Einführung in die Soziologie [2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Reprint 2015] 9783486793123, 9783486241730

Grundlegende Lehrbucheinführung für Studienanfänger in den Sozialwissenschaften. Tauglich aber auch für Examensvorbereit

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German Pages 199 [200] Year 1997

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Table of contents :
I. DIE SOZIOLOGIE ALS ARENA ERKENNTNISTHEORETISCHEN STREITS
1. Ausblendung oder Einbeziehung des erkennenden Menschen
2. Theoretische Methoden der Soziologie
3. Definitionsversuch: Was ist Soziologie?
4. Anthropologische Grundlagen der Soziologie
a) Scheler, Plessner, Gehlen: Philosophische Anthropologie
b) Mensch-Tier-Vergleich I: Nesthocker
c) Mensch-Tier-Vergleich II: Plastizität
d) Mensch-Tier-Vergleich III: Institutionen
e) Rousseau: Urzustand der Gleichheit
f) Adam oder Tarzan?
g) Konsequenzen für die Soziologie: Anthropologisch bestimmte Grundbegriffe
5. Typen soziologischer Theorie
a) Funktionalismus
b) Kritische Theorie
c) Verstehende Soziologie
d) Theorie Symbolischer Interaktion
II. SOZIALPHILOSOPHIE UND VORGESCHICHTE DER SOZIOLOGIE
1. Saint-Simon (1760-1825)
2. Comte (1798-1857)
a) Person und Werk
b) Drei-Stadien-Gesetz nach Comte
3. Marx (1818-1883)
a) Person und Werk
b) Die Lehre des Karl Marx
4. Herbert Spencer (1820-1903)
III. GRÜNDER DER SOZIOLOGIE
1. Durkheim (1858-1917)
a) Person und Werk
b) De la division du travail social (1893)
c) Le suicide (1897)
d) Les formes élémentaires de la vie religieuse (1912)
2. Simmel (1858-1918)
a) Person und Werk
b) Die vier erkenntnistheoretischen Perspektiven
c) Simmels Thesen zur Kulturbedeutung der Askese
d) Die Umdeutung von beschreibenden zu heuristischen Theorien
e) Simmels Methode im Überblick
f) Der Fremde
g) Das Geheimnis
h) Das individuelle Gesetz
3. Max Weber (1864-1920)
a) Person und Werk
b) Der Objektivitätsaufsatz
c) Zur Konstruktion von Idealtypen
d) Mensch und Region im Kulturwandel
e) Fehldeutungen einzelner Arbeiten
f) Protestantismus und Kapitalismus
g) Das antike Judentum
h) Konfuzianismus und Taoismus
i) Rationalisierung, Entzauberung und Modernisierung
j) Sinnverlust durch Individualisierung
Anhang: Geburts- und Sterbejahr ausgewählter Soziologen und Philosophen
Literaturverzeichnis
Personen- und Sachregister
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Einführung in die Soziologie [2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Reprint 2015]
 9783486793123, 9783486241730

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Einfuhrung in die Soziologie Von Universitätsprofessor

Dr. Horst Jürgen Helle

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Helle, Horst Jürgen: Einfuhrung in die Soziologie / von Horst Jürgen Helle. - 2., Überarb. und erw. Aufl. - Münch« ; Wie« : Oldenbourg, 1997 ISBN 3-486-24173-7

© 1997 R. Oldenbourg Verlag Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-24173-7

Inhaltsverzeichnis

I. D I E S O Z I O L O G I E A L S A R E N A ERKENNTNISTHEORETISCHEN STREITS

1

1. Ausblendung oder Einbeziehung des erkennenden Menschen

1

2. Theoretische Methoden der Soziologie

5

3. Definitionsversuch: Was ist Soziologie?

10

4. Anthropologische Grundlagen der Soziologie

10

a) Scheler, Plessner, Gehlen: Philosophische Anthropologie

10

b) Mensch-Tier-Vergleich I: Nesthocker

11

c) Mensch-Tier-Vergleich II: Plastizität

11

d) Mensch-Tier-Vergleich III: Institutionen

12

e) Rousseau: Urzustand der Gleichheit

13

f) Adam oder Tarzan?

15

g) Konsequenzen für die Soziologie: Anthropologisch bestimmte Grundbegriffe

16

5. Typen soziologischer Theorie

18

a) Funktionalismus

18

b) Kritische Theorie

19

c) Verstehende Soziologie

20

d) Theorie Symbolischer Interaktion

21

II. S O Z I A L P H I L O S O P H I E U N D V O R G E S C H I C H T E DER SOZIOLOGIE

23

1. Saint-Simon (1760-1825)

23

2. Comte (1798-1857)

25

a) Person und Werk

25

b) Drei-Stadien-Gesetz nach Comte

32

aa) Erstes Unterstadium des theologischen Stadiums: Fetischismus

33

bb) Zweites Unterstadium des theologischen Stadiums: Polytheismus

35

cc) Drittes Unterstadium des theologischen Stadiums: Monotheismus

39

VI

Inhaltsverzeichnis

3. Marx (1818-1883)

42

a) Person und Werk

42

b) Die Lehre des Karl Marx

50

aa) Vorbemerkung

50

bb) Religionskritik

51

cc) Zur Judenfrage

53

dd) Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung

57

ee) Der Einfluß Hegels

60

4. Herbert Spencer (1820-1903)

68

III. G R Ü N D E R D E R S O Z I O L O G I E 1. Dürkheim (1858-1917) a) Person und Werk

75 75 75

b) De la division du travail social (1893)

77

c)Le suicide (1897)

83

d) Les formes elementaires de la vie religieuse (1912)

85

2. Simmel (1858-1918)

96

a) Person und Werk

96

b) Die vier erkenntnistheoretischen Perspektiven

103

aa) Pragmatismus

103

bb) Konstruktivismus

104

cc) Interaktionismus

106

dd) Evolutionismus

108

c) Simmeis Thesen zur Kulturbedeutung der Askese

109

d) Die Umdeutung von beschreibenden zu heuristischen Theorien

112

e) Simmeis Methode im Überblick

113

f) Der Fremde

115

g) Das Geheimnis

118

h) Das individuelle Gesetz

122

Inhaltsverzeichnis

3. Max Weber (1864-1920)

VII

124

a) Person und Werk

124

b) Der Objektivitätsaufsatz

125

aa) Weber wird Mitherausgeber des "Archivs"

125

bb) Erster Teil des Objektivitätsaufsatzes

127

cc) Zweiter Teil des Objektivitätsaufsatzes

132

c) Zur Konstruktion von Idealtypen

13 5

d) Mensch und Region im Kulturwandel

140

e) Fehldeutungen einzelner Arbeiten

144

aa) Rechts-, Wirtschafts-, Sozialgeschichte

144

bb) Ethik und Sekten des Kalvinismus

145

cc) Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen

147

dd) Wirtschaft und Gesellschaft

148

f) Protestantismus und Kapitalismus

150

g) Das antike Judentum

157

h) Konfiizianismus und Taoismus

159

i) Rationalisierung, Entzauberung und Modernisierung

166

j) Sinnverlust durch Individualisierung

171

Anhang: Geburts- und Sterbejahr ausgewählter Soziologen und Philosophen

177

Literaturverzeichnis

179

Personen- und Sachregister

189

I. Die Soziologie als Arena erkenntnistheoretischen Streits 1. Ausblendung oder Einbeziehung des erkennenden Menschen Man kann von dem Bemühen um wissenschaftliche Erkenntnis zwei Arten unterscheiden, und zwar danach, wie die Stellung des Menschen zu seinem Gegenstand gesehen wird. Vertreter der objektivistischen

Richtung betonen die Existenz dessen, was erkannt werden soll,

unabhängig von dem erkennenden Subjekt und richten große methodische Anstrengungen auf das Ziel, den Menschen, der erkennen will, möglichst weit zurückzunehmen und im Idealfall ganz aus der Betrachtung auszuschließen. Ihnen kann man Vertreter einer subjektivistischen Richtung gegenüberstellen, denen es im Gegenteil gerade auf das ankommt, was im Bewußtsein des Einzelnen seinen Sitz hat: für sie ist Erkenntnis eben das, was der Mensch erkannt hat und als sein persönliches Denken mit sich herumträgt. Im Alltag findet man vereinfachte Formen dieser beiden Arten des Bemühens um Erkenntnis etwa so: Nehmen wir an, eine Familie unternimmt einen Wochenendausflug, zu dem eine Luftpumpe mitgenommen werden soll. Da die Pumpe in der Garage vermutet wird, geht der Vater dorthin, um sie zu suchen. Nach einer Weile kehrt er an den Frühstückstisch zurück und meldet als Ergebnis: Ich habe die Pumpe nicht gesehen. Daraufhin durchsucht die Mutter die Garage und formuliert ihr Ergebnis so: Die Pumpe ist nicht in der Garage. Der Versuch, diese Feststellung anders zu formulieren, indem etwa ein Familienmitglied der Mutter entgegnet: "Du meinst, Du hast sie nicht gesehen", ist mit dem Risiko behaftet, daß die betreffende Mutter das als Zweifel an ihrer Erkenntnisfähigkeit deuten und entsprechend übel nehmen würde. Jedenfalls beweist die Mutter durch ihre Art, das Suchergebnis sprachlich festzuhalten, mehr Risikobereitschaft als der Vater. Sollte nämlich der Fall eintreten, daß eines der Kinder anschließend die Pumpe doch in der Garage aufspürt, dann kann man der Aussage des Vaters "ich habe sie nicht gesehen" weiterhin Glauben schenken; denn der Verdacht, er könne sie gesehen aber nicht als den gesuchten Gegenstand erkannt haben, kann bei Berücksichtigung einer durchschnittlichen Intelligenz und einigen guten Willens des Vaters abgewiesen werden. Dagegen ist die Aussage der Mutter unrettbar falsifiziert; denn sie hatte ja etwas behauptet, von dem sie selbst nun sieht, daß es unzutreffend war. In der Wissenschaft ist es ähnlich. Daß die beiden Richtungen bald die eine, bald die andere akademische Disziplin kennzeichnen, würden wir noch als einleuchtend akzeptieren: Von

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dem Astronomen erwartet man eine Beschreibung objektiver Meßdaten, die gänzlich unabhängig davon sind, wer gerade durchs Teleskop geschaut hat. Ein ganz persönliches von Begeisterung getragenes Engagement fur ein bestimmtes Gestirn würde, sobald es sich sprachlich artikulierte, aus der Astronomie heraus und in die Poesie fuhren. Andererseits wären die therapeutischen Erfolge eines Psychiaters äußerst gering, wenn er seinen Patienten nur vortrüge, wie die Dinge tatsächlich sind, ohne dabei ganz ernst zu nehmen, wie seine Patienten sie jeweils erleben. Wenn eine Person in einer Garage eine Luftpumpe gesehen hat, obwohl keine vorhanden ist, so ist das für den Psychiater ein wissenschaftlich ernstzunehmendes Datum, zumal wenn es dabei um gravierendere Erscheinungen geht, als Luftpumpen es sind. Für den Astronomen ist die vermeintliche Wahrnehmung von etwas nicht Vorhandenem nichts als ein Irrtum und eben kein verwertbares Datum. Uns geht es aber ja nicht um eine stark vereinfachte Gegenüberstellung von Astronomie und Psychiatrie, sondern um Soziologie, und das verwirrende an diesem Fach ist nun dies: Beide Richtungen, die objektivistische sowohl als auch die subjektivistische kommen darin vor. Das veranlaßt uns zu der Frage nach der Berechtigung jeder der beiden Positionen und nach der Berechtigung einer solchen offenbaren Inkonsequenz der Methode. Die Polarität soziologischer Methode mag eine Folge der Herkunft der Soziologie aus zwei ganz verschiedenartigen Quellen sein. Vorläufer und frühe Vertreter des Faches sind teils den Naturwissenschaften, teils der Theologie verpflichtet. Solange alle Wissenschaft Magd der Theologie war, solange die Phänomene der Natur als Manifestation des Wollens und Wirkens Gottes galten, mußte sich keine methodische Kluft zwischen den Disziplinen auftun. Die Soziologie entstand ja aber erst zu einer Zeit, als die Naturwissenschaften sich schon von der Theologie emanzipiert hatten. Ihre Gegenstände waren damit nicht mehr Hinweise auf einen Schöpfergott als Subjekt, sondern sie erfreuten sich seit der Aufklärung autonomer Objektivität. Sie mußten betrachtet werden als das, was sich bei Anschauung ihrer körperlichen Merkmale als unbestreitbar gegeben darbot. Die Sonne z.B. als von Menschen erkannte Wirklichkeit wandelte sich von einer Gottheit neben anderen (in den polytheistischen Religionen) zu einem aus dem Willen und Wirken des einen Gottes hervorgegangenen Ding und endlich zu einem Himmelskörper bestimmter Größe, auf dem ständig eine Fusion von Wasserstoffatomen zu Helium abläuft. Dabei hat sich die Sonne als Objekt natürlich nicht geändert, doch die Menschheit macht sich bald dieses, bald jenes Bild davon. Das bedeutet, daß es trotz der einen Dinglichkeit Sonne sehr unterschiedlich erlebte Wirklichkeiten Sonne gibt. Man kann dafür auch sagen: Wirklichkeit ist perspektivisch. Das bedeutet, daß uns etwas so oder anders als Wirklichkeit erscheint, je nachdem aus welcher Perspektive wir es betrachten. Dieses Verständnis von Wirklichkeit ist

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charakteristisch für die subjektivistische Richtung der soziologischen Methode und Theoriebildung. Die Botschaft, daß man zwischen verschiedenen Perspektiven die Wahl hat, ist keine willkommene Nachricht. Die meisten Menschen erwarten Eindeutigkeit und letzte Zuverlässigkeit der Erkenntnis. Eine Aussage, die darauf hinausläuft, jeder könne als Wirklichkeit ansehen, was ihm beliebt, hat daher eine geringe Chance, Beifall zu finden. Schnell wird der Vorwurf des Relativismus und Subjektivismus formuliert, wenn man darauf hinweist, daß Wirklichkeit perspektivisch sei. Die Religionen und die davon abhängigen oder unabhängig davon angebotenen ethischen Entwürfe suchen denn auch durchweg, Eindeutigkeit des Wirklichkeitsverständnisses auf verschiedenen Wegen herzustellen. Entweder wird eine Perspektive als die einzig legitime herausgestellt unter Hinweis darauf, daß sie die Sichtweise der Gottheit sei, oder - und das ist der Weg, der außerhalb der Religionen angepriesen wird es wird an die unvoreingenommene Einsichtsfähigkeit des Einzelnen appelliert, der im prüfenden Experiment in der Lage sei, die überperspektivische Realität unmittelbar zu erschließen. Diese oft recht intolerant ausgetragene Konfrontation hat eine alte Tradition. Etwa fünfzig Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung entsteht in Alexandria in Ägypten jener Teil des Alten Testaments der Bibel, den das griechische Original "Weisheit Salomos" nannte, und den moderne Bibelausgaben dann als "Das Buch der Weisheit" bezeichnen. Darin findet man gleich im zweiten Kapitel diese Konfrontation der Perspektive Gottes mit der Weltdeutung der Gottlosen, deren empirisch objektivistischer Charakter mit merkwürdig modern anmutenden Bildern herausgearbeitet wird. Die in dem Text sogenannten Gottlosen kommen mit einem langen wörtlichen Zitat, wie es scheint, selbst zu Wort, und zwar so: "Kurz und trübselig ist unser Leben; es gibt weder ein Heilmittel beim Ende des Menschen, noch ist der Retter aus dem Hades bekannt. Wir sind ja durch Zufall entstanden, und später werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Ist doch nur Dunst der Hauch in unserer Nase und das Denken nur ein Funke beim Schlag unseres Herzens. Erlischt er, so wird der Leib zur Asche, und der Geist verflüchtigt sich wie dünne Luft. Selbst unser Name wird mit der Zeit vergessen, und niemand gedenkt mehr unserer Werke. Unser Leben geht vorüber wie die Spur einer Wolke und löst sich auf wie ein Nebel, der von den Strahlen der Sonne verscheucht und von ihrer Wärme zu Boden gedrückt wird. Denn das Vorüberhuschen eines Schattens ist unsere Lebenszeit, und unser Ende wiederholt sich nicht, weil es besiegelt ist und keiner wiederkehrt. Wohlan denn! Laßt uns die augenblicklichen Güter genießen und eifrig die Welt ausnützen wie in der Jugendzeit. Kostbare Weine und Salben wollen wir in

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Fülle gebrauchen, und keine Frühlingsblume soll uns entgehen. Laßt uns mit knospenden Rosen bekränzen, ehe sie verwelken!" (Weish. 2, 1-8). Doch diese empirische Weltsicht, die man soweit noch gut nachvollziehen kann, ist erst der Vorhof der Gottlosigkeit. Die Perspektivelosigkeit bedingt den Zwang, allem durch Test und Probe auf den Grund zu gehen, und so gipfelt die den Gottlosen in den Mund gelegte Lebensweisheit, die eben Torheit fur die Gerechten ist, in der Forderung für den Umgang mit dem, der sich zu Gott bekennt: "Laßt uns einmal sehen, ob seine Reden wahr sind; machen wir die Probe, wie es mit ihm endet. Denn ist der Gerechte Gottes Sohn, so wird er sich seiner annehmen und ihn aus der Hand der Widersacher befreien" (2, 17-18). Diese Passage wird wieder aufgegriffen in der Beschreibung der Kreuzigung im Matthäus-Evangelium: "Da steige er jetzt herab vom Kreuz, dann wollen wir an ihn glauben!" (Mt. 27, 42). Nach dem Erkenntniskonzept der Religion wird also Wirklichkeitsdeutung gerade auch gegen den unmittelbaren Augenschein zugemutet und auferlegt. Doch diese radikale Verurteilung des Empirismus ist nur die eine Seite des religiösen Denkens, das bei der Entstehung der Soziologie Pate gestanden hat. Die andere kommt zum Ausdruck im Jakobusbrief: "Brüder, was nützt es, wenn einer sagt, er habe den Glauben, aber es fehlen die Werke"? (Jak. 2, 14). Hiernach muß es doch eine Form der empirischen Überprüfung geben, und zwar eine, die darauf abzielt, die Wirksamkeit des Denkens im Handeln zu testen. Diese erkenntnistheoretische Tendenz finden wir in der Soziologie unter der Bezeichnung Pragmatismus wieder. William James hat diese Bezeichnung zuerst in seinem Buch "The Varieties of Religious Experience" (James, 1925), das in erster Auflage im Juni 1902 erschien, seinem Kollegen in der amerikanischen Philosophie Charles Sanders Peirce zugeschrieben. Nach Peirce dient das Denken der Vorbereitung des Handelns. Schreibt man der Bemühung um Erkenntnisgewinnung keine andere Bedeutung zu als die, richtiges und sicheres Handeln zu ermöglichen, dann folgt daraus, daß Unterscheidungen und Nuancierungen, die für das Handeln wirkungslos bleiben, im Denken keinen Sinn haben. Der Sinn oder die Bedeutung (meaning) des Denkens ergibt sich somit als Antwort auf die Frage, welches Handeln es herbeizufuhren geeignet ist ("what conduct it is fitted to produce", ebd.: 444). Unabhängig von der Entwicklung des Pragmatismus in Nordamerika leisten in Deutschland Wilhelm Dilthey und Georg Simmel grundlegende erkenntnistheoretische Vorarbeiten für die Herausbildung einer soziologischen Theorie, die als Alternative zum Positivistischen Ansatz Bestand haben kann Wir werden das in dem Zusammenhang darstellen, in den es systema-

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tisch hinein gehört, und als subjektivistische Erkenntnistheorie oder als verstehenden Ansatz vorstellen.

2. Theoretische Methoden der Soziologie Die Soziologie ist eine Wissenschaft, sie ist ein Bereich geordneter und zuverlässiger Erkenntnis, die sich auf den Menschen als handelndes Wesen bezieht. Handeln nennt man das Tun eines Menschen, der seinem Verhalten einen bestimmten Sinn geben will. Die Soziologen studieren Vorgänge, Prozesse, die sich in dem Miteinander der Menschen ereignen. In diesen Prozessen begegnen die Menschen einander als einzelne oder als Gruppen. Individuen können sich zu sozialen Gebilden der unterschiedlichsten Art zusammenschließen. Es ist eine der Aufgaben der Soziologie, eine Typologie sozialer Gebilde zu erarbeiten, also verschiedene Arten sozialer Gebilde voneinander zu unterscheiden. Das kleinste soziale Gebilde ist das Paar, das ja nur zwei Individuen als Mitglieder hat. Manche Autoren bestreiten dem Paar die Qualität, soziales Gebilde zu sein, weil darin eine Person nicht durch eine andere ersetzt werden kann, ohne daß das Paar zu existieren aufhört. Beginnend also bei zwei oder drei Mitgliedern, je nachdem, ob man das Paar als soziales Gebilde gelten läßt oder nicht, schließt sich die Kleingruppe an, deren Obergrenze dort liegt, wo die einzelnen einander nicht mehr von Angesicht zu Angesicht kennen können. Da aber von einem sozialen Gebilde nur sinnvoll die Rede sein kann, solange es möglich ist, das Kriterium der Mitgliedschaft anzugeben, solange also in einem konkreten Fall klar entschieden werden kann, ob ein Einzelner Mitglied ist oder nicht, muß bei wachsender Mitgliederzahl die Möglichkeit bestehen, ein anderes Kriterium an die Stelle der persönlichen Bekanntschaft zu setzen: Das kann der kooperative Beitrag zu einer Leistung sein, die arbeitsteilig erbracht wird. Wenn Mitgliedschaft in dieser Weise durch arbeitsteilige Mitwirkung definiert ist, sprechen wir von einem sozialen Gebilde vom Typ der Organisation. Die Mitgliedschaft in einem sozialen Großgebilde kann aber auch definiert sein durch das Fürwahrhalten bestimmter Überzeugungen, Werte und Glaubenssätze. Kriterium der Mitgliedschaft ist dann das Bekenntnis im religiösen oder sozialphilosophisch-politischen Bereich. Nach dem englischen Wort 'collectivity' nennen wir diesen Typ Kollektiv. Alle am sozialen Geschehen beteiligten Subjekte wirken aufeinander ein: Individuen begegnen einzeln oder paarweise anderen Individuen. Kleingruppen können den Individuen Mitgliedschaften verleihen oder sie ihnen wieder entziehen, und soziale Großgebilde vom Typ der Organisation oder des Kollektivs können den Kleingruppen und, vermittelt durch sie, auch den einzelnen Menschen bestimmte Handlungsanweisungen auferlegen oder dem Leben

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solcher Menschen durch die Teilhabe an Überzeugungen und Glaubensaussagen eine bestimmte Richtung geben. Eine Unterscheidung der verschiedenen am sozialen Geschehen beteiligten Subjekttypen wird auch wichtig, wenn wir die Frage stellen, mit welchen Methoden die Soziologie arbeitet Als Erfahrungswissenschaft

muß sie ihre Erkenntnisse an der sozialen Wirklichkeit

überprüfen können. Ob aber der Soziologe einerseits die Wechselbeziehungen zwischen Individuen und das soziale Geschehen im Umkreis einer Kleingruppe untersuchen will, oder ob er andererseits soziale Großgebilde erforscht, stellt ihn vor ganz unterschiedliche Aufgaben bei der Sammlung von Informationen über den Erkenntnisgegenstand. Er kann Individuen und Kleingruppen unmittelbar beobachten, kann von den Gesprächen Tonbandaufzeichnungen und vom Verhalten Filmaufnahmen machen. Diese Techniken der unmittelbaren Datensammlung eignen sich also flir soziologische Forschungsvorhaben, die sich mit Fragestellungen der Familie, der Fußballmannschaft, des Streichquartetts, der Beatband oder der Paarbeziehung in Freundschaft und Ehe beschäftigen. Will der Soziologe jedoch die Wandlungen in der Klassenschichtung der Gesellschaft untersuchen, dann ist es viel schwieriger, zuverlässige Daten darüber zu sammeln, in welcher Weise Ungleichheit in der Gesellschaft strukturiert ist. Um uns über das hier angedeutete Problem schneller verständigen zu können, verwenden wir die Begriffe Mikrosoziologie fur den Bereich, in dem das soziale Geschehen photographiert und gefilmt werden kann, und Makrosoziologie für den Bereich der sozialen Großgebilde, in dem nur auf indirektem Wege Zugang zur sozialen Wirklichkeit gefunden werden kann. Aber ganz gleich, ob eine soziologische Aufgabenstellung im Bereich der Mikro- oder Makrosoziologie gelöst werden soll, immer steht das Bemühen um soziologische Erkenntnis in der Spannung zwischen der Erscheinung einer Sache und ihrem Wesen: Ich kann eine alte Frau vor dem Grabstein auf einem Friedhof photographieren und filmen. Ich kann mit großer Genauigkeit und unter Berücksichtigung aller methodischen Erfordernisse der empirischen Sozialforschung Daten über das Geschehen auf dem Friedhof zusammentragen, aber ich habe damit das Wesen des Friedhofsbesuchs der alten Frau nicht im Griff, denn die von mir oder jedem beliebigen anderen Forscher gesammelten Daten bedürfen der Interpretation oder Deutung: sie werden allein durch das Registrieren noch nicht verstanden. Wer eine humanistische Ausbildung auf dem Gymnasium hinter sich hat, ist vertraut mit dem Höhlengleichnis Piatons: Menschen sitzen gefesselt in einer Berghöhle mit dem Gesicht ins Innere der Höhle gewandt und schauen auf eine Wand der Höhle, gegen die durch den Höhleneingang von außen die Sonne scheint. Vor dem Eingang der Höhle tragen andere Menschen auf ihren Köpfen Gegenstände vorüber, und die Schatten dieser Gegenstände

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werden an der Wand im Inneren der Höhle für die Augen der dort gefesselten sichtbar. Ihren Augen erscheint der Schatten des Objekts, aber sie wissen, daß das nur ein Teil, nur ein schwacher Abglanz dessen ist, was in Wahrheit in dem Licht der Sonne vorübergetragen wird. Dieses Modell von der Spannungsbeziehung zwischen Erscheinen und Wesen hilft uns in der Soziologie ebenfalls: Zwar erscheint uns eine alte Frau an einem Grab. Das Wesen des Geschehens aber besteht darin, daß eine Sozialbeziehung zwischen einem lebenden und einem verstorbenen Menschen aktualisiert wird. Oder ein anderes Beispiel: Es erscheinen uns ein Mann und eine Frau, die im Takt rhythmisch die Glieder bewegen, aber das Wesen ist Ausdruck einer tief erlebten Gemeinsamkeit. Oder: Es erscheint uns ein ehrgeiziger Mann, der den beruflichen Aufstieg sucht und mehr Geld verdienen möchte, aber das Wesen seiner Bemühung ist die Hoffnung auf den Erwerb der Mitgliedschaft in einer ihm bedeutsam erscheinenden Gruppe von Menschen, die ihn bisher nicht als ihresgleichen anerkannt haben. In dieser Spannung zwischen Erscheinung und Wesen steht jede Soziologie die mehr sein will, als nur Verhaltensstatistik oder Markt- und Meinungsforschung. Besonders jene Richtung, die man als 'Verstehende Soziologie' bezeichnet, bemüht sich darum, das Wesen oder den Sinn der Erscheinungen zu erschließen. Über diese methodische Richtung schreibt Walter L. Bühl: "Das Grundaxiom jeder Verstehenden Soziologie ist, daß die handelnden Personen einen Sinn hinter ihrem Handeln sehen, daß dieser Sinn ihr Handeln bestimmt, oder zumindest mitbestimmt, und daß dieser Sinn daher auch in eine Erklärung von sozialen Phänomenen mit einzubeziehen ist" (Bühl, 1972: 15). Mit der Denkfigur von Sinn hinter dem Handeln wird ein charakteristisches Merkmal der Verstehenden Soziologie angesprochen: Die menschliche Handlung, die in der empirischen Forschung zu Daten objektiviert wird, stellt nur den Vordergrund, die Oberfläche der Wirklichkeit dar. Hinter ihr liegt in der Tiefe erst deren Sinn verborgen, den es verstehend zu erschließen gilt. In der Spannung dieser Polarität zwischen dem den Sinnen erscheinenden und als empirisches Faktum objektivierbaren einerseits und einem als dazugehörig unterstellten Sinngehalt als dessen Wesen andererseits muß jede soziologische Methode ihren Standort finden. Bei dieser Suche nach einem methodischen Standort sind drei verschiedene Wege denkbar, auf denen ein einigermaßen konsequentes Konzept erreicht werden kann: 1. Die Soziologie verzichtet darauf, Wesenheiten und Sinngehalte zu erfassen und konzentriert sich auf die objektivierbaren und meßbaren Erscheinungen. Dies ist der Weg des Positivismus. 2. Die Soziologie verzichtet darauf, empirische Daten zu erheben, weil die erschienene Wirklichkeit ohnehin zunichte werden muß, sei es beim Schall der Posaune, sei es bei der

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Errichtung eines weltlich-politischen Paradieses auf Erden. Sie konzentriert sich daher auf das dem Kundigen unmittelbar einsichtige Wesen. Dies ist der Weg der marxistischen Soziologie und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. 3. Die Soziologie stellt sich der Spannung zwischen Wesen und Erscheinung, verwirft die Wirklichkeit nicht, sondern deutet sie verstehend als Symbol ihres Wesens, das darin, wenngleich verborgen und vielfach verunstaltet, doch schon anwesend ist. Dies ist der Weg der Verstehenden Soziologie. Den drei Wegen entsprechen drei Schulen der Soziologie, deren Grundkonzept sich auf bedeutende Autoren zurückfuhren läßt: 1. Die positivistischen oder szientistischen Richtungen der Soziologie auf Auguste Comte, und später auf Karl Popper. 2. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule im Anschluß an Karl Marx auf Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. 3 Die Verstehende Soziologie auf Wilhelm Dilthey, Georg Simmel und Max Weber. In der Geschichte der Soziologie gelang die Grundlegung der Verstehenden Soziologie erst am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Entstehung der positivistischen und die der marxistischen Soziologie lagen zeitlich früher. Positivismus ist jene Erkenntnislehre, die - ganz unabhängig von den Sonderproblemen der Soziologie - positive Wissenschaften dadurch ermöglichen soll, daß sie die Reinigung des Erkenntnisprozesses von allen theologischen oder metaphysischen Elementen durchsetzt, also von allen Behauptungen, die sich nicht beweisen lassen. Den Reifegrad der Wissenschaft erkennt man nach Comte an dem Maß, in dem sie bereit ist, darauf zu verzichten, Ursprung und Bestimmung des Weltalls und das innere Wesen der Erscheinungen erkennen zu wollen. Durch solche weise Beschränkung kann der Positivismus sich konzentrieren auf die Entdeckung der Naturgesetze, die sich in den Erscheinungen selbst antreffen lassen. Erklärt ist eine Erscheinung dann, wenn ihre naturgesetzlich kausale Verknüpfung mit einer anderen Erscheinung als deren Ursache oder Wirkung aufgezeigt werden konnte. Der Erkenntnisprozeß spielt sich also nur auf der Ebene der Erscheinungen ab, sie analysierend, ihre Elemente zu Ketten von Ursachen und Wirkungen verknüpfend und dabei induktiv Gesetzmäßigkeiten entdeckend. Für die Marx'sche Soziologie ist es das Wesen der Gesellschaft, daß die Interessen des Individuums mit denen des Kollektivs identisch sind. Dieses Wesen verwirklicht sich darin, daß auch das Eigentum des Individuums mit dem des Kollektivs identisch wird und daß Herrschaft, Kontrolle und die Unterteilung der Bevölkerung in Klassen entfallen. Dieses als

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Glaubenswahrheit gewußte Wesen wird zur Quelle radikaler Kritik an den empirisch faßbaren Verhältnissen. Sie sind nichts als eine Summe von Ärgernissen, die alle miteinander verhindern, daß sich das Wesen der Gesellschaft verwirklichen kann. Wozu also die Erscheinungen empirisch mit aller Sorgfalt studieren? Ihre Widersprüchlichkeit und Verkehrtheit sind ohnedies hinlänglich bekannt! Wirklich mögen sie immerhin sein, doch Wahrheit haftet ihnen nicht an. So etwa argumentieren Repräsentanten dieser methodischen Position. Bei allen Verschiedenheiten und trotz der scharfen Polemik, die den Dialog zwischen positivistischer und Marx'scher Soziologie bis 1989 kennzeichnete, leiden doch beide Lager übereinstimmend an einem entscheidenden Mangel: Weder die eine noch die andere Richtung kann fur sich in Anspruch nehmen, das Problem der Gefährdung menschlicher Existenz durch ungesicherte Erkenntnis ausdrücklich bearbeitet zu haben (vgl. Kluth, 1970). Denn beide Schulen haben versagt, als es darauf ankam, der verwirrten Menschheit zuverlässige Handlungshilfen zu geben. Vertreter der Marx'schen Richtung werfen den positivistisch oder szientistisch arbeitenden Soziologen vor, nichts zu leisten als das Registrieren von schon vollzogenem Handeln. So sei es unmöglich, Orientierungsdaten für die Zukunft zu geben. Umgekehrt werfen die Positivisten und Szientisten den Marx'schen Soziologen vor, wissenschaftlich gesicherte Daten ersetzen zu wollen durch Glaubensaussagen, durch reine Fiktionen. Doch Glaubensaussagen, selbst wenn sie Wahrheitscharakter hätten, bringen dem Menschen keine Handlungssicherheit, solange sie nicht bezogen sind auf die Wirklichkeit, in der der Mensch sich jeweils befindet. Beide Lager also, sind gescheitert vor der Aufgabe, die zentrale Frage nach der Vergewisserung von Erkenntnissicherheit herauszuarbeiten. Indem sie sich in ihrer methodischen Arbeitsweise auf die Spannungsbeziehung zwischen Wesen und Erscheinung einstellen, beschreiten die Vertreter der Verstehenden Soziologie den schwierigeren Weg, weil sie wissen, daß sie nur so zu den sozialen Großgebilden des Makrobereichs, zu der 'Gesellschaft', zu den Schichten oder Klassen, zu den die ganze Bevölkerung durchziehenden Parteien und Verbänden Zugang finden können. Die Forschungsmethoden dagegen, die positivistisch und szientistisch ausgerichtete Soziologen bevorzugen, eignen sich eher für die Bearbeitung des Bereiches der Mikrosoziologie. Bei der Wahl seiner Methoden steht der Soziologe außerdem vor der Frage, ob er immer mit der Logik der rational zwingenden Abfolge von Ursache und Wirkung auskommt. Das dialektische Denken lehrt uns, daß häufig Ursachen auftreten, die nicht beabsichtigt waren und die sich nicht in linearer Verlängerung der bisherigen Trends ergeben haben. So kann in einer Liebesbeziehung ein Mann aus Furcht vor dem Verlust seiner Frau planmäßig eine Reihe vernünftiger Maßnahmen einleiten mit dem Ziel, die Beziehung dadurch zu festigen. Doch gerade das Planmäßige und Vernunftgemäße treibt womöglich seine Frau aus der

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Beziehung hinaus. Das Beispiel zeigt, daß mit der rationalen linearen Logik, die wir dem Aristoteles verdanken, nicht immer erfolgreich argumentiert werden kann, sondern daß dialektische Logik zur Deutung und Bewältigung mancher Vorgänge unentbehrlich ist.

3. Definitionsversuch: Was ist Soziologie? Wir werden eine Definition von Soziologie, die jeden befriedigt, nicht geben können. Dennoch ist mit allem Vorbehalt folgendes zu sagen: Die Soziologie ist eine Wissenschaft, die jenes Handeln des Menschen verständlich machen soll, durch das er sich zu wahrgenommenen oder vorgestellten Subjekten in Beziehung setzt. Solche Subjekte können sowohl sinnlich erfahrbare Individuen und Kleingruppen (Mikrobereich) als auch soziale Großgebilde (Makrobereich) sein, die als Organisationen oder Kollektive der Wirklichkeit durch soziale Definition angehören. Dem breiten Spektrum der Erkenntnisobjekte kann eine Vielfalt der Methoden entsprechen: ob der positivistische, der marxistische, der verstehende, oder ein anderer Ansatz gerechtfertigt ist und ob dabei jeweils die aristotelische oder die dialektische Logik angewandt werden soll, läßt sich nur relativ zu der zu bearbeitenden Fragestellung entscheiden: Die Wahl der Methode muß also mit Bezug auf die Forschungsaufgabe begründet sein.

4. Anthropologische Grundlagen der Soziologie

a) Scheler, Plessner, Gehlen: Philosophische Anthropologie Welche Soziologie jemand betreibt, hängt zusammen mit seiner Vorstellung davon, was der Mensch seinem Wesen nach sei. Welche Vorstellung man also vom Menschen hat, das wird einen ganz sicherlich dabei beeinflussen, welche Antworten man auf soziologische Fragestellungen geben wird. Die philosophische Anthropologie stellt innerhalb der Philosophie ein Wissensgebiet dar, das sich darum bemüht, Antworten zu finden auf die Frage nach dem Wesen des Menschen. Wichtige Vertreter dieses Wissensgebiets sind die philosophischen Anthropologen und Soziologen Max Scheler (1874-1928), Helmut Plessner (1892-1985), Arnold Gehlen (1904-1976) u.a.. Es wäre hier nicht angebracht, eine Einfuhrung in die philosophische Anthropologie zu versuchen. Im folgenden soll aber kurz angedeutet werden, wie man im Bereich dieses Faches argumentieren kann.

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b) Mensch-Tier-Vergleich I: Nesthocker Im Bereich der Philosophie, zu der die philosophische Anthropologie gehört, gibt es Gelehrte, die sich - wie Arnold Gehlen - als Empiriker bezeichnen. Sie tun das darum, weil sich ihre Überlegungen auf Tatsachen stützen, die jeder beobachten kann. Eine empirische Grundlage des Denkens ist die Biologie des Menschen. Der Mensch ist im Vergleich zu anderen Lebewesen gekennzeichnet durch eine lange Hilflosigkeit, die sich an seine Geburt anschließt. Der neugeborene Mensch ist zum selbständigen Leben unfähig. Er bedarf sowohl aus biologischen als auch aus sozialen Rücksichten der Zuwendung einer erwachsenen Bezugsperson, in der Regel der Mutter. Aufgrund der langen Hilflosigkeit des neugeborenen Kindes entsteht als elementare Sozialbeziehung auf Dauer die Mutter-Kind-Bindung. Sie wird in den verschiedenen Kulturen in unterschiedlicher Weise in Institutionen der Verwandtschaft eingebunden, es kann aber offensichtlich in keiner Kultur auf diese Elementarbindung verzichtet werden, sie ist gleichsam ein ins Mitmenschliche verlegter Uterus. Notwendig wurde sie biologisch, weil das große Gehirn des Menschen in einem Schädel von solcher Größe untergebracht sein mußte, daß die BeckenöfFnung der gebärenden Frau ihn nicht mehr hinauslassen könnte, falls der kritische Termin verpaßt wäre. Daher muß der neugeborene Mensch den biologischen Uterus schon verlassen, ehe er körperlich ausgereift ist. Das macht ihn zur konstitutionellen Frühgeburt, die den "sozialen Uterus" als Ausgleich fordert: Der Mensch kommt als "Nesthocker" zur Welt.

c) Mensch-Tier-Vergleich II: Plastizität Die Betrachtung des Menschen unter dem Gesichtspunkt seiner biologischen Ausstattung fuhrt deshalb innerhalb der philosophischen Anthropologie zu einem prinzipiellen Unterschied: Rein körperlich betrachtet ist der Mensch ungünstiger ausgestattet als das Tier. Arnold Gehlen kennzeichnet ihn als sinnesarm, waffenlos, nackt: und embryonisch (Gehlen, 1957: 8). Der Mensch befindet sich nicht nur bei seiner Geburt, sondern sogar lebenslänglich in einem biologischen Zustand, den das Tier nur als Embryo durchlebt, ehe sich die spezialisierten Organe herausbilden: die Zähne des Hundes, die Krallen der Katze, das Fell des Eisbären usw. Jede Tierart ist typisch für ihre spezielle Umwelt ausgestattet, in der sie mit ihrer biologischen Ausrüstung überleben kann. Der Mensch dagegen ist der lebenslängliche Embryo, der mit seiner biologischen Ausrüstung allein in keiner Umwelt leben könnte. Während die Lebenstüchtigkeit des Tieres auf dem Prinzip von Darwins "survival of the fittest" beruht, also auf Anpassung der Art durch Auswahl der am besten der Umwelt entsprechenden Einzelwesen, kann der Mensch sich nicht

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der Umwelt, sondern er muß die Umwelt sich anpassen, muß sich die Erde Untertan machen. Dabei ist mit Umwelt die natürliche, physische Umwelt gemeint, nicht zunächst die soziale, mitmenschliche. Arnold Gehlen schreibt, da es für den Menschen keine artspezifische Umwelt gebe, müsse er die vorgefundene Natur intelligent verändern (ebd.). Was ihm an spezialisierten Organen fehlt, muß er ersetzen durch Erfindungen, das Fell durch Kleidung, die Krallen durch Handwerkszeuge, die Hufe durch Schuhe usw. Darauf beruht sein "Plastizität" als Anpassungsfähigkeit gegenüber der physischen Umwelt. Doch mit einem harten Schuh kann der Mensch sowohl gut laufen, als auch seinem Nächsten einen schmerzhaften Tritt versetzen. Mit dem Hammer kann er sowohl handwerklich etwas Segensreiches schaffen, als auch seinem Nächsten den Schädel einschlagen. Da er mit Faustkeil und Atomkraft, schon seit er darüber verfugte, sowohl Gutes als auch Böses hat verrichten können, muß ihm gesagt und von außen nahegebracht werden, was gut und was böse ist. Nicht nur muß also der Mensch die Erde durch seine Erfindungen sich unterwerfen, sondern er muß außerdem auch wissen, was gut und was böse ist, um handeln zu können. Er trägt nach diesem Menschenbild der philosophischen Anthropologie die Kriterien fur Gut und Böse nicht von Geburt an in seinem Inneren bei sich, sondern er ist darauf angewiesen, daß ihm die Kriterien durch liebevolle Zuwendung im Wege der Sozialisation von außen - aus der Gesellschaft her - mitgegeben werden. Demnach müssen alle Eltern und Erzieher einer jeden neuen Generation immer wieder die Weitergabe des Bewußtseins für Gut und Böse als Wertvermittlung vollziehen. Als Resultat solcher liebevollen Zuwendung kann freilich dann im Einzelnen ein Gewissen gebildet werden, das ihn fortan von seiner sozialen Umwelt einigermaßen unabhängig macht.

d) Mensch-Tier-Vergleich III: Institutionen Das frei in der Natur lebende Tier verhält sich aus seinem Inneren heraus so, wie es seiner Art gemäß nützlich ist. Sein Verhalten ist instinktgesteuert. Diese Instinktsteuerung gibt dem Tun des in freier Wildbahn lebenden und noch nicht durch Domestikation degenerierten Tieres ein hohes Maß an Sicherheit, läßt dem Tier aber andererseits auch keinen Spielraum für Entscheidungsfreiheit. Darum kann man bei dem instinktgesteuerten Tier auch nicht von Gut und Böse sprechen: Wenn ein entsprungener Löwe seinen Zoodirektor frißt, so ist das zwar eine menschliche Tragödie, aber kein schuldhaftes Handeln eines Tieres. Das Tier lebt Jenseits von Gut und Böse, es kann nicht handeln, sondern nur sich verhalten, einen Sündenfall gibt es in seiner Entwicklungsgeschichte nicht.

