen Vertretungen bei den Frankfurter Beratungen im Herbst 1454: RTA 19/2, S. 192–195. Siehe hierzu exemplarisch auch die Angaben in Anhang I, abs. [2b] sowie abs. [2e-h]. 84 So berichtet beispielsweise der bayerische Gesandte Konrad Rottenauer über Frankfurter Beratungen in des bischofs von Trier herberg, die bei zehen tagen [nach] Michaelis – um den 8./9. Oktober 1454 – stattgefunden hatten. Vgl. RTA 19/2, Nr. 11, S. 353–372, hier S. 360, abs. [1]. Zur dortigen persönlichen Anwesenheit des Trierer Erzbischofs Jakob von Sierck zum 13. Oktober 1454 siehe auch die Angaben in Anhang I, abs. [2c]. 85 Siehe hierzu exemplarisch die Angaben in Anhang I, abs. [2p].

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Schreiben Graf Philipps II. von Nassau-Saarbrücken an Bürgermeister und Rat der Stadt Wetzlar: [1] Bitte an die Stadt, den Knecht Donges auf einen Monat für die Burg Löwenberg auszuleihen.    [2] Mit Blick auf die an den gräflichen Absender nach Frankfurt gesandten Schriften Kaiser Friedrichs III. Hinweis, dass die Kurfürsten bislang noch nicht in der Mainmetropole eingetroffen seien und auch die Städte bisher keine Botschaften entsandt hätten.      [3] Für den Fall der geplanten Entsendung einer Wetzlarer Gesandtschaft nach Frankfurt habe er – Graf Philipp – mit einigen Ratsherren sowie dem Bürgermeister Wycker Frosch vereinbart, dass diese der Stadt Wetzlar rechtzeitig Mitteilung machen sollten. Gleichzeitig bitte er dann um eine entsprechende Benachrichtigung. o. O. 1454 Oktober 18. Wz aus Wetzlar Historisches Archiv der Stadt Urkunden sub dato 1454 Oktober 18 or. ch. lit. cl. c. sig. impr. (fehlt). Adresse (Rückseite): Unsern lieben getrúwen burgermeistern und raede der staidt Wetzflar. Überschrift: Philipps grave zu Nassauwe und zü Sarbrugk herre zü Lewenbergh.

Unsern grus zuvor.    Lieben getrüwen.    [1] Wir begern und biedd uch, das ir uns dießen geinwerttigen knecht Donges lijhen wollent, eynen mohent lang in unserm sloße Lewenbergh86 zü sin.    [2] Auch als ir bij uns gein Franckfürdt geschickt hant mit unsers gnedigsten hern des keysers schrifften etc.87, laßen wir uch wißen, das die korefursten noch nit zü Franckfurdt sin. so haben die stede auch noch nit dar geschickt88.    [3] Dann wollent gein Franckfurdt schick, da haben wir mit etlichen des raets fründ und sunderlichen myt Wyker Frosse89 dem burgermeister geredt, das sie uch zu verstaint geben sollen, wann des zijt sin wirt. und welt zijt ir solichs vernemen werdent, wollent uns zü stunt schriben, das wir uns auch danach richten mog. Datum ipso die beati Lüce ewangeliste anno domini etc. liiijo. 86 Die im Siebengebirge auf dem gleichnamigen Berg gelegene Burg Löwenburg (bei Bad Honnef), die ursprünglich um 1200 durch die Grafen von Sayn errichtet worden war und in der Mitte des 15. Jahrhunderts durch Erbfall zumindest kurzfristig in den Besitz Graf Philipps II. von Nassau-Saarbrücken (über die Heirat mit Margareta von Loen [† 1446], einer Tochter Johanns III. zu Heinsberg und Löwenberg) gelangt war. 87 Wohl zu identifizieren mit den vom 10. Juli 1454 (Wiener Neustadt) datierten Ladungsschreiben Kaiser Friedrichs III. zu der auf den 29. September 1454 nach Frankfurt anberaumten Reichsversammlung: RTA 19/2, Nr. 2,4 I, S. 119–123. 88 Siehe hierzu jedoch die einleitenden Ausführungen S. 290 zu diesem Schreiben Graf Philipps II. von Nassau-Saarbrücken. 89 Wohl Wycker Frosch der Ältere († 1487), Ratsherr, Bürgermeister und Schöffe der Stadt Frankfurt am Main.

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III. Wohl in unmittelbarer Reaktion auf die Ergebnisse der reichspolitischen Verhandlungen im Herbst 1454 hatte die Stadt Frankfurt unter dem Datum des 31. Oktober 1454 am gleichen Ort einen allgemeinen Städtetag – den ersten in einer langen Reihe spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Reichsstädtetage90 – auf den 6. Dezember 1454 einberufen91. Im Mittelpunkt der betreffenden Beratungen sollten dabei zentrale kommunale Themenstellungen jener Zeit stehen, die neben dem geplanten Feldzug gegen die Türken auch das Fehdewesen, die Beschwerungen durch die territorialen Landgerichte und die (westfälische) Vemegerichtsbarkeit sowie das Münzwesen berücksichtigten92. Mit Blick auf den Versand der an Freie und Reichsstädte gerichteten Einladungen waren in der Frankfurter Ratskanzlei in diesem Zusammenhang Verzeichnisse der potentiellen Adressaten angelegt worden, zu denen nicht zuletzt auch eine Sonderliste mit den Namen der Städte Mainz, Friedberg und Wetzlar gehörte. Ergänzt wurden die betreffenden Angaben durch den Text einer Cedula, die den entsprechenden Ladungsschreiben jeweils beigefügt werden sollte und den benachbarten Freien und Reichsstädten formelhaft die Gewährung sicheren Geleits durch die Stadt Frankfurt zusicherte93. Und in der Tat wird im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar unter der Signatur „Urkunden Kasten Undatierte Stücke VII fol. 1r“ eine bislang unbekannte, wortgleiche Ausfertigung dieser Cedula aufbewahrt – ein Umstand, der gleich aus mehreren Gründen durchaus bemerkenswert ist: Zum einen ist mit Blick auf die einleitenden Formulierungen (Als wir uch von begeringe[!] der stede frunde zu dem tage off sant Niclas tag nestkomende geschr und bescheiden han) und in Verbindung mit dem Aufbewahrungsort des Schriftstücks von der Annahme auszugehen, dass Wetzlar ebenso wie zahlreiche andere Freie und Reichsstädte ein diesbezügliches 90 In der Forschung hingegen wurde in diesem Zusammenhang lange Zeit auf die im September 1471 in Frankfurt am Main – im Gefolge des Regensburger Großen Christentags (Juni/August 1471) – abgehaltene überregionale Zusammenkunft kommunaler Vertreter verwiesen, die am Beginn der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reichsstädtetage gestanden habe. Siehe hierzu exemplarisch: Gollwitzer: Bemerkungen über Reichsstädte, S. 490; Schmidt: Städtetag in der Reichsverfassung, S. 5–8, 24f., 527; Heinig: Reichsstädte, Sp. 639. – Mit einer Edition der einschlägigen Quellen zur Geschichte des Frankfurter Reichsstädtetags im Dezember 1454: RTA 19/2, S. 815–873. 91 Zu dem in Frankfurt im Dezember 1454 abgehaltenen Reichsstädtetag allgemein: Gemeiner: Regensburgische Chronik, S. 223; Keussen: Politische Stellung der Reichsstädte, S. 60f.; Kraus: Deutsche Geschichte, S. 316; Wübbeke: Militärwesen der Stadt Köln, S. 256; Helmrath: ‚Köln und das Reich‘, S. 24, 26. 92 Nach den Angaben des unter dem Datum des 31. Oktober 1454 ausgefertigten Ladungsschreibens der Stadt Frankfurt an verschiedene kommunale Empfänger im Reich: RTA 19/2, Nr. 27,1, S. 822–828. Siehe hierzu auch: Wübbeke: Militärwesen der Stadt Köln, S. 256; Helmrath: ‚Köln und das Reich‘, S. 26. 93 RTA 19/2, Nr. 27,2c, S. 832f., hier S. 833 [2].

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Ladungsschreiben der Stadt Frankfurt tatsächlich erhalten hatte. Da in diesem Zusammenhang weder eine Originalausfertigung noch eine kopiale Überlieferung quellenmäßig dokumentiert ist, mussten sich entsprechende Überlegungen zuvor auf die Angaben jener Adressatenverzeichnisse stützen, die von der Stadt Frankfurt offenbar im Umfeld des dortigen allgemeinen Städtetags – wohl als Grundlage für den Schriftenversand – angelegt worden waren. Dass darüber hinaus der Frankfurter Geleitbrief scheinbar ungenutzt in Wetzlar verblieben war und im dortigen städtischen Archiv aufbewahrt wurde, mag zum anderen Beobachtungen bestätigen, die von einem Verzicht der Stadt Wetzlar auf eine Beschickung des allgemeinen Städtetags im Dezember 1454 ausgehen94.

*** Schreiben der Stadt Frankfurt mit Gewährung von Geleit zum dortigen Reichsstädtetag im Dezember 1454. o. O. [Frankfurt] o. D. [1454 Ende Oktober bis Anfang Dezember]. Wz aus Wetzlar Historisches Archiv der Stadt Urkunden Kasten Undatierte Stücke VII fol. 1r cop. ch. Länglicher schmaler Zettel in zeitgenössischer Kanzleischrift. Unterhalb des Textes der spätere Archivvermerk mit Bleistift: ca 14. . Druck: RTA 19/2, Nr. 27,2c, S. 832f., hier S. 833 [2].

Auch ersamen lieben frunde.    Als wir uch von begeringe(!) der stede frunde zu dem tage off sant Niclas tag nestkomende ([1454] Dezember 6) geschr und bescheiden han95, so geben wir uwern frunden zu demselben tage – so lange yne off dan geburt zú Franckfort zu sin – gut ungeverlich geleide bij uns in der stat Franckfort, als unser stat gewonheit steet, ane alle geverde, dach in dem geleide ußgnommen des heilig Richs achte, abe ir darynne weret, darfur wir nit geleit zu geben han.

94 Siehe hierzu ein um den 6. Dezember 1454 entstandenes Verzeichnis der kommunalen Gesandten, die am Frankfurter Städtetag teilgenommen hatten – ohne Erwähnung einer Gesandtschaft der Stadt Wetzlar: RTA 19/2, Nr. 31,1, S. 858. 95 Zu den unter dem Datum des 31. Oktober 1454 ausgefertigten Ladungsschreiben der Stadt Frankfurt zu einem auf den 6. Dezember 1454 in die Reichsstadt am Main einberufenen allgemeinen Städtetag: RTA 19/2, Nr. 27,1, S. 822–828.

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Warten, verhandeln, berichten Die Briefe der städtischen Gesandten vom Regensburger Tag 1471 Malte Prietzel

Für die Forschung zu den Reichstagen sind die Briefe der städtischen Gesandten seit jeher wichtig, denn sie bieten oft wichtige Informationen, die aus anderen Quellen nicht zu ermitteln sind. Weitgehend vernachlässigt hat man jedoch, dass diese Texte auch etwas über ihre Autoren aussagen, denn diese berichten nicht nur über die Geschehnisse, sondern auch über ihre eigenen Tätigkeiten, und sie lassen erkennen, wie sie die Reichsversammlungen wahrnahmen1. Die Briefe der Städteboten vermögen also den Blick auf die Strukturen der Reichsversammlung durch eine akteurszentrierte Perspektive zu ergänzen. Für ein solche Untersuchung – wie für viele andere Fragen – bietet der Regensburger Tag von 1471 reiches Material. Bislang ist es wenig beachtet worden, obwohl der betreffende Band der Deutschen Reichstagsakten seit fast zwei Jahrzehnten vorliegt2. Bekanntermaßen spielte dieser Tag eine herausragende Rolle unter den Reichsversammlungen des 15. Jahrhunderts, freilich nicht hinsichtlich seiner unmittelbaren Ergebnisse, sondern im Rahmen der „Verdichtung“ des Reichs. Weil Kaiser Friedrich III. erstmals seit 27 Jahren ins Binnenreich kam und die Angriffe der Türken Ängste schürten, kamen ungewohnt viele Teilnehmer nach Regensburg, und so manche aus Gegenden, die sich bisher wenig um die Reichspolitik gekümmert hatten. Zugleich zeigten sich neue Ansätze in der Organisation der Verhandlungen3.

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 Einen solchen Ansatz verfolgt anhand von Gesandten am Hof Friedrichs III.: Schwarz: Politische Kommunikation. Ähnlich auch Krieger: Reise. Über städtische Gesandte allgemein zuletzt Jörg / Jucker: Spezialisierung und Professionalisierung. RTA 22/2. Zur reichhaltigen Überlieferung des Tages Meuthen: Regensburger Christentag. Zu Gesandtschaften auf dem Regensburger Tag und deren Berichten: Baumgärtner: Standeserhebung; Kramer: Agostino Patrizzis Beschreibung. – Veraltet ist Reissermayer: Christentag zu Regensburg. Moraw: Neue Ergebnisse, S. 67f.; Annas: Hoftag, Bd. 1, S. 419–435, und Bd. 2, S. 446–470.

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1 Städtische Gesandtschaften in Regensburg 1471 Eingeladen wurden zum Regensburger Tag nicht weniger als 98 Städte4, von denen einige freilich nicht als Reichsstädte und auch kaum als Freie Städte zu bezeichnen waren. Offensichtlich versuchte man wie so oft, alle möglichen Interessenten und potenziellen Geldgeber zu erfassen – durchaus mit Erfolg. In Regensburg erschienen immerhin Vertreter von 50 Freien Städten und Reichsstädten sowie eine Gesandtschaft der Eidgenossenschaft5. Wie üblich verzeichneten die Beamten der Tagungsstadt nicht die Zahl der Gesandten, die eine Stadt zur Reichsversammlung geschickt hatte, sondern die Zahl der Pferde, mit denen die Diplomaten gekommen waren. Da sicherlich mitunter Packpferde mitgeführt wurden, lässt sich die Kopfzahl der Gesandtschaft aus der Liste nicht direkt erschließen. Es fällt jedoch auf, dass die Regensburger Stadtschreiber, wenn sie überhaupt einzelne Mitglieder einer städtischen Gesandtschaft aufführen, fast immer nur einen Namen nennen, selten noch einen zweiten. Dies waren offensichtlich die Männer, die als politisch handelnd wahrgenommen wurden und die man wohl auch persönlich oder wenigstens dem Namen nach kannte6. Die Gesandtschaften waren tendenziell desto größer, je wichtiger die Rolle der jeweiligen Stadt in der Reichspolitik war – und das hieß auch: je wichtiger die Reichspolitik für die betreffende Stadt war. Zugleich wirkte sich die Entfernung einer Stadt zum Tagungsort aus, denn je weiter die An- und Abreise waren, desto länger dauerte das ganze Vorhaben und desto teurer wurde es. Die großen, nicht allzu weit von Regensburg gelegenen Reichsstädte Augsburg, Ulm und Nürnberg schickten 40, 36 bzw. 30 Pferde. Aus den entlegenen Reichsstädten Aachen und Goslar kamen nur zwei Pferde, ebenso viele aus dem näheren, aber kleinen Gengenbach im Schwarzwald, aus Nordhausen, Mühlhausen und Metz je drei7. Aber immerhin sandten diese Städte jemanden nach Regensburg. Auch sie nahmen die Reichspolitik jetzt offensichtlich wichtiger als bisher, trugen zur „Verdichtung“ des Reiches bei. Bei fünf von den 50 städtischen Gesandtschaften sind Briefe an den Rat der Heimatstadt erhalten: Augsburg, Frankfurt, Köln, Nördlingen und Nürnberg8. Außerdem sind vom Gesandten der Stadt Speyer Dr. Thomas Dorrenberger zwei Texte erhalten, bei denen es sich wohl um Auszüge aus zwei Briefen handelt. Sie wurden

4 Ebd., Bd. 2, S. 459f. Allgemein zu den Städten auf Reichsversammlungen Isenmann: Städte. 5 RTA 22/2, S. 547f.; vgl. Annas: Hoftag, Bd. 2, S. 468–470. 6 RTA 22/2, S. 547f. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 496–506 und S. 700–734.

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angefertigt, weil ihr Inhalt historiographisches Interesse fand9. Für eine Analyse des Briefverkehrs zwischen dem Gesandten und dem Rat kommen sie kaum in Betracht. Besonders interessant sind hingegen die Schreiben des Nördlinger Gesandten, weil dieser deutlich mehr Briefe schrieb als seine Kollegen aus anderen Reichsstädten. Sie werden daher genauer betrachtet. Die Briefe aller städtischen Gesandten, ob zu Reichsversammlungen oder zu anderen Verhandlungen, verdanken ihre Entstehung und ihre Aufbewahrung letztlich dem Umstand, dass die Städte von Räten regiert wurden, also von kollegial entscheidenden Gremien, deren Mitglieder nicht alle gleichzeitig auf Reisen gehen konnten. Die Räte schickten zu politischen Verhandlungen daher einen oder mehrere Gesandte, beharrten aber auf der kollegialen Beschlussfassung. So erhielten die Diplomaten meist eine eingeschränkte Vollmacht, sie mussten den Stadtrat zumindest über unvorhergesehene Wendungen auf dem Laufenden halten und spätestens nach ihrer Reise Rechenschaft ablegen. Deshalb schrieben sie Briefe oder Schlussberichte; der Rat archivierte diese Schriftstücke. Unter anderem äußerten sich die städtischen Gesandten auch darüber, wie sie mit ihren Kollegen aus anderen Städten über eine gemeinsame Position zu den jeweils relevanten Fragen verhandelten und wie sie diese Position dann gegenüber den Fürsten zu vertreten suchten. Diese Abschnitte sind für das Verständnis des Geschehens auf den Reichsversammlungen sehr wichtig, zumal über die Beschlussfassung unter den Fürsten wenig bekannt ist. Denn Fürsten nahmen an Verhandlungen, die sie für wichtig hielten, persönlich teil, wenn es irgendwie möglich war. Wenn sie nur einen Gesandten schickten, dann war dieser nur ihnen gegenüber verantwortlich und von ihnen abhängig. Eine umfangreiche schriftliche Dokumentation der Vorgänge, zumal über längere Zeiträume, war damit für Fürsten kaum nötig10.

2 Nördlingen Am 3. Mai 1471 erreichte Paul Berger, der Gesandte der Reichsstadt Nördlingen, den vorgesehenen Tagungsort, wo er zugleich die kleine Reichsstadt Bopfingen vertrat11. Die Regensburger Quartierlisten verzeichnen die Nördlinger Gesandten mit 12 Pferden, doch sind darin die gewappneten Reiter eingeschlossen, die unter der Führung zweier anderer Ratsherren nach Passau ritten und dort mit den Kontingenten ande9

Ebd., S. 505f., 17. Juni 1471 (Ankunft Friedrichs III. in Regensburg und die Heilig-Geist-Messe), S. 724–729, nach dem 20. Juli 1471 (Rechtfertigung für das Verhalten Speyers gegenüber Pfalzgraf Friedrich). 10 Spengler: Nürnberger Tag von 1431, S. 43f.; Isenmann: Städte, S. 547. 11 RTA 22/2, S. 547, Z. 10f., vgl. S. 706, Z. 33f. Zu Nördlingen im 15. Jh. Bátori: Ratsräson, S. 86–89.

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rer Reichsstädte als Ehrengeleit auf den Kaiser warteten. Berger blieb mit nur zwei Begleitern in Regensburg, wenigstens bis zum 17. August 1471, wahrscheinlich aber noch etwas länger, denn insgesamt dauerte seine Gesandtschaft 16 Wochen und vier Tage. Dabei fielen Kosten von rund 160 Gulden an, die ihm der Rat später erstattete12. Aus Regensburg schrieb der Gesandte 19 Briefe, die sämtlich erhalten sind. Die Schreiben folgten aufeinander im Abstand von höchstens sieben oder acht Tagen, manchmal sandte Berger schon nach zwei oder drei Tagen erneut eine Nachricht in die Heimatstadt, einmal sogar an zwei Tagen nacheinander. Der Rat schickte seinem Gesandten ebenfalls Briefe, doch sind diese nicht erhalten13. Die Anzahl und Frequenz der Briefe erklärt sich vor allem aus der günstigen Verkehrsverbindung. Von Nördlingen bis Donauwörth und dann auf der Donau hinab bis Regensburg sind es nur rund 150 Kilometer. Ein Brief dürfte also in dieser Richtung nur drei oder vier Tage gebraucht haben, flussaufwärts vielleicht etwas länger14. Der Gesandte konnte also den Stadtrat schnell informieren, bald eine Antwort erhalten und dann auf die aktuelle Lage reagieren. Paul Berger zählte zur Nördlinger Führungsschicht. Wie sein Vater und sein älterer, früh verstorbener Bruder wurde er Mitglied des 16-köpfigen Alten Rats, d. h. jenes Gremiums, dessen Mitglieder auf Lebenszeit gewählt und nicht wie diejenigen des gleich großen Zunftrats direkt von den einzelnen Zünften gestellt wurden. Schon bald ging Berger im Auftrag seiner Kollegen auf Reisen, und öfter als nahezu alle anderen Nördlinger Ratsherren. Zwischen 1451 und 1477 war er in fast jedem Jahr mehrfach in diplomatischen Missionen unterwegs – und zwar unentgeltlich; die Ratsherren erhielten für ihre Reisen im Allgemeinen nur das „Reitgeld“, das heißt, lediglich die Spesen wurden ersetzt. Erfahrungen sammelte Paul Berger vor allem in Verhandlungen mit anderen süddeutschen Städten, aber auch mit Kaiser Friedrich III., an dessen Hof er 1470 sieben Wochen verbrachte15. Außerdem besuchte er die Nürnberger Reichsver12 RTA 22/2, S. 548, Z. 10f., vgl. S. 565, S. 64f. (Quartierlisten); S. 500, Z. 15f. (so lig ich selbtrit auch zu Regenspurg); S. 442–446, S. 921, Z. 9–33; vgl. S. 432–435 (Ehrengeleit der Nördlinger); S. 710 (letzter Brief), S. 945 (Erstattung der Spesen). 13 Ebd., S. 498–503, S. 704–710. Der letzte Brief stammt nicht (wie alle anderen) von Bergers Hand, doch ist der Text offensichtlich von ihm. Erwähnungen von Briefen des Rats an Berger: ebd., S. 500, Z. 26f.; S. 501, Z. 44; S. 503, Z. 14; S. 704, Z. 24; S. 705, Z. 2; 706, Z. 7; S. 707, Z. 14; S. 708, Z. 8; S. 709, Z. 23. 14 Am 15. Mai 1471 bestätigte Berger dem Rat den Erhalt eines Schreibens vom 11. Mai, am 9. Juni den Erhalt eines Briefs vom 5. Juni. Ebd., S. 500, Z. 26f., S. 503, Z. 14. 15 Zur Ratsverfassung sowie zu Paul Berger, seinem Vater und Bruder vgl. Bátori: Ratsräson, S. 87–90, S. 101. Zu den Ratsherren als Gesandten: ebd., S. 99–108; Jeckel: Integrationsmechanismen. Zu den Beziehungen zwischen Friedrich III. und Nördlingen Heinig: Kaiser Friedrich III., Bd. 3, S. 1029– 1036.

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sammlungen von 1466 und 1470. In Regensburg traf er wohl viele Männer wieder, die er schon kannte16. Mit Sicherheit war Berger bei einem der wichtigsten Reichspolitiker dieser Jahre bekannt: Markgraf Albrecht Achilles von Brandenburg. In dessen Begleitung kam er in Regensburg an, und den ersten Brief, den er aus Regensburg in seine Heimatstadt schrieb, sandte mit einem Boten, der offenbar vor allem einen Auftrag des Markgrafen erledigen sollte17. Wenigstens einmal sprach Berger mit Albrecht über Nördlinger Angelegenheiten18. Schon am Tag nach der Ankunft meldete Berger nach Nördlingen, dass bislang kaum Besucher des Tags anwesend seien. Zudem wusste er Genaueres über die Baumkircher-Fehde, deren Nachwirkungen den Kaiser in der Steiermark festhielten. In Regensburg diskutiere man viel darüber, ob diese Geschehnisse nicht höchst ungünstig für die Reichsversammlung sein würden, teilte Berger seinen Kollegen daheim mit. Darüber gebe es viel Gerede, aber es sei nicht nötig es wiederzugeben19. Fünf Tage später und abermals vier Tage darauf sandte er weitere Briefe mit nahezu denselben Informationen nach Nördlingen, offensichtlich beunruhigt, weil ihm seine Ratskollegen noch nicht geantwortet hatten20. Gewiss aufgrund seiner eigenen Erfahrung beurteilte er das Verhalten Friedrichs III. kritisch: Der Kaiser sei halt immer noch der Alte; er werde sich treu bleiben und auf niemanden Rücksicht nehmen21. Trotz aller Skepsis berichtete der Gesandte immer wieder über die Frage, ob und wann Friedrich III. wohl käme. Als er endlich mitteilen konnte, man bereite schon die Unterkünfte für den Hof vor, seufzte er, es werde auch Zeit22. Das Ausbleiben des Reichsoberhaupts war aus gutem Grund das wichtigste Problem für alle, die in Regensburg zusammenkamen. Nur wenn Friedrich III. anwesend war, würden auch viele Fürsten und Gesandte kommen und dort bleiben, und beides 16 Annas: Hoftag, Bd. 2, S. 435. Die Nürnberger Kanzlei schrieb nach Ulm, sie schicke den Abschied des Tages auf Anregung von Paul Berger aus Nördlingen, der alsbald ander sachen halb hie gwesen ist und begert hat, ewer liebe den zu verkunden. RTA 22/1, 253, Z. 15–17, 22. Sept. 1470. Berger war also bei einigen Nürnbergern und Ulmern bekannt. 17 Der Bote reiste von Regensburg über Ansbach nach Nördlingen, also auf einem Umweg, und er musste von den Nördlingern, wie Berger festhielt, nur für die Strecke ab Ansbach bezahlt werden. Ebd., S. 499, Z. 13f. 18 Ebd., S. 500, Z. 28, 15. Mai 1471. 19 … wen es beschechen an dem ende gar mancherlai wort, da nit not tut, vil darvon ze schreiben. Ebd., S. 499, Z. 11f. 20 Ebd., S. 499f., 9. und 13. Mai 1471. 21 … und furwar, er ist der alt kaisser Fridricht und ich getru im wol, er belib es und ker sich an nemans. Ebd., S. 500, Z. 6f., 13. Mai 1471. Ähnlich pessimistisch über Friedrichs Verhalten: ebd., S. 501, Z. 27f. 22 Ebd., S. 500, Z. 40, bis S. 501, Z. 9, 15. Mai 1471; ebd., Z. 19–28, 20. Mai 1471; S. 502, Z. 1–8, 29. Mai 1471; ebd., Z. 27–32, und S. 503, Z. 4–7, 1. Juni 1471; ebd., Z. 26–29, 9. Juni 1471.

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wiederum waren Voraussetzungen dafür, dass die Versammlung überhaupt irgendwelche Beschlüsse – und erst recht wirksame – fassen konnte. Berger war sich über diese Sachverhalte völlig im Klaren. So schrieb er, das bisherige Fernbleiben des Kaisers sei für jeden Christen und besonders für jeden, der bislang zum Reich gestanden habe, eine schreckliche Sache. Später hieß es, alle langweilten sich in Regensburg; wenn der Kaiser nicht käme, wäre das schlecht für viele und für die ganze Christenheit23. Zugleich versuchte Berger, aus dem Ausbleiben des Kaisers praktische Konsequenzen zu ziehen. Schon zehn Tage nach seiner Ankunft wies er den Nördlinger Rat darauf hin, dass sein Aufenthalt in Regensburg teuer sei. Besser wäre es, wenn er heimreiste und sich wieder an den Tagungsort begäbe, wenn der Kaiser da sei. Das gelte umso mehr, als sich bei den Gewappneten, die Nördlingen nach Passau gesandt hatte, zwei weitere Ratsherren befänden. Dieses Ansinnen wiederholte Berger mehrfach, aber vergeblich24. Es ging ihm nicht nur um das Geld, das er ausgab. Vielleicht störte es ihn, dass er sich nicht um seine eigenen Geschäfte kümmern konnte, während er für den Rat auf Reisen war. Vor allem erklärt sich seine Unzufriedenheit aber daraus, dass er meinte, in Regensburg wenig erreichen zu können, ja unnuzlich zu sein, solange der Kaiser nicht da sei. Den anderen Fürsten und Gesandten ging es ähnlich, wie er schrieb: Allen werde die Zeit lang25. Endlich, am 16. Juni, erschien Friedrich III. Am übernächsten Tag wurde im Dom eine Heilig-Geist-Messe gehalten, wie es zur Eröffnung der Verhandlungen üblich war. Diese wichtigen Neuigkeiten übermittelte Berger sofort nach Nördlingen. Er fügte hinzu, der Kaiser habe sich vor allen Leuten ganz rege verhalten und sich allen gezeigt. Friedrich verhielt sich also, wie Berger es von einem Herrscher erwartete. Das galt ihm als gutes Zeichen. Hoffnungsvoll seufzte er, Gott möge dafür sorgen, dass jetzt gehandelt werde und alles gut werde26. Immer wieder erwähnte Berger, welche Fürsten kamen und welche Städte Gesandte schickten, wer fehlte und wer schon wieder weg war. Nur einmal, als er dem Nördlin23 … und ist virwar allen kristgelaubingen und sundern, die bisher am reich gehangen und gehorsam sind gewessen, ein erschreckenlich sach. got fuge es zu guttem. Ebd., S. 500, Z. 9–11, 15. Mai 1471. … den virwar es ist ganz kain kurzwil nach und an dem end, und gand die leit gegen und füreinander sain, wer es in der karwuchen, und ist eiderman die zeit lank, und send die von Regenspurg auch nit fast gucz eicz. wen beleibt der kaisser aus, so müss etlicher der kurchwich verderben und ist furwar der kristenhait ein erschreckenlich sach. got schick es zu guttem. Ebd., S. 503, Z. 7–11, 1. Juni 1471. 24 Ebd., S. 500, Z. 16–22, 13. Mai 1471; S. 501, Z. 32–39, 24. Mai 1471; S. 502, Z. 10f., 29. Mai 1471; vgl. folgende Anm. 25 Ebd., S. 502, Z. 32–38; S. 503, Z. 9, 1. Juni 1471. 26 … und sich der kaisser virwar gar regerlich und offenbarlich gebart und sich sechen lassen. Got wol, dass es dan gehandelt werd, das da gut si. Ebd., S. 704, Zitat Z. 12–14, 18. Juni 1471.

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ger Rat eine Liste der Anwesenden zusandte27, ging es ihm um ein vollständiges Bild. Sonst erwähnte er nur einzelne Personen oder Gruppen, deren Verhalten für den Nördlinger Rat und dessen Gesandten besonders interessant war. Im ersten Brief berichtete Berger, dass nur wenige Fürsten und von den städtischen Vertretern nur diejenigen von Aachen, Speyer und Frankfurt anwesend waren28. Für Nördlingen war dies ein Grund zu Besorgnis, denn nur im Verbund mit anderen Kommunen konnte die Stadt sich Gehör verschaffen. Später hob er hervor, dass die fränkischen Städte noch keine Abgesandten geschickt hätten. Das betraf vor allem das große, mächtige Nürnberg, dessen politisches Gewicht für die Städte von großer Bedeutung sein würde. Als die Nürnberger schließlich in Regensburg ankamen, ihr Ehrengeleit ein wenig dort blieb und dann nach Passau weiterritt, vermerkte Berger dies wiederum29. Später teilte er mit, der Graf von Sulz werde heimreiten, und andere täten es ebenfalls. Da der Graf der Hofrichter von Rottweil war, kannte man ihn in Nördlingen sicherlich. Berger hatte mit ihm am Abend vor Absendung des Briefs sogar zu Abend gegessen. Eine Woche später meldete der Gesandte, der Graf von Öttingen wolle heimreiten30. Da der Besitz des Grafen um Nördlingen herum konzentriert war, kannte man ihn dort ebenfalls. Ein paar Zeilen war Berger auch die Erwähnung wert, dass Markgraf Albrecht in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai seine Räte heimgeschickt habe; das müsse etwas bedeuten, vielleicht habe er Aufträge vom Kaiser erhalten. Notiert wird auch die Ankunft des Erzbischofs von Trier und des Markgrafen von Baden am 8. Juni; beide waren reichspolitisch wichtige Personen. Aus diesem Grund erwähnte Berger auch, dass die beiden Herzöge von Sachsen am 11. Juli in Regensburg angekommen seien. Außerdem war ihr Einritt eine Attraktion: So schön wie ihr Zug sei kein anderer gewesen. Für Aufsehen erregend hielt der Gesandte auch die Verleihung der Regalien an den Landgrafen von Hessen, die am 24. Juli stattfinden sollte31. Am 16. Juli teilte Berger mit, die Gesandten von Konstanz, Ravensburg, Lindau, Isny und Leutkirch hätten Regensburg verlassen32. Das war wohl als Hinweis zu verstehen, dass die ersten Reichsstädte das Interesse verloren hatten und der Tag zu Ende ging. Drei Wochen später schlug Berger seinen Kollegen vor, ihn zurückzurufen. Peter Gamp, sein wichtigster Verbindungsmann am kaiserlichen Hof, sei bereit und fähig, 27 Ebd., S. 500, Z. 31f., 15. Mai 1471. 28 Ebd., S. 499, Z. 4f., 4. Mai 1471. 29 Ebd., S. 500, Z. 20–22, 13. Mai 1471; S. 501, Z. 11f., 15. Mai 1471; ebd., Z. 30f., 20. Mai 1471; S. 502, Z. 8f., 29. Mai 1471. 30 Ebd., S. 500, Z. 14f., 13. Mai 1471 (Graf von Sulz); S. 501, Z. 28f., 20. Mai 1471 (Graf von Öttingen). 31 Ebd., S. 502, Z. 40–42, 1. Juni 1471 (Markgraf Albrecht); S. 503, Z. 22f., 9. Juni 1471 (Trier und Baden); S. 706, Z. 28f., 11. Juli 1471 (Sachsen), S. 707, Z. 22f., 24. Juli 1471 (Hessen). 32 Ebd., S. 707, Z. 10–12, 16. Juli 1471.

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die Nördlinger Angelegenheiten in Regensburg allein zu regeln33. Zwei Tage später wies Berger abermals darauf hin, dass es nun genug sei: Fast alle städtischen Gesandten seien schon abgereist. Außerdem müsse der Rat über den Abschied zur Türkenfrage informiert werden, denn dies sei für die Stadt wichtig. Klar war, dass dies nur durch Berger geschehen konnte. Tags darauf wiederholte er seine Mahnung, und er fügte hinzu, die Städte wollten über die Folgerungen, die aus dem Abschied zu ziehen waren, in Frankfurt beraten34. Unausgesprochen blieb, dass man dazu die Regensburger Entscheidungen genau kennen musste – und gemeint war wiederum: dank Berger. Endlich hatte sein Drängen Erfolg. Knapp zwei Wochen später muss er Regensburg verlassen haben35. In den vielen Wochen am Tagungsort gab es viel für Berger zu tun. Mehrere Rechtsstreitigkeiten mussten geklärt werden. Der Gesandte berichtete stets nur recht knapp von seinem konkreten Vorgehen; offensichtlich ging er davon aus, dass der Nördlinger Rat über diese Fälle gut informiert war. Außerdem dienten solche Mitteilungen nicht nur der Information zur Sache; sie belegten auch die Pflichterfüllung des Gesandten. Soweit ersichtlich ist, ging es jeweils darum, die Interessen der Bürger, vor allem der Handel treibenden, gegenüber Fürsten und anderen Städten zu vertreten. Berger nutzte also für die Klärung von Problemen, die für Reichsstädte immer wieder auftraten, die Anwesenheit von Vertretern der Gegenseite und von potenziellen Vermittlern. So sprach er mehrfach mit Markgraf Albrecht und dem Erzbischof von Mainz wegen mehrerer Konflikte, die er nur mit den Namen der Kontrahenten benennt; einmal kam es dabei zu einer „turbulenten Audienz“36. Wegen eines Lorenz Bogner hatte Berger mit Herzog Albrecht von Bayern zu verhandeln. Diese Angelegenheit war heikel, weil das Verhältnis zu den nahen bayerischen Gebieten wichtig für den Nördlinger Handel war. Obendrein waren die bayerischen Herzöge aufs Ärgste zerstritten. Neuigkeiten über die ebenso skandalösen wie spektakulären Vorgänge teilte Berger seinen Kollegen in diesem Zusammenhang mit37. Die Ankunft des Kaisers und seines Hofes änderte die Lage für Berger grundlegend, denn nun musste und konnte er nicht mehr nur auf Verhandlungen mit seinen Kon33 34 35 36

Ebd., S. 708, Z. 38–40, 6. Aug. 1471. Ebd., S. 709, Z. 14–16, 8. Aug. 1471; ebd., Z. 36, bis S. 710, Z. 2, 9. Aug. 1471. Vgl. oben zu Anm. 12. RTA 22/2, S. 499, Z. 13, 4. Mai 1471 (Rechlinger von Augspurg); S. 500, Z. 27f., 15. Mai 1471; S. 501, Z. 16, 20. Mai 1471 (Hans Braier oder Brenner und dessen Mittäter sowie Simon von Steten); S. 500, Z. 22, 13. Mai 1471; S. 501, Z. 28, 20. Mai 1471; S. 502, Z. 1, 29. Mai 1471 (Hans Feucht); S. 503, Z. 16, 9. Juni 1471 (Feucht und Brenner); ebd., S. 502, Z. 10, 29. Mai 1471 (Derczsbach). Zur Angelegenheit von Hans Feucht: RTA 22/2, S. 945, Z. 27 und 30, S. 946, Z. 10 und 13; Heinig: Kaiser Friedrich III., Bd. 3, S. 1030, Anm. 582; S. 1033, Anm. 590, S. 1035. 37 RTA 22/2, S. 503, Z. 17–22, 9. Juni 1471.

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trahenten setzen. Jetzt bestand die Aussicht, dass die Streitigkeiten, die ihn beschäftigten, durch das kaiserliche Kammergericht entschieden würden oder dass der Kaiser eine Urkunde ausstellte, die Nördlingen bei der Erlangung seiner behaupteten Rechte unterstützte. Freilich standen diese Wege auch den Kontrahenten offen. Der Gesandte musste also nicht nur eigene Initiativen ergreifen, sondern zugleich verhindern, dass seine Gegner Erfolge verzeichneten. Berger stellte schleunigst Kontakt zu Angehörigen des kaiserlichen Hofs her, die er wahrscheinlich von seinem letztjährigen Aufenthalt am Hof kannte. Schon am 21. Juni berichtete er von Unterredungen mit vier hochrangigen Amtsträgern: Peter Gamp, Dr. Johannes Keller, Bertold Happe, Dr. Matthias Scheit38. Besonders eng war Bergers Zusammenarbeit mit Gamp, denn er wollte nicht nur von dessen juristischen Fachkenntnissen profitieren, sondern auch von seinem Einblick in die Verfahren, die am Hofgericht liefen. Einmal legte Gamp sogar einen Ratschlag schriftlich nieder, und Berger sandte das Schriftstück nach Nördlingen39. Hoffnung auf die kaiserliche Gerichtsbarkeit setzte Berger allerdings bald nicht mehr. Er fürchtete vielmehr – zu Recht, wie sich zeigen sollte –, dass der Kaiser in Regensburg zu sehr beschäftigt sei und sich nicht um die Fälle kümmern könne, die am Kammergericht anhängig seien40. Überhaupt ging es nicht recht voran, obwohl sich der Nördlinger Gesandte von Ende Juni bis Anfang August redlich abmühte. In der Sache Lorenz Bogner konnte er immerhin mit dem Herzog von Bayern-München sprechen – aber wohl ohne Ergebnis. Im Fall eines Jakob Kemrer kam Berger nicht voran, denn der Herzog reiste ab, bevor er ihm einen Brief des Stadtrats übergeben konnte. Ein paar Tage später war dann immerhin eine kaiserliche Urkunde in Arbeit. Weitere Gespräche mit Peter Gamp und Martin Mair sowie einem Jörg von Wangen brachten die Angelegenheit nicht voran41. Ähnliches galt auch für die Angelegenheit Hans Feucht, in der sich Hans von Talheim mehrfach als Vermittler angeboten hatte. Außerdem überlegten Berger und seine Nördlinger Kollegen, für Bertold Happe eine Vollmacht auszustellen, damit er sich um die Angelegenheit kümmern konnte42. Neben alledem musste Berger sich auch noch damit beschäftigen, dass Dr. iur. utr. Lorenz Schaller von Feucht38 Ebd., S. 704, 21. Juni 1471. Zu den Genannten: Heinig: Kaiser Friedrich III., S. 756–758 (Gamp), S. 123–134 (Keller), S. 1688 (Happ). 39 RTA 22/2, S. 705f., 30. Juni 1471; S. 706, 8. Juli 1471; S. 707, 24. Juli 1471, S. 708, Z. 8–11, 2. Aug. 1471 (zum Gutachten). 40 Ebd., S. 706, 11. Juli 1471. 41 Ebd.; ebd., S. 706, Z. 41, 16. Juli 1471; S. 707, Z. 15f., 24. Juli 1471. Zum Fall Kemrer: Heinig: Kaiser Friedrich III., Bd. 3, S. 1033, Anm. 598. 42 Ebd., S. 706, Z. 18f., 11. Juli 1471; S. 709, Z. 35, 9. Aug. 1471 (Feucht); S. 709, Z. 12–14 (Happe), Z. 16f. (Talheim), 8. Aug. 1471.

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wangen, der zum Gefolge Albrechts von Brandenburg zählte, eine Leibrente in der beträchtlichen Höhe von 50 Gulden erwerben wollte und deswegen bei seinem Nördlinger Kollegen anfragte43. Zu allem Überfluss tauchten neue Probleme auf. In Steinheim an der Donau, das heute zur Stadt Dillingen gehört, waren offensichtlich Nördlinger Handelsprivilegien verletzt worden. Berger erfuhr, dass Graf Ludwig von Oettingen, Johannes Feucht und Johannes Kellner am 28. Juli 1471 wegen des Markts von Steinheim beim Erzbischof von Mainz gewesen waren. Umgehend sprach er selbst mit dem Prälaten, der ihm zusagte, die Angelegenheit vor den Kaiser zu bringen. Berger berichtete dem Stadtrat, er warte stündlich darauf, die Angelegenheit Friedrich III. vorzutragen. Pessimistisch fügte er jedoch hinzu, der Hof sei so wie immer, niemand könne dort dem anderen vertrauen44. Tatsächlich konnte er tags darauf, wie er selbst verkündete, den Kaiser hinlänglich über die Rechte Nördlingens informieren. Dann sprach er darüber abermals mit dem Erzbischof von Mainz, außerdem mit dem Grafen von Oettingen. Vier Tage später versicherte er dem Stadtrat abermals, jetzt wisse der Kaiser Bescheid45. Das Problem lag allerdings auch darin, dass zwar einige Tage zuvor eine Verhandlung vor dem Kammergericht abgehalten worden war, aber nicht sicher war, ob das Gericht auch weiterhin tagen würde. Glaubwürdige Personen hätten ihm das immerhin zugesagt, berichtete Berger am 8. August. Schon tags darauf wiederholte er diese Worte, denn ein Brief von seinen Ratskollegen hatte ihn verärgert. Sie hatten ihm geraten, Spezialisten zu konsultieren. Das empfand der Gesandte als beleidigende Zweifel an seinen Fähigkeiten. Er habe stets nach dem Rat verständiger Leute gehandelt und werde es weiterhin tun. Mit kräftigen Farben schilderte er seine Mühen: Jeden Tag sitze und liege er wie ein müder Hund am Hof vor der Tür und warte auf den Erweis kaiserlicher Gnade46. Der Männer mit Fachwissen und anderer wichtiger Personen versuchte sich Berger so zu versichern, wie es üblich war: durch Geschenke. So besorgte er für den Erzbischof von Mainz einen vergoldeten Becher, dessen Wert von 43 ¾ Gulden das Jahreseinkommen der meisten Nördlinger sicher überstieg. Auch der Kanzler des Mainzer Erzbischofs sowie Kanzleibeamte dieses Prälaten und Markgraf Albrechts erhielten von Berger Geschenke; Peter Gamp lud er zum Essen ein47. 43 Ebd., S. 707, Z. 28, 24. Juli 1471. Zu Schaller zuletzt Andresen: In fürstlichem Auftrag, S. 649 (Reg.). 44 […] aber, lieben heren, es ist der alt hoff und kann neman dem andern mügen ze vertruen, angesechen die grossen untreu. RTA 22/2, S. 707, Z. 31–37, 30. Juli 1471, Zitat Z. 36f. 45 Ebd., S. 708, 2. Aug. 1471; S. 708f., 6. Aug. 1471. 46 Ebd., S. 709, Z. 6–12, 8. Aug. 1471; Z. 26–35, 9. Aug. 1471. […] wiewol ich alle tag ze hoff vor der tür sicz und lig als ein verlegner hund und wart der genaden. Ebd., Z. 24f. 47 Ebd., S. 705f., 30. Juni 1471; S. 708, Z. 40, bis S. 709, Z. 2, 6. August 1471; S. 922, Z. 16f. (Ebf. von Mainz); ebd., Z. 11f. (Kanzler des Ebf.s), Z. 18–20 (Kanzleibeamte).

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Jene Angelegenheit, die eigentlich zur Einberufung des Regensburger Tags geführt hatte, die Bedrohung durch die Türken, nahm Berger – wie die meisten seiner Zeitgenossen – sehr ernst. Wiederholt äußerte er die Sorge, dass ohne Anwesenheit des Kaisers in Regensburg dem Reich und der Christenheit großer Schaden drohe48. Als nach der Ankunft Friedrichs III. Neuigkeiten vom türkischen Einfall mitgeteilt wurden, erwähnte der Gesandte die wichtigsten Ereignisse in seinem Brief an den Nördlinger Rat49. Er meinte offenbar, dass seine Kollegen davon wissen sollten. Im Gegensatz zu dieser allgemeinen Sorge steht die Beobachtung, dass Berger die konkreten Verhandlungen über einen Türkenzug selten erwähnte, und wenn, dann nur knapp, und überhaupt nur in Zusammenhang damit die Gespräche über einen Landfrieden. Am 11. Juli schrieb er nur, die Frage des Türkenanschlags sei weiterhin unklar. Fünf Tage später wiederholte er diese Aussage, und er fügte hinzu, dieser Anschlag werde zu Lasten der Städte gehen50. Dies wusste Berger nur zu gut, denn am 13., 14. und 15. Juli hatte er als Vertreter Nördlingens gemeinsam mit seinen Kollegen aus Augsburg, Nürnberg, Regensburg und Ulm im Auftrag aller Städteboten mit Markgraf Albrecht verhandelt. Darüber schrieb er aber kein Wort, während sein Augsburger Kollege darüber ausführlich berichtete51. Wichtiger waren Berger einige Zeilen über Nördlinger Rechtsstreitigkeiten und den Streit zwischen den bayerischen Herzögen52. Dass schließlich ein Anschlag zum Türkenzug und ein Landfrieden am 22. Juli im Regensburger Rathaus verlesen worden waren, teilte er dem Rat bezeichnender Weise erst zwei Tage nach dem Ereignis mit. Auch fügte er lustlos und unpräzise hinzu, er könne hoffentlich bald mitteilen, ob „dies“ Bestand haben werde. Acht Tage später formulierte er ganz ähnlich53. Ganz bezeichnend ist auch, dass Berger mehrfach, wenn er das Thema Türkenzug anschnitt – und nur dann –, dies mit den Worten ankündigte, er schreibe jetzt vom „Tag betreffs des Türken“ oder vom „Türkischen Tag“54. Die Reichsversammlung war in seinen Augen also von dem, was er selbst hauptsächlich in Regensburg tat, deutlich getrennt, und die Verhandlungen behandelte er in seinen Briefen fast, als gingen sie ihn nichts an. 48 49 50 51 52 53

Oben, Anm. 23. RTA 22/2, S. 704, 18. Juni 1471. Ebd., S. 706, Z. 32f., 11. Juli 1471; S. 707, Z. 1–3, 16. Juli 1471. Ebd., S. 731f., bes. S. 731, Z. 44, bis 732, Z. 28. Ebd., S. 706, Z. 18–30, 11. Juli 1471; S. 707, Z. 4–7, 16. Juli 1471. Von des tags halben antreffend den Türgten hat man ein ansclag und einen landfriden eicz auf Maria Magtalene tag auf dem rathuss lassen verlessen; ob aber der also furgan hab, kan ich eicz auf die zeit nit von schreiben, aber ich hoff, eir solt das in kurz bericht werden. Ebd., S. 707, Z. 16–19, 24. Juli 1471. Des Türgischen tags halben, lieben heren, kann ich eicz nit von schriben. ich hof aber, eur solt den handel und sovil und des gebrucht ist, in kurz vernemen. Ebd., S. 707, Z. 37–39, 30. Juli 1471. 54 Vgl. Anm. 53 und Anm. 56.

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Hinter dieser Haltung stand offensichtlich eine Überzeugung, die weit verbreitet war, wohl auch bei seinen Adressaten und den meisten Stadträten, die ihre Vertreter auf Reichsversammlungen schickten. Man meinte, dass die Städte auf die Verhandlungen kaum Einfluss hatten und dass es für sie nur darauf ankam, die finanziellen Zumutungen zu minimieren. Dieser Argwohn erwies sich auch in Regensburg als berechtigt55. Als dann die Entscheidung gefallen war und Aufgebote für den Krieg gegen die Türken gefordert wurden, instrumentalisierte Berger dies für seine Zwecke. Fast alle Fürsten und Städtegesandten seien abgereist, berichtete er nach Nördlingen. Nun müsse der Rat bald über den Abschied des Tages unterrichtet werden, denn Nördlingen und andere Städte seien davon in hohem Maße betroffen. In den drei nächsten Briefen wiederholte er solche Formulierungen, und er verwies darauf, dass ein Treffen von Städtegesandten zwecks einhelliger Stellungnahme angesetzt sei, das man beschicken müsse56. Zur Unterrichtung des Rats und wohl auch zu dessen Vertretung auf der neuen Versammlung war ohne Zweifel Berger selbst am geeignetsten. Er drängte also auf seine eigene Abberufung – und damit hatte er endlich auch Erfolg. Berger befand sich also auf einer Reichsversammlung, aber die Reichspolitik stand für ihn gar nicht im Mittelpunkt. Zum einen war er in Regensburg, weil der Kaiser kommen wollte und er von ihm Entscheidungen zugunsten Nördlingens erhoffte. In dieser Hinsicht dürfte seine Reise nach Regensburg ähnliche Ziele verfolgt haben wie jene vom Vorjahr, die ihn an den Hof des Kaisers geführt hatte. Zum anderen verhandelte er mit verschiedenen Kontrahenten über Streitigkeiten. Dies wäre sonst durch bilaterale Treffen von Abgesandten beider Parteien geschehen. Bei der Reichsversammlung ließen sich mehrere solche Gespräche parallel führen, weil viele Fürsten und Gesandte anwesend waren. Außerdem konnte man besonders leicht auf Vermittler und Fürsprecher zurückgreifen. Tatsächlich aber konnte er keinen Konflikt, den er in Regensburg behandelte, dort beenden. In dieser Hinsicht war sein Aufenthalt kein Erfolg – aber auch kein Misserfolg, denn zumindest hatte sein Einsatz verhindert, dass sich die Gegner Nördlingens dort durchsetzen konnten. Wie Bergers Alltag in Regensburg aussah, wird in den Briefen nur angedeutet, weil sie weitgehend nur von denjenigen Aktivitäten berichten, die als Versuch zur erfolg55 Isenmann: Städte, S. 566, S. 569. 56 Von des Turgischsen tags wegen, der hat eicz sin abschaied und die fursten und der stet sendbotten alle und der mertail abgeschaiden und hinweckt sind. nun wer es ein nottdurft, dass eur waischait verhandlung und abschaid des tags underricht wurde, angesechen dass euch und andern steten gross und vil daran gelegen ist. Ebd., S. 708, Z. 18–21, 2. Aug. 1471. Des tags halben antreffend den landfriden, auch den anschlag wider den Türgten. S. 708, Z. 31f., 6. Aug. 1471. Des Turgteischen tages halben. Ebd., S. 709, Z. 15, 8. Aug. 1471. Des gehalten tags halben antreffend des Türgten. Ebd., S. 709, Z. 36f., 9. Aug. 1471.

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reichen Erfüllung seiner Aufträge präsentabel erschienen. Wenn der Gesandte z. B. schildert, mit wem er in den letzten Tagen Gespräche geführt hat, erweckt das den – sicherlich gewollten – Eindruck, dass er sich anstrengte und seine Sache verstand. Tatsächlich aber waren die Gespräche mit Kontrahenten, Vermittlern und Informanten der geringere Teil der Mühen. Das freilich lässt der Briefschreiber nur an einer Stelle erkennen. Seine Aussage, er habe wie ein Hund vor der kaiserlichen Kanzlei gelegen57, ist übertrieben, verweist aber auf tatsächliche Sachverhalte. Um von der Kanzlei das begehrte Schriftstück zu bekommen, musste er dort immer wieder nachfragen, Angestellte der Kanzlei umgarnen, sich gegen andere Bittsteller durchsetzen, die ihre Angelegenheit erledigt sehen wollten, und – schlichtweg in der Kanzlei warten58. Ähnlich dürfte es gewesen sein, wenn Berger mit einem hochgestellten Mann sprechen wollte. Er musste mit dessen Bediensteten verhandeln, deren Eifer mit jenen Geschenken unterstützen, die er verteilte, in Erfahrung bringen, in welchem Zeitraum er die Gelegenheit zu einem Gespräch hätte, rechtzeitig erscheinen, sicherlich wiederum warten und womöglich abziehen, ohne das gewünschte Gespräch geführt zu haben – und dann am nächsten Tag wiederkommen. Er verbrachte seine Tage also im Wesentlichen mit Warten und mit Versuchen, zu einem Gespräch zu kommen, dass dann vielleicht sein Anliegen beförderte – vielleicht aber auch nicht. Das war zeitaufwendig und frustrierend. Kein Wunder, dass er am Ende Regensburg schnellstens verlassen wollte.

3 Köln Vergleicht man die Briefe des Nördlinger Gesandten mit denen seiner Kollegen aus anderen Städten, zeigt sich zum Ersten, dass auch die Frankfurter und die Kölner Städteboten, von denen Schreiben aus der Zeit vor der Ankunft Friedrichs III. erhalten sind, die zentrale Frage ansprechen, ob der Kaiser wirklich kommen werde59. Sie erwähnten ebenfalls, wer ankam und wer abreiste60, allerdings weniger ausführlich als ihr Nördlinger Kollege. Zum Zweiten mussten sich alle Städteboten außer mit der Reichspolitik mit vielen anderen Angelegenheiten beschäftigen. Diese nahmen sogar einen Großteil ihrer Zeit in Anspruch und fanden meist mehr Aufmerksamkeit in den Briefen als die Verhandlungen über Türkenzug und Landfrieden. Was die konkreten Berichte angeht, zeigen sich in den Korrespondenzen der städti57 Oben, Anm. 46. 58 Plastisch zu diesen Problemen Krieger: Reise. 59 RTA 22/2, S. 496, Z. 28–35, 19. Mai 1471; S. 497, Z. 6–10, 1. Juni 1471; S. 498, Z. 29f. (Frankfurt); S. 504, Z. 7–27; S. 505, Z. 1–3,14. Juni 1471 (Köln). 60 Ebd., S. 496, Z. 5–7 (Frankfurt); S. 504, Z. 14f., 14. Juni 1471 (Köln).