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Dem Menschen dagegen fehlen handlungssteuemde Instinktmechanismen fast gänzlich. Dadurch ist seine Existenz einerseits befreit, andererseits außerordentlich gefährdet. So ist er existentiell angewiesen auf die Vermittlung von Moralität durch sie tragende Institutionen. Denn weil der Mensch in Ermangelung einer ausreichenden Instinktsteuerung biologisch in die Lage versetzt ist, aus einer Vielzahl von Verhaltensalternativen auswählen zu können und zu müssen, würde er handlungsunfähig, wenn ihm nicht eine Moral von außen nahegelegt würde, aufgrund derer er Entscheidungen treffen kann. Dies ist eine Skizze der anthropologischen Position von der Erlösungsbedürftigkeit des Individuums durch die Institutionen der Gesellschaft, oder kurz, die Anthropologie des Adam. Ihr soll nun das Menschenbild des Tarzan gegenübergestellt werden.

e) Rousseau: Urzustand der Gleichheit Eine radikal andere Position als die Vertreter der philosophischen Anthropologie bezieht Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) in seinem Discours von 1754 "Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen". Rousseau geht von einem Urzustand aus, in dem er sich vorstellt, daß alle Menschen gleich gewesen seien. Entgegen der Meinung des Aristoteles, der die Ungleichheit der Menschen für naturgegeben hielt, schreibt Rousseau: "Es ist tatsächlich nicht schwer zu beweisen, daß viele Unterschiede der Menschen fur natürlich erachtet werden, obwohl sie doch eigentlich nur von den Gewohnheiten und den verschiedenen Lebensarten herrühren, welche die Menschen in der Gesellschaft angenommen haben. Ein starkes oder zartes Gemüt und die Kraft oder Schwäche, welche sich daraus ergeben, sind häufig mehr einer harten oder weichlichen Erziehung als der unterschiedlichen ursprünglichen Körperbeschaffenheit zuzuschreiben. Mit den geistigen Kräften verhält es sich ebenso" (Rousseau, 1955: 82). In diesem Zitat sieht Rousseau die Ursachen fur die Ungleichheit unter den Menschen gerade nicht in der Natur, wie Aristoteles das tat, sondern in der Gesellschaft. Damit wird die Ungleichheit dem politischen Handeln des Menschen zugänglich und folglich veränderbar. Durch seine negative Einstellung zur Gesellschaft und zu der nach seiner Meinung daraus entspringenden Ungleichheit und durch seine romantisch-utopische Bewunderung fur einen gedachten Urzustand hat sich Rousseau als Wegbereiter revolutionären Denkens qualifiziert. Er schreibt an einer anderen Stelle des genannten Discours:

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"Jedem muß es einleuchten, daß die Fesseln der Knechtschaft erst infolge der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen und ihrer jeweiligen Bedürfnisse entstehen konnten... Der Mensch wurde böse, als er gesellig wurde" (ebd.: 84). Für den Urzustand, den er sich vor der Entstehung der Gesellschaft denkt, entwirft Rousseau das folgende Bild: "Nichts ist so friedlich wie der Mensch in seinem ursprünglichen Zustande; denn die Natur hat ihn vor dem Stumpfsinn der Tiere und vor den schädlichen Erkenntnissen des gesitteten Menschen in gleicher Weise bewahrt... Durch das natürliche Mitleid wird der wilde Mensch davon abgehalten, einem anderen Schaden zuzufügen, wenn er nicht dazu gereizt wird..." (ebd.: 94). Diese Überlegungen faßt Rousseau zusammen, indem er schreibt: "Aus alledem kann man schließen, daß der wilde Mensch, der in den Wäldern umherirrte, wenigen Leidenschaften unterworfen war. Er kannte keinen Beruf, keine Sprache, keinen Wohnsitz, keinen Krieg. Er hatte keinerlei Verbindung zu seinesgleichen, ja er kannte vielleicht den anderen nicht einmal. So war er auch ohne Verlangen, anderen Schaden zuzufügen. Er hatte an sich selbst genug" (ebd.: 81 ). Rousseau hat mit diesen Passagen gleichsam schon die Skizze für das Drehbuch zu einem Tarzan-Film gezeichnet Der Tarzan, den das Fernsehen und die Comic-Hefte seit Jahrzehnten unter die Jugend verbreitet haben, entspricht recht genau dem edlen Wilden des Rousseau. Mit der informellen Erziehung zur Annahme des Menschenbildes, das darin suggeriert wird, wird an Elternhaus und Schule vorbei unbemerkt manche schwerwiegende Vorentscheidung für spätere Grundhaltungen junger Menschen getroffen. Auf das Menschenbild des Tarzan, der in paradiesischer Unschuld sich ohne Sündenfall von Baum zu Baum schwingt und dabei lustvoll einen Urschrei ausstößt, paßt kein christliches Menschen- und Gesellschaftsbild. Der Sündenfall ereignet sich in der Theorie Rousseaus durch die Gründung der bürgerlichen Gesellschaft als Abfall von der Natur. Die berühmte Stelle heißt dort: "Der Erste, der ein Stück Land umzäunte und auf den Einfalt kam zu sagen, dies gehört mir, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Welche Verbrechen, wieviele Kriege, Morde und Greuel, wieviel Elend

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hätte dem menschlichen Geschlecht erspart bleiben können, wenn einer die Pfähle ausgerissen, den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: 'Glaubet diesen Betrügern nicht, ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen, der Boden aber niemandem gehört!'" (ebd.: 86). Marx hat das sehr wahrscheinlich gelesen!

f) Adam oder Tarzan? Die Frage nach dem Wesen des Menschen spitzt sich also auf zwei kontroverse Positionen zu: Die eine sieht den Menschen als diffuses Potential, das erst durch soziale Zuwendung und durch Sozialisation in die Gesellschaft hinein zur Verwirklichung gefuhrt werden kann. Das Gegenbild dieser Anthropologie geht von einem von Natur aus guten Menschen aus, der durch den Kontakt mit einer verderbten Gesellschaft erst böse wird. Rousseau und die Vertreter der in seiner Tradition stehenden emanzipatorisehen Anthropologie meinen, das natürliche Individuum sei aus sich selbst heraus gut, und wenn man nur die unmenschliche Kultur und Gesellschaft von ihm fernhalten könnte, würde es in ungetrübter Güte und Reinheit sein Leben verbringen. Die beiden kontroversen Positionen unterscheiden sich auch in der Frage, wie die Trennungslinie zwischen Mensch und Tierreich zu beurteilen sei: Die Position, der zufolge der Mensch durch liebevolle Zuwendung von der Gesellschaft aus erst zum Menschsein erlöst sein muß, wie der mit Erbschuld belastete biblische Adam, unterstellt eine qualitative Trennung zwischen Mensch und Tier. Das bedeutet, daß zwischen Mensch und Tier kein gleitender Übergang, sondern eine scharfe Trennungslinie gesehen werden muß. Die emanzipatorische Anthropologie in der Tradition Rousseaus unterstellt dagegen einen quantitativ abgestuften Übergang zwischen Tierreich und Mensch. Ganz ähnlich, wie es bei dem instinktgesteuerten Tier sinnlos ist, von Bosheit und Schuld zu sprechen, wird auch fur den der Emanzipation zugänglichen aber noch nicht emanzipierten Menschen alle Bosheit und Schuld fortgenommen: Alle Schuld wird hinausdefiniert aus dem Individuum in den Bereich der sozialen Verhältnisse und der vorrevolutionären Institutionen, aus denen alles Böse stammt. Auf dem Boden dieses emanzipatorischer Menschenbildes sind Superman, Tarzan, und andere Gestalten entstanden, lauter Männer, die keine Eltern haben, denen sie zu Dank verpflichtet wären, die in keine Schule gegangen sind, wo sie etwas hätten lernen müssen. Sie, Tarzan, Batman, Superman und die anderen Götter der Comic-Welt sind in Wahrheit nicht Menschen, sie sind Übermenschen, wie es der Name Superman zum Ausdruck bringt. Alle

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diese Gestalten tauchen als Einzelgänger in der Gesellschaft auf. Sie sind die ganz anderen, die grenzenlos überlegenen, die in die vorfindbaren Gesellschaften einzufügen undenkbar ist. Die konkreten Gesellschaften müßten also von der Erde verschwinden, um Raum zu geben für den neuen Menschen. Er wäre dann ein Übermensch unter Übermenschen und lebte so als Gleicher unter Gleichen.

g) Konsequenzen für die Soziologie: Anthropologisch bestimmte Grundbegriffe Die philosophische Anthropologie Arnold Gehlens, Helmut Plessners und Max Schelers unterscheidet Mensch und Tier nach der unterschiedlichen Verhaltenssteuerung. Das Tier, das in seiner natürlichen Umgebung lebt, ist mit Instinkten in solch ausreichendem Maße ausgestattet, daß die Existenz des einzelnen Lebewesens selbst sowie die Fortpflanzung der Art durch instinktgesteuertes und daher gesichertes Verhalten gewährleistet ist. Im Unterschied zum Tier sind beim Menschen die Instinkte so stark reduziert, daß nur noch dumpfe Impulse übrigbleiben, die ihn nicht lenken, in einer bestimmten Weise sich zu verhalten, sondern ihn nur dazu antreiben, irgend etwas zu tun. Diese Instinktreduktion macht den Menschen einerseits frei dafür, aus einer großen Zahl von Verhaltensalternativen auszuwählen und dies oder jenes zu unternehmen, es gefährdet ihn aber andererseits auch, weil es von ihm die Fähigkeit fordert, sich entscheiden zu können. Viele Menschen leiden heute unter einer krankhaften Angst, sich entscheiden zu müssen (Partnerwahl, Berufswahl etc.) In der philosophischen Anthropologie, die Arnold Gehlen formuliert hat, wird zur Handlungs- und Entscheidungserleichterung die lebenswichtige Bedeutung kulturell-gesellschaftlicher Institutionen hervorgehoben. Das Vakuum im Mechanismus der Verhaltenssteuerung, das bei dem Menschen durch die Reduktion der Instinkte entstanden ist, muß ausgefüllt werden durch kulturelle Regelungen, durch die der Mensch sich in seinem Handeln steuern lassen kann. Nicht kulturell gesteuertes und in diesem Sinne wertunabhängiges Herumprobieren bringt nicht nur Beliebigkeit des Verhaltens, sondern auch die Gefahr der Selbstvernichtung des Menschen mit sich. Auch läßt sich bei Abwesenheit eines gesellschaftlich-kulturellen Handlungszusammenhangs im zwischenmenschlichen Kontakt das Verhalten des Gegenüber nicht mehr deuten, geschweige denn vorhersagen. So kann man auf vielfältige Weise bewußt machen, daß die Freiheit des Menschen für ihn zugleich Chance und Bedrohung ist. Soziales Handeln, d.h. gemeinsames Handeln mehrerer Menschen miteinander, wird erst möglich, wenn Vorkehrungen dafür getroffen worden sind, daß die Gleichartigkeit und die

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Gleichzeitigkeit solchen Handelns in bestimmter Weise erreicht werden können. Dazu müssen die Menschen sich verabreden, müssen Konventionen schaffen, müssen Institutionen einrichten. Sie werden darauf angewiesen, Handlungsziele, die nicht beweisbar sind, als Werte zu setzen und einander immer wieder davon zu überzeugen, daß diese Werte gut sind und daß ihr Befolgen im Handeln einen Menschen zu einem guten Menschen macht und ihr Außerachtlassen einen Menschen schuldig werden läßt. Durch die Herstellung eines Konsenses, der in dieser Weise gedacht werden kann, schließen Menschen sich zu einer Bekenntnisgruppe oder einem Kollektiv zusammen. Um nun in einem sozialen Großgebilde gemeinschaftlich bestimmte Sollensvorstellungen, die wir Werte nennen, in einer gegebenen Situation verwirklichen zu können, (etwa als Nomadenvolk, das durch die Wüste zieht oder als Industriegesellschaft, die sich in wachsenden Großstädten ausbreitet) bedarf es fur das Verhalten und Handeln der Menschen bestimmter sozialer Normen, die sich rechtfertigen durch Bezugnahme sowohl auf die Werte als auch auf die Situation. Solche sozialen Normen sind Regeln, Vorschriften, Sitten, Gesetze und Bräuche, die sich zu Normensystemen verbinden lassen. Die durch die Instinktreduktion im Vergleich zum Tier gewonnene Freiheit des Menschen wird also durch die Konventionen über Werte und Normen weitgehend wieder zurückgenommen. In diesem Widerspruch zwischen der im Menschen angelegte Freiheit einerseits und deren Zurücknahme durch Kultur und Gesellschaft andererseits liegt die Tragik menschlicher Existenz, die in der Kunst immer wieder zum Thema gemacht worden ist. Ein Mensch, der diesen Zusammenhang nicht durchreflektieren kann oder will, weil seine Denkfähigkeiten so weit nicht reichen oder weil ihm die Ergebnisse solchen Denkens nicht in sein politisches Konzept passen, der wird kurzschlüssig die Normierung des Handelns als Freiheitsberaubung betrachten und ablehnen. Jede Unterwerfung unter sozial definierte Handlungsnormen bereitet Unbehagen und enthält die Provokation zur Auflehnung in sich. Darum ist es verständlich, daß zu jeder sozialen Norm auch eine soziale Sanktion gehört. Unter Sanktionen versteht der Soziologe Belohnungen oder Bestrafungen, durch die die Einhaltung sozialer Normen erreicht werden soll. Lebt z.B. jemand in einem gesellschaftlichen Handlungskontext, in dem die Einehe normiert ist, dann kann er nicht mit mehreren Personen Sexualbeziehungen unterhalten, ohne soziale Sanktionen befurchten zu müssen. Alles Normieren von Verhalten, alles Ordnen in soziale Strukturen hinein ist restriktiv. Hier scheiden sich nun auch die Geister, dies sind die Argumente, die eher konservative Soziologen von eher emanzipatorischen Soziologen trennen. Während die konservativen Denker den Wert der Institutionalisierung so hoch ansetzen, daß sie vor einer radikalen Verminderung institutioneller Regelung Furcht haben und mit einer solchen Vorstellung den Rück-

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gang der Kultur verbinden würden, sehen die Vertreter einer emanzipatorischen Theorie in den bestehenden Institutionen mindestens die Gefahr der Freiheitsberaubung des Menschen, seiner Einengung und der Verselbständigung der Normen gegenüber den Zielen und Werten, denen sie ursprünglich haben dienen sollen. Beides sind wertende Einstellungen zu einer bestehenden Gesellschaft, und wie richtig oder falsch sie sind, läßt sich sicher nicht abstrakt beantworten, sondern nur konkret bezogen auf bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse. Theodor W. Adorno (1903-1969) hat 1965 in einer Rundfunkdiskussion mit Arnold Gehlen (1904-1976) diese Fragen ausfuhrlich untersucht (Adorno, Gehlen, 1974).

5. Typen soziologischer Theorie Drei dominante Theorietypen, die wir aus Abschnitt 1.2. zum Teil schon kennen, werden hier vorgestellt: Funktionalismus, Kritische Theorie und Verstehende Soziologie. Funktionalistische Theoretiker sehen Gesellschaften als Systeme zusammenhängender Teile. Sie versuchen herauszufinden, wie diese Teile miteinander verbunden sind und zusammenwirken. In der Kritischen Theorie erscheinen die sozialen Verhältnisse oft unvernünftig und deswegen "unwirklich". Die existierenden Zustände werden dann auf der Grundlage von vorgestellten Zuständen kritisiert, die jene möglicherweise ersetzen können. Für Soziologen der Verstehenden Soziologie ist Theorie ein Mittel, um eine Gesellschaft zu deuten, und nicht um sie zu beschreiben oder zu kritisieren. Dieser Theorieansatz, ähnlich dem der Theorie der symbolischen Interaktion, interpretiert Tatsachen als Symbolträger, die Bedeutungen haben und übermitteln.

a) Funktionalismus Vertreter der als Funktionalismus bekannten Theorierichtung betrachten soziale Organisationen als Systeme, die aus in Wechselwirkung stehenden Teilen zusammengesetzt sind. Man versucht, nach dem Modell des biologischen Organismus soziale Funktionen zu bestimmen als das, was die einzelnen Teile füreinander oder fur das System als ganzes kontinuierlich beisteuern. In Terminologie und Theorie beabsichtigt der Funktionalismus, soziale Realität wie in den Naturwissenschaften zu beschreiben: Die Theorie des Sonnensystems soll darstellen, wie die Sonne und die Planeten um sie herum zusammen funktionieren, ohne nach einer möglichen "Bedeutung" von Sonne und Planeten zu fragen. Der Funktionalist versucht auch, jene Aspekte der Gesellschaft zu erkennen, die Konflikt reduzieren, denn Konflikt wird hier ganz anders als in der Konflikttheorie - als störend für das reibungslose Funktionieren des

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Systems angesehen. In diesem Sinne zeigte Emile Dürkheim (1858-1917), daß Religion durch Konfliktreduktion zu sozialem Zusammenhalt beiträgt, indem sie gemeinsame Ansichten und Praktiken fördert, die Menschen in einer moralischen Gemeinschaft vereinen (Dürkheim, 1981a). Dürkheim, Talcott Parsons (1902-1979) und Niklas Luhmann (*1927) sind die bekanntesten Vertreter des Funktionalismus. Sie teilen ein Bild von Gesellschaft als Organismus, in dem Herz, Lunge und die anderen Organe alle ihre jeweiligen Funktionen erfüllen müssen; sonst könnte der Organismus als Ganzes nicht überleben. Erkannte und beabsichtigte soziale Funktionen werden manifeste Funktionen genannt. Zum Beispiel hat die Bestrafung von Kriminellen für Dürkheim die manifeste Funktion, Kriminalität zu reduzieren. Latente Funktionen sind solche, die unter der Oberfläche liegen und von den meisten Mitgliedern der Gesellschaft weder erkannt noch gewünscht werden (Merton, 1967: 117). Die Bestrafung von Kriminellen hat zusätzlich die latente Funktion, die Solidarität der gesetzestreuen Gemeinschaft zu stärken. Die Perspektive des Funktionalismus berücksichtigt auch Systemteile, die nicht zusammenpassen, und allgemein Kräfte, die ein System stören - mit anderen Worten: seine Dysfunktionen.

b) Kritische Theorie Im Gegensatz zum Funktionalismus sieht die Kritische Theorie als wichtigsten Aspekt sozialer Organisation das ihr innewohnende Potential für ihren Wandel an. Konflikte sind dabei willkommene Energiequellen für den Umbau der Gesellschaft, und diesem Ansatz verwandte Theorien werden auch als Konflikttheorie bezeichnet. Indem die Vertreter dieses Theorietyps die Gesellschaft, wie sie sein könnte, mit der Gesellschaft, wie sie gegenwärtig tatsächlich ist, kontrastieren, nehmen sie eine kritische Position den gegebenen Tatsachen gegenüber ein. In der Tradition von Marx bezieht sich Kritische Theorie über wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung hinaus auch auf die politische Arena und Fragen sozialer Ethik. Vertreter dieser Richtung glauben, daß Sozialtheorie dazu dienen sollte, ausbeuterische soziale Strukturen aufzudecken und die Menschen von Unterdrückung zu befreien. Die Kritische Theorie hat ihren Ursprung in Frankfürt am Main in den späten 1920er Jahren; daher auch die häufige Bezeichnung als Frankfurter Schule. Ihre theoretische Perspektive wurde von einer eng zusammenarbeitenden Gruppe von Neomarxisten unter der Leitung von Max Horkheimer (1895-1973) entwickelt. Einer der wichtigsten Denker der Gruppe war Theodor W. Adorno (1903-1969). In den späten 50er Jahren begann Jürgen Habermas (*1929) seine Arbeit in der Tradition der Kritischen Theorie. Er glaubt, daß die Menschen

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durch "kommunikatives Handeln" (Habermas, 1981) von Unterdrückung befreit werden können. Sein Ideal ist eine Gesellschaft, in der Menschen beliebiger sozialer Herkunft herrschaftsfrei miteinander kommunizieren und ihre Differenzen durch Argumentation ausgleichen, die frei von äußeren Einschränkungen und Zwang ist. Die Niederschlagung des "Prager Frühlings" - der ein Versuch gewesen war, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen - mit militärischer Gewalt im Jahr 1968 hatte großen Einfluß auf Habermas' Orientierung: Er wandte sich allmählich ab von der Kritischen Theorie. Kritische Theoretiker in den USA sind von Habermas beeinflußt worden, aber neigten dazu, seinen Meinungswandel zu ignorieren. Sie konzentrieren sich auf bestimmte Fälle von Ausbeutung und Konflikt innerhalb von Gesellschaften. Sie befassen sich mit Themen wie der Konzentration industrieller Macht und institutionalisiertem Rassismus in den USA, den gewohnheitsmäßig anerkannten Praktiken in Beschäftigung, Erziehung und Religion, die rassische Diskriminierung faktisch ein Stück weit aufrechterhielten, wenn auch oft unbeabsichtigt.

c) Verstehende Soziologie Die Verstehende Soziologie gründet in den Schriften von Wilhelm Dilthey (1833-1911) und Georg Simmel (1858-1918). Beide Autoren blieben eng der Philosophie verhaftet und konzentrierten sich auf die methodologischen Grundlagen. Der Wissenschaftler, der ihre Erkenntnisse dann auf die Soziologie angewandt hat, war Max Weber (1864-1920). Heute wird er als Hauptrepräsentant dieser Perspektive angesehen. In seiner Religionssoziologie verglich Weber die Religionen und Wirtschaftssysteme verschiedener Gesellschaften. Seine Theorie besagte, daß der puritanisch-kalvinistische Protestantismus förderlich war fur die Entstehung des Kapitalismus, weil er traditional-christliche Sichtweisen (Katholizismus, Orthodoxie) ablöste, die die Verleugnung bzw. den heilsgefährdenden Charakter (es geht leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel gelangt,) weltlicher Güter für das Streben nach der Erlösung verkündeten (Weber, 1904b). In der Verstehenden Soziologie wird soziale Realität als so unendlich komplex angesehen, daß sie in einer Theorie nicht einmal annähernd vollständig und umfassend abgebildet werden kann. Stattdessen kann eine gute Theorie daran erkannt werden, wieviele neue und wichtige Erkenntnisse sie ermöglicht. Max Weber schlug die Konstruktion von Idealtypen vor. Ein Beispiel ist sein Idealtyp der Bürokratie. Er ist nicht ideal im Sinne, eine "gute Sache" zu sein; Weber sieht Bürokratien als bedrohlich und im besten Falle als notwendiges Übel. Er konstruiert ein theoretisches Modell einer rationalen Bürokratie ohne innere Wider-

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sprüche und Redundanzen. Dieses erfundene Modell kann mit realen Bürokratien, wie wir sie in der Gesellschaft antreffen, verglichen werden. Oder dasselbe Modell kann verglichen werden mit historischen Bürokratien, wie der des alten China. Auf diese Weise dient der Idealtyp wie von Weber konzipiert als Hilfsmittel für vergleichende Untersuchungen In der Verstehenden Soziologie werden soziale Objekte als symbolische Träger von Bedeutung aufgefaßt. Dieser Ansatz ist nützlich, wenn man es mit Symbolen wie der Fahne eines Staates zu tun hat. Es wäre unsinnig, die Fahne bloß als ein Stück Stoff mit bestimmten Farben und Mustern anzusehen. In der Perspektive der Verstehenden Soziologie ist sie ein Symbol, dem bestimmte Gruppen von Personen eine Bedeutung beimessen, was wiederum ihr Verhalten beeinflußt.

d) Theorie Symbolischer Interaktion Als Dilthey und Simmel die Grundlagen fur die Verstehende Soziologie in Deutschland schufen, entwickelte William James (1842-1910) in den USA einen ähnlichen Ansatz: den Pragmatismus. Er stellt die theoretische Methode zur Verfugung, auf welcher die Theorie der Symbolischen Interaktion aufbaut. Symbolische Interaktionisten konzentrieren sich auf soziale Prozesse, das Individuum steht im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen (Blumer, 1969b; Helle, 1992) Sie glauben, daß im Zentrum sozialer Realität das aktive Individuum steht, das versucht, soziale Situationen zu verstehen und ihnen Bedeutung zu geben. Individuen reagieren auf die soziale Welt je nachdem, wie ihre eigenen Akte und die Akte anderer interpretiert werden. Erfahrung gewinnt Bedeutung (das heißt, ihren symbolischen Charakter) durch Interaktion. Zum Beispiel kann dasselbe Geschenk als eine freundschaftliche Geste oder als Bestechung interpretiert werden. Die Theorie der Symbolischen Interaktion lenkt die Aufmerksamkeit auf personenzentrierte Prozesse, welche innerhalb größerer Einheiten der Gesellschaft ablaufen Sie legt es nahe, Verhalten im Kontext einer spezifischen Situation zu untersuchen. Dabei werden qualitative Erhebungsverfahren wie die Methoden der Fallstudie und der teilnehmenden Beobachtung bevorzugt.

II. Sozialphilosophie und Vorgeschichte der Soziologie 1. Saint-Simon (1760-1825) Selbstverständlich kann man die Soziologie und ihre Entstehung nicht dadurch erklären, daß man behauptet, die Gegenstände, mit denen Soziologen sich wissenschaftlich beschäftigen, seien etwa erst im 18. oder 19. Jahrhundert entstanden. Gesellschaften, Staaten, Familien, soziale Beziehungen und all die anderen Themen soziologischer Fragestellungen sind so alt wie die Menschheit selbst, wenn sich auch ohne Frage ihre Form gewandelt hat. Neu ist also nicht, daß die Gegenstände soziologischer Überlegungen als Dinge entstehen, sondern daß diese Gegenstände als Denkinhalte zu Problemen werden. Jahrhundertelang hat die Menschheit Erscheinungen wie das Zusammenleben in der Familie und im politischen Gemeinwesen als gottgewollt, naturgegeben oder als in anderer Weise selbstverständlich hingenommen und nicht hinterfragt. Erst durch die geistige Revolution des Denkens seit der Aufklärung, durch die politischen Veränderungen nach der Französischen Revolution und schließlich durch die ökonomische Umwälzung der Industrialisierung werden die Phänomene des Zwischenmenschlichen in Frage gestellt, und damit wird das Soziale dem Menschen zu einem Problem, an dem er leidet. Bei den Philosophen und Sozialphilosophen, die soziologisches Denken vorbereitet haben, wird die Gesellschaft im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zum erstenmal als ein Objekt gedeutet, das von Menschen gemacht worden ist. Wenn aber die Gesellschaft Produkt menschlichen Handelns ist, dann müßte sie sich doch auch durch menschliches Handeln verändern lassen. So wie der Mensch gelernt hat, durch Anwendung der Naturwissenschaften die Natur verändernd zu beeinflussen, so erkennt er nun die Chance, über die Entwicklung einer auf Gesellschaft gerichteten Wissenschaft planmäßig verändernd in soziale Zusammenhänge einzugreifen. Claude Henri (Graf) Saint-Simon, geboren 1760 und gestorben 1825, gilt als einer der großen Vorbereiter soziologischen Denkens (Emge, 1987). Seine Hauptwerke "Catechisme des industriels" (1823/24) und "Nouveau Christianisme" (1825) haben auf eine Reihe von frühen Soziologen großen Einfluß gehabt. Auch hatte er zahlreiche Schüler, die seine religiösen und sozialistischen Ideen übernahmen, vor allem auch dadurch, daß sie sich als Saint-Simonisten

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zusammenschlossen. Der geistige Vater dieser wissenschaftlich-sozialistischen Sekte erkannte schon früh die Bedeutung der Arbeiterfrage, die sich aus der Industrialisierung ergab. Saint-Simon strebte eine klassenlose Gesellschaft an, aber im Gegensatz zu Karl Marx wollte er sie mit den Mitteln der Volksaufklärung und durch eine sittlich-religiöse Erneuerung des Menschen herbeiführen. Vorreiter dieser neuen klassenlosen Sozialordnung war in den Vorstellungen Saint-Simons das gebildete Bürgertum, dem die Aufgabe zufiel, eine solche neue Ordnung zu verwirklichen. Der französische Soziologe Georges Gurvitch vertritt die These, daß Karl Marx von SaintSimon beeinflußt gewesen sei. Für diese These spricht die Tatsache, daß Marx' Schwiegervater, der Graf von Westphalen, ein Kenner der Schriften Saint-Simons gewesen ist und daß Marx von ihm angeregt wurde, Shakespeare und griechische Tragiker zu lesen. Wenn es zutrifft, daß Marx den Anregungen seines Schwiegervaters folgend Shakespeare und griechische Tragiker gelesen hat, dann liegt die Vermutung nicht fern, daß er seinen Anregungen folgend auch Saint-Simon gelesen haben könnte. Marx kann also schon sehr früh, das heißt vor seinem Jurastudium in Bonn, durch diese Vermittlung mit den Ideen Saint-Simons in Berührung gekommen sein. Während man einen Einfluß Saint-Simons auf Marx nur vermuten kann, steht der Einfluß Saint-Simons auf Comte unzweifelhaft fest, da Comte der Privatsekretär Saint-Simons war. Die Tatsache, daß Auguste Comte niemals Saint-Simon zitiert, beweist nur den merkwürdigen Charakter Comtes. Er neigte zu Überheblichkeit und Arroganz und hat dadurch im Laufe seines Lebens immer mehr zu seiner eigenen Vereinsamung beigetragen. Wichtig für das Verständnis Saint-Simons und dann auch Comtes ist es zu wissen, daß Saint-Simon während der Schreckensherrschaft des Wohlfahrtsausschusses des Robespierre als Adliger eingekerkert wurde. Von 1793 bis zum Sturz Robespierres, am 27. Juli 1794, wurde er in Haft gehalten und mußte ständig befurchten, hingerichtet zu werden. Diese sehr vitale Erfahrung hat wohl Saint-Simon und dann auch Comte dazu motiviert, ein Ende der Revolution durch wissenschaftliche Methoden herbeifuhren zu wollen. Zu den Bewunderern Saint-Simons gehörten in England John Stuart Mill und in Schottland Thomas Carlyle. Umgekehrt hat auf Saint-Simon Sir Isaac Newton (1643-1727) großen Einfluß gehabt. Der Gedanke der Suche nach Universalgesetzen, der den Bauernsohn Newton das Gravitationsgesetz und andere Grundgesetze der Mechanik finden läßt, fasziniert Saint-Simon so sehr, daß er sich 1803 als Newtonianer bekennt. Im Gefolge dieses Bekenntnisses taucht der Gedanke einer newtonischen Religion mit einem Wissenschaftler als Papst auf.

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Saint-Simon entwickelt so etwas wie eine Sozialphysiologie. Jedes soziale System ist die Objektivation der Weltanschauung oder Religion der betreffenden Epoche. Saint-Simon glaubt an einen zyklischen Wechsel zwischen organischen und kritischen Perioden. Von der Reformation bis zur Französischen Revolution sei die Gesellschaft von Klassenkämpfen zerrissen worden, nun sei mit Hilfe der positiven Wissenschaft und einer neuen Moralität, die er sich vom "Nouveau Christianisme" erhofft, eine rationale Industriegesellschaft aufzurichten. Die Emanzipation des Bürgertums hätte schon aus der Französischen Revolution unmittelbar die Industriegesellschaft gebären müssen, doch unglücklicherweise wurde die Revolution von den Metaphysikern mit ihren verführerischen Theorien verraten. Die Grundlage der Industriegesellschaft besteht bei Saint-Simon in drei Dingen, erstens Wissen, zweitens zentrale Planung und drittens Freude an Kooperation. Es ist fur die Geschichte der Entwicklung sozialwissenschaftlichen Denkens bedeutsam, daß Saint-Simon schon im Jahre 1803 in seiner Analyse der Gesellschaft drei Klassen unterscheidet, die er die Besitzenden, die Besitzlosen und die Wissenschaftler nennt. Eine Klassenherrschaft konnte er nicht voraussagen, weil nach seiner Meinung niemals eine Klasse, sondern immer nur eine gebildete Elite die Herrschaft ausüben würde. Er sah die Arbeitsteilung als die Basis für eine organische Gesellschaft an. Hier ist ein Einfluß auf Dürkheim unverkennbar. Die Entwicklung gehe dahin, meint Saint-Simon, daß persönliche Macht immer mehr durch technisches Wissen abgelöst werde. So werde die Industriegesellschaft nicht auf Herrschaft über Menschen, sondern auf der Verwaltung von Sachen beruhen. Daneben hält Saint-Simon aber die These aufrecht, daß jede Epoche ihre eigene Religion nötig habe. Unter den Menschen unterscheidet er zwei Motivations- oder Antriebstypen, den emotiven und den rationalen. Der rationale Mensch wird die Verwaltung der Sachen vorantreiben, der emotive wird die neue Religion entwickeln.

2. Comte (1798-1857)

a) Person und Werk Von dem Grafen Saint-Simon wurde gesagt, daß er die Menschen in zwei Motivations- oder Antriebstypen unterscheide, den Emotiven und den Rationalen. Der rationale Mensch wird nach den Erwartungen Saint-Simons die Verwaltung der Sachen vorantreiben, der emotive Mensch wird die neue Religion entwickeln. Von diesen angeblich vorhandenen beiden Seiten

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des Menschen nimmt Auguste Comte (1798 - 1857) zunächst die rationale Seite auf. Karl Joel schreibt 1934 (in Band II seiner Arbeit. Wandlungen der Weltanschauung. Eine Philosophiegeschichte der Geschichtsphilosophie) über den Positivismus, der mit dem Namen Auguste Comte eng verbunden ist: "Der Positivismus beginnt sehr streng und ernst mit Wissenschaft, Erfahrung, Gesetz und Allgemeinheit und endet mit Gefühl, Sympathie, Hingabe, Demut, Unterordnung und Disziplin" (zitiert nach von Kempski in: Blaschke, 1974: IX). Comte hieß mit Vornamen Isidore Auguste Marie Francois-Xavier. Er wurde am 19. Januar 1798 in Montpellier geboren. Aus Briefen seiner Mutter und seiner Schwester ergibt sich, daß Isidore sein Rufname war. Erst als er im Juli 1819 seinen ersten Artikel veröffentlicht, nennt er sich selbst Auguste. Er stammt aus einer streng katholischen kleinbürgerlichen Familie. Sein Vater war Finanzbeamter und wünschte sich sehnlichst, daß sein Sohn in den höheren Verwaltungsdienst eintreten würde. Dazu schienen die Voraussetzungen besonders günstig, als der Sechzehnjährige sich für die Ecole Royale Polytechnique qualifizierte. Diese Hochschule war vorübergehend eine "Königliche" geworden. Aber sie war von der Republik gegründet und weiterhin von republikanischem Geist beherrscht. Sie diente vor allem der Ausbildung von Mathematikern und Ingenieuren, (vgl. Jürgen von Kempski, ebd.: XI). Die Naturwissenschaften und die Physik dominierte daher in dem Ausbildungsprogramm. Im April 1816 wird Comte mit vierzehn anderen Schülern aus der Schule hinausgeworfen, nachdem es um einen Repetitor einen Streit gegeben hatte. Unmittelbar danach wird die ganze Schule von der Regierung aufgelöst, weil sie in dem Ruf stand, Republikanismus und Gottlosigkeit unter den Schülern zu fördern (ebd.: Xlf). Nach diesen ersten aufregenden Jugenderfahrungen wird Comte im Jahre darauf, nämlich im August 1817, Sekretär des Grafen Saint-Simon. Später bleibt er dessen freier Mitarbeiter, bis es zwischen den beiden im Jahre 1824 zum Streit und zum endgültigen Bruch kommt. Saint-Simon stirbt 1825. Comte war fasziniert von dem Gedanken, ein einheitliches System aller Wissenschaften zu schaffen und darin auch den Sozialwissenschaften (später unter dem von ihm erfundenen Namen Soziologie) einen systematischen, plausiblen Platz zuzuweisen. Das Wort Soziologie ist eine unschöne Zusammensetzung aus dem lateinischen Wortteil socius und dem griechischen logos. Comte schuf dieses Kunstwort als Ersatz für seine frühere Bezeichnung physique social, soziale Physik, eine Formel, mit der er zunächst, wie Saint-Simon, an das große Vorbild des Physikers Newton anknüpfen wollte. Doch dann veröffentlichte der aus Genf stammende Astronom und Sozialstatistiker Queielet eine Schrift mit genau diesem Titel: physique social, die sich mit mathematischer Sozialstatistik befaßte. Damit war nun etwas ganz anderes gemeint als das, was Comte beabsichtigte. Um ärgerlichen Verwechslungen mit Quetelet aus dem Wege zu gehen, entschloß Comte sich, seine Bezeichnung physique

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social fallen zu lassen und statt dessen das Wort Soziologie zu erfinden, das wir bis heute benutzen. Aber Comte gilt nicht nur wegen dieser Wortschöpfung als einer der ersten Soziologen. Seine Erkenntnisabsicht war schon ausdrücklich auf die Gesellschaft gerichtet. Er sah die Soziologie als eine Wissenschaft an, die es ermöglichen sollte, planmäßig verändernd in soziale Zusammenhänge einzugreifen. Neben seinem Interesse fur das Sollen der Gesellschaft widmete Comte seine Erkenntnisabsicht ausdrücklich auch dem gesellschaftlichen Sein. Seine Intention war es, wie Newton in der Natur, so in der Gesellschaft nach universell gültigen Gesetzen zu suchen. Obwohl er im Bereich der Sozialphilosophie ohne Frage viel von Saint-Simon gelernt hat, zitiert er ihn an keiner Stelle. Statt dessen betrachtet Comte schon bald sich selbst als einen Universalgelehrten und plant ein umfassendes Werk unter dem Titel "Cours de philosophie positive". Dieses Werk schreibt er in den Jahren 1830 bis 1842 nieder und läßt es in sechs Bänden erscheinen. Dabei enthalten die letzten drei Bände seine Soziologie im engeren Sinne. Als Vorbereitung auf die Niederschrift dieses gewaltigen Werkes hatte er 1826 damit begonnen, "vor einem ausgewählten Kreis die Reihe von Vorträgen zu halten" (von Kempski in: Blaschke, 1974: XV) aus denen dann die genannten sechs Bände seines Hauptwerkes entstanden. Er hatte sich mit äußerster Kraft und Anstrengung über lange Zeit hinweg vorbereitet. Nach der vierten Vorlesung mußte er jedoch diese Vortragsreihe wegen Krankheit unterbrechen. "Er hatte alle Lektüre aufgegeben, da sie seine Gedanken störte. Diesen hing er die Nächte durch nach, durch starken Kaffee wachgehalten. Er war inzwischen eine Verbindung eingegangen mit der illegitimen Tochter einer Schauspielerin, die, unter Kontrolle, sich nicht des besten Rufes erfreute. Er glaubte Grund zu Eifersucht zu haben, er hatte schließlich geheiratet, sich auch kirchlich trauen lassen. Ein Tobsuchtsanfall brachte ihn fur einige Zeit ins Irrenhaus, doch bald der Pflege seiner Frau übergeben, rammte er nur noch gelegentlich ein Messer in den Tisch, Homer deklamierend. 1829 konnte er seine Vorlesungen wieder aufnehmen und zu Ende fuhren, sechzig an der Zahl. Seit der Julirevolution hatte Comte sein Auskommen, er gab Mathematikstunden und wirkte als Repetitor an der wieder eröffneten Ecole Polytechnique. 1842, nach Abschluß des 'Cours', trennte er sich von seiner 'unwürdigen' Gattin" (ebd.). In dem systematischen Zusammenhang der Wissenschaften, in seinem "Cours" fehlte die Politik. Eine programmatische Schrift über die positive Politik war aber schon 1822 von ihm verfaßt worden. Sie wurde später neu aufgelegt und sollte so etwas wie eine gesellschaftswissenschaftliche Ingenieurwissenschaft darstellen. Die positive Politik Comtes läuft überra-

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schenderweise auf eine neue Form der Religion hinaus und wird damit dem ursprünglichen Ansatz des Positivismus in merkwürdiger Weise untreu. Comte gilt als Begründer des sozialwissenschaftlichen Positivismus. Dabei taucht das Adjektiv positiv schon in den Titeln seiner wichtigsten Schriften auf. Es hat für ihn eine doppelte Bedeutung. Einmal knüpft es an die Überlegung an, die Comte selbst so formuliert: "Wir geben es auf, den Ursprung und die Bestimmung des Weltalls zu ermitteln..." (Comte in: Blaschke, 1974: 2). Anstatt dort zu fragen, wo zuverlässige Antworten nicht zu erwarten sind, wo also die Bemühungen immer wieder negativ verlaufen müssen, wendet sich Comte dorthin, wo er aus der Kombination von Vernunft und Beobachtung Gesetze zu gewinnen hofft, wo er als gelernter Physiker mit positiven Resultaten rechnet. Sodann sieht er zweitens das Wort "positiv" als Gegensatz zu der bisherigen "negativen" Metaphysik. Die von Comte mit besonderer Abscheu bekämpfte Metaphysik ist für ihn die Basis der konstitutionellen Monarchie, einer sozialen Mißbildung, wie er meint, der er nicht nur die Schuld dafür gibt, daß er aus der Schule geworfen und seine Schule aufgelöst worden war, sondern die er von der undurchsichtigen Klasse der Literaten und Advokaten beherrscht glaubt. An die Stelle der verhaßten Metaphysik will Comte das Licht der positiven Wissenschaft setzen, das Licht der Vernunft, das zur Grundlage wird für die Regierung jener neuen Volksklasse, die die Gesellschaft der Zukunft führen wird: der Klasse der selbständigen Unternehmer. An der Spitze der von Comte erhofften Zukunftsgesellschaft wird ein Führungskollektiv aus den drei größten Bankiers der Nation stehen. „Positiv" ist im Falle des Positivismus nicht in seiner eingebürgerten, umgangssprachlichen Bedeutung von gut, im Gegenteil zu „negativ" (schlecht) zu verstehen. Um das Wort in diesem Zusammenhang zu erklären, muß man vielmehr auf die lateinische Grundform „ponere" zurückgreifen, was soviel bedeutet wie: legen, setzen, stellen. Positiv bedeutet also vorliegend, (voraus) gesetzt. Der Positivist geht demnach von den Dingen aus, die gegeben sind und wendet sich gegen jede Deutung und Ideologie. Durch Abkehr von Ideologie und Optimismus kann ein „Positivist" also durchaus „negativ" denken. Comte säkularisierte den katholischen christlichen Glauben, in dem er erzogen worden war, durch Substitution der kirchlichen Dogmen: sie werden in seinem Denken ersetzt durch areligiöse aber gleichfalls dogmatische für unwandelbar gehaltene Vorstellungsinhalte. Eine funktional äquivalente Stellung, wie sie die kirchlichen Dogmen im Denken mancher religiöser Menschen innehaben, nehmen bei Comte die Naturgesetze, nimmt der "ordre universel" ein. Daher findet man bei ihm den Menschen in der Spannung zwischen der äußeren Ordnung der Natur und der verinnerlichten Ordnung menschlicher Existenz.