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schen Gesandten unterschiedliche Charakteristika, die von mehreren Faktoren abhingen: zum einen von der politischen Lage der jeweiligen Stadt, zum anderen vom ­Charakter und der Stellung der Gesandten, zum Dritten aber von den Kommunikationsbedingungen – und das heißt vor allem: von der Entfernung zwischen Heimatstadt und Verhandlungsort. Sehr deutlich erweist sich dies, wenn man die Briefe Bergers mit jenen der Kölner Gesandtschaft vergleicht. Anders als Berger konnten die Kölner nicht mit ihren Ratskollegen in regem Austausch stehen, denn die Entfernung zu ihrer Heimatstadt betrug rund 500 Kilometer. Zwei Briefe, die auf den 14. Juni 1471 datiert sind, kamen am 26. desselben Monats in Köln an, also zwölf Tage später61. Die Antwort auf einen Brief konnten die Gesandten also erst nach knapp vier Wochen in den Händen halten – wohl zu spät, um auf Anweisungen noch sachgemäß reagieren zu können. Es war demzufolge zwecklos, den Kölner Rat über die jeweils neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Die Kölner Gesandten schrieben überhaupt nur vier Briefe, und sie erhielten nur zwei von ihren Dienstherren62. Schon die Auswahl der Gesandten verwies darauf, was den Kölner Ratsherren in Regensburg wichtig war: nicht reichspolitische Entscheidungen, sondern die Wahrung konkreter eigener Interessen. Sie sandten nicht einen der ihren nach Regensburg, einen Politiker gewissermaßen, sondern einen Juristen, den doctor decretorum Wolter van Bilsen, und dieser wurde insbesondere von einem Notar aus der städtischen Kanzlei namens Hermann Ysvogel begleitet63. Tatsächlich konzentrierten sich die Gesandten in ihren Briefen und in ihrem Handeln auf die rechtlichen Streitfälle, die sie behandeln sollten. Der Rechtsgelehrte unterrichtete den Rat von seiner Ankunft in Regensburg und den ersten Schritten zur Verfolgung der Kölner Interessen, und das hieß: zur Klärung zweier Streitfälle, die einen Mann namens Bonenkamp und das Gericht von Rottweil betrafen. Der Notar verfasste am selben Tag ein ähnliches Schreiben an seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den Protonotar Reyner van Daelen64. Einige Tage nachdem die Kölner Ratsherren diesen Briefe erhalten hatte, schickten sie an Wolter van Bilsen auf Deutsch (oder genauer: auf Kölsch) einen Brief mit allgemeinen Anweisungen, wie er in Sachen des Rottweiler Gerichts vorgehen solle. Über die Details der juristischen Argumentation in dieser Sache schrieb neun Tage später der Kölner Protonotar einen weiteren Brief an denselben Empfänger, und zwar auf Latein – aufgrund des gelehrten Gegenstands, aber vor 61 Ebd., S. 503–505, bes. 503, Z. 34f., und S. 504, Z. 38. 62 Vgl. Anm. 64–66. 63 Ebd., S. 547, Z. 12, Kölner Gesandtschaft unter Baltherus von Blisia mit acht Pferden. Zum Notar ebd., S. 504f. 64 Ebd., S. 503–505, 14. Juni 1471.

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allem wohl, weil beide studierte Männer waren65. Van Bilsen antwortete beiden Absendern, sobald er ihre Schreiben in den Händen hielt, und informierte sie über die beiden anhängigen Streitsachen. Eher nebenbei erwähnte er gegenüber dem Rat, dass die Städte beim Anschlag zum Türkenzug schwer belastet werden sollten. Dem Protonotar teilte er sogar nur mit, dass er an diesem Tag mit den anderen Städtegesandten „über einige Vorschläge“ (super nonnullis propositis) von Seiten des Kaisers verhandelt habe66. Die Details der Reichspolitik interessierten die Kölner nicht.

4 Frankfurt Ganz anders agierte die Frankfurter Gesandtschaft, der zwei Männer vorstanden: ein Jurist, Dr. iur. utr. Johannes Gelthaus, und ein Ratsmitglied, das aus einer der bedeutenden ratsfähigen Frankfurter Familien stammte, Gilbrecht von Holzhausen. Beide verfügten über einschlägige Erfahrungen, insbesondere durch einen dreimonatigen Aufenthalt am kaiserlichen Hof im Vorjahr67. Aus Regensburg sandten sie sieben Briefe an ihren Rat, fünf davon im Abstand von rund zwei Wochen68. Solange musste man ungefähr auf eine Antwort warten, wenn man von Regensburg einen Brief in das rund 320 km entfernte Frankfurt schickte. Auch dem Frankfurter Rat ging es durchaus um konkrete politische und juristische Ziele der Stadt. So sprachen die Gesandten mit dem päpstlichen Legaten wegen eines päpstlichen Privilegs, das es dem Rat erlauben sollte, baufällige Häuser, auch solche in geistlichem Besitz, abreißen zu lassen69. Vor dem Kaiser und dem Hofgericht ging es um Fragen des Zolls von Mainz, der Frankfurter Juden und der städtischen Steuer sowie um die Sache eines Konrad Wissen. Außerdem hatten Graf Ludwig von Isenburg und einige Adlige die Stadt vor dem kaiserlichen Gericht verklagt, weil die Frankfurter im Umland der Stadt eine neue Warte errichtet hatten, welche die Rechte der Kläger beeinträchtige70. Greifbare Ergebnisse kamen bei alle diesen Verhandlungen offenbar nicht heraus. Von den Verhandlungen über die Türkenhilfe berichteten die Frankfurter recht 65 Ebd., S. 709, 3. Juli 1471. 66 Ebd., S. 711–713, 19. Juli 1471; S. 713f., 20. Juli 1471, Zitat S. 714, Z. 10. 67 Frankfurts Reichscorrespondenz, ed. Janssen, Bd. 2, Tl. 1, S. 256–259 (Nr. 412f., 415f., 418f., 421), danach RTA 22/1, S. 190, Anm. 1. Exemplarisch zu Frankfurter Gesandten Rothmann: Familie der Diplomaten. 68 RTA 22/2, S. 496–498, S. 700–703. 69 Ebd., S. 497, Z. 21–24, mit Anm. 1, und S. 497, Z. 39, bis S. 498, Z. 9. 70 Ebd., S. 498, Z. 10–22 (Zoll), Z. 23–28 (Juden); S. 700, Z. 14f. (alle drei Themen); S. 702, Z. 33, bis S. 703, Z. 7 (Warte); S. 703, Z. 8–15 (Konrad Wissen), Z. 16–27 (Steuer), Z. 36f. (Juden).

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detailliert – im Gegensatz zu ihren Nördlinger und Kölner Kollegen. Am 2. Juli teilten sie mit, dass Friedrich III. die Stellung von 7500 Man zu Fuß und 2500 zu Pferd gefordert habe, und sie schilderten die folgenden Verhandlungen unter den Städteboten und deren Gespräche mit dem Kaiser und den Fürsten. Dabei erwähnten nicht, was sie selbst gesagt und getan hatten. Deutlich aber legten sie Wert darauf, die Haltung und die Beschlüsse der Städtegesandten als einhellig darzustellen. Am Ende dieser Passage erklärten sie ausdrücklich, warum sie so ausführlich geschrieben hätten: Sie wollten den Rat von allen wichtigen Vorgängen unterrichten, seinen Anordnungen nach bestem Wissen Folge leisten und Neuigkeiten weiterhin – schriftlich oder persönlich – so schnell wie möglich mitteilen71. Knapp zwei Wochen später berichteten die beiden Gesandten wiederum sehr genau vom weiteren Verlauf der Verhandlungen. Abermals war es ihnen wichtig, das geschlossene Auftreten der Städteboten zu betonen und zu begründen, warum sie schrieben: Sie hätten diese Dinge dem Rat unbedingt berichten müssen und würden ihn bei ihrer Rückkehr noch genauer unterrichten. Diese Beteuerung wiederholten sie am Ende des Briefs72. Offensichtlich fühlten sich die beiden Gesandten unwohl. Zwar bemühten sie sich, ihre Aufträge pflichtbewusst auszuführen, aber ihre Instruktionen konnten gar nicht jede Eventualität vorsehen. Sie mussten also eigenständige Entscheidungen treffen und sorgten sich begreiflicher Weise, die Ratsherren würden sie deswegen kritisieren. Das galt umso mehr, als der Handlungsspielraum von Holzhausen und Gelthaus wie derjenige aller städtischen Gesandten eng begrenzt war und die Gestellung eines Kontingents zum Türkenzug für die Stadt teuer würde. So versuchten sie, sich abzusichern. Zum einen unterstrichen sie die Einmütigkeit der Städte, was ihnen es ersparte, ihre eigene Haltung – letztlich die Hinnahme des Verlangten – zu vertreten. Zum anderen berichteten sie in ihren Briefen ausführlich über diese Vorgänge, sie versprachen darüber hinaus, nach ihrer Rückkehr genauere Informationen zu liefern, und sie betonten das eine wie das andere ausdrücklich. Der Frankfurter Rat war willens, auf der Reichsversammlung Verantwortung für das Reich zu tragen. Dieses Bestreben dürfte zum guten Teil auf der Einsicht beruhen, dass der politische Einfluss Frankfurts wichtig war, um die wirtschaftlichen Interessen 71 Das wolten uwer ersamkeit wir im besten nit verhalten, sunder gelegenheit der dünge und was uns begeget, das danne uwer ersamkeit bass und weiter danne über lant zu schriben ist, vermerken und, sich darnach richten welle, underrichtung tun. sust wollen wir in ändern sachen uwer bevelhnus nach unsern fliiss tun und uwer ersamkeit, die uns geruche zu gepieten, was uns entstet, schriftlichen oder durch uns selbst, so erst wir mögen, versten lassen. Ebd., S. 700f., 2. Juli 1471, Zitat S. 701, Z. 37–42. 72 Soliche ilung und Veränderung der furnemen, auch gelegenheit disser sachen, die villicht also sin wollen oder müssen oder anders (gott welle gut) werden, wolten uwer ersamkeit wir im besten nit verhalten, uch etlichermass darnach mögen gerichten. doch hoffen wir in unser Zukunft dovon völliger underrichtung zu tun. Ebd., S. 701–703, Zitat S. 702, Z. 28–32.

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der Messestadt effektiv zu verteidigen. Diese Vorstellungen des Rats entsprachen aber nicht den tatsächlichen Möglichkeiten der Gesandten. So bemühten sich diese, ihre Handlungen deutlich zu rechtfertigen.

5 Augsburg Vom Augsburger Gesandten Johann Vittel sind nur zwei Briefe erhalten, die am 4. und am 16. Juli, also im Abstand von 12 Tagen geschrieben wurden. Im ersten dieser Briefe sind zwei weitere erwähnt, die schon früher verschickt worden waren73. Weitere Schreiben dürften auf die erhaltenen gefolgt sein, und mindestens einen Brief sandte der Augsburger Rat nach Regensburg, doch ist dieser ebenfalls verloren74. Aussagen über den Charakter der gesamten Korrespondenz können also nicht getroffen werden. Das erste der beiden Schreiben erwähnt nur kurz, dass in der Turgischen sachen nichts Neues geschehen sei, und wendet sich dann den Verhandlungen im bayerischem Herzogsstreit zu, der Augsburg aufgrund seiner Nähe zu Bayern sehr interessieren musste. Mehr als die Hälfte des Briefs gilt dann verschiedenen Augsburger Angelegenheiten, die in Regensburg zur Sprache kamen75. In seinem zweiten Brief schrieb Vittel wieder über die Lage in Bayern und die Augsburger Angelegenheiten, doch recht kurz und erst am Ende. Der Großteil dieses Schreibens beschäftigt sich hingegen mit den Verhandlungen über jene 4000 Mann, die von den Reichsständen in Franken, Schwaben und Bayern in kürzester Frist gestellt werden sollten, und diese Angelegenheit wird viel eingehender geschildert, als es zum Verständnis der Geschehnisse und erst recht der Ergebnisse nötig gewesen wäre. Besonders wichtig war dem Verfasser, dass die Fürsten schlicht Forderungen an die Städte stellten und diese mit ihren Nachfragen nicht durchdrangen. Insbesondere verweigerte man ihnen Informationen über die Zahl von Kämpfern, welche die weltlichen und geistlichen Fürsten zu stellen hatten. Das legte die Vermutung nahe, dass die Städte übermäßig belastet werden sollten76. Die Städte konnten also mit den Verhandlungen keineswegs zufrieden sein, und der Augsburger Gesandte seinerseits wollte klarstellen, dass dieser unbefriedigende Stand der Dinge nicht ihm anzulasten sei. Wie die Frankfurter Gesandten ging es auch ihm offensichtlich darum, sich durch einen 73 Ebd., S. 729–731, 4. Juli 1471, bes. S. 729, Z. 37f.; S. 731–734, 16. Juli 1471. Vittel ritt zunächst mit dem von Augsburg gestellten Teil des Ehrengeleits für den Kaiser nach Passau. Ebd., S. 450f., 10. Mai 1471. Dort wartete er wohl auf den Kaiser, und erst nach dessen Ankunft kam er nach Regensburg. 74 Ebd., S. 731, Z. 22–24. 75 Ebd., S. 729–731, 4. Juli 1471, bes. 729, Z. 38f. 76 Ebd., S. 731–734, 16. Juli 1471.

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genauen Bericht über die Vorgänge von der Verantwortung für die Ergebnisse zu entlasten.

6 Nürnberg Mehr noch als Frankfurt war Nürnberg an der Reichspolitik interessiert, und vor allem war es deutlich stärker involviert, wie die Briefe der Gesandten Niclas Groß, Jobst Haller und Gabriel Tetzel aus Regensburg zeigen. Sieben Briefe von ihnen sind erhalten; weitere haben existiert, sind aber verloren77. Als einzige Gesandte von Reichsstädten verschlüsselten die Nürnberger ihre Briefe. In den Schreiben geht es durchaus um spezifisch Nürnberger Belange. Ausführlich berichten die Gesandten jedoch auch von der Politik im Reich und denjenigen, die sie gestalteten. Eine lange Passage schildert z. B. das Vorgehen Markgraf Albrechts von Brandenburg bei den Verhandlungen mit den Städten um deren Beteiligung an der schnellen Hilfe78. Während die Gesandten anderer Städte die Politik des ungarischen Königs, insbesondere in Hinblick auf das Königreich Böhmen, nur selten und dann aufgrund von Gerüchten und Hörensagen erwähnten, hatten die Nürnberger bessere Informationen und wussten die Vorgänge besser einzuordnen79. Vertrautheit mit der Politik im Reich zeigen die nürnbergischen Gesandten nicht nur in ihren Schilderungen, sondern sie setzen sie auch voraus. Sie verweisen nicht auf größere Zusammenhänge und länger zurückliegende Vorgänge, sondern beschreiben knapp und präzise, was gerade in Regensburg vorgefallen ist. Die Verfasser dieser Briefe hatten einen weiteren Horizont als die Kölner, Frankfurter, Nördlinger, und sie schrieben für Männer, für die dasselbe galt.

77 Der erste erhaltene Brief, datiert auf den 3. Juli 1471, erwähnt ein vorhergegangenes Schreiben vom 1. Juli, das nicht erhalten ist. Ebd., S. 716, Z. 6f. Es folgen dann Briefe in recht dichter Folge, nämlich vom 6., 15. und 19. Juli. Darauf folgen noch Briefe vom 13. und 14. August. Hier liegt offensichtlich eine Lücke in der Überlieferung vor, zumal am Anfang des Schreibens vom 13. Aug. wiederum ein nicht mehr vorhandener Brief erwähnt wird. Ebd., S. 716–724, bes. S. 721, Z. 23f. Jobst Haller ritt zunächst mit dem Ehrengeleit, das Nürnberg für den Kaiser stellte, nach Passau. Ebd., S. 447–449, 12. und 13. Juni 1471. Dort wartete er wohl auf den Kaiser, und erst nach dessen Ankunft kam er nach Regensburg. 78 Ebd., S. 718f., 15. Juli 1471. 79 Ebd., S. 718, Z. 1–3, 6. Juli 1471 (nach Brief des ungarischen Königs); S. 719, Z. 46, bis S. 720, Z. 1–4 (nach vertraulichen Informationen); S. 722, Z. 15–21, 13. Aug. 1471 (Informationen von polnischen Botschaftern). Dasselbe Thema in Nördlinger Briefen: S. 500, Z. 11–13, 13. Mai 1471 (auch sagt man …); S. 503, Z. 23–26, 9. Juni 1471 (König von Polen „soll“ zum böhmischen König gewählt worden sein). In einem Kölner Brief: S. 505, Z. 18–21, 14. Juni 1471 (ein gemeine gerôcht).

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7 Resümee Die Städteboten hatten einheitliche Kriterien, wenn sie die Erfolgsaussichten einer Reichsversammlung beurteilten wollten: Der Kaiser musste anwesend sein, desgleichen möglichst viele Fürsten und Gesandte. Gemeinsam war ihnen auch, dass keiner der Briefschreiber den Regensburger Reichstag von 1471 als einschneidendes Ereignis auffasste. Den Zeitgenossen blieben die langfristigen strukturellen Entwicklungen verborgen. Klar waren sich die Räte und ihre Gesandten ferner darüber, dass der Einfluss der Städte auf der Regensburger Reichsversammlung gering war. Sie sollten Geld geben, Truppen stellen – aber nicht mitreden. Ihre Klagen darüber waren nicht neu und durchaus berechtigt. Allerdings verweigerten sich die Städte der Einsicht, dass sich die Machtverhältnisse seit dem späten 14. Jahrhundert geändert hatten. Außerdem blendeten sie aus, dass diese Geldzahlungen auch Nutzen brachten, denn durch diese Leistung für das Reich bestätigten die Städte ihren Status als Reichsstadt, sie sicherten also ihre Unabhängigkeit. Was das konkrete Verhalten hinsichtlich der eigentlichen Verhandlungsgegenstände anging, hatten die einzelnen Stadträte und ihre Diplomaten unterschiedliche Auffassungen. Türkenzug und Landfrieden waren für die Kölner eher eine Nebensache. Die Nördlinger waren direkter betroffen, weil sie sehr bald Truppen stellen sollten, scheinen jedoch an den Verhandlungen kaum interessiert gewesen zu sein. Die Frankfurter und Augsburger hingegen sahen sich in den Verhandlungen unter dem Zwang, ihre politische Relevanz innerhalb des Reichs behaupten zu müssen. Die Nürnberger hatten diese Sorge offenbar nicht und blickten über die engeren Themen der Beratungen hinaus. Doch ging es für die Städteboten auf der Regensburger Versammlung nicht nur um die reichspolitischen Probleme, sondern auch um eigene Interessen, die sie nicht weniger wichtig nahmen und deren Verfolgung sie wahrscheinlich viel mehr Zeit und Mühe kosteten. Ähnliches galt auch für die Fürsten. Eine Vielzahl von kleineren Konflikten wurde am Tagungsort angesprochen, sei es in Verhandlungen zwischen den Kontrahenten, sei es vor dem Kaiser und seinem Gericht. Dadurch förderten die Versammlungen der Reichsglieder die politische Integration des Reichs nicht nur direkt, in Hinsicht auf reichspolitische Probleme, sondern auch indirekt, indem sie die politische Verständigung unter einzelnen Reichsgliedern ermöglichten und als Gelegenheit zur friedlichen Konfliktlösung dienten. Außerdem stärkten sie die Stellung des Reichsoberhaupts als obersten Richters insofern, als Friedrich III. um Entscheidungen gebeten wurde. Dafür konnte er Gegenleistungen fordern und günstigenfalls seinen Ein-

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fluss ausweiten. Zumindest wurde auf diese Weise die Ausrichtung der Reichsglieder auf das Reichsoberhaupt ständig aktualisiert. Diese wichtigen Aspekte werden durch die Editionsprinzipien der Reichstagsakten verdeckt, weil dieses Unternehmen sich zwangsläufig auf die Reichspolitik konzentriert und die vielen anderen politischen Themen, die behandelt wurden, dementsprechend eher als Beiwerk zur den eigentlichen Tagungsgegenständen erscheinen. Der Tätigkeit und der Wahrnehmung vieler Reichstagsteilnehmer und ihrer Auftraggeber entsprach das nicht. Das tägliche Erleben der Gesandten deutet sich in ihren Briefen allenfalls an. Wenn der Nördlinger Paul Berger klagte, dass er viel Zeit mit Warten in der kaiserlichen Kanzlei verbringe, ahnten die Empfänger wohl dennoch, was das konkret hieß80. Auch die Kölner Ratsherren verstanden sicherlich, was ihr Gesandter van Bilsen meinte, wenn er schrieb, die Regensburger Versammlung verlange ihm viele Anstrengungen und Mühen ab. So habe er erst spät in der Nacht den Kaiser sprechen können – in dessen Schlafzimmer81. Im Brief an seinen akademischen Standesgenossen, den Kölner Protonotar, formulierte der Jurist prägnant, es gebe viele unnütze Mühen, und manchmal komme er tagsüber kaum zum Essen82. Für die städtischen Gesandten galt es, zu verhandeln und darüber zu berichten. Dazu aber mussten sie sich aufwendig um Gespräche und Verhandlungen bemühen – und immer wieder: warten.

Bibliographie Quellen Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., Abt. 8, Hälfte 1: 1468–1470, ed. Ingeborg Most-Kolbe, Göttingen 1973 (Deutsche Reichstagsakten. Ältere Reihe, 22/1) (=  RTA 22/1). Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., Abt. 8, Hälfte 2: 1471, ed. Helmut Wolff und Gabriele Annas, Göttingen 1999 (Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, 22/2) (= RTA 22/2). 80 Vgl. oben, zu Anm. 46 und Anm. 57. 81 Ich hayn vast groisen vliß gedoen, umb alleyn zo sprechen myt unserm gnedichsten herren den keyser yn uren ind urre burgern saichen. also des neysten donredachs na unser lieven vrouwen dach visitationis neist vurleden, as die kurfurste ind furste van synre keyserliche gnaden orlouff genoemen hadden ind syn gnade yn syn is slaiffkamere gegangen was, byn ich daryn komen zere spaide yn der naicht ind hayn van uren saichen myt synre gnaden gesproichen … Ebd., S. 712, Z. 12–17, 19. Juli 1471. 82 Hic fiunt multi labores inutiles, et revera propter varias occupaciones quandoque in die vix habeo tempus semel commedendi. Ebd., S. 713f., 20. Juli 1471.

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Frankfurts Reichscorrespondenz nebst andern verwandten Actenstücken von 1376–1519, ed. Johannes Janssen, Bd. 2, Tl. 1, Freiburg 1866.

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Malte Prietzel

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Wer hielt am 21. Juni 1529 eine Rede? Die Oratorik des Londoner Eheprozesses Heinrichs VIII. und ihre verzerrte Repräsentation in der Chronik des Edward Hall Jörg Feuchter

Ein Grundproblem des von Johannes Helmrath begründeten Oratorikansatzes1 zur Erforschung der vormodernen politischen Redekultur ist die Fassbarkeit ihres Gegenstandes. Zu den häufigsten Fragen, die an Oratorikforscher gerichtet werden, gehören: Wie steht es eigentlich um die quellenmäßige Erschließbarkeit spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Reden? Sind denn überhaupt Redetexte in nennenswerter Zahl überliefert? Wenn ja, wurden die Reden wirklich mit diesen Texten gehalten, oder handelt es sich um nachträgliche Ausarbeitungen des Orators bzw. um unzuverlässige oder gar verfälschte Erinnerungen der Zeugen? Und können wir auch die Umstände und die Redeperformanz erschließen, also den „heißen Atem der Actio [...] einfangen“2, um mit Johannes Helmrath selbst zu sprechen? Die Actio/Performanz ist ja erst das, was die Rede vom bloßen Text unterscheidet, was ihr ein Mehr an Sinn gibt (oder sogar eine Sinnveränderung bewirken kann), das Publikum unmittelbar anrührt3 und somit die Erforschung einer Redekultur (Oratorik) statt einer bloßen Textkultur erst relevant macht. Dies sind berechtigte und gewichtige Fragen. Doch als ob die Beschäftigung mit der Überlieferung von Redetexten, die Sicherung von deren Authentizität und die Rekon­ struktion historischer rednerischer Performanz nicht schon schwierig genug wäre, 1

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Der Ansatz wird umfassend vorgestellt in der Einleitung zum ersten aus dem Oratorik-Teilprojekt des Berliner Sonderforschungsbereiches 640 „Repräsentationen“ (2004–2013) hervorgegangenen Tagungsband: Helmrath/Feuchter: Einleitung. Helmrath: Humanisten edieren, S. 235. Zumthor: Körper und Performanz, S. 709: „Die Rede ist nicht einfach die Vollstreckerin des Sprachsystems. Sie bestätigt nicht nur nicht vollständig dessen Vorgaben, sondern handelt ihm oft, in ihrer ganzen Körperlichkeit, zu unserer Überraschung und unserem Vergnügen, zuwider“; Hetzel: Performanz, S. 857: „Noch vor jeder Bedeutung spricht uns etwas am bloßen Vollzug des Redens an, wirkt auf uns ein. Die Praxis des Redens selbst, seine Performanz, bleibt unhintergehbar. Letztlich zählt nur, was im entscheidenden Moment, unter den widrigen und ambivalenten Bedingungen des Alltags, gesagt wird. Die Rhetorik [...] fokussiert auf das Hier und Jetzt.“ Weiteres zur Performanz/Actio siehe bei Feuchter: Rednerische Performanz.

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stellt sich mitunter4 sogar ein Problem von noch grundsätzlicherer Natur, nämlich dann, wenn überhaupt nicht klar ist, welche Redeakte überhaupt stattgefunden haben, weil sich die Quellen eklatant widersprechen. Wie soll politische Oratorikforschung möglich sein, wenn wir nicht einmal wissen, wer wirklich sprach? Doch hier soll genau ein solcher Extremfall hinsichtlich der fassbaren Realität von Oratorik behandelt werden. Dabei kann exemplarisch gezeigt werden, dass die Oratorikforschung an der Quellendivergenz nicht scheitern muss, sondern im Gegenteil an ihr wachsen kann. Unser Beispiel ist der vor zwei päpstlichen Legaten geführten Eheprozess des englischen Königs Heinrich VIII. und seiner Frau, Katharina von Aragón, im Sommer 1529 in London, im unmittelbaren Vorfeld des Reformation Parliament (1529–1536). Genauer geht es um den ersten großen Verhandlungstag dieses Prozesses, den 21. Juni. Für den Ablauf dieses Tages liegen nicht weniger als sechs Quellen5 vor: Drei ausführliche Passagen bei dem englischen Chronisten Edward Hall6, bei dem Biographen John Fishers, Richard Hall7 (nicht verwandt mit Edward), und bei dem Biographen von Thomas Wolsey, George Cavendish8, sowie drei kürzere Berichte des französischen Botschafters Jean du Bellay9, des Gesandten Venedigs, Lodovico Falier10, sowie des Legaten Lorenzo Campegio11, der selbst einer der beiden Richter war. Wir haben also drei historiographische sowie drei unmittelbare, zeitnah und für Zwecke der damaligen Gegenwart geschriebene Quellen. Diese gute Handvoll Berichterstatter sind sich jedoch völlig uneins darüber, wer am 21. Juni redete: Nur der König? Nur die Königin? Doch beide? Und dazu John Fisher, der Bischof von Rochester und Hauptverteidiger Katharinas12? Und sprach auch noch Thomas Wolsey, der englische Kanzler, Kardinal, Legat (und somit der zweite Richter neben Campegio)? All das fin4

Für andere Beispiele als das im Folgenden vorgestellte vgl. z.B.: Feuchter: Zur Oratorik, S. 198; Feuchter: Rednerische Performanz, S. 110. 5 In der Vita des John Fisher findet sich eine weitere Schilderung noch aus dem 16. Jahrhundert, die jedoch ganz auf George Cavendish beruht (vgl. Anmerkung des Herausgebers: Vie du bienheureux martyr Jean Fisher, ed. van Ortroy, S. 314, Anm. 1). Sie wird daher hier nicht einbezogen. 6 Hall. Chronicle, ed. Ellis, S. 756-759. 7 Hall. Life of Fisher, ed. Bayne. 8 Cavendish. Cardinal Wolsey, ed. Sylvester. 9 Letters and Papers, ed. Brewer u. a., IV, 5702 (vom 22. Juni, an Franz I. von Frankreich). Du Bellay berichtet die Ereignisse vom 21. Juni anschließend an die des Freitags, 18. Juni, ohne ein neues Datum zu nennen. 10 Calendar of State Papers, ed. Brown, IV, S. 482 (vom 29. Juni 1529). 11 Genauer handelt es sich bei ihm um zwei Berichte in zwei Briefen vom gleichen Tag: Römische Dokumente, ed. Ehses S. 105f. (Nr. 48, an Jac. Salviati), und S. 107–110 (Nr. 49, ebenfalls an Jac. Salviati). Der Herausgeber Ehses deutet (S. 110) die Existenz zweier Briefe an den selben Adressaten am selben Tag so, dass der erste Brief die englische Spionage vom zweiten, gehaltvolleren, ablenken sollte, was offenbar auch gelang. 12 Zu ihm vgl. Dowling: Fisher of Men, und Bernard: King’s Reformation, S. 101–125.

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det sich in der einen oder anderen Quelle, jedoch stimmen keine zwei davon auch nur annähernd überein. Doch so heillos widersprüchlich die Darstellungen des Redegeschehens am 21. Juni auch scheinen, so können hier aber – in Anknüpfung an andernorts dargelegte Überlegungen13 – die Erkenntnischancen genutzt werden, die gerade voneinander abweichende Repräsentationen eines Redegeschehens uns bieten. Zum einen können sehr wohl Schlüsse auf das reale Geschehen gezogen werden. Zum anderen aber birgt es reiche Informationen über Tendenzen einzelner Quellen, aber auch allgemein zeitgenössischer Vorstellungen von vormoderner Oratorik, wie eine Rede verschieden wahrgenommen wurde oder absichtlich anders dargestellt wurde. Mit anderen Worten: Die spezifischen, auch „falschen“ Repräsentationen eines Redegeschehens in ihrer Bedingtheit zu verstehen, kann für die Forschung genauso bedeutsam sein wie der Nachvollzug des wirklichen Redegeschehens. So besteht etwa ein wesentlicher Teil des zu gewinnenden Mehrwerts in diesem Fall konkret darin, dass die Haupt- und oft auch einzige Quelle für die politische Geschichte dieser Zeit und insbesondere für das Reformation Parliament, die Chronik des Edward Hall, sich zwar als unzuverlässig erweist, aber dennoch in ihrer Darstellungsweise von Oratorik besser nachvollzogen werden kann. Dieses Werk soll unten noch genauer vorgestellt werden. Zunächst soll jedoch noch die Bedeutung und der Kontext des Legatenprozess von Mai bis Juli 1529 skizziert werden.

1 Die Bedeutung und Kontext des Legatenprozesses Das zwischen 31. Mai und Ende Juli mit nur wenigen Sitzungstagen geführte Verfahren ist von großem historischem Interesse für die englische Geschichte. Bekanntlich führte es nicht zu dem vom König gewünschten Resultat. Vielmehr scheiterte es an der Unwilligkeit des Papstes, genau wie alle vorangegangenen Bemühungen Heinrichs um eine päpstliche Annulation seiner Ehe unter Berufung auf deren (angebliche) Ungültigkeit wegen der vorherigen Heiratsverbindung Katharinas mit Arthur, dem älteren Bruder Heinrichs († 1509)14. Der Monarch konnte nicht auf Roms Kooperation zählen und auch nicht auf den Einfluss seines Kardinal-Kanzlers Wolsey, sondern musste einen anderen Weg finden. Deshalb ließ er Wolsey bald nach dem Prozess fallen. Vor allem aber berief er alsbald das Reformation Parliament ein. Natürlich erhielt die Versammlung diesen Namen erst später und sie wurde auch keineswegs in der vorgefass13 Vgl. Feuchter: Täter des Wortes, S. 273. 14 Umfassend zum Legatenprozess 1539: Kelly: Matrimonial Trials, S. 77–130.

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ten Absicht konstituiert, Englands Kirche völlig vom Papst zu lösen15. Dennoch geschah in der englischen Reformation genau das, und das Parliament war die maßgebliche Institution, mit der dies durchgesetzt wurde. Im Ergebnis wurde nicht nur der König zum obersten Haupt einer neuen anglikanischen Kirche, sondern es veränderte sich auch das politische Gemeinwesen Englands ganz grundsätzlich. Nach dem Urteil Geoffrey R. Eltons markierte die „Tudor Revolution in Government“16 der 1530er Jahre das Ende der mittelalterlichen Verfassung Englands und den Beginn der modernen17. Es wurde damit eine souveräne nationalstaatliche und ‚parlamentarische‘ Mo­ narchie etabliert, die durch den umfassenden Zugriff der Legislative auf sämtliche Lebensbereiche, darunter eben auch die Religion, gekennzeichnet war18. Der gescheiterte Legatenprozess war aber für das Reformation Parliament nicht nur ein bloßer Anlass, sondern wies auch in vielem bereits auf jene Versammlung voraus und beeinflusste sie direkt. Das Gerichtsverfahren fand nämlich zum einen an demselben Ort statt, an dem auch das Reformation Parliament zusammentreten würde, im Londoner Dominikanerkloster Blackfriars. Zum anderen tagte das Gericht auch vor zahlreichen Mitgliedern der Lords, also vor einem wichtigen und großen Teil der späteren Parliamentsmitglieder. Damit nicht genug: Es hatten auch zwei wesentliche Antagonisten des Reformation Parliament schon beim Legatengericht jeweils große Redeauftritte, nämlich der König selbst sowie John Fisher. Ihre Reden bestimmten sowohl den Verlauf des Verfahrens wie den der Versammlung. Der Prozess war also gerade auch in oratorischer Hinsicht prägend für das Parliament. Seinerseits hatte der Prozess wiederum selbst eine direkte oratorische Vorgeschichte, in Gestalt einer öffentlichen Rede, die Heinrich im November 1528 im Bridewell-Palast gehalten hatte. Damals war der Legat Campegio gerade in England eingetroffen, und Heinrich hatte ihm und seinen eigenen Untertanen mit seinem Auftritt deutlich gemacht, wie ernst er es mit der Absicht meinte, seine Ehe auflösen zu lassen. Wir kommen nach der Vorstellung der Chronik des Edward Hall darauf zurück. 15 Es ist jedoch umstritten, inwiefern Heinrich VIII. bewusst das Parliament einsetzte bzw. wie geplant überhaupt sein Handeln gegen Rom in diesen Jahren war. Während der die Historiographie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägende Geoffrey R. Elton (1921–1994) den König eher als wenig strategisch einschätzte und lediglich Thomas Cromwell die Qualität eines master minds zuschrieb, revidiert George W. Bernard diese Position zugunsten Heinrichs in seiner programmatisch betitelten Monographie von 2005 (Bernard, King’s Reformation). 16 Elton: Tudor Revolution; vgl. Differenzierung des Revolutionsbegriffs beim späten Elton: Elton: England under the Tudors, S. 447f. 17 Elton: England under the Tudors, S. 168: „quite definitely the end of the medieval constitution and the beginning of the modern.“ 18 Dem parlamentarischen Gesetz (Statute) war „no sphere of life closed“ (ebd., S. 167); Thomas Cromwell, für Elton der maßgebliche Akteur der Tudor Revolution, habe gezeigt, „that in law and on earth there is nothing that an act of parliament cannot do“ (ebd., S. 168).

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2 Edward Halls Chronik Der eigentliche Titel der Chronik, „The Union of the two noble and illustre famelies of Lancastre & Yorke, beeing long in continual discension for the croune of this noble realme [...]“19, heute kaum verwendet, verweist bereits auf das Grundthema. Es handelt sich um eine Chronik Englands und seiner Monarchie seit der Thronerlangung Heinrichs IV. (Bolingbroke) aus dem Hause Lancaster im Jahr 1399. Hall führt sie in sieben nach den Königen gegliederten Abschnitten bis zur Gegenwart weiter (Heinrich IV., Heinrich V., Heinrich VI., Edward IV., Richard III., Heinrich VII. und Heinrich VIII.). Besonders hohen Wert hat das Werk für die Zeit, in der sich der Autor auf seine eigene Zeitzeugenschaft stützen kann. Dies entspricht recht genau der Regierungszeit Heinrichs VIII., denn Hall wurde im Jahr 1497 geboren und starb 1547, im selben Jahr wie der König, der nur sechs Jahre älter war als Hall und 1509 den Thron bestiegen hatte. Der Teil zu Heinrich VIII. ist auch bei weitem der umfangreichste in Halls Chronik. Er macht die letzten zwei Fünftel20 aus und bietet nach dem Urteil der Forschung „the most detailed survey of Henry VIII and his rule by any Henrician author“. Die rund 350 Druckseiten gelten als „the chief source“21 für diese Zeit. Auch Shakespeare schöpfte tief aus ihr. Trotz der Bedeutung liegt keine kritische Edition vor. Der Verfasser, Sohn eines reichen Londoner Metzgers, war Rechtsanwalt und hatte eine ausgezeichnete Ausbildung in Eton, King’s College (Cambridge) sowie in Gray’s Inn genossen. Er nahm zeitlebens häufig Funktionen in der öffentlichen Verwaltung wahr, so ab 1533 als Common Sergeant und ab 1535 als Undersheriff für London, d. h. als hoher Beamter in der Judikative und Exekutive der Stadt. Er saß auch als Mitglied der Commons im Reformation Parliament sowie in drei weiteren Parliaments, immer als Burgess für den Bezirk Much Wenlock in der Grafschaft Shropshire an der walisischen Grenze, wobei Halls Bezug dorthin ungeklärt ist. Im Reformation Parliament gehörte er zu den wenigen Universitätsabsolventen. Lehmberg schätzt ihn sogar als vermutlich bestausgebildetes Member of Parliament ein22. Sein großes Werk verfaßte Hall wohl erst ab 1534. Damals erschien nämlich die „Anglica historia“23 des italienisch-englischen Humanisten Polydore Vergil, auf die sich Hall für die Zeit vor Heinrich VIII. meist stützt. Er ergänzt allerdings viele Informationen aus anderen Werken, u. a. aus solchen des Thomas Morus. 19 Hall. Chronicle, ed. Ellis. Zu Autor und Werk vgl. Lucas: Hall, Edward, und Lucas: From Perfect. Auf diese Werke stützt sich, wenn nicht anders vermerkt, das folgende Referat über Hall als Autor. 20 Hall. Chronicle, ed. Ellis, S. 505–868. 21 Lucas: From Perfect, S. 51. 22 Lehmberg: Reformation Parliament, S. 28: „probably the best educated parliamentarian.“ 23 Vergil. Three Books, ed. Ellis. Zum Werk vgl. Rexroth: Polydor Vergil.

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Hall schrieb als „glühender Patriot“ und begeisterter Anhänger Heinrichs VIII.24 Sein historiographisches Hauptziel war neben der mahnenden Erinnerung an die Rosenkriege und der Feier geschichtlicher Siege Englands die Verherrlichung des lebenden Monarchen und dessen Suprematie über die englische Kirche25. Man hat Halls Chronik daher treffend als „Tudor propaganda“26 bezeichnet und zudem als tief antirömisch und antiklerikal eingestellt. Dabei pflegte Hall einen in der englischsprachigen Chronistik völlig neuen, humanistisch inspirierten Stil, der zum einen kausal komponiert, zum anderen aber auch deutlich „literarisch“ arbeitet und dabei gerne fiktive Reden einsetzt27, häufig rhetorische Fragen stellt, auch den Leser direkt anspricht, und lebhaft ist. Markant ist das oft verwendete assertive „yea“ (im Sinne von „jawohl“). Die in den ersten Teilen durchaus vorhandene providentielle Rahmung, in der historische Krisen Englands als Gottesstrafen gedeutet werden, tritt für den zeitgeschichtlichen Teil zugunsten eines ganz weltlichen Tons und weltlicher Gegenstände zurück. Wie die englische Historiographiehistorikerin Antonia Gransden süffisant bemerkt hat, war offenbar der Zorn Gottes auf England mit dem Beginn der Tudor-Ära verbraucht, jedenfalls in den Augen Halls28. Hall griff auch für seine eigene Zeit nicht nur auf Selberlebtes, sondern auf vielfältiges fremdes schriftliches Material29 zurück. Allerdings hatte er selbst seine Chronik, als er sie 1542 erstmals erscheinen ließ, nur bis zum Beginn des Jahr 1533 reichen lassen30. Erst kurz seinem Tod (1547) publizierte der Drucker Richard Grafton eine um die Folgejahre ergänzte Fassung. Diese Ergänzung beruhte nicht auf einem ausgeschriebenem Text Halls, sondern nur auf dessen Notizen, und ist daher deutlich weniger ergiebig, und auch von Graftons Redaktion geprägt31. Hinsichtlich der Oratorik 24 Vgl. Gransden: Historical Writing, Bd. 2, S. 470f.: „Hall was an ardent patriot and wrote full-blooded prose in praise of the English in general and of the house of Tudor in particular“. 25 Vgl. Hall. Chronicle, ed. Ellis, hier S. 247. 26 Gransden: Historical Writing, Bd. 2, S. 471. 27 Vgl. Lucas: Hall, Edward, S. 427: „Hall also embellished his text (following More’s example) with many literary and quasi-literary elements, including rhetorically sophisticated set speeches, engagingly dramatic descriptive scenes, and a prose style heavy with metaphor, analogy, alliteration, and personal asides. He even chose to place number of fictitious orations into the mouths of his historical subjects, in order to have English history seem to come dramatically alive for his readers.“ Ganz ähnlich auch Kelly: Matrimonial Trials, S. 66. 28 So Gransden: Historical Writing, Bd. 2, S. 471. 29 Lucas: From Perfect, S. 53: „printed pamphlets, government and household records, personal reminscences, and material gleaned from foreign chroncles.“ 30 Lehmberg: Reformation Parliament, S. 182, gibt 1532 an, Lucas: From Perfect, S. 52, hingegen präziser April 1533 (Ende des 24. Regierungsjahrs Heinrichs VIII.). 31 Vgl. dazu Lucas: From Perfect, S. 61.

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ist bei dieser Quelle, gerade vor dem Hintergrund von Halls Neigung zur Einflechtung fiktiver Mündlichkeit, ganz besonders nach dem Anteil von getreuer Wiedergabe und Ausmalung zu fragen. Neben Halls Chronik verfügen wir als historiographische Quelle für den Legatenprozess zusätzlich noch über die Biographien von John Fisher durch Richard Hall und von Thomas Wolsey durch George Cavendish. Wertvoll ist vor allem letztere, denn die erstere hängt nach unserem Eindruck oft von ihr ab – aber nicht immer, wie wir unten sehen werden. Cavendish hatte eine hohe Funktion in Wolseys Haushalt innegehabt („Gentleman Usher“) und war sein enger und loyaler Vertrauter gewesen32. Er verfasste seine Lebensbeschreibung des Kardinals allerdings erst in den 1550er Jahren, also mit mehr als zwei Jahrzehnten Abstand zu dessen Fall und Tod, jedoch offenbar auf der Grundlage bereits zeitgenössischer Aufzeichnungen. Dennoch ist zu bedenken, dass die zeitlich Distanz die Darstellung beeinflusste, und dass Cavendish in seiner Tendenz parteiisch für Wolsey ist. Letzterer war als Heinrichs Kanzler, Kardinal und Dauerlegat für England eine der Schlüsselfiguren der Ereignisse, um die es uns geht.

3 Die Vorgeschichte des Legatenprozesses Thomas Wolsey war auch derjenige, durch den Heinrich VIII. zum ersten Mal öffentlich seine Zweifel an der Gültigkeit seiner Ehe mit Katharina von Aragón kundtun ließ, bereits im Mai 152733. Heinrich wünschte bekanntlich, mit seiner Geliebten Anne Boleyn eine neue Ehe schließen zu können, war aber offenbar auch ehrlich überzeugt, dass seine Ehe mit Katharina illegitim war, da sie zuvor mit seinen Bruder verheiratet gewesen war, und dass sie vom Papst niemals hätte erlaubt werden dürfen34. Im Laufe des Jahres 1528 intensivierte der Herrscher seine Bestrebungen. Er forderte, Papst Clemens VII. sollte bevollmächtigte Richter nach England schicken, die in der Ehesache in seinem, Heinrichs, Sinne endgültig entscheiden sollten, und zwar ohne Berufungsmöglichkeit nach Rom, die Katharina hätte nutzen können. Tatsächlich entsandte der Papst im September 1528 den erprobten Kardinallegaten Campegio35 mit einer umfassenden entsprechenden Vollmacht für ihn selbst sowie für Kardinallegat Wolsey. Der König konnte sich zunächst also durchaus berechtigte Hoffnung machen, dass seine Ehe für nichtig erklärt werden würde, zumal Campegio Heinrich bereits vertraut war, denn er hatte schon früher einmal als Legat in England gewirkt, war Kardinalprotektor 32 33 34 35

Vgl. zu Cavendish die Bemerkungen bei Jack: Wolsey, Thomas. Der folgende Absatz nach Bernard: King’s Reformation, S. 9–11. Ebd., S. 26f. Sein Name taucht häufig auch in den Schreibweisen „Campeggio“ und „Campeggi“ auf.

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des Landes und hatte sogar ein Bistum erhalten (Salisbury)36. Doch die Erwartungen trogen Heinrich VIII. (wenn sie überhaupt sehr hoch waren, denn der König machte sich offenbar wenig Illusionen). Denn Campegio hatte neben der Vollmacht auch den klaren päpstlichen Auftrag erhalten, diese nicht anzuwenden37. Vielmehr sollte er den Prozess verschleppen. Offenbar hoffte Clemens VII., dass der König aufgeben oder dass Katharina sich freiwillig in ein Kloster zurückziehen werde. Diese dachte jedoch nicht daran, sondern machte Anfang November, wohl am 7. des Monats, selbst den soeben bekannt gewordenen sogenannten ‚Spanish brief ‘38 öffentlich. Dies war ein offenbar authentisches päpstliches Dokument, das belegte, dass Julius II. seinerzeit die Ehe mit Heinrich ausdrücklich auch für den Fall erlaubt hatte, dass Arthur mit Katharina die Ehe geschlechtlich vollzogen hatte (um diese Frage war es vorher häufig bei der Diskussion von Heinrichs Ehe gegangen). Durch das neue Dokument und das rasch durchschaute Spiel des Legaten, vor allem aber durch eine Heinrichs Verhalten ablehnende Stimmung in der Bevölkerung geriet der König gleich mehrfach in die Defensive. Daher entschloss er sich zu einer Gegenoffensive und wählte dazu das Mittel der öffentlichen Rede39. Er berief für den 8. November Publikum in seinen Londoner Bridewell-Palast ein, um vor diesem über seine Gründe für den Wunsch nach Auflösung der Ehe mit Katharina zu sprechen. Im Nachhinein betrachtet eröffnete diese Bridewell-Rede eine ganze Kette oratorischer Ereignisse, die über den Legatenprozess 1529 in das Reformation Parliament überging. Laut Edward Hall ließ Heinrich „all his nobilitie, Iudges & counsailors with diverse other persons“40 kommen, also so etwas wie einen erweiterten King’s Council. Der Bericht des damaligen kaiserlichen Botschafters Iñigo de Mendoza besagt hingegen, dass der Bürgermeister von London und seine Aldermen (Ratsleute) eingeladen worden seien41. Nach dem französischen Diplomaten Jean du Bellay, über dessen Zeugnis wir ebenfalls verfügen42, waren beide Publikumsgruppen zugegen. Doch gleich ob Heinrich nun vor Vertretern der Nation oder nur der Kapitale oder vor beiden sprach, 36 Vgl. zu Leben und Persönlichkeit umfassend Cardinal: Cardinal Lorenzo Campeggi. 37 Vgl. Bernard: King’s Reformation, S. 109 und Gwyn: King‘s Cardinal, S. 540. 38 Zur Scheidungsproblematik und -geschichte Heinrichs vgl. die umfassende Studie Kelly, Matrimonial Trials, zum ‚Spanish brief ‘ bes. S. 62. 39 Vgl. ebd., S. 65. 40 Hall. Chronicle, ed. Ellis, S. 754f. 41 Calendar of Letters, Bd. III 2, Nr. 586 vom 13. November 1528, Bericht an den Kaiser: „he resolved to send for the mayor and aldermen of this city.“ Kelly, Matrimonial Trials, S. 65, geht davon aus, dass beide in den Quellen angesprochenen Publikumsgruppen anwesend waren. 42 Letters and Papers, ed. Brewer u. a., Bd. IV, Nr. 4924 (vom 17. November, Du Bellay an Montmorency): „the lord mayor and council of London, who were all assembled, with those of his Privy Council, and a greater part of the lords of the land, and other personages having charge of his affairs in different places.“

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er suchte jedenfalls ganz bewußt eine politische Öffentlichkeit: „told them in public“ schreibt Mendoza; „made a great representation of this affair“ heißt es bei Du Bellay. Der König tat dies in der Absicht, der aufkommenden Missstimmung im Volk zu begegnen, wie Mendoza und Edward Hall übereinstimmend angeben. Letzterer berichtet von dieser Stimmung zwar in apologetischer, aber dennoch eindeutiger Weise, indem er zunächst von folishe words einzelner gegen Heinrichs Scheidungs- und Wiederverheiratungspläne spricht, welche vom cōmon people abhorred & reproved worden seien. Er macht auch deutlich, dass dem König dieser cōmon rumour 43 zugetragen wurde. Heinrich sprach über drei Punkte: Erstens über seine Gewissensbisse, im Falle seines Todes dem Reich möglicherweise eine illegitime Thronfolgerin zu hinterlassen; zweitens darüber, dass diese Zweifel durch Nachfragen in Frankreich anlässlich eines Heiratsprojektes des Sohnes des französischen Königs mit Heinrichs und Katharinas gemeinsamer Tochter ausgelöst worden seien (man habe dort gefragt, ob Maria wirklich die legitime Tochter des Königs von England sei); drittens, dass er nun eine Entscheidung durch Dritte anstrebe. Die eigentliche Botschaft des Auftritts in Bridewell war aber eine andere: Dass er auf der Scheidung bestehen würde. Dies war der Sinn seiner persönlichen Rede vor der englischen politischen Öffentlichkeit. Während die Erklärung der ehrenhaften Scheidungsgründe an das heimische Publikum addressiert war, richtete sich diese Meta-Botschaft – dass er nicht von seinem Anliegen ablassen würde – aber an den Papst bzw. den englischen Klerus. Mit der öffentlichen Bridewell Speech hatte sich Heinrich VIII. demonstrativ selbst den Ausweg versperrt, angesichts des ‚Spanish brief ‘ und der päpstlichen Hinhaltetaktik noch klein beizugeben. Jeder konnte nun eigentlich wissen, dass er auf direkten Konfrontationskurs gehen würde, wenn der Legatenprozess nicht in seinem Sinne ausgehen würde. Doch obwohl Legat Campegio bereits im Lande weilte, ließ er den König noch lange auf dieses Verfahren warten. Bis es begann, sollte mehr als ein halbes Jahr verstreichen.

4 Der Raum, das Setting und der Verlauf des Verfahrens Das Legatengericht wurde auf dem Gelände des Dominikanerklosters Blackfriars abgehalten. Blackfriars lag im Londoner Stadtviertel Ludgate, also gleich südwestlich von St. Paul’s Cathedral, an der Mündung des Fleet River in die Themse. Am Fleet River entlang und somit auch an Blackfriars vorbei verlief damals die westliche Stadt43 Hall. Chronicle, ed. Ellis, S. 754.

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mauer. Die Dominikaner residierten hier seit dem 13. Jahrhundert. Ihr Gebäudekomplex wurde zeitweise auch von den englischen Königen genutzt, als Archiv und für Sitzungen des Privy Council. Auch Sitzungsort eines Parliaments war Blackfriars schon gewesen, 1450. Beim bis dato letzten Parliament, dem von 1523, war es zumindest der Ort der Eröffnung gewesen; auch das Reformation Parliament begann dort44. Die Wahl als Ort für den Prozess und die Parlamentseröffnungen 1523 und 1529 hatte wohl viel mit der Nähe zum neuen Bridewell-Palast zu tun, der gleich am Ufer gegenüber, jenseits des Fleet River, lag. Heinrich VIII. hatte ihn als Gästehaus für Kaiser Karl V. anlässlich von dessen Besuch in England im Jahr 1520 errichten lassen. Mit dem Blackfriars-Komplex war der Palast durch einen Steg über den Fleet River direkt verbunden. Edward Hall und Cavendish erwähnen, dass König wie Königin während des Legatenprozesses dort wohnten bzw. jedenfalls wohnen sollten45. Edward Hall berichtet, dass das Verfahren in „einem großen Saal“46 stattfand. Dabei handelt es sich ohne Zweifel um den Saal, in dem einige Monate später auch das Reformationsparliament eröffnet wurde, nämlich den sogenannten Upper Frater. Frater ist eine in England üblichen Bezeichung für das Refektorium. Dieser Saal befand sich in einem Gebäude, das in Nord-Süd-Ausrichtung zwischen dem eigentlichen Klosterkomplex und dem Themseufer lag und das später auch Shakespeares Theatertruppe als Aufführungsraum dienen sollte („Blackfriars Theatre“). Der Saal war einschiffig und maß 52 mal 106 Fuß (ca. 17 mal 36 Meter). Es war also ein für damalige Verhältnisse in der Tat sehr großer Raum47, immerhin fast halb so groß wie die Great Hall des Westminster-Palastes mit ihren 67 mal 240 Fuß (ca. 20 mal 73 Meter), deren für einen säkularen Raum enorme Dimensionen auch den heutigen Besucher noch beeindrucken können. Auch das Frater-Gebäude scheint trotz seines Namens nicht für die Predigerbrüder, sondern speziell für die Zwecke der Krone erbaut worden zu sein48. Wann das geschah, 44 Vgl. Smith: Shakespeare’s Blackfriars, S. 12–15. 45 Vgl. Cavendish. Cardinal Wolsey, ed. Sylvester, S. 78; Hall. Life of Fisher, ed. Bayne, S. 57. 46 Hall. Chronicle, ed. Ellis, S. 756: „in a greate Hall within the black Friers of London.“ 47 Smith: Shakespeare’s Blackfriars, S. 99: „the Parliament Chamber had no counterpart in any other English monastery or friary. It was unexampled among conventual halls in its off-cloister site and its notable size. It was, as a matter of fact, one of the largest halls built in England in medieval times, with an unaisled interior span that few buildings of the era could match.“ Vgl. ebd. eine ausführliche Beschreibung auf S. 91–106. Für Smith ist es keine Frage, dass dies auch der Raum war, in dem das Legatengericht tagte, vgl. S. 20f., ebensowenig für Kelly, Matrimonial Trials, S. 78. Zum Gebäude vgl. auch Clapham: Topography, S. 78–80. 48 Smith: Shakespeare’s Blackfriars, S. 98f.: „So far as the evidence goes, the Parliament Chamber had no connection with any activity of the friars; it was in the friary but not of it; it existed solely to accomodate the special needs of the Crown“; „The hall occupied by the Second Blackfriars Playhouse was therfore not a dining hall converted to theatrical purpose, but a room created in the first instance to house

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ist nicht bekannt49. Doch jedenfalls stellte die seit dem Beginn der 1520er Jahre in Bridewell und Blackfriars vorhandene Kombination von Palast und Kloster mit Versammlungssaal offensichtlich eine echte Konkurrenz zum traditionellen Tagungskomplex von Palast und Abtei in Westminster dar50, und zumindest für die Eröffnungssitzungen war sie sogar die attraktivere Wahl. Vor 1523 hatten alle 16 Parliaments seit 1467/1468 durchgehend in Westminster stattgefunden, und auch davor schon war Westminster fast immer die Stätte gewesen. Sowohl Edward Hall wie George Cavendish geben Beschreibungen, wie das Innere des Raumes für das Legatgengericht gestaltet worden war. Die beiden Legaten saßen demnach „in der Mitte“ (d. h. wohl der Mitte einer der beiden Breitseiten), der Stuhl des Königs befand sich unter einem Baldachin (dem sogenannten cloth of estate) zu ihrer Rechten. Nach Edward Hall war der Platz der Königin zur Linken der Richter51, nach Cavendish hingegen neben dem König. Cavendish erwähnt zusätzlich, dass der Erzbischof von Canterbury, William Warham, und alle anderen Bischöfe den Legaten gegenüber platziert waren, und dass für die Anwälte beider Seiten – also von König und Königin – an den beiden (Längs-?) Enden des Saales jeweils eine Schranke (barre) aufgebaut worden sei52. Im Saal versammelt waren bei den großen Auftritten der Königin und des Königs neben den eigentlichen Prozessparteien und Richtern die Bischöfe der Erzdiözese Canterbury sowie viele weltliche Lords53, mithin also ein guter Teil des House of Lords, wie oben bereits angedeutet. Das Verfahren war ja von vornherein zum Scheitern verurteilt, da Campegio trotz nominell bestehender Vollmacht zur Eheauflösung die Erwartung des Königs nicht erfüllen durfte, wie bereits ausgeführt. Es diente lediglich der weiteren Hinauszögegreat assemblies.“ 49 Cavendish. Cardinal Wolsey, ed. Sylvester, S. 78, teilt mit, dass für den Legatenrozess ein „Hof errichtet“ wurde, meint aber wohl nicht die Errichtung des Gebäudes, sondern sein Einrichtung für den Prozess: And that in the blake ffriers a certyn place shold be appoynted where as the kyng & the Quene myght most convenyently repaire to the Court there to be erected & kepte for the disputacion & determynacion of the kynges case where as thes ii legattes sat In Iugement as notable Iuges; vgl. auch S. 79: As I sayd before that there was a Courte erected in the blake ffriars in london where thes ii Cardynalles satt for Iuges. Das Wort Courte könnte sich allerdings auch auf die Einrichtung des Raumes beziehen. 50 Smith: Shakespeare’s Blackfriars, S. 22: „Parliament had two places of meeting the reign of Henry VIII, the one at Blackfriars and the other at Westminster.“ 51 So auch der venezianische Botschafter Lodovico Falier, Calendar of State Papers, ed. Brown u. a., Bd. IV, Nr. 482 (vom 29. Juni 1529). 52 Cavendish. Cardinal Wolsey, ed. Sylvester, S. 78. 53 Dies geht aus der Chronik Edward Halls hervor. Hall schildert, dass am Schlußtag der Versammlung „all the Temporal Lords“ den Saal aus Protest gegen die Vertagung verließen (Hall. Chronicle, ed. Ellis, S. 758, zum letzten Sitzungstag am 30. oder 31? Juli). Cavendish. Cardinal Wolsey, ed. Sylvester, S. 80 spricht – bezeichnend für die große Zahl der Anwesenden – von all the Courte & assemble.

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rung. Nach nur zwei echten Verhandlungstagen (21. und 28. Juni, dazu unten ausführlich) akzeptierte der Legat am 18. Juli die Berufung Katharinas; dann vertagte er am 31. Juli den Prozess, mit der Begründung, es handele sich um ein delegiertes Gericht der römischen Rota, die zu dieser Zeit Gerichtsferien pflegte. Es ist im Nachhinein schwer begreiflich, wie sich die päpstliche Seite derart in Heinrichs Bereitschaft verschätzen konnte, sich weiter hinhalten zu lassen. Eigentlich konnte an der Entschlossenheit des Königs seit der Bridewell Speech kein Zweifel bestehen, und auch an seiner harten Position gegenüber Rom. Doch diese Zeichen wurden nicht erkannt. Daher wurde die Vertagung, wie Elton festhielt, „the last public display of papal authority in England“54. Am letzten Tag des Prozesses, im Anschluss an eine lateinische Rede Campegios, in welcher er die Vertagung verkündete, inszenierte der König quasi als Antwort darauf einen Eklat. Sein Vertrauter Charles Brandon, Herzog von Suffolk, äußerte sich in Anwesenheit Campegios und Wolseys demonstrativ laut und verächtlich über Legaten und Kardinäle und schlug dabei sogar demonstrativ auf den Tisch in der Mitte des Saales. Dies war kein individueller Ausbruch eines Hitzkopfs, sondern ein vom König veranlasstes „public statement“, „a strikingly theatrical and polemical declaration of the king’s purposes“55 (George W. Bernard). Der König zeigte damit, dass Wolsey sein Vertrauen verloren hatte und dass Roms Macht in England in Gefahr war; es war „a carefully stage-managed royal threat against papal authority in England“ (Bernard)56. Heinrich liess nun ein Parliament einberufen, um sein Anliegen dort weiterzuverfolgen, unter Eskalation der Drohungen gegen Rom. Die tieferen Details des Prozessablaufes und auch die verhandelten juristischen Quisquilien brauchen uns hier nicht zu beschäftigen57. Wenden wir uns stattdessen gleich dem 21. Juni zu, dem von uns exemplarisch ausgewählten Tag, einem Montag rund drei Wochen nach Verfahrensbeginn (am 31. Mai 1529). Dies war der erste Tag, an dem König und Königin beide persönlich anwesend waren. Unbestritten ist, dass es zu oratorischen Großauftritten kam58. Doch über alles weitere herrscht in den Quellen Uneinigkeit, wie im Folgenden im Einzelnen dargelegt werden soll.

54 Elton, Reform, S. 110. Elton schränkt ein, dass diese Aussage nur unter Absehung von dem kurzen marianischen Intermezzo in den 1550er Jahren gelte. 55 Bernard: King’s Reformation, S. 35f. 56 Ebd. 57 Vgl. Kelly: Matrimonial Trials, S. 75–79. 58 Heinrich und Katharina waren für den 18. Juni vor Gericht zitiert worden. Katharina war an diesem Tag persönlich erschienen und hatte eine Erklärung über ihre Nichtanerkennung des Gerichtes und inbesondere zur Nichtberufungsmöglichkeit nach Rom zu Protokoll gegeben. Heinrich hatte nur einen Vertreter geschickt. Vgl. ebd., S. 79.

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5 Die divergente Darstellung der Quellen Edward Halls Darstellung der Ereignisse des Tages59 ist im eigentlichen Sinne gar keine, denn sie besteht im Wesentlichen nur aus einer direkt in etwa 400 Worten wiedergegebenen Rede des Königs, in der Heinrich VIII. seine Gewissensbisse wegen der möglicherweise ungültigen Ehe mit Katharina als einzigen Grund für die Anstrengung des Verfahrens darlegt und Katharina im Übrigen als Ehefrau lobt. Als der König geendet hatte, habe die Königin den Saal verlassen, schreibt Hall noch, und zwar ohne Worte60. Hingegen berichtet Cavendish, dessen Passage über den 21. Juni 1529 viel länger und erzählender ist, von einer Rede Katharinas. Sie habe gleich als erste an diesem Tag gesprochen, und zwar in broken Englysshe61 und vor Heinrich VIII. knieend. In der Rede habe sie sich als schwaches Weib dargestellt, welches Heinrich aber eine gute Ehefrau gewesen sei und als Jungfrau in die Ehe mit ihm gegangen sei (und also die Ehe mit seinem Bruder nicht vollzogen hatte). Ferner habe Katharina auf die Weisheit der Väter der beiden Eheleute, also König Ferdinand I. von Aragón und König Heinrich VII. von England, hingewiesen, die niemals eine irgendwie fragwürdige Verbindung zugelassen hätten. Dass sie, die Königin, vor dem Legatengericht stehen müsse, das habe sie als Ergebnis übler Machenschaften dargestellt und die Legaten als Richter für befangen erklärt. Sie habe verlangt, dass das Gericht ausgesetzt werden solle, bis sie weiteren Rat aus Spanien erhalte. Am Ende ihrer Rede sei sie unverzüglich aus dem Saal gegangen. Anschließend habe der König gesprochen. Cavendish gibt das ebenfalls in direkter Rede wieder, in etwa gleicher Länge wie die der Königin, nämlich ca. 700 Worte. Heinrich habe zunächst Katharina als Ehefrau gelobt. Dabei habe ihn kurz Kardinal Wolsey unterbrochen und darum gebeten, der König möge ihn von dem Verdacht entlasten, er sei der Urheber dieser Angelegenheit – gemeint ist das Aufbringen von Zweifeln an der Gültigkeit der Ehe. Daraufhin habe der König Wolsey ausdrücklich von jenem Verdacht entlastet und seinen ersten Zweifel vielmehr auf die Nachfragen bei dem englisch-französischen Heiratsprojekt bezüglich seiner Tochter Maria zurückgeführt (wir erinnern uns, dass Heinrich das bereits in seiner Bridewell-Rede vom November so dargestellt hatte). Weitere Zweifel, so soll Heinrich nach Cavendish gesagt haben, habe bei ihm das Ausbleiben eines männlichen Thronfolgers geweckt. Abschließend soll er sich auf eine schriftliche Erlaubnis des gesamten Episkopats der Erzdiözese Canterbury berufen haben, dass die matter in Frage gestellt werden dürfe. Diese Berufung des 59 Das Tagesdatum gibt er nicht an, sondern lässt eine Lücke (Hall. Chronicle, ed. Ellis, S. 757). 60 Ebd. 61 Cavendish. Cardinal Wolsey, ed. Sylvester, S. 80.

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­ onarchen auf eine Autorisierung durch die Bischöfe führte jedoch zu einem Eklat. M Denn Cavendish berichtet weiter, dass zwar der Erzbischof William Warham dem König die Existenz dieser schriftlichen Erlaubnis bestätigt habe. Doch sogleich habe John Fisher, Bischof von Rochester, protestiert, dass er nie seine Unterschrift und sein Siegel für eine solche Erlaubnis gegeben habe. Dies habe Warham aber nicht gelten lassen wollen. Wohl habe er Fisher konzediert, anfänglich Zweifel geäußert zu haben; ­Fisher habe aber am Ende zugestimmt. Darauf habe Fisher – so weiter unser Gewährsmann Cavendish – dem Erzbischof Warham offen widersprochen und ihn der Lüge geziehen. Da habe der König selbst in diesen Streit eingegriffen und gesagt, dass man nicht mit Fisher streiten werde, denn der sei ja nur ein Einzelner62. Richard Hall liefert einen ähnlichen Bericht, läßt seinen Helden Fisher jedoch schon ganz zu Anfang des Prozesses eine Rede halten, ist also nicht völlig von Cavendish abhängig63. Halten wir kurz fest, inwiefern die drei Historio- bzw. Biographen Edward Hall, Richard Hall und Cavendish konvergieren und divergieren: Sie stimmen zumindest hinsichtlich der Tatsache der Rede des Königs und hinsichtlich der zentralen Punkte von deren Inhalt überein, sowie auch darin, dass die Königin mitten in der Gerichtssitzung abgegangen sei. Darüber hinaus jedoch unterscheiden sie sich denkbar stark, insbesondere hinsichtlich der Redeauftritte der Königin und Fishers, welche nur Cavendish und Richard Hall erwähnen. Leider bestätigen die drei weiteren, kürzeren, aber sehr viel zeitnäheren und nicht in historiographischer Absicht verfassten Quellen keinen der beiden Berichte ganz eindeutig. Auch untereinander gleichen sie sich nicht. Vielmehr liefert jede sogar eine eigene, neue Variante. Laut dem venezianischen Botschafter Falier sprach zunächst der König, dann Wolsey und schließlich die Königin selbst, wobei die knapp wiedergegebenen Redeinhalte etwa denen bei Cavendish entsprechen – aber eben nicht in dort gegebenen Reihenfolge (1. Königin, 2. König, letzterer von Wolsey unterbrochen), und ohne dass ein Streit Warham/Fisher/Heinrich VIII. erwähnt würde. Frankreichs Diplomat Du Bellay schildert hingegen eine weniger oratorische als dialogische Kommunikation zwischen der Königin und dem König, in der das Wort mehrfach hin und her gegangen sei, bis Katharina schließlich vor dem König auf die Knie gefallen sei64. Das ähnelt zumindest prinzipiell mehr Cavendishs Darstellung des Ablaufs, aber von dem bei diesem geschilderten Auftritt Fishers ist auch hier nicht die Rede, und ebensowenig von Wolsey. 62 Ebd., S. 80–85. 63 Hall. Life of Fisher, ed. Bayne, S. 58. 64 Letters and Papers, ed. Brewer u. a., Bd. IV, Nr. 5702.

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Das letzte zu nennende Zeugnis ist das des Legaten Campegio selbst. In seinen Briefen von diesem Tag erwähnt er nur einzige Redehandlung, genau wie Hall. Doch es ist nicht wie beim Chronisten die des Königs, von der sonst alle Quellenzeugnisse berichten, sondern die der Königin. Begleitet worden sei diese Rede Katharinas von einem zweifachen Kniefall; der König aber habe sie zweimal auf die Füße zurückgehoben. Es ist klar, dass eine exakte Rekonstruktion des tatsächlichen Redegeschehens hier schlechterdings unmöglich ist. Allerdings müssen wir uns deshalb noch lange nicht schulterzuckend abwenden und vor einer Rekonstruktion des Redegeschehens dieses Tages völlig resignieren. Vielmehr scheinen doch einige Schlüsse auf die Wirklichkeit des Geschehens erlaubt. Denn die Mehrheit der Zeugnisse erwähnt ein Sprechen Heinrichs VIII. und Katharinas (Cavendish, Richard Hall, Falier, Du Bellay), nur eines jeweils auschließlich die Rede des Königs (Edward Hall) oder der Königin (Campegio). Berücksichtigen wir noch die Tendenzen der einzelnen Quellen, so können wir eindeutig folgern, dass am 21. Juni tatsächlich beide geredet haben. Es ist nämlich bemerkenswert, dass es gerade der so königsfreundliche Edward Hall ist, der als einziger Berichterstatter den für Heinrich wenig schmeichelhaften, auch performativ-gestischen (Kniefall, Abgang) sehr appellativen Auftritt Katharinas nicht nennt. Mehr noch: Hall verschweigt ihn gar nicht ganz. Vielmehr kommt er bei ihm an anderer Stelle vor. Hall berichtet nämlich ebenfalls als einziger von einer angeblichen Befragung Katharinas durch die Legaten. Jedoch stellt er dies nicht in den Kontext seines Berichtes vom Prozess, sondern bringt dies gleich nach seinem Referat der Bridewell-Rede des Königs im November 1528, ohne konkrete chronologische Einordnung, auch wenn es klar ist, dass es mit dem Prozess zu tun hat. Damit „lagert“ der königstreue Chronist Katharinas starke, oratorisch-symbolische Performanz vom 21. Juni auf einen für Heinrichs Image unschädlicheren, weniger öffentlichen Platz „aus“. Der Inhalt der von Hall geschilderten Befragung ähnelt dabei verblüffend dem bei Cavendish gegebenen Text der Rede Katharinas vom 21. Juni 1529. Hall lässt Katharina jedoch einen direkten, offenen Angriff auf Wolsey richten. Dieser rechtfertigte sich laut Hall dann auch gleich im Anschluss an die angebliche Befragung gegen den Vorwurf. Dies entspricht wieder genau dem Ablauf, wie er in dem Bericht Cavendishs für den 21. Juni gegeben ist. Hall geht sogar so weit, seinen Gewährsmann für diese angebliche Befragung der Katharina zu nennen. Es soll eine Mitschrift von Campegios Sekretär gewesen sein65. Edward Hall hat die Rede Katharinas vom 21. Juni also offensichtlich in seiner historiographischen Komposition in der Zeit zurückverlegt und in ein Setting, bei dem 65 Hall. Chronicle, ed. Ellis, S. 756. Hall teilt ferner mit, dass die mündlichen Äußerungen Katharinas und Wolseys auf Französisch vorgebracht worden seien.

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Heinrich VIII. nicht zugegen war. Er hat damit die Sache für den König deutlich entschärft. Statt Heinrich ist eher Wolsey das Ziel Katharinas. Der Chronist hat hier also nicht, wie es von ihm bereits bekannt war, einfach eine Rede erfunden, sondern eine reale Rede fiktionalisiert, indem er sie in einen anderen Kontext versetzte. Umgekehrt ging offensichtlich der Wolsey-Biograph Cavendish vor (ebenso wie der – wohl von ihm abhängige – Fisher-Biograph Richard Hall): Er hat in seinem Bericht einen streitbaren Auftritt John Fishers, der in Wirklichkeit erst später stattfand, schon auf den 21. Juni vorverlegt. Denn wie mehrere andere Quellen berichten, spielte Fisher an einem anderen Sitzungstag, dem 28. Juni, tatsächlich als Redner für Katharina eine Hauptrolle66. Dass Cavendishs Schilderung des 21. Juni nicht zutreffend sein kann, ergibt sich bereits daraus, dass das Schriftstück sämtlicher Bischöfe der Erzdiözese Canterbury, um das Warham, Fisher und der König am 21. Juni gestritten haben sollen, tatsächlich erst am 1. Juli geschrieben wurde (mit Authentifizierung auch Fishers, die allerdings wohl gefälscht war)67. Welchen Sinn diese Vorverlegung in Cavendishs narrativem Gefüge hatte, ist unklar. Möglicherweise wurde Wolsey, Cavendishs Held, dadurch zu Lasten von Warham, dem anderen Erzbischof Englands, entlastet. Vielleicht ist die Verwirrung aber auch einfach dem großen zeitlichen Abstand bei der Abfassung der Biographie geschuldet. Klar ist, dass Cavendish nicht einfach das Datum verwechselte, denn auch für den 28. berichtet er von einem Auftritt Fishers.

6 Schlussfolgerungen für das reale Redegeschehen und die Repräsentation von Oratorik bei Edward Hall Ziehen wir nun die Bilanz unserer Quellenanalyse: Mit Gewissheit können wir festhalten, dass am 21. Juni 1529 in London sowohl König wie Königin vor den Legaten gesprochen haben, wobei der Auftritt Katharinas besonders eindrucksvoll gestaltet war, mit einem öffentlichen Kniefall vor dem König und einem Abgang mitten aus dem Prozesstag. Dass Katharinas Argumente in etwa jene waren, die bei Cavendish und anderen recht übereinstimmend angegeben sind, erscheint ebenfalls als eine belastbare Annahme. Sicher scheint zudem, dass an diesem Tag eines oratorisch nicht geschah: John Fisher trat an diesem Tag noch nicht in öffentlichen Streit mit Erzbischof Warham und König Heinrich VIII., sondern tat dies erst eine Woche später, beim nächsten großen Verhandlungstag am 28. Juni. Darüber hinaus lässt sich über den 21. Juni aber nur wenig sagen: Ob Katharina oder Heinrich zuerst sprach, wissen 66 Vgl. am ausführlichsten Cavendish. Cardinal Wolsey, ed. Sylvester, S. 85f. 67 Vgl. Kelly: Matrimonial Trials, S. 82.

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wir nicht. Genausowenig wie die Reihenfolge der Reden der Eheleute erschließt sich uns auch Wolseys Rolle, denn zu widersprüchlich sind die Angaben zu ihm. Wechseln wir nun von der Ebene der Faktenetablierung hinsichtlich des Redegeschehen auf die Ebene der Repräsentation von Oratorik, so können wir ebenfalls mindestens eine neue Feststellung treffen, die man sowohl negativ wie positiv betrachten kann. Sie betrifft Edward Halls Chronik. Diese hat sich als nicht zuverlässig erwiesen. Denn Hall hat den für den König nicht eben ruhmsteigernden oratorischen Auftritt Katharinas am 21. Juni aus dem Prozess heraus in sein Vorfeld und inbesondere in einen weniger öffentlichen Rahmen verschoben, bei dem der König selbst nicht zugegen war. In Halls Version ist es dann auch v. a. der – bei Heinrich unmittelbar nach dem Prozess öffentlich in Ungnade gefallene – Kardinal Wolsey, gegen den Katharina sich bitter äußert. Es ist angesichts der Tendenzlogik dieser Veränderungen auszuschließen, dass sie zufällig geschahen. Dieser Befund mag zunächst als ein rein negativer erscheinen, erschüttert er doch mit der Chronik Halls die Glaubwürdigkeit nicht irgendeines Zeugnisses, sondern der wichtigsten und oft auch einzigen Quelle für die politische Geschichte dieser Zeit und besonders auch für das Redegeschehen auf dem Reformation Parliament. Allerdings ist es selbstverständlich vorzuziehen, vor einer Quelle gewarnt zu sein als ihr blind zu vertrauen, inbesondere wenn wir etablieren können, dass sie zuverlässig einer bestimmten Beschönigungstendenz (hier: zugunsten des Königs) folgt. Das macht sie letztlich wieder berechenbarer. Und immerhin kann als positives Ergebnis auch festgehalten werden, dass Hall, indem er diesen konkreten Redeakt Katharinas falsch darstellt bzw. „auslagert“, ja gerade ein scharfes Bewusstsein für die Macht der Rede zeigt. Dies ist ein Zeugnis mehr für die Bedeutung der vormodernen Redekultur, die zu beachten uns Johannes Helmrath gelehrt hat.

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Rhetoric and Tradition Peter Mack

I first met Johannes Helmrath through parliamentary oratory. He had come across my analyses of speeches delivered in the Elizabethan parliaments and invited me to participate in a conference on parliamentary oratory which he had organised in Berlin. My interest in the Elizabethan parliament was a product of my study of the practical application of the training in rhetoric in sixteenth century England1; his interest in parliamentary oratory derived from his work on the parliamentary speeches of Aeneas Sylvius Piccolomini, later Pope Pius II2. Later we met again through our shared concern with the afterlife or reception of antiquity. In this tribute to him I aim to draw on our mutual interests in oratory, rhetoric and the classical tradition. Rhetoric originated as a higher level training in public speaking. Skill in public speech qualified a Greek male citizen to play a prominent public role in the state to which he belonged. After it became the pre-eminent advanced level training in the Hellenistic world a number of treatises on rhetoric were composed by Greek and Roman writers and were transmitted to the Middle Ages and the Renaissance. These treatises first enabled rhetoric to expand its concerns from the oral political, judicial and social assemblies of the Greek city state to the practices of reading, interpretation and writing more generally and later enabled these techniques to be transmitted from antiquity to the early modern world. As it is exemplified in the textbooks which have come down to us from antiquity rhetoric consists of one big idea and a vast range of detailed practical doctrines. The big idea is that whenever we address an audience we must think about that audience, its pre-existing opinions and our relationship to it in order to work out the most effec­ tive way of presenting our case and ourselves in order to persuade them. In rhetoric we always have to think first about the audience and the occasion of our speech. The vast range of practical doctrines concern a wide range of issues connected with the use of language and the circumstances of the speech, such as choice of vocabulary, the construction of elegant sentences, the levels of style, devising and choosing arguments, analysing an audience’s responses, self-presentation, effective planning of the structure 1 2

Mack: Elizabethan Parliamentary Oratory; Mack: Elizabethan Rhetoric; Mack: Rhetoric and Politics. Helmrath: Studien zu Reichstag und Rhetorik; id. (ed.): Deutsche Reichstagsakten, vol. 19/2.

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of a speech, arousing emotions, gesture and tone of voice, telling a story, winning approval, and using special features of language such as metaphor effectively. In modern terms these doctrines belong to a range of different subjects: logic, psychology, grammar, marketing, and acting for example; but they also all belong to rhetoric insofar as all can contribute to the task of communication and persuasion. But it was also obvious that many of the techniques taught were a valuable training for poets, historians and writers. The rhetoric textbooks were always only the beginning of the serious study of rhetoric. In the ancient world someone who had worked through the textbooks and performed the exercises of the progymnasmata and the declamation would then be apprenticed to a practising orator, and would discuss with him both the great speeches of the past and the problems facing the speaker in preparing actual cases. In the M ­ iddle Ages and the Renaissance rhetoric was taught after Latin grammar, and alongside the reading of classical literature, which was analysed for the examples it provided of the teaching of rhetoric in practice. Although rhetoric was officially focused on producing new texts and speeches it provided a valuable framework for interpreting texts. In sermons, for example, interpretation of Biblical texts sits alongside moral teaching within the speech. It makes sense to think of rhetoric as a tradition for several reasons. In the first place traditio is derived from tradere which means to hand over or to teach. So any form of teaching which persists over as long a time as rhetoric may easily come to be regarded as a tradition. The teaching of rhetoric also usually involved a combination of written textbooks and oral teaching by the practising orator or the Renaissance schoolmaster, and tradition is often closely linked to wisdom which is passed on orally as when the word is used to translate the Hebrew Mishnah, the part of Jewish teaching which was not written in the Torah, but which was handed down orally from the time of Moses3. Tradition also implies a certain vagueness and can include ways in which a subject is developed over time which go beyond the content of the textbooks. On the other side, the word tradition itself brings with it some problems and a considerable baggage of connotations. In the Gospels we come across the word paradosis (translated as traditio) used as a contrast to the commandments of God. In Matthew 15: 2-6 and Mark 7: 5-13, the scribes and Pharisees ask Jesus why his disciples transgress the traditions of the ancients. Jesus replies that their traditions transgress the commandments of God. So in this sense tradition means the Jewish history of Biblical 3

More awkwardly the word tradition has sometimes been linked with esoteric knowledge, translating Kabbalah rather than Mishnah, thus the titles of Kathleen Raine’s Blake and Tradition and F.A.C. Wilson’s W.B. Yeats and Tradition intended to indicate that they would be considering the presence of esoteric wisdom in the works of their chosen poets.

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interpretation, in this case contrasted with Christ’s explication of the true meaning of God’s commands. In contrast to this, Saint Augustine in one of his letters writes of a strand of Christian teaching which is non scripta sed tradita4, not written in the Bible but handed down, including the celebration of the anniversary of Easter. Here the idea seems to be that the explicit written Christian doctrine of the Bible is to be supplemented by traditions handed down through the Church. This contrast is revisited at the time of the Reformation. Luther and the Protestants, reject accumulated traditions such as the sale of indulgences, the cult of the saints and the doctrine of purgatory and want to go back to the Scripture itself, the Scripture alone. Catholic thinkers on the other hand uphold tradition as something passed down legitimately through the successors of St Peter. So, for Milton in Areopagitica truth is opposed to tradition5, while for the Catholic convert John Dryden in The Hind and the Panther, Scripture and tra­ dition both contribute to true Christian teaching, because tradition is part of truth6. These forceful religious connotations may have been one of the reasons why the term tradition was not applied to literature earlier than 1858. Enlightenment thinkers generally sought to replace the teachings of tradition with the light of reason7. For sociologists, too, tradition is often opposed to both rationality and modernity. Harry Levin quotes George Eliot’s affirmation of progress achieved by turning from tradition to reason from The Spanish Gypsy: We had not walked But for Tradition; we walk evermore To higher paths by brightening Reason’s lamp8.

So we have tradition as opposed to innovation in many book titles and tradition as opposed to modernity in many cultural histories. Charles Augustin Sainte-Beuve was the first person to speak of literary tradition in his lecture of 12 April 1858 at the Ecole Normale Supérieure in Paris entitled “Qu’estce-que c’est la tradition littéraire?” Sainte-Beuve treats literary tradition as a kind of pantheon. Near the beginning of the lecture he sets out a three line outline consisting of three brief sentences.

4 5 6 7 8

Augustine, Epistles, 54.1. Milton. Complete Poems, ed. Hughes, p. 739. Compare John Milton Paradise Lost, XII.512. Some of this material is surveyed in Levin: Tradition. John Dryden. The Hind and the Panther, II.70–175. Shils: Tradition, p. 325: “The Enlightenment was antithetical to tradition.” Eliot: Spanish Gypsy, book 2, p. 169, quoted by Levin: Tradition, p. 59.

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There is a tradition. How should it be understood. How should it be maintained9.

For much of the lecture Saint-Beuve outlines the content of this tradition, which is European in origin (Homer, Virgil, Horace, Shakespeare) but then primarily French and based firmly on the authors of the seventeenth century, le grand siècle, especially Molière and Pascal. His concept of tradition also includes laws, institutions and customs10. Tradition on this presentation equates very closely with a sort of idealised French nationalism. When it comes to maintaining this literary tradition, SainteBeuve’s main point is that one must possess it complete, ancient and modern, that one should not concentrate on a few authors and neglect others11. Sainte-Beuve introduces two key ideas which have added a strong political flavour to discussions of literary tradition: that literary tradition involves establishing a canon of great works, and that literary tradition is an expression of national identity. Although some of its doctrines were constrained by the social conventions of the Greek city states where it was born, rhetoric was for many centuries international in its scope. The major innovations in the subject always emerged in Latin-language works addressed to the international audience of the universities. National elements re-enter the history of rhetoric with the decline of Latin as an international language, the emergence and popularisation of vernacular treatises on rhetoric and the extension of rhetoric from thoroughly educated intellectuals to the population at large. These movements begin with the preaching culture of the Reformation and Counter-Reformation and become dominant in the nineteenth century. A well-established canon of ancient Greek and Latin texts, on the other hand, has almost always been a dominating characteristic of rhetoric. For many teachers and writers of textbooks the issue in rhetoric was how to clarify and transmit the doctrines of Aristotle, Cicero and Quintilian more than addressing and attempting to solve a group of key problems which could be thought of as defining the subject. This tendency may have been encouraged by the immense range of doctrines enunciated in the canonical texts. In the modern period there has often been a divide between theoreti­ cal approaches to rhetoric which aimed to answer research questions and improve the resources of communication by attending to ideas from mass-communication, literary 9

Sainte-Beuve: Causeries du lundi, vol. XV, pp. 356–382 (357): “Il y a une tradition – En quel sens il la faut entendre – En quel sens il la faut maintenir”. Cf. Prendergast: Classic, pp. 5–17, 62–70, 92–95, 261–264, 278–280. 10 Sainte-Beuve: Causeries du lundi, vol. XV, p. 358. 11 Ibid., p. 372.

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theory and psychology for example, and historical approaches which insisted that rhetoric would always need to concern itself with the ways in which the texts and ideas of the classical authors had been adapted. Scholars usually acknowledged that the ­canon was somewhat open, for example when ancient texts were recovered or when new rhetoric manuals were composed. There could also be arguments about how much to use texts of grammar and philosophy to supplement our understanding of the classics of rhetoric but over the long history of the subject the key ancient texts always proved more enduring than the new works of the Middle Ages and the Renaissance. Eric Hobsbawm and Terence Ranger’s excellent collection of essays, The Invention of Tradition (1983) shows that many traditions which are promoted as being old were in fact instituted at specific moments for particular social and political purposes. Thus, for example the whole supposedly ancient paraphernalia of Scottish highland clans, Tartans and Kilts was invented in the eighteenth century to supplant the essentially Irish culture of the Scottish highlands12. In relation to literary tradition one might take their conclusions a little further and say that although it appears to come from the past literary tradition is made and developed in the present to interpret old texts and write new ones. In relation to rhetoric the lesson of their book would be that one should attend to the moments at which tradition is invoked as a way of redirecting attention to a particular kind of rhetoric, especially at places and time at which it has been superseded and a revival is being attempted. Tradition is central to Hans-Georg Gadamer’s illuminating exploration of the nature of understanding in Truth and Method (1960). He sees understanding as a kind of conversation with tradition. We open up an old text or we consider an historical event and we begin with prejudices about what it will mean13. By listening to what the text says to us, by taking it seriously as an interlocutor, we change our earlier views and come to understanding14. The tradition comes into being only when the reader listens to it, interprets it, and applies it in language in relation to the circumstances of the time of interpretation. The linguistic communication between present and tradition is the event that takes place in all understanding15. “What constitutes the hermeneutical event proper […] consists in the coming into language of what has been said in the tradition: an event that is at once appropriation and interpretation”16.

12 Trevor-Roper: Invention of Tradition. 13 Gadamer: Truth and Method, pp. 277–307. This is a revised translation of the fourth edition of Wahrheit und Methode. Cf. Weinsheimer: Gadamer’s Hermeneutics, pp. 164–184. 14 Gadamer: Truth and Method, p. 361. 15 Ibid., p. 463. 16 Ibid.

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A person who is trying to understand a text has to keep something at a distance – namely everything that suggests itself, on the basis of his own prejudices, as the meaning expected – as soon as it is rejected by the text itself […] Explicating the whole of meaning towards which understanding is directed forces us to make interpretive conjectures and to take them back again. The self-cancellation of the interpretation makes it possible for the thing itself – the meaning of the text – to assert itself17.

The idea that understanding involves listening carefully to what the past has to tell us and then attempting to move beyond it as a way of responding to our present situation seems to me very rich both for tradition in general and for the relationship between rhetoric and tradition. Gadamer helpfully focuses our attention on the moment at which one writer reads another in order to write. Tradition is created anew in that time of interpretation. More problematically his words leave open the question of the extent of a tradition. Sometimes he seems to focus on an individual element from the past (the Iliad is one of his examples on p. 462) but elsewhere he seems to speak of the whole tradition providing the possibility of understanding. Sainte-Beuve requires that good writers should possess the tradition of European and French literature complete which, if taken literally, seems to be a near-impossible requirement. Some traditions may be more capable of being known fully but in practice the role which tradition plays will usually involve the impact of a small number (perhaps even one) of prior texts to which the writer responds at particular moments of writing. A small number of texts is also more capable of verification and repetition through study. And, of course, rhetoric would correspond to the idea of a tradition with a small number of required texts. A second issue which arises from Gadamer is the question of the degree of agency and free choice on the part of the writer or reader responding to tradition. Sometimes Gadamer allows himself to say that tradition dictates what the writer can say, just as the rules of the game dictate what the players are permitted to do. My response would be that the interest in watching the game lies in the way in which individual players preform their roles within the laws of the game, rather than in the game being played out according to its rules. Within rhetoric some texts seem to be required points of reference, though one might have to choose between different authors’ views on particular points. On the other hand the writer of a new rhetoric textbook seems to have quite a lot of freedom as to which doctrines will be included and which of the supplemen­ tary rhetoric texts and which texts from other disciplines may be drawn on. Where the word tradition seems to imply a kind of obligation, earlier words like imitation, model 17 Ibid., p. 465.

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or borrowing emphasized the writer’s choice. There will always be some freedom of choice within some limits and we need to attend to the degree of freedom available in each case. At the same time we should note the explanatory power of the concept. It meets real psychological needs for belief in continuity, yet at the same time the idea of tradition represents power and proclaims a kind of inevitability. Writers or politicians may sometimes invoke tradition as a way of evading responsibility for the consequences of something which they are in fact choosing to do. Let us turn to some examples. There could be different ways of examining the familiar example of the development of rhetoric in the Renaissance. One would be to look at the process by which Rudolph Agricola came to rewrite rhetoric and dialectic; another would be to look more broadly at the changes which took place over 150 years. Agricola’s rewriting of rhetoric and dialectic depended on his knowledge of the principal well-known textbooks in both fields, such as Rhetorica ad Herennium and Aristotle’s Organon, an interest in newly recovered rhetoric texts such as Cicero’s De oratore and Quintilian’s Institutio oratoria and some access to previously neglected Greek texts such as Aphthonius’s Progymnasmata and Aristotle’s Rhetoric. Beyond these texts Agricola had a certain experience of teaching Latin language and literature to advanced Northern students in Italy, of writing and delivering public orations in Latin, and of learning Greek. He also possessed a profound knowledge of Virgil’s Aeneid, some of Cicero’s orations and pseudo-Quintilian’s Declamations, and wide knowledge of Latin literature more generally, including Lucan and Terence. His inno­ vations in rhetoric seem to be based on three main approaches: he sought to compare and combine competing doctrines from the two subjects; he went back to major logi­ cal and rhetorical principles, both in his overall planning of the work and in his development of individual doctrines; and he compared the rhetorical doctrines with examples from classical Latin texts in order to try to understand how the texts achieved their effects. None of what Agricola writes in De inventione dialectica would be conceivable without the heritage of rhetoric and dialectic and yet his critical questioning approach to that tradition enabled him to develop a new approach to thinking about reading and writing18. As an example of the second approach the conclusion to my History of Renaissance Rhetoric identified seven characteristics of Renaissance rhetoric and five common features of later Renaissance rhetoric. The seven characteristics were: a close reading of classical literary texts to identify the ways in which writers used the resources of rhetoric; a renewal of the connection between rhetoric and dialectic; a renewed focus on arousal of emotion; a revival of the study of disposition; a new interest in copia; a par18 Agricola. De inventione dialectica, ed. Mundt; Mack: History, pp. 56–75.

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ticular emphasis within rhetorical education on collecting, composing and using sententiae, proverbs, descriptions, examples and comparisons; and a strong focus on style, particularly on the tropes and figures. The five common features of later renaissance rhetoric were: more importance given to delivery; more attention to epideictic oratory; more interest in method; more debate on the suitable models for imitation; and more vernacular rhetoric manuals19. For the most part these changes all involve giving greater focus to, and often thereby producing new doctrines within, particular subfields within the vast repertory of rhetorical doctrines. Several of them depend on new emphasis in education, and especially on the relationship between rhetoric and the study of Latin literature. Some of these changes can be linked to newly available Greek texts, especially Hermogenes, Aphthonius and Aristotle’s Rhetoric. But what would be the further implications of treating rhetoric as a tradition? Looking at rhetoric as a tradition would force us to confront the agency involved in the selection of a group of ancient Greek and Latin texts to form the basis of the subject. Historicizing the tradition in this way would invite us to reflect on the implications of using the three genres of rhetoric as the foundational scheme for theories of practical argument. It would help us understand how medieval and Renaissance theorists acquired new understanding through critical analysis of classical texts, and how they framed their innovations as adaptations of classical rhetoric. By investigating Roman poems and orations in relation to the theories of rhetoric Renaissance writers could adapt, supplement and reform those theories. The recovery of Greek texts gave a further point of support from which alterations to the Latin tradition could be attempted. Thinking about rhetoric as a tradition may help us understand both the benefits and the limitations of working towards understanding through critical adaptation of previous schemes of knowledge. On the other side of the coin ideas from rhetoric may help us in thinking about how traditions develop. I will start with two examples. Arnold Schönberg believed that musical tradition acted as a sort of guarantor of the new. In 1931 while he was still a Professor in Berlin, Schönberg wrote two articles entitled National Music, by which of course he meant German Music. In the second of these articles he gives a fascinating account of what he has learned, primarily from Bach and Mozart, and secondarily from Beethoven, Wagner and Brahms before declaring: My originality comes from this: I immediately imitated everything I saw that was good, even when I had not first seen it in someone else’s work. And I may say: often enough I saw it first in myself. For if I saw something I did not leave it 19 Mack: History, pp. 307–317.

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at that; I acquired it, in order to possess it; I worked on it and extended it, and it led me to something new. I am convinced that eventually people will recognize how immediately this ‘something new’ is linked to the loftiest models that have been granted us. I venture to credit myself with having written truly new music which, being based on tradition, is destined to become tradition20.

What does Schönberg gain from invoking tradition here? He wants to say very firmly that he belongs to the German musical tradition, that he knows that tradition thoroughly, and that he has learned from it. He was almost 60 years old. He had reached a public position which he wanted to keep. He proclaims the newness of his music but he believes that by asserting its close connection to the great German music of the past he will make his new music more acceptable to his audience. And he insists that tra­dition develops. His individual choices will somehow be ratified by the later recognition that his music forms part of tradition. Tradition is invoked to defend his own music and to argue that musical tradition develops and continues to develop. But he also wants to insist that one writes great new music by learning from the music of the past. Noticeably he bolsters his defence by naming only the greatest and most German of the great names. My second example is Torquato Tasso’s Gerusalemme liberata (1581)21. In sixteenthcentury Europe anyone who wanted to write an epic felt obliged to use materials from Virgil’s Aeneid and to a large extent also from Ariosto’s Orlando Furioso. Tasso chose to invoke examples from Homer in order to use Homer’s example and prestige to back up the criticisms he wanted to make of Ariosto. In his Discorsi dell’arte poetica Tasso objects that Ariosto’s narrative is neither complete nor unified. But rather than retreat to pure Homer he prefers to say that an epic poem is like a little world; it should combine unity with variety22. Tasso’s poem is centred on a strong unifying narrative of the Crusaders’ march to Jerusalem; the conflict between Rinaldo and Goffredo, which evidently mirrors and in fact avoids some of the problems of the quarrel between Achilles and Agamemnon; the delays to the siege and the eventual capture of the city and battle against the Egyptian army. Nevertheless, the overwhelming interest of the poem is in the incidental episodes. The most interesting and moving episodes of the poem are those which involve pagan female characters, Erminia, Clorinda and Armida. So what Tasso achieves is a sort of mixture between Homer and Ariosto in which the Homeric firmness of purpose is enlivened with episodes which rely on romance motifs and on the conflicted motivations and internal divisions of the characters. 20 Schönberg. Style and Idea, ed. Stein, p. 174. 21 Tasso. Gerusalemme Liberata, ed. Tomasi. 22 Tasso. Discorsi, ed. Poma, pp. 7, 14, 17–21, 35–36.

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Tasso could hardly have avoided the example of Ariosto, his illustrious predecessor at the Este court in Ferrara. And indeed he had no wish to do so. Some of what Ariosto did appealed very strongly to him. On the contrary, Tasso was under no obligation to take account of Homer, but he chose to do so because his way of understanding Homer’s example enabled him to adapt the model of Ariosto in ways which appealed strongly to his sense of poetic form and poetic seriousness. Tasso also took a great deal from Virgil since the use of motifs from Virgil was more or less a requirement in trying to write an epic. When the audience noticed Tasso’s use of motifs from Virgil, such as his double rewriting of the night raid, they would have seen the ways in which Tasso both exploited the possibilities of the episode and rewrote it23. The rewriting of the Dido episode in Rinaldo’s departure from Armida both acknowledges Aeneas’s heartlessness and paves the way for the eventual rehabilitation of Armida at the end of the poem24. The audience’s knowledge of Virgil’s handling of Camilla in Aeneid 11 would have prepared them to understand Tasso’s story of the early life of Clorinda as a highly emotional modern Christian reworking of the Virgilian material25. So the compulsory tradition provides Tasso with materials with which he can make meanings, while the optional tradition provides him with justification for writing in new ways. In my analysis of these examples, I have invoked rhetorical theory mainly to insist on the agency of the writer, considering what to say to a particular audience in a particular situation, and how to say it. Rhetorical theory helps me to highlight the sharing of knowledge between writer and audience which helps the writer make certain types of meaning. Thinking for a moment of the speaker’s ethos, I would suggest that the writer’s awareness of tradition can also provide a certain encouragement or confirmation of purpose. When Henri Matisse sent Paul Cezanne’s “Three Bathers” to the Museum of the City of Paris in 1936 he sent with it a letter in which he declared, “In the thirty-seven years I have owned this canvas, I have come to know it quite well, though not entirely, I hope; it has sustained me morally in the critical moments of my venture as an artist; I have drawn from it my faith and my perseverance”26. Implicitly or explicitly sharing with the audience the way in which one is aware of belonging to a tradition may help in the cultivation of goodwill in the sense that the speaker acknowl­ edges and even to some extent creates the audience’s knowledge of previous texts. But there may also be something in rhetoric which resists incorporation as t­ radition. Where the invocation of tradition sometimes implies a sort of compulsion on the 23 24 25 26

Tasso. Gerusalemme Liberata, IX.1–99, XII.1–17, 42–70, compare Virgil, Aeneid, IX.176–449. Tasso. Gerusalemme Liberata, XVI.38–60, compare Virgil, Aeneid, IV.296–705. Tasso. Gerusalemme Liberata, XII.18–41, compare Virgil, Aeneid, XI.532–596. Henri Matisse. Letter to Raymond Escholier, 10 November 1936, in: Flam (ed.): Matisse on Art, document 14, p. 75.

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present or future writer, the principles of rhetoric prefer to insist on the orator’s need to choose those arguments and techniques which will be most effective in order to persuade a specific audience. My suggestion is that we should regard this tension, or even contradiction, as an opportunity rather than as a problem. There are always reasons why a word like tradition has come to be used in so many different ways, but we have to do our best to use language as we find it and, on the whole language has proved capable of expressing most of what we need to express. To recognise that the word carries different meanings and overtones and to use it cautiously in that light may be the best way forward. The alternatives of abandoning the word altogether or of finding new words defined to express each of the various concepts individually are less practical and less potentially illuminating.

Bibliography Sources Rudolf Agricola. De inventione dialectica libri tres. Auf der Grundlage der Edition von Alardus von Amsterdam (1539) ed. Lothar Mundt, Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext, 11). Helmrath, Johannes (ed.): Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., 5th section, part 2: Reichsversammlung zu Frankfurt 1454 (Deutsche Reichstagsakten. Ältere Reihe, 19,2). John Milton. Complete Poems and Major Prose, ed. Merritt Y. Hughes, Indianapolis 1975. Arnold Schönberg. Style and Idea, ed. Leonard Stein, London 1975. Torquato Tasso. Discorsi dell’arte poetica e del poema eroico, ed. Luigi Poma, Bari 1964 (Scrittori d’Italia, 228). Torquato Tasso. Gerusalemme Liberata, ed. Franco Tomasi, 3 vols., Bologna 2009.

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Peter Mack

Mack, Peter: Elizabethan Parliamentary Oratory, in: Huntington Library Quarterly 64:1–2 (2001), pp. 23–61. Mack, Peter: Elizabethan Rhetoric: Theory and Practice, Cambridge 2002. Mack, Peter: Rhetoric and Politics in the Elizabethan Parliament, in: Feuchter, Jörg/Helmrath, Johannes (ed.): Politische Redekultur in der Vormoderne, Frankfurt 2008 (Eigene und fremde Welten. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel, 9), pp. 173–187. Mack, Peter: A History of Renaissance Rhetoric 1380–1620, Oxford 2011 (Oxford Warburg Studies). Prendergast, Christopher: The Classic: Sainte-Beuve and the Nineteenth-Century Culture Wars, Oxford 2007. Sainte-Beuve, Charles Augustin de: Causeries du lundi, 16 vols., 3rd ed., Paris 1857–1870. Shils, Edward: Tradition, London 1981 (The T.S. Eliot Memorial Lectures, Delivered at Eliot College in the University of Kent at Canterbury, 1974). Trevor-Roper, Hugh: The Invention of Tradition. The Highland Tradition of Scotland, in: Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (ed.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, pp. 15–41. Weinsheimer, Joel: Gadamer’s Hermeneutics: A Reading of Truth and Method, New Haven 1985.

IV. HUMANISMUS UND RENAISSANCE

Why did Leonardo Bruni Translate Xenophon’s Hiero? Patrick Baker

In the first years of the fifteenth century, Leonardo Bruni wrote in a literary dedication to Niccolò Niccoli: Quamobrem, Nicolae, minime nobis errare visus es in tali viro diligendo. Quid enim illi abfuit pulcherrimarum rerum? Quid non summe fuit? Quaeris doctrinam in homine? Doctissimus Xenophon. Laudas prudentiam? Prudentissimus. Gaudes eloquentia? At hic inter principes eius rei commemoratur. Virtutem amas? At hic omnium aetatis suae optimus vir fuit1.

It does not shock us to hear a humanist lavish extravagant praise on an exemplar of ancient virtue. In the writings of Leonardo Bruni especially it is easy to find such passages. And for those who love the classical tradition, delight can be taken in his assessment of Plato: a “most wise and excellent man”2; of Aristotle: in whom “all is perfection”3; and of Cicero: “replete with all wisdom and learning4.” But it might surprise us to find that the learned, prudent, eloquent, and most virtuous man referred to in the dedication is the fourth century B.C. historian and philosopher Xenophon. Despite having been a student of Socrates, despite having endowed posterity with a wealth of first-rate writings, and despite having been beloved by educated readers in the West throughout antiquity and early modern history, Xenophon has been at the nadir of his literary fortune for the past two centuries, especially in the Germanic and Anglo-American world. To the extent that he is read today, it is as an introductory Greek text, and the only recognition he receives is as a model of Attic prose. No longer considered a font of wisdom, Xenophon is usually discounted as either a military man or an eccentric oligarch. His conspicuous presence at the new dawn of Greek studies begs for explanation. 1 2

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Preface to Bruni’s translation of Xenophon’s Hiero, in Bruni. Schriften, ed. Baron, p. 101. Preface to his translation of Plato’s Letters, in Bruni. Schriften, ed. Baron, p. 136: illo summo ac sapientissimo homine […]. Cerno […] prudentiam eximiam, iustitiam singularem, constantiam vero non protervam neque inhumanam. Vita Aristotelis, in Bruni, Opere letterarie e politiche, ed. Paolo Viti, p. 524: In Aristotele vero perfecta sunt omnia. Cicero novus, in Bruni, Schriften, ed. Baron, p. 115: plenus omni sapientia omnique doctrina.

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Patrick Baker

Leonardo Bruni was the most widely-read and one of the most influential humanists of the fifteenth century5, as well as a seminal figure in Greek studies6. Over the course of his life, he would translate two of Xenophon’s works – the Hiero, or De tyranno (1401/3), and the Apology of Socrates (1407) – and adapt a third, the Hellenica (1429), for his historical work Commentarium rerum graecarum7. The Hiero, a fictional dialogue on tyranny between the poet and philosopher Simonides and Hiero, tyrant of Syracuse, was one of Bruni’s first Greek translations. Indeed, it was among the first ever produced in the Italian Renaissance, and the two hundred manuscripts of it that survive today testify to its incredible popularity8. Despite the great success of this translation, and despite Bruni’s unqualified praise for Xenophon, very little sustained attention has been given to the Hiero9. In what follows, I will attempt to explain Bruni’s choice of the text, and I hope to clarify its place in broader efforts to restore the Greek literary heritage to the Latin West. There will be five main points of consideration: (1) the place of the translation in Bruni’s opus; (2) the political and intellectual milieu of Florence; (3) the influence of Manuel Chrysoloras; (4) the primacy of Cicero in the interests and methods of early humanism; and (5) Bruni’s efforts to safeguard and resurrect the world of classical antiquity. Ultimately, I hope to make sense of Bruni’s translation and publication of the Hiero as a chapter in the history of the classical tradition. Hans Baron noted that Bruni claims to have undertaken his translation ingenii exercendi gratia, i.e., as an intellectual exercise10. Taken simply, there is undoubtedly some truth to this statement. Bruni had only recently finished his Greek studies with Manuel Chrysoloras. He appears to have completed and published only one translation previous to this: St. Basil’s letter To Youths on the Reading of Pagan Literature. As he himself admits at the end of the dedicatory letter, he was in primitiis studiorum nostrorum11, at the beginning of his studies. Nevertheless, simple exercises rarely see the light of day, nor do they often bear letters of dedication. What is more, exercises are not usually 5

The vast diffusion of his works is obvious from the manuscript census in Hankins: Repertorium Brunianum, passim. See also Baker: Italian Renaissance Humanism, pp. 269, 272–273. 6 On Bruni as a student of Greek and translator, see Hankins: Manuel Chrysoloras; Hankins: Translation Practice; and Botley: Latin Translation in the Renaissance, ch. 1. 7 On Bruni’s use of the Hellenica, see Ianziti: Writing History, ch. 11; and Botley: Latin Translation in the Renaissance, ch. 1. 8 Of Bruni’s works, only his translations of Aristotle and St. Basil were more popular. For the exact numbers and an interpretation of their meaning, see Hankins: Repertorium Brunianum, introduction and passim. For the manuscripts of the Hiero, see Marsh: Xenophon, pp. 149–155 (Hiero). 9 An important exception is Maxson: Kings and Tyrants. 10 Bruni. Schriften, ed. Baron, p. 100. See also the end of the preface, where he claims cum exercere nos vellemus (p. 101). Cf. Baron: Humanistic and Political Literature, pp. 117–118. 11 Bruni. Schriften, ed. Baron, p. 101.

Why did Leonardo Bruni Translate Xenophon’s Hiero?

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collected by the author into a corpus of works for the purpose of mass proliferation, as appears to be the case here12. Much more likely is that this is a mere trope, one that smacks of the ironic humility with which such works were commonly introduced13. If Bruni’s statement can be taken as indicative of anything, it is of his confidence in his own capability as translator. But this does not help us answer the question at hand: why did Bruni choose this text? Brian Maxson and Paolo Viti have argued that Bruni translated the Hiero for political reasons and that it played a part in civic humanism, aiding in the defense of Florence’s republican freedom from the looming threat of Milanese tyranny14. The problems of the classic version of the civic humanism thesis aside15, the content of the Hiero, in any but the most far-fetched of readings, is simply inimical to the ideology of Florentina libertas. A brief summary of Xenophon’s dialogue on tyranny will highlight the difficulties of placing its translation in the context of civic humanism. The wise man Simonides visits the tyrant Hiero in Syracuse. When leisure permits, they fall into a discussion comparing the merits of the life of a private man to the fruits of the tyrant’s unrestricted license. Simonides praises the tyrant for his limitless access to bodily delights, praise, power, and love. Unexpectedly, Hiero counters point for point, painting the tyrant’s fate in the bleakest of colors. Excess and a lack of comparison prevent the true enjoyment of bodily pleasures. The tyrant cannot enjoy the praise heaped upon him, for the fear and greed that motivate most men cast doubt on the pure intentions of the faithful. Thus the enjoyment of love is also ruined, for who could trust the affection of one who stands to gain as much as the lover of a tyrant? Finally, the tyrant is actually powerless. He can never leave home for fear of revolt, and he can never leave the company of bodyguards for fear of assassination. Hiero concludes that the only good available to the tyrant is hanging himself: his life is not worth living. If the dialogue ended here, Bruni surly would have fit a gem into the ideological crown of Florentine freedom. But here only the midpoint of the dialogue has been reached, the moment of greatest tension which will ultimately be relieved by the wisdom of Simonides. Instead of agreeing with Hiero about the inescapable fate of tyrants, he counsels him on how to ameliorate his position without giving up his power. The tyrant must consider his subjects members of his family, his city his own estate: siblings and children should be indulged and treated well, and one should not despoil one’s own lands. By ruling with magnanimity and selflessness, the tyrant will earn 12 Hankins: Plato in the Italian Renaissance, vol. I, p. 51, n. 46. 13 See Gualdo Rosa: Lettere di dedica, esp. her consideration of Bruni on 71–73. Her analysis of the preface to the Hiero is that “il Bruni segue lo schema compositivo più tradizionale.” 14 Maxson: Kings and Tyrants; Viti: Introduzione. 15 Cf. Hankins (ed.): Renaissance Civic Humanism.

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genuine respect, and he will come to know and trust the true love of heartfelt affection. If he acts appropriately, the tyrant will possess the most beautiful, the most blessed of all things in human life: happiness without envy. It is unlikely, to say the least, that this collocation of tyranny with the beatissima vita could function in the service of Florentine civic humanism. One could try to see here, just as many have seen in Machiavelli’s Prince, an ironic portrayal of the prospects for tyranny that actually serves to criticize its darkest side. Thus, the Visconti of Milan might become philosopher kings in a wise man’s utopia, but in reality their wretchedness can only be relieved by the noose. But what makes this hypothesis at least possible with regard to the Prince – that there the tyrant is left uninformed of his own depraved state, and thus that the joke is on him – does not hold true for the Hiero. Xenophon is explicit about what is in store for the short-sighted tyrant. He is also explicit about what the tyrant can do to benefit both himself and his people. On the one hand, this is a far cry from Salutati’s public letters, whose absolute damnation of tyranny the Milanese signore Giangaleazzo Visconti considered more dangerous to himself than a regiment of Florentine soldiers16. On the other hand, it invites an even more sinister reading of the dialogue: Xenophon, and through his translation, Bruni, too, has given the tyrant a handbook not only for the stabilization of tyranny, but also for the insidious legitimization of self-interested exploitation by means of a propaganda of paternalism and lordly grace. The difficulties of situating the Hiero in the framework of civic humanism also militate against the third and last explanation that has been offered for Bruni’s translation: that it somehow complements Coluccio Salutati’s De tyranno17. Such would seem to be a logical assumption. The two works share a common title: the alternative title for the Hiero is De tyranno. Furthermore, their dates are close: 140018 for Salutati and 1401/140319 for Bruni. Nevertheless, there is no evidence to substantiate the impression given by these coincidences. The lacuna in Bruni’s epistolario, where we would hope to find information (precisely here in the early years of his literary and professional career), has long frustrated scholars, and we, unfortunately, must suffer likewise. But the hole in Bruni’s correspondence is matched by silence from Salutati’s. If Bruni chose Xenophon to complement Salutati’s work, we might expect his pater ac praeceptor20 to comment on it. Furthermore, neither Salutati nor his treatise is so much 16 17 18 19 20

Witt: Coluccio Salutati, chs. 4–5. Weiss: Gli inizi, p. 252. A slightly different approach in Maxson: Kings and Tyrants. For Salutati’s De tyranno, see Witt: Hercules at the Crossroads, ch. 14, esp. pp. 378–387. Hankins: Plato in the Italian Renaissance, vol. II, pp. 376–378. This characterization of Salutati comes from Bruni’s letter (I 1 [8]) to Niccolò Niccoli, 5 September 1400: Bruni. Epistolarium, ed. Hankins, vol. I, p. 16.