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Im sechsten Kapitel des zweiten Bandes seines "Systeme de politique positive" (1852) entwirft Comte zunächst eine positive Theorie des sozialen Seins, wie sie sich dem Priester des Positivismus darstellt. Er unterscheidet drei Ebenen sozialen Seins, die moralische, die intellektuelle und die aktive. Nachdem er in dem Abschnitt über die moralische Existenz die große Bedeutung der Familie und insbesondere der Frau hervorgehoben hat, wendet Comte sich dem intellektuellen Sein zu. Er ordnet die intellektuelle Form des Seins der Moralischen unter. Dies Verhältnis sieht er vom Standpunkt der Erziehung aus und betrachtet die moralische Bildung der Familie als Voraussetzung und Vorbereitung für die allgemeine intellektuelle Erziehung. Über die Ordnung menschlichen Seins dominiert für Comte die Ordnung der Naturgesetze des Universums. Dem Menschen bleibt daher kein angemessener Weg als der, sich in handelnder Unterwerfung dieser zweifachen Fatalität zu fugen. Comte bringt übrigens gegenüber dem Intellekt erhebliches Mißtrauen zum Ausdruck. Der auf sich allein gestellte Intellekt würde sich in zusammenhangslosen Abstraktionen verlieren, wenn der Mensch nicht durch seine Erziehung so disponiert wäre, daß er die Ziele den Mitteln überordnet. Darum darf uns nach Comtes Überzeugung der formende Einfluß der Priester des Intellekts (damit meint er Studienräte und Hochschullehrer) erst treffen, nachdem wir dem mütterlichen weiblichen Einfluß hinreichend lang und intensiv genug ausgesetzt gewesen sind. Um eine positive Ordnung des Seins zu erreichen, strebt Comte eine Überordnung des Herzens über den Verstand an und fordert daher, daß in der Erziehung die Konfrontation mit den Moralgesetzen der mit den Naturgesetzen vorausgehe. Zwischen beiden liegt eine dritte Gesetzesebene, die der Denkgesetze. Aufgabe der Denkgesetze ist es, die beiden anderen Gesetzesebenen zu systematisieren und aufeinander zu beziehen. Der Einfluß Kants (1724-1804), besonders dessen Schrift "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", Riga 1785, einem Werk im Übergang von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der praktischen Vernunft, auf Comte wird hier recht deutlich. Um zu illustrieren, daß Comte ein Stück weit mit Kant übereinstimmt, folgt aus der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" von Kant eine längere Passage: "Die alte griechische Philosophie teilte sich in drei Wissenschaften ab: die Physik, die Ethik und die Logik. Diese Einteilung ist der Natur der Sache vollkommen angemessen, und man hat an ihr nichts zu verbessern, als etwa nur das Prinzip derselben hinzuzutun, um sich auf solche Art teils ihrer Vollständigkeit zu versichern, teils die notwendigen Unterabteilungen richtig bestimmen zu können." Nach einem Absatz schreibt Kant weiter: "Alle Vernunfterkenntnis ist entweder material und betrachtet irgendein Objekt; oder formal und beschäftigt sich bloß mit der Form des

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Verstandes und der Vernunft selbst und den allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt, ohne Unterschied der Objekte. Die formale Philosophie heißt Logik, die materiale aber, welche es mit bestimmten Gegenständen und den Gesetzen zu tun hat, denen sie unterworfen sind, ist wiederum zwiefach. Denn diese Gesetze sind entweder Gesetze der Natur oder der Freiheit. Die Wissenschaft von der ersten heißt Physik, die der anderen ist Ethik; jene wird auch Naturlehre, diese Sittenlehre genannt." Von der Logik sagt Kant, daß sie keinen empirischen Teil haben könne, weil ihr Gegenstand das Denken des Menschen selbst sei. Doch Physik und Ethik werden beide empirisch betrieben, und dazu schreibt er: "Dagegen können sowohl die natürliche als sittliche Weltweisheit jede ihren empirischen Teil haben, weil jene der Natur als einem Gegenstande der Erfahrung, diese aber dem Willen des Menschen, sofern er durch die Natur affiziert wird, ihre Gesetze bestimmen muß, die erstem zwar als Gesetze, nach denen alles geschieht, die zweiten als solche, nach denen alles geschehen soll, aber doch auch mit Erwägung der Bedingungen, unter denen es öfters nicht geschieht" (Kant, 1785). An diesem Text interessiert uns die Zweiteilung der empirischen Wissenschaften in Physik einerseits und Ethik andererseits, oder, wie Kant auch schreibt, in die natürliche und die sittliche Weltweisheit. Bei Comte entspricht dem die Gegenüberstellung von Naturgesetzen und Moralgesetzen. Der Logik, die nach Kant keinen empirischen Teil haben kann, entsprechen bei Comte die Denkgesetze. Natur und Moral sind Schicksal des Menschen, sie sind sein verdoppeltes Fatum. Der Priester des Positivismus schafft die intellektuelle Ordnung in einen Prozeß, in dessen Verlauf er das Wissen fortwährend den beiden vorgegebenen Fatalitäten, der der Natur und der der Gesellschaft, anpaßt, indem er die Widersprüche zwischen äußerer und innerer Ordnung ausgleicht. Solche Widersprüche sind dennoch stets vorhanden und werden im Bewußtsein des Menschen als Spannungen zwischen Sollen und Sein wirksam. Comte weiß, daß diese Spannungen die Quelle von allerlei Unbehagen, ja daß sie Anlaß zu revolutionären Massenbewegungen sein können. Da aber die Beendigung der Revolution eines seiner wichtigsten Ziele ist, muß er eine Auflösung des Widerspruches anstreben. Comte fordert, daß das Bewußtsein die äußere Ordnung im Inneren des Individuums getreu wiedergeben solle. Die Unterordnung der subjektiven Inspiration unter die objektiven Impressionen sei notwendig und kann geradezu als Kernstück des Methodenprogramms des Positivismus gewertet werden. Durch die Unterordnung des Bewußtseins unter das naturgesetzliche Sein hofft Comte, unwandelbare Ergebnisse, ewig gültige Gesetze zu finden. Wenn das gelingt, dann endlich kann das Bewußtsein wieder - wie im dogmatischen Denken - un-

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angefochten über alles Handeln herrschend sich erheben Dann ist die verlorene Harmonie zwischen Kontemplation und Handeln wieder hergestellt. Im Gegensatz zu der Theorie von Karl Marx, in der, ähnlich wie bei Dürkheim, das Kollektiv zum Sitz eines Bewußtseins werden kann, denkt Comte streng individualistisch. Bei ihm tritt immer nur das Gehirn des Individuums als Sitz des Bewußtseins auf. Das Verhältnis übrigens des Gehirns zur äußeren Ordnung bestimmt sich nach dem von Comte, wie er meint, entdeckten 'loi cerebrale1, von dem er sagt, es bewirke das Übergewicht der objektiven Impressionen gegenüber den subjektiven Ergebnissen. Dies bedeutet nichts anderes, als daß die empirische Realität von dem Individuum niemals total erfaßt, sondern immer nur selektiv ausschnittsweise im Bewußtsein des Beobachters abgebildet werden kann. Wegen dieser konstitutionellen Unterlegenheit des datenverarbeitenden Individualbewußtseins können von ihm seiner Umwelt gegenüber nur unzuverlässige manipulative Impulse ausgehen. Sollte ein Einzelner dennoch ein phantasiereiches Vorstellungsvermögen entwickeln, so wären die Folgen für ihn selbst außerordentlich gefahrlich Es ist fur Comte ein schreckhafter Gedanke, daß das Denken disziplinlos werden könnte. Das Handeln des Menschen darf sich nicht an inneren Bildern orientieren, sondern an Wahrnehmungen aus der Umwelt. Für den Leser, der noch immer nicht überzeugt ist, fugt Comte die Warnung an, daß ein Übergewicht des Subjektiven über das Objektive im Extremfall zu pathologischen Erscheinungen, zu 'alienation1, also zu einer Form der Entfremdung fuhren würde. Es kommt Comte darauf an, daß der Mensch der dinglichen Welt geistig in nicht geringerer Weise untergeordnet ist als körperlich. In der positivistischen Zukunft, die mit ihm begonnen hat, wird der menschliche Geist eine systematische Reproduktion der empirischen Wirklichkeit hervorbringen, quasi als Lohn seiner Unterordnung unter sie: dafür, daß er sich ihr ergibt, läßt sie sich von ihm photographieren Comte und Marx hatten offensichtlich sehr unterschiedliche, ja in mancher Hinsicht geradezu entgegengesetzte Intentionen. Comte hatte das Chaos einer Revolution vor Augen und setzte sich das ausdrückliche Ziel einer Stabilisierung der sozialen Verhältnisse, wobei allerdings der Rückfall in die konstitutionelle Monarchie vermieden werden sollte. Marx dagegen hatte die Mißstände einer Gesellschaftsordnung im Blick, deren Stunde nach seiner Vorstellung geschlagen hatte. Er wollte ebenso ausdrücklich eine Revolution vorbereiten, wie Comte eine Revolution verhindern wollte. Aus diesen Ausgangsintentionen der beiden Väter der Soziologie ergab es sich, daß die Theorie Comtes tendenziell kontemplativ, die Theorie von Marx dagegen tendenziell manipulativ auf die sozialen Verhältnisse ausgerichtet war. Diese Aussage muß für Comte sofort wieder eingeschränkt werden. Er entwirft nämlich im sechsten Buch seiner positiven Philosophie (Comte, 1842) ein Aktionsprogramm des Positi-

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vismus. Dabei spricht er von der Herrschaft eines Geistes der Allgemeinheit, die er erreichen will, damit die Zersplitterung der Vernunft überwunden werde. Das Kernstück einer positiven Politik ist die Schaffung eines europäischen "gemeinsamen Marktes des Geistes", auf dem Gelehrte aus Frankreich, Italien, Deutschland, England und Spanien zusammenarbeiten, und zwar über die Köpfe ihrer nationalen Regierungen hinweg. Diese unabhängigen Denker sollen einen positiven Rat, eine Art Konzil des Positivismus gründen, das alle Konzeptionen der Menschheit prüft und erneuert, die Erziehung zur positiven Wissenschaft fördert, und durch philosophische Intervention in die politischen Konflikte der Nationen eingreift so lange das noch notwendig ist. Comtes Vorstellung von Politik steht also etwa dem Beispiel einer Friedensinitiative des Papstes viel näher als dem Gedanken an die Entsendung eines Expeditionsheeres. Kurz vor dem Ende des sechsten Buches wird deutlich, daß in Comtes Sicht die Theorie zwar Praxis hervorbringt, doch daß sie dann nur in beratender Weise in die Praxis eingreift. In der Vergangenheit war nach Comtes Überzeugung das praktische Wissen dem Theoretischen überlegen, weil das Theoretische schlecht fundiert war, da es eben nicht positiv war. Selbst wenn der Positivismus diesem Übel abgeholfen haben wird, wird das allgemeine Interesse stets ein Übergewicht der praktischen oder materiellen Autorität erfordern. Vorausgesetzt allerdings, daß sich diese Autorität innerhalb gehöriger Grenzen hält und der theoretischen Autorität ihre Unabhängigkeit läßt.

b) Drei-Stadien-Gesetz nach Comte Comte greift die alte Idee auf, nach der es im Ablauf der Geschichte drei verschiedene Stadien gebe. Was sich innerhalb der drei voneinander klar geschiedenen Perioden verändert, ist fur ihn das Denken des Menschen. Er glaubt, es sei in der ältesten Epoche menschlicher Kultur theologisch gewesen, wandele sich dann in einer mittleren Phase zum metaphysischen Denken und werde endlich in der Zukunft, die mit ihm, Auguste Comte, schon begonnen habe, in das Stadium des positiven Denkens übergehen. Die Zeit theologischen Denkens sei so vielfältig gewesen, daß Comte es für richtig hält, sie nochmals in drei Unter-Stadien zu teilen, die alle drei dem theologischen Stadium zugerechnet werden müssen, den Fetischismus, den Polytheismus und den Monotheismus, der zugleich Reife und Untergang der Religion signalisiert. Wir haben hier nur Raum für Hinweise auf das erste der drei Stadien, das theologische. Das zweite, metaphysische und das dritte, positive kann hier nicht behandelt werden.

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Comte liest aus der Entwicklung der drei Unterstadien auseinander zugleich sowohl den Reifungsprozeß als auch den Tod der Religion ab. Das entspricht einer organologischen Vorstellung: Der Organismus, unser aller Körper, reift zum Tode hin. Von der Biologie beeinflußt war auch das evolutionistische Denken im 19. Jahrhundert: Nicht erst durch Darwin (das ist ein weitverbreitetes Mißverständnis, obwohl Darwin freilich der mit Abstand prominenteste Evolutionstheoretiker ist), sondern lange vor ihm und ganz unabhängig von ihm, war der Evolutionismus als Lehre von der allmählichen Entwicklung menschlicher Kultur und Gesellschaft eine dominante Denkform geworden. Diese Lehre bot August Comte den Rahmen, innerhalb dessen er zwischen unverbundenen Epochen einen Zusammenhang herstellen konnte. Dem Evolutionistischen Denken entspricht die Vorstellung vom Aufstieg der geistigen Fähigkeiten des Menschen nach den Regeln des Drei-Stadien-Gesetzes: Es ist also ein Gesetz, das darzustellen behauptet, wie sich die Formen des Bewußtseins auseinander entwickeln, ein Gesetz für den Ablauf von Veränderungen im Denken des Menschen. aa) Erstes Unterstadium des theologischen Stadiums:

Fetischismus

Comte hatte sehr grobe Vorstellungen von den Lebensverhältnissen bei Eingeborenenkulturen. Er glaubte allen Ernstes, die Urform menschlicher Kultur sei der Kannibalismus. Auf dieser niedrigsten Stufe der Menschenfresserei siedelt er den Fetischismus an. "Der Mensch hat überall mit dem Fetischdienst und mit der Menschenfresserei begonnen. Trotz des Schreckens und der Abscheu bei der bloßen Erinnerung an einen solchen Anfang darf unser Stolz nicht darin bestehen, einen solchen Anfang zu verleugnen, sondern darin, die Entwicklung zu rühmen, die uns so hoch über diese elende Lage erhoben hat" (Blaschke 1974: 173). Man findet es in der Sozialphilosophie und in der Ethik häufig, daß jemand einen angestrebten Zustand, also etwas Normatives, damit begründet, dies sei von allem Anfang an so gewesen. Etwa im Kontext der Bibel: Die Ehe sei als Adam-und-Eva-Ehe von allem Anfang an monogam gegründet worden und weil es von allem Anfang an so war, darum müsse es auch heute so sein. Bei Comte jedoch wird entgegengesetzt argumentiert: Wir müssen stolz darauf sein, wie weit wir uns von den Anfängen entfernt haben, denn die Anfänge waren fürchterlich. Das eine ist ein Denken, das behauptet, die Natur des Menschen habe von allem Anfang an die richtigen Zustände herbeigeführt und Abweichungen vom Urzustand seien heillose Experimente und Verirrungen gewesen: Dieses Denken führt zu dem Bild von einem U-förmigen Verlauf menschlicher Geschichte der Ethik und der Kultur. Das andere Denken geht von einem evolutionstheoretisch gedachten Verlauf aus, der besagt, wie Comte es hier sieht (und nach ihm später auch Simmel): "Unser Stolz besteht nicht darin, einen solchen

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Anfang zu verleugnen, sondern darin, die Entwicklung zu rühmen, die uns so hoch über diese elende Lage erhoben hat" (s.o.). Es ist vielleicht charakteristisch für die letzten drei, vier Jahrzehnte unseres Jahrhunderts, daß der Stolz auf die Entwicklung verloren gegangen ist, daß wir immer mehr von Zweifeln geplagt sind, ob wir nicht die Umwelt zerstören, ob wir nicht die Entwicklung übertreiben; insofern kann man diesen naiven Fortschrittsglauben, den wir hier noch finden, für heute sicher nicht mehr voraussetzen. Die extrem negative Einschätzung der Urkulturen, die er fälschlich natürlich - mit Kannibalismus gleichsetzt, bewahrt übrigens Comte davor, die dort herrschenden Lebensverhältnisse mit Paradieszuständen zu verwechseln, wie das in Nachbarschaft zu der anderen von mir skizzierten Denkweise im Anschluß an die ethnologische Forschung in unserem Jahrhundert vielfach geschehen ist. Das führt dann dazu, daß wir das Leben auf Steinzeitniveau bei Jäger- und Sammlerkulturen idealisieren, obschon kaum einer von uns sich dort länger als ein paar Wochen als Tourist wohlfühlen und es dort aushalten würde. Comte sieht seine Aufgabe darin, seinem Leser vor Augen zu fuhren, was er sich unter Fetischismus vorstellt. Er meint damit, daß ein materielles Objekt unmittelbar für belebt und daher mit bestimmten Fähigkeiten ausgestattet gehalten wird. Man kann das bei Kindern beobachten oder bei Erwachsenen, die kindische Neigungen nicht ganz haben untergehen lassen: Sie stoßen sich an einem Stuhl und treten in einen zornigen Dialog mit diesem Stuhl ein. Das ist Fetischismus: Man traut dem Ding zu, lebendig zu sein. "Wenn hervorragende Denker das Geheimnis für Vorgänge zu ermitteln suchen, deren Gesetzt sie nicht kennen, werden sie sich in das Bestreben finden, die Erzeugung unbekannter Wirkungen nach den Leidenschaften und Gefühlen des betreffenden Gegenstandes aufzufassen, den man sich als lebend vorstellt. Dies ist nichts anderes als das philosophische Prinzip des Fetischglaubens" (ebd.: 176). Wie nach ihm Max Weber, untersuchte schon Comte die Wirkungen eines bestimmten Typus von Religion auf das Handeln des Menschen in verschiedenen Lebensbereichen, auch in dem der Wirtschaft. "Aufgrund der Heiligung der meisten äußeren Dinge verbietet der Fetischglaube gleichsam jeden Einfluß auf die den Menschen umgebende Welt; in diesem Sinne bietet er ein großes Hindernis für die industrielle Entwicklung;..." (ebd.: 183). Dieses Comte-Zitat könnte eine Erläuterung dazu sein, daß viele Entwicklungshilfe-Projekte der Gegenwart scheitern. Wenn Flüsse, Bäume, Landschaften, Berge mit religiösem Tabus belegt sind, kann man weder einen Damm bauen noch eine Fabrik errichten. Dann fehlt nämlich die nötige Mentalität als Voraussetzung für die Entstehung von Kapitalismus und Industrialismus.

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Aber abgesehen von dieser Parallele zur Gegenwart liest sich der Text von Comte wie eine Vorwegnahme der Rationalisierungsthese von Max Weber. Weber hat die These formuliert, daß die "Entzauberung der Welt" Voraussetzung fur die Entstehung der modernen Industrie sei, weil dann nicht mehr in dem Baum die Nymphe und in dem Fluß irgend ein Flußgeist lebt, sondern alles nüchtern sachlich nur noch aus Dingen besteht. Das muß im Denken der Menschen erreicht sein, bevor sie sich daran machen, den Lebensstandard aufzubauen, den andere so bewundern. Solange jede Pflanze, jeder Bach und jeder Fels ein Sitz geheimnisvoller Mächte ist, kann dies nicht geschehen und können wirtschaftliche Bedürfnisse religiösen nicht übergeordnet werden. Erst die Entzauberung der diesseitigen Welt und die Verlagerung aller heiligen Dinge ins Jenseits schafft die Voraussetzung flir die wirtschaftliche Entwicklung, die Max Weber mit der protestantischen Ethik (also nicht mit irgendeiner christlichen, sondern mit der puritanisch-kalvinistisch-protestantischen Ethik) in Verbindung bringt. Der extrem negativen Vorstellung Comtes von der Herkunft aller Kultur aus dem Kannibalismus entspricht es, wenn er sich den Menschen der Urkultur als einen Wüstling denkt, der alles um sich her zerstört. Aus der Sicht des Industriezeitalters jedenfalls vor dem Aufschwung der ökologischen Bewegung mag der Fetischismus ein irrationales Hemmnis der Entwicklung gewesen sein. Aus der Perspektive, die Comte einnimmt, die den Urmenschen als einen Berserker sieht, hat derselbe Fetischismus disziplinierend und hemmend gewirkt in einer Weise, die Comte positiv einschätzt. "Das Tun des Menschen in der Welt hat mit dem Verwüsten begonnen; diese starke Neigung bedrohte alle Rassen ohne Unterschied. Die vorzüglichsten organischen Arten namentlich im Tierreiche wären einem unvermeidlichen Untergange geweiht gewesen, wenn die geistige und moralische Entwicklung diesem blinden Eifer nicht einen Zügel angelegt hätte. Dies ist eine der Eigentümlichkeiten des Fetischglaubens. Der Polytheismus hat dann dasselbe auf andere Art getan, indem er verschiedene Wesen unter den Schutz der entsprechenden Gottheiten stellte" (ebd.: 187). bb) Zweites Unterstadium des theologischen Stadiums:

Polytheismus

Als Evolutionist interessiert Comte sich besonders lebhaft flir die Übergänge von einer Entwicklungsstufe zur nächsten. Er verläßt die fetischistische Form der Religion mit der Bemerkung, daß der Schritt von dort zum Polytheismus ein weit größerer und bedeutenderer gewesen sei, als der Schritt von dort zum Monotheismus. "Für die philosophische Erörterung ist diese Umgestaltung eine der wichtigsten, die die Religion jemals erfahren hat. Der Übergang des Polytheismus zum Monotheismus ist kein so großer geistiger Sprung. Der Fetischglaube betrachtete die Materie wirklich als lebendig wie ein wahrhaftes Lebewesen;

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dagegen verurteilte sie der Polytheismus zu einer beinahe unbedingten Trägheit, da er sie als vollständig abhängig von dem beliebigen Willen der göttlichen Persönlichkeiten ansah" (ebd.: 189). Was Comte am Übergang vom Fetischismus zum Polytheismus untersucht, ist die Frage, welche Chance das naturwissenschaftliche Denken jeweils erhält. Der Gedanke fortschreitender Rationalisierung taucht dabei wieder auf. Solange die Materie selbst als belebt und undurchschaubar gedeutet wurde, wie das im Fetischismus der Fall war, mußte im Verhalten materieller Objekte mit spontaner Tücke gerechnet werden. Der Polytheismus stellt für Comte einen bedeutenden Schritt in Richtung auf Berechenbarkeit dar, weil nun die Dinge zwar dem Wollen zahlreicher Gottheiten, aber wenigstens nicht mehr eigener, dem Objekt innewohnender, undurchschaubarer Lebendigkeit unterliegen. "Der Übergang vom Fetischglauben zum Polytheismus bildet den ersten allgemeinen Übergang des Geistes zur Beobachtung und Induktion, der sich zunächst bei den begabteren Menschen und später bei der Menge entwickelt hat" (ebd.: 189). Der Polytheismus stellt dem Fetischismus gegenüber außerdem deshalb einen Fortschritt im Denken des Menschen dar, weil der Glaube an personale Götter, wie Comte meint, die Fähigkeit fördert, von erlebten Einzeltatsachen zu abstrahieren und größere Zusammenhängen zu sehen. Als Fetisch wird stets die magische Kraft eines konkreten Gegenstandes erhofft oder gefürchtet, ein Gott oder eine Göttin des polytheistischen Jenseits dagegen hat einen vergleichsweise weiten Zuständigkeitsbereich, in dem sich immer wieder bei den unterschiedlichsten Anlässen und zu weit auseinanderliegenden Terminen das machtvolle Wirken dieser einen Gottheit manifestiert. Jeder Kulturwandel bringt Schwierigkeiten mit sich, zumal wenn es sich um so einen entscheidenden Schritt der Veränderung im Denken handelt, wie im Übergang vom Fetischismus zu Polytheismus. Darum überlegt Comte, welche Verhältnisse den eher unwahrscheinlichen Wandel erleichtert und ermöglicht haben könnten. Er verweist dazu auf die Himmelskörper, vor allem die Sonne und den Mond, die schon als Fetische durch die große Distanz zur Alltagserfahrung nahezu göttliche Qualitäten haben können. "Der Unterschied zwischen dem Begriff eines Fetischs und eines Gottes mußte bei einem Gestirn geringer sein; so konnte die Gestirnanbetung als Vermittlerin zwischen dem Fetischglauben und dem Polytheismus auftreten. Mit anderen Worten: Die Verehrung der Gestirne war der einzige Zweig des Fetischdienstes, der sich dem Polytheismus ohne tiefe Veränderung einfügen konnte" (ebd.: 192). So sehr die Überwindung der Stufe des Fetischismus als Fortschritt gefeiert werden muß, so eindeutig stellt sie bei Comte zugleich auch eine Minderung menschlicher Religiosität über-

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haupt dar. Beim Übergang zum Polytheismus handelt es sich also nicht etwa nur um eine Veränderung der Qualität des religiösen Denkens, sondern darüber hinaus auch um eine unwiderrufliche Minderung seiner Intensität und Relevanz. "Der Fetischglaube gilt in geistiger Beziehung als die umfassendste Verschmelzung des religiösen Geistes in das menschliche Denken; daher stellt seine Umgestaltung in den Polytheismus die erste Abnahme jenes Geistes dar" (ebd.: 194). So klar Comte als Prophet des Positivismus die Überwindung des theologischen Denkens in allen seinen Formen voraussagt, so eindeutig erkennt er doch auch dem religiösen Bewußtsein jene dynamischen Kräfte zu, aus denen der Fortschritt seine Energie erhält. Damit antizipiert er Max Weber, der genau auf diesem Gedanken seine Religionssoziologie aufbaut. Denkt man diesen Ansatz zu Ende, so müßte mit der Überwindung der Religion in jeder Form auch der Antrieb zum Wandel schwinden oder gar ganz verlorengehen. Jedenfalls ist es der Entfaltung spekulativen Denkens zu danken, daß der Mensch sich Götter gestaltete, von denen er sich aus der Niedrigkeit des Fetischismus herausgehoben fühlen konnte. Die Entwicklung menschlicher Kultur äußert sich auch im Bereich der Kunst. Comte zeigt, wie das polytheistische Denken zur Ausgestaltung der kreativen Phantasie der Menschen Anlaß gibt, und wie die Kunst als Dichtung, Musik und Schauspiel in den Dienst der Ausgestaltung theologischer Spekulation tritt. Die Stufe des Fetischismus ging, wie wir sahen, nach Comtes Vorstellung mit Kannibalismus einher, und dessen Überwindung muß jeden aufatmen lassen, der den Weg des Menschen zu Höherem wünscht und hofft. Und tatsächlich nennt Comte eine Reihe von Errungenschaften des Polytheismus im Bereich von Kunst und Wissenschaft, die unstrittig erfreulich sind. Jedoch, der Preis all dieser Fortschritte und unvermeidliche Schattenseite des Polytheismus ist der Krieg. Die vielen Götter im Jenseits sind dem Menschen geradezu negative Vorbilder durch ihre dauernde Unfriedlichkeit. Ihrem Beispiel folgte der Mensch im ständigen Krieg, und der regte allerdings die Entwicklung der Wirtschaft an, meint Comte. "Der Krieg war damals die Hauptbeschäftigung des Menschen. Man würde deshalb die alte Industrie sehr falsch beurteilen, wenn man die Künste, die einen kriegerischen Endzweck hatten, nicht beachtete. Die ersten Werkzeuge waren die Waffen. Während einer langen Reihe von Jahrhunderten war man mit Einrichtung und Verbesserung kriegerischer Werkzeuge beschäftigt; diese Anstrengungen sind fur den Fortschritt der Industrie nicht ganz nutzlos gewesen, denn sie hat daraus oft ganz glückliche Anregungen entnommen" (ebd.: 204). Das Drei-Stadien-Gesetz

in der Fassung, die Herbert Spencer ihm gibt, folgt nicht der Ent-

wicklung menschlichen Denkens, sondern sozialen Kategorien. Es enthält das Stadium der militärisch-despotischen Stufe, die hier bei Comte schon anklingt. Comte kündigt an, was er

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am Polytheismus im Anschluß an den Hinweis auf den Krieg als konstituierendes Merkmal dieser Stufe noch untersuchen will. In engster Verbindung mit dem Krieg tritt die Sklaverei auf. "Der Krieg erzeugt die Sklaverei; diese hat in ihm ihre Quelle und ist zugleich seine erste Milderung. Die Sklaverei ersetzte das Verzehren und die Opferung der Gefangenen, nachdem der Sieger durch Mäßigung seiner scheußlichen Leidenschaften den Nutzen erkannte, den er aus dem Dienst der Besiegten ziehen konnte, wenn er ihn als Gehilfen seiner Familie einordnete" (ebd.: 208). Herbert Spencer, den wir noch behandeln werden, bringt in seinem Werk "Principles of Sociology" (1902) diesen Prozeß der Vermenschlichung mit dem Ritus der Beschneidung in Verbindung (Helle 1980: 105). Er geht davon aus, daß es bei den Abessiniern nach einer gewonnen Schlacht üblich war, die gefallenen Feinde zu beschneiden und die als Trophäen eingesammelten Vorhäute dem König zu überbringen (Spencer, 1902: 67), ganz ähnlich übrigens, wie ein Indianer Nordamerikas seine besiegten Feinde skalpierte. Dieser Brauch sei so meint Spencer - beibehalten worden, als man dazu übergegangen war, besiegte Feinde nicht zu töten, sondern als Sklaven in die Gefangenschaft zu fuhren. Als religiöses Ritual analog der Taufe der Christen, ist die Beschneidung üblich bei Juden und Mohammedanern. In den U.S.A. ist nahezu jeder Mann beschnitten, allerdings sind die Gründe dabei zumeist rein medizinisch-hygienischer Art. Für Comte aber gilt dies: Auf der fetischistischen Stufe des Kannibalismus waren die Unterlegenen Kriegsteilnehmer getötet worden, auf dieser polytheistischen Stufe nun werden sie versklavt, und das ist eine der interessanten Konsequenzen, die Comte selbst zieht: die Sklaverei wird sowohl Folge als auch Voraussetzung für die ständige Kriegführung. Dieser Gedanke erinnert an Max Webers Vortrag "Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur", der 1896 veröffentlicht wurde, und ebenfalls die entscheidende Bedeutung der Sklaverei behandelt. Sie beruht ja darauf, daß der Sklave nicht etwa in einem Käfig gefangen gehalten werden muß, sondern im Hause seines Herrn durchaus eine würdige Stellung innehaben konnte. Die politischen Voraussetzungen für seine Einordnung in die Gesellschaft derer, die sein Volk unterworfen haben, leitet Comte aus der polytheistischen Religion ab: "Wenn der Polytheismus den Geist der Eroberung anregte, so sicherte er auch dessen soziale Bestimmung, indem er die Einfügung der besiegten Nationen erleichterte, denn diese konnten sich der starken Nation anschließen, ohne ihrem Glauben und ihren religiösen Gebräuchen, die ihnen teuer waren, zu entsagen, sofern sie nur die Oberhoheit der siegenden Götter anerkannten" (ebd.: 207). Das genau war das Problem der Israeliten, von denen Comte in diesem Zusammenhang nicht schreibt. Sie waren als monotheistisches Volk nicht in der Lage, sich in die Gesellschaft zu

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integrieren, von deren Militär sie besiegt und versklavt worden waren. Für die Geschichte der polytheistischen Großreiche, z.B. Ägypten, dürfte aber die Beobachtung Comtes zutreffend sein: Der Polytheismus erleichterte die politische Eingemeindung unterworfener Völker. Die Implikationen der Sklaverei sind neben wirtschaftlichen auch moralische. Comte zeigt, wie eng diese Ebenen ineinander verschlungen sind. Er schreibt über die Institution der Sklaverei: "Eine solche Einrichtung war fur die Führung des Krieges unentbehrlich; dieser wäre im gleichen Grade unmöglich gewesen, wenn die friedlichen Arbeiten nicht hätten Sklaven anvertraut werden können. So diente die Sklaverei, das erste Ergebnis des Krieges, zu dessen Erhaltung, indem sie den Besiegten, trotz der ursprünglichen Abneigung, zur industriellen Tätigkeit führte" (ebd.: 208). In der Tatsache, daß Sklaverei in einer Gesellschaft besteht, sieht Comte einen schwerwiegenden Defekt der Moral, der durch nichts anderes ausgeglichen werden kann. cc) Drittes Unterstadium des theologischen Stadiums:

Monotheismus

Zu Beginn seiner Überlegungen zur Stufe des Monotheismus untersucht Comte die Bedingungen des Übergangs vom Polytheismus zum Monotheismus. Er meint, daß sich im Denken der Menschen, das ja der Ort ist, an dem sich die Evolution fur ihn vollzieht, die Vorstellung von einem einheitlichen Schicksal oder Weltgesetz durchsetzte, dem alle Götter trotz ihrer Verschiedenheit gemeinsam unterworfen waren. Aus diesem alles Geschehen umgreifenden und bestimmenden Gesetz sei allmählich, so meine Comte, der Glaube an eine einzige Gottheit entstanden. "Das polytheistische Dogma vom Schicksal konnte diesen Übergang erleichtern. Das Schicksal galt als der Gott der Unveränderlichkeit; sein Bereich mußte stetig auf Kosten der anderen Gottheiten in dem Maße anwachsen, als die Erfahrung die stete Dauer der natürlichen Verhältnisse entschleierte. Die Vorstellung der Monotheisten ist nichts anderes als das Schicksal der Polytheisten, das nach und nach die Eigenschaften der anderen Gottheiten geerbt hatte" (ebd.: 227). Comte sieht also einen Entwicklungsprozeß vor Augen, in dessen Verlauf die vielfältigen Merkmale der zahlreichen Götter des Polytheismus ihrer personalen Qualitäten entkleidet und zu Bestandteilen des unerbittlichen Fatums oder Schicksals werden. Dieser Trend ist bis in die Neuzeit hinein gut nachvollziehbar: Im Deismus zieht sich der Schöpfergott aus dem Weltgeschehen zurück, nachdem er es in Gang gesetzt und in seinen gesetzmäßigen Abläufen determiniert hat, und im atheistisch naturwissenschaftlichen Weltbild bleiben allein die Naturgesetze übrig, hinter denen keine personale Macht mehr steht. Comte verlegt diesen Prozeß der Entpersönlichung, der ihm von dem Übergang aus dem Monotheismus heraus in

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den Atheismus gut vertraut ist, nach vorn in den Übergang hinein, aus dem der Monotheismus hervorgegangen ist. Genau nach dem Entwicklungsmuster, nach dem der einzig verbliebene Gott schließlich verschwindet, sind schon am Ende des Polytheismus die vielen konkurrierenden Götter untergegangen. Ähnlich stellt sich ja später Marx den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft nach dem Prinzip vor, nach dem die bürgerliche selbst den Untergang der Feudalordnung herbeigeführt hat. "Die ganze Umgestaltung bestand nur darin, daß die Menge der Gottheiten zum Gehorsam und zur Moral gezwungen wurde, indem man sie dem Übergewicht einer einzigen Gottheit unterordnete. In diesem Sinne verstehen die Massen den Monotheismus, und so hat sich offenbar der Übergang gemäß dem Dogma vom Schicksal vollzogen, das allmählich unter dem Einfluß des metaphysischen Geistes in eine Vorsehung umgestaltet wurde" (ebd.: 228). Als die wichtigste historische Verwirklichung der Prinzipien, durch die Comte die Stufe des Monotheismus charakterisiert sieht, stellt er seinen Lesern den Katholizismus vor. Dabei wird eine kaum verdeckte Bewunderung Comtes fur die organisatorischen und moralischen Merkmale der Kirche von Rom deutlich. Er weist darauf hin, daß diese Religionsgemeinschaft nach seiner Meinung von einer Hierarchie geleitet werde, die sich zur Legitimierung ihrer Autorität "auf geistige und moralische Verdienste" (ebd.: 236) berufen könne. Sie sei dadurch politischen Hierarchien überlegen, die dagegen darauf angewiesen sind, sich auf Geburt, Vermögen oder Kriegstüchtigkeit zu berufen (ebd.). Comte fragt nach den geistigen Quellen, aus denen der Katholizismus bei seiner Entstehung schöpfen konnte. "Der Katholizismus knüpfte auf der einen Seite an die Römerherrschaft an, auf der anderen Seite an die griechische Philosophie und durch den Judaismus an die ältesten Theokratien. Seit seinem Entstehen hat er ständig an den wichtigsten Angelegenheiten der Menschen teilgenommen. Die Geschichte dieser Kirche bildet daher eine Art Geschichte der Menschheit vom sozialen Standpunkt aus" (ebd.: 238). Comtes Zustimmung zum Katholizismus bezieht sich auf die organisatorische Kraft und die Rationalität des institutionellen Instrumentariums, nicht jedoch auf den dogmalischen Gehalt der Lehre. Die Geschichte der katholischen Kirche ist fur ihn Sozialgeschichte der Menschheit. Mit dieser Sicht wird sie von ihm sowohl über- als auch unterschätzt. Comte überschätzt die Kirche, indem er ihre Geschichte mit der Geschichte der ganzen Menschheit parallelisiert, er unterschätzt sie, indem er ihre religiöse Lehre nur als besonders wirksame Form des Monotheismus einordnet, alle weiteren Besonderheiten jedoch ignoriert. Wenn Comte z.B. der Ehelosigkeit des katholischen Priesters zustimmt, geschieht das ausschließlich unter sozialen und pragmatischen Gesichtspunkten. "Ohne das Zölibat hätte die katholische Hierarchie weder die soziale Unabhängigkeit noch die Freiheit des Geistes gewinnen

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können, die ihre Mission brauchte. Das Streben nach Erblichkeit aller Ämter hätte unzweifelhaft die Geistlichkeit erfüllt, wenn das Zölibat sie nicht davor geschützt hätte" (ebd.: 239). Ähnlich findet auch die Wirkung der Kirche als Bildungsinstitution die Bewunderung und Zustimmung Comtes unter rein weltlichen Aspekten. Aus der evolutionistischen Sicht Comtes mußte der Monotheismus sich in seiner höchsten und vollendeten Form entfalten, eben um von dort aus überwunden zu werden und in die nächste Stufe der Entwicklung menschlichen Denkens überzuleiten. Das ist der eigentlich Grund, warum dem Katholizismus so überraschend lebhaft applaudiert wird. Das wird auch sichtbar im Vergleich zu weniger reifen Formen des Monotheismus. "Der Islam bietet hierfür einen entscheidenden Beleg; seine Moral ist im Prinzip so rein, wie die des Christentums, der sie entnommen ist, und dennoch bietet sie weit entfernt nicht dieselben Ergebnisse bei einer so wenig fortgeschrittenen Bevölkerung, die ohne genügende Vorbereitung vorzeitig zu einem Monotheismus berufen wurde" (ebd.: 2530 Der Begriff "vorzeitig" unterstellt, daß bestimmte Voraussetzungen noch nicht erfüllt waren. Die sozialen und politischen Bedingungen waren noch nicht weit genug entwickelt, die Gesellschaft insgesamt entsprach in vielen Bereichen noch der polytheistischen Phase theologischen Denkens, und der dann erzwungene "vorzeitige" Übergang zum Monotheismus hatte nicht die moralischen Wirkungen in Richtung auf Disziplinierung und Rationalisierung des Menschen, die diese dritte und letzte Stufe der Religion eigentlich ermöglichen sollte. "Der rückschrittliche Instinkt des modernen Katholizismus kommt von der Auflösung der geistlichen Gewalt und seiner Unterwerfung unter die weltliche. Wie hätte da der Protestantismus, der diese Unterwerfung zum Prinzip erhebt, den Folgen seines rechtmäßigen Triumphs entgehen können?" (ebd.: 287). So stellt sich dem Ex-Katholiken Comte der Protestantismus als Zerfallsprodukt dar, an dessen Geschichte die Auflösung der monotheistischen Bewußtseinsstufe manifest wird. "Das Luthertum hat nur unbedeutende Veränderungen in der Dogmatik eingeführt; es hat die Hierarchie behalten, allein es hat die politische Erniedrigung der Geistlichkeit geheiligt. Luther zerstörte die kirchliche Disziplin, um sie besser dieser erniedrigenden Umgestaltung anzupassen. Es ist dies die einzige Form, in welcher der Protestantismus sich zu einer Staatsreligion organisieren konnte, wenigstens bei den großen unabhängigen Nationen (Absatz im Original). Dann hat der Kalvinismus, den der berühmte Pastor von Genf begründete, dieser ersten Zerstörung noch die der Hierarchie, die die Einheit im Katholizismus aufrechterhielt, hinzugefügt" (ebd.: 297). Damit schlägt die Stunde der Religion: Dem Protestantismus, dem Katholizismus, dem Monotheismus nicht nur, sondern dem theologischen Denken überhaupt diagnostiziert Comte sein Ende im Übergang zur Bewußtseinsform des metaphysischen Denkens. Im 16. und vor

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allem während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts beginnt das Zeitalter der Metaphysik, des Comte das Zeitalter der Kritik nennt (vgl. ebd.: 305). Die Philosophie übernimmt aus den Händen der Theologie die Führung menschlichen Denkens. Die spekulative Neigung der Philosophen geht mit den frühesten Formen positiven Denkens ein Bündnis ein, um die alte Theologie als überholt zu entlarven. Der Siegeszug des Stadiums, das auf des theologische folgt, wird eingeleitet durch das Wirken von Männern wie Descartes, Spinoza und Hobbes. Sie gelten Comte als die Exponenten des zweiten, also des metaphysischen Stadiums menschlichen Denkens. Es erscheint Comte in noch negativerem Licht als das erste, das theologische Stadium. Doch der Durchbruch zur Klarheit und Wahrheit wird nach Comtes Vorstellung dann im dritten und letzten Stadium, dem positiven, erreicht. Die Gedanken, die hier ausgewählt und kommentiert wurden, hat Auguste Comte in der Zeit zwischen 1830 und 1842 in Vorträgen formuliert und schließlich in seinem "Cours de philosophie positive" schriftlich festgehalten. Im Jahre 1840 schreibt der junge Karl Marx seine Dissertation und beginnt in den darauf folgenden Jahren, das zu Papier zu bringen, was wir heute als seine Frühschriften kennen. Die Chronologie erfordert es daher, Marx im Anschluß an Comte zu behandeln, auch um zu zeigen, welche Gemeinsamkeiten und welche Verschiedenheiten auftreten bei Männern, die Zeitgenossen waren. Comte war 1798 geboren, Marx 1818, es waren also 20 Jahre, die die beiden im Alter voneinander trennten.