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as mentioned in the dedication to Bruni’s translation. Ultimately, though, the attempt to identify a kinship between the two works fails because their intentions are not commensurate. Salutati’s De tyranno seeks to defend Dante and thus Caesar’s status as a legitimate prince as opposed to a tyrant. His exposition is juristic, and his concern is above all with legitimacy. His condemnation of tyranny is absolute21. In contrast, Xenophon’s Hiero raises the prospect of beneficent albeit illegitimate tyranny even at the hands of one of history’s most notorious tyrants. We are on firmer ground if we consider the availability of Greek texts and the nature of Greek studies at the time of Bruni’s translation. Manuel Chrysoloras, the man responsible for the return of Greek studies to Italy and Bruni’s teacher, relied in the classroom on oral instruction and direct contact with the texts he brought with him to Italy22. Xenophon was likely one of the authors so used23. And if Bruni chose to translate him because he had been one of his classroom authors, such is borne out by his renderings of several of Plutarch’s Lives, which were also most certainly used as a teaching text24. Plato’s Phaedo, Demosthenes’ Pro Diopithe, and Xenophon’s Apology are also known to have been in Chrysoloras’ library25, and all were translated by Bruni in the first decade of his Greek studies. Chrysoloras’ library merits closer attention. It is known to have contained classical texts of Plato, Aristotle, and Demosthenes but was equally weighted towards later authors26. The literary tastes and interests it represents seem to have been adopted by Chrysoloras’ students27. They focused a large part of their earliest translation efforts on what today would be considered writers of the Second Sophistic: Ptolemy, Lucian, and Plutarch. In this connection, we should also remember that Bruni imitated Aelius Aristides’ Panathenaic Oration in his Laudatio of Florence28. Xenophon, although a classical author, seems to us today as odd a choice as Ptolemy or Aristeides. But these are prejudices about antiquity inherited from the preferences and classifications of the 21 Witt: Hercules at the Crossroads, ch. 14, esp. pp. 378–387 and above all p. 383: “Salutati has no intention of justifying tyranny in any way.” 22 Berti: Alla scuola; Wilson: From Byzantium to Italy, pp. 8–12, ch. 2. 23 Marsh: Xenophon, p. 80. 24 Cf. Chrysoloras’ letter to Salutati: Epistolario, ed. Novati, vol. IV, p. 333. 25 Pontani: Primi appunti. 26 Ibid. The authors of the Second Sophistic known to have been in Chrysoloras’ library were Lucian, Plutarch, Ptolemy, Dio Chrysostom, Libanius, and Philostratus. 27 In addition to the observations made in this paragraph, consider also the catholic range of tastes found in the libraries of Palla Strozzi and Guarino Veronese, two of Chrysoloras’ most important students. See Diller: Greek Codices. 28 In the judgment of Charles A. Behr, “His work shows a deep knowledge of the text of the Panathenaicus and perhaps other works of Aristeides as well.” Behr: Introduction, ch. 4: “A Brief History of the Study of Aristides in the West and the Printed Texts,” p. xcix.

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latter-day Hellenists of Germany and England, and we should not allow them to cloud our understanding and appraisal of Quattrocento classicism29. The more catholic taste of Chrysoloras was surely decisive for the projects of his students. But while it helps to make sense of some of their textual choices, it does not fully explain them. We should note first that Bruni never translated anything by Lucian, whose Timon and Charon are the only texts known for certain to have been used in the Florentine classroom30. More importantly, Chrysoloras did not encourage the massive project of translation embarked upon by his students. As Ernesto Berti has pointed out, that was the product of trends that were “tutte latine”31. Bruni and his fellows did not wish simply to restore Greek literature to the West;32 they toiled to make it available in Latin33. According to James Hankins, they intended primarily to mine it for all that was useful for the reestablishment of ancient greatness in their own day, especially abundance and eloquence of expression, oratorical power, historical information and exempla, and philosophical insight34. The Hiero, however, does not fit so obviously into this program. Although set in Syracuse and featuring one of its most important rulers, the piece contains no historical information. Nor did its philosophical teachings lend themselves to Bruni’s circumstances. It might have attracted Bruni as a dialogic model, and it likely had some appeal as an exemplar of pro et contra disputation. In my view, however, the Hiero’s place in the translation project becomes most intelligible within the context of Bruni’s imitation of Cicero. The Roman philosopher and statesman was one of the two sources most likely to have directed Bruni’s attention to Xenophon. The other, of course, is Chrysoloras, whose influence we have already mentioned; if not from direct contact with Xenophon’s own works, it was most likely from his Greek teacher that Bruni learned of the Athenian’s youth as a student of Socrates, of his subsequent military exploits, and of his general reputation for eloquence and wisdom. Even before Chrysoloras arrived in Italy, however, Bruni likely knew of Xenophon 29 This point has been made with great force and philological rigor by Berti: Traduzioni oratorie fedeli. 30 See Berti: Alla scuola. It should be remembered, however, that the author of the early translations of Timon and Charon has never been identified. 31 Berti: Manuele Crisolora, esp. pp. 91–92: “È fuor di dubbio che le prime vere traduzioni umanistiche sono nate all’ombra della scuola di Crisolora, ma non al suo interno e non come impegno program­ matico della didattica del maestro: l’impresa delle traduzioni oratorie, oggi diremmo letterarie, nasceva da dinamiche che erano tutte latine” (emphasis mine). 32 Bruni claimed that Greek had been lost seven hundred years prior in his Memoirs, in Bruni. History, ed. Hankins/Bradley, vol. III, pp. 320–321. 33 Bruni testifies to this eloquently in the preface to his translation of Plato’s Phaedrus, in Bruni. Schriften, ed. Baron, pp. 125–127: Nos, tunc adolescentes […] sed generatim attingere. 34 Hankins: Manuel Chrysoloras, esp. p. 255.

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through the writings of Cicero. There Xenophon is portrayed as a philosopher, histo­ rian, and moralist of the highest order, and when considered as a thinker and writer he commonly appears in the company of Plato, Aristotle, and Thucydides35. Bruni would have known that the great Scipio Africanus was never without the Cyropaedia, inspired as he was by its teachings on virtue36. Bruni also would have heard Cicero’s injunction, multas ad res perutiles Xenophontis libri sunt, quos legite, quaeso, studiose, ut facitis37. And he would have known Cicero’s judgment of the man: Qui vir et quantus38! Bruni’s imitation of Cicero extended beyond his choice of Greek authors to his method for translating them into Latin. Admittedly, his De interpretatione recta, as well as his mastery of the method it described, owed much to the instruction of Ma­nuel Chrysoloras39. Even before the dotto bizantino’s arrival in Florence (1397), however, the Salutati circle had moved in the direction of more eloquent translations. They knew the advantages of the ad sententiam, as opposed to ad verbum, technique from Cicero’s De optimo genere oratorum40. And from this and other sources41, they knew of Cicero’s own translation efforts, which he claims to have pursued for the benefit of his Latin style: the poetry of Aratus, Plato’s Protagoras and Timaeus, Demosthenes’ Pro Diopithe, Aeschines’ Against Ctesiphon, and Xenophon’s Oeconomicus. Bruni followed suit42. Among his early translations are the same orations of Demosthenes and Aes35 Xenophon is referred to explicitly as a “philosopher” in Orator 62 and Ep. ad Quintum I.1.23. He is mentioned in the company of other philosophers in De natura deorum I.31, De oratore III.139, De divinatione I.52–3, Brutus 292, De inventione I.51–2. His association with Socrates is mentioned in De divinatione I.123. The power of his historical writing is praised in Ep. ad Quintum I.2.7, Ep. ad Fam. V.12.7. He is put in the company of Thucydides in Orator 32. His eloquence is praised explicitly and highly in Orator 62: Xenophontis voce Musas quasi locutas ferunt. His moral tenets are cited or praised often, e.g., Tusc. Dis V.99, De officiis I.118. His Cyropaedia is often cited and is quoted at length in De senectute 30, 79–81, which also draws on his Symposium (46) and Oeconomicus (59). Not all of these texts were avail­ able to Bruni at the turn of the fifteenth century, but his excellent knowledge of Cicero in general makes ignorance of the general assessment of Xenophon in Cicero’s oeuvre highly unlikely. I am indebt­ed for a few of the above references to Anderson: Xenophon, pp. 2–3. 36 Tusc. Disp. II.62. Cicero declares his own supposed use of the Cyropaedia in Ep. ad Fam. IX.25.2. 37 De senectute 59. 38 De divinatione I.52–3. 39 On Chrysoloras’ influence on his students’ translations, see the works of Ernesto Berti cited above. 40 De optimo genere oratorum, 5, 14. Cf. Berti: Traduzioni oratorie fedeli. For a brief but solid overview of Cicero’s place in Bruni’s approach to translation, see Griffiths/Hankins/Thompson (ed.): Humanism of Leonardo Bruni, p. 210. 41 E.g., De officiis II.87 (which specifically mentions his translation of Xenophon’s Oeconomicus); De oratore I.155. 42 Bruni certainly knew of these translations, and he claims explicitly to have translated Demosthenes and Aeschines in imitation of Cicero in his Cicero Novus, in Bruni. Schriften, ed. Baron, p. 116: transtulit Platonis Timaeum atque Protagoram, Xenophontis oeconomicum, Arati librum hexametro carmine, Demosthenis et Aeschinis orationes illas famosissimas in causa Ctesiphontis (quae cum apud nostros negligenter custoditae iampridem ex italia tamquam peregrinae alienaeque aufugissent, nos Ciceronem imit-

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chines, Plato’s Phaedo, and Xenophon’s Hiero and Apology of Socrates. Cicero had devoted energy to the translation, integration, and proliferation of Greek texts throughout his whole life, not only to improve his style but also to ensure the place of supposedly effeminate Greek philosophy and literature in the manly world of Rome43. At the turn of the fifteenth century Bruni was poised to do much the same; but for him the task was arguably more difficult. Whereas Cicero had to convince a manly world of the value or at least harmlessness of Greeky texts, Bruni and his cohort set out to prove pagan literature not only harmless and maybe interesting to a Christian world, but ultimately necessary for the good life and the acquisition of virtue44. The project of translating ancient pagan literature formed part of this larger undertaking. Thus in the prefaces to his translations, Bruni often commented on the ability of the work itself or the biography of its author to instill virtue in the reader. He promised Pietro Miani, for example, that Plutarch’s Life of Aemilius Paulus would cause his children to scorn the inherited prestige of their family name and rise to genuine virtue45. He dedicated his translations of Phaedo and Gorgias to popes Innocent VII and John XXIII respectively, and in the prefaces to both he stressed the moral virtue and theological orthodoxy of Plato. The Phaedo, he assures, will even be useful for the learning, understanding, and confirmation of the true faith46. In the preface to his translation of Plato’s Letters, he advises Cosimo de’ Medici to adopt his own solution to moral dilemmas: to contemplate what Plato would do47! Similarly with Xenophon, of whose deeds and virtue Bruni offers sustained praise. First, his life: In nullo enim, inquam, tot simul bonas artes vel mediocriter fuisse accepimus, quot in Xenophonte nostro summe fuere, qui ab scholis gymnasiisque philosophorum, in quibus ille prae ceteris floruerat, ad arma exercitusque delatus ita eximia corporis animique virtute eluxit, ut brevissimo tempore consensu omnium ex paene milite dux crearetur; qui bellum difficillimum ac periculosissimum ita gessit, ut plurimis ex hoste victoriis summa cum gloria potiretur exer-

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ati eas ex Graecia in Latinum nostra manu reduximus). That Bruni translated the Hiero in imitation of Cicero has also been suggested by Botley: Latin Translation in the Renaissance, p. 9. This is one of the main objects of Tusculan Disputations, esp. Book I, which demonstrates the manliness of philosophy. Socrates’ approach to death and his death itself are the centerpieces of the exposition. Hankins: Manuel Chrysoloras, identifies the translation and defense of pagan Greek literature in a Christian world as central to the aims of Petrarchan humanism. Proem to Life of Aemelius Paulus, in Bruni. Sulla perfetta traduzione, ed. Viti, p. 246. Preface to Plato’s Gorgias, in Bruni. Sulla perfetta traduzione, ed. Viti, p. 236: ceteris vero hominibus […] hominis pertinet. Bruni. Schriften, ed. Baron, p. 136: qua enim in re […] Platonem ita fecisse?

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citumque victorem ex intimis Babyloniae finibus per infestissimas atque barbaras gentes ad patrias sedes reportaret incolumem. Mitto Thraciam, Byzantium, Sinopem aliaque infinita loca, quae illum ut iustissimum virum, ita etiam summum ducem ac bello timendum esse senserunt. Deinde, cum iam eius nomen tota Graecia celeberrimum esset ob eamque causam ab invidis civibus hostis patriae iudicatus fuisset, in Peloponnesum se recepit atque ibi ad disciplinas librosque reversus, cum ad ea, quae ab Socrate in adolescentia didicerat, multarum rerum usum adiunxisset, res et cogitationes suas mandare litteris instituit. Qua quidem in re ita excelluit, ut eius elegantiam admirari quidem omnes, assequi vero nulli adhuc potuerint48.

As for his character, we saw at the outset that Xenophon was deeply learned, highly prudent, celebrated for his eloquence, and so possessed of virtue that he was omnium aetatis suae optimus vir. From the tone of the dedicatory letter, one is tempted to accept the simplest explanation for Bruni’s translation: he truly admired Xenophon and liked his work. And yet, despite the roar of praise for the man, there is not one mention of the text. Nor does the content of the Hiero seem to have penetrated Bruni’s thought. The dialogue’s observations on good government, on the peculiar predicament of the tyrant, and on the relations between rulers and ruled form no obvious part of Bruni’s young or mature political thought, which was largely the product of Aristotle. He did, it is true, find the Hiero worthy of commonplace spoliation. In his letter to Humphrey of Gloucester, for example, in which he declines the duke’s invitation to England but takes up his request to translate Aristotle’s Politics, he flatters with a paraphrase of Simonides49. Yet beyond such silent quotation, Bruni appears to have made little use of the author he praised so highly. And that praise itself is ultimately deceiving. After translating the Apology in 1407, Bruni would not return to Xenophon for another twenty-two years, when he used the Hellenica for his own Commentarium rerum graecarum. In the meantime he would not inordinately praise Xenophon, nor would that optimus vir receive a place alongside philosophers like Plato and Aristotle, or orators like Demosthenes and Cicero, in

48 Ibid., pp. 100–101. 49 This letter is dated by Baron to 1428(?)–1435. The text of the letter is in ibid., pp. 138–139: si salutet familiariter princeps et alter quidam, mirabile est, quanto laetius atque gratius illa principis salutatio recipiatur. Eodemque modo, si laudet, si donet, si hortetur, si aegrotantem visitet, pari in re atque actu incomparabiliter maius ac praestantius venit, quod a principe proficiscitur, ut dono quodam mirabili atque divino in hac quidem parte antecellere videatur. Compare with Bruni’s translation of the Hiero, as found in ms. Florence, Biblioteca Laurenziana, Acquisti e doni 446, fol. 155r–v.

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enumerations of great ancients50. Bruni did use Xenophon once as an exemplum51, but did not single him out for reading in the educational treatise On the Study of Letters. Xenophon’s privileged status early in Bruni’s life seems to have been followed by a journey into obscurity of even greater magnitude. I think this problem can be resolved by focusing on another aspect of the preface to the Hiero, namely that the praise of Xenophon is accompanied by a sustained praise of the translation’s dedicatee, Niccolò Niccoli: Qui et Latinarum litterarum tantam peritiam habes, quantam nemo fere hoc tempore alter […]. Atque ita existimes velim, neminem prorsus esse ex omni iuventute, cuius ego iudicium pluris faciam quam tuum; quantum tua singulare ac paene incredibili in cunctis rebus perpendendis examinandisque diligentia. Sed cum universae antiquitatis studiosissimus sis omnibusque veteribus illis summa auctoritate viris mirabiliter affectus videare, tamen, ut ego ex sermonibus tuis, quos pro nostra familiaritate saepe mecum instituis, animadvertere potui, praecipuo quodam amore Xenophontem amplecteris52.

The intention here is to praise Niccoli by putting him in the company of a great ancient, as well as to praise humanism for its recognition and love of ancient greatness. The Hiero, then, would seem to stand in for Xenophon himself; it functions to represent a man long dead so that he can be held up as a model for his modern counterpart and an inspiration to the modern world. Xenophon was the greatest man of his age, renowned especially for his virtue and eloquence. Niccoli is the most learned man of his age, and he has recognized the glory of Xenophon. The perfect exponent of humanism bears a “special kind of love” (praecipuo quodam amore) for the ancient model of virtue. The general message is clear: humanism loves virtue. That the content of the Hiero is not involved in this praise of virtue should not be surprising. After all, Bruni praised Plato to the heavens without ever really understanding him, much less even approving of him.53 In early humanism especially there is a fetishistic aspect to the praise of the ancients. With cult-like awe they venerate an antiquity they are convinced deserves it but do not yet know why. Many of what are 50 For example, he does not appear in a list of ancients especially worthy of praise, enumerated in the preface to Bruni’s translation of Plutarch’s Life of Sertorius. Included are Plato, Aristotle, and Carneades for wisdom and learning; Demosthenes and Cicero for eloquence; and Pericles, Solon, and Cato for governing (Bruni, Schriften, ed. Baron, p. 125). 51 In his preface to his redaction of Procopius’ Gothic War. There he compares his own plight of having to narrate the destruction of Italy to Xenophon’s, forced by the evils of the times to chronicle in his Hellenica the tribulations of his native Athens. Cf. Bruni. Schriften, ed. Baron, p. 147. 52 Ibid., p. 100. 53 Hankins: Plato in the Italian Renaissance, pp. 63, 99–100.

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now the classics were to them little more than names. Their project was to flesh out those authors, to find their texts, make them available to a Latin audience, and thus to reconstruct the world of antiquity and, to the extent possible, to reconstitute it’s assumed greatness and virtue in their own day. I have argued that three factors led Leonardo Bruni to translate Xenophon’s Hiero: (1) the literary tastes and influence of his teacher Chrysoloras; (2) the desire to imitate Cicero; and (3) the project to reconstruct the library of classical antiquity and to establish it in a Christian world traditionally ignorant and skeptical of pagan Greek literature (aside from Aristotle). At first glance, none of these causes is particularly new or shocking. The importance of the dotti bizantini in shaping Greek studies in the Latin West is well known. That early humanists sought to imitate Cicero is a commonplace. The desire to resuscitate the world of classical antiquity is itself a definition of the Re­naissance. The confluence of these factors in Bruni’s translation of Xenophon, however, should give us pause to reflect on the meaning of Renaissance classicism. Chrysoloras influenced Greek studies in more ways than simply by bringing them back to Italy and teaching the humanists how to translate. His personal interests, and the broader literary tastes of Byzantium they likely reflected, were key for the humanists’ understanding of and desire for Greek authors and texts. Of greater importance, however, was Cicero. Bruni’s Dialogi show that the early humanists knew enough to know that they did not know about the ancient world. This Socratic ignorance they derived largely from Cicero, and they tried to fill the holes in their knowledge according to the names dropped in his works. Bruni’s translation of Xenophon should then make perfect sense. Cicero had said Xenophon was great, and thus he was. Finally, Cicero’s importance in shaping the trajectory of humanism should make us ponder which antiquity humanists thought they were resurrecting. Here I am not thinking of the disjunction that so often occurs between interpretations or refashionings of the past and the reality of antiquity itself. Much more simply, I am stressing the difference in the term “classics” as it is used by us and as it was understood by humanists. For Bruni and his companions, the term ‘ancients’ (veteres) embraced authors from Homer to Boethius. Not all authors in that period were considered worth reading, but that was the span of time thought to precede the barbarous Dark Age posited by Petrarch. That was the era in which learning and thus virtue flourished, and which therefore merited study and imitation. The recent revival of the Second Sophistic aside, for us the classics basically include Greek literature from Homer to Demosthenes and Roman literature from Plautus to Tacitus. Even within those narrow bound-

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aries, though, the authors considered worth reading – much less imitating – are few indeed. Xenophon is definitely out, except as a school text. Cicero himself is out, at least in the sense in which he was long cherished: as an orator, as a statesman, as a philosopher. That Bruni’s translation of the Hiero – despite its unquestionably enormous success – has heretofore received only the scantest attention by scholars is indicative of the broad gulf separating the humanists’ love of the ancients from the modern world’s study of the classics.

Bibliography Manuscripts Florence, Biblioteca Laurenziana, Acquisti e doni 446.

Primary Sources Epistolario di Coluccio Salutati, ed. Francesco Novati, 4 vols. Rome 1891–1911. Leonardo Bruni. History of the Florentine People, ed. and tr. Hankins, James/Bradley, D.J.W., 3 vols., Cambridge, Mass. 2001–2007. Leonardo Bruni. Humanistisch-philosophische Schriften mit einer Chronologie seiner Werke und Briefe, ed. Hans Baron, Leipzig 1928 (Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, 1) Leonardo Bruni. Opere letterarie e politiche, ed. Paolo Viti, Turin 1996 (Classici latini: autori della tarda antichità, del medioevo e dell’umanesimo). Leonardo Bruni. Epistolarium libri VIII recensente Laurentio Mehus (1741), ed. James Hankins, 2 vols., Rome 2007 (Rari 9).

Secondary Sources Anderson, John Kinlich: Xenophon, New York 1974 (Classical Life and Letters). Baker, Patrick: Italian Renaissance Humanism in the Mirror, Cambridge 2015 (Ideas in Context, 114). Baron, Hans: Humanistic and Political Literature in Florence and Venice: Studies in Criticism and Chronology, Cambridge, Mass. 1955. Behr, Charles Allison: Introduction to Aelii Aristidis opera quae exstant omnia, ed. Lenz, Friedrich Walter/Behr, Charles Allison, Leiden 1976.

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Kompetitive Figuren im italienischen Quattrocento: Humanisten, Künstler, Rennpferde* Christian Jaser

Heutzutage sind Wettbewerb und Wettkämpfe nahezu überall anzutreffen. Vom Sport bis zur Unterhaltungsindustrie, von Casting Shows zu globalen Rankings, von der hohen Politik bis zur Mikroebene sozialer Interaktionen, das kompetitive Prinzip durchdringt beinahe jeden Aspekt des Alltagslebens1. Glaubt man Ralph Jessen, sind wir seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mit einer fortschreitenden „Ent­ grenzung“ der Konkurrenz konfrontiert, mit einer „Verwettbewerblichung“, die den engeren Bereich des Ökonomischen transzendiert und auch den homo academicus mittlerweile vollständig erfasst hat, sei es in Form von Universitätsranglisten, Drittmitteleinwerbungen, Exzellenzwettbewerben, quantifizierenden Lehrevaluationen oder performativen Wettkämpfen wie etwa History oder Philo Slams2. Die postmoderne Ubiquität der Konkurrenz – nach Karl-Joachim Hölkeskamp zu definieren als „geregelter Wettbewerb um ein von mehreren, mindestens zwei Interessenten erstrebtes knappes Zielobjekt“3 – fordert geradezu zur historischen Erörterung ihrer Relevanz in unterschiedlichen Kulturen und Epochen heraus. Dabei sind allzu simplistische Erklärungsmodelle ebenso zu vermeiden wie ein essentialisierender Blick auf den Gegenstand als gleichsam biologisch-genetisch verankerte, anthropologische Konstante oder das romantisierende Zerrbild einer konkurrenzlosen Vergangenheit, die mit der entfesselten Kompetitivität der Gegenwart kontrastiert wird4. Gegenüber diesen Meisternarrativen besteht ein „Historisierungspostulat“ und das Gebot, kompetitive Logiken kultur- und sozialhistorisch zu kontextualisieren5. Wie programmatische Aufsätze von Ralph Jessen, Karl-Joachim Hölkeskamp und Markus *

Abkürzungen: b.: busta. – AE: Archivio Estense. – AG: Archivio Gonzaga. – ASMn: Archivio di Stato di Mantova. – ASMo: Archivio di Stato di Modena. – l.: libro. 1 Jessen: Konkurrenz in der Geschichte, S. 7. 2 Ebd., S. 7–8. Vgl. dazu auch Tauschek: Kultur des Wettbewerbs, S. 9–11; Portnoi/Rust/Bagley (Hg.): Higher Education. 3 Hölkeskamp: Konkurrenz, S. 33. Vgl. zur Definition Wees: Rivalry in History, S. 2. 4 Vgl. Tauschek: Konkurrenz, S. 112; Sittig: Kulturelle Konkurrenzen, S. 43–44; Jessen: Konkurrenz in der Geschichte, S. 18. 5 Jessen: Konkurrenz in der Geschichte, S. 19

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Tauschek zuletzt gezeigt haben, impliziert Wettbewerb einen grundlegenden Modus sozialer Praxis und Interaktion und bildet damit einen wesentlichen Gegenstand historischer Forschung6. Entsprechend plädieren Vertreterinnen und Vertreter der Geschichts- und Sozialwissenschaft wie auch der Ethnologie für einen praxeologische und mikrohistorische Untersuchungsperspektive, die das „konkrete Handeln von Akteuren in kompetitiven Konstellationen“ in ihren jeweiligen kulturellen und institutionellen Rahmenbedingungen in den Blick nimmt7. Indem kompetitive Praktiken von spezifischen Werthaltungen, Regelbindungen und Verhaltenserwartungen geprägt und getragen werden, eröffnen sie vielfältige historische Untersuchungspotenziale, entweder in Bezug auf eine bestimmte geschichtliche Epoche, als interepochales bzw. diachrones Vergleichsobjekt oder mit Blick auf eine synchrone Komparatistik verschiedener Gesellschaften8. Traditionell nimmt Wettbewerb in den Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie den Rang eines analytischen Schlüsselbegriffs ein. Hierfür stehen Klassikertexte wie Adam Smiths Wealth of Nations von 1776 mit seinem Loblied auf „free competition“9 oder Georg Simmels Aufsatz Soziologie der Konkurrenz von 1903, der bis heute als „zentraler Referenztext einer interdisziplinären Wettbewerbsforschung“ gelten kann10. Simmel definiert Konkurrenz als eigentümliche und indirekte Form eines Kampfes, der aus „den parallelen Bemühungen beider Parteien um einen und denselben Kampfpreis“ besteht11. Zielpunkt der Konkurrenz sei dabei „durchgängig die Gunst eines oder vieler dritter Personen“ – d. h. einer Jury, eines Schiedsrichters, der Kunden oder Zuschauer –, so dass dem Phänomen daher eine „ungeheure vergesellschaftende Wirkung“ attestiert werden müsse12. Werner Sombart unterscheidet in Der moderne Kapitalismus drei verschiedene Typen: „Gewalt-“, „Suggestions-“ und – als bedeutendste Form – „Leistungskonkurrenz“, die ebenfalls um die ausschlaggebende Entscheidungskompetenz einer dritten Partei kreist: „Die Leistungskonkurrenz ist ‚Konkurrenz‘ im eigentlichen, engeren, man kann auch sagen idealen Sinne, wenn man unter Konkurrenz dem Wortsinn gemäß Wettbewerb versteht. Das heißt: ein ‚Mit-einander-um-die-Wette-Laufen‘, bei dem einer der Sieger bleibt. Das Bild ist aus der Arena genommen. Preisrichter ist ‚das Publikum‘“13. 6 7 8 9 10 11 12 13

Ebd., S. 10. Vgl. dazu Rosa: Wettbewerb als Interaktionsmodus. Hölkeskamp: Konkurrenz, S. 38. Vgl. Tauschek: Kultur des Wettbewerbs, S. 14; Hölkeskamp: Konkurrenz, S. 39. Jessen: Konkurrenz in der Geschichte, S. 18. Smith: Wealth of Nations. Tauschek: Konkurrenz, S. 102. Vgl. Ders.: Kultur des Wettbewerbs, S. 16. Simmel: Soziologie der Konkurrenz, S. 222. Ebd., S. 226. Vgl. dazu Hölkeskamp: Konkurrenz, S. 43; Werron: Wettbewerb, S. 77. Sombart: Moderner Kapitalismus, S. 557. Vgl. Werron: Wettbewerb, S. 76.

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In die Geschichtswissenschaft hat der Konkurrenzbegriff vorrangig als makrohistorisches Etikett für ganze Zivilisationen, Kulturen und Epochen Einzug gehalten, kam dabei aber kaum über den Status einer bloßen Beschreibungskategorie ohne analytische Tiefe hinaus. Während Johan Huizinga in seinem Klassiker Homo Ludens. Proeve eener bepaling van het spel-element der cultuur von 1938 Konkurrenz als zivilisierende Triebfeder des Soziallebens und anthropologische Konstante identifizierte, hatte Jacob Burckhardt beinahe achtzig Jahre vorher „das Agonale“ als exklusives Kennzeichen der griechischen Kultur und insbesondere der griechischen Aristokratie ausgerufen14. In striktem Gegensatz zum nicht-kompetitiven, despotischen Orient sei die griechische Gesellschaft durch eine Dynamik des „Sich-Messens“ und der ständigen „Vergleichung mit Andern“, durch eine „besondere Wucht des agonalen Wesens“ gekennzeichnet15. Trotz der Plausibilitätsdefizite solch großflächiger Zuschreibungen rechnete noch vor einigen Jahren Niall Ferguson wie selbstverständlich „competition“ zu den sechs „killer apps of Western power“, der maßgeblich zur globalen Dominanz des kleinteiligen, multipolaren (West-)Europas zwischen 1500 und 2000 gegenüber den monolithischen Imperien Asiens beigetragen habe16. Unterhalb dieses geopolitischen Paradigmas wurde dem Aspekt der Konkurrenz die Rolle einer Epochensignatur für die Renaissance im Allgemeinen und Renaissanceitalien im Besonderen eingeräumt17. Entsprechend hat Peter Burke die Hochrenaissance zwischen 1490 und 1530 zum „Zeitalter des Wettstreits“18 ausgerufen, der vornehmlich anhand ästhetisch-stilistischer Vergleichskriterien geführt wurde. Einmal mehr hat Jacob Burckhardt in seinen „Vorlesungen über Renaissance“ von 1858/1859 die Grundlagen für dieses Geschichtsbild gelegt und den italienischen Agon des „modernen Ruhms“ folgendermaßen skizziert: „Gegenüber den Concurrenten. Die Städte schämen sich, einander nicht zu übertreffen; ein häßlicher Dom z. E. ist ein Scandal (...). Ebenso Familie gegen Familie; jede anders und prächtiger“.19 Auch in seiner gerade erschienenen monumentalen Monographie Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance bezeichnete Bernd Roeck die Konkurrenz als „Treibmittel kultureller Blüten“, basierend auf volatilen politischen Verhältnissen im Beziehungsgeflecht der Staaten und Stadtrepubliken und einer ausgeprägten sozialen Dynamik und Leistungsorientierung in vergleichsweise offenen Gesellschaften20. Dieser Zusammenhang von sozialer Konfigura14 15 16 17 18 19 20

Huizinga: Homo Ludens, S. 84. Vgl. Prochno: Konkurrenz, S. 10. Burckhardt: Griechische Culturgeschichte, S. 83, 87, 95. Ferguson: Civilization, S. 12, 19–49. Sittig: Kulturelle Konkurrenzen, S. 7, 44. Burke: Europäische Renaissance, S. 92–133. Zit. nach Ganz: Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance, S. 54. Roeck: Morgen der Welt, S. 561. Vgl. dazu auch Ders.: Voraussetzungen einer Weltkultur, S. 23–24.

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tion und kompetitiver Entfaltung war bereits den Zeitgenossen geläufig: Als der in Florenz geborene Humanist Aurelio Lippo Brandolini 1492/1494 einen Vergleich von Republiken und Monarchien anstellte, hob er die Renaissancemetropole am Arno als Inbegriff sozialer aequalitas hervor, die die Florentiner certatim zur Konkurrenz um Reputation und in der Konsequenz zu Höchstleistungen in Kunst und Wissenschaft antreibe21. Noch allgemeiner formuliert Lorenzo Valla 1455 dieses kulturelle Fortschrittsmoment der Konkurrenz: „Denn es ist von Natur aus so angelegt, dass nichts richtig fortschreiten und wachsen kann, was nicht von mehreren betrieben, bearbeitet und verbessert wird – insbesondere wenn diese miteinander wetteifern und um das Lob kämpfen. (...) So werden die Studien befeuert, vollzieht sich Fortschritt, wachsen die Künste und gelangen zur Vollendung, und dies umso besser und schneller, je mehr Menschen an ein und derselben Sache arbeiten“22. Der Fokus des zeitgenössischen Konkurrenzdenkens auf die Studien und bildenden Künste überrascht nicht. Spätestens im Gefolge des labilen Gleichgewichts nach dem Frieden von Lodi 1454 entfaltete sich auf der italienischen Halbinsel eine immer intensivere Medienkonkurrenz23 der Stadtstaaten und Fürstenhäuser. Dieser „Krieg der Zeichen“24, dieses Ringen um Rang und Status, spülte Spezialisten in den Vordergrund, die im Dienst signoriler Patrone mit ihren Leistungen Herrschaftspropaganda und Imagepolitik betrieben: Humanisten und Künstler als vergleichsweise bekannte Größen, aber auch Rennpferde in der Arena der italienischen Paliokonkurrenzen, die von der Forschung bislang nicht als agonale Repräsentanten auf Augenhöhe gesehen worden sind. Was diese drei kompetitiven ‚Figuren‘ – zu verstehen als Akteure, Objekte und Projektionsflächen politischer, sozialer und kultureller Konkurrenzen des italienischen Quattrocento – miteinander verbindet, ist das Leitmoment der Patronage, die im Modus der Rekrutierung, Sammlung und Zurschaustellung ein festes Band zwischen einem fürstlich-signorilen oder stadtbürgerlichen Ermöglichungsgaranten und der jeweiligen agonalen Leistung knüpft. Dabei werden diese Leistungskonkurrenzen von spezifischen Gruppendynamiken und Selbstinszenierungen getragen, die sich wiederum in Prozessen individueller Statuspositionierung und professioneller Formierung widerspiegelten. Letztlich kann anhand von Humanisten, Künstlern und Rennpferden auf ganz unterschiedlichen Feldern – textuelle, visuelle und performative Repräsentationen politisch-sozialer Rangansprüche – ein Blick auf die kulturgeschichtliche Signifikanz des Kompetitiven in italienischen Quattrocento geworfen werden. 21 Brandolini: Republics and Kingdoms Compared, ed. Hankins, S. 136. 22 Valla: Oratio habita in principio sui studii, S. 282. Vgl. dazu Müller /Pfisterer: Allgegenwärtiger Wettstreit, S. 20. 23 Vgl. Reinhardt: Renaissance in Italien, S. 14. 24 Roeck: Urbanistische Konzepte, S. 9f.

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„Patronageland Italien“ – auf diese griffige Formel brachte Bernd Roeck einen der wesentlichen Faktoren für die bis heute beeindruckende Kulturblüte der italienischen Renaissance25. Denn ein Gutteil der zeitgenössischen Medienproduktion und Wettkampfkultur war ohne die Patronage von vorwiegend fürstlich-signorilen, höfischen und stadtbürgerlichen Individuen oder von kirchlichen und bürgerlichen Gemeinschaften nicht zu denken. Allgemein und eher breit lässt sich Patronage als Handlung eines Patrons zur Unterstützung, Ermutigung und Förderung einer Person oder Institution oder eines literarischen oder künstlerischen Werkes definieren26. Patronage konnte im Italien der Renaissance Vieles bedeuten und impliziert soziale und ökonomische Transaktionen: ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis eines Leistungsempfängers gegenüber einem Mäzen oder deren Aufnahme in den Hofdienst in unterschiedlicher zeitlicher Ausdehnung, eine vertragliche Bindung mit Blick auf Auftragsarbeiten, in einem weiteren Sinne auch die Finanzierung, Unterhaltung und Sammlung von repräsentativen Objekten, Tieren und Naturalien27. Auch wenn Patronage sicher zu den bedeutendsten sozialen Prozessen der gesamten europäischen Vormoderne gerechnet werden muss, zeichnet das polyzentrische Italien eine quantitative und qualitative Sonderstellung aus28. Aus dem kommunikativ verdichteten Beziehungsgeflecht alter und neuer Signorien und der auf individueller Leistung basierenden Aufstiegsdynamik von homines novi ergab sich ein Agon um Legitimation, Tradition und Rang. Denn aufgestiegene signori und zu Geld gekommene condottieri bedurften in ganz besonderer Weise der sozialen Strategie der Patronage, um Defizite an herkömmlicher Nobilität und genealogischer Herrschaftsbefähigung im politischen Wettbewerb auszugleichen29. Oder mit den immer noch bestechenden Worten Jacob Burckhardts: Vonnöten war ein „Bündnis (...) mit der höheren geistigen Begabung“, mit dem „Talent“ der Dichter, Gelehrten und Künstler30, die im Dienst ihrer Herren und Auftraggeber eigene Gruppenidentitäten ausbildeten, sich zum Teil professionell formierten und ihrerseits sozialen Aufstieg auf der Grundlage besonderer Expertisen bewerkstelligten. Die Finanzkraft für großzügige Investitionen im Sinne einer agonalen Rang- und Statusdemonstration war südlich der Alpen jedenfalls gegeben: Das berühmte und aus heutiger Erfahrung jederzeit nachvollziehbare Zitat des 25 Roeck: Morgen der Welt, S. 561. 26 Kent/Simons: Renaissance Patronage, S. 1. Vgl. zur Kunstpatronage auch Lytle /Orgel (Hg.): Patronage in the Renaissance; Hollingsworth: Patronage in Renaissance Italy; Kempers: Painting, Power and Patronage; Roeck: Kunstpatronage. 27 Vgl. dazu Roeck: Kunstpatronage, S. 13. 28 Kent/Simmons, Renaissance Patronage, S. 1. Zum transalpinen Vergleich bürgerlicher Patronagestrategien siehe etwa Roeck: Motive bürgerlicher Kunstpatronage, bes. S. 51. 29 Vgl. Burckhardt: Kultur der Renaissance in Italien, S. 7–21; Ruggiero: Renaissance in Italy, S. 38. 30 Burckhardt: Kultur der Renaissance, S. 7f.

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Florentiner Bankiers und Kunstmäzens Giovanni Rucellai, dass das Geldausgeben süßer sei, als es zu verdienen31, offenbart bereits die bürgerliche Lust an der Patronage, und auch die italienischen Fürsten und Signori verfügten über hohe Geldmittel, gerade im Vergleich zu ihren nordalpinen Pendants: Der deutsche Pilger Felix Fabri staunte 1484 nicht schlecht über den Marmorschmuck der Venezianer Kirche S. Maria dei Miracoli und bekannte freimütig: Kein deutscher Fürst könne sich ein solches Bauwerk leisten32. Profiteure dieser wohlbestellten italienischen Patronagelandschaft waren die Humanisten als Protagonisten einer antikebegeisterten Bildungsbewegung, die einen Kanon rhetorischer und historischer Disziplinen praktizierte, einen spezifischen Stil des Sprechens und Schreibens nach antiken Vorbildern pflegte und den Gruppenhabitus einer „intellektuellen Gesinnungsgemeinschaft“ ausbildete33. Damit verfügte die humanistische Corona über ein Angebot an Deutungs- und Herrschaftswissen sowie oratorischen und rhetorischen Techniken, das aus ihrer Kenntnis antiker Texte gespeist war und sich auf vielfältige Weise zum Zwecke der politischen Legitimation, historisch-autoritativen Herleitung, Machtstabilisierung und signorilen Propaganda nutzbar machen ließ34. Ihre imagepolitischen Kompetenzen im geschriebenen und gesprochenen Wort eröffnete den Trägern der humanistischen „Diskursrevolution“ (Bernd Roeck) Karrieren an Fürstenhöfen und städtischen Kanzleien, die ihrer Rhetorik und Argumentationstechnik angesichts der italienischen Mächtekonkurrenz dringender denn je bedurften, in Florenz und Rom genauso wie etwa an den Höfen der Gonzaga oder der Este35. Nicht von ungefähr gehörte die Suche nach immer neuen Patronen und die Bereitschaft zu horizontaler Mobilität zur Lebenswirklichkeit humanistischer Existenz36. Dabei wurde vor dem eigenen Erfahrungshorizont von humanistischen Autoren wie etwa Poggio Bracciolini dem Tugend- und Leistungsadel gegenüber dem traditionellen Geburtsadel nun der Vorzug gegeben37. In diesem Sinne amalgamierten die Machthaber des italienischen Quattrocento und ihre humanistischen Berater und Propagandisten zu einer neuen, dem eigenen Selbstverständnis nach auf individueller Eignung und Kompetenz basierenden Herrschaftselite. 31 Rucellai: Zibaldone, ed. Battista, S. 551. Vgl. dazu Goldthwaite: Wealth, S. 210; Roeck: Morgen der Welt, S. 562f. 32 Fabri: Evagatorium, Bd. III (1849), S. 427. Vgl. dazu Roeck: Motive bürgerlicher Kunstpatronage, S. 51. Zum Vergleich der Steuerressourcen italienischer und deutscher Fürstenherrschaften siehe Chittolini: Italienische und deutsche Fürstentümer, S. 72f. 33 Vgl. Walther: Humanismus, Sp. 668; Helmrath: Streitkultur, S. 264. 34 Vgl. Helmrath: Streitkultur, S. 280. 35 Roeck: Morgen der Welt, S. 17, 499, 501; Helmrath: Streitkultur, S. 280. 36 Celenza: Lost Italian Renaissance, S. 121–123. 37 Bracciolini: De vera nobilitate, ed. Canfora. Vgl. dazu Donati: L’idea di nobiltà, S. 3–17.

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Im Rennen um Förderung, Aufträge und Karrierechancen lagen sowohl der Binnenhierarchie wie auch den Kernanliegen der Humanisten kompetitive Dynamiken zugrunde, mutierten die Mitglieder des humanistischen Zirkels in mehrfacher Hinsicht zu kompetitiven Figuren. Dabei ist zunächst die diachron-agonale Beziehung der Humanisten zu ihren antiken Vorbildern zu nennen, die sich eben nicht in passiver Bewunderung und purer Reproduktion erschöpfte, sondern im Dreiklang aus imitatio, aemulatio und superatio auch eine wetteifernde Überwindung und gegenwartsorientierte Transformation antiker Wissensbestände und Latinität anstrebte38. Dieses kompetitive Gemeinschaftswerk und das darin begründete Fortschrittsmoment galten nach Lorenzo Valla auch dann, wenn Zeitgenossen miteinander konkurrierten: „Jeder erfindet etwas anderes, und was jemand bei einem anderen als herausragend erkannt hat, das versucht er selbst nachzuahmen, dem gleichzukommen und zu übertreffen (imitari, aemulari, superare)“39. Innerhalb des relativ dynamischen Elitezirkels der Humanisten wurde nach dem Prinzip der aemulatio sowohl die Selbstpositionierung des Einzelnen wie auch die Vergesellschaftung der Gruppe und ihre jeweiligen Grenzziehungen gesteuert. Ganz besondere Bedeutung gewann dabei die vom Jubilar maßgeblich erschlossene humanistische Invektivenliteratur, die zugleich als „Ringen um die Latinität“ und als „wechselseitiger Agon unter Milieugenossen“ gewertet werden muss40. Diese maliziösen, skatalogisch unterfütterten Schimpfkanonaden ad hominem inszenieren nicht nur gelehrte Rivalitäten, sondern entfalten zugleich eine streng dialogische Stil- und Sprachkritik und damit eine Art Frühform einer wissenschaftlichen Kontroverse41. Im polemischen Gegeneinander der Invektive ist damit eine Komplizenschaft im Dienst einer elaborierten Eloquenz verborgen, wird eine humanistische „Lachgemeinschaft“ der Eingeweihten und connaisseurs konstituiert42. Unmittelbar aus den Patronagebeziehungen erwuchs eine weitere agonale Rolle des Humanisten, nämlich die des Autors enkomiastisch-epideiktischer Texte, die der Person des Gönners, seiner Stadt oder dem jeweiligen Territorium gewidmet sein konnten und zeittypisch vor großflächiger invention of tradition, antikisierender Aufwertung und genealogischer Fiktion nicht zurückschreckten43. Ein Gutteil der humanistischen Textproduktion besteht aus derartigen Genres, von Festreden und Gelegenheitsdichtungen über Festprogramme, Genealogien und Herrscherbiogra38 Vgl. Müller/Pfisterer, Wettstreit, S. 20; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 261. Vgl. zum Transformationsbegriff Bergemann /Dönike /Schirrmeister /Toepfer /Walter /Weitbrecht: Transformation. 39 Valla: Oratio, ed. Garin, S. 282. 40 Helmrath: Streitkultur, S. 276; Ders.: Poggio Bracciolini. 41 Vgl. Helmrath: Streitkultur, S. 272, 274–275. 42 Vgl. ebd., S. 282. Zu „Lachgemeinschaften“ siehe Röcke /Velten: Einleitung, S. XIV–XVII. 43 Walther: Humanismus, Sp. 686f. Vgl. dazu auch Hobsbawm/Ranger: Invention of Tradition.

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phien bis hin zu Städtelob und historiographischer Großprojekte, die einem „Wettkampf der Nationen“ (Caspar Hirschi) Bahn brachen und nationale Ehrgemeinschaften zu konstruieren suchten44. Generell hatte auch bei den Humanisten der paragone, der wertende Vergleich45, Konjunktur, etwa mit Blick auf Herrschaftsformen (wie bei Brandolini) oder Sprachen: Volgare vs. Latein bzw. Volkssprache vs. Volkssprache46. Zuweilen gerannen aemulatio und paragone auch zum agonalen Ereignis, wie etwa im Fall des sogenannten Certame Coronario, eines von Leon Battista Alberti organisierten Dichterwettstreits, der 1441 in Florenz all’antica stattfand und in freundschaftlicher Atmosphäre die literarische Dignität des Volgare erweisen sollte47. Mit der seit dem 15. Jahrhundert schnell anwachsenden Kunstliteratur gelangte das narrative Motiv des kompetitiven Künstlers zum Durchbruch. Unter Rückgriff auf antike Anekdoten – etwa den Wettbewerb zwischen Zeuxis und Parrhasios oder zwischen Apelles und Protogenes bei Plinius – wird Konkurrenz als künstlerischer Ansporn und Mittel der Profilierung etabliert48. Das gilt sowohl für den synchronen und diachronen Agon der Künstler untereinander als auch im Verhältnis zu ihren individuellen oder korporativen Patronen49. Folgerichtig wird die Kunstgeschichte in Giorgio Vasaris Le vite de’ più eccellenti pittori scultori ed architettori von 1550 als progressiver Überbietungswettbewerb präsentiert, der wiederum den agonalen Ehrgeiz der Leser – vor allem der Künstler und Patrone unter ihnen – anstacheln sollte50. An der Spitze dieses Fortschrittsnarrativs stand Michelangelo, der nicht nur alle zeitgenössischen Künstler, sondern auch die berühmtesten antiken Meister und sogar die Natur selbst übertroffen habe51. Um eine solche künstlerische Vervollkommnung in Gang zu setzen, war ein ständiges Vergleichsforum mittels Anschauung, Bewertung und Diskussion unabdingbar. Oder wie es der friesische Humanist Jacobus Canter 1492/1492 formuliert: „Glaube mir, weder Zeuxis noch Lysippus noch die anderen berühmten Maler und Bronzegießer der Antike hätten jenen Gipfel ihrer Kunst erreicht, wenn sie sich in der Waldeinsamkeit aufgehalten hätten, wenn sie nicht im Gegenteil ihre Gemälde und Statuten auf dem Marktplatz, vor aller Augen, zur Beur44 Vgl. Walther: Humanismus, Sp. 68; Hirschi, Wettkampf der Nationen. Vgl. dazu auch Helmrath: Probleme. 45 Vgl. zum paragone umfassend: Hessler: Paragone. Vgl. dazu auch Pfisterer: Paragone; Baader/ Müller-Hofstede (Hg.): Im Agon der Künste; Warnke: Hofkünstler, S. 122-132 46 Müller/Pfisterer: Wettstreit, S. 17f. 47 Vgl. ebd., S. 2; Baader: Ernste Spiele; Hessler: Paragone, S. 214–221. 48 Plinius. Naturalis Historia, XXXV, § 72, 81-83. Vgl. dazu Prochno: Konkurrenz, S. 31f. 49 Müller/Pfisterer: Wettstreit, S. 4; Goffen: Renaissance Rivals, S. 7. 50 Müller/Pfisterer: Wettstreit, S. 22; Goffen: Renaissance Rivals, S. 26. 51 Vasari: Le vite più eccellenti pittori scultori e architettori, ed. Barocchi/Bettarini, Bd. 3, S. 5–7. Vgl. Clifton: Vasari on Competition, S. 24.

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teilung aufgestellt hätten, und nicht selbst stillschweigend mitangehört hätten, was ein jeder auszusetzen hatte (...)“52. In besonderem Maße scheint eine solche Urteilskraft in Bezug auf die bildenden Künste am „großen Ruhmesmarkt“ Florenz ausgeprägt gewesen zu sein, dessen Bevölkerung nach Niccolò Machiavelli als ausgesprochen „feinsinniger Interpret aller Dinge“ (sottile interprete di tutte le cose) galt.53 In der Renaissancemetropole am Arno fand dann auch 1401 der erste aufsehenerregende Kunstwettbewerb statt – nämlich um die Baptisteriumstüren –, der Rona Goffen zur wohl etwas überspitzten Beobachtung verleitete: „The Renaissance began with a competition“54. Der Agon um einen kommunalen Kunstauftrag stand unter der Regie der Florentiner Wollhändlerzunft im Auftrag der Stadtregierung und versammelte sieben Kontrahenten und nicht weniger als 34 Jurymitglieder. Letztere hatten ihre Meinung zu den eingereichten Entwürfen in Form von schriftlichen Voten abzugeben – ein beinahe bürokratisches Verfahren, das einen hohen Institutionalisierungsgrad offenbart55. Dagegen beruhte die Kunstpatronage an fürstlichen Höfen eher auf persönlicher Kontaktaufnahme als auf Gremienarbeit: So biss etwa die passionierte Kunstsammlerin Isabella d’Este Gonzaga bei Leonardo da Vinci mit ihrem Anliegen auf Granit, entweder ein gemaltes Porträt oder – falls dies nicht möglich sein sollte – dann wenigstens das Bild eines zwölfjährigen Jesusknaben zu bekommen56. Zeit ihres Lebens sammelte die Markgräfin von Mantua in ihrer grotta und ihrem studiolo nach einem Inventar von 1542 mehr als 1600 zeitgenössische und antike Kunstobjekte, die zahlreichen auswärtigen Besuchern gezeigt wurden und ihr italienweiten Ruhm einbrachten57. Mit ihren vielfältigen Patronageaktivitäten versuchten Isabella und ihr Ehemann Francesco II. Gonzaga, die relativ kleine und fragil zwischen Großmächten gelegene Markgrafschaft Mantua als kulturelles Zentrum zu etablieren und in der politischen Arena Italiens zu behaupten58. Auch in anderen Städten und an anderen Höfen südlich der Alpen entstand über Patronage ein Arsenal visueller Herrschaftspropaganda, fassbar in einer wahren Flut von Bildern und Objekten: Von Herrschaftsarchitektur und freskierten Repräsentationsräumen wie etwa im Ferrareser Palazzo Schifanoia oder im Mantuaner Palazzo Ducale über Skulpturen und Porträts bis hin zur Zirkulationskunst der 52 Jacobus Canter, Dyalogus de solitudine, lib. II, c. 23, ed. in: Enenkel: Kulturoptimismus, S. 284. Zu Jacobus Canter siehe Grimm: Canter, Jacobus, S. 127f. Vgl. Müller/Pfisterer: Wettstreit, S. 20. 53 Burckhardt: Kultur der Renaissance, S. 119; Machiavelli: Opere, ed. Montevecchi, S. 729f. Vgl. Trexler: Public Life, S. 270. 54 Goffen: Renaissance Rivals, S. 3. Vgl. Prochno: Konkurrenz, S. 36. 55 Haines: Brunelleschi and Bureaucracy, S. 108; Prochno: Konkurrenz, S. 35–41. 56 Ames-Lewis: Isabella and Leonardo. 57 Furlotti/Rebecchini: Art of Mantua, S. 112. 58 Vgl. Cockram: Isabella d’Este, bes. S. 3f., 75–79; Bourne: Francesco II Gonzaga; Rodriguez-Salgado: Mantuan Politics.

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Münzen und Medaillen, die die herrschaftliche Präsenz des jeweiligen signore vervielfältigen sollten59. Im Sog der Konkurrenz wurden politische, soziale und wirtschaftliche Statusansprüche Gegenstand visueller Überwältigungsstrategien, deren Gelingen von der Meisterschaft der beteiligten Künstler und vom ingegno der Bildprogramme abhängig gemacht wurde. Parallel zum „commissioning game“60 und zum Ringen um die größten Talente intensivierte sich auch die Binnenkonkurrenz von Malern, Architekten und Bildhauern, die letztlich das Reflexions- und Qualitätsniveau des künstlerischen Feldes steigerte und einer professionellen Aufwertung Bahn brach. Nicht wenige Fürsten, signori und condottieri des italienischen Quattrocento frönten im Leben wie in der Kunst einer equestrischen Selbstdarstellung, sei es im Sattel als performative Einheit aus Mensch und Tier, die bei zeremoniellen Anlässen exponierte Sichtbarkeit garantierte und mit Herrschaft und (kriegerischer) Macht konnotiert wurde61, sei es in Form eines Reiterstandbilds, das sich als Objekt der Kunstpatronage und Inszenierungen heroischer Ritterlichkeit großer Beliebtheit erfreute: in Ferrara für Niccolò III. d’Este (ca. 1443–1451) – übrigens nach einem Vergabewettbewerb –, in Padua für den condottiere Gattamelata von der Hand Donatellos (1447–1453), in Venedig für den Söldnerführer Bartolomeo Colleoni (ca. 1479–1488), weiterhin das nicht zur Ausführung gekommene Projekt Leonardo da Vincis zu Ehren Francesco Sforzas in Mailand (1490–1494)62. Nirgendwo kam dieser „kentaurische Pakt“63 zwischen Mensch und Pferd allerdings deutlicher zum Vorschein als in der kompetitiven Figur des Rennpferds, das im 15. und frühen 16. Jahrhundert in vielen italienischen Städten um ein wertvolles Paliobanner aus Goldbrokat, Damast oder Samt konkurrierte64. Dabei standen die Rennpferde unter der Obhut von Rennpatronen, die meist auch ihre Besitzer waren und sie zu den jährlich stattfindenden Paliorennen in Florenz, Rom, Siena, Bologna oder anderswo anmeldeten: far correre i cavalli nannten das die Zeitgenossen65. Die Patrone entstammten dem Kreis von Fürsten, signori und Söldnerführern, die ebenso als Mäzene von repräsentativer Kunst und Literatur begegnen: Este, Gonzaga, Medici, Bentivoglio, Baglioni, Pico della Mirandola, Petrucci und Borgia. Im Hintergrund dieser Rennsportpatronage standen teils hohe Investitionen in Ankauf, Unterhalt und 59 Vgl. Settis/Cupperi (Hg.): Il Palazzo Schifanoia a Ferrara; Algeri (Hg.): Il Palazzo Ducale di Mantova; Scher: Currency of Fame. 60 Nelson/Zeckhauser: Patron’s Payoff, S. 15. 61 Vgl. Friedrich: Ritter und sein Pferd. 62 Vgl. Beuing: Reiterbilder; Ahl (Hg.): Leonardo da Vinci’s Sforza Monument Horse; Poeschke: Reiterbilder; Morin: Equestrian Projects; Fémelant: Alberti; Starn: Heroes, S. 77–84. In längerer Perspektive: Hunecke: Fürstliche Reiterstandbilder. 63 Raulff: Pferde, S. 24. 64 Vgl. dazu Jaser: ‚Erfindung‘ des Rennpferds; Ders.: Beyond Siena. 65 Savonarola: Trattato, ed. Villari/Casanova, S. 376.

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Pflege der meist von der nordafrikanischen Berberküste importierten oder im eigenen Gestüt gezüchteten Rennpferde (barberi). Damit ging ein hoher Spezialisierungsgrad einher: Nach Aussage des Palio-Enthusiasten Francesco II. Gonzaga konnten seine barberi wirklich „nichts Anderes als rennen“ (ipsi equi barbarici currere tantum sciant)66. Auf den Stadtkursen der italienischen Renaissance waren sie „mediale Tiere“ im Wortsinn, die als namentlich bekannte Zelebritäten – Falcone, Morello, Lucciola, Renegato Giovine usw. – die Aufmerksamkeit der zahlreich versammelten Zuschauer auf sich zogen und zum Gegenstand von Wetten und Lobgedichten wurden67. Für die Zeitgenossen stand dabei außer Zweifel, dass die Pferde und nicht die Reiter die entscheidenden Leistungsträger der Paliokonkurrenzen waren. In den Korrespondenzen der Rennpatrone wurde die agonale Kompetenz der Rennpferde, ihren Körper stärker als andere beschleunigen zu können, auf den Terminus virtù gebracht, der mit seinen Bedeutungsdimensionen ‚Tugend‘, ‚Talent‘, ‚Verdienst‘ und ‚Stärke‘ die Demonstration der Überlegenheit einer Person gegenüber einer anderen Person zum Ausdruck bringt und damit zu den kompetitiven Schlüsselbegriffen der Renaissance zählt68. Francesco II. Gonzaga trug dem Rechnung, wenn er seine bisherigen elf Siege beim wichtigsten Pferderennen der Renaissance, dem Florentiner Palio di San Giovanni, auf die Leistung seiner Pferde (per virtù di nostri cavalli) zurückführte69. Im Erfolgsfall konnte die virtù der Rennpferde in onore der Rennpatrone umgemünzt werden. Voraussetzung hierfür war die Rolle des Pferdes als Stellvertreter und hippisches alter ego des jeweiligen Patrons. Im Rückgriff auf antike Narrative – man denke etwa an die Darstellung der Beziehung zwischen Alexander dem Großen und seinem Pferd Bukephalos bei Plutarch und Curtius Rufus – weisen auch zeitgenössische Anekdoten wie diejenige über Lorenzo de’ Medici, dessen erfolgreichstes Rennpferd Morello sich nur vom Magnifico persönlich füttern ließ70, oder der Stellvertretertyrannizid an einem Rennpferd Cosimos des Älteren, den Francesco Filelfo im August 1436 beim Sieneser Palio geplant haben soll71. Indem die Rennkonkurrenzen 66 Francesco II. Gonzaga an Barbara Gonzaga, Mantua, 10. Juli 1502, in: Antenhofer u. a. (Hg.): Barbara Gonzaga: Die Briefe, Nr. 312, S. 450f. Vgl. dazu Nosari/Canova: I cavalli Gonzaga; Mallett: Horse-Racing. 67 Zahlmann: Tiere und Medien, S. 153; Malacarne: Il mito, S. 229. 68 Ruggiero: Renaissance, S. 16, 446; Ders.: Mean Streets, S. 294. Vgl. Graul: Konkurrenz, S. 2. 69 Francesco II. Gonzaga an Giuliano di Lorenzo de’ Medici, Mantua, 31. Juli 1513; ASMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 4v. Vgl. dazu auch Malacarne: Il mito, S. 78f., 238. 70 Curtius Rufus: Geschichte Alexanders des Großen, S. 266; Plutarch: Alexander/Caesar, ed. Giebel, S. 8f.; Valori: Laurentii Medicei Vita, S. 49. Vgl. dazu auch Mallett: Horse-Racing, S. 260. 71 Fabroni (Hg.): Adnotationes et monumenta ad Magni Cosmi Medicei Vitam pertinentia, Bd. 2, S. 112f. (August 1436). Zuvor war ein geplantes Attentat auf Cosimo den Älteren nicht zur Ausführung gekommen. Vgl. De Feo Corso: Il Filelfo in Siena, S. 193f.; Field: Leonardo Bruni, S. 1123.

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eine Komplexität reduzierende Evidenz von Sieg, Platzierung und Niederlage produzierten, konnte jeder Erfolg oder Misserfolg in soziale Bedeutung und auch politisch interpretierbare Status- und Rangdemonstrationen transformiert werden. Die – mit den Worten Francesco Gonzagas – „Ehre unseres Sieges“72 lag in einer symbolischen Eroberung der jeweiligen Ausrichterstadt, wie er etwa 1513 gegenüber der Medici-Konkurrenz freimütig und augenzwinkernd bekannte: Aufgrund seiner Palioerfolge sei die Excellentissima Repubblica di Fiorenza ja beinahe jedes Jahr zu seinen Untertanen zu zählen73. Nach einem Lobgedicht von Filippo Lapacini auf eines der Gonzaga-Pferde brachten Palioerfolge dem Patron landauf landab den Ruf der virtù ein, so dass „ganz Italien Turcho Turcho“ schreie, den traditionellen Schlachtruf des Mantuaner Markgrafenhauses74. Über ephemere Akklamationsrufe hinaus begünstigte der serielle Charakter der Paliorennen Formen einer diachronen Leistungsmemoria, fassbar etwa in den guardarobe für die Aufbewahrung von gewonnenen Paliobannern bei den Este und den Gonzaga75. Auf die Spitze getrieben und in neue mediale Formate gegossen wurde die Kommemoration von Paliosiegen am Mantuaner Markgrafenhof, mit dem 1512 in Auftrag gegebenen Libro dei Palii vinti76, der in Text und Bild 34 Rennpferde mit ihren insgesamt 197 Rennsiegen von 1499 bis 1518 verzeichnet – ein Erfolgsalbum, dass dem triumphalistischen self-fashioning des Patrons ebenso diente wie als Qualitätsnachweis der Mantuaner Pferdezucht.

*** Was Humanisten, Künstlern und Rennpferden im italienischen Quattrocento gemeinsam war, war ihre agonale Disposition im Rennen um Status- und Rangpositionen. Nicht von ungefähr bediente der Florentiner Humanist und Architekt Leon Battista Alberti in den 1430er Jahren das Bild der Regatta, um diese lebensweltliche Konstella72 Francesco II. Gonzaga an Alessandro Gabbioneta, Mantua, 4. März 1514; ASMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 78v. 73 Francesco II. Gonzaga an Giuliano II. de’ Medici, Mantua, 31. Juli 1513; ASMn, AG, b. 2921, l. 231, fol. 4v. 74 Filippo Lapacini. In laudem Sauri, in: Libro dei palii vinti, 1512–1518, Mailand, Collezione Giustiniani-Falck, fol. 6v, auch abgedr. bei Malacarne: Il mito, S. 229. Vgl. zum Gonzaga-Schlachtruf Luzio: Isabella d’Este e i Borgia, S. 126; Kissling: Sultan Bâjezîd II., S. 57. 75 Ferrara: Libero (sic!) de la intrada de la guarda roba del Signore, 1440–1441, ASMo, AE, Camera, Amministrazione della Casa, Guardaroba, 1, Libero de intrada de la guardaroba, fol. 2r–3v. Vgl. dazu Gandini: Viaggi, S. 71. – Mantua: Antonio an Francesco II. Gonzaga, 29. November 1488, zit. nach Nosari/Canova: Il Palio nel Rinascimento, S. 100. 76 Siehe eine kodikologische Beschreibung des Libro dei palii vinti in Malacarne: Il mito, S. 88–95. Vgl. Nosari/Canova: Il Palio nel Rinascimento, S. 209–216; Chambers/Martineau (Hg.): Splendours of the Gonzaga, S. 147.

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tion auf den Punkt zu bringen: „Beim Rennen und Wettstreit um Ehre und Ruhm im Leben eines Mannes erscheint es mir sehr nützlich, sich ein gutes Boot zu besorgen, seine Kräfte und Fähigkeiten zur Geltung zu bringen und zu schwitzen, um der Erste zu sein“77. Sudare per essere il primo – Konkurrenz als Handlungs-, Deutungs- und Darstellungsmodus war nicht nur für den Möglichkeitsraum der Patronagepraktiken unabdingbar, sondern durchzog auch deren textuelle, visuelle und performative Errungenschaften. Dabei verschränkten sich die kompetitiven Gruppendynamiken der Patrone und ihrer Auftragnehmer auf eine fruchtbare Weise und bot beiderseits Status- und Repräsentationschancen. In der wechselseitigen Anerkennung der ­Kontrahenten und Beobachter liegt eine – hier ist Simmel unbedingt zuzustimmen – kohäsionsstiftende, vergesellschaftende Kraft, die das Feld aus Experten und Bewertungsinstanzen enger zusammenrücken ließ. Letztlich führten die untersuchten ­Leistungskonkurrenzen – so wollen es wenigstens die Zeitgenossen – zu einer Qualitätssteigerung (der Latinität, der Kunstproduktion, der equinen Geschwindigkeit usw.) und einem höheren Reflexionsniveau78. Abgesehen von institutionalisierten Formen des Kunstwettbewerbs und Dichterwettstreits lieferte der humanistisch-künstlerische Agon selten eindeutige Resultate, sondern blieb abhängig von nachgängigen Bewertungsprozessen im Echoraum der Gleichgesinnten und connaisseurs. Dagegen förderte der Zieleinlauf der städtischen Paliorennen eine klare Rangfolge und agonale Evidenz zutage, die performativ akklamiert, symbolisch reklamiert und diachron memoriert werden konnte. Im Zwiegespräch der Patrone wurde die harten Differenz von Sieg und Niederlage gleichwohl rhetorisch eingeholt und mit dem Hinweis auf den Charakter des Agons als ludisches ‚Als ob‘ gebändigt: Zeit seines Lebens sei Lorenzo de’ Medici den Gonzaga in Freundschaft verbunden gewesen, ließ dessen Sohn Papst Leo X. einem mantuanischen Gesandten 1514 wissen, nur am Tag des Paliorennens, für zwei bis drei Stunden im Jahr, sei die Beziehung in offene Feindschaft umgeschlagen (in el qual spatio era el maggior inimico che havesse Vostra Excellentia)79. Agonale Konstellationen dienten nicht nur als Interaktionsforen zur Aushandlung von labilen Rang- und Statushierarchien, sondern zugleich auch als sozial integrierendes Kommunikationsmittel und gehörten damit zu den prägenden Kräften des italienischen Quattrocento.

77 Alberti: Libri della famgilia, ed. Bonucci, lib. 2, S. 199. Vgl. Burke: Worldviews, S. 192. 78 Vgl. Sombart: Moderner Kapitalismus, Bd. 3, 2. Halbbd., S. 560f. 79 Alessandro Gabbioneta an Francesco II. Gonzaga, Rom, 2. März 1514, ASMn, AG, b. 862, fol. 40v. Vgl. Melville: Agonale Spiele, S. 195.

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‚Royal humanism‘ oder kritische Distanz? Intertextuelle Ironie, Ambivalenz und Parodie in Enea Silvio Piccolominis Commentarius zu Antonio Beccadellis De dictis et factis Alphonsi regis Raphael Stepken

1 In einem Brief vom 7. Mai 1456 aus Neapel1 beschreibt Enea Silvio Piccolomini2 seinem Humanistenfreund Pietro da Noceto († 1467)3 die Umstände, die ihn an den Hof des aragonesischen Königs Alfons V. geführt hatten: Auf dem Rückweg von Rom, wo er dem neuen Papst Calixt III. im Auftrag Kaiser Friedrichs III. den Gefolgschaftseid geleistet hatte4, sei ihm in seiner Heimatstadt Siena, deren Bischof er seit 1450 war, eine dringende diplomatische Mission angetragen worden. Er sollte sich bei Alfons für ein Ende des Krieges zwischen Siena und dem vom Aragonesen unterstützten Condottiere Jacopo Piccinino5 einsetzen. Als Friedrich von der ungerechten Behandlung Sienas erfuhr, habe er Enea beauftragt, sich in Rom und Neapel um die Zustände in der Toskana zu kümmern. Er sei zu Calixt nach Rom aufgebrochen, der ihm nach zweimonatigen Verhandlungen das Placet für die Reise nach Neapel erteilt habe. Dort halte er sich nun seit vier Monaten auf und wisse nicht, ob es je zu dem angestrebten Friedensschluss kommen werde (nescio quis erit finis6). Das Schreiben an Noceto zeigt einen Enea Silvio, der nicht nur sehr skeptisch auf das mögliche Ergebnis seiner Mission in Neapel7 blickt, sondern ihr auch widerwillig 1 2

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Enea Silvio Piccolomini. Opera Omnia, ed. Hopper, S. 756–763. Die Literatur zu Enea Silvio Piccolomini ist Legion und kann hier nicht aufgearbeitet werden. Eine verlässliche erste Orientierung zu Vita und Werk bieten Helmrath: Piccolomini, und Worstbrock: Piccolomini. Noch unersetzt ist die materialreiche Biographie von Voigt: Enea. Zu Pietro da Noceto vgl. Parmeggiani: Pietro. Seine Rolle als Sekretär unter Nikolaus V. beleuchtet Gualdo: Pietro. Zur frühen Karriere vgl. Märtl: Tommasso. Zur Obödienzgesandtschaft vgl. Annas: Wiener Neustadt. Zu Jacopo Piccinino vgl. Sferente: Sfortuna. Zur Auseinandersetzung von Siena, Piccinino und Alfons V. außerdem Ryder: Alfonso, S. 405–432. Enea Silvio Piccolomini. Opera Omnia, ed. Hopper, S. 756. Der Neapel-Aufenthalt 1456 gehört zu den vergleichsweise weniger gut dokumentierten Abschnitten in Eneas Vita. Die in verschiedenen Manuskripten und Drucken überlieferte Sammlung seiner Bischofsbriefe (Epistolae pontificales) enthält aus diesem Zeitraum nur das zitierte Schreiben an Noce-

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gegenübersteht (in me nullum esset in tanto negotio momentum8), sie gar als massiven Störfall in seiner Lebens- und Karriereplanung beklagt: haec mora […] molestissima est9. Im Rückblick zeichnet der Sienese in seinen autobiographischen Commentarii allerdings ein ganz anderes Bild10. Dort erscheint der schließlich erreichte Friedensvertrag als gleichsam logische Folge seines exzellenten Verhältnisses zu König Alfons, der ausschließlich mit ihm zu Verhandlungen bereit gewesen sei und in einem vaticinium ex eventu seinen Gefolgsleuten Enea gar als zukünftigen Papst präsentiert habe. Noch vor dem erfolgreichen Abschluss seiner Mission ist in Neapel ein Werk Enea Silvios entstanden, das bis heute kaum Beachtung gefunden hat: der Commentarius in libros de dictis et factis Alphonsi regis Antonii Panormitae11. Dabei ist die Schrift in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: vor allem als ‚Kommentar‘ auf einen zeitgenössischen humanistischen Text sowie als Werk, das sich keinem tradierten Genre zuordnen lässt und ohne konkretes literarisches Vorbild ist. Es handelt sich um eine Sammlung kurzer Anekdoten, die als literarische Antwort auf ein Werk des süditalienischen Humanisten Antonio Beccadelli (gen. Panormita)12 entstanden und konzipiert ist. Beccadellis De dictis et factis Alphonsi regis13 geben in vier Büchern mit insgesamt 220 Einträgen Episoden aus dem Leben Alfons’ V. von Aragon wieder, an dessen neapolitanischem Hof Beccadelli als Sekretär wirkte. Alfons’ Aussprüche und Taten lassen ihn in panegyrischer Manier als humanistisch gesinnten Philosophenherrscher, oratorisch to. Allerdings hat sich ein bedeutender Teil der regen diplomatischen Korrespondenz zwischen Enea und den städtischen Behörden Sienas (concistoro, balìa) erhalten. Am wichtigsten sind die Bestände im Archivio di Stato und der Biblioteca Communale in Siena sowie der Biblioteca Communale in Triest (vgl. dazu immer noch Wolkan: Briefe). 8 Enea Silvio Piccolomini. Opera Omnia, ed. Hopper, S. 756. 9 Ebd., S. 756f. 10 Enea Silvio Piccolomini. Commentarii, ed. Totaro, Bd. 1, S. 164–178. 11 Beccadellis Dicta et facta und Eneas Commentarius werden hier nach der von Jakob Spiegel herausgegebenen Basler Ausgabe von 1538 zitiert. Am Schluss des Kommentars zu Beccadellis Triumphus Alfonsi, der in den meisten Handschriften und Drucken auf die vier Bücher des Commentarius folgt, gibt Enea Silvio den 22. April 1456 als Datum der Fertigstellung an (Ex Napoli decem Calend. Maias ab incarnatione salvatoris Christi MCCCCLVI, Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, S. 257). Die Episodensammlungen Beccadellis und Eneas liegen in einer französischen Teilübersetzung vor (Beccadelli/Piccolomini. Les actions et paroles mémorables d’Alphonse, ed. Régnier-Bohler), die Dicta et facta auch in einer vollständigen deutschen Übertragung (Beccadelli. Aus dem Leben König Alfons I., ed. Hefele). 12 Zu Antonio Beccadelli vgl. Resta: Beccadelli, und Bentley: Politics, S. 84–100. Zu seiner Position am Hof Ryder: Beccadelli. 13 Auch die Dicta et facta Beccadellis liegen noch nicht in einer kritischen Edition vor. Die Schrift ist etwas besser erforscht als der Commentarius, aber auch nicht umfassend erschlossen. Vgl. Thurn: Panormita; Schadee: Alfonso; Bentley: Politics, S. 224–226, und Enenkel: Kommentare, S. 80–98. Vgl. außerdem die Hinweise auf weitere Beiträge in Anm. 22 zur historiographischen Produktion am Hof Alfons’ V., die alle auch die Dicta et facta thematisieren.

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geschulten rex eloquens, erfolgreichen Feldherrn und guten Christen erscheinen. Der Commentarius fügt jeder einzelnen Episode seines Vorlagetextes eine korrespondierende, aber fast ausnahmslos selbständig lesbare eigene Episode hinzu, sodass sich die beiden Texte in ihrer Anlage gleichen. Der Bezug zur jeweiligen Parallelepisode in den Dicta et facta stellt sich dabei unterschiedlich dar. Am häufigsten greift Enea ein von Beccadelli angesprochenes Thema oder eine exemplifizierte Tugend auf, seltener eine erwähnte Person oder ein Ereignis. Gelegentlich wird ein Stichwort assoziativ verarbeitet. Die überaus reiche Piccolomini-Forschung hat den Commentarius weitgehend ignoriert. Es liegen weder eine kritische Edition, noch eine umfassende Untersuchung der Schrift vor, die zu den wenigen noch kaum erschlossenen umfangreicheren Werken Enea Silvios gehört14. Wo sie überhaupt Erwähnung findet, da wird sie mitunter pejorativ als Ansammlung wenig interessanter „Geschichtchen“15 gewertet, als reine Panegyrik für Alfons V.16 abgetan oder auch gänzlich missverstanden17. Dass es sich beim Commentarius trotz reichlich vorhandener enkomiastisch ausgerichteter Passagen gerade nicht um ‚klassische‘ Panegyrik handelt und hinter den „Geschichtchen“ mehr steckt, als die isolierte Lektüre des Werks vermuten lässt, will dieser Beitrag demonstrieren, indem er eine intertextuelle Lektüre der Schrift vorschlägt. Der Blick auf ganz verschiedene Formen der Bezugnahme des Commentarius auf die Schrift Beccadellis soll die Existenz eines ‚Sub-Textes‘ plausibel machen, der auf untergründige Weise kritische, ironische und parodistische Aspekte vereint und als subversive Ver- und Umarbeitung der Dicta et facta gedeutet wird. Wichtige Anregungen dazu liefert Karl Enenkel, der erstmals auf das breite „Anwendungsspektrum“ des Commentarius hinwies und bedeutende Beobachtungen zu den Kommentarstrategien Enea Silvios und zur Rolle von Witz und Ironie im Werk vorgelegt hat18. 14 Der Verfasser bereitet eine von Johannes Helmrath betreute Dissertation zu Enea Silvios Commentarius vor, die diese Forschungslücke schließen soll. Auf das Desiderat weisen u. a. Enenkel: Kommentare, S. 80, Anm. 1, und Knödler: Rez. zu Fadiga, hin. 15 Weiss: Aeneas, S. 80. 16 Vgl. Voigt: Enea, S. 180, und jüngst wieder Pacios: Enea, S. 197–206. 17 So in der Enea Silvio-Biographie Volker Reinhardts, der den Commentarius als Stellungnahme in der Frage der neapolitanischen Thronfolge für Alfons’ Sohn Ferrante misszuverstehen scheint: „[mit der Schrift] bezog [Enea Silvio] im Konflikt um den neapolitanischen Thron Partei. Da der Apfel nicht weit vom Stamm fiel, konnte Alfonso nur sein Sohn Ferrante nachfolgen, mochte dieser auch von unehelicher Geburt sein“ (Reinhardt: Pius II., S. 193). 18 Enenkel: Kommentare, S. 120, resümiert: „Dies alles zusammengenommen ergibt, dass Enea Silvio in seinem Kommentar gegenüber Beccadelli die Sammlung noch differenzierter gestaltet und das Anwendungsspektrum nochmals erweitert hat. Während Beccadelli mit seiner Sammlung Fürstenspiegellektüre, Herrscherpropaganda und Fibel für erfolgreiche Interaktion bei Hofe in den Blick nahm, funktionalisierte Enea Silvio seinen Kommentar zum virtuellen Fürstenspiegel, zur Kontrafaktur eines

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2 Jede intertextuelle Lektüre muss von den Prätexten ausgehen, die im untersuchten Werk verarbeitet werden, hier also vor allem von Beccadellis Dicta et facta. Alfons V. erscheint dort als Herrscher, der einen ganz besonders intensiven Umgang mit der Antike pflegt: durch regelmäßige Lektüre, durch die Kultivierung antiker Rituale wie den Triumphzug und die exemplarische Verkörperung revitalisierter antiker Normen wie der liberalitas oder der humanitas. Peter Stacey sieht in diesem königlichen Nahverhältnis zur römischen Antike ein entscheidendes Merkmal des ganzen Textes19. Demnach greift Beccadelli ganz gezielt auf solche Aspekte und Quellen zurück, die die lange und bedeutende Verbindung der Hispania mit dem Römischen Reich hervorheben. Alfons wird dabei in die Reihe der großen spanischstämmigen Imperatoren (Trajan, Hadrian, Theodosius) eingeschrieben und erweist sich durch seinen stoischen Habitus als Schüler des spanischen Meisterphilosophen Seneca und dessen Vorläufers Sokrates, auf die Beccadelli immer wieder Bezug nimmt. Auf diese Weise leisten die Dicta et facta Legitimationsarbeit für die noch junge aragonesische ‚Fremdherrschaft‘ im festländischen Italien20, die als Wiederbelebung eben jener antiken Symbiose von Spanien und Reich inszeniert wird. Beccadellis Schrift wurde zu einem europaweiten Erfolg und hat das Bild von Alfons V. entscheidend mitgeprägt21. Als wohl einflussreichstes Werk der ‚Alfons-Literatur‘ am neapolitanischen Hof22 lassen sich die Dicta et facta als paradigmatischen Vertreter eines neuen Typs humanistischer Historiographie in der zweiten Hälfte des 15.

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Fürstenspiegels, zum aktionistischen Mittel zur Führung diplomatischer Verhandlungen, zum Medium beiläufiger und subversiver Lesereaktionen, zum universalen Exempelbuch, zum Nachschlagewerk für gebildete Konversation sowie teilweise auch zur Facetiensammlung um, welche er sowohl für Hofkreise als auch für die humanistisch gebildete Respublica litteraria insgesamt als geeignet erachtete.“ Neben Enenkel hat sich auch Francesco Tateo in einem kurzen Beitrag mit dem Commentarius befasst, der sich besonders mit der Frage der Genrezugehörigkeit beschäftigt (Tateo: Storielle). Vgl. zudem die knappen Bemerkungen zum Commentarius bei Kipf: Geschichten, S. 296f. Stacey: Hispania. Alfons konnte die Auseinandersetzung mit René d’Anjou um die Nachfolge der 1435 verstorbenen Johanna II. 1442 mit dem Einzug in Neapel für sich entscheiden. Vgl. dazu Ryder: Alfonso, S. 210– 251. Vgl. dazu Stacey: Hispania, S. 52: „His short work became one of the most celebrated and widely diffused humanist political tracts of its era, and it has effectively dictated the terms of Alfonso’s biography up to the present day.“ Vgl. außerdem Ferraù: Tessitore, S. X, der Beccadelli und seinen Dicta et facta eine „importanza fondamentale nella creazione della prospettiva aragonese“ zuschreibt. Zur neapolitanischen Historiographie und den Humanisten am Hof Alfons’ V. vgl. Soria Ortega: Humanistas; Ferraù: Tessitore, S. 1–80; Bentley: Politics; Delle Donne: Letteratura; die Beiträge im jüngst erschienenen Sammelband von Delle Donne/Torró Torrent (Hg.): Immagine; Ryder: Alfonso, S. 306–357; Rao: Alfonso; Stacey: Hispania; Figliuolo: Historiographie.

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Jahrhunderts begreifen, wie ihn Gary Ianziti charakterisiert: „By the mid-fifteenth century, then, there was a model and a starting-point for a new type of humanist historical narrative: the relation of contemporary events organized around a single personage who was to be glorified through the recitation of his deeds“23. Beccadelli verkörpert dabei den Typ des fest am Hof engagierten Literaten, der mit Auftragswerken Herrschaftsrepräsentation betreibt und zur Entstehung eines neuen humanistischen „Imaginaires der Herrschaft“24 beiträgt. Beccadelli formuliert im Proömium zum ersten Buch eine genaue Vorstellung vom Verwendungszweck seiner Dicta et facta. Sie sollten späteren Autoren als Ansporn und Materialsammlung zur Alfons-Panegyrik dienen: Alios saltem praeclaro et immortali ingenio viros ad honestissimum hoc certamen excitabo, quodque tubicinis officium est, haud equidem facere erubescam25. Enea gibt im Commentarius dagegen keine Auskunft über mögliche Funktionen seiner Schrift, äußert sich aber in einem Begleitschreiben an Beccadelli zum Anlass und zur Form des Textes. Der neapolitanische Humanist habe ihm seine Dicta et facta mit der Bitte um Korrektur zugesandt. Weil dessen Werk aber makellos sei und keiner Bearbeitung bedürfe, habe er sich für ein anderes Vorgehen entschieden: Annotabo pleraque, non tamquam mutanda sint, vel quod meum iudicium anteponam tuo, sed ut me librum vidisse ac legisse intelligas, quod tunc verum maxime iudicabis, cum per singula capita tui operis aliquid me videris esse commentum26.

Mit commentare und annotare ruft Enea Vokabeln auf, die auf die Gattung des Kommentars als philologischer Erschließung eines Prätextes verweisen. Der Commentarius bietet nun jedoch gerade keine Sach- und Worterläuterungen oder Ausdeutungen des Vorlagetextes, sondern erzählt eigene Anekdoten. Der Begriff schreibt Eneas Schrift aber in eine lange Tradition ein. Die Wahl als Titel lässt sich zwar nicht direkt auf ihn zurückführen, ein breiter Überlieferungsstrang hat sich allerdings die Wortwahl im Brief an Beccadelli zu eigen gemacht27. Er berührt die gesamte semantische Bandbreite des Kommentarbegriffs, wie er sich – vermittelt über die Antike – im Humanismus 23 Ianziti: Historiography, S. 6. 24 Mertens: Preis, S. 151. Mertens begreift das Verhältnis von Hof und Humanisten als eine Art Tauschbeziehung – „Patronage gegen Panegyrik“ –, die von den Humanisten selbst bereits formuliert worden sei. Er demonstriert das am Beispiel von Celtis, Hutten und Erasmus, die das Verhältnis von Hof und Humanismus und die Panegyrik als „Preis der Patronage“ reflektierten. 25 Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, f. 4r. 26 Ebd., S. 143. 27 Der Text firmiert aber teilweise auch unter anderen Bezeichnungen wie etwa dicteria oder apophtegmata.

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entwickelte28: Commentarii können hier Augenzeugenberichte, kürzere literarische Geschichtsdarstellungen, Notizen, aber eben auch interpretative Ausdeutungen und philologische Erörterungen eines Prätextes sein. Enea Silvios Commentarius weist Bezüge zu allen diesen Genres auf, ohne in einem von ihnen vollständig aufzugehen. Das Werk scheint für einen intertextuellen29 Zugriff geradezu prädestiniert zu sein: Aufgrund der durchgehenden Orientierung an einer zeitgenössischen Vorlage, als Konglomerat verschiedener Einzel-Texte und als Hybrid, der Anleihen bei der Fazetienliteratur, der Historiographie, Biographik, der Tradition der Schriften De viris illustribus, den verschiedenen Subgenres des ‚Kommentars‘ und dem Fürstenspiegel macht, ist die Schrift per se bereits auf intertextuelle Sinnproduktion ausgerichtet. Intertextualität gehört zu den konstitutiven Praktiken humanistischer Identitätsbildung. Das humanistische Schreiben ist wettbewerbsorientiert und verortet sich in einem Kanon motivierender und konkurrierender Texte, zu denen es in Beziehung tritt. Die Präferenz der Humanisten für dialogische Schreibformen (Brief, Kommentar, Dialog) kann deshalb kaum überraschen. Leonid Batkin spricht deshalb vom Dialogischen sogar als „strukturelle[r] Definition des humanistischen Denkens“30. Im Zentrum der humanistischen Praxis steht das identitätsstiftende Projekt der Rekonstruktion und Wiederbelebung des klassischen Lateins. In der elitären Diskursgemeinschaft der Humanisten werden sprachliche Schönheit und Eleganz zum charakteristischen Signum einer vorbildhaften, aber fremd gewordenen Antike. Im intertextuellen Bezug auf die antike Überlieferung kommen also die Momente der Differenzerfahrung, Aneignung und Transformation31 zusammen. Die Dicta et facta Beccadellis 28 Zur Bedeutungsvielfalt des humanistischen commentarius-Begriffs vgl. Ramminger: Notes, zum historiographischen Genre der commentarii Ianziti: Commentarii. Grundlegend für die Forschung zum (philologischen) Kommentar im Humanismus war Buck/Herding (Hg.): Kommentar. Vgl. dazu außerdem Grafton: Commentary, und Lo Monaco: Osservazioni. 29 ‚Intertextualität‘ bezeichnet zunächst nur die Bezogenheit eines Textes auf andere Texte. Als literaturwissenschaftliches Konzept wurde der Begriff in den Siebzigerjahren von Julia Kristeva geprägt, die in einzelnen Texten nur noch Zitatansammlungen und Knotenpunkte eines universellen und unendlichen intertextuellen Transformationszusammenhangs sah, der auch die historische und soziale ‚Wirklichkeit‘ erfasst (vgl. Kristeva: Bakhtine). Ein solches Modell ist allerdings für konkrete Textanalysen nicht anwendbar, weshalb hier an Kategorien wie dem ‚Autor‘ und dem ‚Werk‘ festgehalten wird und nach greifbaren Bezügen des Commentarius zu seinem Vorlagewerk, den Dicta et facta, gesucht wird. Zur Intertextualität als Forschungskonzept vgl. einführend knapp Aczel: Intertextualität, und umfassender Berndt/Tonger-Erk: Intertextualität. Die Geschichte der Intertextualitätsforschung beleuchtet Lindemann: Intertextualitätsforschung. Zur Anwendung des Konzepts an historischen Texten vgl. die Beiträge in Kühlmann/Neuber (Hg.): Intertextualität, darunter besonders Müller: Texte, mit Beobachtungen zu den intertextuellen Techniken humanistischer Autoren. 30 Batkin: Renaissance, S. 268. 31 Zu dem am Berliner Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ entwickelten Konzept der „Antike-Transformation“, das den Akt der Aneignung von ‚Antike‘ als wechselseitigen Vor-

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etwa entwerfen – wie beobachtet – eine Kontinuitätslinie von den römischen Imperatoren bis zu ihrem Protagonisten Alfons, der sich antiker (Herrschafts-)Formen bedient und als den großen Gestalten der Antike gegenüber ebenbürtig inszeniert wird. Die vielfachen Formen der intertextuellen Bezugnahme des Commentarius auf das Werk ergeben zusammengenommen einen ‚kommentierenden‘ Subtext, der sich zu dem panegyrischen Entwurf Beccadellis, d. h. auch dem dort entworfenen Bild vom ‚Humanismus‘, positioniert. Es geht nicht darum, die verschiedenen Formen der Bezugnahme einfach nur zu verzeichnen. Die Untersuchung zielt vielmehr auf den intertextuellen Sinnüberschuss, der sich nicht in den isolierten Texten, sondern nur bei deren paralleler Lektüre offenbart, sich eben erst ‚zwischen‘ den Texten konstituiert. Sie macht zugleich deutlich, dass der Commentarius sich auch strukturell in mehrfacher Hinsicht von den Dicta et facta absetzt: 1. Er bricht mit dem alleinigen Fokus auf Alfons V. und lässt eine Vielzahl weiterer Protagonisten auftreten, die überwiegend aus dem deutschen Raum stammen32. Es handelt sich vor allem um Zeitgenossen Enea Silvios oder Personen der jüngeren deutschen Vergangenheit, besonders Friedrich III. und Sigismund, aber auch andere wie Barbarossa, Dante oder Bernhard von Clairvaux, sodass Alfons nur in einem kleineren Teil der Episoden erscheint. Diese Anekdoten ähneln aber häufig durchaus der Alfons-Panegyrik in den Dicta et facta Beccadellis33. Der Commentarius löst also das zentrale Strukturprinzip des Vorlagewerks auf, ohne es gänzlich verschwinden zu lassen. Als Prätext ist Beccadellis Alfons-Panegyrik in einer intertextuellen Lektüre des Commentarius allerdings jederzeit präsent, auch dort, wo Alfons selbst nicht als Protagonist auftritt. 2. Jeder Episode in den Dicta et facta ist eine von Alfons in der Anekdote realisierte Tugend in Adverbialform beigegeben (clementer, fortiter, graviter usw.). Beccadelli folgt dabei einem Programm der ausschließlich moralischen Legitimation der Königsherrschaft, wie es Seneca formuliert hat34. Eneas Episoden dagegen beziehen sich nicht durchgehend auf die vorgegebene Tugend. Häufig bleibt es zudem offen, ob die gang begreift, bei dem nicht nur die Aufnahmekultur modifiziert, sondern auch die Referenzkultur (‚Antike‘) konstruiert wird, vgl. Bergemann u.a.: Transformation. 32 Es liegt nahe, den regionalen Schwerpunkt als Strategie Enea Silvios zu deuten, sich als ‚Deutschland-Kenner‘ im intimen Umgang mit den Mächtigen zu profilieren und für das angestrebte Kardinalat zu empfehlen. 33 So lobt Enea in I 23 (Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, S. 147) überschwänglich die Bautätigkeit des Königs und stellt den königlichen Palast in Neapel über jenen legendären des Darius. In I 5 (ebd., S. 144) hebt er die Antike-Begeisterung des Aragonesen hervor. Hätten die Goten und Lombarden einen solchen Herrscher gehabt, wäre Livius vollständig überliefert worden, so Enea. Die Beispiele sind zahlreich. 34 Vgl. Stacey: Hispania, S. 58–60, mit Verweisen auf einschlägige Passagen in Senecas De clementia.

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jeweilige virtus in der Episode des Commentarius tatsächlich verwirklicht wird. Dies gilt besonders dort, wo sich in den korrespondierenden Lemmata zwei gegensätzliche Positionen gegenüberstehen. So rühmt sich Alfons in den Dicta et facta, die Sitten und den Charakter seiner Amtsleute besonders gut zu kennen. Um dieses Wissen über eine Person zu erlangen, sei nichts besser, als ihr ein Amt zu vergeben35. Enea dagegen lässt Johann, Bischof von Varadin, die entgegengesetzte Position vertreten: Der König solle Ämter ausschließlich an bereits bewährte Männer verleihen36. Anders als bei Beccadelli sind Eneas Anekdoten normativ nicht immer eindeutig bestimmt. Im erwähnten Lemma etwa unterbleibt im Commentarius jede Wertung der Aussage des Bischofs oder ein expliziter Bezug auf die vorgegebene Anekdote, während die Episoden der Dicta et facta alleine schon der zugeordneten Tugenden wegen (hier: prudenter) stets Exemplarisches berichten. Die im Commentarius häufig präsente Ambivalenz relativiert zudem die vermeintliche Stringenz der Alfons-Propaganda Beccadellis, indem die Korrektheit und Tugendhaftigkeit einzelner dicta und facta des Aragonesen durch die Konfrontation mit gegenläufigen Beispielen zumindest fragwürdig gemacht wird. 3. Eine Durchsicht der Dicta et facta und des Commentarius zeigt, dass sich in Eneas Werk deutlich mehr Episoden identifizieren lassen, die offensichtlich witzig wirken und zum Lachen anregen sollen37. Zudem unterscheidet sich der Charakter des Humors in den beiden Schriften: Während es bei Beccadelli fast ausschließlich die Aussprüche des Königs sind, die humoristisches Potential haben, kann es im Commentarius auch die Handlung der jeweiligen Protagonisten oder der Erzählerkommentar sein. Häufig setzt Enea Silvio einem ernsthaften Ausspruch des Aragonesen eine humoreske Episode entgegen, deren Witz gelegentlich auch grober oder obszöner Natur ist. In IV 39 reflektiert Beccadellis Alfons darüber, welches Leben er führen wollte, wenn er die freie Wahl hätte, und entscheidet sich für die Existenz eines Eremiten38. Enea lässt dagegen einen gewissen Johannes aus Mondaino erklären, seine imaginierte Dauerbeschäftigung bestehe darin, irgendeinem reichen Florentiner nachzujagen und ihn ununterbrochen mit seiner Lanze zu bedrohen. Die Konfrontation der 35 Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, III 8, S. 71. 36 Ebd., S. 214f. 37 Ob eine bestimmte Passage tatsächlich ‚witzig‘ oder ‚ironisch‘ gemeint war, lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit rekonstruieren. Auch die Literatur zur historischen Humor- und Ironieforschung kann keine eindeutigen Kriterien identifizieren. Vgl. dazu Brauner: Point; Althoff/Meier: Ironie; Burke: Frontiers. Der Commentarius weist aber mehrere Eigenschaften auf, die die Identifikation von Witz und Ironie grundsätzlich begünstigen: das intertextuelle Gefälle von Pathos (Dicta et facta) und Banalem (Commentarius), Idealismus und Realismus, das Motiv der ‚Wiederholung‘ einer im Prätext vorgegebenen Situation oder Sprechweise und die Thematisierung der Tugend der ‚Fazetheit‘ im Werk selbst. 38 Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, S. 117.

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Beccadelli-Anekdote mit einer absurd anmutenden Episode lenkt den Blick auf den moralischen Pathos in Alfons’ Antwort. Eneas lapidares Statement verstärkt diesen Eindruck, indem es beide Äußerungen auf die gleiche Ebene stellt und dabei (nur) Alfons’ Wunschvorstellung für unangebracht erklärt: Sic enim sequitur suaquemque voluptas, ut ait poetarum Latinorum maximus. At dulce otium et privatae vitae quies interdicta princibus39.

3 Die Episoden im Commentarius, die sich ironisch, kritisch, relativierend oder parodistisch auf den Vorlagetext beziehen, sind zwar insgesamt in der Minderheit, berühren aber gerade die zentralen Motive der Alfons-Panegyrik in den Dicta et facta. Dies soll hier an vier Aspekten verdeutlicht werden: Alfons’ Habitus als Humanist und stoischer rex doctus, Panegyrik und adulatio, Herrschaft und Konsens, sowie das aktuelle politische Geschehen (Piccininos Krieg gegen Siena und der Türkenkreuzzug).

3.1 Alfons’ Habitus als Humanist und Stoiker Viele Episoden des Commentarius greifen das Seneca- bzw. Stoa-Motiv auf, das Stacey als zentralen Bestandteil des ‚royal humanism‘ versteht. Dabei lassen sich zwei Vorgehensweisen unterscheiden: Entweder wird der Umgang des Königs mit einem Seneca-Zitat reflektiert und ironisch hinterfragt oder der stoische Habitus des Königs parodiert. In I 31 löst Alfons bei Beccadelli anlässlich einer gemeinsamen Seneca-Lektüre die Frage nach der Ursache der steten Rastlosigkeit des menschlichen Geistes. Erst im Moment des Todes finde der Mensch endgültige Ruhe bei Gott40. Enea will das Argument zwar gelten lassen, stellt dann aber doch die zusätzliche ironische Frage, warum die Menschen dann eigentlich so ungerne stürben, wenn der Tod doch eine heilende Wirkung habe: Alphonsi quaestio recte soluta est. At poterit ne ille amplius quaerere, si Deum ipsum velut naturalem fedem appetit animus, cur tam invitus eo tendit, quo ire appetit, praesertim cum hoc bono in terris frui nequeamus41? Der Hinweis auf die irrationale Furcht der Menschen vor dem Tod lässt Alfons’ philosophische These zwar nicht als falsch, aber unzureichend erscheinen. Gegen die vermeintliche intellektuelle 39 Ebd., S. 252. 40 Ebd., S. 10. 41 Ebd., S. 149.

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Brillanz des Aragonesen bringt Enea die Komplexität der conditio humana zur Geltung. Im Kommentarlemma III 18 gerät Alfons‘ Verhalten während einer Predigt in den Blick: Beccadelli: Cum in praedicatione cuiusdam viri sancti somno rex admodum gravaretur, nec id dignitati, aut attentioni suae convenire intelligeret, digitis digitos occulte quidem ita contorsit, ut soporem prae dolore omnino excuti et amoveri necesse esset. Enea Silvio: Animadvertit religiosus quidam praedicator ex ordine minorii Albertum Caesarem Ladislai patrem, qui sermonem suum Viennae audiret somno gravatum esse, atque altiori voce, ‚quaero‘, inquit, ‚ex vobis, qui astatis, salvari ne principes possint‘. Cumque rem dubiam et admodum difficilem reddidisset, ‚apagate‘, ait, ‚namque si baptizati principes, ac in cunabulis moriantur, non est desperanda eorum salus‘42.

Wo Beccadelli von einem Akt heroischer Selbstdisziplinierung des Königs berichtet, wirft Enea die Frage auf, ob die Herrschaftsausübung nicht eine in sich moralisch problematische Praxis sei, die jede stoische Selbstabrichtung des Mächtigen von vornherein zwecklos machen könnte. Mit dem Motiv des rex facetus greift Enea ein weiteres, originär humanistisches Motiv auf43, das in den Dicta et facta auch durch eine entsprechende Tugendrubrik (facete) präsent ist. In I 8 etwa inszeniert Beccadelli eine Diskussion über Harpyien. Als deren insulare Herkunft erwogen wird, versichert Alfons einem der Teilnehmer, der von einer Insel stammt, er müsse sich nicht grämen. Alle Harpyien hätten die Inseln verlassen und seien an die Kurie gewechselt44. Enea Silvio kommentiert: Harpyias arbitror fuisse quam plurimas. Nam curiam ego adhuc nullam hisce avibus vacuam vidi45. Enea greift den fazeten Ausspruch Alfons’ auf, korrigiert und überbietet ihn mit einem eigenen und stellt dabei implizit auch die moralische Integrität des Alfons-Hofes in Neapel in Frage. Ähnlich funktioniert die Episode 13 im ersten Buch: Beccadelli: Cum inter coenandum a difficili et importuno quodam sene usque adeo interpellaretur, ut vix edendi potestas esset, subclamasse dicitur asinorum conditionem longe meliorem quam regum, illis quidem comedentibus dominos parcere regibus neminem.

42 Ebd., S. 74, 216f. 43 Das Ideal des gewitzten Herrschers, der es souverän hinnimmt, selbst Gegenstand von Scherz und Ironie zu werden, geht auf die Antike zurück. Vgl. dazu Bowen: Jokes. Allgemeiner zum Konzept des homo facetus vgl. Dicke: Homo facetus. 44 Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, S. 3. 45 Ebd., S. 145.

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Enea Silvio: Si sine literis esset Alphonsus, liceret coenanti sibi ut asino coronato quietem expetere. At docti regis nullam vitae partem quietam esse phas est, nisi quam sibi somnus vendicat46.

Enea eignet sich hier Alfons’ fazete Klage und das Motiv des gekrönten Esels an, um das Ruhebedürfnis des Aragonesen als eines rex litteratus unwürdig zu delegitimieren. Zu den von Beccadelli hervorgehobenen Qualitäten des Aragonesen gehört auch sein Engagement als Mäzen. Die Beziehung von Unterstützer und Gefördertem ist dabei nicht in erster Linie ökonomisch bestimmt, sondern auch und vor allem eine ideelle Verbindung. So preist Beccadelli in III 11 die Großzügigkeit des Königs gegenüber dem humanistischen Dichter Filelfo, der seine Satyras sehr sorgfältig ausgearbeitet (diutissime evigilatas) und dem Aragonesen aufwendig vorgetragen habe47. Enea Silvio kommentiert ironisch: Legerat Philelphus, ut opinor, cum Satyras Alphonso mitteret, quod scribunt veteres de Antonino Pio, qui Oppianum poetam de natura piscium canentem, per singulos versus aureo nummo donavit. Unde sunt illius postmodum ‚aurea carmina‘ nuncupata48.

Der ideelle Aspekt des Mäzenatentums hat hier keinen Platz mehr. Enea Silvio betont dagegen den Erwerbstrieb als alleiniges Motiv. Wo Beccadellis Filelfo sich in erster Linie um die Qualität seines Werkes müht und dafür offenbar auch eine längere Schreibdauer in Kauf nimmt, gerät im Commentarius der literarische Produktionsprozess selbst zu einem ökonomischen Vorgang (Bezahlung nach Anzahl der Verse). Die Dicta et facta zeigen Alfons nicht nur als Förderer von Literaten, sondern auch als kunstsinnigen Rezipienten. Das Motiv des in humanistischer Lektüre vertieften Alfons wird im Commentarius auf verschiedene Weise aufgenommen und wiederholt auch ironisch verarbeitet. In I 43 berichtet Beccadelli, wie Alfons nach der Lektüre des Curtius von einer schweren Krankheit geheilt worden sei49. Enea nimmt der Anekdote alles Wunderbare und Mysteriöse und erklärt die Genesung psychosomatisch: Als Alfons bei Curtius von den Verbrechen und Ausschweifungen Alexanders gelesen habe, müsse er sich (moralisch) überlegen gefühlt haben, woraus sein gebesserter Zustand resultierte50.

46 47 48 49 50

Ebd., S. 4, 145f. Ebd., S. 72. Ebd., S. 214. Ebd., S. 14f. Ebd., S. 153.

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Die angeführten Beispiele zielen also auf das von Beccadelli gezeichnetes Bild des Aragonesen als Philosophenherrscher und Humanistenkönig: Sie setzen sich mit einem stoisch denkenden wie handelnden, fazeten, mäzenatisch tätigen, antikebegeisterten und kunstsinnigen idealen Herrscher auseinander.

3.2 Panegyrik und adulatio Beccadelli macht den panegyrischen Charakter seines Werks bereits im Proömium zum ersten Buch deutlich und bestimmt die memoria als dessen Zweck51. Zugleich grenzt er sich von der adulatio ab. Versteht man darunter ein Lobreden, das durch Gefallsucht motiviert ist, und dabei auch vor unwahren Behauptungen nicht zurückschreckt, dann erscheint Eneas Äußerung in II 12 als Warnung vor der adulatio: Non est igitur, Antoni, cur vel tu vel ego tanti regis gratiam consequi mentientes speremus52. Die direkte Ansprache Beccadellis verleiht dem Satz eine gewisse Brisanz, denn sie scheint sein panegyrisches Unterfangen implizit in die Nähe der adulatio zu rücken. Das Thema wird von Beccadelli wiederholt aufgegriffen, indem er Alfons seine entschiedene Missbilligung der adulatio vortragen lässt. So auch in III 17, wo Alfons die Schmeichler (adulatores) mit Wölfen vergleicht, weil sie wie diese ihre Opfer verzehrten53. Bei Enea tritt Sigismund an die Stelle des Aragonesen. Auf dessen Klage über die Schmeichler weist Bruno von Verona ihn zurecht: Tatsächlich gefalle Sigismund nichts so sehr als gerade die adulatio. Jeder Mensch würde von Natur aus, gleichsam nolens volens die Lobrede anderer schätzen und wolle letztlich belogen werden. Warum sonst umgebe Sigismund sich mit Personen wie Kaspar Schlick oder Marcus Banus? Auch sich selbst schließt Bruno nicht aus: Nec tu mecum tamdiu fuisses, nisi mihi blandiri assuevisses54? Folgt man der Ansicht Brunos, muss Alfons ostentative Verachtung der adulatio unredlich wirken. Enea Silvio bringt hier wie an anderer Stelle die Imperfektibilität als conditio humana gegen die Selbstdarstellungen Alfons’ bei Beccadelli ins Spiel. In I 3 lässt Beccadelli Alfons auf eine panegyrische Rede reagieren: Si vera sunt, Luca, quae de me praedicas, Deo optimo maximo gratias ago. Sin aliter, vera ut istaec faciat oro atque obsecro55. Im Commentarius tritt Balthasar Cossa (der spätere Johannes XXIII.) auf: Baltasar Cossa […] saepenumero supra modum laudatus inquit, ‚quam-

51 52 53 54 55

Siehe dazu oben S. 393. Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, S. 177. Ebd., S. 74. Ebd., S. 216. Ebd., S. 3.

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vis ementita esse scio, quae de me praeclare dicuntur, iis tamen vocibus me oblecto‘ 56. Beccadellis Alfons fragt nach dem Wahrheitsgehalt der Panegyrik und sieht in ihr eine Kraft, die zum Guten motivieren kann. Der ethische Aspekt fehlt bei Enea Silvio dagegen völlig. Sein Protagonist genießt das Lob, obwohl es falsch ist, und ist sich dessen bewusst. Beide Beispiele lassen sich auch auf die Dicta et facta als literarisches Gesamtunternehmen beziehen. Sie hinterfragen die Panegyrik als Genre im Sinne Beccadellis, die ihren Ursprung aus dem natürlichen Bedürfnis nach adulatio leugnet.

3.3 Herrschaft und Konsens In mehreren Episoden des Commentarius gerät ‚Herrschaft‘ als soziales Phänomen in den Blick. Sie wird dort als Praxis verhandelt, die der Zustimmung und Zuarbeit bedarf. Dabei wird die panegyrische Perspektive der Dicta et facta häufig umgekehrt57: der Herrscher gerät in den kritischen Blick der Beherrschten und deren Interessen und Erwartungen werden formuliert. Enea geht dabei teilweise durchaus provokativ vor. In I 3358 beklagt sich Beccadellis Alfons über das Unverständnis seiner Untertanen. Sie sollten einmal selbst erleben, wie lästig und beschwerlich das Königsamt sei. Im Commentarius weist an gleicher Stelle Kaspar Schlick, der Kanzler Friedrichs III. und prominente Korrespondenzpartner Enea Silvios, umgekehrt auf die Lage der Beherrschten hin: jeder Herrscher sollte selbst einmal arm gewesen sein, um Empathie für die mittellose Bevölkerung aufbringen zu können. Enea parodiert den Gedankengang des Aragonesen, kehrt ihn gleichsam um und verleiht der Episode auf diese Weise implizit einen kritischen Anstrich, denn auch Alfons erfüllt Kaspar Schlicks Armutskriterium natürlich nicht. In I 4 geht er ähnlich vor: Ein abschätziger Ausspruch des Königs über eine Gruppe von Untertanen59 wird aufgenommen, konterkariert und ins Gegenteil verkehrt. Alfons’ Kritik betrifft seine Hofleute. Viele von ihnen verließen treulos den Hof, sobald sie ein gewünschtes Amt oder Einkommen erreicht hätten. Enea dagegen zeigt Verständnis für dieses Verhalten, hält es gar für angebracht. Es sei weise, so sein Kommentar, sich mit einem mittleren Einkommen zu begnügen und sich dann vom Hof zurückzuziehen, der voller Gefahren sei: 56 Ebd., S. 144. 57 Vgl. Enenkel: Kommentare, der von einer „radikalen Umkehr der Perspektive“ spricht (S. 115). 58 Beccadelli: Peroptare regem audivimus, uti popularium suorum unusquisque rex extitisset, quo demum illi utpote experti, cognoscerent principum occupationes et curas. Hoc uno forsitan modo fieri posse, ut desinerent molesti et importuni esse (Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, S. 10). — Enea Silvio: Caspar Schlick, qui trium Caesarum cancellarius fuit, optare se dicebat omnesque reges aliquando privatos pauperesque fuisse: neque enim satis miserent, qui numquam fuit miser (ebd., S. 149). 59 Ebd., S. 1.

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Sapiunt mea quidem sententia, qui accepto aliquo beneficio vel mediocri curiae valedicunt. Ostendunt enim animum suum expletum esse et periculose se subtrahunt, quod in curiales frequenter accidit, qui veluti sues ubi saginati sunt in coenam domini mactantur60.

Der Commentarius greift auch das bei Beccadelli zentrale Thema der Legitimation von Herrschaft auf. In einer Episode des zweiten Buchs61 führt Beccadelli die allgemeine Akzeptanz der Herrschaft des Aragonesen auf seine persönlichen Qualitäten zurück: honore gratia, opibus potentia ac sapientia ammicabilis62. Dieser Form der rationalen Herrschaftsbegründung stellt Enea Silvio die Haltung Michael Pfullendorfs gegenüber, der darüber sinniert, dass die vernunftlosen Lebewesen keine Könige über sich duldeten, während die Menschen sich noch den dümmsten Herrschern unterwürfen: Homines vero qui se rationales dicant, iis saepe principibus obedire, qui brutis quadrupedibus stultiores essent63. Das irrationale Verhalten der Menschen scheint jede Form der Herrschaftslegitimation überflüssig zu machen. Es ist aber wichtig, dass Enea sich hier, wie häufig, keiner der beiden konträren Positionen anschließt. Bereits die gewollte Ambivalenz hinterfragt und relativiert aber die Stringenz von Beccadellis Panegyrik, indem sie andere mögliche Sichtweisen ins Spiel bringt. Mit den hohen ethischen Anforderungen an die Königsherrschaft befasst sich auch die Episode IV 2064 in den Dicta et facta. Alfons zitiert einen Ausspruch des Sokrates, wonach die Könige besser sein müssten als die gewöhnlichen Leute, da sie ihnen an Rang und Ehre überlegen seien. Enea knüpft an das sokratische dictum an und ergänzt es mit der Feststellung, das Ziel sei in Wahlmonarchien i. a. besser zu erreichen als in hereditären Königtümern65. Mit der Frage nach der Thronfolge berührt der Commentarius ein brisantes Thema: die noch junge aragonesische Herrschaft im Königreich Neapel war durchaus nicht unbestritten66 und, wie alle aragonesischen Territorien, als Erbmonarchie konzi60 Ebd., S. 144. 61 Diese Episode wird in der Edition Jakob Spiegels – wie offenbar in der gesamten Drucküberlieferung – nicht wiedergegeben. In den Handschriften sind insgesamt sieben Episoden überliefert, die in den Drucken fehlen. Darauf weist (in Bezug auf die Dicta et facta) bereits Laurenza: Panormita, S. 51–55 und S. 91f., hin. Zitiert wird hier nach einer Handschrift italienischer Provenienz, die vor 1500 entstanden ist, und beide Werke enthält: Piacenza, Biblioteca Communale, Ms. Fondo Landi 67. 62 Ebd., f. 52r. 63 Ebd. 64 Beccadelli: Illud quoque, uti ego arbitror, Socratis dictum frequenter usurpabat, tanto privatis hominibus reges meliores esse debere, quanto honoribus et dignitate antecellerent (Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, S. 112f.). — Enea Silvio: Essent plerumque principes quam privati homines uti Socrates meliores, si reges electio, non successio faceret (ebd., S. 248). 65 Ebd., S. 248. 66 Vgl. Stacey: Hispania, S. 54–56, der die relative Instabilität der aragonesischen Herrschaft nach 1442 betont und verschiedene Akteure benennt, die Alfons Widerstand entgegenbrachten: die Anjous, der Papst, die Städte Florenz, Genua und Venedig und große Teile der neapolitanischen Nobilität.

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piert. Der designierte Nachfolger Ferdinand war zudem ein illegitimer Sohn Alfons’ V. Enea Silvios provokativer Einwurf weist implizit auf diese prekäre Gemengelage hin.

3.4 Aktuelles politisches Geschehen (Piccininos Krieg gegen Siena, geplanter Türkenkreuzzug) Mit dem Krieg zwischen der Stadt Siena und Jacopo Piccinino sowie dem avisierten Kreuzzug gegen die Türken thematisiert Enea Silvio im Commentarius in zahlreichen Lemmata zwei aktuelle politische Konflikte, die Alfons V. als bedeutenden Protagonisten involvierten, in den Dicta et facta aber eine eher marginale Rolle spielen. Die Zielrichtung ist eindeutig: Alfons soll die Unterstützung Piccininos beenden und eine führende Rolle im Krieg gegen die Türken einnehmen. Der Commentarius fungiert dabei in vielfältiger Weise als diplomatisches Instrument. In der Episode I 15 berichtet Beccadelli etwa von der Belagerung Gaetas (1435) durch Alfons. Gegen allen Ratschlag habe er die aus der Stadt verstoßenen Frauen, Kinder und Greise, die sich zwischen den Fronten befanden, bei sich aufgenommen. Lieber verlöre Alfons den Krieg, als unrecht zu handeln. Beccadelli preist diese Entscheidung in einer Lobrede, die sich direkt an den König wendet67. Enea richtet sich mit einer eigenen, parodistisch an der Vorlage orientierten Rede an Alfons und hebt hervor, dass man von einem solchen König annehmen müsse, er unterstütze niemals ungerechte Kriege68. Mit dem Wissen um des Königs Verhalten in der Piccinino-Causa erweist sich der Kommentar als ironisch. Die Unterstützung des ungerechten Krieges gegen Siena zeigt, dass Alfons’ panegyrische Darstellung in den Dicta et facta aus der Sicht des Commentarius mindestens an dieser Stelle nicht adäquat ist. Auf diese Weise wird die konkrete Kritik an der Politik des Aragonesen zu einem Indikator der Inkongruenz wichtiger Teile des Alfons-Bildes in den Dicta et facta. Gleiches gilt z. B. auch für I 49. Bei Beccadelli nimmt Alfons dort an einer gelehrten Diskussion über einen von Seneca zitierten Ausspruch des stoischen Philosophen Hekaton von Rhodos teil: Si vis amari, ama! Der weise König macht jedoch auf eine Ausnahme aufmerksam. Die Liebe Gottes sei unabhängig von jeder Gegenliebe69. Enea nimmt den Spruch zum Anlass, über den Konflikt mit Piccinino zu reflektieren: Utinam nec Senenses hoc dicto decipiantur, qui regem Alphonsum vehementer amant atque observant70. Auch hier bleibt die Kritik implizit und verbirgt sich hinter einem Wunsch, von dem jedoch bekannt ist, dass Alfons ihn nicht erfüllt hat, und damit der 67 68 69 70

Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, S. 4f. Ebd., S. 146. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 155.