3. Marx (1818-1883)

a) Person und Werk Am 14 März 1883 starb Dr.phil. Karl Heinrich Marx in London. Sein Name stand bisher so sehr im Zentrum leidenschaftlicher weltanschaulicher Auseinandersetzungen, daß kaum die Chance bestand, sich aus unparteiischer Quelle sachlich über das Leben dieses Mannes zu informieren, das in der alten Bischofsstadt Trier begann. Die Gemeinde der Anhänger des jüdischen Glaubens in Trier wird gegen Ende des 18. Jahrhunderts von ihrem Rabbiner Marx-Levi gefuhrt (vgl. Blumenberg, 1962: llf: nach Blumenberg soll der Name Meier Halevi Marx gelautet haben). Dieser Rabbiner hat einen Sohn mit Namen Herschel Levi, der in seiner Jugend den Glauben an den Gott Israels verliert und zur "Religion der Vernunft und Menschlichkeit" (Berlin, 1959: 34) konvertiert. Herschel Levi möchte sich in Trier als Anwalt niederlassen und um sich gegen die Diskriminierung der Juden soweit möglich zu wehren, ändert er seinen Namen in Heinrich Marx. Er

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betreibt auch erfolgreich eine Anwaltspraxis in Trier, und es gelingt ihm, zum Haupt einer angesehenen Bürgerfamilie zu werden, als ihn die judenfeindlichen Gesetze Preußens im Jahre 1818 brotlos machen. Seine Ehefrau ist wie Heinrich Marx selbst Kind eines Rabbiners, der einer jüdischen Gemeinde in Holland vorgestanden hatte. Über den Zeitpunkt des Anschlusses an das aufgeklärte preußische Luthertum sind die Berichte nicht einer Meinung. Isaiah Berlin erwähnt, daß Heinrich Marx sich vom Jahre 1817 an zum Protestantismus bekannt habe, während Siegfried Landshut (Marx, 1964: XI) das Jahr 1824 als Termin angibt, zu dem Heinrich Marx mit seiner ganzen Familie zum Protestantismus übergetreten sei. Als Sohn des Heinrich Marx wird am 5. Mai 1818 in Trier Karl Heinrich geboren Die Zahl seiner Geschwister wächst im Laufe der Jahre auf sieben an. Ein älterer Sohn war 1815 kurz nach der Geburt gestorben, die Eltern von Karl Marx hatten also neun Kinder. Unabhängig davon, ob der Übertritt der Familie Marx zum Luthertum ein Jahr vor der Geburt von Karl oder im Laufe seines sechsten Lebensjahres erfolgt ist, es ist nicht damit zu rechnen, daß er in seinem Elternhaus eine religiös fundierte Erziehung genoß. Der preußische Staat, in dessen Machtbereich Karl Marx seine Kindheit und Jugend verlebt, zeichnet sich durch außerordentliche Intoleranz aus. Im Jahre 1834 erlebt Karl Marx als Sechzehnjähriger wie sein Vater bei einem öffentlichen Bankett gemäßigte soziale und politische Reformen befürwortet. Dies kommt der preußischen Polizei zu Ohren, und als Gefahr im Verzug zu sein scheint, nimmt Heinrich Marx alle seine Äußerungen zurück, um die Organe des preußischen Staates von seiner völligen Harmlosigkeit zu überzeugen. Der junge Karl wird diesen Vorfall als demütigend und außerordentlich peinlich empfunden haben, und es ist zu vermuten, daß diese Ereignisse zu seiner feindlichen Einstellung gegenüber dem preußischen Staat entscheidend beigetragen haben In ihrer Jugend waren Karl Marx und seine älteste Schwester gern gesehene Gäste im Hause des Trierer Regierungsrats von Westphalen. Die beiden waren mit dessen Tochter Jenny befreundet und von Westphalen muß den jungen Karl wegen dessen auffallender Intelligenz sehr geschätzt haben. Von ihm erhielt Karl Marx die Anregung, Shakespeare und griechische Tragiker zu lesen. Wie schon erwähnt, nimmt der französische Soziologe Gurvitch an, daß Karl Marx im Hause der von Westphalen auch mit den Schriften Saint-Simons bekannt gemacht worden sei. Als Siebzehnjähriger beginnt Karl Heinrich Marx das Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn. Er gehört dort der Trierer Landsmannschaft an, und Blumenberg berichtet: „auch duellierte er sich einmal" (Blumenberg, 1962: 24). Als er nach seinem ersten Wintersemester im Frühjahr 1836 aus Bonn heimkehrt, verlobt er sich heimlich mit der um vier Jahre älteren Jenny von Westphalen, die allgemein als das schönste Mädchen von Trier galt.

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Nach nur drei Semestern in Bonn siedelt Karl Marx an die Universität Berlin über. Hier entfaltet er einen unerhörten Arbeitseifer und studiert Jura, griechische und römische Literatur, Kunstgeschichte, Deutsche Geschichte, Englisch, Italienisch und schreibt außerdem Gedichte für seine Braut Jenny. Sein Wissensdurst ist von der Suche nach einem weltanschaulichen Fundament für sein Genie wohl nicht trennbar. Wegen der großen Zahl seiner Geschwister sind ganz offensichtlich seine finanziellen Möglichkeiten eng begrenzt. So setzt sich bei Marx schon früh die Anschauung durch, daß der Mensch zunächst essen und trinken muß, ehe er über den Sinn des Lebens nachdenken kann. Als Marx 1837 in Berlin eintraf war Hegel (1770 - 1831) schon seit sechs Jahren tot. Hegels Philosophie wirkte aber in zwei verschiedenen Richtungen von Jüngern fort: einer konservativen und einer radikalen linken Schule. Von Hegel übernimmt Marx die Suche nach der Vernunft in der Wirklichkeit (Marx, 1964: XIVf.). Hegels Satz "Die Wirklichkeit ist das Vernünftige, und das Vernünftige ist das Wirkliche" wird von Konservativen und Radikalen in verschiedener Weise ausgelegt. Die Konservativen sehen als das Wirkliche den preußischen Staat, der, da er wirklich existiert, auch vernünftig sein müsse. Jeder Angriff gegen ihn sei daher unmoralisch und überdies zwecklos, weil das Gesetz der Geschichte eine Entwicklung, die sich von dem Ideal des preußischen Staatswesens entfernen würde, nicht zuläßt. Für die Links-Hegelianer dagegen ist nur das Vernünftige wirklich und der preußische Staat also, aufgrund seiner inneren Widersprüche, ein ebenso unvernünftiges wie unwirkliches Gefuge, an dessen Abschaffung man arbeiten solle, um dem Vernünftigen schließlich zum Durchbruch zu verhelfen. Marx tritt dem sogenannten "Doktorclub" der Jung-Hegelianer bei und trifft dort den Privatdozenten für evangelische Theologie Bruno Bauer, den Ultra-Individualisten Max Stirner und andere 'Freigeister', wie sie sich selbst nannten. Nicht zuletzt unter dem Einfluß dieser Freunde beschließt Marx, das Studium der Rechtswissenschaften aufzugeben und stattdessen Philosophie zu studieren. Als junger Philosoph kämpft er mit dem Doktorclub gemeinsam gegen die herrschenden Gewalten: die Religion und den Staat. Auch Bruno Bauer vertritt als Theologe die Meinung, daß der menschliche Verstand als Richter über die Glaubenssätze des Evangeliums gesetzt werden müsse. Gemeinsam mit Bruno Bauer verfaßt Karl Marx eine anonym veröffentlichte Kritik an der Philosophie Hegels, die angeblich von einem frommen Lutheraner stammen sollte und die erhebliches Aufsehen erregte nicht zuletzt dadurch, daß einige Rezensenten auf diese Täuschung hereinfielen. Marx hatte den Plan, Universitätslehrer zu werden, hat sich aber dann so stark mit Bruno Bauer verbunden, daß in den Büros der preußischen Polizei Bauer und Marx in einem Atemzug genannt wurden. Die wahren Autoren der Schrift, die Marx und Bauer anonym als Kri-

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tik an der Hegeischen Apologie des preußischen Staates veröffentlicht hatten, wurden schließlich entdeckt und Bauer von seinen akademischen Ämtern entfernt. Zugleich war damit für Marx das Ziel, Hochschullehrer in Preußen zu werden, nicht mehr zu verwirklichen. Schon 1838, im zwanzigsten Lebensjahr von Karl Marx, stirbt dessen Vater, womit sich seine ohnehin angespannte finanzielle Lage drastisch verschlimmert. Marx schreibt nun eine Doktorarbeit über die Situation der griechischen Philosophie nach dem Tode des Aristoteles und reicht sie nach zehn Semestern am 6. April 1841 bei der philosophischen Fakultät der Universität Jena ein. Als im Jahre 1842 auch der Vater einer Braut Jenny von Westphalen stirbt, fühlt Karl Marx die Verpflichtung, schnellstens eine eigene Existenzgrundlage zu finden. Einige liberale Industrielle des von Preußen erst kürzlich annektierten Rheinlandes hatten damals das Bedürfnis, ihre Ideen durch eine Zeitung in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Es gelingt Moses Hess, einige dieser Leute als Geldgeber zur Gründung der liberaldemokratischen "Rheinischen Zeitung" zu gewinnen, und Karl Marx wird deren Redakteur. Aus dieser mäßig liberal geplanten Zeitung macht nun Marx ein erzradikales Organ mit dem erstaunlichen Erfolg, daß die Auflagenzahlen ständig steigen und demgemäß auch die finanzielle Lage der Zeitung sich sehr erfreulich gestaltet. Um die erst kürzlich erworbene Provinz Rheinland nicht vor den Kopf zu stoßen, legt die preußische Regierung eine überraschende Toleranz an den Tag. Die Zensoren, die Marx schließlich beigeordnet werden, fuhrt er gewaltig an der Nase herum, indem er zwischen den Zeilen genau das zum Ausdruck bringt, was auf preußischem Boden nicht gesagt werden darf. Weil sich ein direkter Angriff gegen den König von Preußen verbietet, entschließt Marx sich zu heftigen Ausfällen gegen den Zaren. Dem fällt ein Exemplar der Rheinischen Zeitung in die Hände und er läßt nun bei der preußischen Regierung mit großer Entschiedenheit die Abstellung derartiger Kampagnen fordern. "In Deutschland kann ich nichts mehr beginnen", schreibt Marx und begibt sich im November 1843 mit seiner jungen Frau nach Paris, wo er Redakteur der "Deutsch-Französischen Jahrbücher" wird. Karl Marx und Jenny von Westphalen hatten im Juni 1843 in Kreuznach geheiratet. Marx veröffentlicht in diesen Jahrbüchern unter anderem einen Aufsatz über die Judenfrage und eine Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Hegel hatte gelehrt, daß der Staat die Familie und die bürgerliche Gesellschaft bedingt, daß er also für die Existenz von Familie und Gesellschaft die Basis bildet. Marx zeigt nun umgekehrt wie nach seiner Vorstellung die Familie und die bürgerliche Gesellschaft den Staat bedingen. Für ihn ist der Staat als 'Verfassung' und 'Demokratie' das 'Entfremdete', ein Bereich also der jenseits der privaten Interessen liegt. Im 'wahren' Staat wie er Marx vorschwebt, darf es aber diesen Gegensatz

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zwischen öffentlicher und privater Sphäre nicht geben, sondern dort muß "das Allgemeine Privatangelegenheit eines jeden" sein. Darum geht in der 'wahren' Demokratie der Staat, das 'Entfremdete', nur Öffentliche unter, oder wie Marx es nennt, "der Staat stirbt ab": Öffentliche und private Sphäre werden eins. (Die Bedingung, daß beide Bereiche zu einem einzigen zusammenfallen, wird sowohl von dem Sippenverband als auch von dem totalitären Staat erfüllt, nur hat in dem einen Fall das zwischenmenschliche Geschehen in seiner Gesamtheit privaten, im anderen öffentlichen Charakter.) Diesem auf Marx zurück gehenden Traum hängen bis heute viele Sozialromantiker nach. Die Pariser Zeit fuhrt dazu, daß Marx sich allen seinen Freunden entfremdet. Außerdem bahnt sich der finanzielle Zusammenbruch der Deutsch-Französischen Jahrbücher an. Marx nimmt den Kontakt zu den sozialistischen und kommunistischen Gruppen auf, die in der Nachfolge der "Großen Revolution von 1789" in Paris weiterexistieren. Er macht sich die Erfahrung dieser nahezu einflußlosen Gruppierungen zu eigen und gelangt zu der Einsicht, daß die nur politische Gleichheit von geringer praktischer Bedeutung ist, solange nicht die wirtschaftliche Gleichheit gewährleistet werden kann. Unter dem Eindruck dieser Erkenntnis widmet sich Marx fortan dem Studium der Ökonomie, einem Fach, das ihm im Grunde gar nicht liegt, und infolgedessen hat ihn das Studium der wirtschaftlichen Zusammenhänge besonders viel Energie gekostet. Der Wandel seines wichtigsten Arbeitsfeldes drückt sich darin aus, daß er fortan nicht mehr von der "wahren Demokratie", sondern von der "klassenlosen Gesellschaft" als dem revolutionären Endziel spricht. Im September 1844 schließt sich Friedrich Engels in Paris dem Ehepaar Marx an. Die lebenslange Freundschaft, die sich aus dieser Begegnung entwickelt, kann in ihrer Bedeutung für das weitere Wirken von Karl Marx wohl kaum hoch genug eingeschätzt werden. Marx war der Sohn eines Rechtsanwalts aus Trier, Engels stammte als Sohn eines Textilfabrikanten aus Barmen. Beiden war also ihre 'bürgerliche' Herkunft gemeinsam, was aber Engels von Marx unterschied, war die intensive Kenntnis, die der um zwei Jahre jüngere Fabrikantensohn von praktisch wirtschaftlichen Zusammenhängen und von der Theorie der Volkswirtschaftslehre hatte. Da Marx gerade in seinen Pariser Jahren begann, der Nationalökonomie große Aufmerksamkeit zu schenken, ergab sich aus der Freundschaft mit Engels, der sich die Schriften der englischen Wirtschaftstheoretiker erarbeitet hatte, eine gute gegenseitige Ergänzung (vgl. Blumenberg, 1962: 64). Die beiden Freunde Marx und Engels, beide zwischen 24 und 26 Jahre alt, schreiben nun gemeinsam die bekannten kritischen Schriften "Die heilige Familie" und "Die deutsche Ideologie. Eine Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, Bruno Bauer und Stirner sowie des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten".

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Über "Die deutsche Ideologie" schreibt Marx später. "Wir (beschlossen), den Gegensatz unserer Ansicht gegen die ideologische Richtung der deutschen Philosophie gemeinschaftlich auszuarbeiten, in der Tat mit unserem ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen. Der Vorsatz ward ausgeführt in der Form einer Kritik der nachhegelschen Philosophie. Das Manuskript, zwei starke Oktavbände, war längst an seinem Verlagsort in Westfalen angelangt, als wir die Nachricht erhielten, daß veränderte Umstände den Druck nicht erlaubten. Wir überließen das Manuskript der nagenden Kritik der Mäuse umso williger, als wir unsern Hauptzweck erreicht hatten - Selbstverständigung" (zitiert nach Mehring, 1967: 120). Auffällig ist an diesen Schriften aus der Marx-Engelsschen Gemeinschaftsproduktion der unsachlich spöttische Ton, der auf eine an Arroganz grenzende Selbstsicherheit und starke Aggressivität der Verfasser schließen läßt. Das erste Jahr nach der Heirat zwischen Karl Marx und Jenny von Westphalen bringt außer der Freundschaft mit Engels auch die Geburt des ersten Kindes, der Tochter Jenny (1844). Im Januar 1845 wird die dreiköpfige Familie Marx auf Betreiben der preußischen Regierung aus Frankreich ausgewiesen. Äußerer Anlaß dazu waren zwei Artikel, in denen Marx in dem in Paris erscheinenden 'Vorwärts' den Staat Preußen angegriffen hatte. Eine Rückkehr nach Deutschland ist ausgeschlossen, weil dort ein Haftbefehl wegen versuchten Hochverrats und Majestätsverbrechens gegen Karl Marx vorliegt. So flieht er mit seiner Frau und mit der kleinen Tochter nach Brüssel. Bald nach seinem Eintreffen muß er sich dort bei der Behörde flir öffentliche Sicherheit melden und sich schriftlich verpflichten, in dem erst seit 15 Jahren unabhängigen Königreich Belgien keinerlei schriftliche Äußerungen zur Tagespolitik drukken zu lassen. Da Marx ohnehin keine Pläne hatte, sich mit der liberalen Verfassung Belgiens von 1831 auseinanderzusetzen, gab er dieses Versprechen nicht nur, sondern hielt es auch ein. Dennoch betrieb die preußische Regierung weiterhin in Brüssel bei den zuständigen Ministerien seine Ausweisung. Das veranlaßte Marx am 1. Dezember 1845 seine preußische Staatsangehörigkeit formell abzulegen. Er blieb bis an sein Lebensende staatenlos. Im Abstand von einigen Monaten folgte Engels der Familie Marx nach Brüssel. Die beiden Freunde unternahmen zu zweit eine sechswöchige Reise nach England, wo die Engelsschen Textilfabriken in Manchester ein Zweigwerk betrieben. Marx benutzte den Aufenthalt zum Studium der volkswirtschaftlichen Theorien Ricardos und anderer Nationalökonomen, soweit deren Schriften in Manchester erreichbar waren. Nach Brüssel zurückgekehrt trat Marx in Verbindung zu den deutschen kommunistischen Arbeiterorganisationen und bekam so auch Kontakt zu Mitgliedern einer internationalen Proletariervereinigung, die sich ein gewalttätig revolutionäres Programm gegeben hatte und sich "Liga der Gerechten" nannte. Marx hielt vor in Brüssel ansässigen deutschen Arbeitern

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Vorträge, in denen er sie von der Aufgabe zu überzeugen versuchte, die ihnen bei der bevorstehenden Revolution zukäme. Dabei bedeutet für den ins Ausland verbannten Marx die Hoffnung auf die Revolution zugleich auch die Hoffnung auf die Rückkehr in die Heimat. Im Februar 1848 erscheint dann das kommunistische Manifest, das Marx und Engels gemeinsam unter dem Titel "Manifest der kommunistischen Partei" herausbringen. Im nächsten Monat, Anfang März erfolgt Marx' Ausweisung aus Belgien. Die Nachricht vom Ausbruch der erwarteten Revolution von 1848 läßt Marx neue Hoffnung schöpfen. Über Paris kehrt er nach Köln zurück. Marx hat die Genugtuung, zu erleben, wie 1848 die französische Revolutionsregierung ihn zunächst als Berater nach Paris ruft. Dabei soll ihm auch die französische Staatsangehörigkeit angeboten worden sein, die er aber ausschlug. Noch im März investiert Karl Marx in Köln sein ganzes bescheidenes Vermögen in die Neugründung der Neuen Rheinischen Zeitung an der er zusammen mit Ferdinand Freiligrath arbeitete. Freiligrath wird noch im selben Jahr verhaftet. Die Revolution von 1848 bringt noch nicht einmal die bürgerliche Demokratie Anfang 1849 bricht sie zusammen und damit auch die Neue Rheinische Zeitung, die Existenzgrundlage der Familie Marx. Karl Marx wird in Darmstadt vorübergehend verhaftet, in einem Prozeß wegen "Aufreizung zur Rebellion" freigesprochen und im Mai 1848 als Staatenloser ausgewiesen. Zusammen mit seiner Familie begibt er sich zunächst wieder nach Paris, wird aber dort in einen abgelegenen Teil des Landes, in die Bretagne verbannt. Nicht zuletzt wegen des ungesunden Klimas, vor allem aber auch wegen der Unmöglichkeit, sich in der ländlichen Einsamkeit der Bretagne politisch betätigen zu können, flieht Karl Marx 1849 vollständig verarmt mit seiner Frau und vier kleinen Kindern nach London. Mit unendlicher Energie arbeitet er Tag für Tag von 9 Uhr früh bis 7 Uhr abends im British Museum in der Bibliothek und nachts bis 2 oder 3 Uhr zu Hause. Im Jahre 1859, nach zehn Jahren also, veröffentlicht er einen Vorläufer des Kapitals mit dem Titel "Zur Kritik der politischen Ökonomie". Endlich, 1867, erscheint der erste Band seines Werkes "Das Kapital". Als Fünfzigjähriger beginnt Marx 1868 Russisch zu lernen und in seinen letzten Lebensjahren studiert er auch noch Türkisch. Ihn interessieren die Landwirtschaft dieser beiden Länder und die Möglichkeit, mit Hilfe der Landarbeiter in Rußland und der Türkei eine Revolution herbeizufuhren. Offensichtlich war es völlig unmöglich fur Marx, durch diese Arbeiten zu irgendeinem Einkommen zu gelangen, das zum Unterhalt seiner großen Familie ausgereicht hätte. Darum muß er sich von 1851 bis 1862 außerdem als Journalist mit dem aktuellen politischen Geschehen befassen. Er selbst sagt unter anderem darüber: "Das beständige Zeitungsschmieren langweilt mich" (ebd.: 235).

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Immerhin schreibt er für so bedeutsame Blätter wie die New York Tribune als einer der europäischen Korrespondenten dieser damals größten amerikanischen Zeitung, die sich in linksliberaler Tendenz gegen die Sklaverei wandte. Mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs sind die USA dann so stark mit sich selbst beschäftigt, daß Marx' Mitarbeit überflüssig wird. Überhaupt hat die Familie Marx in London in fast ständiger materieller Not gelebt. Der finanzielle Zusammenbruch des Haushalts ist nur durch großzügige Spenden von Friedrich Engels verhindert worden, der seinem Freunde schließlich eine Rente aussetzte, die Marx ab Januar 1869 regelmäßig erhielt. Die beträchtlichen Erbschaften beim Tode der Mutter von Marx und beim Ableben eines Freundes in Manchester, Wilhelm WolfF, zerronnen in kurzer Zeit, weil das Ehepaar Marx völlig bürgerlich empfand und den Schein eines Wohlstandes vorzutäuschen versuchte, der weit über seinen tatsächlichen Verhältnissen lag. Dem entsprach es auch, daß Jenny und Karl Marx in ihrem Haushalt eine Hausangestellte beschäftigten, die Helene Demuth hieß und einen unehelichen Sohn namens Frederick zur Welt brachte. Karl Marx selbst soll der Vater dieses 'Freddy' gewesen sein; um aber die Ehe von Marx zu retten, soll Engels sich als der Vater Freddys ausgegeben haben. Das Elend, in dem Marx mit seiner Familie lebt, ist schwer vorstellbar. Von seinen sechs Kindern sterben drei. Häufig haben die Kinder nichts anzuziehen, um zur Schule geschickt zu werden. Seine Ehefrau Jenny ist vor Erschöpfung zumeist krank. Eine Furunkulose hindert Marx in seinen letzten Lebensjahren am Gehen, Sitzen oder Schreiben. Außerdem zieht er sich ein Leberleiden und einen chronischen Luftröhrenkatarrh zu. Im Jahre 1881 stirbt seine Frau im Alter von 67 Jahren als er selbst 63 Jahre alt ist. Der Arzt schickt den Witwer Karl Marx zur Kur nach Algerien. Wegen eines ungewöhnlich kalten und nassen Sommers zieht er sich auf der Reise dorthin eine Rippenfellentzündung zu. Auf dem Rückweg besucht er in Paris seine älteste Tochter Jenny. Als er in London ankommt, erreicht ihn die Nachricht von ihrem Tode. Der Verlust seiner Frau und nun auch noch dieser Tochter mag Marx den Lebenswillen genommen haben. Am 14. März 1883 findet Friedrich Engels den noch nicht ganz Fünfundsechzigjährigen tot in seinem Lehnstuhl. Vor einer kleinen Trauergemeinde hält Engels die Grabrede, als Marx auf dem High-Gate Friedhof in London beigesetzt wird. Isaiah Berlin gibt einen Eindruck wieder, den Moses Hess von seiner Begegnung mit Karl Marx einem Freund brieflich berichtet: "Du kannst dich darauf gefaßt machen, den größten, vielleicht den einzigen jetzt lebenden Philosophen kennenzulernen, der nächstens die Augen Deutschlands auf sich ziehen wird. Dr. Marx, so heißt mein Abgott, ist noch ein ganz junger Mann (etwa 24 Jahre höchstens alt), der aber der mittelalterlichen Religion und Politik den letzten Stoß versetzen wird; er verbindet mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schnei-

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densten Witz; denke dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt, ich sage vereinigt, nicht zusammengeschmissen, so hast du Dr. Marx" (Berlin, 1959: 84). Siegfried Landshut schreibt: "Ein ausgezeichnetes Bild seiner Erscheinung entwirft der Russe Anienkow, der an einer der Versammlungen in Brüssel teilgenommen hat: 'Er selbst stellt den Typus eines Menschen dar, der aus Energie, Willenskraft und unbeugsamer Überzeugung zusammengesetzt ist, ein Typus, der auch der äußeren Erscheinung nach höchst merkwürdig war. Eine dichte schwarze Mähne auf dem Kopf, die Hände mit Haaren bedeckt, den Rock schief zugeknöpft, hatte er dennoch das Aussehen eines Mannes, der das Recht und die Macht hat, Achtung zu fordern, wenn sein Aussehen und sein Tun auch seltsam genug erscheinen mochte. Seine Bewegungen waren eckig, aber kühn und selbstbewußt. Seine Manieren liefen geradezu allen gesellschaftlichen Umgangsformen zuwider. Aber sie waren stolz, mit einem Anflug von Verachtung, und seine scharfe Stimme, die wie Metall klang, stimmte merkwürdig überein mit den radikalen Urteilen über Menschen und Dinge, die er fällte. Er sprach nicht anders als in imperativen, keinen Widerstand duldenden Worten, die übrigens noch durch einen mich fast schmerzlich berührenden Ton, welcher alles, was er sprach, durchdrang, verschärft wurden. Dieser Ton drückte die feste Überzeugung von seiner Mission aus, die Geister zu beherrschen, und ihnen Gesetze vorzuschreiben. Vor mir stand die Verkörperung eines demokratischen Diktators, wie sie auf Momente der Phantasie vorschweben mochte'" (Marx, 1964: XL Vif).

b) Die Lehre des Karl Marx aa) Vorbemerkung Häufig gewann die Soziologie ihren Gegenstand dadurch, daß ein ehemals selbstverständliches Phänomen fraglich wurde. Die Religion wurde problematisch, weil im Laufe des 18. und dann vor allem des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen die Frage stellten, ob es nicht ohne Religion auch, vielleicht sogar besser ginge. Der Verlust der Selbstverständlichkeiten ergriff neben der religiösen Tradition die politische und die wirtschaftliche. Schon vor dem Manifest der Kommunistischen Partei, das er bekanntlich mit Friedrich Engels gemeinsam verfaßt hat, schreibt Marx 1845/46 "Die Deutsche Ideologie". In dieser Frühschrift setzt er sich mit Feuerbach auseinander. Fraglich geworden war die Richtigkeit der Ideen und der Prozeß, in dem sie erneuert werden könnten.

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"Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen etc. etc., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß" (Marx, 1964: 348f). bb)

Religionskritik

Die Religionskritik, die in dem vorstehenden Zitat von Karl Marx enthalten ist, beruht darauf, daß er den Dualismus von Diesseits und Jenseits bestreitet. Die Gegenstände des religiösen Denkens existieren gar nicht, sie sind nicht eine real erlebbare Welt im Jenseits, sie sind nur phantastische Bewältigungsversuche für Probleme des Diesseits selbst. Darum ist Karl Marx auch nicht mit den Thesen von Ludwig Feuerbach (1804-1872) zufrieden. Feuerbach, ein Schüler Hegels und wie Hegel selbst ehemaliger evangelischer Theologe, hatte den Dualismus von Diesseits und Jenseits im wesentlichen beibehalten und die Behauptung formuliert, die Gottheiten seien eine der Phantasie des Menschen entstammende eigene Realität, in die der Mensch all das hinein projiziere, was im Diesseits fur sich selbst zu verwirklichen ihm versagt bleibt. Theologie ist daher fur Feuerbach ein Selbsterkenntnisprozeß des Menschen, und ihre Denkergebnisse fuhren schließlich dazu, daß der Mensch in die Lage gerät, sein eigenes Wesen zu durchschauen. Das Ergebnis des Feuerbach'schen Denkens ist demnach eine Anthropologisierung der Religion. Diese Feuerbach'sche Anthropologie wurde fur das Denken des frühen Karl Marx und parallel dazu auch des Friedrich Engels sehr bedeutsam. Marx wendet die theologisch-philosophische Reflexion Feuerbachs in Richtung auf wissenssoziologisch-religionssoziologische Überlegungen. Dabei lehnt er, wie wir schon sahen, den dualistischen Ansatz ab und schreibt in seiner vierten These über Feuerbach: "Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse und eine weltliche, aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und

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Sich-selbst-widersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst (sie!) sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden..." (Marx, 1964: 340). Für Marx sind die Vorstellungsinhalte, die sich als das Reich des Religiösen darbieten, nicht einer anderen Welt zuzurechnen, die von der erfahrbaren Welt des Diesseits getrennt sei, Religion ist vielmehr ein, noch dazu krankhafter, Aspekt des Diesseits selbst. Um zu illustrieren, wie er das meint, schreibt er im Anschluß an die eben zitierten Sätze noch innerhalb der vierten These gegen Feuerbach als Schlußsatz folgendes: "Also nach dem z.B. die irdische Familie als das Geheimnis der heiligen Familie entdeckt ist, muß nun erstere selbst theoretisch und praktisch vernichtet werden" (ebd.). Sieht man von dem revolutionär-kämpferischen Elan ab, der die Denkweise schon des jungen Marx kennzeichnete, so bleibt als nüchterner Ertrag seiner Formulierungen übrig, daß die Religion bekämpft werden muß, weil sie ein korrektes Bild von der Wirklichkeit verhindern hilft. Die Menschen können aber erst dann wirklichkeitsadäquat handeln, wenn sie zunächst die Wirklichkeit unverfälscht so wahrnehmen, wie sie tatsächlich ist. Für den Soziologen, der in der Nachfolge von Karl Marx heute denkt, leben die Menschen in den freiheitlichen Industrienationen des Westens unter den Bedingungen des Kapitalismus. Die kapitalistischen Gesellschaften zeichnen sich u.a. dadurch aus, daß ihre Sozialstruktur, also der Aufbau der sozialen Schichtung, dem Zweiklassenmodell entspricht. Je nach dem, ob der Einzelne als Eigentümer von Fabrikationsanlagen über Produktionsmittel verfugt oder nicht, gehört er der einen oder der anderen Klasse an. Diese Zweiteilung der Bevölkerung in Lohnarbeiter und Kapitalisten oder, um an die Stelle der ökonomischen Begriffe die politischen zu setzen, zwischen Proletariat und Bourgeoisie, ist das Ergebnis der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner materiellen Umwelt. Doch die konfliktreiche Beziehung zwischen den Klassen ist typisch nur flir die historische Durchgangsphase des Kapitalismus, die so lange dauert, wie die Interessen der Klassen notwendig gegensätzlich sind. Die spannungsreiche Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erzeugt nicht nur die Klassenstruktur, sondern fuhrt auch zu ihrer Überwindung. Der Kapitalismus wird nach den Thesen des historischen Materialismus von Karl Marx um so schneller überwunden werden, je klarer die davon betroffenen Menschen ihn in seiner Unmenschlichkeit erkennen. Religion hat die Wirkung, die Einsicht in die Mängel der kapitalistischen Gesellschaft zu verschleiern. Sie verzögert oder verhindert daher die revolutionäre Überwindung dieser historischen Durchgangsphase. Daher ist es vornehmste Aufgabe der revolutionären Wissenschaft und Politik, die Religion zu bekämpfen.

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Das Religionsverständnis von Karl Marx fugt sich ein in die Ansichten der evolutionistischen Ethnologen des 19. Jahrhunderts, die in der Religion einen Lückenbüßer für das Fehlen rationalen Denkens sahen. Diese Evolutionisten betrachteten die Primitivkulturen, die im 19. Jahrhundert mit großer Begeisterung entdeckt und beschrieben wurden, als Konservierungen der Früh- und Vorgeschichte der Hoch- und Industriekulturen. Im primitiven Denken war das Fehlen wissenschaftlicher Einsichten über astronomische, biologische und andere Zusammenhänge offenkundig. Um zu verhindern, daß solche Unwissenheit zu Erlebnissen der Handlungsunsicherheit und der Existenzangst führten, hatte religiöses Wissen einzutreten, mindestens solange, bis rationales und wissenschaftliches Wissen die religiöse Notlösung überflüssig machen würde. In den geistigen Kontext dieser Art zu denken, paßte das Marx'sche Konzept recht genau. Es hatte daher gute Chancen, sich zumal bei Intellektuellen durchzusetzen. cc) Zur Judenfrage Zu den Texten, die Karl Marx in den Jahren 1843/44 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlichte, gehört die Arbeit "Zur Judenfrage". Sie entstand aus der Auseinandersetzung mit dem evangelischen Theologen Bruno Bauer, der von 1809 bis 1882 lebte und, wie schon erwähnt wurde, zeitweilig mit Marx befreundet war. Ende der dreißiger Jahre gehörte Bauer noch dem konservativen Lager der Rechtshegelianer an. Er wandelte sich jedoch zum atheistischen Religionskritiker und Linkshegelianer, und im Jahre 1842 entzog ihm die theologische Fakultät der Universität Berlin die venia legendi. Marx überschreibt seinen Text so: "Bruno Bauer: Die Judenfrage. Braunschweig 1843". In Bauers Abhandlung waren die deutschen Juden gemahnt worden, nicht für sich als Sondergruppe die Emanzipation zu fordern, da doch allen Deutschen die Voraussetzung der Emanzipation fehlte (vgl. Marx, 1964: 171). Marx interessiert sich angesichts dieses Aufrufs, den Bruno Bauer an die Juden Deutschlands richtet, für die Idee der Emanzipation und für den Stellenwert, den die Religion dabei einnimmt. Er gibt zu Beginn eine Definition: Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst (ebd.: 199). Unter dem Eindruck der zweibändigen Schrift "De la Demokratie en Amerique", die der französische Jurist Alexis de Tocqueville (1805-1859) in den Jahren 1835-40 veröffentlichte, wundert Marx sich darüber, daß anscheinend die Bevölkerung der U.S.A. sowohl emanzipiert als auch religiös sein kann (177f). "Da aber das Dasein der Religion das Dasein eines Mangels ist, so kann die Quelle dieses Mangels nur noch im Wesen des Staates selbst gesucht werden" (ebd.: 178). Die Tatsache, daß irgendwo Religion auftaucht, ist für Marx so

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etwas wie ein Symptom, das auf das Vorhandensein einer Krankheit hinweist, nicht aber auch die Ursache der Krankheit darstellt. "Die Religion gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit" (ebd.). Das bedeutet im Kern immer wieder dies: Religion bewirkt nichts, sie kann den Menschen nicht motivieren, sie macht ihn nur beschränkt, borniert, passiv und insbesondere unfähig zur kritischen Aktivität. Daher ist Religion aus der Sicht von Karl Marx nicht Ursache, sondern nur Wirkung, eben Symptom, das auf Mißstände hinweist, die ganz andere, von der Religion unabhängige Gründe haben. "Wir erklären daher die religiöse Befangenheit der freien Staatsbürger aus ihrer weltlichen Befangenheit. Wir behaupten nicht, daß sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben müssen, um ihre weltlichen Schranken aufzuheben. Wir behaupten, daß sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben, sobald sie ihre weltliche Schranke aufheben. Wir verwandeln nicht die weltlichen Fragen in theologische. Wir verwandeln die theologischen Fragen in weltliche. Nachdem die Geschichte lange genug in Aberglauben aufgelöst worden ist, lösen wir den Aberglauben in Geschichte auf 1 (ebd.). Diese Deutung der Religion wendet Marx auf das Judentum an, aus dem seine eigene Familie hervorgegangen ist. Dabei unterscheidet er den religiösen Aspekt des Judentums von dem weltlich kulturellen Aspekt. Seinen Religionsbegriff kombiniert er mit seiner Vorstellung von Emanzipation und übersetzt gleichsam die theologischen Fragen Bruno Bauers in politische Fragen. "Bauer verwandelt also hier die Frage von der Judenemanzipation in eine rein religiöse Frage. Der theologische Skrupel, wer eher Aussicht hat, selig zu werden, Jude oder Christ, wiederholt sich in der aufgeklärten Form: wer von beiden ist

emanzipationsfähiger?

Es fragt sich zwar nicht mehr: macht Judentum oder Christentum frei? sondern vielmehr umgekehrt: was macht freier, die Negation des Judentums oder die Negation des Christentums?" (ebd.: 200) Ob auf ideeller Ebene eine religiöse Idee geglaubt wird, wie von dem frommen Juden oder Christen, oder ob sie mit ungläubiger Leidenschaft als Irrtum bestritten wird, das macht aus der Sicht des jungen Marx keinen bedeutsamen Unterschied. Es bleibt im einen wie im anderen Falle stets nur Bekenntnis, es bleibt fromme oder ungläubige ideelle Spinnerei. Darum lohnt es sich auch durchaus nicht, daß ein Jude zum Christentum übertritt, wie der Vater von Karl Marx es mit seiner ganzen Familie getan hatte. Und zu der Fragestellung des zum Atheisten gewordenen Bruno Bauer schreibt Marx: "Es handelt sich immer noch um ein Bekenntnis für den Juden, aber nicht mehr um das Bekenntnis zum Christentum, sondern zum aufgelösten Christentum." (ebd.: 200)

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Marx geht es ja nicht um die Frage, welche Form des Idealismus richtig sei, sondern darum, daß jede Form des Idealismus aus seiner Sicht falsch ist, daß an die Stelle der idealistischen Betrachtung die materialistische treten müsse. Darum muß auch die Frage neu und anders gestellt werden, und zwar so, daß sie zu einer Frage wird, auf die der historische Materialismus eine Antwort geben kann. "Wir versuchen, die theologische Fassung der Frage zu brechen. Die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit des Juden verwandelt sich uns in die Frage, welches besondere gesellschaftliche

Element zu überwinden sei, um das Judentum aufzuhe-

ben?" (ebd.: 201). Das hier formulierte Anliegen, die Aufhebung des Judentums, ist selbstverständlich kein religiöses Anliegen Das Judentum ist in seiner weltlichen Form Ausdruck einer religiösen Idee, und beides zusammengenommen als weltliches und religiöses Judentum stellt fur Marx das Symptom einer kranken Gesellschaft dar. Findet man den Schlüssel zur Heilung der Krankheit am sozialen Körper, dann verschwindet das Symptom der Krankheit von selbst. Und die Beseitigung der Krankheit ist das Anliegen, um das es Marx geht. "Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatjuden, wie Bauer es tut, sondern den Alltagsjuden

(Absätze im Original).

Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott?

Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit." (ebd.: 201). Die ursprünglich religiöse Überzeugung, daß sich die vollendete Form des Menschseins in der eigenen Glaubensgemeinschaft verwirkliche, taucht hier in der verweltlichten Form auf, daß die Emanzipation als Menschheitsziel an den Lebensbedingungen der Juden orientiert werden müsse. Schacher und Geld werden als ursprünglich jüdisch, dann aber wieder als gesamtmenschlich dargestellt. Dies ist die Frühform einer Revolutionstheorie, in der später an die Stelle von Geld das Kapital und an die Stelle des Judentums das Proletariat als Subjekt der Emanzipation tritt. "Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewußtsein würde wie ein fader Dunst in der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen. Andererseits: wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus, an der

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menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich gegen den höchsten

praktischen

Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung." (ebd.: 20lf). Der von seiner religiösen Tradition abgelöste Jude, der sich dank verstandesmäßigen Bemühens aus der Abhängigkeit von Geld und Schacher befreit, bereitet als geistiger Führer die Befreiung der ganzen Menschheit vor. Das ist das in diesem Text von 1843/44 skizzierte Konzept, und es beschreibt zugleich die Person des Karl Marx selbst. Marx fährt fort, in den Begriffen der Religion wirtschaftliche Tatbestände zu erörtern. "Der Monotheismus des Juden ist daher in der Wirklichkeit der Polytheismus der vielen Bedürfnisse..." (ebd.: 204). Wie später in seiner Theorie des Kapitals als eine sich selbst bewegenden Macht in der Geschichte, erscheint schon in dieser Frühschrift das Geld als autonome Kraft mit gleichsam göttlichen Qualitäten. "Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen - und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an" (ebd.: 204). Das klingt ähnlich wie die Mahnungen des Frommen, der sich um das Heil der Seele dessen sorgt, der Gott und dem Mammon zugleich zu dienen versucht. Wenn man aber auf die feinen Obertöne des Textes lauscht, hört man gleichsam den zornigen Abgesang an die Religion der eigenen Väter, die Marx, der Enkel zweier Rabbiner, verlassen hat. Mit aller intellektueller Kraft sucht er die rationale Rechtfertigung seiner Abkehr von der jüdischen Religion. "Was in der jüdischen Religion abstrakt liegt, die Verachtung der Theorie, der Kunst, der Geschichte, des Menschen als Selbstzweck, das ist der wirklich bewußte Standpunkt, die Tugend des Geldmenschen" (ebd.: 204). "Das Judentum konnte sich als Religion, es konnte sich theoretisch nicht weiter entwickeln, weil die Weltanschauung des praktischen Bedürfnisses ihrer Natur nach borniert und in wenigen Zügen erschöpft ist (Absatz im Original). Die Religion des praktischen Bedürfnisses konnte ihrem Wesen nach die Vollendung nicht in der Theorie, sondern nur in der Praxis finden, eben weil ihre Wahrheit die Praxis ist" (ebd.: 205). In diesen Sätzen setzt Marx Religion mit Theorie gleich und Wahrheit mit Praxis. Daß aber die Verachtung der Theorie Bestandteil der jüdischen Religion sei, hatte Marx gerade festgestellt. Und die für ihn typische Hochschätzung der Praxis läßt ihn die Wahrheit in das Tun hinein verlagern. Ob er damit den Pragmatismus antizipiert, können wir hier nicht untersuchen.

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dd) Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie.

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Einleitung

Dies ist der Titel eines weiteren Werkes aus dem Kreis der Frühschriften von Marx; das Wort "Einleitung" hinter dem Punkt ist Teil des Titels. Wenn erst einmal deutlich geworden ist, aus welcher Sicht das Thema Religion bei Marx behandelt wird, erscheinen seine Formulierungen als Variationen über ein Leitmotiv. Die Schrift über die Judenfrage, die in der Auseinandersetzung mit Bruno Bauer entstanden ist, eignet sich gut dazu, an der einigermaßen konkreten Kritik am Judentum die Marx'sche Methode aufzuzeigen. Unabhängig von seiner Methode ist seine Einschätzung der geistesgeschichtlichen Situation seiner Zeit dadurch gekennzeichnet, daß er ähnlich wie Comte, die Phase religiösen Bewußtseins für abgeschlossen hält. "Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik" (ebd.: 207). Dieses Zitat stammt aus der Auseinandersetzung mit einem Aspekt der Philosophie Hegels, die Marx ebenfalls in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern 1843/44 veröffentlicht unter der Überschrift "Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung". Dort findet man die vertrauten Formulierungen, in denen, wie in der Abhandlung zur Judenfrage, Religion als Symptom gesellschaftlicher Defekte gedeutet wird. "Sie ist die phantastische chung des menschlichen Wesens, weil das menschliche

Verwirkli-

Wesen keine wahre Wirklichkeit

besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist (Absatz im Original). Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks." (ebd.: 208) Hier steht bei Marx wohl mehr die Freude am Spiel mit der Sprache im Vordergrund, die er glanzvoll beherrscht. Inhaltlich wird jedoch kaum noch Neues ausgesagt. Die sehr bekannt gewordene Formel von dem "Opium des Volks" faßt in aller Anschaulichkeit zusammen, daß Religion von der Praxis ablenkt, die zur Emanzipation des Menschen not tut. Der Gedanke, Religion könne etwa auch Praxis motivieren, kommt Marx nicht. Das aber Praxis als entschiedenes politisches Handeln gefordert werden muß, daran kann es für ihn keinen Zweifel geben. Dazu muß ein klarer Kopf vorhanden sein, der sich nicht verwirren läßt, der die Dinge so sieht, wie sie von sich auch materiell sind, und der allen Phantastereien abschwört. "Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung,

einen

Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf (ebd.: 208). Das ist freilich mehr als nur ein Wortspiel: Es reicht für Marx unter gar keinen Umständen aus, eine Illusion aufzugeben, oder konkreter, einen religiösen Glauben abzulegen

Es

kommt vielmehr darauf an, die materiellen Lebensbedingungen zu verändern, und zwar so,

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daß Illusionen jeder Art, also auch Religion, überflüssig werden. Dies ist die deutlich erkennbare Forderung nach Umgestaltung der sozialen Verhältnisse. Wie wir gesehen haben, gehört dazu die Gleichsetzung von Theorie und Religion einerseits und von Praxis und Wahrheit andererseits. Die Worte des Mephisto an den jungen Studenten in Goethes Faust, nach denen alle Theorie grau ist, werden hier in vollem Ernst aufgegriffen. Das Jenseits ist nichts als graue Theorie. "Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren" (ebd.: 208f). Die naheliegende Frage, wie das nach Marx zu geschehen habe, trifft den Philosophen nicht unvorbereitet. Die Wahrheit des Diesseits etabliert man nicht am Schreibtisch, sondern auf den Barrikaden. "Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift" (ebd.: 216). Die aufwühlenden Ereignisse der großen Französischen Revolution lagen Marx und seinen Zeitgenossen noch nah. Sie hat Marx vor Augen, wenn er schreibt, daß die Theorie zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Massen ergreift. Völlig inkonsequent ist es dabei, daß er die Frage nicht erörtert, ob nicht auch religiöse Ideen, die er doch zuvor mit Theorie gleichgesetzt hatte, die Massen ergreifen können. Was ist ein Philosoph wie Marx, der zur Feder greift, um die Welt zu verändern, denn anderes als jemand, der sich wünschen muß, daß sein Denken umschlägt in das Handeln der Vielen. Und daß diese Dimension des Umschlags in Praxis jeder Religion mindestens als Möglichkeit innewohnt, weiß Marx sehr wohl, doch er tut das ab als Schacher und Gier nach Geld. Geblendet durch die eigene polemische Intention, übersieht Marx den geschichtsmächtigen Einfluß religiöser Bewegungen, und so hat er zur Reformation nichts zu sagen als Hohn und Spott, obwohl er genau weiß, daß der Dreißigjährige Krieg aus religiösen Antrieben gefuhrt wurde. "Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt (Absatz im Original). Aber, wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die wahre Stellung der Aufgabe. Es galt nun nicht mehr den Kampf des Laien mit dem Pfaffen außer ihm, es galt den Kampf mit seinem eigenen inneren Pfaffen, seiner pfäffischen Natur" (ebd.: 217). Wie wir gesehen haben, hat auch Comte keine hohe Meinung vom Protestantismus. Doch der differenziert genug, um die sozialen Wirkungen verschiedener Religionen voneinander

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unterscheiden zu können. Marx dagegen wendet sich so pauschal gegen Religionen jeder Art, daß die spezifischen Angriffe gegen Luther belanglos wirken. Das Phasenschema Comtes muß Marx wohl aber gekannt haben, denn er klagt darüber, daß Deutschland in der Entwicklung des Bewußtseins hinter dem übrigen Europa zurückliegt, und vergleicht das mit einem Fetischisten, der unter den historischen Problemen des Christentums leidet. "Deutschland wird sich daher eines Morgens auf dem Niveau des europäischen Verfalls befinden, bevor es jemals auf dem Niveau der europäischen Emanzipation gestanden hat. Man wird es einem Fetischdiener

vergleichen können, der an den Krankheiten des Christentums

siecht" (ebd.: 218). Der andere bedeutende evangelische Theologe, dem Marx neben Hegel und Bruno Bauer viel verdankt, ist Ludwig Feuerbach (1804-1872), der wie Bauer eine Karriere im Dienst seiner Kirche durch den Tenor seiner Publikationen unmöglich werden läßt. Marx bekennt sich in seiner Frühschrift "Nationalökonomie und Philosophie" geradezu begeistert zu den Leistungen Feuerbachs. "Feuerbach ist der einzige, der ein ernsthaftes und kritisches Verhältnis zur Hegeischen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiete gemacht hat, überhaupt der wahre Überwinder der alten Philosophie ist... (Absatz im Original). Feuerbachs große Tat ist: 1. Der Beweis, daß die Philosophie nichts anderes ist als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion; also ebenfalls zu verurteilen ist, eine andere Form und Daseinsweise der Entfremdung des menschlichen Wesens. 2. Die Gründung des wahren Materialismus

und der reellen Wissenschaft, indem Feuerbach

das gesellschaftliche Verhältnis des 'Menschen zum Menschen' - ebenso zum Grundprinzip der Theorie macht. 3. Indem er der Negation der Negation, die das absolut Positive zu sein behauptete, das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst begründete Positive entgegenstellt" (ebd.: 250f). Hier taucht wieder der Begriff der Entfremdung auf. Der Mensch ist zwar Schöpfer seiner Ideen, aber das nützt ihm nichts; denn er verliert die Kontrolle über das, was er selbst hervorgebracht hat, und unterwirft sich dann seinen eigenen Kreationen als wären sie Götter. Der Kreis schließt sich. Die Argumentation ist inzwischen vertraut: Religion ist nur Symptom, sie deutet auf Zerrissenheit und Widersprüche. Brächte man nur das Diesseits in Ordnung, so würde das Jenseits als Träumerei von selbst verschwinden, meint Marx, und zwar nun unter ausdrücklicher Berufung auf Feuerbach. "Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein sollen. Nach ihren Vorstellungen von Gott, von dem Normalmenschen usw., haben sie ihre Verhältnisse

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eingerichtet. Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt. Befreien wir sie von den Hirngespinsten, den Ideen, den Dogmen, dem eingebildeten Wahn, unter deren Joch sie verkümmern" (ebd.: 341). Dieser Aufruf des jungen Marx hat viel Gehör gefunden. Im Laufe seines Wirkens hat er das, was hier als Religion noch "Ausgeburten" des Kopfes sind, zu den materiellen Erzeugnissen der Praxis ausgeweitet. Das Modell des Zauberlehrlings findet Anwendung: Der Mensch ruft die Geister, die er selbst geschaffen hat, als seine Religion zu seinem Trost heran, und dann wird er sie nicht wieder los, verkümmert unter ihrem drückenden Joch, bis Marx ihn durch seinen historischen Materialismus zu sich selbst befreit. Das ist der Standpunkt der Emanzipation Während die Franzosen Saint-Simon und Comte von dem sozialen Wandel, den sie wissenschaftlich verständlich machen wollten, noch die Überwindung der feudalen Gesellschaft und die Ablösung der Herrschaft des Adels und des höheren Klerus durch eine Herrschaft des Bürgertums und der Unternehmer erwarteten, eilte Karl Marx in seinem Denken der Entwicklung soweit voraus, daß er schon das Ende der bürgerlichen Gesellschaft wissenschaftlich begründen zu können glaubte. Ähnlich wie die Feudalordnung durch die bürgerliche Revolution zerschlagen worden sei, werde demnächst die bürgerliche Gesellschaft durch die proletarische Revolution zerschlagen. Während Marx in seinen Frühschriften noch deutlich als Philosoph argumentiert, wendet er sich nach der Emigration nach England und schon unter dem Eindruck der Ohnmacht der Revolutionäre in Paris immer mehr der Ökonomie zu. ee) Der Einfluß Hegels Marx übernimmt die einseitige Überbetonung des ökonomischen Bereiches für sein Denken, die flir die bürgerliche Gesellschaft typisch ist. Ursprünglich hat er sich aber als Philosoph von Hegel beeinflussen lassen. Hegel war evangelischer Theologe gewesen und hatte dann eine Philosophie konzipiert, die gleichsam an die Stelle des Schöpfergottes den autonomen Weltgeist setzt. Dieser Geist erscheint nun in verschiedener Gestalt, und den Gestaltwandel behandelt Hegel in seiner berühmten Arbeit "Phänomenologie des Geistes" (Hegel, 1970). In dem darin enthaltenen Abschnitt über die Arbeit stellt er die Dialektik des Umschlages in der sozialen Beziehung zwischen Herr und Knecht dar. Das Herrsein beruht, wie später auch Max Weber in seiner Soziologie der Herrschaft darstellen wird, auf der Zustimmung des Knechtes. Wenn jedoch der Dialog zwischen Herr und

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Knecht unterbleibt, tritt das ein, was Hegel die Entfremdung des Knechtes nennt, die darin begründet liegt, daß der Knecht eine dingliche Form produziert, der ein anderer, nämlich der Herr, Sinn gibt. In dem gegenständlichen Produkt, das der Knecht herstellt, verdinglicht also nicht der Knecht sein eigenes Bewußtsein, sondern es wird zur Verdinglichung des Bewußtseins des Herrn, wobei freilich der Knecht diesem Vorgang zunächst seine Zustimmung mindestens durch Tolerieren des ganzen Ablaufes gibt. So hat in der Sicht Hegels, die freilich hier stark verkürzt dargestellt wird, der Herr durch Vermittlung des Knechtes Macht über die Dingheit, die Marx später das Kapital nennen soll, und er hat durch Vermittlung der Dingheit Macht über den Knecht. Zunächst hat also das Verhältnis zwischen Herr und Knecht den Charakter einer Paarbeziehung, die freilich asymmetrisch ist. Sobald jedoch die Degradation des Knechtes soweit fortschreitet, daß er vom Standpunkt des Herrn aus gesehen selbst der Dingheit zugerechnet wird, entfällt die Paarbeziehung zwischen zwei Subjekten und damit die Chance fur Interaktion und Dialog. Als Konsequenz davon ergibt sich die Isolierung des Herrn, denn mit dem Fortfallen der Kommunikation verliert das Bewußtsein des Herrn auch die Fähigkeit, sich zu wandeln und zu entwickeln. Insbesondere merkt der Herr auch nicht, daß der Knecht fur ihn aufgehört hat, Person zu sein und daß er statt dessen Objekt geworden ist. Umgekehrt lernt der Knecht immer mehr, seine eigene Situation richtig einzuschätzen. Dadurch gewinnt er die Chance, zum Subjekt seines eigenen Bewußtseins zu werden und sein Bewußtsein zielstrebig als der Situation entsprechend fortzuentwickeln. Endlich erkennt der Knecht, daß er in der Abhängigkeit von seinem Herrn steht, und dieses neue Wissen wird fortan zum Sinngehalt seines Tuns, so daß das von ihm geschaffene dingliche Produkt auch Träger dieses neu erkannten Sinngehaltes werden kann. So kommt in der Sprache Hegels "das dienende Bewußtsein zum Fürsichsein". Das ist der Vollzug der Emanzipation in gewaltloser Weise aufgrund der dialektischen Automatik. Der junge Karl Marx wird diese Darstellung Hegels mit Bewunderung gelesen haben. Im Unterschied zu dem individualistischen Denken des deutschen philosophischen Idealismus lag aber dem aus der Tradition des mosaischen Glaubens stammenden Marx das Denken in Kollektiven viel näher. Als Angehöriger des jüdischen Volkes hatte er gelernt, wie seine Väter sich vorzustellen, daß sehr wohl ein Kollektiv Subjekt der geschichtlichen Entwicklung sein konnte und nicht etwa nur ein politisch wirksames Individuum. So ist es leicht vorstellbar, daß Marx, ausgehend von der dialektischen Darstellung der Beziehung zwischen Herr und Knecht bei Hegel, an die Stelle dieser beiden Individuen zwei Kollektive setzt. In seiner "Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung" (Marx, 1964), die Marx gegen Ende des Jahres 1843 geschrieben hat, taucht - soviel ich sehe - zum ersten Mal der

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Begriff "Proletariat" auf. Von der Bourgeoisie als der einen Gegenklasse spricht Marx aber hier noch nicht, sondern davon, daß "keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft das Bedürfnis und die Fähigkeit der allgemeinen Emanzipation (hat), bis sie nicht durch ihre unmittelbare Lage, durch die materielle Notwendigkeit, durch ihre Ketten selbst dazu gezwungen wird" (ebd.: 222). Ganz analog zu Hegels Herr- und Knechtbeziehung, in der der Knecht aufhört, Knecht des Herrn zu sein, sieht Marx nun die "positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation... in der Bildung einer Klasse,

der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine

Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist..." (ebd.). Während die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, wie Marx sie sieht, einer Emanzipation unfähig sind, sieht er als Subjekt der Revolution eine Pluralität, das Proletariat, welche "keine Klasse" ist, weil ihr jede geordnete Struktur fehlt - und für einen "Stand", von dem Marx ebenfalls spricht, träfe der Zustand der Verfaßtheit in noch höherem Maße zu. Marx sieht das Proletariat demnach an dieser Stelle, an der er den Begriff in sein Denken neu einfuhrt, als eine Pluralität im Zustand der Auflösung. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat: "Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung" (ebd.: 223). Diese Sicht des Verhältnisses von Proletariat und bürgerlicher Gesellschaft entspricht den historischen Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts viel getreuer als die spätere Lehre vom Kampf zweier "Klassen". Der soziale Konflikt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts spielte sich ja nicht zwischen zwei in gleicher Weise strukturierten Pluralitäten ab, sondern zwischen der etablierten bürgerlichen Gesellschaft einerseits und einer "Masse" desintegrierter Außenseiter andererseits. Marx ruft zusammen mit Engels im Kommunistischen Manifest die isolierten Individuen dazu auf, sich zu organisieren, sich als Gewerkschaft und als Partei zusammenzuschließen, um so im wirtschaftlichen und politischen Kampf die Klasse des Proletariats vertreten zu können. So wird nach dem Rat des Unternehmersohns Engels aus der desorganisierten Masse des Kollektivs eine schlagkräftige politische Organisation. Aus der unübersehbaren Zahl von Sekundärliteratur zu Marx wird hier Robert C. Tucker herausgegriffen, ein Engländer, der die Schrift "Philosophy and Myth in Karl Marx" verfaßt hat. Die deutsche Übersetzung ist unter dem Titel "Karl Marx" 1963 in München erschienen. Tucker schreibt: "Er (Marx) verband den Gedanken des entfremdeten Menschen mit dem des Proletariats zu der neuen und originären Idee, daß das moderne Proletariat der höchste Ausdruck des entfremdeten Menschen ist. Nach seiner Ansicht war das Proletariat eine besondere Klasse, ganz gewiß aber eine Klasse, in welche die ganze Menschheit langsam ab-

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sinkt. Diese Auflösung der Gesellschaft zu einer besonderen Klasse stellt, wie Marx es in der 'Heiligen Familie' sagt, 'die ihrer Entmenschung bewußte und darum sich selbst aufhebende Entmenschung' dar. Man kann ihren Zustand des Nicht-Habens sowohl als einen geistigen als auch als einen materiellen Zustand auffassen: 'Das Nichthaben ist der verzweifelte Spiritualismus, eine völlige Unwirklichkeit des Menschen'" (Tucker, 1963: 146f). Dies alles ist noch von Marx philosophisch argumentiert, wie das in den Frühschriften geschieht. Dann beginnt Marx, sich mehr und mehr für die Probleme der ökonomischen Entfremdung zu interessieren. Bei Tucker heißt es: "Der Mensch entäußert sein Wesen in materielle Gegenstände, die zu Geld werden" (ebd.: 150). Dies war nun in einem gewissen Sinne ganz nach Hegelschem Vorbild: Der Mensch wurde als ökonomischer Produzent, analog dem Hegeischen Geist begriffen, der sich entäußert und dann danach strebt, durch Wissen sich wieder die fremde oder objektive Welt zum Eigentum zu machen. Marx bemühte sich, diesen Faden aufzunehmen und weiterzuspinnen, als ihn plötzlich eines Tages - Tucker meint, daß das im späten Frühjahr oder im Frühsommer 1844 gewesen sein könnte - der Gedanke durchführ, der ihm als eine kolossale Einsicht erschien. "Es muß ihn", schreibt Tucker, "wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen haben. Kein Wunder auch, denn es handelte sich um den wahrhaft erstaunlichen Gedanken, daß das Hegeische System eigentlich vom Ökonomischen handelt. So heißt es in seinen eigenen Worten. 'Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie'" (ebd.). Marx liest und sieht nun das Hegeische System der idealistischen Philosophie plötzlich mit anderen Augen. Vorher hatte er schon bei Feuerbach das Urteil gefällt, Metaphysik sei esoterische Psychologie. Also das, was dort als angeblich vorhandene Realitäten in der Phantasie oder in der Vorstellungswelt der Menschen als so gegeben postuliert wird, sei in Wahrheit nichts anderes als eine Aussage über den Zustand der Psyche dieses betreffenden einzelnen. Also erfährt man etwas über seine psychische Verfassung, wenn man ihm zuhört wie er über metaphysische Dinge daherredet. Feuerbach hatte dem Sinne nach gesagt: Die Gottesvorstellungen des Menschen sind weiter nichts als eine ins Jenseits hinein projizierte Idealvorstellung, die er von sich selbst hat. Das eben bedeutet: Metaphysik ist in Wahrheit esoterische Psychologie. Dem fugt nun Marx hinzu: Die Hegeische Philosophie ist in Wahrheit esoterische Ökonomie. Der latente Bezugspunkt der Hegeischen Philosophie des Geistes ist das Leben des Menschen als ökonomischer Produzent. Im Zusammenhang mit der Hegeischen Denkfigur von Herr und Knecht, wo zwischen Herr und Knecht die Dingheit vermittelt, tauchte ja der Gedanke der sachlichen Produktion von dinglichen Werten fast schon ausdrücklich auf. Und Marx meint nun, man könne in der Hegeischen Theorie den Schlüssel für die Kritik der bürgerlichen Nationalöko-

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nomie finden; mit dieser Idee, so schreibt Tucker, sei der Marxismus gezeugt. In den folgenden Wochen, die sich im Jahre 1844 daran anschließen, fuhrt dieser Gedanke Marx dazu, eine Reihe von wichtigen Skizzen zu machen und Entwürfe niederzuschreiben. So entstehen die ökonomischen und philosophischen Manuskripte von 1844, die als "Pariser Manuskripte, Nationalökonomie und Philosophie" (Marx, 1964) bekannt geworden sind. Allerdings hatte Marx schon 1843 seine Arbeit "Zur Judenfrage" veröffentlicht, von der wir sahen, daß darin der Zusammenhang von Religion und Ökonomie erarbeitet wurde. Das Modell des Klassenkonflikts, um es noch einmal in Erinnerung zu rufen, ist ursprünglich bei Marx nicht als Kampf zweier gleich strukturierter sozialer Gebilde, vergleichbar etwa dem Kampf zweier Nationen gegeneinander, konzipiert, sondern in der Urfassung des Proletariatsbegriffs wird der Antagonismus der Klassen dargestellt als einerseits eine strukturierte Gesellschaft, die jedem, der ihr angehört seinen Platz zuweist - ähnlich wie das Organisationsschema eines Großbetriebes - und andererseits die große Zahl von desintegrierten Außenseitern, die eben nirgends ihren Platz finden können. Sie stellen in ihrer Summe den ursprünglichen Begriff des Proletariats bei dem jungen, noch philosophisch argumentierenden Marx dar, der etwa dieses Konzept des sozialen Wandels hat: Ein stabiles soziales Gebilde versagt bei seiner Aufgabe, die Bevölkerung, die in seinem Umkreis lebt, in dieses Gebilde hineinzuordnen. Dadurch wächst die Zahl derer, die sich nicht mehr als dazugehörig erleben können und in Opposition stehen zu einer Sozialstruktur, die ihnen keinen Platz anzubieten hat. Das ist das Urbild des Klassenkonflikts. Aber je mehr das Denken von Marx in den Einfluß von Friedrich Engels gerät und sich im Laufe seines Wirkens von der Philosophie zur Ökonomie verlagert, desto mehr wandelt auch der Klassenbegriff seinen Inhalt in Richtung auf die Fassung, die uns schließlich in dem Haupt- und Spätwerk "Das Kapital" begegnet: die Klasse ist Kontrahent im Klassenkampf. Karl Landauer hat in einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahre 1963 mit dem Titel "Was hat Marx aufgenommen, was hat er weitergegeben?" die wichtigsten Grundzüge der Marx'schen Lehre von den Klassen zusammengestellt. Die für den späten Marx kennzeichnende ökonomistische Ausgangsbasis des Denkens fuhrt zu einem Klassenbegriff, der auf dem Kriterium des Eigentums an den Produktionsmitteln beruht Wenn man ein solches eindimensionales Kriterium hat, dann kann es nur zwei Klassen geben: jeder einzelne hat entweder Eigentum an den Produktionsmitteln oder er hat es nicht, ein Drittes dazwischen gibt es nicht. Produktionsmitteleigentümer zu sein ist eine Qualität, die auf den einzelnen Bürger entweder zutrifft oder nicht, in welchem Maße er diese Qualität hat, stellt sich als untergeordnete Frage dar.

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Ein solches qualitatives Kriterium, das quantitativ nicht abgestuft wird, sondern nur zu einem 'Ja' oder 'Nein' fuhrt, bereitet die Dichotomie des unversöhnlichen Klassenkampfes theoretisch vor. Da die eine Klasse sich in der Vorstellung von Marx fortwährend auf Kosten der anderen bereichert, indem sie denjenigen, die ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkaufen, nicht den vollen Geldbetrag als Lohn dafür vergütet, der dem vom Arbeiter geschaffenen Produktwert entspricht, sondern etwas davon zurückbehält, besteht, so sagt Marx, zwischen den beiden Klassen ein Ausbeutungsverhältnis. Und aus diesem objektiv gegebenen Ausbeutungsverhältnis folge, so lehrt er, der objektive Interessengegensatz. Dies ist, in Hegels Terminologie, ein Gegensatz "an sich", der noch nicht politisch wirksam wird, solange er den betroffenen Proletariern nicht bewußt ist. Erst wenn ihnen das klar wird, wird daraus auch eine Klasse "für sich". Die Formulierungen "an sich" und "für sich" unterscheiden sich dadurch, daß etwas "an sich" so ist, unabhängig davon, ob die Betroffenen das einsehen: Der hellsichtige Betrachter Karl Marx schaut zunächst von ferne zu und sieht: das ist so, dann ist es "an sich" so. Aber anschließend geht er zu den Betroffenen und macht ihnen das klar, und in dem Moment, wo sie sich auch selbst als ausgebeutet erleben, sind sie auch "für sich" ausgebeutet. Klassenzugehörigkeit ist also mit dem objektiven Interesse verknüpft, das dem einzelnen keineswegs subjektiv bewußt zu sein braucht. Würde er aber seine Klassenlage erkennen, so müßte er zwangsläufig auch auf der seiner Eigentumslage entsprechenden Seite am Klassenkampf teilnehmen - so die Prognose und die politische Erwartung aus der Sicht von Marx. Nach Marx wird der Charakter der gesamten Kultur, der "Überbau", wie er sie nennt, von den Produktionsverhältnissen einschließlich der Produktivkräfte, d.h. von der "Basis" bestimmt. Die Basis bestimmt den Überbau, d.h. die Produktionsverhältnisse determinieren, was sich als Kultur entwickelt: als Religion, als Kunst, als Philosophie. Der Klassenbegriff ist bei Marx total, im Gegensatz zur modernen Soziologie, wo z.B. zwischen Arbeitsleben und Freizeit unterschieden wird, ist man bei Marx mit jeder Faser seiner Existenz z.B. Proletarier - davon gibt es keinen Feierabend. Der Marxismus fordert daher als Theorie (im Unterschied zur politischen Bewegung) den totalen Proletarier, sei es im privaten, sei es im beruflichen, sei es im öffentlich-politischen Bereich. Die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat wird als pathologische Erscheinung der bürgerlichen Gesellschaft gedeutet. Dies ist einer der wichtigen Streitpunkte der marxistischen Soziologie mit anderen Soziologien. Mindestens an diesem Punkt muß die moderne empirische Soziologie feststellen, daß dieser Klassentheorie in den Industriegesellschaften keine soziale Wirklichkeit entspricht. Mit wachsendem Lebensstandard sinkt nämlich die relative Bedeutung der Stellung des Menschen zum Produktionsprozeß. Das wird nicht nur

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sichtbar durch den Rückgang der Wochenarbeitszeit, der statistisch in den letzten hundert Jahren dramatisch ist, sondern auch wenn man die Leute danach befragt, welchen Stellenwert die Teilnahme am Produktionsprozeß in ihrem Bewußtsein hat. Darum ist es nicht realistisch, von dem Bürger der Wohlstandsgesellschaft zu erwarten, daß sich für ihn alle Sphären seiner sozialen Existenz von seiner Stellung zu den Produktionsmitteln her bestimmen. Helmut Schelsky hat den Soziologen Popitz und Dahrendorf vorgeworfen, sie versuchten den Klassenbegriff dadurch zu retten, daß sie einen Reduktionsbegriff der sozialen Klasse geschaffen und verwandt hätten, aber damit werde Marx verfälscht, denn bei Marx sei, so Schelsky, der Klassenbegriff total und ein Reduktionsbegriff der Klasse im Denksystem nicht brauchbar (Schelsky, 1961). Auch als historische Kategorie ist der Klassenbegriff bei Marx total, denn fur ihn ist die ganze Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen, also etwas, das es immer schon gegeben hat, das nur seine Gestalt wandelt, schließlich jedoch enden wird mit der Herstellung des Kommunismus. Das ist sozusagen das eschatologische Konzept, das Ende aller Geschichte, so etwas wie ein Marx'scher Himmel. Durch die Übertragung der naturwissenschaftlichen Denkmethoden und Erklärungsweisen auf den soziokulturellen Bereich kommt Marx, wie vor ihm auch Saint-Simon und Comte, zu dem Glauben, daß die geschichtliche Entwicklung in großen Zügen berechenbar sei, was ja das große Forschungsprogramm der Sozialphilosophen mindestens der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Marx' Geschichtsauffassung ist eine materialistische: Das historische Geschehen wird in Analogie zu einer mechanischen Bewegung gesehen, deren Verlauf der Physiker oder Astronom vorausberechnen kann, wenn er die in der Bewegung wirksamen Kräfte kennt. Marx meint, daß der technische Fortschritt, z.B. die Erfindung der Dampfmaschine, unter deren Eindruck seine Zeit stand, zu einem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen fuhren müsse. Dabei zählen zu den Produktivkräften der Stand der Produktionstechnik, also das technische Wissen, und die unmittelbar physisch tätigen Arbeiter, also das Proletariat. Andererseits sind Produktionsverhältnisse die wirtschaftlichen Organisationsprinzipien einschließlich der rechtlichen Eigentumsordnung. Dieser Bereich insgesamt ist die Basis, über der sozusagen als Ausdünstungen derselben, Religion und Philosophie und ähnliches als Überbau schweben, mit der ausdrücklichen und ausschließlichen Aufgabe, die Verhältnisse, die sich an der Basis abspielen, zu rechtfertigen, zu verharmlosen, wo sie schmerzlich sind, zu trösten, wo es Leid gibt, hinzuweisen auf das Jenseits, insbesondere zu sagen 'gräm dich nicht, wenn es dir hier schlecht geht, im Jenseits wird das alles wieder gut gemacht'. Darin sieht Marx die Aufgabe des Überbaus und insbesondere der Religion, die ihm, wie wir sahen, besonders ein Dorn im Auge ist.

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Der soziale Wandel geht nach Marx eindeutig von der Basis aus. Indem die Basis sich verändert, gerät der Überbau, also Religion, Kunst, Kultur usw., in die Notwendigkeit, sich langsam, immer etwas hinterherhinkend, anzupassen so gut es geht. Auf die Frage wie es denn dazu kommt, daß im Bereich der Basis Fortschritt stattfindet, sagt Marx, dies sei der technische Fortschritt und der Fortschritt im Bereich der zu den Produktivkräften gehörenden Arbeiterschaft. Diese verändern ihren Entwicklungsstand sozusagen naturwüchsig aus sich selbst heraus und geraten dadurch schon im Bereich der Basis in den Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen, also zu den wirtschaftlichen Organisationsprinzipien und zur Rechtsordnung, so daß dieser Konflikt immer stärker wird, so ähnlich wie wenn sich tektonische Spannungen ergeben, die eines Tages plötzlich zum Erdbeben fuhren: es kommt zur Revolution. Um die Begriffe wirklich authentisch zu klären, folgen die Formulierungen von Karl Marx selbst: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein - Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt" (Marx, 1969: 8f). Das nennt man ökonomischen Determinismus - es wird davon ausgegangen, daß der Bereich der Ökonomie alle anderen Bereiche bestimmt. Wenn das auch eine zeitliche Verzögerung mit sich bringt, die Jahrzehnte betragen kann, so sind doch alle Veränderungen und Zuständlichkeiten in der Gesellschaft Fernwirkungen von Dingen, die sich im ökonomischen Bereich ereignen. Daß dies z.B. von Georg Simmel und Max Weber ganz anders gesehen wird, wird hier später zu zeigen versucht. Auf den Widerspruch zwischen Basis und Überbau wendet Marx die an der Bewegung eines Pendels abgelesene Dialektik an. Er sagt den revolutionären Umschlag für den Zeitpunkt voraus, zu dem der Konflikt unerträglich geworden ist, ähnlich wie wir, wenn wir ein schwingendes Pendel beobachten, voraussagen können, daß es sehr viel weiter nicht mehr in die eine Richtung gehen kann, sondern in die andere Richtung umkehren muß. Auf die These Kapitalismus folgt die Antithese Diktatur des Proletariats, bis das Pendel endlich zwischen beiden Extrempositionen in Ruhelage hängenbleibt und die Synthese als klassenlose Gesellschaft und damit das Ende der Geschichte der Klassenkämpfe erreicht ist. Einer der Widersprüche in dem theoretischen System von Karl Marx besteht darin, daß er einerseits deterministisch voraussagt, der Sozialismus werde sich zwangsläufig, gleichsam mit naturgesetzlicher Automatik durchsetzen, während er andererseits das Proletariat zu einem Klassenkampf

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voller Opfer aufruft. Diese Unklarheit spielte in die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Lagern des Marxismus immer wieder eine große Rolle.