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stoischen Maxime bislang nicht nachgekommen ist. Oft verbindet sich die Kritik am inkongruenten Verhalten des Königs mit einer in die Zukunft gerichteten Panegyrik, die aber an Bedingungen geknüpft wird71. Wo Beccadelli seinen König eine Geste der Versöhnung gegenüber den Bewohnern Capuas ausführen lässt72, fragt Enea, wieso er sich nicht auch den Sienesen gegenüber so geriere, sodass er mit Recht als universarum Italiae civitatum tutor et pater bezeichnet werden könnte73. Beccadellis deskriptive Panegyrik wird zu einer präskriptiven transformiert: Lob wird zur Mahnung74. Diese intertextuelle Strategie setzt Enea auch ein, um Alfons zum Türkenkreuzzug zu verpflichten. Im Proömium zum vierten Buch der Dicta et facta wird Alfons als Nachfolger der großen spanischen Imperatoren der Antike gefeiert.75 Enea geht zunächst affirmativ darauf ein, gibt dann aber eine ihm zugetragene Selbstverpflichtung des Aragonesen zum Kampf gegen die Türken wieder und stellt Alfons in Aussicht, in ganz Europa als salvator […] Christianae religionis Anerkennung zu finden76. Wo Beccadelli zentrale Propagandainhalte präsentiert, kommt der Commentarius also auf Problematisches zu sprechen: die Frage nach der Beteiligung des Aragonesen am Krieg gegen die Türken war ein überaus heikles Thema, da dessen Doppelstrategie des Versprechens und Verzögerns durch Papst Calixt III. ab 1455 zu einem öffentlich diskutierten Problem der europäischen Politik geworden war77.

4 Die intertextuelle Lektüre des Commentarius78 öffnet den Blick auf die kritischen und 71 Enenkel nennt diese Form der konditionierten Lobrede „virtuelle Panegyrik“ (Enenkel: Kommentare, passim). 72 Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, I 25, S. 8. 73 Ebd., S. 148. 74 Zur Unterscheidung von „präskriptiver“ und „deskriptiver“ Panegyrik vgl. Mertens: Preis, S. 133f. 75 Antonii Panormitae de dictis et factis, ed. Spiegel, S. 105f. 76 Ebd., S. 241. 77 Vgl. Ryder: Alfonso, S. 411–421. 78 Es sind aber auch ganz andere Lesarten der Schrift denkbar und lassen sich auch in der Überlieferung nachweisen: ein intertextuelles Verständnis des Commentarius ist dort von vornherein ausgeschlossen, wo der Text ohne die Dicta et facta überliefert ist. Auch die Handschriften und Drucke, die beide Texte bieten, bringen den intertextuellen Charakter des Commentarius in der formalen Gestaltung ganz unterschiedlich (explizit) zur Geltung. Eher selten ist z. B. die Anordnung der Episoden in der Art eines Dialoges, wo je eine Enea Silvio-Episode auf die parallele Beccadelli-Anekdote folgt. Aufschluss über Rezeptionsmotive verspricht v. a. die Betrachtung der jeweiligen Mitüberlieferung. Hier zeigen sich sehr unterschiedliche Kontexte: humanistische Sammelhandschriften und -drucke, Fazetiensammlungen, Enea Silvio-Anthologien u. a. Der Verfasser zählt insgesamt 34 Handschriften des 15. bis 17. Jahrhunderts und elf Drucke des 16. bis 18. Jahrhunderts, die den Commentarius enthalten. Er

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ironischen Dimensionen der Schrift. Das Kommentarwerk nimmt gegenüber seinem Vorlagetext keine dienende Funktion ein, sondern verarbeitet ihn zu eigenen Zwecken. Allerdings ist auch dem Commentarius Alfons-Panegyrik nicht fremd. Kritik und Ironie kommen meist als intertextueller Effekt, d. h. erst in der intertextuellen Einverleibung von Beccadellis Parallelwerk ins Spiel. In dieser Ambivalenz von Panegyrik und Subversion macht der Commentarius den Humanismus als politisch-literarischen Faktor selbst zum Thema. Eneas Vorgehensweise problematisiert die politische Instrumentalisierung des humanistischen Habitus durch Beccadellis Alfons und reflektiert andererseits die Position des Humanisten selbst: Führen die Abhängigkeit von Finanziers und Mäzenaten, das Schreiben im Auftrag von Herrschern und der Konkurrenzkampf zwischen den litterati notwendigerweise in ein symbiotisches Verhältnis zur Macht? Oder wohnt selbst dem panegyrischen Genre ein kritisches bis subversives Potential inne, das es dem (humanistischen) Autor erlaubt, seine eigene Agenda zu verfolgen und den Instrumentalisierungszwang zu unterlaufen? Eneas Commentarius scheint dies zu tun, indem er wesentliche Dimensionen von Beccadellis Programm des ‚royal humanism‘ zur Diskussion stellt und dessen panegyrische Zweckbestimmung auf subtile Weise unterminiert. Gerade die Ambivalenz, mit der gegenläufige Rede- und Verhaltensweisen im Rückgriff auf die Dicta et facta häufig kommentarlos gegenübergestellt werden, weist darauf hin, dass es Enea wohl weniger darum ging, Alfons die bei Beccadelli hervorgehobenen Eigenschaften tatsächlich abzusprechen79. Vielmehr richtet er sich vornehmlich gegen die panegyrische Darstellungsweise Beccadellis und nimmt damit den humanistischen Agon auf eine ganz andere Weise auf, als vom Autor der Dicta et facta intendiert und im Proömium zum ersten Buch festgehalten: Alios saltem praeclaro et immortali ingenio viros ad honestissimum hoc certamen excitabo (s. o.). Aus dem intendierten Wettkampf (certamen) um die eindrucksvollste Herrscherpanegyrik, wird bei Enea Silvio u. a. eine kritische Auseinandersetzung um das Verhältnis von Herrschaft und ‚Humanismus‘.

konnte dabei von einem unveröffentlichten Zensus von Piccolomini-Handschriften ausgehen, den Johannes Helmrath ihm freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Fast alle Drucke stammen aus dem deutschen Raum. Die meisten Manuskripte sind deutscher oder italienischer Provenienz, manche sind aber auch im restlichen Europa entstanden. Als Schreiber und/oder Auftraggeber lassen sich u. a. mehrere bedeutende Humanisten wie etwa Hartmann Schedel, Niklas von Wyle und Jan Długosz ausmachen. Die intensive Rezeption des Commentarius im deutschen Raum verweist auf Enea Silvios Rolle als zentraler Protagonist der Humanismusdiffusion von Italien nach Deutschland. Vgl. dazu Helmrath: Vestigia. 79 Zum Bild des Aragonesen im Œuvre Enea Silvios vgl. Bürck: Selbstdarstellung, S. 116–131.

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Die Lust am Mittelmaß Hierarchien und soziale Kosten im Manuale Scholarium (ca. 1490) Marika Bacsóka

Ein gehöriges Maß an Selbstironie wandten Lutz Raphael und Olaf Blaschke auf, als sie betonten, dass eine Cordhose zu den notwendigen Voraussetzungen einer erfolgreichen Historikerkarriere gehöre1. Weniger umstritten waren die theoretischen Grundlagen, auf denen ihre Überlegungen zur Konstitution akademischer Gruppen generell fußten: Mit Pierre Bourdieu begriffen sie Kleidung als einen Bestandteil des „scholarly self-fashioning“2 und zielten mit ihren Überlegungen auf die sozialen und strukturellen Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis. Damit rückten sie, innerhalb der deutschsprachigen Forschung als eine der ersten, Praktiken akademischer Gruppierungen in den Fokus ihrer Analyse. Mehr als um die Selbstdarstellung ging es ihnen dabei um die komplexe Wechselwirkung zwischen dem Standort im „akademischen Feld“, den vertretenen Ideen und dem Habitus. Sie zeigten einen relationalen Zusammenhang zwischen diesen Größen auf, auch wenn sie letztlich den Nachweis der Cordhosendichte schuldig blieben. Seit Lutz Raphaels wissenschaftsgeschichtlichen Pionierarbeiten, die die Sozialund Ideengeschichte auf wissenshistorische Beine stellten, hat sich das Rad der Methodenpräferenz innerhalb der Zunft weitergedreht. Mittlerweile kann der ­ praxeolo­gische Zugriff als einer der dominantesten innerhalb der Wissens- und Wissenschaftshistoriographie angesehen werden3. Seine Prominenz – insbesondere in den vormodernen Epochen – ist erstens an strukturelle Voraussetzungen geknüpft, da sich der geringere Grad institutioneller Ausprägung vormoderner Lehrorte auch auf die methodischen Zugriffe auswirkt. Zweitens lässt die Annahme, dass sich die „Gelehrtenrepublik“ im Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit formiert habe, Handlungsmuster und -bedingungen der Gelehrten besonders auslegungswert 1 Raphael/Blaschke: Im Kampf um Positionen, S. 73. 2 Vgl. Gieryn: Cultural Boundaries of Science. 3 Mulsow/Rexroth (Hg.): Praktiken der Grenzziehung; zu theoretischen Ideengebern und Grenzziehungen siehe Füssel: Praxeologische Perspektiven (mit einer zentralen Definition des Ansatzes auf S. 25); zuletzt Ders./de Boer, Jan-Hendryk/Schütte, Jana Madlen: Zur Einführung, sowie SchmidtLauber (Hg.): Doing University.

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erscheinen. Dass akademische Kleidung als Distinktions- und Identitätsmedium innerhalb dieses Prozesses in der ständischen Gesellschaft eine herausgehobene Rolle spielt, ist evident4. Drittens eröffnet er die Möglichkeit, die massenhaft überlieferten Zeugnisse zu Selbst- und Fremdwahrnehmungen vergleichend zu analysieren. Vor diesem forschungshistorischen Hintergrund fällt auf, dass im Gegensatz zu gelehrten Selbstzeugnissen, brieflichen Korrespondenzen oder bildlichen Quellen des Zeitraumes Dialoge und ihre didaktischen Entsprechungen in Form der Schülergespräche bislang noch wenig mit dem ansonsten vielfach verbreiteten praxeologischen Instrumentarium untersucht oder als Ausdruck einer gelehrten Distinktionspraxis verstanden werden5. Dieser gattungshistorisch bedingte blinde Fleck im frühhumanistischen Gelehrtenkontext erscheint umso erstaunlicher, als weder die Textform noch der Autorenkreis als unterforscht oder gar als unbekannt gelten dürfen6. Obwohl also die Schülergespräche eine Fundgrube gelehrter Praxen darstellen, zog man sie vor allem zu philologischen Analysen heran oder nutzte sie für philosophiehistorische Aussagen7. Wenn in diesem Essay nun das Interesse an vestimentären Aussagen mit der Frage nach den in ihnen verhandelten Praktiken verbunden wird, so geschieht dies mit dem Ziel, das Nebeneinander von Darstellungsmitteln und spezifischen Festschreibungen sozial-gelehrter Ordnungen in einem exemplarischen Dialog auszuloten. Ausgehend von diesem kurzen Abriss der Forschungsprämissen und in Anlehnung an die Interessen des Jubilars werden spätmittelalterliche Dialoge als eine Bündelung sozialer Handlungsmuster begriffen. Dabei möchte ich zunächst kurz in den Entstehungskontext eines der bekanntesten Schülergespräche, des Manuale Scholarium, einführen. Anschließend exemplifiziere ich das Feld gelehrter Distinktionen anhand dreier Komplexe. Zuerst werden prinzipielle Vorschriften und (Handlungs-)Empfehlungen nach Themenfeldern systematisiert. Auf dieser Grundlage ist zweitens die Frage nach sozialen und monetären Hierarchien des Universitätsstudiums zu verfolgen. Drittens und zugleich abschließend werden Überlegungen zu möglichen Mitteln gelehrter ‚Binnennormierung‘ angestellt und noch einmal auf den sozialen Ort des Manuale eingegangen.

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Vgl. zu gelehrter Kleidung in bildlichen Darstellungen u.a. von Hülsen-Esch: Gelehrte im Bild; Dies.: Gelehrte in Miniaturen; Füssel: Macht der Talare. Vgl. etwa Rasche (Hg.): Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Vgl. u. a. Wels: Melanchthon’s Textbooks; Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. Auf die Gattungstraditionen des Cortiere abhebend: Davies: Manuals of Student Behaviour. Siehe etwa die philologische Untersuchung von Streckenbach: Stiltheorie.

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1 Das Manuale Scholarium Humanistische Schülergespräche verfielen wie viele der im 19. Jahrhundert editorisch erschlossenen bildungshistorischen Quellen einem fast hundertjährigen Dornröschenschlaf. Erst seit ca. 20 Jahren nimmt das Interesse an ihnen stetig zu, vor allem seitdem Humanisten als soziale Gruppe untersucht und das Netzwerk der nordalpinen Humanisten, insbesondere ihr Lehr- und Unterrichtsprofil, einer Neubewertung unterzogen werden8. Neuere Publikationen zu spätmittelalterlichen Schülergesprächen häufen sich in Cottbus, da dort die Neueditionen der Dialoge des gut vernetzen Frühhumanisten Paul Schneevogel mit wissenschaftlichen Aufsätzen Hand in Hand gehen9. Besonders eingehend diskutierte man die Möglichkeit, ob Schneevogel der mögliche Autor des anonym überlieferten Manuale Scholarium sei, da vor allem in seinen vier Dialogsammlungen Bezüge auf dieses Werk enthalten sind, und zwar in Form von textuellen Übereinstimmungen, biographischen Referenzen und topographischen Anpassungen10. Als communis opinio der Forschung gilt mittlerweile, dass Paul Schneevogels Latinum ydeoma die Vorlage des 1489/90 in Heidelberg bei Heinrich Knoblochtzer gedruckten Manuale scholarium bildet11. Die erste wissenschaftliche Edition des in fünf Drucken überlieferten Manuale, die der Germanist und spätere Rektor der Leipziger Universität Friedrich Zarncke verantwortete, erschien bereits 185712. Sie ist – wie auch die editorischen Unternehmungen in Freiburg und Heidelberg – im Rahmen einer Universitätsgeschichte entstanden und ist eng mit der ‚nationalen Aufholjagd‘ der Humanismusforschung verbunden. Zarncke präsentierte das Manuale als eine der ältesten Zeugnisse der humanistischen Lec8

 Vgl. die wegweisenden Arbeiten des Jubilars zum Transformations- und Adaptionsprozess der Humanismusbewegung, gesammelt in: Helmrath: Wege des Humanismus. Zum möglichen Autor des Manuale, Paulus Niavis, und seiner Alma Mater vgl. den Sammelband Bünz/Fuchs (Hg.): Humanismus an der Universität Leipzig. 9  Paulus Niavis. Spätmittelalterliche Schülerdialoge, ed. Kramarczyk/Humberg; zahlreiche weiterführende Studien zu Paulus Niavis in: Fassbender/Mierke (Hg.): Lateinschulen. Zum Leben Schneevogels vgl. neben Worstbrock: Schneevogel; Knape/Kocher: Niavis; Kramarczyk: Der Autor Paulus Niavis (v. a. zu seiner Studienzeit in Leipzig [1479], S. 25f.); Johnson: Parodistic Student Dialogue. Haye: Lateinische Oralität, S. 68–77, Zit. S. 77, verortet das „Gesprächsbüchlein“ innerhalb der Tradition „klösterlicher Oralität“ und deutet somit Paul Schneevogels passgenaue Trainingsbücher als humanistische Spielart der generellen „Techniken kolloquialer Ausbildung“. 10 Die Nähe beider Werke betont bereits Bömer: Lateinische Schülergespräche, Bd. 1, S. 18–20; eine eingehende Handschriftendiskussion mit dem Votum Leipzig vor Heidelberg formuliert Ritter: Quellenwert, S. 12f. Die Kontroverse referiert Rupp: Imitatio, bes. S. 49f. 11 Vgl. Barth: Manuale scolarium, bes. Sp. 321f., wo sie die Kürzungen, Umstellungen und Erweiterungen des Latinum ydeoma durch den Heidelberger Anonymus referiert. Der Aufsatz verwendet die jüngste Edition des Werkes: Manuale Scholarium, ed. Riché. 12 Zarncke: Deutsche Universitäten im Mittelalter, S. 1–48.

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tura. Dabei diente es ihm als Nachweis der Innovationskraft der Alma Mater Lipsiensis, die er von der Heidelberger Universität absetzte. Der unmittelbare Vergleich von Leipzig und Heidelberg spielte nicht nur für die Datierung der überlieferten Drucke des Manuale eine Rolle, mittelbar ging es Zarncke darum, chronologische und entwicklungsgeschichtliche Etappen zum Wegestreit an der Leipziger Universität zusammen zu stellen. Der universitätshistorische Kontext spielte wiederum für den Philologen Aloys Bömer eine untergeordnete Rolle, als er sich 1897 in einer quasi-seriellen Untersuchung einer Reihe von „deutschsprachigen“ Dialogen zuwandte. Er entwickelte den Gattungsbegriff „Schülergespräch“ und bestimmte als gemeinsames Merkmal, dass sie zum einen von deutschen Humanisten an „jüngere Knaben“ adressiert worden seien und mit Hilfe von „Musterbeispielen“ aus dem „Bereich des Schulwesens“ die „lateinische[n] Umgangssprache“ einübten13. Formale Aspekte standen im Mittelpunkt seiner Analyse, die einerseits die Phraseologie untersuchte, andererseits hervorhob, warum die ,Gespräche‘ „eine so kostbare Quelle für die Geschichte des Schülerlebens“ darstellen14. Das Manuale entging in der Folge nicht dem Interesse der älteren Kulturgeschichte, die sich weniger auf Formulierungen und Sprachduktus, sondern auf die in den Dialogen geschilderten Begebenheiten aus dem studentischen Alltag konzentrierte. Insbesondere akademische Ereignisse, wie das für das Mittelalter zwar überlieferte, aber in seinem Ablauf unklare Depositionsritual, Konflikte unter den Studenten sowie das Verhältnis zum weiblichen Geschlecht zog die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich15. Vor einem „naiven Gebrauch“ und einer verkürzten Interpretation warnte jedoch bereits Gerhard Ritter, der Doyen der Heidelberger Universitätsgeschichte. Er zeigte sich begeistert von dem „echt[en] und unmittelbar[en]“ Eindruck, der vom studentischen Alltagsleben evoziert werde, riet jedoch davon ab, den Dialog als Spiegel realer, universitätsgeschichtlicher Vorkommnisse zu verstehen16. Während die frühe13 Bömer: Lateinische Schülergespräche, Bd. 1, S. 4f. (zum Manuale S. 10–18 mit ausführlicher Zusammenfassung der einzelnen Kapitel). Die Edition ist in den Mitteilungen der 1890 gegründeten Gesellschaft für Erziehungs- und Schulgeschichte erschienen, die vor allem in der Editionsreihe Monumenta Germaniae Paedagogica eine „möglichst vollständige Sammlung, kritische Sichtung, wissenschaftliche Verarbeitung […] der weitzerstreuten Materialien zur Geschichte des Unterrichts und der Erziehung in den Ländern deutscher Zunge“ zum Ziel hatte. Vgl. Kehrbach: Begleitwort, o. S. 14 Bömer: Die lateinischen Schülergespräche, Bd. 1, S. 5. 15 Vgl. etwa Bauer: Sittengeschichte, S. 24, 36, 75. Als Vergleichsobjekt zu Rostock verwendet ihn Hofmeister: Rostocker Studentenleben, S. 6–8; als Vergleichsfolie dient das Manuale im Standardwerk von Rashdall, Universities of Europe, Bd. 3, S. 376–380. In der neueren Forschung werden neben der weitverbreiteten illustrativen Nutzung wie bei Cobban: English University Life, S. 44, auch die sozialen Funktionen von akademischen Ritualen anhand des Manuale erklärt. Vgl. Schwinges: Fest und Freizeit; Füssel: Gewalt, sowie Ders.: Riten der Gewalt. 16 Vgl. Ritter: Quellenwert, S. 6f.

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ren Editoren die Schülergespräche vor dem Hintergrund eines universitären Wirkungskreises deuteten, ordnen gegenwärtige Arbeiten das Werk in das Umfeld mitteldeutscher Lateinschulen ein und gehen auf die Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv diskutierte Datierungs- und Abhängigkeitsfrage nur am Rande ein. Gemeinsam ist beiden Forschungsschneisen die Bestimmung der causae scribendi der Schülergespräche, die in der Vermittlung eines „sprachlich und stilistisch einwandfreie[n] Lateins“ bestanden habe. Folgerichtig charakterisieren sie das Manuale als eine Art Anleitung für kolloquiales Latein in studentisch-universitären Alltagssituationen, die von Themen für Tischgespräche bis hin zu Bewertungsmaßstäben für besuchte Kurse reichen17. Das an einen Universitätsneuling gerichtete Manuale besteht insgesamt aus 18 kurzen Kapiteln. Bis auf eines führen ihn alle im Rahmen von fiktiven Gesprächssituationen in die Verhaltens- und Sprechmodi der neuen Umgebung ein18. Unabhängig von Themen und Situationen ist das Ziel dabei stets, korrekte „universitäre“ Umgangsformen vorzuführen. Dieses Leitthema lässt sich nach drei Schwerpunkten gliedern. Erstens berühren die Dialoge das Themenfeld der Lehrpraxis. Es werden Grundinformationen akademischer Verfahren geschildert, etwa die Immatrikulation, wie die Ansprache eines Magisters zu erfolgen hat, wie der abzuleistende Eid gestaltet sein muss (Kapitel 1). Auf die institutionelle folgt die Einführung in die studentische Gemeinschaft mittels des Depositionsritus (Kapitel 2), ein „Studienverlaufsplan“ wird entworfen und auf übliche und sinnvolle Lehrveranstaltungen hingewiesen (Kapitel 3) sowie weitere fakultative, poetische Vorlesungen vorgestellt und auf die Belastungen eines juristischen Studiums eingegangen (Kapitel 5). Nachdem der Adressat das institutionelle Know-How besitzt und weiß, welche Kurse er belegen muss und dass er pünktlich zu ihnen zu erscheinen hat, steht im zweiten Drittel des Manuale die Studien-Etikette auf dem Plan. Hier wird nach Akteuren differenziert, da der gute Ton und adäquates Verhalten abhängig vom Status der Person ist. Drei Gruppen lassen sich ausmachen: erstens der Umgang von Studenten mit Magistern, zweitens das Verhalten innerhalb der Peergroup von Student zu Student und schließlich jenes von Universitätsangehörigen zu Außenstehenden. Was dabei im Einzelnen als statthaft oder als unerlaubt (culpabilis) gilt, zeigt das Manuale mittels Transgressionen auf der einen und den vorhandenen Bestrafungsmitteln auf der anderen Seite. Überzeichnet erschei17 Zit. nach Rupp: Imitatio, S. 44. Zur Frage des sozialen Orts der Schülergespräche vgl. Gotzen: Humanistische Schülergespräche. Die treffende Charakterisierung als „guide to Latin conversation“ findet sich im Gefolge von Bömer schon bei Berry: Guide to Latin Conversation. 18 Lediglich im ersten Kapitel tritt der Student als persona fictiva auf, dasselbe gilt für seinen unmittelbaren Ansprechpartner, den betreuenden Magister. Die Interlocutoren in den anderen 16 Kapiteln sind Bartoldus und Camillus, zwei gleichgestellte Studenten.

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nen die Übertretungen, weil sich der betroffene Student ungerecht behandelt fühlt und sich über die starren Regeln wortreich empört19. Die „gespielte“ Entrüstung bestätigt letztlich immer, wie berechtigt das Einschreiten der Rektoren oder Bursenregenten ist und schreibt so die universitäre Grundhierarchie fest. Dass die akademische Position und der Grad des akademischen Abschlusses sowohl den Zeitpunkt bestimmt, wann man berechtigt ist beim Essen zuzugreifen, als auch die Größe sowie Qualität der Portion beeinflusst, scheint dem Universitätsneuling nicht bewusst zu sein (Kapitel 8). Auch wird in Erinnerung gerufen, dass disqualifizierende Aussagen über Scholaren und Präfekten nicht geduldet sind (Kapitel 11 und 12). Das Manuale tariert den Umgang mit Höhergestellten aus und rückt zugleich das Miteinander der Studenten in den Fokus. Ist es zulässig, bei einer Repetition oder in einer Vorlesung abwesende Kommilitonen beim Dozenten zu melden (Kapitel 6) oder generell jemanden anzuschwärzen (Kapitel 8)? Oder: Welche Sprache verlangt der colloquiale Umgang miteinander (Kapitel 11)? Nicht nur das Einhegen von Konflikten und Provokationen spielt eine Rolle (Kapitel 9 und 10), auch solidarische Lern- und Buchgemeinschaften tauchen als Handlungsmöglichkeiten auf (Kapitel 5 und 6). Einen breiten Raum innerhalb dieses Themenfeldes nehmen die möglichen Strafmittel (Gebühren und abgestufte Ausschlussmechanismen) ein. Mehrfach wird erörtert, auf welcher Grundlage die Magister, Dekane und Rektoren zu solchen Maßnahmen berechtigt sind. Die Legitimität leitet das Manuale aus den Statuten ab, wobei sich Transgressoren nicht vor den vorgeschrieben Strafgeldern drücken können, da sie einerseits veröffentlicht, andererseits regelmäßig verlesen werden (u. a. Kapitel 11 und 12). Die geringste Präsenz haben unter den drei Adressatengruppen eventuelle Konfliktfelder mit städtischen Gruppen (Kapitel 11 und 12). Thematisiert wird hier zum Beispiel das Urinieren vor der Curia oder nächtliche, lärmbelästigende Gelage in den Gassen werden en passant erwähnt. Neben diesen inneruniversitären Verhaltensregeln kann als dritter Schwerpunkt das Feld „Sprechetikette“ identifiziert werden. Worüber, vor allem jedoch wie man sich mit universitätsinternen und -externen Personengruppen austauscht, differenziert das Manuale (Kapitel 6 und 7). Als Leitnorm durchzieht den Dialog die Maßhaltung (temperamenta). Die Figuren agieren und sprechen ausgleichend: Einem überschnellen Urteil wird daher immer eine moderate Sprechhaltung gegenübergestellt. Dabei stehen sowohl Lehrformen (Disputatio, Vorlesung), Auftritt und Vortragsweise, wie auch ideengeschichtliche Positionen der Akteure zur Diskussion. Die temperamenta bestimmen ferner die Disposition der Interlocuturen, auf die inhaltliche Kritik folgt im selben Kapitel auch immer Lobendes, etwa zum Aufbau eines Arguments aus dem Mund eines fähigen Magisters (Kapitel 5 und 12). Auf welcher konkreten Ebene die „Sprech19 Vgl. Manuale Scholarium, ed. Riché, Kap. 10, 11, S. 92–102.

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anleitung“ abläuft, lässt sich am besten am letzten Kapitel zeigen, das elf modellhafte Formulierungen für Einladungsschreiben sowie Ansprachen im universitären Kontext zusammenstellt. Diese sind nach dem akademischen Rang der Adressaten gegliedert und liefern variierende Ehrbezeichnungen. Die Bitten sind jedoch nicht allein eine Anhäufung korrekter Titulaturen übergeordneter Personen. Die Zusammenstellung standesgemäßer Ansprachen dient nicht nur zur Orientierung, sie versetzt den Studenten zudem in die Lage, sein Studium erfolgreich abzuschließen. Dass die Gliederung des Gesprächsbüchleins einem idealen Curriculum entspricht, das mit der Ankunft und Immatrikulation einsetzt und mit dem optionalen Übergang in den Gelehrtenstand abschließt, verdeutlicht noch einmal die praktische Funktion des Manuale20.

2 Kleiderfragen und soziale Kosten Aus der ständisch gegliederten und von sozialen Rollen durchzogenen Universität sind zahlreiche Konflikte überliefert, die sowohl binnen- als auch außeruniversitäre Ehr- und Hierarchiekonstellationen widerspiegeln21. Innerhalb des Universitätskosmos wie auch den Konfliktkonstellationen kommt der Kleidung eine herausgehobene Rolle zu. In der Forschung erklärt man den Zusammenhang funktional, Kleidung fungiere sowohl als integratives wie auch abgrenzendes Distinktionsmerkmal, das Konflikte sowohl auslösen als auch vorhandene Diskrepanzen verstärken könne22. Dabei scheint es besonders relevant, spätmittelalterliche Überlieferung aus dem Universitätskontext auf vestimentäre Bezüge zu untersuchen und diese Ergebnisse zu systematisieren23. Prinzipiell ist 20 In der Vorlage des Paul Schneevogel endet der Studienverlauf mit dem Tod eines Universitätsneulings, der trotz Verbot des Rektors im Bach schwamm und ertrank. Sein Tod ist selbstverschuldet, wie einer der Gesprächspartner darlegt, denn: Quid turpius est in scholarium coetu quam ea, quae inhabita sunt, facere ac demum praecepta negligere? Weil er das Schwimmverbot missachtete, züchtigt der Rektor den Leichnam im Anschluss. Vgl. Paulus Niavis. Latinum ydeoma pro scholaribus adhuc particularia frequentantibus, in: Ders.: Spätmittelalterliche Schülerdialoge, ed. Kramarczyk/Humberg, Kap. X. 42, S. 246–250. 21 Vgl. Schwinges: Studenten und Gelehrte, und Schuh: Praktiken studentischen Lebens. 22 Zu den funktionalen Aspekten vgl. generell Bulst/Jütte: Kleidung und Identität, und Jaritz: Kleidung. Über Ausgrenzungsmuster und Identitätsfragen gehen die neueren Arbeiten mit dem Ansatz der „symbolischen Kommunikation“ hinaus. Vgl. Frieling: Kleidung an Fürstenhöfen, und Keupp: Wahl des Gewandes. 23 Während die Präsenz von Kleiderfragen im Universitätskontext seit langem wahrgenommen wird, steht eine vergleichende, systematische Auswertung von Kleidervorschriften in den universitären Statuten und den Strafbegründungen noch aus. Die ältesten universitätshistorischen Studien diskutieren die Frage nach dem Ursprung und den Vorbildern universitärer Kleidung, z. B. Rashdall: Universities of Europe, Bd. 2.2, S. 636–644. Für die Freiburger Universität existiert eine Vorstudie, die Abschnitte

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eine Einteilung der Überlieferung neben der in der Einführung genannten bildlichen in drei Gruppen sinnvoll: Erstens lassen sich Selbstzeugnisse einzelner Universitätsangehöriger identifizieren24. Zu ihnen gehören etwa Briefe und die wenigen Rechnungsbücher aus dem studentischen Milieu, die konkrete Ausgaben über Bekleidung überliefern. Sie spiegeln neben den finanziellen Ressourcen und individuellen Präferenzen auch die Praxis wider, standesgemäße, repräsentative Ämter mit besonderem Aufwand ausüben zu müssen25. Als zweite Überlieferungsform können von ihnen Berichte städtischer Chronisten abgesetzt werden, die in meist sehr kursorischen Passagen Konflikte zwischen Angehörigen der Universität und den sonstigen Stadtbewohnern thematisieren. Auffallend häufig handelt es sich dabei um Auseinandersetzungen zwischen städtischen Wachen oder gleichaltrigen Handwerkergesellen mit Studenten, als Hauptauslöser der Konflikte gelten unstatthafter Waffengebrauch oder unangemessene Kleidung26. Die dritte und größte Gruppe universitärer Textquellen mit Kleiderbezug stellen statutarische Vorschriften und inneruniversitäre Rechtsakte dar, die entweder Handlungen regulieren, Übertretungen dokumentieren oder Auseinandersetzungen zwischen inneruniversitären Akteuren schlichten. Für die Heidelberger Universität als Druckort des Manuale lassen sich neben den Statuten, die Passagen zu Amtstracht und Kleidung enthalten, im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts allein fünf Verfügungen mit Konfliktund Kleiderbezug ausmachen27. Der Schnelldurchgang durch die universitätshistorischen Quellenzeugnisse des Spätmittelalters zeigt somit eine hohe Präsenz akademischer Kleiderfragen, auftretende sozio-ökonomische Diskrepanzen sowie ihren Regelungsbe-

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zur Kleiderfrage aus den „Disziplinargesetzen“ des 15. und 16. Jahrhunderts diskutiert. Vgl. Mayer: Studentische Tracht. Ein Handbuch zu universitätshistorischen Quellen gliedert sie in drei funktionale, gebrauchsorientierte Themenbereiche (Verwaltung, Lehren und Leben sowie Repräsentation) de Boer u. a. (Hg.): Universitäre Gelehrtenkultur. Die Aufwendungen des Grafen Conrad zu Castell während seines knapp zweijährigen Aufenthaltes in Freiburg für Kleidung stehen nach Wohn- und Kostgeld mit 69 Gulden an zweiter Stelle und machen etwa ein Viertel seiner Gesamtausgaben aus. Er bekleidete vom 1. Mai bis zum 1. November 1537 das Amt des Rektors in Freiburg und ließ für seinen Nachfolger die Rektorenkappe ausbessern. Dazu gab er 1 guld(en), 1 blaphert [...] dem | kurßner, von des rectors | kapp(en) zufuttern. Als Ingolstädter (Ehren-)Rektor erhielt er eine hermelingefütterte Kappe geschenkt. Vgl. Sauthoff: Adeliges Studentenleben, S. 22 (Zitat), Auflistung der gekauften Kleidung S. 103–105. Analog lässt sich anhand des Kölner Studenten, Gerhard von Wieringen, vorführen, wie hoch die Lebenshaltungskosten eines durchschnittlichen Studenten zu veranschlagen sind. Die Grundausstattung während der ersten beiden Studienjahre belief sich auf 12 Gulden. Siehe Schwinges: Gerhard von Wieringen, bes. S. 555f. sowie Ders.: Student’s Clothing. Zu Basel siehe Sieber: Basler Universitätsleben; zu Freiburg vgl. etwa Krug-Richter /Braun: Spaziergang. Vgl. die Statuten der Universität Heidelberg sowie einzelne Verfügungen der Fakultäten im Urkundenbuch der Universität Heidelberg, ed. Winkelmann, Bd. 1, Nr. 64, 83, 95, 97, 99, 100, 112, sowie zum letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts Nr. 127, 140, und zum sogenannten ,Heidelberger Birettstreit‘ Nr. 142, 144, 146. Dazu Erläuterungen bei Schwinges: Ordnung, bes. S. 124.

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darf. Aufgrund der Überlieferungsdichte stellt sich die Frage, in welcher Form dieses Themenspektrum im Heidelberger Manuale verhandelt wird. Lediglich im zwölften der achtzehn Kapitel findet sich ein ein vestimentärer Bezug. Inhaltlich besitzt der mit Est de quibusdam communibus locutionibus inter scolares überschriebene Artikel eine lose Klammer, die drei Dialogsequenzen bereiten mögliche Konversationsthemen nacheinander, argumentativ unverbunden, auf. Auf die kurze Erörterung, ob und wie sinnvoll eine Vorlesung über Aristoteles’ De anima sein könne, folgt die zweite Sequenz zur studentischen Garderobe, als drittes legen die beiden Studenten in mehreren kurzen Passagen angemessene und unangemessene Disputationsformen dar28. Einer der beiden fiktiven Gesprächspartner, Bartoldus, lässt seinem Unmut freien Lauf: Er sei so wütend über den Rektor, der glaube, ihm eine Strafe aufzwingen zu können, dass kein Tropfen Blut mehr in seinem Körper sei29. Camillus, sein Kommilitone, wundert sich über den Furor und fragt nach dem Grund seiner Entrüstung. Energisch entgegnet Bartoldus, dass sein Brustschmuck (pectorale), der ungeschlossene Kragen (collirium cancellatum) sowie das plissierte Leinenhemd (camisiam meam plicatam) der Grund für die drohende Geldstrafe seien, wobei er doch keinesfalls der einzige mit dieser Garderobe sei. Camillus erwidert gleichmütig, dass Bartoldus seinen Hinweis auf die Vorschrift ignoriert habe. Der vor den Rektor Zitierte erregt sich weniger über das Statut an sich, als über die Strafhoheit sowie die Form, wie der Rektor diese wahrnehme. Wenn er die Regel auf ihn anwende, so müsse sie auch für alle Anderen gelten. Die didaktische Botschaft der kurzen Passage scheint auf den ersten Blick eindeutig zu sein: Wie Regelübertritte zu reglementieren sind, liegt in der Hand des Rektors. Studenten stehe es nicht zu darüber zu urteilen, weshalb der Rektor in Einzelfällen unterschiedlich richte, sie müssten sich vielmehr dem Statut fügen (potius acquiescendum statutis). Dass in seinem Falle das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, verdeutlicht der süffisante Nachsatz zur Passage. Bartoldus kündigt an, sich der Geldstrafe zu entziehen, indem er Ausflüchte (evasiones) kreiert. Während also Kleidung und Kleidervorschriften im Manuale nur einmal auftauchen, Schnitt, modische Ausgestaltung, Kosten und Material der getragenen Wäsche unterschlagen werden, fungieren Universitäts-, Bursen und Fakultätsstatuten gleich28 Folgende Sprachhandlungen werden neben Gelehrtheit (instructus) positiv hervorgehoben: [...] respondentes boni sunt atque acerrimis ingeniis, specialesque habent opiniones contraque communem usum nostrorum tenent, et litigiosi sunt. Das Kapitel markiert vor allem negative Verhaltensweisen. Die Selbstverliebten, die von ihrer Wut und ihrem Ehrgeiz getragenen (impetuosus), wie auch die Unerfahrenen, die ihre fachliche Ignoranz mit zahllosen Worthülsen (baccalaureus balbutiens) zu verdecken suchen, werden verspottet. Darüber hinaus mokiert man sich über die bartlosen (imberbis) Magister, die starrköpfig (obstinatus) und eigensinnig (praesumptuosus) ihre abwegige Auslegung vertreten. Vgl. Manuale Scholarium, ed. Riché, Kap. 12, S. 104f. 29 Ebd., Kap. 12, S. 104: Tanta ira inflammatus sum, vix sanguinis guttam invenies ullam in corpore meo.

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sam als Rückgrat der Kapitel. Sie geben das Handlungs- und Sprechrepertoire der Gesprächspartner vor und ermöglichen, statthafte oder verurteilenswerte Handlungen zu identifizieren. Ein zweiter, externer Bewertungsmaßstab für korrektes Studienverhalten bilden daneben Informationen von hierarchisch Höhergestellten, den dritten Maßstab stellt der Magister meus dar. Er tritt als unmittelbarer Ratgeber und Betreuer in allen fachlichen Angelegenheiten auf30. Zuletzt stehen die Darstellungsmittel der studentischen Akteure noch einmal im Fokus. Verlässt man die themenspezifische Analyse und wendet sich den Wortfeldern des Manuale zu, so fällt auf, dass den Haupttext monetäre Bezeichnungen durchziehen. Es überschreitet den Topos der Geldknappheit, wie er für spätmittelalterliche Bittbriefe typisch ist31, da es die Rolle des finanziellen Backgrounds für das Studium benennt, die Kostenfaktoren nach Lehrpraktiken differenziert und indirekt aufzeigt, wie sehr der akademische Erfolg von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln abhängig ist. Die beiden Sprecher heben die Aufwendungen für ihren Lebensunterhalt hervor, wobei sie nicht auf Kost und Logis ihres Studiums zielen, sondern vordringlich Ausgaben im Zusammenhang mit dem Studienverlauf zusammentragen. Sie werden im gesamten Manuale nicht gruppiert, sondern in einzelnen Dialogsituationen lose angesprochen und lediglich an drei Stellen konkretisiert32. So taxiert Bartoldus die jährliche Gesamtsumme für ein Artes-Studium zum Baccalaureus auf etwa 20 Gulden und bemerkt abschließend vielsagend, pecuniosos requirit universitas33. Andere Finanzierungsmodelle, über Kollegiate oder Stipendien Einnahmen zu generieren, erörtern die Figuren des Manuale nicht. Weder differenzieren sie die Gruppe der Studenten in pauper, nobilis oder dives, noch gibt es allgemeine Überlegungen zum Stellenwert der Artes oder rechtfertigende Passagen zum Sinn eines Studiums. Nur in einer Passage des fünften Kapitels erörtern sie das Für und Wider eines Studiums der Jurisprudenz. Bartoldus spricht sich nicht generell gegen das Fach aus, doch gibt er zu bedenken, dass neben der notwendigen persönlichen Eignung, nicht nur die Einschreibegebühren besonders hoch seien, sondern vor allem die zahlreichen Bücher einen enormen Kostenfaktor darstellten34.

30 Vgl. zur Bedeutung der mündlichen Information durch erfahrenere, fortgeschrittene Universitätsangehörige Manuale Scholarium, ed. Riché, Kap. 3, S. 52: Scio equidem, quod a baccalaureis plurimis, qui optime norunt, audiverim. Zu Exempla, in denen Magister handlungsweisend auftreten, siehe ebd., Kap. 1, Kap. 11, Kap. 12. 31 Siehe etwa Schuh: Praktiken studentischen Lebens, S. 85. 32 In anderen Passagen stehen die Aufwendungen immer relativ zu einer unbestimmten, großen oder nicht leistbaren Gesamtsumme. Siehe dazu unten S. 422. 33 Manuale Scholarium, ed. Riché, Kap. 16, S. 138. 34 Ebd., Kap. 5, S. 68–70.

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Betrachten wir die genannten materiellen Aufwendungen im Einzelnen35. Die beiden Wortführer unterstreichen, dass universitäre Verwaltungsakte nicht unentgeltlich seien: Immatrikulation, Seminar- und Examensanmeldungen schlügen zu Buche, konkrete Summen nennen sie nicht. Neben den finanziellen markieren die Gesprächspartner auch Zeit als weitere Belastung und mahnen eine optimale Nutzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen an. Zeitökonomie wird im dritten Kapitel doppelt verhandelt. Zum einen als Handlungsziel, um das Studium mit einer schnellen Promotion in drei Semestern abzuschließen, zum anderen als negativ konnotierte und unerlaubte Zeitersparnis. Camillus berichtet, dass es üblich sei, nur am Anfang und am Ende einer Vorlesung anwesend zu sein und so mit geringstmöglichem Aufwand die Cedulae zu erlangen, die die Anwesenheit bestätigen. Bartoldus stellt unmissverständlich klar, dass diese früher übliche Praxis inzwischen statutarisch sanktioniert sei. Die Magister kämen ihrer (Lehr-)Verantwortung nach, gestalteten die Vorlesungen nun zum Nutzen der Hörer und schützten so die Studenten indirekt vor den horrenden und nutzlosen Anmeldegebühren36. Neben der Zeitknappheit spielt auch die Beschränktheit der finanziellen Ressourcen eine herausgehobene Rolle. Sei es, dass die Gesprächspartner sich um Gebührenreduktionen bei Vorlesungen bemühen, als societas Bücher gemeinsam nutzen oder um Aufschub bei der Rückzahlung von Schulden bitten. Im Gesamtsaldo der Aufwendungen stehen neben den unmittelbaren Unterhaltskosten für das Studium auch soziale Kosten für Gastmähler, Auslagen für Bäderbesuche sowie Geschenke37. Der unbenannte Universitätsneuling äußert Bedenken, dass die angesetzte collatio seine finanziellen Mittel überschreite. Darauf sichert der Magister sogleich sein Verständnis zu und reduziert die Gastmahlgesellschaft auf ein Minimum, so dass der Student 35 Immaterielle Ressourcen, wie Kontakte zu gut vernetzten Kommilitonen, thematisiert das Manuale nur an einer Stelle. Als der Erfurter Student nach einer Unterkunft und dem Haus des Pedellen fragt, antwortet ihm Camillus, es sei schwierig ohne die Empfehlungen eines gut vernetzten Fürsprechers: Difficile erit bonam ut consequaris habitationem, nisi alicuius praesidio fueris usus ac promotione, qui notus esset. Bartoldus appelliert an sein Mitgefühl und versichert ihm, dass er den Gefallen nicht vergessen und ihn entgelten werde: Te igitur facio precatum, eam mihi humanitatem ostendas et in hac re manuductionem praebes; ubi in beneplacito tuo comparare debeam nihil obmittam. Vgl. ebd., Kap. 7, S. 80. 36 Ebd., Kap. 3, S. 54: Erras vehementer, nam facultatis artium magistri ita instituerunt ut quemquam, priusquam admittatur, affirmare opportet iuramento qualiter audiverit [...]. Statuerunt nunc ut quisque audiat compleatque diligentissime, ac legentibus praecipiunt, ita nobis prosint opera sua, ut nobis haud minuta sit eventura utilitas. 37 Ein Gastmahl vor der Examensprüfung hält Camillus zum Zweck ab, von ihm beleidigte Magister wieder wohlgesonnen zu machen. Vgl. ebd., Kap. 10, S. 96: Scribam adhuc pro decem, et, antequam intrabo, faciam collationem unam, invitaboque magistros; quos offenderim unquam aut re aut verbis, ipsos quoque tractabo lautissime.

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weder als verschwenderisch (superfluus sumptus) noch als geizig (parcitatus) erscheint38. Zwei Wege stehen zur Verfügung, um die vielfältigen Ausgaben zu decken. Dies sind zum einen die finanziellen Zuschüsse der Eltern, die mit Bittbriefen am Laufen gehalten werden, zum anderen Kredite, die bei Kaufleuten auf den guten Namen und Sicherheiten der Eltern aufgenommen werden können. Erwartungshaltung und sozialer Druck sind den Gesprächspartnern nicht fremd. Camillus’ Eltern drohen ihm, die finanzielle Unterstützung zu streichen, wenn er sich nicht endlich den Prüfungen unterzöge. Nach Rücksprache mit seinem Magister sei er von Furcht und Scham erfüllt, da dieser ihm vom Examen abgeraten habe. Bartoldus empfiehlt seinem Kommilitonen, sich nicht verunsichern zu lassen und die angeführten Gründe nicht zu schwer zu nehmen. Er solle vielmehr pragmatisch an die Situation herangehen. Wenn er Geschenke etwa im Wert von drei oder vier Gulden investiere, so hätten die Magister gewiss nichts mehr gegen seine Prüfungsabsicht einzuwenden. Spreche er seinen Magister höflich und in der richtigen Tonlage an, so seien auch die fehlenden Vorzertifikate kein Problem mehr39. Obwohl also das Manuale die studentische Etikette in Abhängigkeit von ökonomischen Faktoren denkt, ordnet es die studentische Peergroup nicht nach einer Hierarchie, die von den verfügbaren Ressourcen geprägt ist. Vielmehr ruft das Manuale auf mehreren Ebenen zu einem bedachten Umgang mit Finanzen, Zeit wie auch persönlichen Eigenschaften, seien es Ehrgeiz oder Lerneifer, auf und entwickelt damit einen Verhaltenskanon, der gegen exzessiven Gebrauch und unverhältnismäßigen Vergleich gerichtet ist.

3 Zusammenfassung Die verwendeten Darstellungsmittel des Manuale, das die Sprech- und Handlungsanweisungen von Universitätsneulingen in den Fokus rückt, zielt auf eine durch die Statuten gesicherte, spezifisch universitätshierarchisch-gedachte Ordnung. Im Vergleich zu den anderen universitätshistorischen Zeugnissen fällt auf, dass das Manuale Scholarium Kleidung nicht als Distinktionsmerkmal behandelt. Dies ist einerseits textformal erklärbar, da es als normativer Gebrauchstext über die Gründe und Ziele von Verboten nichts aus-

38 Vgl. ebd., Kap. 1, S. 36. 39 Ebd., Kap. 11, S. 92–97, hier S. 94: Habundans enim possis examinatoribus facere honores et reverentiasque. Nostro aevo multum faciunt munera; tribus quatuorve florenis omnium tibi favorem comparabis. Zur Etikette siehe ebd., Kap. 11, S. 96: Nam magister tuus humanus est, alliis plerumque condescendit, cum aliquid ab eo postulant. Certissimum censeo, cum verbum feceris nomine magistri tu, impetrabis quicquid petieris, etiamsi nunquam fueris in lectionibus.

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sagt40. Auf einer zweiten Ebene ist die Abwesenheit von Kleidung im Manuale jedoch bemerkenswert. Der anonyme Autor entwirft die Gruppe der Universitätsangehörigen nicht als homogene Masse, unterstreicht er doch graduelle Unterschiede, die insbesondere in den Höflichkeitsformeln greifbar werden. Diese relationalen Unter- und Überordnungen sind explizit nicht an den Faktor Kleidung gekoppelt, noch knüpfen sich Fragen externer Repräsentations- und Sozialfaktoren (Ansehen und Reputation) an ihn. Vielmehr erklärt der Erzähler die Positionen aus dem intellektuellen Vermögen heraus und sieht sie im Grad des akademischen Abschlusses gespiegelt. Folglich bestimmt sich die vertikale Hierarchie aus der akademischen Rolle, sie ist ihr Ausdruck und Garant. Der zweite Grund für die beschriebene Relationen liegt in der ,Erzählperspektive‘ und Anlage des Werkes. Da die Anleitung an den Studienanfänger der Artes gerichtet und vom Studenten her gedacht ist, spielen graduelle Unterschiede unter den Lehrenden, Beziehungen oder Netzwerke wie auch fakultätsbestimmte Hierarchien oder Konflikte keine Rolle. Der normierte Handlungsrahmen, dessen Fallhöhe durch die veröffentlichten und verlesenen Statuten klar begrenzt scheint, besitzt einen gewissen Spielraum. Dieser bemisst sich einerseits nach dem individuellen Geschick der Akteure sowie der Bedeutung, wie absolut sie die Statuten auslegen. Andererseits können die Normen durch finanzielle Leistungen, die passende Ansprache sowie Geschenke ‚gedehnt‘ werden. Welchen Wert gelehrte Kleidung für den Verfasser des Manuale besaß, ist nicht entscheidend, umso mehr kommt es ihm auf die intellektuellen Fähigkeiten und die in Studienabschlüssen objektivierte, graduelle Ordnung an.

Bibliographie Quellen Bömer, Aloys: Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten. Auszüge mit Einleitungen, Anmerkungen und Namen und Sachregister. Quellen für die Schul- und Universitätsgeschichte des 15. und 16. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin 1897 (Texte und Forschungen zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts in den Ländern deutscher Zunge, 1). Manuale Scholarium, ed. Pierre Riché, Turnhout 2014. Paulus Niavis. Spätmittelalterliche Schülerdialoge (lateinisch und deutsch), ed. Andrea Kramarczyk/Oliver Humberg, Chemnitz 2013. Urkundenbuch der Universität Heidelberg, ed. Eduard Winkelmann, 2 Bde., Heidelberg 1886. 40 Dass Zuwiderhandlungen rufschädigend in der Außenwahrnehmung sein können, thematisiert Kapitel 11. Bartoldus befürwortet ein Verbot, weil es pro utilitate omnium nostrum et pro honestate bursae nostra erlassen sei. Siehe ebd., Kap. 11, S. 100.

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Die dialogische Poesie des Pariser Juristen Raoul Bollart (gest. 1545) – eine Ekloge zur Schlacht von Agnadello (1509) und ein Streitgedicht über die Mildtätigkeit Thomas Haye

1 Die Handschriften Seit dem Jahr 2013 bietet das Londoner Auktionshaus Sotheby’s in der Rubrik „Medieval and Renaissance Manuscripts“ für jeweils mehrere Tausend Britische Pfund drei kostbar illuminierte Blätter aus einer unbekannten, heute offenbar verlorenen Pergamenthandschrift des frühen 16. Jahrhunderts an1. Die auf den gezeigten Seiten lesbaren Textausschnitte lassen sich dem bislang unbekannten Œuvre des Raoul Bollart (Radulphus Bollartus) zuordnen. Über diesen Pariser Bürger und Herrn von Champcueil (gelegen in der Nähe von Corbeil) weiß man lediglich, dass er im frühen 16. Jahrhundert als Anwalt am königlichen Gerichtshof zu Paris (Parlement) tätig gewesen und am 31. Oktober 1545 in der Stadt gestorben ist. Ein in Cambridge/Mass. (Harvard University, Ms Typ 225) aufbewahrter zeitgenössischer Pergamentcodex überliefert zudem unter seinem Namen eine „Sancte matris Ecclesie ad Concilium Pisanum oratio“, welche Bollart anlässlich des 1511/1512 tagenden Pisaner Konzils verfasst haben dürfte2. Die drei bei Sotheby’s offerierten Folia nennen weder Autor noch Titel. Ihre Identifikation wurde der Forschung nur durch die Existenz einer Schwesterhandschrift (Genf, Bibliothèque de Genève, Ms. lat. 97) ermöglicht3, welche aus derselben Illustratorenwerkstatt stammt und jene Texte vollständig präsentiert, welche auch der weitgehend untergegangene (im Folgenden Londoner genannte) Codex ursprünglich enthalten haben dürfte. Die Genfer Handschrift entstammt der sog. Sammlung Petau, welche durch Paul Petau (gest. 1614) und dessen Sohn Alexandre (gest. 1672) entstan1 2 3

Vgl.: http://www.sothebys.com/en/search-results.html?keyword=bollart (zuletzt eingesehen am 22.6.2017). Zur Handschrift vgl. Kristeller: Iter Italicum, Bd. 5, S. 233. Beschreibung der Handschrift bei: http://www.e-codices.unifr.ch/de/description/bge/lat0097 (zuletzt eingesehen am 13.04.2018); Scarpatetti: Katalog der datierten Handschriften, Bd. II 1, S. 204; Aubert: Notices sur les manuscrits Petau, S. 295–297; Senebier: Catalogue raisonné, S. 230–235. Eine digitale Abbildung der Handschrift findet sich unter: http://www.e-codices.unifr.ch/de/bge/lat0097 (zuletzt eingesehen am 13.04.2018).

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den ist. Beide arbeiteten bekanntlich als Räte am Parlement von Paris und gehörten somit demselben Milieu wie Bollart an. Ein Teil der Sammlung Petau wurde 1720 an Ami Lullin, Pastor und Theologe in Genf, verkauft, welcher sie seinerseits im Jahre 1756 der dortigen Bibliothek vermachte. Die Texte der Genfer Handschrift sind noch nicht näher untersucht; es war der Forschung zudem bisher unbekannt, dass Bollarts Werke noch in einem dritten Codex überliefert werden, der sich heute in Turin (Biblioteca Nazionale, Ms. E.V.5) befindet4. Bei allen drei im frühen 16. Jahrhundert entstandenen und prachtvoll ausgestatteten Pergamenthandschriften (Genf, Turin, London) stammen die enthaltenen Texte aus derselben französischen Kalligraphenwerkstatt (ein Autograph ist auszuschließen), ihre aufwändig gestalteten Illustrationen aus der sog. Schule von Rouen5. Turin und London zeigen zudem nicht nur dasselbe Seitenlayout, sondern auch nahezu identische Abbildungen; hingegen findet man bei Genf einige Abweichungen in der Seitengestaltung und bei den Miniaturen. So enthält dieser Codex auf fol. 21v, 23v und 27v drei zusätzliche Illustrationen, die sich nicht in der Turiner Handschrift finden (und auch nicht auf den drei Londoner Blättern). Die Texte sind – bis auf einige Schreiberfehler – identisch, die jeweils von anderer Hand geschriebenen Randtitel weitgehend deckungsgleich. Zumindest bei Turin und Genf handelt es sich nicht um Widmungshandschriften; bei London lässt sich aufgrund des fragmentarischen Zustandes diesbezüglich keine Aussage treffen (jedenfalls dürfte es ein dem französischen König gewidmetes Exemplar gegeben haben). Die Anfertigung dieser drei Codices muss extrem kostspielig gewesen sein; im Text wendet sich Bollart allerdings nur an den anonymen Leser, nicht an eine hochgestellte Persönlichkeit. Es gilt aber zu bedenken, dass Bollart ein wohlhabender Mann gewesen sein dürfte, der die Herstellung möglicherweise selbst finanziert hat.

2 Der erste Text: eine Ekloge zur Schlacht bei Agnadello Die in den Handschriften jeweils versammelten, bislang unerforschten und unedierten Texte stellen eine vom Autor planvoll angelegte Kollektion dar, welche in zwei Teile zerfällt. In der Genfer Handschrift (nach welcher im Folgenden zitiert wird) heißt es auf der ersten Seite (fol. 1r)6: 4 Vgl. Pasinus: Codices manuscripti, Bd. 2, S. 307 (= Lat. 1041); Stampini: Inventario dei codici, S. 496; Mazzatinti/Sorbelli (Hg.): Inventari dei manoscritti, Bd. 28, S. 76, Nr. 745. 5 Zu den Miniaturen in der Genfer Handschrift vgl. Scheller: Union des princes, S. 218f.; Gagnebin (Hg.): Enluminure de Charlemagne, S. 148f. 6 Bei allen folgenden Zitaten aus den Handschriften wird zwischen u und v differenziert. Abkürzungen sind stillschweigend aufgelöst. Die Interpunktion folgt den Regeln der deutschen Rechtschreibung.

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De victoria et triumpho Francorum regis Ludovici huiusce nominis duodecimi, augusti patrisque regni, contra Venetos et de ipsorum expulsione a Crema, Cremona, Brixia ceterisque urbibus ducatus Mediolanensis, anno domini millesimo quingentesimo nono, pridie Idus Maii, ad laudem et gloriam optimi maximi dei et eiusdem regis ac Francorum honorem, Pastorale carmen sub dyalogo.

Der erste Text berichtet somit darüber, wie König Ludwig XII. von Frankreich am 14. Mai 1509 in der Schlacht von Agnadello über die Venezianer gesiegt und sie aus dem Mailänder Territorium vertrieben habe. Das Werk wird dem Genre der (sc. hexame­ trischen) Ekloge zugewiesen, welche per definitionem dialogisch organisiert ist. Als Protagonisten nennt Bollart (fol. 1r): Interlocutores: pastores tres: Amatus et Prosper Franci et Venetus plebeus. Es sprechen in dieser Hirtendichtung also zwei Franzosen, deren Namen anzeigen, dass sie vom Schicksal begünstigt sind, sowie ein namenloser Venezianer. Dass dieser explizit als plebeus charakterisiert wird, mag angesichts seiner sozialen und beruflichen Stellung (pastor) auf den ersten Blick redundant erscheinen. Für die folgende Argumentation ist es dem Dichter jedoch wichtig zu betonen, dass der Venezianer gerade nicht der – angeblich moralisch korrupten – Führungsschicht, sondern dem einfachen Volk entstammt (zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Gruppen ist nach Ansicht des Verfassers klar zu differenzieren). Zu Beginn der Szene treten nur die beiden Franzosen auf. Amatus spricht hier als Erster, indem er seine Liebe zum Gesang und zur Dichtkunst hervorhebt (fol. 1r–v): Implevit iam bucca chorum sufflamine. Tangam Ventriculum cubito. Carmen digitis modulari Cura michi. Iusti pastores carmine gaudent. Carmen amant omnes facientes carmine digna.

Wie Amatus, so bekennt sich auch Prosper im Folgenden zur Poesie: Auch wenn ihre pastoralen Lieder nicht kunstvoll seien, besäßen sie doch einen Wert, da die Dichtkunst ewigen Ruhm erzeuge. Im Folgenden möchte Prosper einen Hymnus auf Gott vortragen (fol. 2r: Ad laudem excelsi summique dei), doch sein Landsmann schlägt als Thema den Sieg über die Venezianer vor (fol. 2r). Die beiden Franzosen hören jetzt allerdings, wie ein venezianischer Hirte (Venetus plebeus) nicht weit entfernt über Rom und den zwischen Romulus und Remus ausgefochtenen Bruderkrieg singt (fol. 2v). Er nähert sich ihnen und sie wollen ihn begrüßen, doch er bemerkt sie zunächst nicht. In seinem Lied betrauert er nun, dass auch seine Landsleute die eigenen Brüder bekämpft und – sc. wie Remus – unrechtmäßige Ansprüche gestellt hätten. Beklagens-

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wert sei die fundamentale Herrschsucht der Menschen (fol. 3r). Prosper erkennt jetzt, dass der Venezianer nicht etwa über mythische Zeiten, sondern über die gegenwärtige Realität spricht und dabei auch Ludwig erwähnt (fol. 3v); er wundert sich allerdings, warum der Venezianer immer wieder refrainartig von dem amor dominandi singt (fol. 3v). Die beiden Franzosen treten daher näher und Amatus fragt, wo denn nun der Ruhm der Venezianer sei. Ihr Gegenüber erklärt, dass alle venezianischen Helden, d. h. auch die Generäle Bartolomeo d’Alviano und Niccolò Orsini (Graf von Pitigliano), entweder tot oder geflohen oder in Gefangenschaft geraten seien. Die erbeuteten Feldzeichen hätten die Franzosen nach Saint-Denis verbracht (fol. 4r). Amatus bittet den Venezianer, seine Klagen zu beenden, doch dieser gibt sich schuldbewusst: Seit hundert Jahren würden seine Landsleute die Franzosen zu Unrecht behelligen (fol. 4r–v; Prosper und Amatus bestätigen diese Aussage). Allerdings sei er selbst nur ein Mann aus dem einfachen Volke und kein für die Untaten verantwortlicher Führer (fol. 4v). Die Bevölkerung der Lagunenstadt bitte König Ludwig vielmehr um Hilfe: Dieser möge die venezianische Elite unterwerfen (fol. 5r). Sich selbst bietet der Klagende als Diener an (fol. 5r): Vester ego servus, misero michi parcite servo. // Me dedo vobis, servo succurrite vestro. Daraufhin erklärt Prosper, dass er den Italienern und auch den Venezianern wegen ihrer poetischen Bildung durchaus gewogen sei (fol. 5r). Auch Amatus verspricht eine Schonung der Besiegten. Ludwig wolle keine Rache, sondern nur die Rückgabe seines Eigentums. Demütig und bedrückt zieht der Venezianer weiter (fol. 5r). Nach dieser Unterbrechung nehmen die beiden Franzosen das frühere Gesprächsthema wieder auf. So heißt es aus dem Munde des Amatus (fol. 5v): A diverticulo inceptus sermo repetatur De Venetis et de nostris pastoribus, ante Dicere proposui pulchrum et memorabile factum.

Das poetische Vorhaben wird nun umgesetzt: Amatus erzählt, wie die Venezianer zu Unrecht Cremona und andere Städte besetzt hätten, welche dem König gehörten. Die von Ludwig erhobene Forderung nach Rückgabe sei von d’Alviano und Pitigliano abgelehnt worden, worauf es zur Schlacht (sc. bei Agnadello) gekommen sei. Von den 50.000 gottlosen Venezianern seien die meisten erschlagen worden, hingegen hätten die Franzosen bei ihrem Sieg nur geringe Verluste erlitten (fol. 6r). Das Lob der gefallenen Franzosen mündet nun in ein generelles Lob der Tapferkeit (fol. 7r–v). Im Kampf sei Flucht keine Option, wie das Beispiel des burgundischen Herzogs Karl des Kühnen belege: Indem er – sc. auf der Flucht – erschlagen worden sei (in der

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Schlacht von Nancy, 1477), habe er einen doppelten Tod erlitten (fol. 7v). Zur Kontrastierung beschreibt Amatus, wie heldenhaft König Ludwig gefochten und durch persönlichen Einsatz den Ausschlag zum Sieg gegeben hat (fol. 8r–v). Mit eigenen Augen habe er (sc. Amatus) gesehen, wie die gegnerischen Feldzeichen erobert wurden (fol. 8v–9r). Später habe man sie nach Saint-Denis bei Paris verbracht (fol. 9r). Und Prosper ergänzt: Die Feldzeichen seien zuerst in der Kathedrale von Notre-Dame aufgestellt worden. Auf den Fahnen der Venezianer habe gestanden: Pax tibi, Marce meus (fol. 9r). Auf die Frage Pros­ pers, was diese Inschrift bedeute, erläutert sein Freund: Die Venezianer müssten den gestohlenen Besitz dem jeweiligen Eigentümer zurückgeben, sonst könnten sie nicht auf Frieden hoffen. Denn der Evangelist Markus (d. h. der Schutzpatron der Lagunenstadt) sei der Verteidiger der Friedfertigen, nicht der räuberischen Venezianer (fol. 9r–v). Im Folgenden wird der König erneut gepriesen (fol. 10r). Die Städte Brescia, Crema und Cremona freuten sich über dessen Sieg (fol. 10v); in der Schlacht seien 20.000 Venezianer gefallen (fol. 11v). Nicht Ludwig, sondern Gott habe die Feinde bezwungen (fol. 11v–12r). Folgerichtig stimmen Prosper und Amatus nun ein Loblied auf den Allmächtigen an (fol. 12v). Am Ende konstatiert Prosper (fol. 13v): Hactenus in laudem sint hec mea carmina regis // Liligeri, augusti patrie patris, armipotentis. Das Encomium auf den Herrscher ist beendet. Hiermit schließt auch die Ekloge. Denn es folgen jetzt vier Verse, in denen offenbar nicht mehr eine literarische Figur, sondern der Autor spricht (fol. 13v): Ad laudem excelsi summique dei cecinisse, Quidquid id est, fateor, cupiens extendere famam Regis liligeri, in Venetos propter sua gesta Fortia, gesta quidem omni laude et carmine digna.

Bollart verweist hier nicht nur auf das im Text enthaltende Gotteslob, sondern er drückt auch explizit seine Intention aus: Das Gedicht verfolgt das Ziel, den ruhmreichen Sieg Ludwigs bei Agnadello in die Welt zu tragen. Direkt danach folgt eine an den anonymen Leser gerichtete Sphragis des Autors (fol. 13v): Ad lectorem. Unus ex vassallis Francorum regis Ludovici huius nominis duodecimi, augusti patrisque regni, Radulphus Bollartus, civis Parisiensis, Chancolie dominus. Est prope Corbolium parvum, sed nobile feudum7 7 Konj. Scarpatetti: Katalog, S. 204; fendum Hs. Genf (so auch der Turiner Codex, fol. 15r); vgl. auch fol. 22v in der Genfer Hs.: feudum.

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Chancolia oppidulum, cuius dominus faciebat, Quantulacumque vides, hec carmina. Perfice, lector.

Bollart präsentiert sich hier als Ludwigs Vasall, als Bürger von Paris und als Herrn des kleinen Ortes Champcueil; der König wird allerdings nicht angesprochen. Es folgt ein detailliertes Inhaltsverzeichnis (fol. 14r–15v)8. Anschließend wendet sich Bollart in einem Nachwort erneut an den Leser und verteidigt seine in der Ekloge aufgestellte Behauptung, dass Ludwig gegen 50.000 Feinde gekämpft und hiervon 20.000 getötet habe (fol. 15v): Non esse mirandum neque arguendum, quod scriptum sit quinquaginta Venetorum milia Francorum regi obstitisse, ex hisque viginti milia occidisse.

Andere Schriftsteller gäben zwar viel niedrigere Zahlen an; der Leser solle aber nicht glauben, dass Bollart als Franzose und insbesondere als Pariser seinen Landsleuten mit einer solchen Behauptung lediglich schmeicheln wolle und deshalb Tausende gleichsam nur mit einem Federstrich mühelos getötet habe9. Die Venezianer hätten tatsächlich über so große Mittel verfügt, um ein derart gewaltiges Heer aufzustellen. Außerdem müsse man bei den Verlustzahlen auch die auf der Flucht und bei der nachfolgenden Eroberung der oberitalienischen Städte Getöteten berücksichtigen (fol. 16v). Bollart erhebt hier somit – trotz der literarischen Umkleidung – den Anspruch auf historiographische und militärgeschichtliche Präzision: Das Werk dient nach Aussage des Dichters zwar der poetischen Propaganda, doch diese soll auf korrekten Daten beruhen.

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Index contentorum. Et primo. In hoc ocio litterario, quod de victoria Francorum regis Ludovici contra Venetos inscribitur, que sequuntur, continentur: / Qui sunt, qui amant carmina. / Quid carmen potest. / Omnia preter carmina pretereunt. / [...] / Opusculi peroratio et conclusio, qua concluditur ius suum unicuique tribuendum, quod est et dei et iuris preceptum. Fol. 15v–16r: Ad lectorem. „Improbe facit, qui in alieno libro ingeniosus est.“ Testis est locuples epigramaticus poeta [Martial, Epigr. I, Prol.]. Ne igitur, lector, improbe facias. Non eris ingeniosus, in hoc ocio litterario et pastorali carmine, quod de regis Francorum in Venetos Victoria inscribitur, me falsitatis mirabundus insimulans et arguens, quod scriptum reliquerim quinquaginta milia regi obstitisse meo ex hisque viginti milia occisa. Nec te moveat [moveant Hs. Genf; moveat Hs. Turin, fol. 17r] alios scriptores numerasse minus, sed me solum ut Francorum vernaculum et Parisiensem hac in re voluisse Francis blandiri, tot milia solo calamo, quo facilius nichil, occidendo.

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3 Der zweite Text: ein Streitgedicht über Mildtätigkeit Nach einer Leerseite10 folgt nun im Genfer Codex ein zweiter, ebenfalls mit Parerga angereicherter Haupttext. Anders als beim vorherigen Komplex wendet sich Bollart hier bereits zu Beginn an den Leser11: Ad lectorem. Sanctissimi Pauli lector quisquis es, salutiferum extat preceptum: „Ineptas et inanes fabulas devita. Exerce autem te ipsum ad pietatem. Nam corporalis exercitatio ad modicum utilis est. Pietas autem ad omnia utilis est, promissionem habens vite, que nunc est, et future.“ Quo persuasus mandato tanti preceptoris peragens imperata, tantisper dum ociosus fui, ocio sciens uti, exercitii causa, non potui non scribere, quod sequitur, ocium litterarium, unumquenque divitem ad pietatem, misericordiam et bonorum largitionem exhortans, vatum figmenta pro viribus devitando, quippe ut sancti Paulini ad Ausonium iambico utar carmine [...].

Der Autor beruft sich auf die Mahnung des Apostels Paulus, sinnloses Geschwätz zu vermeiden und sich in Mildtätigkeit zu üben12. Eingedenk dieser Mahnung habe er in seiner spärlich bemessenen Freizeit den Drang gespürt, das folgende Werk zu verfassen. In ihm würden alle Reichen zu Milde, Mitleid und Spendenbereitschaft aufgerufen. Als weitere Autorität zitiert Bollart abschließend ein Briefgedicht des Paulinus von Nola (gest. 431) an Ausonius (gest. 393/394)13, das vor den erfundenen Geschichten der Dichter warnt. Mit einem erneuten Appell an die Mildtätigkeit endet der Brief (Vale, pietatis non immemor). Dass jetzt innerhalb des Codex ein neuer, eigenständiger Abschnitt beginnt (welcher durch die zitierte Prosa-Vorrede an den Leser eingeleitet worden ist), lässt sich bereits an der zeitgenössischen, vom Schreiber der Haupttexte vorgenommenen Foliierung ablesen: Diese setzt wieder mit I (sc. r) ein (moderne Foliierung: fol. 18r)14. Als weiteres Parergon erscheint nun ein aus 20 iambischen Dimetern bestehendes, partiell binnen- und endgereimtes Gedicht, in dem sich das personifizierte Buch (sc. der nachfolgende Haupttext) an den Leser wendet (fol. 1r / 18r): Libellus ad lectorem suum. Carmen dimetrum iambicum. Nach einer dem epistolographischen Formular entnom10 Ohne historische Foliierung; nach moderner Zählung fol. 17r. 11 Nach moderner Zählung fol. 17v. 12 Vgl. I Tim 4, 7–8: Ineptas autem et aniles fabulas devita. Exerce te ipsum ad pietatem. Nam corporalis exercitatio ad modicum utilis est. Pietas autem ad omnia utilis est, promissionem habens vitae quae nunc est et futurae. 13 Carmen 10 / Appendix B3, vv. 38–42, ed. Green: The Works of Ausonius, S. 708–717, hier S. 709. 14 So auch im Turiner Codex (moderne Foliierung: fol. 19r).

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menen Begrüßung (vv. 1–2: Tibi salutem plurimam, // Felicitatem interminam) stellt sich das Buch selbst vor: Es sei neu (vv. 3–4: Novum legenti opusculum // Munusculum sum parvulum), ein Produkt literarisch tätiger Muße (v. 5: Sum litterarum ocium) sowie eine wohlklingende und nützliche Dichtung, welche sich mahnend an alle Reichen richte (vv. 6–8: Aperta concinnatio, // Quencunque divitem monens, // Camena non inutilis). Diese poetische Ansprache sei gestaltet wie die Rede einer Gesandtschaft, welche aus dem Reich der Armen komme (vv. 9–10: Sum pauperis legatio // Regni libellus, quem vides). Nachdem sich das Buch in dieser Weise selbst beschrieben hat, stellt es im zweiten Schritt seinen Verfasser vor (fol. 1r / 18r; vv. 11–14): Qui me tibi dono dedit, // Radulphus artifex meus // Me scripsit exili stilo, // Oratione metrica. Anders als beim ersten Haupttext des Codex wird hier somit bereits in den vorangestellten Parerga der (Tauf-) Name des Autors genannt. Es folgt eine Erklärung für die Wahl des niedrigen Stils, in dem der Text angeblich verfasst sei: Radulphus wolle hierdurch sicherstellen, dass der Inhalt von den Lesern leicht verstanden werde (vv. 15–18: Hoc fecit, inquit, ut scias: // Quicunque sic dictaverit, // Ab omnibus vult et cupit // Intelligi lectoribus). Denn wer als Autor nicht verstanden werden wolle, mache etwas falsch (vv. 19–20: Profecto scriptor desipit, // Intelligi nisi velit). Mit solchen Äußerungen und der Wahl des iambischen Dimeters verweist Bollart – wie schon in der Prosa-Vorrede – auf die christliche Dichtung der Spätantike, insbesondere auf die sehr eingängige und leicht singbare Hymnik des Ambrosius. Zugleich evoziert er durch einzelne Formulierungen (v. 3: Novum; v. 10: libellus; v. 11: Qui me tibi dono dedit) die Erinnerung an Catull. So beginnt etwa dessen bekanntes Widmungspoem (c. 1, v. 1): Cui dono lepidum novum libellum. Ferner greift Bollart in v. 10 (Regni, libellus quem vides) den ersten Vers von Catull, c. 4, auf: Phaselus ille, quem videtis, hospites. Die Rezeption des gelehrten Dichters Catull ist als Kontrafaktur zum angeblich schlichten Stil Bollarts (v. 13: exili stilo) zu verstehen. Auf fol. 1r–2r (18r–19r) folgt ein weiteres, doch nun hexametrisches Gedicht, das – wie der erste Haupttext – dialogisch gestaltet ist. Es handelt sich um einen Disput zwischen dem Autor und seinem Buch über die Frage, ob dem Werk der Verfassername vorangestellt werden solle (Dyalogus, an sit nomen autoris operi preponendum. – Interlocutores: libellus et autor). Zu Beginn bittet das Buch, welches in die Welt hinausgehen soll, um eine solche Präposition (vv. 1–3): Libellus suum autorem alloquitur: Quid faciam? Quorsum vadam, sine nomine codex? Famosum referent contra ius me esse libellum.

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Autor, pace tua dicam: preponito nomen!

Das Werk befürchtet also, dass es sich ohne einen solchen Namenszusatz dem Vorwurf unrechtmäßiger Selbstrühmung aussetze. Doch der Dichter lehnt die Bitte ab: Das – als Gesandtschaftsrede konzipierte – Buch solle bei den Reichen für die Armen bitten. Es müsse gar nicht mit einem gloriösen Namen auftreten. Solches sei ohnehin nur eitle Prahlerei (vv. 4–6): Autoris responsio: Pro miseris ores, quemvis adeas locupletem. Non es famosus, nulli maledicis honesto. Gloria vana quidem est operi preponere nomen.

Das Buch bleibt jedoch hartnäckig: Alle früheren Schriftsteller, die man doch wohl keineswegs eitel nennen dürfe, hätten ihren Büchern einen Titel gegeben und sich namentlich vorgestellt (vv. 7–9): Libellus: Cur ergo patres titulos et nomina libris Imposuere suis? Non ausim dicere vanos. Sic docti et iusti faciunt. Fecere priores.

Erneut widerspricht der Autor: Für die Namensnennungen seien keineswegs die Schriftsteller selbst, sondern nur deren wohlmeinende Schüler verantwortlich gewesen. Dies sei erstmals bei Pythagoras geschehen; die ältere, mythische Poesie eines Orpheus oder die sibyllinische Orakeldichtung habe man hingegen anonym tradiert (vv. 10–12): Autor: Non ipsi, sed discipuli imposuere benigni Nomen, quod primi fecerunt Pithagorei. Perlege, si teneat verum, Orphea sive Sibillam.

Da das Buch jedoch nicht auf den mit einem Verfassernamen verbundenen Schutz verzichten möchte, bietet es einen Kompromiss an: Es werde den Namen erst nach der Lektüre des Textes, d. h. ganz am Ende, verraten (vv. 13–15):

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Libellus: Autoris nomen, titulus defensio libri. Ergo tuum nomen, siquis me perlegat, edam Autoremque meum; per me tibi gloria detur.

Die mit der Namensnennung verbundene Rühmung lehnt der Verfasser jedoch weiterhin ab: Ihm selbst gehörten nur die im Text enthaltenen Fehler; alles Übrige gebühre Gott. Als Autor wolle er sich nicht dessen Ruhm anmaßen (vv. 16–18): Autor: Queque tenes demptis viciis, mi chare libelle, Non mea, sed domini, cui laus et gloria soli, Non michi; non equidem domini michi vendico laudem.

Wiederum hält das Buch dagegen (vv. 19–21): Philosophen und Kirchenväter hätten Folgendes gezeigt: Wer Löbliches tue, werde selbst gegen seinen Willen gelobt. Und dieses Lob müsse der Handelnde dann Gott zuschreiben: Libellus: Hoc me Socratici et sancti docuere magistri: Qui laudenda facis, nolens laudaberis. Illam Non tibi, sed domino debes ascribere laudem.

Der Kompromiss beruht somit auf einer Interpretation der Handlung: Der Verfassername wird am Ende des Buches erscheinen, er darf jedoch nicht als Selbstrühmung gewertet werden, sondern als Lob Gottes. Im Ergebnis bietet das Gedicht ein amüsantes Spiel mit der Frage auktorialer Bescheidenheit: Anonym publizierte Literatur findet oftmals kein Gehör und ist von der Vernichtung bedroht. Die im Text formulierte Ermahnung zur Mildtätigkeit kann nur funktionieren, wenn der Verfasser mit seinem bekannten Namen für den Text einsteht. Indem Bollart die Frage einer anonymen Publikation ventiliert, spielt er nicht etwa auf Petrarcas Briefsammlung „Sine nomine“ an (dort wird die Unterdrückung sämtlicher Eigennamen mit der Furcht vor Sanktionen begründet); vielmehr ist es bereits in der Antike eine gängige poetische Praxis, die Figur des Autors mit ihrem personifizierten Buch über die Art der Leseransprache diskutieren zu lassen15. Bollarts direktes Vorbild dürften Ovids „Tristien“ sein, in deren berühmtem Einleitungsgedicht der 15 Vgl. z.B. Martial III 2 u. 4 u. 5, VIII 1, X 104, XI 1, XII 2.

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liber von seinem Verfasser angeredet wird (I 1, v. 1: Parve (nec invideo) sine me, liber, ibis in urbem). Das Werk solle ohne äußerlich sichtbaren Titel (v. 7: nec titulus; v. 61: ut titulo careas) – und das heißt auch: ohne sofort den Namen des Autors zu verraten – nach Rom gehen und dort als Ovids Fürsprecher auftreten. In Trist., III 1 spricht das Buch sodann selbst zum Publikum. Die von Bollart erwähnten eigenen Fehler (v. 16: viciis) haben ihre Entsprechung bei Ovid, Trist., IV 1, 1: Siqua meis fuerint, ut erunt, vitiosa libellis // [...]. Das Motiv der Namensunterdrückung findet sich ferner nicht nur in Trist., V 9 (der Name des angeschriebenen Freundes darf nicht genannt werden), sondern auch in Ovids „Ibis“ (dort wird der Name des Gegners verschwiegen)16. Bol­ lart hat alle diese ovidischen Motive in seiner kurzen poetischen Vorrede kondensiert. Nach den Parerga folgt auf fol. 2r–14v (19r–31v) der angekündigte (zweite) Haupttext (fol. 2r / 19r): Ocium litterarium unumquenque divitem ad pietatem, misericordiam et bonorum largitionem exhortans. Ocii litterarii nomen et titulus: Regni pauperis legatio ad unumquenque divitem. Interlocutores duo: Regni pauperis orator cum ipso accersitis pauperibus et dives.

Die meisten der gegebenen Informationen sind bereits bekannt: Der in einer müßigen Stunde entstandene Text appelliert an die Gnade, Barmherzigkeit und Spendenbereitschaft der Reichen. Der Titel enthält zudem eine Beschreibung der literarischen Gestalt („Die vom Reich des Armen an alle Wohlhabenden adressierte Gesandtschaft“). Neu ist hingegen die Aufzählung des Personals: Es spricht auf der einen Seite der Gesandte des Armenreiches (zusammen mit den von ihm mitgebrachten Armen), auf der anderen Seite der Reiche. Hieraus ergibt sich, dass auch dieser Text dialogisch gestaltet ist. Ein kurzes argumentum verrät zunächst den Tenor der Gesandtschaftsrede: Der Reiche soll lernen, wie er sein Vermögen zum Wohle der Armen verwenden kann17. Die nun einsetzende Rede des Gesandten ist entsprechend dem rhetorischen Kurz-Schema organisiert: Das exhordium beginnt in der Sprache der Lehrdichtung (fol. 2v / 19v): Qui Chresum superas opibus, qui rebus abundas // Omnibus, attendas, nostra Camena rogat. Nach dieser Einleitung bringen der Gesandte und seine armen Begleiter ihr konkretes Anliegen vor (fol. 3r / 20r: Narratio et petitio): Venimus huc 16 Vgl. Ibis, v. 9: [...] nam nomen adhuc utcumque tacebo; v. 641: postmodo plura leges et nomen habentia verum. 17 Fol. 2r / 19r: Vincere monstriparum curatis mammona, dites, // Largiri vultis discere pauperibus? // Ad quid habetis opes, ceci, nescitis, avari? // Talia si petitis, nostra Thalia docet.

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missi oratores nomine Christi // [...]. Zu den Begleitern, welche unverschuldet zur Bettelei gezwungen sind, zählen Alte, Kranke, Kriegsversehrte, Kinder, Witwen und junge Mädchen sowie arme Pariser Studenten (fol. 3r / 20r): Qui preses fiet iuvenis vel papa futurus, Mendicans panem pauper et exul adest. Exulat ille quidem non culpa, sola voluntas Discendi fecit Parisiique scole. Parisii plures mendicavere diserti. Nunc illis gratum, nunc meminisse iuvat.

Während alle anderen genannten Gruppen dauerhaft zu den sozial Abgehängten gehören, gibt es zumindest unter den armen Studenten einige, denen noch eine große Karriere innerhalb der kirchlichen Hierarchie bevorsteht: Mancher mag eines Tages sogar zum Papst oder Bischof erhoben werden. Wer einer solchen Person hilft, so der unausgesprochene Gedanke, kann mit ihrer Dankbarkeit rechnen. Der orator erläutert, dass er von Gott aus dem Armenreich entsandt worden sei, um den wohlhabenden Mann zum Spenden zu bewegen (fol. 3v / 20v). Wenn dieser sich hingegen weigere, werde er, wie in der Erzählung des Lukian dargestellt, nach dem Tode zu einem Esel mutieren (fol. 4r / 21r). – Bollart bezieht sich hier zweifellos auf den anonymen griechischen Eselsroman. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass er nicht die griechische Kurzfassung („Lukios oder der Esel“) benutzt, welche in Lukians Œuvre Aufnahme gefunden hat, sondern die – 1469 erstmals gedruckte – lateinische Übersetzung des Apuleius („Metamorphoses“ / „Asinus aureus“). Denn hier wird geschildert, wie der – im Folgenden durch eine Verwechslung in einen Esel verwandelte – Protagonist Lucius das Haus des krankhaft geizigen Pfandverleihers Milo aufsucht18, dessen junge Haushälterin ihm allerdings mitteilt, dass ihr Herr als Pfand nur Gold und Silber akzeptiere (Bettler haben dort also keine Chance)19. Bollart gibt den Inhalt der antiken Vorlage somit nur recht ungenau wieder. Auf die appellative, am Ende recht invektivisch getönte Rede der Gesandtschaft antwortet nun der Geizige (fol. 4v / 21v): Divitis responsio et defensio et obiecta plura contra mendicos et pauperes. Er lehnt jede Spende ab und führt als Erstes (Primum obiectum) aus, dass keiner der Personen zum – sc. unmoralischen – Betteln gezwungen sei. 18 Vgl. Metam. I 21, 5-7: Inibi iste Milo deversatur, ampliter nummatus et longe opulentus, verum extremae avaritiae et sordis infimae infamis homo. foenus denique copiosum sub arrabone auri et argenti crebriter exercens, exiguo lare inclusus; [...] habitu mendicantis semper incedit. 19 Vgl. Metam. I 22, 2: Tandem adulescentula quaedam procedens: „Heus tu, [...] sub qua specie mutari cupis? An tu solus ignoras praeter aurum argentumque nullum nos pignus admittere?“

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Die Männer könnten vielmehr arbeiten, die Frauen heiraten oder sich als Mägde verdingen. Den kriegsversehrten Soldaten fühlt sich der Reiche erst recht nicht verpflichtet, da diese – sc. während des Krieges und im Rahmen von Einquartierungen – seine Hühner und seinen Hahn namens Pythagoras geschlachtet hätten20. Der Gutshof, wo diese Hühner gelebt hätten, befinde sich in Champcueil (fol. 5v / 22v)21: O mea Chancolia, o quoties pullis viduata! Chancolia oppidulum, quod prope Corbolium. Francorum regis donum michi nobile feudum, Unde fidem regi debeo liligero. Hinc a me plures propter sua feuda vicissim Mota fidem debent Chancolie domino.

Der Sprecher berichtet hier, dass er Champcueil vom französischen König als Lehen erhalten habe und er der Herr über die dortigen Hintersassen sei. Bollart lässt somit eine Figur (sc. den geizigen Reichen) auftreten, welche exakt dieselbe soziale Stellung genießt wie er selbst. Dieses autoreflexive Spiel dient aber keineswegs der Selbstkritik, sondern soll dem französischen Königshof vermutlich nur anzeigen, dass Raoul Bol­ lart durch das Militär erhebliche materielle Einbußen erlitten habe. Die Soldaten, so fährt der Geizige fort, hätten seine Eigentumsrechte ignoriert und viele weitere Tiere (Ziegen und Schafe) geraubt22. Und mit bitterer Ironie bilanziert der Sprecher (fol. 7r / 23r)23: Militis arma tui sunt hec, sunt hec sua castra. Soldaten seien feige und nur zum Plündern bereit. Die persönliche und emotionale Betroffenheit des Autors mag man daran ablesen, dass keine andere soziale Gruppe in diesem Rede-Abschnitt so ausführlich kritisiert wird wie die der Soldaten. Am Ende seines Katalogs der vermeintlichen Sozialschmarotzer wendet sich der Geizige auch gegen bettelnde Pilger und um Gnade betende Gefangene (fol. 7r / 23r): Erstere sollten lieber zu Hause bleiben; letztere seien 20 Fol. 5v / 22v: Armiger ille meos pullos cum matre comedit // Christatumque patrem Pithagoramque meum. // Ut tibi non sit opus commento: intelligo gallum. // Finxerunt gallum Pithagoram egregium. Hierzu lautet eine Randglosse: in pullicidas milites. 21 Randglosse: Chancolie descriptio. 22 Fol. 5v / 22v – 7r / 23r: Attamen iste tuus miles flocci faciebat // Et dominum et nomen nobile Chancolie. // Nullus erat gallus michi gallinaceus isto // Sospite! Galline quotquot erant vidue! // Ni talem fluvialis anas et aquaticus anser // Vitassent, manibus surripuisset eos. // Militis occursu, quem cernis querere panem, // Nil fuga capreoli profuit ipsa mei. // Hunc ipsum et pullos teneros temerarius ille // Suspensos humeris ut lupus arripuit. // Mitis ovis toties quesivit ab ubere partum, // Perdidit et fetum pendula porta suum. 23 In der Genfer Handschrift weist die vom Schreiber des Haupttextes vorgenommene Paginierung hier einen Fehler auf: Blatt vii steht vor Blatt vi. Die Blätter selbst sind jedoch in der richtigen Reihenfolge im Codex eingeordnet.

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zu Recht von der Gesellschaft weggesperrt worden. Abschließend fordert er den Leiter der Gesandtschaft zur Gegenrede auf (fol. 7v / 23v): [...] si vis replicare, silebo. // Orator, moneo: Iure probata refer. Sein eigener Standpunkt sei vielleicht herzlos, stehe aber im Einklang mit dem Gesetz: Omnia, que supra dixi, puto consona iuri, // Etsi me dicas cordis habere nichil. Nicht nur der Redemodus, sondern auch die verwendete Sprache zeigt, dass Bollart diesen diplomatischen Dialog wie eine Gerichtsverhandlung inszeniert. Der Anwalt der Armen widerspricht den Ausführungen des geizigen Reichen und entkräftet dessen Argumente (fol. 7v / 23v: Oratoris pauperum replicatio et obiectorum divitis solutio): Der Mensch existiere nicht nur für sich allein, selbst die wilden Tiere lebten in Gemeinschaft. Aller Reichtum stamme von Gott; dieser habe es dem Reichen lediglich geliehen bzw. zur weiteren Verteilung an die Armen zur Verfügung gestellt (fol. 6r–v / 24r–v). Und Gott werde ihm diese Mildtätigkeit eines Tages vergelten. Ferner: Dass der Reiche die Mittellosen wegen ihrer Armut verdamme, sei falsch (fol. 8r / 25r). Auch sie würden von Gott geliebt. Wann hätte ein armer Bettler in seinem Leben jemals die Chance gehabt, etwas anzusparen? In der Not sei Betteln erlaubt. So könne die Jungfrau zumindest ihre Keuschheit bewahren; und der junge Mann werde auf diese Weise in die Lage versetzt, seine Ausbildung zu finanzieren (fol. 8v / 25v). Wenn er fleißig studiere, werde er zum Anwalt (fol. 9r / 26r: Officium [...] nobile causidici) oder gar zum Senator im (sc. Pariser) Parlement (parlamenti [...] senator) aufsteigen können. Den Einwand des dabeistehenden jungen Mannes, er fürchte sich vor der Rute des Lehrers, wischt der Redner beiseite: Züchtigung erziehe zur Tugend. Selbst ein Bauernsohn könne durch sein Studium großen Reichtum erwerben und eines Tages vielleicht sogar zum Papst gewählt werden (fol. 9r / 26r). Das Leben eines ungebildeten Reichen sei hingegen verachtenswert. Diese lange Rede, in welcher der Sprecher die christliche Soziallehre mit dem humanistischen Bildungsversprechen verknüpft, wird nun vom ungeduldigen Geizigen unterbrochen (fol. 9v / 26v: Divitis interlocutio): Der Anwalt möge sich bitte kürzer fassen und zum Punkt kommen. Der orator regni pauperis illustriert nun das Schicksal der Armen am Beispiel eines neben ihm stehenden Kriegsinvaliden (fol. 10r / 27r): Was solle dieser arme Soldat unternehmen? Er habe gegen Herzog Karl (sc. den Kühnen) von Burgund gekämpft und dabei eine Hand verloren (fol. 10v / 27v): Carolus hunc pugno truncum Burgundio misit. // Quid faciet posthac? Perdidit arma, manum. In einer Digressio attackiert der Redner sodann den Herzog (fol. 10v–11r / 27v–28r): Der rasende und einst so mächtige Karl habe (sc. in der Schlacht von Nancy, 1477) gegen René von Lothringen gekämpft, sei vom Schlachtfeld geflohen und habe im Sumpf einen erbärmlichen Tod gefunden.

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Am Ende appelliert der Orator erneut an die Nächstenliebe des Reichen. Tatsächlich hat sich dieser durch die Rede umstimmen lassen, doch möchte er zunächst noch ergänzend darlegen, warum geizige Menschen ohne Mitleid seien (fol. 11v / 28v: Dives tandem persuasus rationem reddit, cur non miseratur avarus). Nach einer kurzen Erklärung ruft nun auch er alle anderen Reichen zum Spenden auf. Hierauf setzt der Orator seine Ansprache fort (fol. 12r / 29r: Oratoris continuatio dictorumque confirmatio) und unterstreicht den Appell zur Mildtätigkeit. Ein geiziger Reiche sei nicht anders als ein Dieb, Räuber oder Mörder. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens folgt im Genfer Codex jetzt eine Illustration, die den Geizigen am Galgen zeigt (fol. 12r / 29r: Per figuram malus dives suspenditur). Neben dem Galgen stehen der Anwalt (mit einer Schriftrolle in der Hand) und seine Mandanten, d. h. der Kriegsinvalide, der arme Student und die bettelnde Jungfrau (sowie eine nicht identifizierbare vierte Person); im Hintergrund sieht man eine Stadt oder Burg. Vier Verse erläutern als Bildunterschrift die Szene (fol. 12v / 29v): Pendeat in furcis Montis Falconis et arcte Colla premant funes24 premia furcifero. Mendicos aderit quidam miseratus egentes. Sic poterit titulum scribere furciferi.

Die prächtige Illumination zeigt offenkundig den Gibet de Montfaucon, jenen nordöstlich von Paris gelegenen Galgenbau, auf dem die französischen Könige vom 13. bis zum 17. Jahrhundert vor allem jene Delinquenten aufknüpfen ließen, die Hochverrat oder andere schwere Verbrechen begangen hatten. Die mangelnde Mildtätigkeit des geizigen Reichen ist somit nach Ansicht des Autors ein Majestäts- oder Kapitalverbrechen. Mit dem im letzten Vers erwähnten titulus ist das Epitaph gemeint, welches der Anwalt auf den Hingerichteten verfasst. Sein Text folgt der Bildunterschrift unmittelbar (fol. 12v / 29v: Epithaphium divitis avari): In wenigen Versen wird hier das Vergehen des Delinquenten erläutert und seine Hinrichtung als Abschreckungsmaßnahme bezeichnet. Als Gegenstück findet man sodann eine Lobrede auf jenen spendablen Reichen, der sich durch die Rede des Orator regni pauperis hat umstimmen lassen (fol. 13r / 30r: Laus et commendatio boni divitis). Nach seinem Tode werde selbst König David vom Himmel herab ein Enkomion auf ihn singen. Zur Illustration folgt jetzt im Text ein solches Boni divitis epithaphium (fol. 13v / 30v). Den Abschluss bildet – entsprechend 24 So korrekt Hs. Turin (fol. 30v); die Genfer Hs. hat hier fälschlich fures (mit anschließender Lücke im Text).

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dem rhetorischen Schema – eine Oratoris regni pauperis peroratio et conclusio (fol. 14r / 31r), in welcher der Redner einige biblische Figuren (Isaak, Abraham u. a.) und historische Personen (Martin von Tours, Franz von Assisi) anführt, die als Beispiele der Mildtätigkeit dienen können. Der Codex endet mit einer Inhaltsangabe des zweiten Textes (fol. 14v–15v / 31v–32v: Index contentorum in hoc opusculo et ocio litterario), welche die (Zwischen-)Überschriften zusammenstellt.

4 Literarische Einordnung Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Raoul Bollart seine beiden Gedichte jemals hat drucken lassen. Im Gegenteil: Die drei heute noch existierenden Handschriften, welche vermutlich in seinem eigenen Auftrag angefertigt worden sind, machen es aufgrund ihrer kostbaren Illustrationen sehr wahrscheinlich, dass er sich mit den Werken nur an eine kleine Pariser Elite wendet, die am königlichen Hof sowie am Parlement zu lokalisieren ist. Während der erste Text (sc. die Ekloge) eher im adligen Milieu des Königshofes anzusiedeln ist, könnte der zweite (sc. das Streitgedicht) vorrangig auf die Juristenszene des Parlement zielen. Da die beiden Gedichte jedoch in den Codices nur paarweise auftreten, dürfte Bollart diese zwei ohnehin eng verwandten Leserkreise nicht grundsätzlich getrennt haben. Einer der von ihm in Auftrag gegebenen Codices (vielleicht das Londoner Exemplar) könnte dem König geschenkt worden sein; möglicherweise hat der Autor die anderen (zwei oder mehr) Exemplare an ausgewählte Personen verliehen oder ihnen nur gezeigt. Alle erhaltenen Handschriften sind kostbare Schauobjekte, die keine Spuren einer stillen Lektüre aufweisen. Obwohl die beiden Gedichte durch das gemeinsame Element des Dialogischen miteinander verbunden sind25, stehen sie in recht unterschiedlichen literarischen Traditionen: Der erste Text ist in formaler Hinsicht eine Ekloge, inhaltlich ein Schlachtenund Siegeslied, funktional gesehen ein panegyrisches Werk zum Ruhme Ludwigs XII. Die beiden letztgenannten Aspekte verweisen im Übrigen auf das wohl im selben Jahr 1509 verfasste Gedicht „Ludovici in Venetos victoria“ des Antoine Forestier, welcher in ca. 1.000 episierenden Versen ebenfalls die Schlacht von Agnadello beschreibt26. Bollart und Forestier stehen allerdings nicht allein: Der französische Feldzug gegen Venedig wurde von einer moralisch, politisch und juristisch fundierten Propagandistik flankiert, die ihren Niederschlag in zahlreichen lateinischen, französischen und 25 Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der Nennung Karls des Kühnen und seines schändlichen Todes (fol. 7v und 10v–11r / 27v–28r). 26 Vgl. Braun: Ancilla Calliopeae, S. 70–73. Zur zeitgenössischen heroischen Dichtung vgl. Provini: Poésie heroïque.

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italienischen Liedern gefunden hat27. Im Gegensatz zu Forestier wählt sein Landsmann Bollart die eklogische Form (fol. 1r: Pastorale carmen sub dyalogo), verzichtet dabei allerdings nicht darauf, diese mit der Sprache und Motivik des Epos anzureichern. So heißt es über den französischen Herrscher (fol. 2v): Quis pius aut mitis patietur ovilia pastor Cum grege predari? Nedum Venetos patietur Pastorum pastor Francorum rex Ludovicus Pinguia cum gregibus furari pascua campi.

Ludwig erscheint hier als ein guter Hirte, der sich mit kriegerischen Mitteln gegen den Raub seiner Herde schützt. Ferner betont der pastor Amatus, dass die Venezianer nach dem Verlust ihrer Feldzeichen und dem Tod ihrer Führer wie Schafe ohne Hirten umhergeirrt seien28. Die Kombination der beiden Textgattungen artikuliert sich auch in den Illustrationen: Hier begegnen sowohl bukolische (fol. 1r, 10r) als auch martialische (fol. 5v, 8v, 11v) Szenen. Bollarts Ekloge weist zudem zweifellos einige dezidiert christliche Elemente auf. So schenkt Prosper seinem Kollegen Amatus als Dank für die gute Nachricht (gleichsam ein Evangelium) nicht nur ein neugeborenes Lamm (das Symbol des Heilands), sondern – wie der heilige Martin von Tours – auch einen Umhang29. Trotz solcher Elemente gründet der Text selbstverständlich in der paganen, doch lange Zeit als krypto-christlich angesehenen Bukolik Vergils. Bollarts Idee, im Rahmen einer Ekloge ein aktuelles politisches Ereignis zu behandeln, erinnert etwa an Vergils erstes und neuntes Gedicht. Ferner verweist das bei Bollart verwendete Friedensmotiv direkt auf die vierte Ekloge. Und schließlich lässt sich für die Figurenkonstellation (zwei miteinander sprechende Hirten und eine dritte, zufällig dazutretende Person) Vergils dritte Ekloge anführen. Neben Vergil dürften auch einige zeitgenössische Gattungsvertreter auf Bollarts Poesie eingewirkt haben. Denn die lateinische Bukolik erlebt bereits seit dem 14. Jahrhundert eine furiose Renaissance30. Eine für das Genre herausragende Bedeutung besitzt etwa die in Frankreich viel gelesene „Adolescentia“ des Battista Mantovano (1448–1516). In den ersten drei seiner insgesamt zehn Eklogen lässt dieser zwei Hirten 27 Vgl. Scheller: Union des princes. 28 Fol. 9v: Francus ut hec rapuit miles vexilla, perire // Vidisses Venetos errantes more bidentum // Pastore amisso [...]. 29 Vgl. fol. 10v: Unum ex agniculis propter nova sume tenellis. // Dono meam clamidem, si mavis, accipe peram. Vgl. hierzu auch die Illustration auf fol. 10r. 30 Vgl. einführend Ijsewijn/Sacré: Companion, Part II, S. 62–66; Grant: Neo-Latin Literature; Krautter: Renaissance der Bukolik.

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auftreten, deren Namen – Faustus und Fortunatus – wohl nicht zufällig an Bollarts pastores Prosper und Amatus erinnern. Auch im Frankreich des 16. Jahrhunderts zählt die lateinische Bukolik zu den beliebtesten Genera31. Bollart bewegt sich mit seinem Text somit innerhalb einer breiten und aktuellen Literaturtradition. Nicht nur durch das dialogische Element ist das zweite von Bollart komponierte Lied, der Disput zwischen Arm und Reich, mit dem ersten texttypologisch verbunden. Bereits in der Antike – und stärker noch im Mittelalter – pflegen die Ekloge und das Streitgedicht ein enges Verhältnis32. Insbesondere das von Bollart behandelte Thema der Mildtätigkeit, der Konflikt zwischen Arm und Reich sowie die Konstruktion der diplomatischen Vertretung eines Königreiches erinnern an einige mittelalterliche Streitgedichte („Versus de morte et divite“, „Iustitia et Misericordia“, „Causa regis Francorum contra regem Anglorum“, „Altercatio Phillidis et Flore“, „Causa pauperis scolaris cum presbytero“, „Causa pauperis scolaris et divitis“)33. Ferner ist die juristische Einkleidung (ein orator spricht für seine Mandanten) seit der Antike ein vertrautes Merkmal der Gattung34. Dass Raoul Bollart im Rahmen seines (durch das ciceronische Vorbild legitimierten) ocium litterarium Panegyrik produziert (Text 1) und ein Plädoyer für die Barmherzigkeit hält (Text 2), ist zweifellos auf seinen sozialen Status und sein berufliches Milieu zurückzuführen: Als königlicher Lehnsmann ist er geradezu verpflichtet, für seinen Herrscher – wenn schon nicht mit dem Schwert, so zumindest mit der Feder – zu streiten. Und als ein am Pariser Gericht tätiger Anwalt findet er zweifellos Gefallen daran, die rhetorischen und argumentativen Mechanismen einer causa literarisch zu verarbeiten. Es lohnt sich, hier vom Einzelfall zu abstrahieren: Im Frankreich des 16. Jahrhunderts werden Humanismus und poetische Produktion maßgeblich von Pariser Juristen und Mitgliedern des Parlement getragen35. Angesichts des auf das Jahr 1509 datierbaren ersten Textes (Lobgedicht auf Agnadello) muss man Raoul Bollart zu den frühesten Vertretern dieser intellektuellen, vor allem durch Guillaume Budé (1467– 1540) repräsentierten Tradition rechnen. Allerdings ist ein solcher Humanismus-Typ auf Seiten seiner Träger relativ eng limitiert: Im elitären Milieu des Pariser Gerichtswesens figuriert die lateinische Dichtung nur als ein ocium litterarium, d. h. als ein Freizeitprodukt aus der Feder poetisch begabter Amateure.

31 Vgl. Hulubei: Éclogue en France. 32 Vgl. Schäfer: Vergils Eklogen 3 und 7; Walther: Streitgedicht; Stotz: Conflictus. 33 Vgl. Stotz: Conflictus, Anhang, Nr. 16, 22, 24, 28, 36; Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur, Bd. 3, S. 958–962. 34 Vgl. Stotz: Conflictus, S. 166. 35 Vgl. den guten Überblick bei Galand: Être parlementaire et poète.

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Bibliographie Aubert, Hippolyte: Notices sur les manuscrits Petau conservés à la Bibliothèque de Genève (fonds Ami Lullin), in: Bibliothèque de l’École des Chartes 70 (1909), S. 247–302. Braun, Ludwig: Ancilla Calliopeae. Ein Repertorium der neulateinischen Epik Frankreichs (1500–1700), Leiden/Boston 2007 (Mittellateinische Studien und Texte, 38). Gagnebin, Bernard (Hg.): L’ enluminure de Charlemagne à François Ier. Manuscrits de la Bibliothèque publique et universitaire de Genève, Genf 1976. Galand, Perrine: Être parlementaire et poète en France dans la seconde moitié du XVIe siècle, in: Humanistica Lovaniensia 61 (2012), S. 3–25. Grant, William Leonard: Neo-Latin Literature and the Pastoral, Chapel Hill 1965. Green, R. P. H.: The Works of Ausonius. Edited with Introduction and Commentary, Oxford 1991. Hulubei, Alice: L’ éclogue en France au XVIe siècle: époque des Valois (1515–1589), Paris 1938. Ijsewijn, Jozef/Sacré, Dirk: Companion to Neo-Latin Studies, Part II: Literary, Linguistic, Philological and Editorial Questions, Löwen 21998 (Supplementa Humanistica Lovaniensia, 14). Krautter, Konrad: Die Renaissance der Bukolik in der lateinischen Literatur des XIV. Jahrhunderts: von Dante bis Petrarca, München 1983. Kristeller, Paul Oskar: Iter Italicum. A Finding List of Uncatalogued or Incompletely Catalogued Humanistic Manuscripts of the Renaissance in Italian and other Libraries, Bd. 5, London u.a. 1990. Manitius, Max: Geschichte der lateinischen Literatur, Bd. 3, München 1931. Mazzatinti, Giuseppe/Sorbelli, Albano (Hg.): Inventari dei manoscritti delle biblioteche d’Italia, Bd. 28, Florenz 1922. Pasinus, Josephus: Codices manuscripti Bibliothecae Regii Taurinensis Athenaei, Bd. 1–2, Turin 1749. Provini, Sandra: La poésie heroïque néo-latine en France pendant les premières guerres d’Italie (1495–1515), in: Steiner-Weber, Astrid (Hg.): Acta Conventus Neo-Latini Upsaliensis. Bd. 1–2, Leiden/Boston 2012, S. 883–892. Scarpatetti, Beat Matthias von: Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters bis 1550, Bd. II 1, Dietikon/Zürich 1983. Schäfer, Antje: Vergils Eklogen 3 und 7 in der Tradition der lateinischen Streitdichtung. Eine Darstellung anhand ausgewähler Texte der Antike und des Mittelalters, Frankfurt am Main 2001 (Studien zur klassischen Philologie, 129). Scheller, Robert W.: L’ union des princes: Louis XII, his Allies and the Venetian Campaign 1509, in: Simiolus. Netherlands Quarterly for the History of Art 27 (1999), S. 195–242. Senebier, Jean: Catalogue raisonné des manuscrits conservés dans la Bibliothèque de la Ville et République de Genève, Genf 1779. Stampini, Ettore: Inventario dei codici superstiti greci e latini antichi della Biblioteca Nazionale di Torino, in: Rivista di Filologia, 32, Fasc. 3 (1904), S. 385–587. Stotz, Peter: Conflictus. Il contrasto poetico nella letteratura latina medievale, in: Pedroni,

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Matteo/Stäuble, Antonio (Hg.): Il genre „tenzone“ nelle letterature romanze delle origini, Ravenna 1999, S. 165–187. Walther, Hans: Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters. Mit einem Vorwort, Nachträgen und Registern von Paul Gerhard Schmidt, Hildesheim u. a. 1984 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, V 2).



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Niccolò Machiavelli (1469–1527) hat zeit seines Lebens die Wiederbelebung des antiken Erbes eifrig verteidigt und gefördert. Er lamentierte über die Vernachlässigung der politischen Weisheiten der Antike und wollte seine politischen Überlegungen auf antike Erfahrungen, Inspirationen und Theorien gründen. Woher kommt diese Idee und Erwartung? Im ersten Augenblick scheint man diese Frage leicht beantworten zu können. Man könnte die Untersuchung mit einem kurzen Hinweis auf die zeitgenössische Sehnsucht nach der Antike bei den Humanisten beenden. Der italienische Humanismus, dessen Zentrum Florenz war, intensivierte das bereits vorhandene Antikeinteresse, zuerst an der römischen, dann im 15. Jahrhundert an der griechischen Tradition, und er popularisierte die Bemühungen, die Antike neu zu entdecken1. Enorme Aufmerksamkeit wurde dabei den antiken Wissenschaften und Künsten geschenkt, in der Hoffnung, die gegenwärtige Lage des Lebens auf ihrer Basis zu verbessern. Obwohl Machiavellis Bildungshintergrund nicht vollständig ausgeleuchtet werden kann, ist es doch sicher, dass Machiavelli unter dem Einfluss des Humanismus seiner Zeit stand und dessen Antikeverehrung teilte. Es gilt als erwiesen, dass Machiavellis Vater, der Notar Bernardo, freundschaftliche Kontakte zu namhaften Humanisten unterhielt und Kenntnisse der antiken Literatur besaß. Allein hieraus könnte man schon schließen, dass das Interesse Machiavellis an antiken Autoren schon früh in seinem Leben geweckt wurde2. Diese einfache Antwort ist heute nicht mehr so zufriedenstellend wie früher. Bekanntlich war die Verehrung und Imitation antiker Autoritäten nicht auf die italienische Renaissance beschränkt. Selbst der emphatische Rückbezug auf die Antike und ihre Künste, Wissenschaften und Einrichtungen, der häufig und eindrucksvoll entfaltet wurde, muss auf seine genaue Bedeutung und Implikation hin untersucht werden. Die Dialogi ad Petrum Paulum Histrum von Leonardo Bruni, dem berühmten florentinischen Humanisten des Quattrocento, inszenieren eine intensive Auseinanderset1 2

Stein: Humanisten als Philologen. Viroli: Il sorriso di Niccolò, S. 9–11.

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zung unter humanistischen Portalfiguren wie Coluccio Salutati und Niccolò Niccoli über die Frage, ob tatsächlich die Antike der Gegenwart überlegen und zu bevorzugen ist. Das Werk schildert zwei Dialoge, die in Salutatis Haus an zwei aufeinanderfolgenden Tagen stattgefunden haben sollen. Am ersten Tag kritisiert Niccoli die bekanntesten Schriftsteller seiner Zeit wie Dante, Petrarca und Boccacio für ihre dürftigen Kenntnisse und ihre stilistische Rohheit. Am Folgetag dreht er plötzlich seine Position und trägt die komplett entgegengesetzte Meinung vor3. Welche Position vertritt die tatsächliche Meinung der Teilnehmer? Gab es überhaupt zu der Zeit einen Konsens über den idealen Charakter der Antike? Reflektiert diese Debatte die ambivalente Antikerezeption unter den führenden Intellektuellen, oder ist sie nur als rhetorisches Spiel von Pro und Contra zu werten und insofern nicht ernst zu nehmen4? Welchen Anteil nimmt die Geschichtsphilosophie in diesem Vergleich zwischen Antike und Gegenwart überhaupt ein? Diese Fragen haben zwar Forscher schon seit langem beschäftigt, eine einvernehmliche Lösung des Problems steht allerdings immer noch aus. Es ist also insgesamt keine leichte Aufgabe, die Frage nach dem Ursprung und dem Sinn der Antikerezeption bei Machiavelli unter Berufung auf die intellektuelle Hauptströmung der zeitgenössischen Kultur zu erörtern, zumal letztere selbst problematisch erscheint. Vielmehr ist ein perspektivischer ‚Positivismus‘ und ‚Individualismus‘ anzustreben, im Sinne eines Versuchs, die unterschiedlichen Wahrnehmungen des antiken Erbes und seine Rezeption bei einzelnen Denkern und Schriftstellern zu betrachten. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen kann dann rekonstruiert werden, welche Sinn- und Bedeutungshorizonte der Antikenverehrung in der Renaissance zukam. Eine solche Arbeitsweise ist in der historischen Forschung bereits eine Selbstverständlichkeit. Allerdings war die Betrachtung der geistigen Kultur der italienischen Renaissance derart lange von geschichtsphilosophischen Spekulationen beherrscht, dass ein solcher Ansatz immer noch nicht hinreichend realisiert erscheint. Um die Wahrnehmung des antiken Erbes bei Machiavelli und die damit verbundenen Sinn- und Bedeutungszuschreibungen zu erforschen, reicht ein Verweis auf den allgemeinen Rahmen der Antikerezeption nicht aus. Vielmehr gilt es, Machiavellis Werk mit Blick auf diese Fragestellung genauer unter die Lupe zu nehmen.