4. Herbert Spencer (1820-1903) Herbert Spencer gehörte zu denjenigen Sozialwissenschaftlern und Sozialphilosophen, die vom sozialen Wandel nicht nur sprachen und schrieben, sondern ihn mit gestalteten. Spencer hat als Ingenieur in England am Bau der Eisenbahn mitgewirkt. Er wurde im April 1820 (im selben Jahr wie Friedrich Engels) in Derby in England geboren und starb im Dezember 1903 in Brighton. Er war sowohl Naturwissenschaftler als auch Philosoph und Soziologe. Ganz ähnlich wie bei Comte war sein wissenschaftlicher Anspruch so umfassend, daß man ihn als Universalgelehrten bezeichnen kann. Seine politische Ausrichtung war der von Marx genau entgegengesetzt. Seit 1840 begann sich die internationale Arbeiterorganisation im Bund der Gerechten und 1847 im Bund der Kommunisten zu formieren, so daß der liberale Individualismus, der das Manchestertum mit seinen menschlich sehr bedenklichen Auswirkungen prägte, mehr und mehr einer ideologischen Rechtfertigung bedurfte. Spencer leistete dazu einen bedeutenden Beitrag. Beide Eltern Spencers gehörten einer religiösen Sekte an, sein Vater war Lehrer. Spencer hat selbst dem christlichen Glauben später abgeschworen, und weil es damals nicht gut denkbar war, an einer englischen Universität zu studieren, wenn man nicht gläubiger Christ war, ging er trotz der Anregung eines Onkels, der Geistlicher war, nicht nach Cambridge. Stattdessen erwarb er sich sein umfassendes Wissen weitgehend als Autodidakt. Als Siebzehnjähriger hat er selbst, wie sein Vater, vorübergehend an einer Schule unterrichtet. Von 1837 bis 1841 arbeitete er anschließend als Eisenbahningenieur am Bau der Linie von Birmingham nach Gloucester bis zu deren Fertigstellung mit (vgl. Kellermann, 1976). Im Jahre 1842 fing Spencer an, sich als Schriftsteller zu betätigen. Von Anfang an lag seinen publizistischen Äußerungen die Überzeugung zugrunde, daß es Aufgabe der Regierung sei, sich aller jener Interventionen zu enthalten, die nicht das "natürliche" Geschehen des sozialen Lebens berücksichtigen, um es zu unterstützen, anstatt es zu verfälschen oder zu verbiegen. Ab 1848 war Spencer aushilfsweise als Redakteur tätig, als er aber 1853 eine erfreuliche Erbschaft antreten konnte, gab er die Redakteurstätigkeit auf. Sein erstes wichtiges Buch erschien 1851 unter dem Titel "Social Statics" (Soziale Statik) mit dem Untertitel "Oder die Bedingungen, die für die menschliche Glückseligkeit wesentlich sind". Auch hier vertritt er die Ansicht, daß das freie Spiel der Kräfte ungehindert erhalten bleiben müsse, wenn nicht aus übertrieben humanitären Rücksichten und sozialpolitischen

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Überlegungen der Fortschritt, den er in England fur dringend notwendig hielt, verhindert werden sollte. Im Jahre 1855 erschien der erste Band der "Principles of Psychology". Er kündigte dann 1860 unter dem Titel "Α System of Synthetic Philosophy" die fortlaufende Veröffentlichung eines zehnbändigen Werkes an. Damit trat er in die Fußspuren von Auguste Comte und wollte in einem System der Wissenschaften der Psychologie ihren eigenen Platz zuweisen und außerdem Biologie, Soziologie und Moral behandeln. Leopold von Wiese bezeichnet in seiner Einfuhrung "Soziologie, Geschichte und Hauptprobleme" dieses "System der synthetischen Philosophie", zu dem Spencers Soziologie gehört, als eine "geistige Tat ersten Ranges" (von Wiese, 1954: 61). Der noch kaum bekannte Privatgelehrte Spencer veröffentlichte im Jahre 1860 den Plan zu diesem umfassenden Werk, das in 33 Abteilungen erscheinen sollte. Es war verständlich, daß nur wenige Leute Interesse zeigten, dieses Projekt durch ihre Vorwegsubskription finanziell zu unterstützen. Außerdem muß Spencer unter gesundheitlichen Problemen gelitten haben. Trotz alledem hat er innerhalb von 36 Jahren elf stattliche Bände geschrieben und veröffentlicht. Nach dem Vorbild Comtes entwickelte er ein logisches Schema des natürlichen Systems der positiven Wissenschaften, das auch die Psychologie enthält und zwar eingeordnet zwischen Biologie und Soziologie. Von Comte übernimmt Spencer die Einteilung in Statik und Dynamik. Besonders deutlich ist seine Bewunderung für die Biologie, aus der er allerlei Organanalogien übernimmt. Die naturwissenschaftliche Ausrichtung des sozialphilosophischen Denkens folgte bei Saint-Simon und Comte aus der Bewunderung für Newton, sie ist bei Spencer gegeben durch die Bewunderung der Biologie. Erheblicher Eindruck müssen auf Spencer die Entdeckungen der Biologen Lamarck (1744-1829) und Darwin (1809-1882) gemacht haben. Nach der Lehre Lamarcks stärkt der Gebrauch ein Organ, während umgekehrt der Nichtgebrauch es verkümmern läßt. Die auf diese Weise erworbenen besonderen körperlichen Ausstattungen und Eigenschaften werden dann vererbbar. Diese Lehre wendet Spencer auf seine Entwicklungstheorie der Gesellschaft an. So wird aus der idealistischen Geschichtsphilosophie Comtes, die sich bei ihm vor allem in seiner Idee vom Drei-Stadien-Gesetz niederschlägt, bei Spencer eine naturalistischdarwinistische Entwicklungslehre, die er mit der These verknüpft, daß die Entwicklung der Gesellschaft vom Aggregat zum System fortschreite. Der Kernsatz dazu lautet in deutscher Übersetzung: "Aus unbestimmter, unzusammenhängender Gleichartigkeit wird bestimmte, zusammenhängende Ungleichartigkeit". Biologisches Vorbild flir diese Überlegungen ist einmal die Entwicklung der Arten, zum anderen auch die Entwicklung des einzelnen Embryos. Am Anfang steht in beiden Abläufen eine Ansammlung von nicht oder nur kaum un-

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terschiedenen Zellen, und am Ende eine hoch differenzierte Arbeitsteilung zwischen Zellen mit sehr unterschiedlichen Funktionen, die zum Zusammenwirken von Organen im Organismus fuhrt. Die Herausbildung immer neuer Organe im Kampf ums Dasein geht einher mit dem Absterben funktionslos gewordener Organe. Dies gilt in der Biologie ebenso wie in der Gesellschaft. Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung ist fur Spencer der Weg vom despotischmilitaristischen Zwangsstaat zum industriell-pazifistischen Freiheitsstaat oder, kürzer formuliert, der Weg vom Krieg zur Industrie. Das organologische Vorbild der Biologie spielt außer bei Spencer auch bei den Soziologen Paul von Lilienfeld (1829-1903), Albert Schaffte (1831-1903) und Rene Worms (1867-1926) eine bedeutende Rolle. Man kann Spencer zusammen mit diesen genannten drei anderen Soziologen, die wir hier nicht behandeln werden, als Vertreter der biologischen Schule oder als Organologen bezeichnen. Eine große Bedeutung hat der Organismusbegriff außerdem in der Soziologie des Wiener Soziologen Ottmar Spann, dessen Schule man jedoch nicht als organologische oder biologische Soziologie bezeichnet, sondern als universalistische Schule der Soziologie. Wir können aber auch darauf hier nicht näher eingehen. Spencer stützt sich zur Illustration seiner theoretischen Überlegungen und wohl auch, um Anregungen fur die Formulierung von Theorien zu gewinnen, weitgehend auf Material aus der Völkerkunde. Er könnte übrigens mit großer Berechtigung auch als früher Vertreter der Ethnologie oder der Psychologie bezeichnet werden, obschon er selbst keine Feldforschungen unternommen hat. Seine Studien beruhen auf deskriptiver Analyse und vergleichender Methode. In der sozialen Entwicklung sieht er, wie schon in der Organismusanalogie angedeutet, eine Tendenz von ungegliederter Vielheit zu gegliederter Einheit. Dabei wird die ursprünglich homogene soziale Masse sich immer weiter differenzieren und zu dem Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten fuhren. Außerdem werden dabei analog der Entwicklung von immer komplizierteren Organen in der Biologie immer differenziertere Institutionen in der Gesellschaft hervorgebracht, zum Beispiel im Bereich der Wirtschaft, der Politik und der Religion. Dem entspricht eine immer weiter fortschreitende Arbeitsteilung, wie später Dürkheim sie ausfuhrlich behandeln wird. Dieser Gedanke der sozialen Differenzierung als Grundsatz des sozialen Wandels ist bis in die moderne Soziologie hinein bedeutsam und wirksam geblieben. Spencer fuhrt die Begriffe System, Struktur und Funktion zunächst in den englischen, aber dann durch die Übersetzungen auch in den deutschen soziologischen Sprachgebrauch ein. Es ist bemerkenswert, wie rasch nach dem Erscheinen seine Schriften jeweils in deutscher Übersetzung vorliegen. So erscheinen auf Deutsch von ihm die Bände "Grundlagen der Philosophie" 1875, "Einleitung in das Studium der Soziologie" ebenfalls 1875 und schließlich

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der Titel "Die Prinzipien der Soziologie" 1877-1897 in drei Bänden. Aus der Tatsache, daß diese wichtigen Werke von Spencer rasch übersetzt werden, muß geschlossen werden, daß sein Einfluß auf die frühe Soziologie groß gewesen ist. Tatsächlich behauptet Leopold von Wiese, daß Spencer als der Soziologe des 19. Jahrhunderts schlechthin gegolten habe. Es schien frühen Vertretern der Soziologie so, als sei eine andere Gesellschaftslehre als die von Herbert Spencer gar nicht denkbar. Deutlich ist der Einfluß, den sein Wirken auf Emile Dürkheim gehabt hat. Die Vormachtstellung Spencers wird in Deutschland erst durch das Wirken Georg Simmeis zurückgedrängt, der zu der bis dahin naturwissenschaftlich angelegten Lehre von der Gesellschaft eine geisteswissenschaftlich verstehende Alternative schafft. Spencers Soziologie ist die Fortfuhrung des positivistischen Ansatzes mit funktionalistischen Mitteln. Erhalten bleibt der naturwissenschaftliche Zugang zu den sozialen Phänomenen. Das Anschauungsmaterial liefern fast ausschließlich die Naturvölker. Die Berücksichtigung der Kultur bleibt bei Spencer unterentwickelt. Daher gibt seine Soziologie zu wenig Aufschlüsse über die besondere Situation des abendländischen Kulturkreises Sehr bedeutsam war sein Einfluß auf die Soziologie der USA. In der Person Spencers hatten die frühen Soziologen Nordamerikas einen Sozialphilosophen und Soziologen entdeckt, der seine Schriften auf Englisch verfaßte, so daß schon aufgrund der Sprache der Zugang für sie viel leichter war als der zu den Franzosen und Deutschen. Bis ins Werk von Talcott Parsons lassen sich Einflüsse der Lehre Spencers nachweisen. Im Jahre 1867 beginnt Spencer eine neue Serie mit dem Titel "Descriptive Sociology", die er als mit Anschauungsmaterial ausgestattete Hilfe fur das Studium der Soziologie plant, aber nicht vollendet. Er stirbt, wie erwähnt, am 8. Dezember 1903, ohne verheiratet gewesen zu sein. Eine enge Freundschaft und Bewunderung hat er für Mary Evans empfunden, eine Schriftstellerin, die unter dem Namen George Eliot bekannt wurde. Außerdem hat ihm John Stuart Mill (1806-1873) als guter Bekannter nahegestanden. Weil Herbert Spencer im christlichen England der Vorwurf gemacht wurde, er stünde in der geistigen Nachfolge des als Atheisten verrufenen Franzosen Comte, veröffentlichte er angesichts dieser Angriffe im Jahre 1864 eine Schrift, in der er sich bemüht zu beweisen, daß er nicht ein Jünger Comtes sei (Spencer, 1864). Spencer geht dabei so vor, daß er Quellen nennt, wie zum Beispiel Francis Bacon, aus denen sowohl Comte als auch er selbst - und, wie Spencer betont, unabhängig voneinander - Anregungen entnommen haben. E r zählt jene Grundprinzipien auf, in Bezug auf die Comte mit seinen geistigen Vorgängern übereinstimmt und denen auch er, Spencer, zustimmt.

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So formuliert Spencer die folgenden drei Grundannahmen: 1. Alles Wissen entstammt der Erfahrung. 2. Alles Wissen ist phänomenal und relativ. 3. Es gibt invariable Naturgesetze und absolute Uniformitäten der Beziehungen zwischen Phänomenen. Spencer erinnert seinen Leser daran, daß Comte in seinem System der Wissenschaften der Individualpsychologie keinen Platz eingeräumt hat. Dieses Leugnen einer Psychologie macht es nach Spencers Ansicht Comte unmöglich zu beweisen, daß metaphysische Vorstellungen nur symbolische Konzeptionen sind, die, wie Spencer schreibt, eine Verifikation nicht zulassen. Spencer betrachtet alle sozialen Phänomene als Produkte menschlicher Emotionen und Glaubensinhalte. "All social phenomena are produced by the totality of human emotions and beliefs, of which the emotions are mainly predetermined, while the beliefs are mainly post determined. Men's desires are chiefly inherited; but their beliefs are chiefly acquired and depend on surrounding conditions, and the most important surrounding conditions depend on the social state which the prevalent desires have produced" (ebd.: 37). Alle sozialen Phänomene werden demnach von der Totalität der menschlichen Emotionen und Glaubensinhalte produziert. Dabei sind Emotionen überwiegend prädeterminiert, während die Glaubensinhalte überwiegend nachträglich ihre Gestalt annehmen. Die Wünsche der Menschen stellt Spencer sich als in der Hauptsache ererbt vor, aber ihre Glaubensinhalte sind erworben und von den Umweltbedingungen abhängig. Die allerwichtigsten Umweltbedingungen hängen von dem sozialen Zustand ab, den die vorherrschenden Bedürfnisse oder Wünsche produziert haben. Für Spencer sind die menschlichen Emotionen biologisch vorherbestimmte und damit ererbte Triebe. Als nachträglich im Laufe des Lebens erworben sieht er die durch den Umwelteinfluß des Individuums hineinsozialisierten Glaubensinhalte an. Doch der Kreis schließt sich, denn die entscheidenden Umwelteinflüsse sind wiederum abhängig von den vorherrschenden Trieben. Diese Vorstellung von einem Wirkungskreis erblicher, emotionaler und trieblicher Prädestination wird nach einem Bericht des frühen amerikanischen Soziologen Albion W. Small (Small, 1916) von den Schülern Spencers als deterministische Theorie interpretiert. Small schreibt: Viele der Jünger Spencers "got the impression from his interpretation of evolution that the development of society is beyond voluntary control. It was supposed to be determined rather by those physical laws of the redistribution of forces found working in the lower scale of nature" (ebd.: 755). Für Spencer selbst sind die sozialen Verhältnisse, die zu einer bestimmten Zeit existieren, das Ergebnis all jener Regungen des Ehrgeizes, der Selbstsucht, der Furcht, der Hochachtung,

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der Empörung, des Mitgefühls usw., die das Handeln der lebenden Bürger und ihrer Vorfahren motiviert haben. Die so entstandenen sozialen Verhältnisse stellen dann den Umwelteinfluß dar, unter dem der einzelne Mensch jene Glaubensinhalte erwirbt, die nach Spencer offenbar die Grundlage seines Wissens sind. Revolutionäre Ideen können sich innerhalb einer Gesellschaft gar nicht entwickeln. Diese These Spencers taucht heute als Verschwörungstheorie gelegentlich wieder auf, wenn etwa innenpolitische Unruhen zu Unrecht als Einfluß einer äußeren Macht gedeutet werden. Doch selbst bei einem solchen äußeren Einfluß hält Spencer ein erhebliches Maß an innerer Stabilität für garantiert. Er schreibt: "Ideas wholly foreign to this social state cannot be evolved, and if introduced from without, cannot get accepted - or, if accepted, die out when the temporary phase of feeling which caused their acceptance, ends. Hence, though advanced ideas when once established, act upon society and aid its further advance; yet the establishment of such ideas depends on the fitness of the society for receiving them. Practically, the popular character and the social state, determine what ideas shall be current; instead of the current ideas determining the social state and the character" (Spencer, 1864: 38). Das Sein bestimmt also auch bei Spencer das Bewußtsein und nicht umgekehrt. Hier nun trägt Spencer eine Ansicht vor, zu der nach Spencers Darstellung Comte ganz anderer Meinung ist als er. Für Comte war ja die soziale Desorganisation seiner Zeit eine Folge intellektueller Anarchie, denn in Comtes Theorien sind es Ideen, die die Welt regieren und revolutionieren. Spencer dagegen schreibt: "The world is governd and overthrown by feelings to which ideas serve only as guides" (ebd.: 37). Schwererwiegend noch sind die Meinungsverschiedenheiten zwischen Comte und Spencer über das ideale Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv. Nach Spencers Darstellung zeichnet sich für Comte eine Idealgesellschaft dadurch aus, daß darin der Staat sehr weit entwickelt ist, daß die Funktionen der sozialen Klassen weitgehend planmäßig öffentlicher Steuerung unterworfen sind. In Comtes Idealgesellschaft gibt es eine hierarchische Organisation mit unbestrittener Autorität, die alles leitet, abgelesen offenbar am Modell der katholischen Kirche im Mittelalter und verbunden mit einigen Einflüssen des frühen Sozialismus von Saint-Simon. Das Leben des einzelnen muß sich also bei Comte dem sozialen Leben unterordnen. Spencer sagt ganz im Gegensatz dazu voraus, daß der Einfluß des Staates in der Gesellschaft der Zukunft auf ein Minimum zurückgehen wird und daß die Freiheit des einzelnen auf ein Höchstmaß anwachsen wird. Spencer schreibt: "... social life will have no other end than to maintain the completest sphere for individual life" (ebd.: 41). Die Sozialphilosophie Spencers stimmt hier ein zweites Mal mit Marx überein, nämlich in dem Gedanken vom Ab-

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sterben des Staates. Spencer schafft so gleichsam das kapitalistische Gegenstück zu Marx und formuliert eine soziale Theorie des liberalen Modells vom Nachtwächterstaat. Aus der "invisible hand" des Adam Smith, die auf geheimnisvolle Weise hinter dem Rücken der individuellen Egoismen die Harmonie des Ganzen hervorbringt, wird bei Spencer eine unsichtbare Faust, die alles zu Boden schlägt, was im Widerspruch steht zu "the spontaeous cooperation which has developed our industrial system" (ebd.: 40). Nichts also darf im Widerspruch stehen zu der spontanen Kooperation, die unser Industriesystem entwickelt hat. Für Comte ist der Intellekt nur ein Spiegel der Fakten oder sollte es doch sein, sobald sich der Positivismus durchgesetzt hat. Bei der so nach Comte'schem Muster verwirklichten Übereinstimmung des inneren Bewußtseins mit dem äußeren Sein, kann es zu keinen Widersprüchen kommen, die etwa zu veränderndem Handeln motivieren würden. Abgesehen davon, daß die Comte'sche Konzeption unrealistisch ist, bedeutet sie formal betrachtet, daß der Intellekt die Realität erfaßt, ohne sie zu werten. Das Ideal des Comte'schen Menschen tendiert dahin, zwar allwissend zu sein, zugleich aber auch handlungsunfähig. Sein Handeln wird von Moralgesetzen gesteuert, die ihm vorgegeben sind. Spencer dagegen glaubt das Handeln des Menschen aus Trieben, Wünschen und Emotionen erklären zu sollen. Da Spencer nicht aufzeigt, daß es eines der Grundbedürfnisse des Menschen ist, Widersprüche zwischen Vorstellungsinhalten auszugleichen, bleibt seine Theorie auf der Ebene biologisch physischer Notwendigkeiten stehen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß es eine naturwissenschaftliche Lehre von der Gesellschaft ist, und daß bedeutende Bereiche der Kultur nicht angemessen berücksichtigt werden.

III. Gründer der Soziologie 1. Dürkheim (1858-1917)

a) Person und Werk David Emile Dürkheim wurde am 15. April 1858 in Epinal in Lothringen geboren. Er starb 1917 in Paris. Rene König hat darauf hingewiesen, daß sich die Geburt Dürkheims etwa sieben Monate nach dem Tode Auguste Comtes ereignete. Der Urgroßvater, der Großvater und der Vater Dürkheims waren Rabbiner. Dies bedeutete, daß Dürkheim im Hause seines Vaters Moise in einer orthodox-jüdischen und stark puritanisch orientierten Familie aufwuchs. Obschon er den jüdischen Glauben nicht übernahm, stellte er sich doch in die Tradition einer sittenstrengen Grundhaltung, der jede Frivolität unsympathisch war. Er entwickelte seine Soziologie als Reaktion auf die individualistischen Theorien des Liberalismus. Seine anti-individualistische Position geht von der Annahme aus, daß das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile. Daher läßt sich nach Dürkheims Überzeugung das Kollektiv bzw. das soziale Gebilde aus der Beschaffenheit seiner einzelnen Mitglieder nicht ableiten. Entsprechend seiner Prämissen versucht Dürkheim umgekehrt die individuellen Eigenschaften des Menschen aus dem Sozialen abzuleiten und das Individuum wesentlich als Produkt seiner sozialen Umwelt zu sehen. Diese Einseitigkeit, die er an die Stelle der von ihm kritisierten individualistischen Einseitigkeit setzt, wird von ihren Kritikern mit dem Schlagwort 'Soziologismus' belegt, weil dort der soziologische Ansatz übersteigert wird. Dürkheims Soziologismus wird verständlich aus seiner Abwehrhaltung gegen individualistischen Anarchismus und aus dem moralischen Engagement, das wir aus dem Puritanismus seines jüdischen Elternhauses abgeleitet hatten. Dürkheim setzt dem Gedanken des Anarchismus den Gedanken an die Ganzheit und an das Kollektiv entgegen. Inwieweit dabei eine verweltlichte Vorstellung von dem auserwählten Volk eine Rolle spielt, kann hier nicht untersucht werden. Jedenfalls ist nicht das Individuum, sondern die Gruppe fur Dürkheim Subjekt und Trägerin der Moral. In konsequenter Fortfuhrung seiner Ausgangsthese von dem Vorrang des Kollektivs behauptet Dürkheim, daß sittliche Gebote jeweils relativ zu einer bestimmten Gruppe Gültigkeit haben. Die Geltung sittlicher Gebote wird dabei empirisch an der Häufigkeit ihrer Befolgung ablesbar. In Perioden des sozialen Wandels sind neue Verhaltensformen dann sittlich, wenn

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sie dem gleichen Zweck dienen wie Regeln, deren sittlicher Charakter schon früher feststand. Mit dieser These glaubt er, auch in Situationen sozialen Wandels noch ethische Anhaltspunkte für menschliches Verhalten gewinnen zu können. Das Sittliche ist das Normale, das sich in eine verpflichtende juristische Form fassen läßt. Sittlich ist für Dürkheim alles, was die Menschen zwingt, aufeinander zu achten und was den einzelnen dazu treibt, seinen ihm innewohnenden Egoismus zu überwinden. Die großen Anreger für die Theorie Dürkheims waren Saint-Simon und Comte. Nach Ansicht Rene Königs stand Dürkheim Saint-Simon noch näher als Comte. Dürkheim hat außerdem das Werk Herbert Spencers genau gekannt und auch von ihm vieles übernommen. Demnach kann man Emile Dürkheim als ein wichtiges Bindeglied zwischen der frühen Schule des Positivismus einerseits und dem soziologischen Funktionalismus andererseits bezeichnen. Zu den großen geistigen Gegenspielern, mit denen Dürkheim sich während seiner Studentenjahre auseinandergesetzt hat, gehörten der Philosoph Henri Bergson (18591941), der sein Mitschüler an der Ecole Normale Superieure in Paris war und Georges Sorel (1847-1922). Obwohl er mit den Theorien dieser Denker durchaus nicht übereinstimmte, hatte er an der Ecole nach dem Bericht Rene Königs den Spitznamen der 'Metaphysiker', womit sein starker innerer Abstand zur praktischen Politik zum Ausdruck gebracht werden sollte. Unter seinen Lehrern an der Ecole befanden sich auch zwei Vertreter des Neukantianismus. Dadurch unterlag er - abgesehen von den genannten Vorbildern aus Frankreich selbst - einem ähnlichen Einfluß wie Max Weber und wurde in manchen Facetten seiner Theorie eher Rationalist als Positivist. Im Jahre 1882 bestand Dürkheim ein Staatsexamen, 'agregation' genannt, das ihm den Zugang zur Laufbahn eines Gymnasiallehrers eröffnete. Tatsächlich wurde er auch noch im selben Jahr an einer Schule tätig. Auf Veranlassung des Ministeriums wurde er im Jahre 1885/86 beurlaubt, um eine Studienreise nach Deutschland zu unternehmen. Auf dieser Reise begegneten ihm die Kathedersozialisten der Deutschen Historischen Schule und der Völkerpsychologe Wilhelm Wundt, der auch auf Georg Simmel und auf George Herbert Mead einigen Einfluß gehabt hat. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte Dürkheim in Frankreich zwei Abhandlungen über die Philosophie, die Moralwissenschaften und die Sozialwissenschaften in Deutschland. Diese Arbeiten erschienen 1887. Seine Publikationstätigkeit begann aber schon 1885 mit einer Rezension von Albert Schäffles Buch "Bau und Leben des sozialen Körpers", einer Arbeit, die organologisch angelegt ist und die Analogie zwischen biologischem Organismus und sozialen Gebilden zur Grundlage soziologischer Theorie macht. Dürkheims Veröffentlichungen bringen ihm eine Beförderung nach Bordeaux, wo er von 1887 bis 1902 als Professor der Soziologie und der Pädagogik mit großem Einsatz lehrt und

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seine Bücher schreibt. Im Jahre 1898 gründet er eine Fachzeitschrift, ein soziologisches Jahrbuch mit dem Namen L' Armee Sociologique,

in dem laufend deutschsprachige Buch-

veröffentlichungen rezensiert werden, und zwar weitgehend von Dürkheim selbst. Er verlagert von nun an schrittweise den Schwerpunkt seines Interesses zur Ethnologie und Religionssoziologie, beides wichtige Themen seiner Pariser Zeit von 1902-1917. Als seine Lebensaufgabe versteht es Dürkheim unter anderem, Einfluß auf die Ausbildung zukünftiger Lehrer zu nehmen. Hierin sieht er größere Chancen fur ein segensreiches Wirken als in Versuchen, unmittelbar politisch tätig zu sein. Im Ersten Weltkrieg wird sein Sohn als Mitglied der Orient-Armee in Saloniki beim Rückzug aus Serbien zuerst als vermißt und dann im April 1916 als gefallen gemeldet. Diese schmerzliche Nachricht mag zu dem unerwartet frühen Tod Dürkheims am 15. November 1917 beigetragen haben. Einer jener Schüler, die sein geistiges Erbe aufgenommen und mit großer Tatkraft fortgeführt haben, ist sein Neffe Marcel Mauss. Zu den bedeutenden soziologischen Arbeiten Dürkheims gehört seine Schrift über Montesquieu von 1892 mit dem lateinischen Titel "Quid Secundatus Politicae Scientiae instituendae contulerit", die in Bordeaux erschienen ist (deutsch.: Dürkheim, 1981b). Schon ein Jahr danach veröffentlicht er das grundlegende theoretische Werk über die Arbeitsteilung, dessen französischer Titel in genauer Übersetzung heißt: "Über die Teilung der sozialen Arbeit: Studie über die Organisation der höherstehenden Gesellschaften" (De la division du travail social: Etude sur l'organisation des societes superieures). Diese Arbeit von 1893 erschien 1967 in 8. Auflage (dt.: Dürkheim, 1977). Im Jahre 1894 veröffentlichte Dürkheim die ebenfalls wichtige soziologische Arbeit "Regeln der soziologischen Methode" (Les regies de la methode sociologique), von der eine deutsche Ausgabe seit 1961 vorliegt (Dürkheim, 1961). Dann erscheint 1897 sein Buch über den Selbstmord (Le Suicide: Etude de sociologie) mit dem Untertitel "Eine soziologische Studie" (deutsch: Dürkheim, 1973). Mit dem Jahre 1898 beginnt die Herausgabe des erwähnten Jahrbuchs, das nun Dürkheims Aufmerksamkeit stark in Anspruch nimmt. Am 20. Juni 1904 hält Dürkheim einen Gastvortrag an der Universität London über die Beziehung der Soziologie zu den übrigen Sozialwissenschaften und zur Philosophie. Dieser Vortrag wird 1905 im 8. Band seines Jahrbuchs L' Armee Sociologique veröffentlicht.

b) De la division du travail social (1893) Die Untersuchung über die Arbeitsteilung gilt als eines der Hauptwerke Dürkheims. Es stellt den Anfang der strukturell-funktionalen Theorie in der Soziologie dar. Dürkheim nimmt Einflüsse der biologischen Entwicklungslehre des 19. Jahrhunderts auf, nach denen ein Organismus in seiner Entwicklung umso höher steht, je weiter seine Organe ausdifferenziert

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sind. (Diese Einsicht wird in der Entwicklungslehre Herbert Spencers ausdrücklich auf die Gesellschaft angewandt.) Auf der Suche nach der Ursache fur Solidarität unter Menschen meint Dürkheim, daß Arbeitsteilung ein möglicher Anknüpfungspunkt dafür sei. Um zeigen zu können, welche Bedeutung die Arbeitsteilung in der Gesellschaft hat, unterscheidet er zwei Grundlagen für die Entstehung und Entwicklung von Gesellschaft: Einmal die Ähnlichkeit und sodann die Verschiedenheit der Menschen. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Ähnlichkeit verbinden verschiedene Personen sich wegen der Gemeinsamkeit ihres Denkens und Empfindens. Sie sind übereinstimmend Mitglieder eines Kollektivs, das seinen Angehörigen nahelegt, die Welt in gleicher Weise zu deuten. Unter dem Gesichtspunkt der Verschiedenheit sieht Dürkheim die Chance, daß unvergleichlich einzigartige Individuen einander ergänzen und arbeitsteilig kooperieren. Die beiden Typen von Gesellschaften, in denen a) aufgrund von Ähnlichkeit und b) aufgrund von Verschiedenheit Solidarität herrscht, unterscheiden sich auch in der Form, die das Recht annimmt. In der Gesellschaft aus Ähnlichen ist die Tat dann ein Verbrechen, wenn sie die Kollektivgefühle verletzt. Dabei geht es sehr emotional zu; die Gruppe reagiert auf Gefuhlsverletzungen mit Leidenschaft. Die Strafe ist daher eine Angelegenheit der ganzen Gruppe; der Schauprozeß, die öffentliche Hinrichtung, dienen der Wiederherstellung verletzter Kollektivgefuhle. Das Individuum steht unmittelbar der Gruppe gegenüber: Es ist die Gruppe insgesamt, die sich zornig an das Individuum wendet. Anders in der Gesellschaft aus Verschiedenen. Dort dominiert nicht das Prinzip gefühlsmäßiger Solidarität. Man ist sachlich, distanziert, bei Rechtsverletzungen wird Wiedergutmachung gefordert. Die Solidarität der Menschen ist dann verletzt, wenn jemand "Sand ins Getriebe gestreut" hat. Er muß die Störung der Arbeitsteilung beseitigen, muß das Prinzip der Kooperation wieder zur Geltung bringen. Das Recht muß ihn zwingen, Wiedergutmachung zu leisten und die von ihm veranlaßten Schäden zu ersetzen, aber das Recht muß ihn nicht strafen, es sei denn, daß man die geleistete Wiedergutmachung als Strafe betrachtet. In der Gesellschaft aus Verschiedenen ist der Einzelne dabei nicht unmittelbar dem Kollektiv gegenübergestellt, sondern die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft sind vermittelt durch die (in der Fachterminologie wichtig gebliebenen) intermediären Gruppierungen. In den Großgesellschaften der modernen Staaten ist es undenkbar, daß das Individuum gesellschaftsunmittelbar ist. Dazu ist die Gesellschaft ein viel zu unübersichtlicher abstrakter Bereich. Vielmehr werden die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft durch die intermediären Gruppen vermittelt. Das können Berufsverbände sein, das können die unterschiedlichsten Interessenvertretungen oder politische Gruppierungen sein. Die Vermittlung durch intermediäre Gruppierungen mildert die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft und macht ihn frei, und zwar sofern er wählen kann zwischen der Mitglied-

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schaft in dieser oder in jener intermediären Gruppe. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft unmittelbar steht ihm nicht zur Wahl; er braucht sie zum Überleben. Ob er aber die Mitgliedschaft zur Gesellschaft vermittelt wissen will durch diese, eine zweite, oder noch eine dritte intermediäre Gruppe, ist ein Stück Wahlfreiheit, die er in den modernen arbeitsteiligen Gesellschaften hat - oder hatte. Friedrich H. Tenbruck (1919-1994) erwähnt den Verlust der intermediären Gruppen als den Prozeß der Dekorporation. Dieser Prozeß der Auflösung trat mit der Französischen Revolution in eine entscheidende Phase ein: Zunehmend konnte der Einzelne sich als Rechtssubjekt unmittelbar zu Staat und Gesellschaft in Beziehung setzen und brauchte dazu nicht mehr die Vermittlung durch eine Korporation im weitesten Sinne. Die Auflösung oder mindestens schrittweise Entrechtlichung der Korporationen konnten wir in den vergangenen drei Jahrzehnten an den Universitäten Deutschlands beobachten. Die Verwandtschaftsverbände waren in vielen Gesellschaften Korporationen von großer Bedeutung. Wenn sich in Italien und anderswo die Mafia gegen harten Widerstand erhält, so kann man als Hintergrund nicht nur die Attraktivität bestimmter krimineller Aktivitäten sehen, sondern auch die Verteidigung der korporativen Tradition. Nicht zufällig nennen sich die einzelnen Mafia-Gruppen "Familien". Das Beispiel zeigt die Ambivalenz des Dekorporationsprozesses, dem der Prozeß fortschreitender Individualisierung korreliert. Wird der intermediäre Raum zwischen Staat und Individuum nicht mehr durch Korporationen ausgefüllt, so entsteht eine Massengesellschaft,

die einer totalitären Führungselite an-

heimfallt, wenn sie nicht nach den Regeln der parlamentarischen Demokratie organisiert ist. Demokratien aber sind auf die Mitwirkung der Parteien am Willensbildungsprozeß angewiesen. Der Wettkampf der Parteien um die möglichst langfristige und zuverlässige Anhänglichkeit der Wähler erzeugt eine fortschreitende Politisierung der Gesellschaft. Die Parteien können Personen nur langfristig und emotional an sich binden, wenn sie durch das Mittel der Zukunftsvision gesellschaftliche Zustände in Aussicht stellen, die den Wählern wünschenswert erscheinen und zu deren Durchsetzung die angezielte Wählergruppe gerade diese eine Partei an der Macht sehen will. So entsteht ein immer neuer Bedarf an Weltanschauungen, die von politischen Parteien zu ihrem eigenen Nutzen geschaffen oder aufgegriffen werden, d.h. die Dekorporation erzeugt politische Bedingungen, die den Wertpluralismus steigern. Rene König, der schon mehrfach als Durkheimkenner erwähnt wurde, sieht das Hauptlehrstück der Lehre Dürkheims in dessen Studie über die Arbeitsteilung. Darin entwirft Dürkheim eine Theorie, die nach Königs Ansicht als Strukturmodell einer aus intermediären Gruppen (Korporationen, Subkulturen) aufgebauten Gesellschaft entwickelt wird. Alle unsere modernen Großgesellschaften bestehen aus einer Vielzahl von kleineren Teilkulturen, die

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gemeinsam erst das große gesellschaftliche Miteinander bilden und so den Raum der Gesellschaft ausfüllen. Der Rechtsform der Wiederherstellung und Kooperation, von der Dürkheim unter den Bedingungen der Arbeitsteilung auf der Grundlage der Verschiedenheit schreibt, entspricht der Vertrag. Der Struktur der kooperativen Gesellschaft korrespondiert nämlich das Aufeinanderangewiesensein der verschiedenen Funktionsträger. Zum Beispiel beruht ein Streik darauf, daß man anderen eine Leistung entzieht, auf die sie angewiesen sind (z.B. die Müllabfuhr, oder die U-Bahn), und dadurch, daß man seine Funktion nicht erfüllt, d.h. das nicht leistet, was zu leisten man sich langfristig verpflichtet hatte, bringt man das ganze System zum Stillstand. Das ist eine Deutung des Streiks, die an diese Arbeitsteilungstheorie anknüpft. Der Gegenüberstellung der Gesellschaftstypen von Gesellschaft aus Ähnlichen, z.B. bei den nicht komplexen Eingeborenenkulturen, und Gesellschaft aus Verschiedenen in Industriegesellschaften entsprechen bei Dürkheim die beiden Formen der Solidarität, die er mechanische und organische nennt. Die mechanische Solidarität ist die Gemeinschaftserfahrung auf der primitiven Stufe, auf der es kaum Arbeitsteilung gibt. Die organische Solidarität beruht auf gegenseitiger Abhängigkeit wegen Spezialisierung: Damit assoziiert man wohl mit Recht die Aufteilung in spezialisierte Organe und deren arbeitsteiliges Funktionieren im Körper. Diese Begriffe sind darum so verwirrend, weil vorher Ferdinand Tönnies in seinem Buch "Gemeinschaft und Gesellschaft" von 1887 die Begriffe genau entgegengesetzt verwendet hatte. Aber bei Dürkheim, darauf kommt es hier an, ist in der Gesellschaft aus Ähnlichen mechanische Solidarität das Merkmal und in der arbeitsteiligen Gesellschaft aus Verschiedenen organische Solidarität. Vor diesem Theoriehintergrund entwickelte nun Dürkheim seine Theorie des sozialen Wandels. Kein Soziologe, der für sich den Anspruch erhebt, auch Theoretiker der modernen Gesellschaft zu sein, kann darauf verzichten, den Wandel der Gesellschaft zu behandeln und zu erklären. Dürkheim glaubt, daß die Arbeitsteilung voranschreitet, daß sich weitere Spezialisierungen herausbilden, daß die Funktionen dadurch zunehmend als unverwechselbare Leistungen einer bestimmten Person zugerechnet werden, und daß - ein optimistisches Bild somit eine schrittweise Befreiung des Individuums aus der Abhängigkeit vom Systemzusammenhang der Gesamtheit entstehen kann. Weil immer mehr, immer spezialisiertere Funktionen mir als dem Einzelnen zugerechnet werden, bin ich so spezialisiert, daß eine bestimmte Aufgabe nur ich noch übernehmen kann. Folglich bin ich unersetzlich und damit wirklich befreit. Auch in diesem Sinne geht also, evolutionistisch gedacht, das Individuum

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aus der Gesellschaft hervor, insofern es nämlich erst am Schluß einer langen Entwicklung in seiner Freiheit erscheint. Für den Gesellschaftstyp der arbeitsteiligen Gesellschaft aus Verschiedenen mit der organischen Solidarität (und mit dem Vertrag als typische Rechtsform) kommt es darauf an, eine übergreifende Moral zu begründen. Das ist hier sehr viel schwieriger als bei der Gesellschaft aus Ähnlichen, in der es ein Kollektivgefuhl gibt, dessen Verletzung stets streng bestraft wird. Dürkheim weist daraufhin, daß nicht nur Verträge zwischen Teilen dieser Gesellschaft einen Zusammenhalt bilden, sondern daß die berufsmäßige Moral als Sittlichkeit der Kooperation eine übergreifende Klammer darstellt. Es gehört sich eben, daß man im Berufsbereich seine Pflicht tut, daß jeder an seinem Platz seine Funktion gewissenhaft erfüllt. Dies ist die übergreifende Moral der arbeitsteiligen Gesellschaft, wie Dürkheim hofft: Freilich sei diese Sittlichkeit der Kooperation noch im Werden. Sie lasse sich aber schon als Berufsmoral der einzelnen Berufsgruppen erkennen, eben der intermediären Gruppen, von denen schon die Rede war. Dürkheim denkt an die Ärztekammer, oder die Anwaltskammer, die jeweils darauf achten, daß die Mitglieder ihres Berufsstandes die Moralvorschriften, die Standesethik einhalten. Als Ursache ftir die fortschreitende Arbeitsteilung sieht Dürkheim die Verschmelzung von kleineren Gruppen zu größeren Gruppierungen an. Dadurch werden die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Subjekten zahlreicher, das soziale Geflecht dichter. Durch die Vergrößerung der Gruppen und die Spezialisierungen ihrer arbeitsteiligen Zuständigkeiten wird der Kollektivgeist schrittweise zurückgedrängt. Dürkheim kennt auch pathologische Formen der Arbeitsteilung - und das wird wichtig für seine Untersuchung über den Selbstmord, die eine Anwendung dieser Theorie ist. Erste Form der Pathologie ist der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Hier haben wir eine in Dürkheims Werk nicht sehr häufige, sozialistisch klingende Aussage. Dieser Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit führe zum Kampf um die Existenz des Einen auf Kosten des Anderen. Die Arbeitsteilung sei pathologisch deshalb, weil sie Solidarität nicht fordere, sondern zerstöre. Die Regeln der Kooperation werden nicht beachtet und das Verfallen der Wirksamkeit der Kooperationsregeln fuhrt zu Anomie - ein ganz zentraler Begriff bei Dürkheim. Anomie entsteht durch das Zerfallen von Kooperationsregeln. (Anomie von dem griechischen Wort Nomos = Gesetz, Anomie heißt dann Gesetzlosigkeit.) Es gibt eine weitere, zweite Form der pathologischen Arbeitsteilung. Genau entgegengesetzt der ersten entsteht sie durch ein Zuviel an Regeln, die möglicherweise falsche Regeln sind. Die ungerechte Arbeitsteilung des Klassensystems entspricht nicht mehr der natürlichen Ungleichheit. Dürkheim sagt nicht: von Natur aus sind alle Menschen gleich, und darum muß

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die Schichteinteilung abgeschafft werden. Sondern Dürkheim meint: die Menschen sind von Natur aus ungleich, aber das herrschende Gesellschaftssystem ist keine angemessene Wiedergabe der naturgegebenen Ungleichheit, sondern eine unnatürlich geschaffene Ungleichheit durch Regeln, die falsch und zu zahlreich und daher kooperationshindernd sind. Durch dieses Übermaß an Regeln haben die Menschen zu wenig Freiheit, spontane Solidaritätsbindungen aufgrund sinnvoller Kooperation und Arbeitsteilung herzustellen. Es gibt noch eine dritte pathologische Form der Arbeitsteilung: das Verkümmern der Funktionen. Hier wird streng fiinktionalistisch argumentiert. Auf zweierlei Weise können Fehlentwicklungen von Funktionen, die fur die Erhaltung der Stabilität von Kooperationsbeziehungen, also für ein gesundes Maß der Arbeitsteilung nötig sind, eintreten: entweder durch überflüssige Aktivitäten, sinnlose Hektik würden wir heute sagen, oder durch Unterbeschäftigung. Das ist ein Nachklang von Organologie: Man denke an den Gipsarm, bei dem die Muskeln abgebaut werden, oder an den Menschen, der nicht trainiert und daher keine sportliche Leistung mehr erbringen kann. Dürkheim meint den Arbeitslosen oder die Gesellschaft, die Arbeitslosigkeit produziert, und vergleicht das mit dem Körper, bei dem der linke Arm arbeitslos ist. Durch die Unterbeschäftigungen verkümmern die Funktionen, deren Erhaltung Voraussetzung für gesunde Arbeitsteilung ist. Zu den Kritikern Dürkheims gehört Gustav Schmoller (1838-1917), der einer der wichtigsten Männer der deutschen Sozialwissenschaft war. Er hat bestritten, daß es möglich wäre, aufgrund von Arbeitsteilung Solidarität herzustellen. Das sei eine Illusion, meint Schmoller Arbeitsteilung führe dazu, daß man, solange man den anderen braucht, mit ihm kooperiere, aber wenn man ihn nicht mehr braucht, dann lasse man ihn fallen. Von Solidarität könne demnach keine Rede sein. Im Jahre 1895 erscheint ein weiteres wichtiges Buch von Dürkheim: Les regies de la methode sociologique, von dem eine Fassung im Jahr davor 1894 als Zeitschriftenaufsatz in der Revue Philosophique veröffentlicht wurde. Das Buch enthält wichtige Konzepte für die Entwicklung der funktionalistischen Soziologie, allen voran den Begriff der sozialen Tatsache. Sie erkennt man daran, daß sie den individuellen Intentionen des Menschen Widerstand leisten kann. So ist es etwa eine soziale Tatsache, daß in Großbritannien Linksverkehr herrscht. Wer dort versuchen würde, rechts zu fahren, bekäme schon bald den Widerstand zu spüren. Wir müssen die Einzelheiten dieses Buches hier übergehen.