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Bruni. Dialogi ad Petrum Paulum Histrum, ed. Baldassari. Traninger: Taking Sides, S. 46-47; Häsner: Dialogus ad Petrum Paulum Histrum.

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1 Machiavellis problematisches Plädoyer für die Nachahmung der Antike Es gibt einige aussagekräftige Belege für Machiavellis Respekt vor den kulturellen und technologischen Errungenschaften der Antike. Der bekannteste ist ohne Zweifel eine Stelle in seinem Brief vom 10. Dezember 1513 an Francesco Vettori. In diesem langen Brief, in dem er sich mit seinem Wunsch nach Wiederanstellung an den alten Amtskollegen und Freund wendet, beschreibt er seinen Alltag in seinem Landhaus ausführlich. Dort schildert er in lamentierendem Ton zunächst seinen gewöhnlichen Tagesablauf und seinen täglichen Umgang mit unanständigen Leuten: In diese Gemeinheit eingehüllt, hebe ich den Kopf aus dem Staub hervor und spotte meines tückischen Geschicks, zufrieden, dass es mich auf diese Weise tritt, weil ich sehen will, ob es sich dessen nicht schämt5.

Mit diesen Worten fasst Machiavelli seine Erbitterung über seine Lebenssituation zusammen, die der plötzliche Kurswechsel der florentinischen Politik ihm aufgezwungen hatte. Im Anschluss an die gerade zitierte Passage folgt eine häufig zitierte Passage: Wenn der Abend kommt, kehre ich nach Hause zurück und gehe in mein Arbeitszimmer. An der Schwelle werfe ich die Bauerntracht ab, voll Schmutz und Kot, ich lege prächtige Hofgewänder an und, angemessen gekleidet, begebe ich mich in die Säulenhallen der großen Alten. Freundlich von ihnen aufgenommen, nähre ich mich da mit der Speise, die allein die meinige ist, für die ich geboren ward. Da hält mich die Scham nicht zurück mit ihnen zu sprechen, sie um den Grund ihrer Handlungen zu fragen, und ihre Menschlichkeit macht, dass sie mir antworten. Vier Stunden lang fühle ich keinen Kummer, vergesse alle Leiden, fürchte nicht die Armut, es schreckt mich nicht der Tod; ganz versetze ich mich in sie6.

Diese Vorstellung des täglichen Gespräches mit toten Politikern und Generälen der Antike kommt modernen Interpreten, die auf den Satz Historia magistra vitae keinen besonderen Wert mehr legen, sonderbar vor. Aus Machiavellis emotionaler Nähe zu den antiken Helden spricht ein humanistisch geprägter Geist – so haben manche Kommentare diesen Brief verstanden. Die Antike ist also nicht ganz vergangen, sondern bleibt für Machiavelli gegenwärtig. Sie ist da, um durch stichhaltiges Studium und durch Nachahmung wieder ins Leben gerufen zu werden. 5

Machiavelli. Tutte le opere storiche, politiche e letterarie, ed. Capata, S. 923. Die Übersetzung ist übernommen aus Machiavelli. Politische Schriften, ed. Münkler, S. 434. 6 Ebd.

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Die unmittelbare Nähe Machiavellis zu antiken Autoren ist auch an anderen Stellen sichtbar. Im Vorwort zum ersten Buch der Discorsi bedauert er die Vernachlässigung der antiken Staatskunst und der Heeresführung, in scharfem Kontrast zur eifrigen Nachahmung der Antike auf Gebieten wie der Architektur oder der bildenden Kunst: Ich erwäge, welche Ehre dem Altertum bezeugt wird, und wie häufig, um andere Beispiele zu übergehen, ein Bruchstück einer antiken Bildsäule für einen hohen Preis angeschafft wird, um es zu besitzen, sein Haus damit zu schmücken, es von denen nachahmen zu lassen, die sich jener Kunst widmen, und wie sich diese nachher mit allem Fleiß betrieben, dasselbe in ihren Arbeiten darzustellen; und ich sehe auf der anderen Seite, wie die größten Unternehmungen, welche, wie die Geschichte zeigt, von den alten Reichen und Republiken, von den Königen, Feldherren, Bürgern, Gesetzgebern und anderen, die für ihr Vaterland gearbeitet, ausgeführt wurden, viel eher bewundert als nachgeahmt, ja so sehr von jedem überall gemieden werden, dass von jener alten Tugend kein Schatten übriggeblieben ist7.

Wie ein Kranker auf die Vorschriften und Heilmittel zurückgreift, deren Wirksamkeit aus der Vergangenheit bewiesen ist, muss man sich für die Lösung der gegenwärtigen politischen Probleme an die Weisheiten der Autoren der Antike wenden, so fährt Machiavelli fort8. Die antiken Weisheit zu kennen, reicht nicht aus. Für Machiavelli ist es bei der Beschäftigung mit der Antike wichtig, sie stichhaltig nachzuahmen. Die Grundzüge des menschlichen Begehrens und Handelns bleiben unverändert wie der Himmel, die Sonne und andere kosmische Elemente, die von denselben Kräften getrieben sind, dieselbe Bewegung wiederholen und dieselbe Gestalt haben. Machiavellis Idee der Nachahmung der Antike konkretisiert sich in seinem Konzept der militärischen Reform. In dem einzigen zu seinen Lebzeiten publizierten Werk, Dell’Arte della guerra, geht Machiavelli auf die Heeresführung der Römer ein9. Fabrizio Colonna, die Hauptfigur im fiktiven Dialog mit Cosimo Rucellai und eine Schlüsselfigur des Humanistenkreises um die Medici, ruft in diesem Text zur vollständigen Nachahmung der antiken Kriegskunst auf. Auch Machiavellis kontroverse Herabschätzung der Artillerie, deren Bedeutung von seinen Zeitgenossen bereits weithin anerkannt war, war teilweise davon beeinflusst, dass er die antike Heeresformation und Taktik beinahe vorbehaltlos idealisierte: Die Römer führten schließlich auch ohne sie Schlachten10. Machiavelli setzte das antike Konzept der Heeresführung in die Praxis 7

Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 57. Die Übersetzung ist geringfügig verändert übernommen aus Machiavelli. Gesammelte Werke, ed. Ulfig, S. 27. 8 Ebd. 9 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 269–367. 10 Gilbert: Machiavelli.

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um, als er eine Bürgermiliz nach diesem Konzept aufbaute und sie in der Belagerung von Pisa 1509 erfolgreich einsetzte. Nicht einmal die spätere, fatale Niederlage der Miliz gegen die spanische Söldnerarmee in der Schlacht von Prato 1512 konnte seine dahingehenden Überzeugungen erschüttern. Versucht man die Einstellung Machiavellis zum antiken Erbe zu verstehen, ist es jedoch wichtig, neben seinem Plädoyer für die Nachahmung der Antike seine kritische Distanz zu ihr zu berücksichtigen. Denn Machiavelli gibt seine Vorbehalte gegenüber der politiktheoretischen Tradition der Antike an vielen Stellen zu erkennen. Im 15. Kapitel von Il principe schreibt er: „Viele haben sich Republiken und Fürstentümer vorgestellt, die nie jemand gesehen oder tatsächlich gekannt hat“11. Im Lauf der Diskussion erweist sich, dass Machiavellis Kritik unter anderen an Cicero gerichtet ist, den Säulenheiligen aller italienischen Humanisten. Im 18. Kapitel behandelt er die Frage der Moralität des Fürsten in der Politik. Vorab ist hier klar zu stellen, dass es hier nicht um die persönliche Moralität des Herrschers handelt. In Il principe lässt Machiavelli überhaupt keinen Zweifel daran, dass er keineswegs die Frage der Moralität aus der Politik verbannen will. Dies kommt unmissverständlich bei seinem kritischen Kommentar zu Agatokles zum Vorschein, dem sizilianischen Tyrann, der durch die meisterhafte Ausübung der Grausamkeit und des Machtkalküls auf eigene Faust zum Herrscher wird. Machiavelli bemerkt nach dem Lob seines taktischen Scharfsinnes und seiner Entschlossenheit, die sich jeder Fürst in seinem Denken und in seinen Taten einverleiben soll: Andererseits kann man es auch nicht Tugend nennen, seine Mitbürger umzubringen, Freunde verraten und ohne Treu, Mitleid und Religion zu sein; auf solche Weise kann man zwar Macht erwerben, aber keinen Ruhm12.

Machiavelli thematisiert also in Il principe die Moralität und ihre Verbindlichkeit und Geltung im Hinblick auf die öffentliche Politik. Es erübrigt sich hier, Machiavellis Ausführungen in aller Breite wiederzugeben. Ein Fürst, der immer gut und gewissenhaft sein will, geht daran zugrunde, so Machiavellis Argument, wobei der Fürst die Paradoxie jeglicher Machtausübung stets im Auge behalten soll. Als Beispiel führt Machiavelli hier an, dass sich ein Fürst, der einem anderen gegenüber freigiebig ist, zuweilen selbst schadet: „Während du sie [Freigiebigkeit] übst, verlierst du die Fähigkeit, sie zu üben, und wirst entweder arm oder verächtlich oder – um der Armut zu entgehen – raubgierig und verhasst“, mahnt Machiavelli13. 11 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 33. Die Übersetzung ist übernommen von Machiavelli. Il Principe/Der Fürst, ed. Rippel, S. 119. 12 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 21; Machiavelli. Il Principe/Der Fürst, ed. Rippel, S. 67. 13 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 35; Machiavelli. Il Principe/Der Fürst, ed. Rippel, S. 127.

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Machiavellis provokative Idee zur beschränkten Geltung der Moralität in der Politik führte zu einer subversiven Metaphorik, die in der Geschichte des politischen Denkens im Abendland zu den spannendsten Momenten gerechnet werden kann14: Ihr müsst nämlich wissen, dass es zweierlei Kampfweisen gibt: die eine mit der Waffe der Gesetze, die andere mit bloßer Gewalt; die erste ist dem Menschen eigen, die zweite den Tieren; da aber die erste oftmals nicht ausreicht, ist es nötig, auf die zweite zurückzugreifen. Daher muss ein Fürst es verstehen, von der Natur des Tieres und von der des Menschen den rechten Gebrauch zu machen15.

Aufgrund dieser Überlegung trägt er eine Tiermetapher vor: Da also ein Fürst gezwungen ist, von der Natur der Tiere den rechten Gebrauch machen zu können, muss er sich unter ihnen den Fuchs und den Löwen auswählen; denn der Löwe ist wehrlos gegen Schlingen und der Fuchs gegen Wölfe. Man muss also ein Fuchs sein, um die Schlingen zu erkennen, und ein Löwe, um die Wölfe zu schrecken16.

Machiavelli dreht hier die berühmte Tiermetapher Ciceros gerade um. In ‚De officiis‘ hatte Cicero seine Grundthese über die Geltung der Moralität in der Politik folgendermaßen begründet: Wenn aber auf zweierlei Weise, d. h. entweder durch Gewalt oder durch Betrug Ungerechtigkeit geübt wird, scheint Betrug gleichsam einem Fuchs, Gewalt einem Löwen zuzukommen. Beides ist den Menschen grundfremd, aber Betrug verdient entschiedenere Ablehnung17.

Ein Vergleich der beiden Stellen lässt die provokative Absicht Machiavellis sowie seine Distanz zum gängigen humanistischen Politikbegriff deutlich zu Tage treten. Keinem Humanisten konnte diese Provokation entgehen. Machiavelli teilt also die humanistische Antikeverehrung seiner Zeit, lehnt jedoch den humanistischen Politikbegriff im Kern seines Denkens ab. Wie manch andere Autoren, die Luftschlösser bauen, anstatt ein wahres Bild der Politik zu zeigen, versagen Cicero und seine humanistische Gefolgschaft darin, eine tiefgreifende, richtige 14 Yun: Machiavelli and Medieval Realist Discourse. 15 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 38; Machiavelli. Il Principe/Der Fürst, ed. Rippel, S. 135. 16 Ebd. 17 Cicero. De Officiis, übers. Gunermann, 1.13.41: Cum autem duobus modis, id est aut vi aut fraude, fiat iniuria, fraus quasi vulpeculae, vis leonis videtur; utrumque homine alienissimum, sed fraus odio digna maiore.

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Erklärung für Entscheidungen und Handlungen abzugeben – so lässt sich Machiavellis Denken resümieren.

2 Machiavelli zur Bedeutung des antiken Erbes Machiavellis Wertschätzung der Antike und sein Aufruf zu ihrer Nachahmung kann noch weiter präzisiert werden. Denn sein Respekt vor den Autoritäten der politiktheoretischen Tradition der Antike ist nur bedingt. Dass er in seinem bereits zitieren Brief an Vettori Il principe als eine Frucht seiner intensiven Auseinandersetzungen mit den Autoren, Politikern und Generälen der Antike darstellt18, beweist seine eher selektive Wertschätzung des antiken Erbes. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass er in seinen Werken keinem antiken Autor eine unbedingte Autorität zuerkennt. Er kommentiert Livius’ Text in den Discorsi, ohne dabei auf dessen Ausführungen besonderen Wert zu legen, und er widerlegt Plutarch und Livius im gleichen Werk hinsichtlich der Beobachtung, der Aufstieg Roms sei mehr dem Glück geschuldet als der eigenen Tugend19. Aus Machiavellis Sicht bleibt die entscheidende Wahrheit der Politik, wie bereits oben dargelegt, in der Antike unentdeckt. Worauf wollte Machiavelli hinaus, als er die Vernachlässigung des antiken Erbes bedauerte und im gleichen Werk emphatisch forderte, von der Weisheit der Antike zu lernen und sie anzuwenden? Hier schleichen sich Zweifel ein, ob Machiavellis Plädoyer für die Nachahmung der Antike wirklich mehr war als eine inhaltlich leere Wiederholung eines damals populären literarischen Topos. Dieser Zweifel wird noch stärker, wenn man im Vorwort zum zweiten Buch der Discorsi seiner Diskussion darüber begegnet, ob die Antike eine bessere Zeit war als die Gegenwart. Hier tritt Machiavelli der zeitgenössischen Verherrlichung der Antike kritisch gegenüber: Die Menschen loben immer (aber nicht immer mit Recht) die alten Zeiten und klagen die gegenwärtigen an. Sie sind so sehr für die Vergangenheit eingenommen, dass sie nicht allein die Zustände preisen, welche sie durch die Überlieferungen der Schriftsteller kennen, sondern auch jene, welche sie, alt geworden, in ihren Jugendjahren gesehen zu haben sich erinnern20.

Für Machiavelli verdankt sich die Sehnsucht nach der Antike also der menschlichen Schwäche und Selbsttäuschung. Es gehört den Grundzügen der Auffassung der ver18 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 923, 19 Ebd., S. 143. 20 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 140; Machiavelli. Gesammelte Werke, ed. Ulfig, S. 137.

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gangenen Zeiten, dass „größtenteils verheimlicht wird, was diesen Zeiten Schande bringen könnte“21, und dass „in prächtiger Fülle dargestellt wird, was ihren Ruhm zu erhöhen vermag“22. Das Gegenteil trifft auf die Wahrnehmung und den Begriff der Gegenwart zu, denn „bei genauer Kenntnis der Dinge bleibt einem keine Einzelheit verborgen, und da man an ihnen neben dem Guten auch manches Missfällige wahrnimmt, muss man sie weit unter die alten stellen, sollten sie auch viel mehr Lob und Ruhm verdienen“23. Gerade wegen dieser Voreingenommenheit erscheinen die großen Taten und der Glanz und die Pracht der alten Zeit den Menschen in der Rückschau noch größerer, und die schlechten Gesichter der Gegenwart noch schlechterer. Machiavelli glaubte, dass dieser Mangel besonders das Urteil über das Leben und die Sitten der Menschen betrifft24. Nach Machiavelli sollte den vielgepriesenen Errungenschaften der Antike nicht ohne kritische Betrachtung und Prüfung Glauben geschenkt werden. Mit diesen Positionen scheint Machiavellis Plädoyer für die Autoritäten der Antike und ihre Nachahmung in der Politik kaum vereinbar zu sein. Geriet Machiavelli vielleicht in einen Selbstwiderspruch, als er einerseits die Wiederbelebung der Antike forderte, andererseits die Idealisierung der Antike auf Selbsttäuschung zurückführte? Machiavelli glaubte, dass es einen besonderen Grund in seinem Zeitalter gab, die Antike der Gegenwart zu bevorzugen: Zwar sei die Welt insgesamt gleichgeblieben, es habe keine fundamentale Veränderung in der Natur der Menschen gegeben, und in den Ereignissen der Welt sei das Gute und das Böse stets gemischt. Jedoch könne man nicht allen Zeitaltern die gleiche Bedeutung beimessen, denn die Tugend des Menschen sei unterschiedlich von Zeitalter zu Zeitalter, von Ort zu Ort: Die Welt war stets dieselbe. Es gab darauf immer soviel Gutes wie Böses, allein dieses Böse und dieses Gute wechselte von Land zu Land. So wissen wir, dass die alten Reiche durch den Wechsel der Sitten von einem Land aufs andere übergingen. Die Welt jedoch blieb mit dem einzigen Unterschied dieselbe, dass, wenn sie zuerst ihre Tugend nach Assyrien gepflanzt hatte, sie nachher Medien, dann Persien ausersah, bis sie endlich Italien und Rom erwählte25.

An dieser Stelle wird klar erkennbar, dass Machiavelli die Antike, besonders die römische Antike, für einen Gegenstand intensiven Studiums und intensiver Nachahmung 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 141; Machiavelli. Gesammelte Werke, ed. Ulfig, S. 137. 24 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 142; Machiavelli. Gesammelte Werke, ed. Ulfig, S. 137. 25 Machiavelli. Tutte le opere, ed. Capata, S. 141; Machiavelli. Gesammelte Werke, ed. Ulfig, S. 138.

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hält. Seine Verehrung der römischen Antike hat mit der Tatsache zu tun, dass die Bürger und politischen Führer in Rom und Italien die Tugend verkörperten, weitaus mehr als die Menschen anderswo und zu anderer Zeit. Es geht ihm also weniger um einen allgemeinen Begriff der Geschichte oder um eine geschichtsphilosophische Betrachtung, wenn er der Antike seine Verehrung erweist. Vielmehr handelt es sich dabei lediglich um eine historische Tatsache, für deren Hintergrund sich Machiavelli gar nicht interessiert. Es sei hier noch angemerkt, dass Machiavelli dem Wechsel des Schicksals einzelner Völker, Staaten und Imperien keine Logik zuschrieb und es als nicht vielversprechend erachtete, den Wechsel der Macht und die damit verbundene Unbeständigkeit des Schicksals einzelner Länder auf eine allgemeine Theorie zurückzuführen. Machiavelli verwendet nicht umsonst in seiner Erklärung fluktuierender Machtverhältnisse im 25. Kapitel seines Il principe die Metapher der fortuna, der antiken Glücksgöttin. Die positive Bewertung der Antike rührt also für Machiavelli weniger von einem allgemeinen Begriff und einer festen geschichtstheoretischen Überzeugung her als von historischen Tatsachen. In diesem Sinne ist die folgende Bemerkung Machiavellis zu verstehen: Eine Stadt oder ein Land, das von einem ausgezeichneten Mann zum politischen Leben geordnet wird, sieht man eine Zeitlang durch das Verdienst seines Gesetzgebers immer zum Bessern fortschreiten. Wer in einem solchen Land geboren wird und die alte Zeit mehr lobt als die neue, täuscht sich […]. Wird man aber zu einer Zeit geboren, wo die Glanzperiode dieses Landes vorüber ist und es immer tiefer herabsinkt, dann täuscht man sich nicht26.

Für Machiavelli ist also der Respekt vor den Weisheiten der Antike kein allgemeiner Imperativ. Die Haltung gegenüber Erfahrungen und Errungenschaften der Antike und deren Würdigung hängen vom konkreten Standpunkt des Beobachters ab, können also von Land zu Land und Zeitalter zu Zeitalter unterschiedlich sein. Machiavelli zufolge ist nach dem Untergang des Römischen Reiches die römische Tugend unter verschiedenen Völkern verstreut worden. Das fränkische, das türkische und das deutsche Reich steigen so auf. In diesen Ländern herrschte einmal die römische Tugend und überlebt zum Teil bis in die Gegenwart. Aus dieser Erörterung zieht Machiavelli den folgenden Schluss: Wer in diesen Ländern geboren ist und die Vergangenheit über die Gegenwart erhebt, mag sich irren. Wer aber Italien oder Griechenland sein Vaterland nennt und nicht in Italien Ul26 Ebd.

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tramontaner, in Griechenland Türke geworden ist, hat wohl Ursache, seine Zeit zu tadeln und die Vorzeit zu loben. Die frühere Geschichte muss ihn mit Staunen und Verwunderung erfüllen27.

Wenn Machiavelli also seine Zeit kritisiert und die Antike lobt, hat es mit dem unglücklichen Zustand von Florenz und Italien seiner Zeit zu tun. Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass Machiavellis Hymne auf die politischen Weisheiten der Antike eher als Teil einer politischen Erneuerungsstrategie mit Blick auf Florenz und ganz Italien zu werten sind, als dass sie einem allgemeinen, geschichtsphilosophischen Grundsatz folgt. Machiavellis Ablehnung von Ciceros Grundkonzept über die Bedeutung der Moralität in der Politik ist nun im Kontext dieser eher pragmatischen Antikerezeption am besten zu verstehen: Die Antike ist für ihn eine Quelle der Inspiration und historischer Exempla. Er will ein Rezept zum politischen Erfolg in der Auseinandersetzung mit antiken Theorien und Taten finden. Für ihn stellt jedoch kein Autor oder kein Text einen Imperativ dar.

3 Schlussbemerkung Häufig hat man nach der Ursache und Auswirkung der Antikensehnsucht in der italienischen Renaissance gefragt. Es scheint, dass, wie manches andere Gedankengut auch, die Verehrung der Antike zwar eine gemeinsame Inspiration und einen gemeinsamen Topos bildet, jedoch bei unterschiedlichen Autoren unterschiedliche Bedeutungsvarianten hat. Die Fragestellung, was der Sinn und die Bedeutung der Antikenverehrung in der italienischen Renaissance ist, verlangt eine deutlich differenziertere Herangehensweise. Machiavellis Diskussion über die Implikation und Bedeutung antiker Ideen für die Wahrnehmung seiner politischen Gegenwart demonstriert, dass die Antikenverehrung in der italienischen Renaissance auf einer komplexen und vielfältigen geistigen Entwicklung beruht. Wie viel Machiavellis Lesart der Antikerezeption dem humanistischen Geschichtsdiskurs verdankt, ist sicher eine wichtige Frage, der ich leider nicht nachgehen kann. Diese Frage kann jedoch erst nach einer eingehenden Diskussion darüber, ob man von einem oder mehreren Antikebegriffen bei den Humanisten sprechen kann, richtig beantwortet werden. Auf jeden Fall würde die Antwort auf die Frage uns eine neue Perspektive auf eine vergangene geistige Kultur eröffnen, deren immenser Beitrag zur Herausbildung der modernen westlichen Welt immer wieder diskutiert wird. 27 Ebd.

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Bibliographie Quellen Cicero. De Officiis. Lateinisch-Deutsch, übers. Heinz Gunermann, Ditzingen 1992. Leonardo Bruni. Dialogi ad Petrum Paulum Histrum, ed. Stefano Ugo Baldassari, Firenze 1994. Niccolò Machiavelli. Gesammelte Werke, ed. Alexander Ulfig, übers. Johann Ziegler, Franz Niocolaus Baur, Frankfurt/M. 2007. Niccolò Machiavelli. Il Principe/Der Fürst, Italienisch/Deutsch, ed. und übers. Philipp Rippel, Stuttgart 1986. Niccolò Machiavelli. Politische Schriften, ed. Herfried Münkler, Frankfurt/M. 1990. Niccolò Machiavelli. Tutte le opere storiche, politiche e letterarie, ed. Alessandro Capata, Roma 1998.

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Nomen est omen Humanistische Identitätsspielereien Harald Müller

Jeder Zeitungsmitarbeiter lernt es in den ersten Wochen: Namen sind Nachrichten. Nicht die Neuwahl des Vorstands zählt, sondern die Namen der neuen Vorstandsmitglieder. Und je überschaubarer der Kommunikationsraum, desto eher reicht der Name als Botschaft aus, kann auf personenpräzisierende Elemente wie Herkunft oder Funktion verzichtet werden. Auch bei den Humanisten der Renaissance spielten Namen eine tragende Rolle. Eifrig bemühte man sich um lateinischen Wohlklang. Leicht gelang dies südlich der Alpen, wo oft nur die volgare Verschleifung wieder begradigt werden musste, um aus dem „Giovanni Jovianus oder Janus, aus Pietro Pierius oder Petreius [...] aus Luca Grasso Lucius Crassus“ werden zu lassen1. Jacob Burckhardt schrieb die antikisierende Namenseinkleidung der Humanisten in erster Linie der allgemein um sich greifenden Vorliebe für das Römische in gebildeten Kreisen und nicht zuletzt dem Bedürfnis nach flüssig ins Latein zu integrierenden Nomenklaturen zu. Dem standen die deutschen Namen so im Weg wie die Alpen dem Südwind. Die Übersetzung ins Lateinische oder Griechische schien Burckhardt der von den deutschen Antikefreunden eingeschlagene Königsweg zu sein. Wir wollen diesen Namensangelegenheiten der nordalpinen Humanisten etwas mehr Aufmerksamkeit schenken, als dies der Basler Kulturhistoriker in seinem breiten Renaissance-Panorama von 1860 vermochte. Denn die Welt war auch in dieser Frage natürlich bunter, und längst hat die Forschung erkannt, dass die Namen ein Teil der Identitätsmarkierung sein konnten, um die sich die Humanisten innerhalb ihrer Gruppe der Gleichinteressierten und auch in Abgrenzung von der vermeintlich barbarischen Außenwelt bemühten. Die Latinisierung war gleichsam ein Initiationsritual, das den Wechsel zur antikeorientierten Kulturgemeinschaft anzeigte oder zumindest anzeigen sollte2. Für belastbare Aussagen zur Regelhaftigkeit oder gar Normativität solcher Wandlungsvorgänge fehlt es jedoch noch an Studien mit breiter Materialbasis. 1 Vgl. zum Folgenden Burckhardt: Kultur der Renaissance, S. 246–248, Zitat S. 247. 2 Vgl. Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung, S. 149–151; Bernstein: Outsiders, S. 55.

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Gleichwohl ist ein partieller Wechsel von der herkunftsbezogenen Identität hin zu einer gruppenbezogenen, auf Sprachstandards gründenden Identitätsäußerung unübersehbar. Oder besser: eine zusätzliche Identitätsmarkierung, denn man schied und scheidet ja nicht gänzlich aus den anderen Bezugssystemen aus, wenn man eine spezifische Orientierung empfängerbezogen herausstellt3; man schuf mit dem veränderten Namen einen adäquaten Rezeptor für spezifisch Gleichorientierte4. Die Namenspraxis selbst und gelegentliche Reflexionen darüber in den Briefwechseln geben zumindest Hinweise auf das, was man sich bei der humanistischen Namensformung gedacht haben mag. Sie bleiben an dieser Stelle notwendigerweise fragmentarisch, sind grob geordnete Ergebnisse einer unsystematischen Blütenlese und vielleicht gerade deshalb ein geeignetes Geschenk, das den Jubilar nicht nur erfreuen, sondern zum Fortspinnen des Fadens aus dem eigenen Material heraus anregen mag. Eine Unterscheidung in Kategorien der Namensaneignung muss in qualitativer Hinsicht erfolgen. Sie muss zunächst einfache und offensichtliche Vorgehensweisen wie das Anhängen einer lateinischen Endung an den deutschen Namen von Übersetzungen scheiden, muss dann Sprachen differenzieren und schließlich auch den Einfallsreichtum bemessen, der dahinter stehen mag. Damit ist berührt, wie dezidiert die Aussagen waren, die sich mit der Namenswahl verbanden und die nicht ohne Suggestion waren. Zur Verdeutlichung der Bandbreite: Man konnte einen aus der Tätigkeit abgeleiteten Familiennamen in Latein verpacken. Das geschah tausendfach; auch ohne jeden humanistischen Impetus wurde der Schmied zum Faber oder Fabritius, der Bäcker zum Pistorius. Um als Schleife der Verpackung in Conradus Celtis Protucius den Konrad Bickel wiederzuerkennen, dessen Nomen offenbar aus dem meisterlichen Gebrauch des Pickels beim Erzabbau durch seine Vorfahren entstanden war, bedurfte es sprachlichen und biographischen Insiderwissens. Man konnte – gängige Münze der den lokalen Raum übergreifenden Namensbeilegung im Mittelter überhaupt – den Johannes nach seinem Herkunftsort benennen und aus dem unscheinbaren Trittenheimer einen passabel klingenden Trithemius machen oder aus Veit Bild, dessen Wiege in Höchstadt stand, mit deutlich größeren Klimmzügen einen Akropolitanus. Es dürfte deutlich werden, dass bei diesen Formen unterschiedliche Anspruchsniveaus und somit verschiedene Assoziations- und Kommunikationsebenen sowie, daraus resultierend, unterschiedliche Adressatenkreise angesprochen werden. Die Botschaft vermochte eben nicht jeden zu erreichen – und sollte es wohl auch nicht. 3 4

Vgl. zur Mehrfachzugehörigkeit zu Gruppen am Beispiel der Humanisten im Kloster die Überlegungen bei Müller: Habit und Habitus, S. 61–66. Mit Namen als Ausdruck und Anerkennung von Individualität beschäftigt sich jenseits aller spielerischen Thematik und in geradezu diametralem Wertungsgegensatz zum vorliegenden Beitrag Bering: Name als Stigma; zu den theoretischen Grundlagen der Eigennamendeutung bes. S. 250–288.

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Rein schematisch lassen sich folgende fünf Produktgruppen aus der Namenschmiede unterscheiden: 1. Simple Latinisierungen des Familiennamens durch Anhängen einer Endung; 2. Übersetzung des Familien- oder Herkunftsnamens ins Lateinische oder Griechische; 3. Latinisierung oder Gräzisierung als Umformung mit Anspielungscharakter; 4. Beilegung eines neuen Namens mit besonderer Qualität der historischen Anspielung (meist glorifizierend); 5. (Ins Lächerliche kippend:) Sprach-Mimikry durch Transliteration ins Griechische Füllen wir die Schubladen mit Inhalt5! 1. Farblos und wenig inspiriert erscheinen in der Zusammenstellung die Namensformen, die ihre Latinität hauptsächlich aus einem romanischen Wurmfortsatz bzw. aus geringfügiger Lautkosmetik gewinnen: wenn aus Joachim Watt Vadianus wird, aus Wolfgang Seidel Sedelius, aus Jakob Spiegel Spiegellius und aus Otto Werdmüller Werdmuellerus; beinahe schmerzhaft für den Leser mutiert Johannes Fuchsmagen zu Fuxmagonus. Selbst recht einfache Verformungen des Herkunftsortes wirken hier schon ein wenig eleganter: Von Trithemius als jemanden aus dem Ort Trittenheim an der Mosel war schon die Rede. Auch der Name Spalatin erscheint als ungefähr passendes romanisches Klanggewand eines Georg Burkart aus Spalt bei Eichstätt, der sich darunter verbirgt. Geradezu poetisch klingt das Gemoseus der Basler Gelehrtenfamilie Gschmuss, das den Schmuck mit Edelsteinen (gemmosus = von Edelsteinen funkelnd) selbstbewusst anklingen lässt. 2. Einen deutlichen Qualitätssprung bieten dann doch regelrechte Übersetzungen. Auch hier gibt es naheliegende Formen wie etwa Monetarius für Münzer. Der Charme bleibt begrenzt, auch weil später die Latinisierung (noch später die Transformation ins Französische) der Königsweg ist, den eigenen (Allerwelts-)Namen zu de-vulgarisieren: aus dem Schmied wird tausendfach Faber, aus dem Müller Molinarius; mit Humanismus hat das nichts zu tun. Noch im Übergang befindlich ist jemand wie Peter Slarpf, ein Benediktiner aus dem Kloster Johannisberg im Rheingau, der zunächst in der holprigen Form Slarpius begegnet, dann als Geschichte schreibender Mönch Petrus Sorbillo, der Schlürfer. Benedikt Schwalbe wird lateinisch zu Hirundo, griechisch zu Chelidonius, Sixtus Birk wechselt die Sprache, bleibt aber botanisch ein Xystus Betuleius. Spaß bereiten (zumin5

Es wäre wenig sinnvoll, die Namen hier im Detail nachzuweisen und zu jedem Genannten biografische Hinweise zu liefern. Die Belege beschränken sich deshalb auf Situationen und Erkenntnisse, die für die Systematik der Namenfindung von Belang sind. Der Zugang zu den Personen ist in den meisten Fällen leicht zu finden über Worstbrock (Hg.): Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon.

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dest heute) Umformungen wie Gallinarius für Eucharius Henner oder Thomas Rosenbusch, ein Schüler des Ulrich Zasius, zu Rhododendrius. Für Lateiner war der Ventimontanus leicht als Windsberger zu entschlüsseln, während zwischen Konrad Töritz aus Leonberg und der distinguierten Namensform Conradus Leontorius immerhin die Hürde fundamentaler Kenntnisse des Griechischen lag. Mit ihrer Hilfe wurde die auf der Vokabel to oron (= Berg) basierende Namensform zum Signal für Kundige, die eine solche Spielerei sicher auch zu goutieren wussten. Ähnliches gilt für Wolfgang Rychard, dessen nomineller Reichtum ihn zu Plutosthenes werden ließ. Den Ottobeurer Mönch Nikolaus Ellenbog adelte Johannes Reuchlin durch das Nomen Cubitus, das dieser fortan stolz benutzte6. Willibald Pirckheimer ehrte den rheinischen Humanisten-Mäzen und Grafen von Neuenahr mit der bemüht wirkenden Anrede Comes Novae Aquilae, bei welcher ihm offenbar der Gedanke Ahr = Aar = Adler die Richtung vorgab. Nikolaus von Kues bezeichnete den Südtiroler Ritter Georg Künigl von Ehrenburg 1456 in süffisanter Übersetzung als „Regulus“7. 3. Schon hier wird deutlich, wohin sich das Namenspiel der Humanisten entwickeln konnte. Von der notdürftigen lateinischen Ornamentik spannte sich der Bogen zur filigranen Übersetzungskompetenz – und kulminierte in der gekonnten Anspielung. Man teilte sicherlich dasselbe sprachliche Fundament wie sein Gegenüber, wenn man einen Wolf-Gang (Trefler) mit Lupambulus anredete. Und auch wenn es offen bleibt, ob mit dem Namen Manlius für den am Habsburgerhof ein- und ausgehenden Jakob Mennel nur eine plumpe Latinisierung und der Bezug zu einem bekannten römischen nomen gentis hergestellt werden sollte oder gar noch mehr dahinter steckte, so gibt es doch selbst bei willkürlicher Auswahl genug Fälle, in denen solche absichtsvollen Konstruktionen offenbar werden. 4. Der Gothaer Konrad Muth, Spiritus rector des Erfurter Humanistenkreises, vermied die naheliegende Latinisierung seines Namens etwa zu Fortitudo und wählte stattdessen nach klassischem Vorbild Mutianus, genauer: Publius Licinius Crassus Dives Mucianus8. Wegen seines roten Haarschopfes bürgerte sich freilich der Name Mutianus Rufus ein. Dass der Übersetzer und kaiserliche Gesandte Johannes Krachenberger zu Gracchus Pierius wurde, dafür dürfte weniger die lautliche Nähe der lateinischen Schöpfung verantwortlich sein als ein geschicktes Spielen mit literarischem und historischem Wissen, das in Konrad Celtis’ Umfeld der Sodalitas litteraria Danubia 6 7 8

Ellenbog, Briefwechsel, ed. Bigelmair/ Zoepfl, S. 49f. Nr. I.71, neu ediert in: Reuchlin, Briefwechsel, Bd. II, ed. Dall’Asta/Dörner, S. 101–105, Nr. 153. Acta Cusana, Bd. II Lfg. 4, ed. Helmrath/Woelki, Nr. 4784. Ich danke Thomas Woelki für den Hinweis auf die Stelle. Briefwechsel Mutianus, ed. Gillert, I, S. XV.

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gepflegt wurde, der Johannes angehörte9. Krachenberger selbst hatte sich zeitweilig als Johannes de Monte crespenti (= vom zitternden Berg?) bezeichnet. Das ließ sich, wie gesehen, noch humanistisch ziselieren, indem man auf ihn als den Gracchen, der zu den Musen gehört, rekurrierte, die nach Cicero von den Dichtern Pieriae genannt wurden (De natura deorum 3.54). Wie wunderbar gelungen erscheint der Freundschaftsbeweis des schon genannten Konrad Leontorius, der seinem Auftraggeber, dem Basler Drucker Johann Amerbach eine ganz eigenwillige Deutung von dessen Familiennamen unterbreitete. Die naheliegende Herkunft aus dem elsässischen Ort Amorbach beiseitelassend, stellte er in dem Freund Amor Bacchi heraus und lobte Johann als dessen Personifikation10. Das ist lateinisch und intellektuell eher bemüht als begeisternd, harmoniert aber mit Amerbachs Interesse an mitunter bewusst holprigen lateinischen Sprachspielen. Der Gedanke der Personifikation spielt eine wichtige Rolle, insbesondere wenn man einem Kommunikationspartner mit Bedacht einen Namen zueignete. Konrad Mutian, schon erwähnter Kanoniker in Gotha, gewährt in seinen Briefen Einblick in solche Überlegungen hinter der Nomenklatur. Seinen engsten Schüler und Vertrauten Heinrich Fastnacht taufte er um in Urbanus; einfallslos und plump, so scheint es, latinisierte er lediglich dessen hessischen Herkunftsort Orb11. Warum dient er dann als Beispiel für die filigranere Namensgebung in der vorliegenden Kategorie? Weil sich bei genauerer Betrachtung anderes erkennen lässt. In einem der ersten erhaltenen Briefe der Korrespondenz Mutians findet sich eine kennzeichnende Adresse: Urbano meo Demosthenis, Plauti, Ciceronis urbanitate memoratissima predito12. Der Name des Zisterziensers Fastnacht wurde erkennbar nicht nur notdürftig eingekleidet, um den humanistischen Spielregeln zu genügen, er wurde neu geschaffen und mit einer ganzen Identifikationsformation aus dem bevorzugten kulturellen Kosmos, der Antike aufgeladen. Die urbanitas der drei antiken Literaten stiftet den zweifellos auszeichnend gemeinten Namen. Die Trias aus zwei höchst geschätzten Rhetoren und dem berühmtesten lateinischen Komödiendichter steht für Beredsamkeit in der lateinischen Sprache, Poetik und feinsinnigen Witz. Diese personifizierte sprachliche-kulturelle Geschliffenheit, die Heinrich in der Form des Namensschildes angeheftet wurde und die ihn vom unter Humanisten stigmatisieren9

Rädle: Reuchlins Briefwechsel, S. 269, nennt diese elaborierten Namensspielereien ein „produktives etymologisierendes Abtasten“. Natürlich wurde auch die andere Seite der philologischen Medaille gepflegt, das etymologische Enträtseln von Namen. Vgl. exemplarisch Honecker: Name des Nikolaus von Cues. 10 Die Amerbachkorrespondenz [...], Bd. I, ed. Hartmann, S. 211–213, Nr. 224, hier S. 211. 11 So Bernstein: Erfurter Humanistenkreis, S. 148. 12 Briefwechsel Mutianus, ed. Gillert, I, S. 4–7, Nr. 3, hier S. 4.

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den Gegenpol der rusticitas vehement abrückte, war im Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler für Urban Auszeichnung und Verpflichtung zugleich. Wie gezielt und auf die Antike bezogen Mutian bei seinen Namensschöpfungen vorging, verrät ein weiterer seiner Briefe, in dem er einen gewissen Adam Pub/Buob in Adam Publius Vitalis umtaufte. Denn der Name (Buob) wirke lächerlich für einen gestandenen Mann und müsse geändert werden. In Anlehnung an Caesar verlieh er ihm den Namen eines antiken Dichters13. Mutian wandte diese Formen der historisch-kulturellen Analogie öfters an. Es gehörte zum üblichen Überschwang der Humanisten, die Fähigkeiten wohlgelittener anderer durch Epitheta wie alter Livius oder alter Cicero zu preisen. Mutian aber erklärt in seinen Briefen mitunter, warum er Namen wählt, und verlässt damit die Bühne der Gelegenheitsschmeichelei. Benedikt von Nursia erhielt von ihm den Beinamen Pythagoras cucullatus, weil jener wie Pythagoras, Plato und die Stoiker vor der Geschäftigkeit der Stadt auf das Land geflohen sei und in Montecassino eine contubernalitas gegründet habe. Benediktinisches Mönchtum wird im Gewand vorbildhafter antiker (und heidnischer!) Weisheit präsentiert oder sogar als deren jüngerer Trieb14. Eine charakterisierende retrospektive Gleichsetzung oder Analogstellung also, wie sie auch bei der Namensfindung idealerweise erfolgte, die der plakativen Hervorhebung von Eigenheit des so Bezeichneten diente. Eine einzigartige Passung in dieser Hinsicht gelang wohl dem friesischen Frühhumanisten Rudolf Agricola, der wiederum seinen eigenen Familiennamen Huysman/ Huesman ländlich latinisiert hatte. In seinen Briefen nennt er die beiden pfälzischen Räte Dietrich und Johann von Plieningen in der Nähe von Stuttgart schlicht Plinii. Das machte deshalb besonderen antikisierenden Sinn, weil er nicht nur das Brüderpaar an der Wende zum 16. Jahrhundert per Anspielung in die unmittelbare Nähe von Plinius den Älteren († 79) mit seiner Naturalis historia und zu dessen gleichnamigen Neffen († 113/115) rückte; er spielte auch auf die Briefe des jüngeren Plinius an. Diese wurden um 1500 als Referenzwerk humanistischer Epistolografie betrachtet und auch von Dietrich von Plieningen maßgeblich mitbearbeitet. Er besaß die erste, in Venedig hergestellte Druckausgabe der Briefe. Hier verschmolzen Editorenwerk und Agricolas humanistische Namenskonstruktion für den Gleichgesinnten geradezu kongenial15. 13 Briefwechsel Mutianus, ed. Gillert, II, S. 21f., Nr. 363: Cognomen hominis ridiculus est, ideo mutandum, non tamen omnino: feci ex Pub Publium vetus nomen ex antiquitatis memoria repetendo. Iulio Cesari gratus fuit Publius poeta mimographus. 14 Briefwechsel Mutianus, ed. Gillert, I, S. 53–55, Nr. 42, an Urban mit Reflexionen über den Benediktstag, darin S. 53: Prelegit institutiones huius cucullati Pythagore suis discipulis Spalatinus tuus. Mutian weist u. a. auf die Gemeinsamkeiten der Speisevorschriften bei Benedikt und Pythagoras hin. 15 Rudolph Agricola, Letters, ed. van der Laan/Akkerman, S. 280.

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5. Die Gipfelperspektive lässt die Abgründe noch bedrohlicher erscheinen. Ist der Kontrast zwischen der sprachlich und historisch feinsinnigen Namensformung sowie dem bloßen Anhängen eines –us wie in der ersten Kategorie schon gewaltig, so lässt sich das Bemühen um humanistischen Schein noch steigern. Die bisherige qualitative Klimax wird am brutalsten von einer hilflos erscheinenden Lautmalerei gebrochen, die sich aus dem mit Unfähigkeit gepaarten Wunsch nach besonderer Exotik speist. So wandelte Kilian Prauß seinen Namen zunächst in Chilianus Clemens, um an anderer Stelle mit Praos in griechischen Lettern zu unterschreiben, was ebenfalls soviel wie „mild“ bedeutet und damit auf den eigenen Familiennamen zurückverweist16. Weit weniger Esprit verrät die ebenfalls griechisch gezeichnete Unterschrift Hilermos Hraisär, mit der Wilhelm Raiser in einem Brief an Erasmus dem Olymp näher zu kommen suchte. Michael Hummelberg unterfertigte schließlich einen Brief an Beatus Rhenanus mit ‘Ό σòς Μιχαήλ Ουμελβέργιος und tat damit das, wozu der Tegernseer Subprior Wolfgang Seidel im Jahr 1527 den sprachbeflissenen Ottobeurer Mönch Nikolaus Ellenbog ermuntert hatte: Falls die Griechischkenntnisse für die Kommunikation nicht hinreichten, solle er einfach griechische Zeichen benutzen. Die Absolution zur Mimikry war erteilt – und bei den selteneren Sprachen vielleicht unter Kundigen nicht so sehr verpönt wie das rein phonetische Latinisieren, selbst wenn die Produkte stammelnd klangen17. Mit dieser letzten Kategorie ist die Frage nach dem Wollen und Können solch onomastischer Kraftakte aufgeworfen, und mehr noch nach ihrem Sinn: Waren sie als Namenszuweisung ein humanistischer Ritterschlag oder doch eher Selbstaufwertung durch modischen Kopfputz? Die „Verleihung“ eines sogenannten Humanistennamens lässt sich gar nicht so oft beobachten, ein formaler Akt, vergleichbar etwa mit der Krönung zum poeta laureatus, war sie sicher nicht. Beiläufig erfolgte das Umtaufen von Nikolaus Ellenbog; mi Cubite – mein Ellenbog formulierte Reuchlin die Anrede, die der Mönch dankend für sich übernahm18. Das Verfahren, ein schmeichelndes Bonbon für den Adressaten, trägt im Kern modellhafte Züge. Es erfolgt, soweit die wenigen hier betrachteten Beispiele eine Generalisierung zulassen, aus einer hierarchischen Überhöhung heraus, ist eine Geste des humanistisch Arrivierten gegenüber dem Adepten. Wie das Erfüllen eines Briefwunsches hat dies eine huldvolle Komponente, die gleichwohl als Zeichen der Anerkennung und Inklusion in die Gemeinschaft der Gleichinteressierten gelesen werden kann. Freilich setzt dies gemeinsame Grundlagen der Wertschätzung voraus. Der Windesheimer Augustiner-Chorherr Rutger Sycamber erläutert 16 Briefwechsel Beatus Rhenanus, ed. Horawitz/ Hartfelder, S. 239. 17 Vgl. Briefwechsel Beatus Rhenanus, ed. Horawitz/Hartfelder, S. 253f., Nr. 183, hier S. 254; Ellenbog, Briefwechsel, ed. Bigelmair/Zoepfl, S. 218f., Nr. IV.59; dazu Müller: Habit und Habitus, S. 264–266. 18 Vgl. oben. Anm. 6.

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in seiner autobiographischen Historiola das ihm widerfahrene Vorgehen. Kein geringer als der in Humanistenkreisen lange Zeit geschätzte Sponheiner Abt Johannes Trithemius hatte ihm, der eigentlich nach seinem Geburtsort am Niederrhein Rutger de Venray genannt wurde, den Namen „der Sugambrer“ verliehen. Trithemius manifestierte damit seine historischen Kenntnisse, konkret: die Sugambrer kommen bei Cäsar vor und passen geographisch zum Gelderland19. Auch hier findet sich das angesprochene Gefälle, denn Trithemius war Adressat des Sycamberschen Bemühens um Anerkennung in Gelehrtenkreisen und zugleich dessen Türöffner, etwa im Hinblick auf die Kontaktanbahnung zu Konrad Celtis. Sycamber weiß zu berichten, dass der Sponheimer Abt offenbar häufiger antikisierende Namen für seine Korrespondenzpartner fand. Und er gewährt einen Blick auf den funktionalen Wert dieser Namen. Denn viele in seiner unmittelbaren Umgebung wüssten mit dem Beinamen (cognomen), so klagte er, nichts anzufangen. Sie hielten ihn für pompös, so dass sich der Kanoniker zur Erklärung genötigt sah. Sycamber, ein einsamer Meister des Sich-Mokierens über die ihm unverständig entgegentretende Welt, macht hier klar, dass sein Leben – wie das vieler – in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen verlief: hier der humanistisch begeisterte Gelehrtenzirkel mit seinen spezifische Themen und verbalen Sozialformen, dort die „Alltagscommunity“, für die nicht nur die gewitzten Anspielungen auf Antikenbildung geldrische Dörfer blieben. Was dieser Bezugsgruppe aufgeblasen scheinen und ohne Funktion bleiben musste, war in jener ein Teil des Codes, mit dem man sich gegenseitig zu erkennen gab und der zugleich als Ausweis der eigenen Versiertheit des Namensgebers in rebus humanisticis gelten konnte. Das Unverständnis und vielleicht sogar Unbehagen gegenüber dem Beinamen, das Sycamber in seiner autobiographischen Schrift artikuliert, ist das des Passiven, der das Attribut hinnehmen muss, dessen zumindest formale Identität von außen geschaffen wurde. Das ist wohl beileibe nicht der Regelfall – wir hätten deutlich weniger (und wohl auch andere!) solcher Namen, wenn diese vom Geistesblitz humanistischer Vorreiter abhängen würden. Die Mehrzahl geht doch wohl eher auf eine grob regelkonforme nominale Selbstidentifizierung zurück. Der Wunsch dazuzugehören war sicher stärker als die Geduld auf Auszeichnung zu warten. Außerdem behielt man so die Zügel in der eigenen Hand – selbst wenn diese zittrig war. Unter dieser Prämisse ist auch die Frage nach den Grenzen des Namensbrauchs zu stellen. Christine Treml hat treffend beobachtet, dass sozial höher stehende Figuren des Humanismus sich von solchen Übungen weitgehend fernhielten. Die Namens-

19 Vgl. dazu und zum Folgenden Rutgeri Sycambris Historiola rationis studii viteque, ed. Beriger: Windesheimer Klosterkultur, S. 120–220, hier S. 182.

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schöpfung scheint ihr ein Phänomen der sozialen Aufsteiger zu sein20. Konrad Peutinger und Willibald Pirckheimer standen ebenso unverschnörkelt abseits wie ein Ulrich von Hutten und ein Jakob Wimpfeling. Hier dürfte ein angehängtes -us in der Anrede schlicht die lautliche Passung in eine lateinselige Umgebung bedeuten; sich einen Namen zu machen, war für die Genannten offenbar unnötig. Aber könnte man sich den Eckius dedolatus ohne das lateinische Suffix lautlich vorstellen? Eckhard Bernstein geht noch weiter, wenn er den Humanistennamen analog zu den Gepflogenheiten des Namens- und Personenwechsels in der klösterlichen Welt als Merkmal der Absetzung von der geburtlichen Identität einstuft. Dahinter stünden die Ablegung der barbarischen Existenzform und die Initiation einer Lebensform. Die oft niedrige soziale Herkunft werde durch eine solche Formulierung der Zugehörigkeit zu einer neuen, leistungsbezogenen Nobilität überspielt, deren Gradmesser die ordentliche Beherrschung des Lateinischen gewesen sei21. Das mag für die Wertschätzung des Einzelnen in der Gruppe zutreffen, die von Konrad Mutian etwa programmatisch cohors latina genannt wurde. Eine solche Verfahrensweise setzt aber im Wesentlichen die Standardsetzung, Überprüfung und Verleihung eines Beinamens durch einzelne oder mehrere Humanisten im Sinne des Prädikats voraus. Eine solche Form der Objektivierung humanistischer Namensgebung erscheint im Licht der vorangegangenen Beobachtungen indessen recht konstruiert; die Selbstinszenierung auf unterschiedlichen Ebenen kommt zu kurz. Bedenkt man ferner, dass ein prominenter und nicht der Plebs entstammender Gelehrter wie Johannes Reuchlin durchaus den Namen Capnion verwendete, der ihm gleichwohl von anderen zugedacht scheint, dann wird der schwankende Boden deutlich, auf dem sich jeder Versuch bewegt, Regelmäßigkeiten zu formulieren. Dies scheint auch gar nicht nötig zu sein. Wer die Humanisten als eine intellektuelle Interessengemeinschaft begreift, die sozial lose gefügt war, ihre Mitglieder ständeübergreifend rekrutierte und die ohne feste professionelle Zugehörigkeiten auskam, der kann die Namensformungen als interne Signale der Gleichartigkeit werten, ohne sie zugleich als Bruch mit älteren sozialen Zugehörigkeiten zu interpretieren. Unübersehbar wurde ja mit Namen auch schlicht und ergreifend gespielt. Dabei war Witz gefragt, bisweilen eine Portion Frechheit, seltener eine bestimmte Bildungsrichtung. Der erwähnte Nikolaus Ellenbog /Cubitus beklagte den Verlust der von seinem Vater zusammengestellten Epitome platonischer Weisheiten. Entwendet hatte diese ein gewisser Mönch namens Johannes Guldin, der nun in dem Brief des zornigen Ellenbog vom – lateinisch richtigen – Aureus zunächst zum Plumbus mutierte und schließlich zum Stercorinus, weil er 20 Treml: Humanistische Gemeinschaftsbildung, S. 149–151. 21 Bernstein: Outsiders, S. 55.

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Harald Müller

zu schlechter Letzt aus dem Kloster geflohen war22. Mit Sprachmacht verballhornt wurde nach Kräften. Johannes Oecolampadius musste sich nach seinem Übertritt zum neuen Glauben als Caecolampadius verspotten lassen23. Wer vermag schließlich die Grenze zwischen bewusster Namensschöpfung und schlichter Anpassung an modische Verhaltensformen genau zu ziehen? Pacimontanus (Friedberger) nannte sich der Theologe Balthasar Hubmaier, ein Anführer der Wiedertäufer, in einem Brief an Beatus Rhenanus, weil er aus Friedberg stammte; als humanistisches Erkennungszeichen mag man das kaum werten24. Dennoch: Ihren Sinn erfüllten die neuen Namen zunächst im demonstrativ humanistischen Kontext. Für andere Kommunikationszusammenhänge konnten sie dagegen, wie Sycamber ausdrücklich betont, dysfunktional sein. Oder schlicht belanglos, wie etwa für die, die bei aller Begeisterung für die Antike in ihren Facetten mit dem sozialen Kapital ihres Geburtsnamens hier wie da bestens zurechtkamen und die sich schon gar nicht um der Mode willen der Peinlichkeit krampfhafter Identitätsbehauptungen aussetzen mochten. Damit ist neben einem ersten einordnenden Blick auf das Phänomen humanistischer Namensspielerei auch ein den Verfasser entlastender Schluss gefunden. Denn er muss den Jubilar nun nicht radebrechend mit einem Kunstnamen à la Galexstirpator oder Cassideconsiliarius versehen (sicher hätte dieser bessere Varianten in petto!), sondern kann ihn ganz gelassen unter den humanistischen Geburtsadel rechnen, der solcherlei Klimmzüge gar nicht bedarf.

Bibliographie Quellen Die Amerbachkorrespondenz [...], Bd. I: Die Briefe der Zeit Johann Amerbachs 1481–1513, ed. Alfred Hartmann, Basel 1942. Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues, Bd. II Lieferung 4: 1455 Juni 1 – 1456 Mai 31, ed. Johannes Helmrath/Thomas Woelki, Hamburg 2018. Briefwechsel des Beatus Rhenanus, ed. Adalbert Horawitz/Karl Hartfelder, Leipzig 1886 (ND Nieuwkoop 1966). Der Briefwechsel des Conradus Mutianus, Teil I–II, ed. Karl Gillert, Halle 1890 (Geschichtsquellen der Provinz Sachsen, 18). Johannes Reuchlin. Briefwechsel, Band II: 1506–1513, ed. Matthias Dall’Asta/Gerald Dörner, Stuttgart/Bad Cannstatt 2003. 22 Ellenbog, Briefwechsel, ed. Bigelmair/Zoepfl, S. 158f., Nr. III.45f. 23 Peutinger Briefwechsel, ed. König, S. 275. 24 Briefwechsel Beatus Rhenanus, ed. Horawitz/Hartfelder, S. 263, Nr. 192.

Machiavelli und das Problem einer Wiederbelebung der Antike

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