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c) Le suicide (1897) Dürkheims Studie über den Selbstmord ist eine der ersten umfangreichen empirischen Arbeit, die zu diesem Thema durchgeführt wurden. Dazu hat er eine Vielzahl statistischer Daten aus den verschiedenen Regionen Frankreichs zusammengetragen. Organisatorische Einheiten sind die "departements", denen Frankreich schon fnih eigene statistische Ämter gab. Dürkheim hat empirisch prüfen wollen, inwieweit die Zugehörigkeit zu konfessionellen Gruppen mit der Häufigkeit der Selbstmorde korrelierte. Er kam zu dem Ergebnis, daß unter den Protestanten Selbstmorde häufiger waren als unter den Katholiken der damaligen Zeit, und daß am seltensten Selbstmorde unter Anhängern des jüdischen Glaubens auftraten. Dies äußerst persönliche und höchst individuelle Phänomen des Selbstmords wird also hinterrücks zu einem Indikator für soziale Tatsachen: für das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv. Je mehr die Autonomie des Individuums gegenüber dem Kollektiv als wertvoll betont wird, desto häufiger tritt Selbstmord auf. Die folgende Tabelle soll zeigen, wie groß die Unterschiede der Selbstmordraten von Land zu Land sein können. Selbstmorde in den EG-Staaten - je 100.000 Einwohner und Jahr 1970

1980

Dänemark

20,69

31,58

Deutschland (ohne DDR)

21,19

20,90

Frankreich

14,59

19,25

Belgien

16,13

19,01 (1977)

Luxemburg

13,15

18,08 (1978)

Niederlande

8,18

10,09

Großbritannien

7,38

7,71

Italien

4,35

4,62 (1979)

Irland

1,53

3,06

Griechenland

2,91

2,89 (1979)

Quelle: Schriftliche Parlamentarische Anfrage 438/82 EG-Magazin

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Selbst innerhalb Europas, wo man meinen könnte, daß die Lebensbedingungen im Vergleich von Land zu Land verhältnismäßig ähnlich sind, finden sich gravierende Unterschiede, wie zum Beispiel 1980 (1979) zwischen Griechenland und Irland einerseits und Dänemark und Deutschland andererseits. Diese Beobachtung fuhrt in die verwirrende Fragestellung hinein: Was bedeutet eigentlich Geringschätzung des Individuums? Bedeutet das, daß man den Einzelnen ganz fest einbindet in den sozialen Zusammenhang, oder bedeutet Geringschätzung des Individuums gerade, daß man es freigibt, es sich selbst überläßt? Diese Frage stellt sich unter dem Eindruck von Dürkheims Daten. Natürlich hat er in dieser Untersuchung für seine Bedenken gegenüber dem Individualismus viel Bestätigung gefunden, den er als Anarchismus kritisiert hat. Er unterscheidet drei verschiedene Typen des Selbstmordes. Sie entsprechen den drei pathologischen Formen der Arbeitsteilung, die wir schon kennen. Dürkheim nennt sie altruistischer Selbstmord (ich bringe mich um, um meiner Familie die Schande zu ersparen, das ist dann eine altruistische Tat) oder egoistischer Selbstmord (ich bringe mich um, um die anderen zu ärgern, dann haben die den Ärger mit der Leiche) oder anomischer Selbstmord (ich bringe mich um, und keiner merkt es - ich werde erst nach sechs Wochen gefunden). Ein altruistischer Selbstmord liegt dann vor, wenn z.B. der Offizier der kaiserlichen Armee, der seine Schulden nicht bezahlen kann, sich aus Rücksicht auf seine Familie erschießt, oder wenn die hochbürgerliche junge Dame, die unehelich ein Kind erwartet, sich aus Rücksicht auf ihre Verwandtschaft vergiftet. Beide Formen, sowohl der egoistische, als auch der altruistische Selbstmord, bei denen sich das Verhalten des Selbstmörders eindeutig an bestimmten Personen orientiert, unterscheiden sich von dem anomische der nicht an bestimmten Personen orientiert ist. Ihm fehlt daher die soziale Dimension. Der anomische Selbstmord beruht auf dem Erlebnis der Isolierung - und das scheint heute bei uns der dominierende Typ zu sein. Die Gesellschaft ist aus der Theoriesicht Dürkheims pathologisch geworden, weil es ein Zuwenig an Regeln gibt, weil der einzelne gar nicht weiß, was eigentlich von ihm erwartet wird, was er eigentlich tun muß, um zu einem angesehenen erfolgreichen Glied dieser Gesellschaft zu werden. Die Folge ist, daß seine Integration in die Gesellschaft mißlingt, so daß er oder sie ganz unbemerkt von seiner oder ihrer Mitwelt in aller Einsamkeit aus dem Leben scheiden kann. Übrigens scheiden etwa doppelt soviele Männer durch Selbstmord aus dem Leben wie Frauen, in Norwegen waren es 1958 sogar viermal so viele. Die erstaunliche Serie von Buchpublikationen die Dürkheim in den Jahren zwischen 1892 (die Schrift über Montesquieu "Quid scundatus...) und 1897 (Das eben besprochene Buch über den Selbstmord) vorgelegt hat, bricht ab, als er sich der von ihm gegründeten Zeit-

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schrift L'Annee Sociologique zuwendet. Der erste Band wird 1898 veröffentlicht. Doch ein Spätwerk erscheint noch als Dürkheims letztes Buch, dem wir uns nun zuwenden.

d) Les formes elementaires de la vie religieuse (1912) Es handelt sich dabei vielleicht um das bedeutendste Werk von Dürkheim, um ein religionssoziologische Buch (Dürkheim, 1981a). Es erschien erst im Jahre 1912, fünf Jahre vor seinem Tod. Daraus läßt sich schließen, daß sich in diesem Text jahrelange intensive Arbeit niedergeschlagen hat. Les formes elementaires de la vie religieuse, mit dem Untertitel: Le systeme totemique en Australie, entstand wohl aus dem starken Engagement eines Mannes, der, wie erwähnt, aus einer langen Familientradition tief religiöser Juden stammt, der selbst den Glauben verloren hat und offenbar aus diesem Bewußtsein heraus die Frage stellt: Was ist eigentlich das Wesen einer jeden Religion? Es geht bei Dürkheim daher nicht darum, speziell den Katholizismus zu untersuchen, oder allgemeiner das Christentum, oder den Buddhismus, den Islam oder sonst irgendeine historisch konkrete Religion, sondern es geht darum, die schwierige Frage zu beantworten: Was ist Religion? Unabhängig davon, um welche es sich dabei handelt, was ist das Wesen der Religion? Das Buch ist überwiegend von Völkerkundlern beachtet worden, von Vertretern der Soziologie dagegen meist nur in Auszügen zitiert worden. Dürkheim knüpft in diesem Buch bei den Evolutionisten an, die als Völkerkundler und Soziologen des 19. Jahrhunderts dazu neigten, die Religion als Lückenbüßer für das Fehlen rationalen Denkens anzusehen. Diese Evolutionisten sagen etwa: Nun gut, so lange die Wissenschaft noch nicht so weit ist, so lange es noch Bereiche gibt, in denen etwas unerforscht ist, so etwas wie der weiße Fleck auf der Landkarte des Geographen, haben die Religionen noch eine Weile ihren Platz. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, dann werden sie alle überflüssig, weil die Menschen dann genug wissenschaftliches Wissen haben, um es an die Stelle von Religion zu setzen. Das war die vorherrschende Sicht der Religion, und so wurde sie von den Evolutionisten des 19. Jahrhunderts behandelt: Religion als Aberglaube. Das wurde hier im Zusammenhang mit dem Religionsverständnis von Karl Marx schon erwähnt. Die Eingeborenenkulturen, die gerade im 19. Jahrhundert mit großer Begeisterung entdeckt, beschrieben und erforscht wurden, hielten die Evolutionisten für Konservierungen der Frühund Vorgeschichte unserer eigenen Hochkulturen, und so glaubte denn ein jeder, sich in einem Museum seiner eigenen Vorfahren wiederzufinden, wenn er zu den Eingeborenen reiste. Im früh- und vorgeschichtlichen, wie im primitiven Denken gab es im Verständnis dieser Evolutionisten weite Felder der Unwissenheit, z.B. über die astronomischen Vorgänge, und

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um zu verhindern, daß solche Unwissenheiten zu Handlungsunsicherheit und zu Existenzangst fuhren, hätte religiöses Wissen ersatzweise einzutreten - mindestens so lange bis rationales wissenschaftliches Wissen es überflüssig machte. Den Ursprung der Religion sahen die Evolutionisten in einem kollektiv vollzogenen Definitionsverfahren, durch das Tiere im Animismus oder Naturphänomene wie Sonne, Mond und Sterne und Wind im Naturismus mit Geistern identifiziert wurden, und so zum Ursprung der betreffenden Religion werden konnten. Daß die Geister jedoch nicht der Phantasie des isolierten Einzelnen entstammen können, verbindet Dürkheim mit der These, hinter ihnen verberge sich nichts Geringeres als der Klan selbst. Klan ist die Gemeinschaft derer, die zusammen schlafen, essen, leben und trinken, sozusagen die Urform - er spricht an anderer Stelle auch von der Horde -, die alles gemeinsam haben und die unter dem Inzesttabu stehen, das heißt, die sich ihre Geschlechtspartner von außerhalb wählen müssen. Das ist die Definition von Klan als eine Urform von sowohl Familie als auch Gemeinde im religiösen Sinn. Dürkheim betont die Allmacht des Klans gegenüber dem Individuum, das ihm angehört. Sie personifiziert sich in der Gottheit, und sie ist das Fundament der Religion. Es geht also in der Religion gar nicht um die Beziehung des Menschen zur Natur, die ihm gewaltig vorkommen könnte, oder um die Beziehungen des Menschen zu dem Problem des Geborenwerdens und des Sterbenmüssens, nein, sagt Dürkheim, in der Religion geht es um eine soziale Beziehung, um ein höchst soziales Phänomen, nämlich um die Frage: Wie steht der Einzelne zu seiner Gruppe. Glaube als konkreter Inhalt dessen was Religion lehrt, ist in Dürkheims Religionssoziologie die Widerspiegelung der Struktureigenschaften der jeweiligen Gesellschaft. Das bedeutet, daß Gesellschaften mit voneinander stark abweichender Sozialstruktur - etwa eine ständische Agrargesellschaft einerseits und eine hochmobile Industriegesellschaft andererseits - schwerlich im Glauben übereinstimmen können, weil ja, nach Dürkheim, der Glaube jeweils den strukturellen Zustand des Kollektivs reflektiert, dessen Angehörige daran glauben sollen. In einem Vergleich mit Max Weber könnte man sagen: Dürkheim diskutiert nicht Entzauberung, er betreibt sie. Während der Glaube als Form des Bewußtseins (die Dogmen also) durch die sozialen Gegebenheiten geprägt erscheint, dient das Handeln der religiösen Praxis ausdrücklich als Heiligung und Verherrlichung der sozialen Gegebenheiten, und das geschieht in Ritus und Zeremonie. Hier werden die Individuen miteinander verbunden: im rituellen Handeln, in dem Tanz, der um das Feuer herum aufgeführt wird. Da zeigt sich Zusammengehörigkeit, da agiert sozusagen das soziale Gebilde - der Klan - unmittelbar. Dürkheim glaubt, daß der Totemismus, den es ja auch bei den Indianern Nordamerikas - aber in schon viel komplizier-

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terer Form - gibt, und den er in seiner Elementarform bei den Australiern studiert, die Grundform aller Religionen sei. Die Vergeistigung und Heiligung von Tieren, und in einigen wenigen Fällen auch von Pflanzen, zu Totems und damit sozusagen zum Mitgliedsabzeichen sozialer Gruppen oder Klans, sei die unverfälschteste und ursprünglichste Form der Religion. (Wie kommt es, daß heute Deutschland, Österreich, Polen, die USA und andere Staaten einen Adler als Staatssymbol haben? Wie kommt es, daß Bayern, Großbritannien und andere Staaten einen Löwen im Wappen fuhren? Wie kommt es zu dem russischen und dem Berliner Bären? Sind das Reste des Totemismus?) Alle späteren und anderen Formen der Religion seien nur komplexere Spielarten dieses einen Ursprungsphänomens, meint Dürkheim. Diese Ansicht Dürkheims ist allerdings heute aufgrund von Arbeiten wie denen von Levi-Strauss umstritten: der Totemismus gilt nicht mehr ohne Vorbehalt als religiöse Denkweise. Entscheidend ist für uns in diesem umfassenden und wichtigen Werk des Jahres 1912 Dürkheims Nachweis, daß religiöse Phänomene ihre Verankerung im sozialen Miteinander haben. Damit bereitet er theoretisch die Frage vor, ob in dem Maße, in dem der Mensch sich immer weiter individualisiert und herauslöst aus sozialen Zusammenhängen, Religion an ihr Ende kommen muß. Das genau ist eine These, die wir später bei Max Weber ausgeführt finden: Religion wird veranstaltet im engen Netz des sozialen Miteinanders. Indem der Einzelne sich da herauslöst und sich auf eigene Faust stabilisiert, wie Gehlen das genannt hat, in dem Maße wird Religion - in dem Sinne, in dem Dürkheim sie definiert - unmöglich. Dürkheim kommt mit Hilfe ausfuhrlicher Illustration und sorgfältiger Argumentation zu dem Ergebnis, daß Gottheiten kein definierendes Merkmal von Religion seien, daß vielmehr der Buddhismus sowohl Atheismus als auch Religion sei. Maßgeblich fur das Vorhandensein einer Religion ist für Dürkheim also nicht die Anwesenheit von Göttern sondern das Praktizieren von Riten. Es gibt in kulturellen Phänomenen, die nach Dürkheims Überzeugung Religionen sind, Riten ohne Götter, ja es gibt sogar, sagt Dürkheim, Riten die zur Entstehung von Göttern führen. Es trifft demnach nicht zu, daß alle religiösen Kräfte von göttlichen Persönlichkeiten ausgehen. Außerdem gibt es kultische Handlungen, die andere Zielsetzungen haben als die Herstellung einer Verbindung zwischen Menschen und Göttern. Religion ist demnach für Dürkheim mehr als die Idee von Göttern und Geistern, und daher könne man sie nicht so definieren, daß deren Vorhandensein Voraussetzung für das Existieren von Religion sei (Dürkheim, 1981a: 60). Nach der Zurückweisung von, seiner Überzeugung nach, falschen Definitionsversuchen schlägt Dürkheim eine eigene Begriffsbestimmung von Religion vor. Er weist daraufhin, daß Religion nicht ein geheimnisvolles unteilbares Ganzes sei, sondern sich aus einigermaßen

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selbständigen Teilen zusammensetze, und daß Religion ein mehr oder weniger komplexes System von Mythen, Dogmen, Riten und Zeremonien sei. Dürkheim bezeichnet bei der Entwicklung seines Definitionsvorschlags Religion ausdrücklich als System. Zur Definition von Religion gehört nach seiner Überzeugung notwendig eine Aussage über die Beziehung zwischen den Teilen, die in ihrer Gesamtheit das System konstituieren. Zentrale Bedeutung hat fur Dürkheim das Ritual. Man kann, so sagt er, an vielen weltlichen Ritualen wie der Beachtung des Maifeiertages oder des Karnevals oder der Sommersonnenwende beobachten, daß es sich dabei um Reste religiöser Rituale handelt. Ob eine konkrete soziale Verhaltensform tatsächlich die Qualität des religiösen Rituals hat oder nicht, hängt von dem Sinngehalt ab, den die Handelnden damit verbinden. Darum ist es nicht möglich, einen Ritus als Bestandteil der Religion zu definieren, wenn nicht zuvor der Glaube definiert worden ist (ebd.: 61f). Mit dieser Begründung wendet sich Dürkheim den Inhalten religiösen Bewußtseins zu und vertritt die Meinung, daß alle religiösen Glaubenssysteme dies eine gemeinsam haben: Sie alle schaffen im Bewußtsein des Menschen die klare Scheidung zwischen profan und sakral (profane, sacre). Diese Zweiteilung der Welt in ein profanes und ein sakrales Teilgebiet konstituiert religiöses Denken. Sie ist übereinstimmendes Merkmal aller Glauben, Mythen, Dogmen und Legenden, denen man die Qualität des Religiösen zuerkennen muß (ebd.: 62). Darum ist auch der Buddhismus für Dürkheim eine Religion. Ihm fehlen zwar die Götter, aber der buddhistische Glaube enthält die vier heiligen Praktiken, die dem profanen Leben gegenüberstehen. Was konkret als heilig gilt und was nicht, ist von Religion zu Religion ganz verschieden. Dürkheim weist daraufhin, daß es nicht immer Gottheiten oder personale Geistwesen sein müssen, die den Wesensgehalt des sakralen Bereichs ausmachen. Es kann sich um eine Pflanze, um einen Stein, um einen Fluß, oder eben, wie im Falle des Buddhismus, um eine bestimmte Verhaltensweise des Menschen handeln, die jeweils als heilig definiert werden. Entscheidend ist in allen Fällen, daß nur bestimmte ausgewählte Personen die Erlaubnis haben, sich mit dem Bereich des Heiligen in Verbindung zu bringen, ihm zu nahen, ihn zu vollziehen, während die große Mehrzahl der Gläubigen von dem Zugang zum Bereich des Heiligen ausgeschlossen ist (ebd.). Dürkheim weist darauf hin, daß es keine Kontinuität vom profanen zum sakralen Bereich gibt. Während in anderen Bereichen menschlichen Denkens verschiedene Ausprägungen derselben Variablen angetroffen werden können, so z.B. gut und böse als Dimensionen der Ethik oder krank und gesund als Dimensionen des körperlichen Wohlbefindens, verhält es sich mit der Konfrontation von profan und sakral völlig anders. Es handelt sich hier um eine

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Konfrontation zweier unvergleichlicher Denkweisen, die unterschiedlichen Klassen zugerechnet werden und nicht disparate Phänomene innerhalb einer Klasse darstellen (ebd.: 63f). Am Ende seines Buches über die Religion hält Dürkheim in einer "Zusammenfassung" Rückschau auf die Ergebnisse der Untersuchung. "Wie einfach auch das System war, das wir untersucht haben, wir haben darin alle großen Ideen und alle hauptsächlichsten Ritualhaltungen, die an der Basis selbst der fortgeschrittensten Religionen stehen, wiedergefunden: die Einteilung der Dinge in heilige und profane; den Begriff der Seele, des Geistes," (es sollte richtiger heißen 'der Geister') "der mythischen Persönlichkeiten, der nationalen und sogar der übernationalen Gottheit... Unsere Hoffnung ist also begründet, daß die Ergebnisse, zu denen wir gekommen sind, nicht auf den Totemismus allein beschränkt sind, sondern uns zum Verständnis dessen verhelfen können, was die Religion im allgemeinen ist" (ebd.: 556). Der erste Absatz der Zusammenfassung liest sich wie eine abschließende Rechtfertigung dafür, nicht eine Hochreligion, sondern den Totemismus zum Gegenstand der Untersuchung gemacht zu haben. Das Ergebnis befriedigt Dürkheim: alle Elemente einer jeden Religion sind schon in der einfachsten Form, im Totemismus, vorhanden. Dann macht er eine Bemerkung, die für die Beurteilung seiner Methode wichtig ist. Den Kritikern, deren Einwendungen er sich vorstellt, und die ihn fragen könnten, welche Beweiskraft denn aus der Beschäftigung mit nur einem einzigen Religionstyp hervorgehen könnte, hält er entgegen, "daß ein Beweis allgemeingültig ist, wenn ein Gesetz durch ein richtig durchgeführtes Experiment bewiesen worden ist" (ebd.). Wie sehr er sich an den Methoden der Naturwissenschaften orientiert, wird auch im nächsten Satz deutlich: "Wenn es einem Gelehrten, selbst in einem einzigen Fall, gelingt, das Geheimnis des Lebens zu erkunden, und wäre es beim einfachsten protoplasmatischen Wesen,... so könnten diese Wahrheiten auf alle, selbst die höchstentwickelten Lebewesen angewendet werden" (ebd). Das liest sich wie das Forschungsdesign, mit dem Franz Boas seine Schülerin Margaret Mead nach Samoa geschickt hat, damit sie dort an einem einzelnen Fall einer Kultur nachweisen könne, daß eine permissive Sexualmoral agressionsmindernd wirken müsse (Freeman, 1983). Weiter schreibt Dürkheim ohne Übergang: "Wenn wir also bei den sehr primitiven Gesellschaften, die wir studiert haben, wirklich einige der Elemente entdeckt haben, aus denen die grundlegendsten religiösen Begriffe bestehen, dann gibt es keinen Grund, die allgemeinsten Ergebnisse unserer Untersuchung nicht auf die anderen Religionen anzuwenden" (ebd.). Der Text zeigt mit aller Klarheit, daß Dürkheim nicht bereit ist, zwischen den Methoden der Naturwissenschaften und denen der Geisteswissenschaften einen Unterschied zu machen. Ein einziges, unter kontrollierten Bedingungen durchgeführtes Experiment habe in der Physio-

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logie, der Chemie oder der Physik schon Beweiskraft. Von der Methode des Kulturvergleichs ist bei Dürkheim gar keine Rede. Und doch ist er viel zu empfindsam seinem Gegenstand gegenüber, als daß er nicht die subtilen Besonderheiten der Religion als einem Phänomen spürte, das sich ganz wesentlich in der Form von Vorstellungen und Empfindungen gläubiger Menschen realisiert. Dabei sieht er die Verwirklichung sich im Handeln vollziehen. An der wissenschaftlichen Debatte seiner Zeit über das Thema "Religion" kritisiert Dürkheim die Neigung, eine rationalistische Beurteilung der Richtigkeit oder naturwissenschaftlichen Wahrheit von Glaubensaussagen zu fordern. Darauf komme es jedoch dem glaubenden Mitglied dieser oder jener Religionsgemeinschaft gar nicht an. Von den gläubigen Menschen schreibt er: "Denn sie fühlen in der Tat, daß die wahre Funktion der Religion nicht darin besteht, uns zum Denken zu bringen, unser Wissen zu bereichern, unsere Vorstellungen zu ergänzen, die wir der Wissenschaft verdanken..., sondern uns zum Handeln zu bringen und uns zu helfen zu leben" (ebd.: 558). Der religiös gebundene Mensch ist nicht daran zu erkennen, daß er mehr weiß, sondern daran, daß er mehr kann. Die Kraft der Religion kann also nicht an kognitiven Effekten abgelesen werden, sondern an der Wirksamkeit und an dem Erfolg des Handelns. Das klingt wie Argumente des Pragmatismus, und tatsächlich zitiert Dürkheim in diesem Zusammenhang einen der Vertreter des philosophischen Pragmatismus der U.S.A., William James. Dessen Buch "The Varieties of Religious Experience" (James, 1925) war Dürkheim bekannt. Ihm entnimmt er die Anregung, das Bibelwort "an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" heranzuziehen (ebd.: 559). Aus diesem Argumentationszusammenhang gelangt Dürkheim zu der starken Betonung des Kultes als der religiösen Form des Handelns. Die religiöse Idee allein macht uns noch nicht stark. Um unserer naturgegebenen Energie etwas hinzuzufügen, ist es erforderlich, sie "mit unserem inneren Leben zu vereinen. Dazu genügt es nicht, daß wir sie denken; es ist unerläßlich, daß wir sie in unser Tätigkeitsfeld einbeziehen, daß wir uns in die Richtung drehen, in der wir am besten ihren Einfluß spüren. Mit einem Wort: Wir müssen handeln..." (ebd.). Dies ist Dürkheims Begründung für die Bedeutung des Kults: "Der Kult ist nicht einfach ein System von Zeichen, durch die sich der Glaube äußert, sondern die Summe der Mittel, mit denen er sich erschafft und periodisch wiedererschafft" (ebd.). Der pragmatische

Ansatz steht in Dürkheims Methode dem

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experimentellen gegenüber, und offenbar sieht er darin keinen Widerspruch, kein methodisches Problem. Selbstverständlich ist Dürkheim kein undifferenziert positivistischer Denker, auch kein Materialist. Beiden wäre ja das religiöse Bewußtsein nichts anders als falsches Bewußtsein, beiden wäre es eine Phantasterei, ein krankhaftes Produkt der Phantasie, dem

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keinerlei Realität entspricht. Wiewohl Dürkheim selbst kein religiöser Mensch ist, gesteht er doch religiösen Überzeugungen den Status von Realität zu, wenn er schreibt: "Unsere ganze Studie beruht auf der Annahme, daß dieses einstimmige Gefühl der Gläubigen aller Zeiten nicht rein illusorisch sein kann. So wie ein neuer Glaubensverteidiger, nehmen auch wir an, daß die religiösen Überzeugungen auf einer spezifischen Erfahrung beruhen, deren Demonstrationswert in gewisser Hinsicht nicht geringer ist als jener von wissenschaftlicher Erfahrung, wenngleich sie verschieden sind" (ebd.). Dieser Satz ist methodisch interessant. Dürkheim gesteht darin nämlich zu, daß es zweierlei Arten von Erfahrung gibt, religiöse und wissenschaftliche, daß beide das haben, was hier "Demonstrationswert" genannt ist, und - erstaunlich genug - daß "die religiösen Überzeugungen auf einer spezifischen Erfahrung beruhen, deren Demonstrationswert in gewisser Hinsicht nicht geringer ist als jener von wissenschaftlicher Erfahrung..." (ebd.). Hier stellt sich die Frage, ob Dürkheim durch die Beschäftigung mit dem Gegenstand Religion nolens volens in die Richtung gedrängt worden ist, die Dilthey mit der Scheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften vorgezeichnet hat. Das Problem treibt Dürkheim dazu, sich genauer damit zu beschäftigen. Er hält 1913 in Paris eine Vorlesung über den Pragmatismus, die er am 9. Dezember beginnt. Der Titel des Kurses lautete "Pragmatisme et Sociologie" und besteht aus zwanzig Vorlesungen, die sich durch den Winter hindurch bis in das Jahr 1914 hinein erstreckten. Es stellt sich heraus, daß er den Pragmatismus, dem er in dem hier besprochenen Buch über die Elementarformen des religiösen Lebens zuzuneigen schien, in der Vorlesung heftig zurückweist. Sein Bedenken dagegen faßt er in drei Punkte zusammen: 1) Der Pragmatismus hat das Potential, uns die schwerwiegenden Schwächen bewußt zu machen, die dem Rationalismus innewohnen (Dürkheim, 1955: 27). 2) Die ganze Kultur Frankreichs ruht nach Dürkheims Ansicht auf dem Fundament des Rationalismus. Da der Pragmatismus das Potential hat, den Rationalismus zu erschüttern, stellt er eine Gefahr für die Nationalkultur Frankreichs dar: "C'est tout l'esprit fran?ais qui devrait etre transforme si cette forme de l'irrationalisme que represente le Pragmatisme devrait etre admise" (ebd.: 28). 3) Die ganze Tradition der Philosophie ruht auf dem Fundament des Rationalismus auf, meint Dürkheim; sie würde insgesamt entwurzelt, falls sich herausstellen sollte, daß der Pragmatismus Gültigkeit beanspruchen kann ("si le Pragmatisme etait valable", ebd.). Allerdings müssen wir bedenken, daß der Text seiner Vorlesung über den Pragmatismus nicht von Dürkheim selbst veröffentlicht wurde. Man fand ihn nach seinem Tode bei seinen Manuskripten und ließ ihn posthum drucken.

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Dürkheim ringt jedenfalls in seinem Buch von 1912 um eine Erkenntnistheorie, die ohne die Zweiteilung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften auszukommen scheint: "Wenn der Wissenschaftler das Axiom aufstellt, daß die Eindrücke von Wärme und Licht, die die Menschen empfinden, einer objektiven Ursache entsprechen, so schließt er doch nicht, daß die Ursache so wäre, wie sie unseren Sinnen erscheint. Ebenso gilt: Wenn die Eindrücke, die die Gläubigen empfinden, nicht erdichtet sind, so bilden sie doch keine privilegierte Intuition. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß sie uns besser über ihr Objekt belehren als die gewöhnlichen Empfindungen über die Natur der Körper und ihrer Eigenschaften" (ebd.: 559f). Der Eindruck einer methodischen Nähe Dürkheims zu Dilthey und Simmel trügt demnach. Er scheint sich nur ein Stück weit auf die Vorstellung von den beiden unterschiedlichen Bereichen der Erkenntnis zuzubewegen, doch dann bekennt er sich dazu, Soziologie mit den Erkenntniswerkzeugen der Naturwissenschaften zu betreiben. Das religiöse Bewußtsein kann zwar das Vorhandensein eines realen Objekts als Kraftquelle erkannt haben, doch daraus folgt noch lange nicht, daß es dieses Objekt richtig und fehlerfrei erkannt hat, also so wahrnimmt, wie es wirklich ist. "Um zu entdecken, woraus dieses Objekt besteht, muß man sie" (die Empfindungen der Menschen) "also einem Verfahren unterwerfen, das dem ähnlich ist, das an die Stelle einer nur sinnhaften Vorstellung von der Welt eine wissenschaftliche, begriffliche Vorstellung gesetzt hat. Genau das haben wir versucht zu tun, und wir haben gesehen, daß diese Wirklichkeit, die sich die Mythologien unter so vielen verschiedenen Formen vorgestellt haben, die aber die objektive, universale und ewige Ursache dieser Erfindungen sui generis ist, aus denen die religiöse Erfahrung besteht, die Gesellschaft ist" (ebd.: 560). Das religiöse Empfinden des Gläubigen erkennt also richtig die gewaltige Kraft, von der aus sein Leben gesteuert wird. Insoweit ist dieses Gefühl real. Doch es beruht auf einem Irrtum über die Natur dieser Kraft: es hält es fur einen Geist, einen Gott, eine ganze Mannschaft von Göttern, für Dämonen oder für sonst etwas spezifisch Religiöses. Aber Dürkheim als der Naturwissenschaftler der Religion zeigt, daß es sich in Wahrheit um die Gesellschaft handelt, die die wirkliche und einzige Quelle des Heiligen ist. Dies hält Dürkheim für die wichtigste Entdeckung seiner Untersuchung zur Religion: Es ist die Gesellschaft, die von den Gläubigen aller Religionen als Gottheit verehrt wird. "So kann man die überragende Rolle des Kults in allen Religionen erklären, welche es auch seien. Die Gesellschaft kann ihren Einfluß nicht fühlbar machen, außer sie ist in Aktion; und dies ist sie nur, wenn die Individuen, die sie bilden, versammelt sind und gemeinsam handeln" (ebd.).

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Dürkheim hatte schon im Laufe seiner Untersuchung gezeigt, daß die Grundkategorien des Denkens und damit auch die der Wissenschaft auf einen religiösen Ursprung zurückgeführt werden können. Das gilt nach seiner Meinung auch für Magie und die daraus abgeleiteten Techniken, es gilt für die Moral, für das Recht, und so kommt er zu dem Ergebnis: "Man kann also zusammenfassend sagen, daß fast alle großen sozialen Institutionen aus der Religion geboren wurden" (ebd.: 561). An diesen Satz knüpft Dürkheim eine Fußnote, in der er sagt, nur die ökonomische Tätigkeit sei von ihm mit der Religion nicht in Verbindung gebracht worden, es bestünden aber Beziehungen zwischen dem ökonomischen Wert und dem religiösen Wert, doch sei noch nicht untersucht worden, "welches die Natur dieser Beziehungen ist" (ebd.). Das ist (im Jahre 1912) eine erstaunliche Feststellung angesichts der Tatsache, daß Max Webers Protestantismusstudie in den Jahren 1904 und 1905 schon erschienen war. Allerdings setzt nach langer Pause die Aufsatzfolge Max Webers mit dem Rahmentitel "Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen" erst im Jahre 1915 ein und zwar mit der Arbeit über den Konfuzianismus. Da Dürkheims Buch 1912 erschienen ist, kann Weber es gekannt haben, ehe er mit der Publikation der Aufsatzfolge begann. Die Max-Weber-Forschung hat aber ergeben, daß Weber schon 1911 mit den Vorarbeiten dazu begann, und daß muß wiederum in Unkenntnis des Durkheimbuches geschehen sein. Es kann also sein, daß die beiden großen Klassiker tatsächlich das Thema Religion bearbeitet haben, ohne daß einer jeweils die Arbeiten des anderen beachtet hätte. Dürkheim fährt fort, die Gesellschaft als Quelle des Heiligen zu sehen: "Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist" (ebd.). Diese Formulierung, in der die Idee des einen Phänomens als die Seele des anderen bezeichnet wird, paßt nicht zum methodischen Programm Dürkheims. Das merkt er auch sogleich selbst. Er beschreibt daher im nächsten Satz, wie sich religiöse Qualitäten dinglich manifestieren: "Die religiösen Kräfte sind also menschliche Kräfte, moralische Kräfte. Weil sich die kollektiven Gefühle ihrer selbst nur bewußt werden können, indem sie sich an äußere Objekte anheften, konnten sie sich zweifellos nicht selbst konstituieren, ohne von den charakteristischen Zügen der Dinge etwas zu übernehmen: Sie haben damit gewissermaßen eine physische Eigenart erlangt. So haben sie sich in das Leben der materiellen Welt eingemischt..." (ebd.). Wenn sich in dieser Formulierung Dürkheims die Kollektivgefühle "in das Leben der materiellen Welt eingemischt" haben, dann ist ausdrücklich die Synthese zwischen Sinnwelt und Sachbereich zugestanden, von der der verstehende Ansatz und die Theorie Symbolischer Interaktion ausgehen. Vielleicht öffnet sich Dürkheim doch behutsam einem geisteswissenschaftlichen Verfahren, weil er merkt, daß

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er die Fesseln des Positivismus sprengen muß, um das Thema Religion erfolgreich bearbeiten zu können. Dürkheims Entdeckung, nach der die Gesellschaft in jeder Religion als Gottheit oder als das Heilige verehrt wird, fuhrt ihn zu der Frage, um welche Gesellschaft es sich denn dabei handele. Angesichts der empirisch gegebenen sozialen Wirklichkeit kommen einem da hinsichtlich der heiligen Qualität notwendig manche Zweifel. "Aber sie ist doch voller Mängel und Unvollkommenheiten! Das Übel steht neben dem Guten, die Ungerechtigkeit herrscht oft ungestört, die Wahrheit wird jeden Augenblick durch den Irrtum verdunkelt. Wie konnte ein so grobes Gebilde die Gefühle der Liebe, des glühenden Enthusiasmus, des Geistes der Selbstverleugnung einflößen, die alle Religionen von ihren Gläubigen fordern. Die Götter, diese vollkommenen Wesen, können doch ihre Züge nicht von einer derart mittelmäßigen, manchmal sogar niedrigen Realität entnommen haben" (ebd.: 562). Hier wird ein fundamentaler Unterschied im Vergleich zu der Deutung von Religion bei Karl Marx sichtbar. Marx verurteilt Religion als falsches Bewußtsein, weil sie einen Schleier der Fälschung über die Mißstände der empirisch gegebenen Gesellschaft deckt, und den Gläubigen meinen läßt, alles sei gut und gerecht. Für Marx gibt es also in der Gesellschaft Widersprüche, im religiösen Bewußtsein, das jene verhüllt, jedoch nicht. Ganz anders bei Dürkheim: "Es hat Götter des Diebstahls und der List, der Unzucht und des Krieges, der Krankheit und des Todes gegeben. Wie hoch sich auch das Christentum die Gottheit vorgestellt hat, es war dennoch gezwungen, dem Geist des Bösen einen Platz in der Mythologie einzuräumen. Satan ist ein wesentlicher Teil des christlichen Systems. Zwar ist er ein unreines Wesen, aber er ist nicht profan. Der Gegengott ist ein Gott, niedrig und untergeordnet zwar, aber trotzdem mit großen Kräften begabt; er ist sogar Gegenstand von Riten, wenn sie auch negativ sind. Statt daß die Religion also die wirkliche Gesellschaft ignoriert und von ihr abstrahiert, ist sie ihr Ebenbild. Sie spiegelt alle Ansichten, selbst die gemeinsten und abstoßendsten wider" (ebd.: 563). Indem nun die Religion die Gesellschaft widerspiegelt, kopiert sie sie freilich nicht. Der Mensch schafft die Religion, (wie bei Feuerbach und bei Marx), doch er geht dabei vor, wie Kant es beschreibt: Er gibt sich mit den Unvollkommenheiten der empirischen Erfahrung nicht zufrieden. Statt dessen denkt er über sie hinaus, verlängert ihre Linien, rundet ab, systematisiert, vervollkommnet und konzipiert so das Sakrale in seiner Dualität von Gott und Teufel. "Es ist, als ob man sagte: der Mensch hat die Religion erschaffen, weil er eine religiöse Natur hat. Das Tier jedoch kennt nur eine Welt: die Welt, die es durch innere wie äußere Erfahrung wahrnimmt. Nur der Mensch hat die Fähigkeit, sich das Ideale vorzustellen und es dem Wirklichen hinzuzufügen" (ebd.: 564). "Um sich über diese außergewöhnlichen Eindrücke

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Rechenschaft zu geben, die er empfindet, verleiht er den Dingen, mit denen er in den engsten Beziehungen steht, Eigenschaften, die sie nicht haben, Ausnahmekräfte, Tugenden, die die Gegenstände der täglichen Erfahrungen nicht besitzen. Mit einem Wort: Der wirklichen Welt, in der er sein profanes Leben lebt, stülpt er eine andere über, die gewissermaßen nur in seinem Denken existiert, der er aber, gegenüber der ersteren, eine Art höherer Würde zumißt" (ebd.: 565). Diese Aussagen Dürkheims sind vom verstehenden Ansatz kaum noch zu unterscheiden Der Prozeß, den Dürkheim beschreibt, kann als Definitionsakt, als Zuschreibung oder ähnlich in Kategorien der geisteswissenschaftlichen Methode benannt werden; denn einer Welt wird eine andere übergestülpt, der Welt der materiellen Realität die der Sinnsysteme. Doch Dürkheim unternimmt jede erdenkliche Anstrengung, um seinen eigenen methodischen Grundsätzen treu zu bleiben. Er fragt nach den beobachtbaren Ereignissen, die den bezeichneten Vorgang der Sinnzuschreibung empirisch erforschbar werden lassen. Wieder gelangt er zum Ritus, zum religiösen Kult als der entscheidenden Kollektivhandlung: "Damit die Gesellschaft sich ihrer bewußt werden kann und dem Gefühl, das sie von sich hat, den nötigen Intensitätsgrad vermitteln kann, muß sie versammelt und konzentriert sein. Dann bewirkt diese Konzentration eine Überschwenglichkeit des moralischen Lebens, die sich in einer Summe von idealen Vorstellungen äußert..." (ebd.: 565). Bei der Lektüre solcher Passagen beschleicht einen das Gefühl, hier stehe das 'Auserwählte Volk' Modell fur die Gesellschaft. Bei Marx wird es Vorbild für das Proletariat, bei Dürkheim für die ganze Gesellschaft als Sitz des Sakralen. Die Gesellschaft wird in einer Weise personalisiert und reifiziert, die den Empiriker, als dessen Verbündeter Dürkheim sich ja gerade eingeführt hat, befremden muß. "Eine Gesellschaft kann nicht entstehen, noch sich erneuern, ohne gleichzeitig Ideales zu erzeugen. Diese Schöpfung ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit der sie sich ergänzt, wenn sie einmal gebildet ist, es ist der Akt, mit dem sie sich bildet und periodisch erneuert" (ebd.). "Denn eine Gesellschaft besteht nicht einfach aus der Masse von Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, aus dem Boden, den sie besetzen, aus den Dingen, deren sie sich bedienen, aus den Bewegungen, die sie ausführen, sondern vor allem aus der Idee, die sie sich von sich selbst macht... Es ist keinesfalls zutreffend, daß das kollektive Ideal, das die Religion ausdrückt, durch irgendeine innewohnende Kraft des Individuums entsteht, vielmehr lernt das Individuum eher in der Schule des kollektiven Lebens zu idealisieren" (ebd.: 566). So kann man die Lehre Dürkheim zusammenfassen in die Aussagen: Zum Menschsein gehört die Einbettung in eine Gesellschaft, die Gesellschaft ist der Ort des Heiligen, keine Gesellschaft ohne Religion, und Soziologie als Lehre von der Gesellschaft ist immer auch Lehre

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von den Bedingungen der Entstehung und Erhaltung einer bestimmten Religion als Merkmal dieser oder jener Kultur. Dies ist die wissenschaftliche Aussage über Religion, die Dürkheim vertritt, doch er warnt seine Leser sogleich eindringlich davor, seine Theorie mit der von Marx zu verwechseln: "Man muß sich also davor hüten, in dieser Theorie der Religion eine einfache Wiederaufnahme des historischen Materialismus zu sehen: Das hieße, unsere Gedanken völlig mißzuverstehen" (ebd: 567). Marx sieht in der Religion nur die Übersetzung der materiellen Struktur der Gesellschaft und der materiellen Interessen der Menschen in eine andere Sprache. Dürkheim dagegen betont, daß im Kollektivbewußtsein eine Synthese sui generis vorliegt, eine neue eigene Qualität, weil das neue Ganze mehr ist als nur die Summe seiner Teile. So gesehen ist Religion ein Kollektivphänomen, das der isolierte Einzelne nicht hervorbringen, sondern nur übernehmen und - vielleicht - modifizieren kann.

2. Simmel (1858-1918)

a) Person und Werk Isaak Simmel, der Großvater Georgs, hatte in Schlesien gelebt und dort als reifer Mann um das Jahr 1840 in Breslau das Bürgerrecht erhalten. Er war der Begründer einer erfolgreichen Kaufmannsfamilie. Sein Sohn Edward, Georg Simmeis Vater, war dort 1810 geboren worden. Auch er war Kaufmann. Auf einer seiner zahlreichen Reisen in der Zeit zwischen 1830 und 1835 konvertierte er in Paris vom jüdischen Glauben zum römisch katholischen Christentum. Edward Simmel heiratete im Jahre 1838 die ebenfalls aus Breslau stammende Flora Bodenstein. Auch ihre Familie war vom jüdischen zum christlichen Glauben übergetreten, doch wurde sie nicht katholisch, sondern evangelisch getauft. Die Eltern Georg Simmeis siedelten nach Berlin über, wo Edward Simmel die Schokoladenfirma "Felix und Sarotti" gründete und dann offenbar günstig verkaufen konnte (Gassen, 1958: 11). Als Simmeis Vater früh starb, hinterließ er ein ansehnliches Vermögen. Da die Zahl der Geschwister, von denen Georg Simmel das jüngste war, sieben betrug, hätte der frühe Tod des Vaters im Jahre 1874 für die Familie andernfalls eine Katastrophe auch in materieller Hinsicht bedeutet. Ein Freund der Familie und bedeutender Musikverleger, Julius Friedländer, wurde zum Vormund Georg Simmeis bestellt. Ihm hat Simmel später seine Doktorarbeit "In Dankbarkeit und Liebe gewidmet" (ebd: 11).

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Wie seine Mutter wurde Georg Simmel evangelisch getauft. Während des ersten Weltkriegs trat er aus der Kirche aus, nicht so sehr, weil er sich vom christlichen Glauben abwenden wollte, als vielmehr aus "dem Bedürfnis nach weltanschaulicher Ungebundenheit" (ebd: 12). Seine Ehefrau, Gertrud Kinel, die er 1890 heiratete, stammte wie Georg Simmel selbst aus einer konfessionell gemischten Familie, war jedoch im Unterschied zu Simmel, wie ihr Vater, katholisch getauft worden. Da die Mutter die religiöse Erziehung besorgte, wurde Gertrud im Anschluß an die katholische Taufe evangelisch erzogen. Der gemeinsame Sohn von Georg und Gertrud Simmel, Hans Simmel, wurde a.o. Professor der Medizin in Jena. Er starb Ende der dreißiger Jahre als Emigrant in den U.S.A. (vgl. Käsler, 1985). Der Haushalt von Georg und Gertrud Simmel wurde in Berlin zu einem geistig kulturellen Zentrum: Dort verkehrten als Gäste Rainer Maria Rilke, Stefan George, Edmund Husserl, Reinhold und Sabine Lepsius, Heinrich Rickert, Max und Marianne Weber u.a.. Das Wirken Georg Simmeis an der Universität Berlin übte große Anziehungskraft auf Zuhörer aus recht unterschiedlichen Kreisen aus: "Simmeis Vorlesungen über Probleme der Logik, Ethik, Ästhetik, Religionssoziologie, Sozialpsychologie und Soziologie wurden zum Teil wie kulturelle Ereignisse gefeiert, in den Tageszeitungen angekündigt und bisweilen sogar rezensiert. Sein Auditorium setzte sich, von vielen Kollegen spöttisch vermerkt, aus vielen Ausländern, geistig interessierten Nichtakademikern, Studenten aller Fakultäten und vor allem zahlreichen Frauen zusammen. Übereinstimmend berichten ehemalige Hörer von der faszinierenden Vortragsweise Simmeis, von seiner Fähigkeit, den Gedankengängen beinahe physische Substanz zu verleihen und die behandelten Gegenstände vor dem geistigen Auge der Anwesenden entstehen zu lassen, statt, wie viele seiner Kollegen, fertige, scheinbar unwiderlegbare Ergebnisse aneinanderzureihen" (Schnabel, 1976: 272). Die schulische und universitäre Ausbildung, die zu den späteren Erfolgen Simmeis als Hochschullehrer beitrug, erhielt er ausschließlich in Berlin. Mit 18 Jahren bestand er sein Abitur, immatrikulierte sich im Sommersemester 1876 an der Berliner Universität und studierte dort fünf Jahre lang. Er begann ein Studium der Geschichtswissenschaft bei Theodor Mommsen, hörte Völkerpsychologie bei Lazarus und Steinthal und wurde schließlich Philosoph als Schüler der wenig bedeutenden Professoren Zeller und Harms, die ihn in die Werke von Kant, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche einführten. Dabei ging der stärkste Einfluß auf Georg Simmel von Kant aus. Die zentrale Bedeutung der Universität Berlin wird daran sichtbar, daß Simmel im Laufe seines Studiums auch Droysen, von Sybel, von Treitschke, Jordan und Hermann Grimm (Simmel, 1881: 33; Tenbruck, 1958: 588) als seine Lehrer erlebte.

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Im Jahre 1881 meldet Simmel sich zum Promotionsverfahren. Das Thema seiner Doktorarbeit lautet "Psychologische-ethnologische Studien über die Anfänge der Musik". Diese Dissertation wird abgelehnt! Als Gründe für die Ablehnung nennen die zuständigen Professoren in den überlieferten Dokumenten und Gutachten die thesenhafte Großzügigkeit der Ausführungen und die mangelhafte Genauigkeit der Beweisführung. Dabei wird zugegeben, daß der Gegenstand ungewöhnlich sei, aber die Art der Ausführung wird entschieden kritisiert: Viele Schreibfehler, unleserliche Zitate, u s w. Man muß also davon ausgehen, daß er seine Dissertation doch eher ein wenig zu großzügig abgefaßt und vorgelegt hat. Er hatte aber andererseits kurz vor Beginn des Verfahrens, das zur Erteilung des Doktorgrades führen sollte, mit einer anderen Abhandlung einen Preis gewonnen. Seine erfolgreiche Preisschrift trug den Titel "Darstellungen und Beurteilungen von Kants verschiedenen Ansichten über das Wesen der Materie". Die Professoren, die mit der als Dissertation vorgelegten Arbeit über die Ursprünge der Musik nicht zufrieden waren, legten Georg Simmel nahe, er möge doch die Arbeit zurückziehen und stattdessen die preisgekrönte Schrift, die er aus anderem Anlaß verfaßt hatte, als Dissertation einreichen. Diesem freundlichen Rat folgte Simmel gern, und so konnte er seinen Doktorgrad erwerben. Die mündliche Doktorprüfung legte er in den Fächern Philosophie, Kunstgeschichte und Altitalienisch ab. Die Dissertation erschien als Simmeis erstes Buch im Jahre 1881 in Berlin mit dem Titel "Das Wesen der Materie nach Kants physischer Monadologie" (Simmel, 1881). Trotz dieses erfolgreichen Abschlusses steht fest, daß schon im Umkreis des Promotionsverfahrens bei Georg Simmel höchst ungewöhnliche Ereignisse auftraten. Zwei Jahre nach der Promotion bewarb Simmel sich bei derselben Philosophischen Fakultät der Universität Berlin um die venia legendi für Philosophie. Im Zusammenhang mit diesem Verfahren, das ihn zum selbständig lehrenden Privatdozenten werden lassen sollte, traten noch schwerer wiegende Probleme auf: Wieder hatte er eine Schrift über Kant verfaßt, diesmal ist Thema seiner Abhandlung die Raum- und Zeitlehre Kants. Die Professoren, die zur Beurteilung der Habilitationsschrift vom Dekan bestellt waren, unter ihnen Wilhelm Wundt, lehnten die Arbeit ab. Sie sei zwar wissenschaftlich gut, aber am Thema vorbeigeschrieben worden. Erst nachdem sich die Professoren Dilthey und Zeller machtvoll für Simmel einsetzen, wird die Arbeit schließlich doch als Habilitationsschrift zugelassen. Im Anschluß an die Probevorlesung, zu der Simmel vorgeladen wird, kommt es dann während des Kolloquiums des Kandidaten mit der Fakultät zu einem Eklat, weil Prof. Zeller darauf hindeutet, daß er einen Gehirnlappen für den Sitz der Seele des Menschen halte, worauf Simmel die Situation völlig außer Acht läßt und in forscher Weise diese Ansicht als Unsinn kennzeichnet. Daraufhin läßt die Fakultät ihn zunächst einmal durchfallen. (Schnabel, 1976: 273).

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Die außergewöhnlichen Umstände im Zusammenhang mit seiner Promotion und seiner Habilitation, haben sich vermutlich ins Gedächtnis der Mitglieder der Fakultät in Berlin eingeprägt, obwohl sie in beiden Fällen schließlich zum erfolgreichen Abschluß der Verfahren führten. Zusätzlich zu dem Antisemitismus, von dem in der Literatur allgemein berichtet wird, und der vor allem im Umkreis der Kultusbehörden auch eine Rolle gespielt haben wird, kann man davon ausgehen, daß diese Ereignisse einen reibungslosen Verlauf der Hochschullehrerlaufbahn Simmeis erschwert haben. Jedenfalls wird er im Januar 1885 fur das Gebiet Philosophie habilitiert und damit Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin. Der Arbeits- und Lebensstil, den er nun für sich einfuhrt, wird so beschrieben: "Simmeis Gewohnheit war es, vormittags und abends zu arbeiten, nachmittags dagegen liebte er es, Gäste und Freunde zu sehen. Sein nächster Freund war der Nationalökonom Ignaz Jastrow. Die beiden redeten so aufeinander ein, daß der eine kaum zuhörte, was der andere sagte; dennoch hatten sie immer das Gefühl, sich gut verstanden zu haben. Simmeis Produktion ging ihm leicht von der Hand. Für die Vorlesung machte er sich kaum Notizen und kreierte während des Sprechens. Seine Aufsätze schrieb er ohne Korrektur hintereinander weg, als ob er sie innerlich schon vor sich sähe. Hinter der geistigen Brillianz und der menschlichen Güte verbarg sich aber eine irrationale Innenseite" (Gassen, 1958: 13). Was Gassen mit dieser "irrationalen Innenseite" meint, bleibt unklar. Seine Fakultät, der er als Privatdozent angehört, beantragt im Jahre 1898, ihn zum Extraordinarius zu ernennen, was gleichbedeutend mit der Einweisung in eine Planstelle gewesen wäre. Das Ministerium folgte diesem Antrag jedoch nicht. Die Fakultät wiederholte daher im Februar 1900 nochmal ihren Versuch, Georg Simmel zum Extraordinarius ernennen zu lassen, und zwar diesmal endlich mit Erfolg. "Im Jahre 1908 hatte die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg ihre zweite philosophische Professur neu zu besetzen Auf Empfehlung von Gothein und Max Weber schlug der Dekan Hampe dem Ministerium in Karlsruhe unter dem 17. Februar primo loco Rickert und an zweiter Stelle Simmel vor. Der auf Simmel bezügliche Passus hat folgenden Wortlaut: 'Sollten diese Schwierigkeiten (seil. Rickert zu gewinnen) unüberwindlich sein, so empfiehlt die Fakultät der Großherzoglichen Regierung die Berufung des außerordentlichen Professors an der Berliner Universität Dr. Georg Simmel. Im fünfzigsten Jahr stehend, ist Simmel in der mittleren Generation der gegenwärtigen akademischen Lehrer der Philosophie entschieden die eigenartigste Erscheinung. Man kann ihn keiner der allgemeinen Richtungen zurechnen; er ist von jeher seinen eigenen Weg gegangen, zunächst mit äußerst scharfsinniger, aber wesentlich negativer und einreißender Kritik in seiner zweibändigen 'Einleitung in die Mo-

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ralwissenschaft', dann mit immer tieferer umfassender Bearbeitung der philosophischen Gesellschaftswissenschaft. Mit den methodologischen Fragen hat er sich in den feinsinnigen 'Problemen der Geschichtsphilosophie' (2. Aufl. 1905) auseinandergesetzt, die vielfache Berührung mit den Windelband-Rickertschen Auffassungen zeigen; aber seine Hauptwirksamkeit liegt in den soziologischen Arbeiten, die überall eine ungewöhnliche Beherrschung des den verschiedensten Wissenschaften angehörigen Forschungsmaterials und eine philosophische Durchdringung dieses reichen Stoffes zeigen..."1 (ebd: 24f ). Obwohl Rickert eine Berufung auf diesen Lehrstuhl ablehnte, erhielt Georg Simmel nicht die Chance, nach Heidelberg zu gehen. Der Lehrstuhl blieb für eine Weile vakant, bis ein gewisser Schwarz darauf berufen wurde. Ein Angebot, in den USA zu lehren, das Georg Simmel gehabt haben soll, ließ sich wahrscheinlich wegen des ersten Weltkriegs nicht verwirklichen. Endlich erhielt er im Jahre 1914 einen Ruf an die Universität Straßburg. So sehr er sich darüber gefreut haben mag, nun Ordinarius zu werden, so sehr muß ihm der Abschied von Berlin zur Qual geworden sein, denn er war Teil des Berliner Kultur- und Wissenschaftslebens geworden. "Daß Simmel nun die Universität verläßt, an der er dreißig Jahre tätig war, bedeutet nicht bloß für diese einen Verlust - auch für ihn. Ein so persönliches, so unvertretbares Kolleg, wie Simmel es las, hat eben sein Publikum, wie ein Theater, und man weiß: das Publikum folgt dem Direktor, den es schätzt, nicht ohne weiteres in ein neues Haus." (Ludwig, 1914: 413). Simmel gehört zu denen, die nicht bereit waren, oktroyierte Formen intellektueller Disziplin wie Rituale zu übernehmen. Seine ihm zum Glück gegebene wirtschaftliche Unabhängigkeit hat er voll genutzt, um auch geistig selbständig bleiben zu können. Das ist einer der Schlüssel zu der bewundernswerten Kreativität und Vielfalt, die sein wissenschaftliches Werk bis zu seinem Tode gekennzeichnet hat. "Als er sich unheilbar krank fühlte, fragte er seinen Arzt: Wie lange habe ich noch zu leben? Er müsse es wissen, denn er habe noch sein wichtigstes Buch unter Dach und Fach zu bringen. Der Arzt sagte ihm die Wahrheit, und Simmel zog sich zurück und schrieb noch die 'Lebensanschauung'. Seinem Tod sah er entgegen wie ein antiker Philosoph. 'Ich warte auf das delische Schiff, schrieb er einem Freund. Er starb am 28." (Datum ist falsch, richtig ist der 26.) "September 1918 an Leberkrebs in Straßburg, wohin er vier Jahre zuvor berufen worden war. Vielleicht war der Tod zu diesem Zeitpunkt für ihn eine Gnade, denn viele ehemalige Straßburger Professoren sind wenig später, als das Elsaß wieder französisch wurde, der bittersten Armut anheimgefallen" (Gassen, 1958: 13). Im Anschluß an die schon erwähnte veröffentlichte Doktorarbeit über Kant beginnt die Publikationstätigkeit Simmeis im Jahr 1882 mit einem Aufsatz in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft mit dem Titel "Psychologische und ethnologische Studien

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über Musik" (Simmel, 1882). Es handelt sich dabei um die geretteten Reste der gescheiterten Dissertation. Im Jahre 1884 erscheint in derselben Zeitschrift ein weiterer Aufsatz mit dem Titel "Dantes Psychologie". Drei Jahre danach publiziert er 1887 den Aufsatz "Über die Grundfrage des Pessimismus in methodischer Hinsicht" und kurz danach die Artikel "Michelangelo als Dichter" (1889) und "Moltke als Stilist" (1890). In den nächsten Jahren (1891 und 1892) veröffentlicht er dann die Arbeiten "Humanistische Märchen" und "Etwas vom Spiritismus". Die Aneinanderreihung dieser Titel zeigt, wie ungewöhnlich und vielfältig die Publikationstätigkeit Simmeis zu Beginn seines wissenschaftlichen Wirkens schon gewesen ist. Das erste Buch, das er im Anschluß an die Dissertation der Öffentlichkeit übergibt, erscheint 1890 mit dem Titel "Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen". Der Untertitel signalisiert ausdrücklich den Anspruch, ein Werk zur Soziologie vorzulegen. Wie die Einzelheiten seiner Biographie gezeigt haben, lebte Simmel von 1858 bis 1918. Von seiner Geburt bis zum Jahre 1914 war er in Berlin zu Hause. Nur die letzten vier Jahre seines Lebens, die mit dem ersten Weltkrieg zusammenfielen, verbrachte er als Ordinarius an der Universität Straßburg, wo er am 26. September 1918 an Leberkrebs starb (Helle, 1988: 11). Simmel war Berliner, der Herkunft nach Jude, der Konfession nach Protestant, der akademischen Disziplin nach Philosoph und Soziologe. Er war das jüngste von sieben Geschwistern und wurde, als der wohlhabende Vater früh verschied, Erbe eines ansehnlichen Vermögens. Das erleichterte es ihm, seiner ohnehin starken Neigung zu geistiger Autonomie auch als Gelehrter zu folgen, und der Versuchung des Opportunismus im Universitätsbetrieb stets zu widerstehen. Studium, Promotion und Habilitation absolvierte Simmel also an der Universität Berlin, und damit an einer Hochschule, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Weltgeltung hatte. Zu den vielen Gelehrten aus dem Ausland, die vorübergehend in Berlin studierten, gehörten aus den U.S.A. der Philosoph George Herbert Mead und der Soziologe Robert Ezra Park. Simmel konkurrierte als Universitätslehrer, der in Berlin nicht Ordinarius war, mit den beiden Ordinarien der Philosophie, Zeller und Dilthey, doch für die Studenten war er der anregendere und faszinierendere Redner (Helle, 1986a: 41). Im kleinsten Kreis ausgesprochener Spott machte gleichwohl die Runde: so die Bemerkung Simmeis, an der Berliner Universität seien außer ihm selbst zwei Philosophen tätig, einer Zeller, der gar nicht wisse was Philosophie sei, der andere Dilthey, der es zwar wisse, es jedoch niemandem verrate (Gassen u. Landmann, 1958: 141). Den treuen Gläubigen der Synagoge war Simmel als Getaufter der verlorene Sohn, dem konservativen Preußen war er verdächtig, weil er den historischen Materialismus zwar als

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Tatsachenbeschreibung ablehnte, jedoch als Instrument zur Gewinnung zusätzlicher Einsichten gelten ließ, den Marxisten war er ebenfalls verdächtig, gerade weil er den historischen Materialismus als Tatsachenbeschreibung ablehnte, und weil er überdies schrieb, daß er Karl Marx für einen schwachen Philosophen halte (Helle, 1986b; 210 u. 228). Viele, die sich wie Schopenhauer dem Buddhismus zugewandt hatten, ärgerten sich darüber, daß Simmel zu dem Ergebnis kam, der ursprüngliche Buddhismus sei keine Religion, da ihm eine personale Gottheit fehle (Simmel, 1989: 127. Vgl. Helle, 1988: 131). Aus seiner eigenen evangelischen Kirche trat Simmel aus (Becher, H. J., Gespräch mit Charles Hauter vom 13. August 1979). Viele Intellektuelle unter den Katholiken lasen seine Schriften zustimmend, gerieten aber dann in einen Zwiespalt, als Pius X. 1907 den Modernismus mit unerbittlicher Schärfe verurteilte; denn manche der Gedanken Simmeis standen in einer gewissen Nähe zum Modernismus. Martin Buber (1878-1965), ein Schüler Diltheys und Simmeis und einer der Lehrer von S. N. Eisenstadt, hat sich keinem der vielfaltigen Vorbehalte gegenüber Simmel angeschlossen. Er kannte die verstreuten Aufsätze Simmeis zum Thema Religion, die seit 1898 erschienen waren, und bemühte sich daher, Simmel als Autor fur seine Schriftenreihe "Die Gesellschaft" zu gewinnen, in der ein Band "Die Religion" geplant war. Das soziologische Wirken Simmeis beginnt aber, wie erwähnt, schon 1890 mit dem ersten Buch, das nach seiner Doktorarbeit gedruckt erscheint, der Arbeit "Über sociale Differenzierung". Simmel veröffentlichte in seinem Leben 24 Bücher und mehr als 200 Artikel. Es gibt heute kaum jemanden, der das Lebenswerk Simmeis in seinem ganzen Umfang genau kennt. Die selektive Aufnahme von spezifischen Aspekten seiner Schriften hat immer wieder zu einseitigen Deutungen Simmeis gefuhrt. Die Soziologie Georg Simmeis ist eingebettet in seine Erkenntnistheorie. Er hat den historischen Realismus wie den historischen Materialismus als objektivistische Methoden zurückgewiesen und unter Berufung auf Kant die 'Verstehende Soziologie' begründet. Ihm ist Max Weber bei der Entfaltung der Methode des Verstehens verpflichtet, und auf seine Vorarbeiten stützen sich alle Autoren, die wie Peter L. Berger und Thomas Luckmann die Wirklichkeit als konstruiert bezeichnen. Zu den Grundannahmen des 'Verstehenden Ansatzes' gehört dies: Eine objektive Realität mag immerhin existieren, aber wir können sie nicht erkennen. Den Ausschnitt daraus, den wir fur unsere Wirklichkeit halten, haben wir selbst mitgeschaffen, indem wir ihn aus einer bestimmten Perspektive konstruierten. Diese Position Simmeis, kann in ihrer Bedeutung klarer dargestellt werden, wenn sie vor dem Hintergrund der allgemeinen Kontroverse um wissenschaftliche Objektivität als Ausblendung oder Einbeziehung des erkennenden Menschen gesehen wird. Das wurde zu Beginn dieser Einfuhrung ausfuhrlich erläutert (vgl. 1.1.).

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b) Die vier erkenntnistheoretischen Perspektiven In seiner Soziologie der kulturellen Formungsprozesse arbeitet Georg Simmel mit einer Methode, zu der vier erkenntnistheoretische Perspektiven miteinander verbunden sind: Simmeis Vorgehensweise läßt sich als eine Synthese der Grundlagen des Pragmatismus, des Konstruktivismus, des Interaktionismus und des Evolutionismus beschreiben. Das soll im Folgenden gezeigt werden. aa) Pragmatismus Im Pragmatismus wird Wissen an Handeln zurückgebunden Dies zu leisten ist das Anliegen von William James (1842-1910) und von Charles Sanders Peirce (1839-1914). Simmel entdeckt die geistesgeschichtliche Quelle dieses Denkens bei Sokrates. Die ruhelose Zeit, in der Sokrates lebte, veranlaßte ihn, in der Philosophie nach Handlungshilfen zu suchen (Simmel, 1910: 105). Mit ihrem erkenntnistheoretischen Skeptizismus wandten sich die Sophisten des 5. und 4. Jahrhunderts von Naturphilosophie und Ontologie ab und betonten eine auf die Subjektivität des Menschen ausgerichtete Ethik. Die Forderung nach Bewährung seines Wissens im praktischen Handeln, im Handwerk, in der Pferdezucht wie in der Kunst, also in allem, was im alten Griechisch unter den Begriff der "Technik" fiel, wird analog auf das Handeln in Familie und Polis übertragen: "auch hier müsse das isolierte und subjektive Meinen durch ein objektives und allgemeingültiges Wissen abgelöst werden" (ebd.). Simmeis Pragmatismus beruht auf der Umkehrung der Forderung des Sokrates: Falls dessen Annahme zutrifft, daß richtiges Denken zu richtigem Handeln fuhrt, folgt aus richtigem Handeln, daß das zugehörige Subjekt zuvor richtig gedacht haben muß. Als Wahrheit gilt dann jenes Wissen, dem als Resultat von Zuschreibung solche Würde verliehen wurde: jene Konzepte im Denken eines Subjekts, die dazu gefuhrt haben, daß es richtig gehandelt hat, nennt man - oder "etikettiert" man als - Wahrheit. Worauf es dabei ankommt ist dies, daß ein Wissen als handlungsleitend angenommen wird, selbst wenn - oder gerade weil - seine Inhalte nicht unmittelbar auf ihre objektive Gültigkeit getestet werden können, ein Wissen, das prinzipiell utopisch, erträumt, phantastisch, von blinder Hoffnung - oder Furcht - getragen sein kann, ein Wissen also, dem jeder Skeptiker die Qualität der Wahrheit mit Nachdruck absprechen müßte. Doch - und darauf kommt es Simmel ja an - solches Wissen produziert Handeln, und dessen Qualitäten sind für die Soziologie, die ja die Wissenschaft vom handelnden Menschen ist, ausschlaggebend. Handlungsleitend werden Inhalte des Wissens jedenfalls nicht allein aufgrund dessen, was sie für sich genommen scheinbar objektiv aussagen, sondern aufgrund der psychischen Kraft, mit der wir als die Subjekte sie im Kontext unseres konkret gelebten Lebens ausstatten.

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Freilich ist das ein Wahrheitsbegriff, der jeder Wissenschaftstradition widerspricht und der daher Anstoß erregen mußte. Er wird aber der gelebten Wirklichkeit des Alltags gerecht. Dies ist das pragmatisch handlungstheoretische bb)

Fundament der Soziologie Simmeis.

Konstruktivismus

Eine weitere Komponente seiner Methode ist der Konstruktivismus.

Da der Mensch bleiben-

de und verläßliche Erkenntnis erwerben will, muß er das Wissen abheben können von persönlichen Interessen und kurzfristigen Tagesfragen. Diesem Anliegen entspricht, wie Simmel meint, der Schritt von Sokrates zu Piaton. Letzterer änderte die Ausrichtung der Philosophie weg von ethischen, auf das Handeln gerichteten Intentionen und hin zu der Suche nach ewig gültigen Ideen. Simmel war ein großer Bewunderer Piatons, doch er gestattete sich, ihn völlig neu zu deuten. Während Piaton glaubte, die im Jenseits anschaulich anwesenden ewigen Ideen entdeckt zu haben, sieht Simmel die gewaltige Leistung Piatons in der gedanklichen Konstruktion

der Ideen als unentbehrliche und unendlich wertvolle Denkinstrumente. Wo

Piaton eine gleichsam körperliche transzendente Realität (gleichsam zum Anfassen) sah, erkannte Simmel eine geniale gedankliche Neuschöpfung von Denkwerkzeugen. Simmel hat die Notwendigkeit bestritten, das Vorhandensein platonischer Ideen als eigene Wirklichkeiten zu postulieren, weil der philosophierende Mensch - wie der verliebte - den Inhalten seines Vorstellens gegenständliche Entsprechungen geben will. Nur wenn es gelingt, das Wissen als im Denken wiederkehrende Qualität von außerhalb des Subjekts gegebenen Gegenständen zu deuten, gilt es der betreffenden Person insoweit als wahr. Dies vorausgesetzt, bleibt die Alternative, entweder das Denken auf die physischen Fakten der Empirie zu reduzieren, wie es das traurige Los des Skeptikers vorsieht, oder stets dem Wissen entsprechende Objekte gegenüberzustellen. Der Glaubende meint, solche Entsprechungen seien im Jenseits physisch vorhanden, der Erkenntnistheoretiker, der keine Metaphysik mehr zulassen will, löst das Problem wie Simmel im Konstruktivismus: Primär ist die handlungsleitende Einsicht, ihre Gewißheit erhält sie aus dem Verlauf des Handelns selbst - dies ist die pragmatische Komponente - und sekundär ist der kreative Akt der gedanklichen Konstruktion, aus dem das Objekt entsteht, an welchem das Subjekt sich sein Wissen bestätigt. Ähnlich wie Dilthey zwischen naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem Vorgehen scharf unterscheidet, fuhrt Simmel mit diesem auf Kant aufbauendem Ansatz in die Zweiteilung hinein, bei der das Wissen die Qualität von Wahrheit entweder dadurch erhält, das ein bestätigendes Objekt aufgefunden und zu Testzwecken empirisch ausgewertet wird, oder - wenn solches der Natur der Sache nach nicht zu erwarten ist oder nicht erstrebt werden sollte - wo das bestätigende Objekt gedanklich konstruiert wird. Dabei muß der von

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Simmel gemeinte kreative Konstruktionsprozeß ja nicht die isolierte Aktivität eines Einzelnen sein. Von Simmel fuhrt über William I. Thomas bis zu Peter L. Berger und Thomas Luckmann eine deutliche Spur soziologischer Literatur zum Thema der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Das in der Soziologie weithin anerkannte Konzept der Situationsdefinition verdankt seine Grundlegung der erkenntnistheoretischen Vorarbeit Simmeis (Buba 1980). Wichtig ist dabei fur den immer noch fortdauernden erkenntnistheoretischen Streit in der Soziologie die Frage, ob eine solche Zweiteilung als unvermeidlich anerkannt werden sollte, oder ob wir, wie Simmel wohl sagen würde, weiter mit der epistemologischen Illusion leben wollen, bei ausreichend gründlichem Suchen und hinreichend hochgradiger Mathematisierung der Sozialwissenschaften ließen sich endlich doch alle zum Denken hilfreiche Gegenstände auch auffinden, der Konstruktivismus sei daher als unwissenschaftlich zurückzuweisen. Der Konstruktivismus hat von Kant die Einsicht übernommen, daß Gegenstände gedanklich konstruiert sind. Diese Lehre Kants wendet Simmel auf die Ideenlehre Piatons an, mit dem bedeutsamen Effekt, daß der platonische Dualismus zwischen der erfahrbaren Welt und dem Jenseits aufgehoben wird, weil ja dem großen Piaton eben das als Jenseits erschien, was nun bei Simmel als Ergebnis gedanklicher Konstruktion gedeutet wird. Nach der Methode Simmeis, die man kennen muß, um seine Soziologie verstehen zu können, gilt: 1) Es gibt für die Soziologie als Erfahrungswissenschaft nur eine Ebene der Wirklichkeit , die Welt menschlichen Erlebens, in der gehandelt werden muß. 2) Die so verstandene Wirklichkeit wird dem Denken des Menschen nur mit Hilfe jener Formen zugänglich, die er als heuristische Werkzeuge gedanklich konstruiert. Die Bewußtmachung und Erforschung solcher Konstruktionsleistungen ist Aufgabe der Erkenntnistheorie. 3) Eine von jeder Konstruktion unabhängige objektive Wirklichkeit ist zwar dem menschlichen Erkennen unzugänglich, gleichwohl muß dem Menschen zugemutet werden, ihre Existenz gelten zu lassen. Abgewiesen wird bei Simmel die Position des wissenschaftlichen Skeptizismus: Da es nicht erkennbar ist, kann es nicht existieren. Eine der erstaunlichen Konsequenzen aus dieser Methode ist das Zugeständnis, daß es nicht möglich sei, unseren Mitmenschen - Simmel schreibt: unser "Du" - unverfälscht zu kennen. Da niemand es leicht ertragen kann, mit einer Person zusammenzuleben, die er nicht versteht, konstruiert jeder sich ein Bild von seinem Du, das ihm die an sich unzugängliche Person vertraut erscheinen läßt. So verfährt jeder mit seinem Nächsten, so verfährt auch der religiöse Mensch mit seinem Gott. Dies ist die methodische Konsequenz des Konstruktivis-

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mus, sie ist auch konzipiert in Übereinstimmung mit dem Wahrheitsbegriff des Simmel'schen Pragmatismus: Zentrum der Wirklichkeit ist das Handeln als gelebte Gegenwart. Insofern ist dieser Ansatz empirisch. Als Subjekt der so verstandenen Realität weiß ich, daß etwas wirklich ist, weil ich es so erlebe. Um anderen und mir selbst zu beweisen, daß ich nicht ein Phantast oder ein Psychotiker bin, konstruiere ich mir mein Du als Objekt, und präsentiere es dann als die Ursache meiner Erfahrungen. Auch hier würde Simmel selbstverständlich nicht bestreiten, daß es ein objektiv in bestimmter Weise geartetes Du gibt, nur ist es eben so nicht erkennbar. Aller Streit darüber, wie jemand "wirklich" sei, wird vor dem Hintergrund dieses Konstruktivismus hinfällig weil unsinnig. Noch beunruhigender - und fur manche gewiß geradezu ein Ärgernis - ist die weitere Konsequenz, daß sogar die eigene Identität, das Ich, dem Erkennen unzugänglich sei. Wir können uns selbst nur dadurch erkennen, daß wir uns vorstellen, wie andere uns sehen. Hier wird die schwere Verantwortung sichtbar, die Menschen füreinander bei der Persönlichkeitsentwicklung tragen, zumal wenn sie einander sehr nahe stehen. Wir werden zu dem, als was man uns anspricht. Oder: Sage mir, wessen Meinung über dich dir am wichtigsten ist, und ich sage dir, was aus dir werden wird. Dies sind vertraute Dicta in der verstehenden Sozialisationstheorie. cc) Interaktionismus Nach Pragmatismus und Konstruktivismus ist die dritte der genannten vier Komponenten des Ansatzes von Georg Simmel der Interaktionismus.

Simmel selbst kennt freilich diesen

durch Übersetzung aus dem Englischen zu uns gelangten Begriff nicht, er schreibt Wechselwirkung (Simmel, 1890a: 13. Vgl. dazu: Helle, 1988: 29). Die Welt des Sozialen, die aus Wechselwirkungen hervorgeht, ist das Medium, in dem Wirklichkeitskonstruktion stattfindet. Dem entspricht es, daß die Gesellschaft als Einheit der sich am weitesten erstreckenden Wechselwirkungen sozial konstruierte Realität ist. Von Kant übernimmt Simmel die Frage: Wie ist Natur möglich? Sie weist auf die Konstruktion geistiger Formen als intellektuelle Aktivität: Das Objekt, z.B. Natur, ergibt sich erst im Laufe der denkenden Auseinandersetzung damit. Man könnte von der 'allmählichen Verfertigung der Gegenstände beim Reflektieren darüber' reden. Vor diesem Hintergrund stellt Simmel als Vorläufer des soziologischen Interaktionismus die Frage: Wie ist Gesellschaft möglich? (Simmel, 1908a: 28) und arbeitet die fundamentalen methodologischen Unterschiede zwischen diesen beiden Fragen heraus.

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Im Falle der Natur werden isolierte Daten im Denken des Naturwissenschaftlers zu einem einheitlichen Bild zusammengefugt. Der Gegenstand, auf den sich solches Denken bezieht, bleibt - soweit er überhaupt existiert - davon gänzlich unbeeinflußt. Anders verhält es sich im Falle der Gesellschaft. Hier schließt der Gegenstand unmittelbar jene Subjekte in sich ein, die ihn in ihrem Denken konstruieren; denn Gesellschaft ist z.B. dann eine Arena des Klassenkampfes, wenn die darin zusammenlebenden Personen sie sich so vorstellen, weil sie sich dann entsprechend verhalten und durch ihre Handlungen den Klassenkampf produzieren, den sie sich ursprünglich nicht unbedingt hätten vorstellen müssen. Studiert nun ein Soziologe diese Gesellschaft, so entsteht sein Gegenstand nicht erst als allmähliche Verfertigung anläßlich der Reflexion darüber, sondern er ist ihm als gedankliche Konstruktion der interagierenden Personen vorgegeben. Den Nachvollzug dieses Konstruktionsprozesses im Denken des Sozialwissenschaftlers kann man daher durch Vergleich mit seinem Gegenstand überprüfen. Während das an den Naturwissenschaften orientierte objektivistische Denken dazu neigt, das Studium der Kultur und der Gesellschaft als subjektivistisches Rätselraten einzustufen, wenn es nicht rein quantitativ betrieben wird, ist der Ansatz Simmeis dazu geeignet, dies mit Hilfe der beiden Fragen "wie ist Natur möglich?" und "wie ist Gesellschaft möglich?" zuungunsten der Naturwissenschaften umzukehren: Der Vorgang gedanklicher Konstruktion ist unvermeidbar in allem wissenschaftlichen Bemühen gegeben, es fragt sich nur, ob er eingestanden oder verleugnet wird. Akzeptiert man seine Präsenz, dann bleibt zu entscheiden, wie er kontrolliert werden soll. Dem Naturwissenschaftler gibt sein Gegenstand keine Hinweise dazu, welches Konstruktionsverfahren dem Gegenstand angemessen ist. Das zu entscheiden bleibt daher dem Paradigmenkonsens der 'scientific community' anheimgegeben. Der Soziologe - und allgemein der nach Simmeis Methode arbeitende Sozialwissenschaftler - hat dagegen die Möglichkeit, sich auf die Wirklichkeitskonstruktionen zu berufen, welche die von ihm studierten Subjekte selbst im Alltag (und an Sonntagen) vornehmen. Angesichts dieser methodischen Position fällt die traditionelle Gegenüberstellung von subjektiv und objektiv in sich zusammen: Die gedanklichen Konstruktionen der Person Α werden von der Person Β als objektive Vorgegebenheiten angetroffen. Wenn eine Ehefrau ihren Mann für untreu hält, so ist diese Überzeugung der Frau eine Tatsache, mit der er rechnen muß, selbst wenn er ihr tatsächlich stets treu war. Vom Konstruktivismus ist es nicht weit zum Dekonstruktivismus: Wenn alle Wirklichkeit konstruiert ist, muß sie sich auch dekonstruieren lassen. Ein großer Ausschnitt aus dem Spektrum politischer Auseinandersetzung in der Gegenwart kann verstanden werden als

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wechselseitiges Bemühen von Gegnern, einander ihre Bilder der Wirklichkeit zu dekonstruieren. Simmeis Erkenntnistheorie bietet die Chance, Phänomene der Missionierung und der Konversion als Dekonstruktion und Rekonstruktion von Wirklichkeit zu deuten. dd) Evolutionismus Die vierte Komponente der Methode Simmeis ist sein kulturhistorischer Evolutionismus. Hier nun potenzieren sich die Gefahren der Fehldeutung, weil mit diesem Begriff Namen wie Auguste Comte, Herbert Spencer und viele andere Vertreter einer am biologischen Entwicklungsdenken orientierten Sozialphilosophie mit Recht in Verbindung gebracht werden. Die Fragestellung Simmeis ist nicht die der biologischen Evolution, sondern die der Evolution der Kultur. Merkmal seines evolutionistischen Ansatzes ist die Vorstellung von Kontinuität im Wandel, ist die Undenkbarkeit eines Abbruchs, eines folgenlosen Untergangs alter sozialer Formen in einer revolutionären Aktion. Für Kultur allgemein und speziell für Kunst, Religion und Wissenschaft unterstellt Simmel, daß das "Alte" nur in dem Maße überwunden ist, in dem es sich im "Neuen" aufgehoben findet. So bleibt das rudimentär Gewordene im gewandelten Kontext auch nach Verlust seines vordergründigen Zweckes und seiner Funktion wirksam (Simmel, 1983a: 23). Simmel sieht im Fehlen des Befundes, daß etwas zweckmäßig sei, "jenen dämonischen Reiz des Dogmatischen... Was durch Gründe gestützt ist, kann durch Gründe zu Falle gebracht werden..; was keine Stützen hat und braucht, dem können keine fortgezogen werden" (ebd.). "Die relative Schnelligkeit im Wechsel der geistigen Vorgänge, die Fähigkeit des Geistes, die Formen seines Inhaltes zu konservieren, während dieser letztere selbst wechselt, ebenso wie umgekehrt den gleichen Inhalt unter verschiedenen Formen zu bewahren, begünstigt das Rudimentärwerden seiner Gebilde" (ebd.). Simmeis Beispiele sind "Ritualgesetze, Umgangsformen, Sitten" (ebd.). Hier entsteht nicht eine Soziologie, die naturwissenschaftlich evolutionistische Methoden auf Kultur und Gesellschaft zu übertragen versucht, sondern eine Geisteswissenschaft im Sinne Diltheys, die auf der Grundlage der erkenntnistheoretischen und philosophischen Herausforderungen, die von Darwin ausgegangen sind, dazu befähigen will, Kultursoziologie evolutionistisch zu betreiben. Sie kann politische und ethische Wirkungen haben, wenn sie die Bewußtheit davon schaffen oder wiederherstellen hilft, daß die Kulturgeschichte der ganzen Menschheit eine Einheit ist, daß jeder Schritt auf ein höheres Niveau als Handlungsmöglichkeit unverlierbar erhalten bleibt, daß eben daran der Weg der Weiterentwicklung erkannt werden kann, und daß als Ergebnis weiträumiger kulturhistorischer Forschungen deutlich werden kann, welcher Wandel voran, welcher zurück in Dekadenz oder Atavismus fuhrt.

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In dem Anliegen einer philosophischen Fundierung ethischer Normen taucht in Simmeis beiden Bänden "Einleitung in die Moralwissenschaft" (Simmel, 1983a; Simmel, 1983b) das Metaphysikproblem, das ihn mit Dilthey verbindet, im Zusammenhang mit der evolutionistischen Methode wieder auf. Darwin hatte den Prototyp des statischen Begriffs, den der Art, in einen Werdeprozeß aufgelöst. "Der tiefe Zusammenhang, der zwischen alter Artlehre und dem BegrifFsrealismus, der Schätzung der Begriffe, besteht, läßt auch die letztere in den Widerstreit der ersteren gegen den Evolutionismus eintreten" (Simmel, 1983b. 6). Dieser Herausforderung an die Ethik stellt Simmel sich: Er sucht für die Fundierung ethischer Forderungen ein dynamisches Konzept. Die traditionellen ethischen Systeme postulierten einen höchsten Wert, aus dem sie dann die einzelnen Normen ableiteten. Dieser höchste Wert setzt aber eine Anleihe an diese oder jene Metaphysik voraus, wenn er dogmatisch gesetzt wird. Simmel unternimmt es, den höchsten Wert in der Entwicklung zu suchen. Wer im statisch begrifflichen Denken verhaftet bleibt, sieht in dem Ansatz Simmeis nur die Auflösung aller Festigkeit und wird als Konsequenz einen Relativismus vermuten, der die Wahl der Handlungsnormen zur Geschmacksache abgleiten läßt. Simmel will aber weder einen statisch konzipierten höchsten Wert durch einen anderen statisch konzipierten ersetzen, noch einen bunten Strauß statischer Setzungen entdogmatisieren und zur freien Auswahl anbieten. Er will vielmehr die höchste und letzte Orientierung an die Dynamik selbst anbinden. Daß dies bei vielen seiner Leser am Ende des 19. Jahrhunderts Schwindelgefühle erregt, muß man verstehen. Unter Berufung auf Darwin sieht Simmel den Menschen als Mängelwesen, das zum Ausgleich körperlicher Unzulänglichkeiten gleichsam gezwungen ist, Kultur und Gesellschaft zu entwickeln. Die Übereinstimmung mit den Thesen der Philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen) liegen auf der Hand. Die Sozialevolution stellt sich so als bruchlose Fortsetzung der biologischen Evolution dar: "Darwin hebt selbst z.B. hervor, daß der Mangel des Menschen an körperlicher Kraft und Größe ihm vielfach zum Nutzen ausgeschlagen sei, da ein Wesen, welches für sich allein genug Größe und Kraft besitzt, um im Kampfe ums Dasein gut durchzukommen, wahrscheinlich nicht sozial geworden wäre" (Simmel, 1983a: 109).

c) Simmeis Thesen zur Kulturbedeutung der Askese Ein Merkmal religiösen Handelns, das Simmel als charakteristisch christlich bezeichnet, ist die Askese. Dazu äußert er sich ebenfalls in seiner "Einleitung in die Moralwissenschaft" von 1892/93 (Simmel, 1983 a, 1983b). Er versteht darin unter Askese weniger den negativen

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Aspekt des sich Enthaltens als vielmehr positiv den einer ethischen Leistung: "Wie wir ein kriegerisches Verdienst dann nicht zugestehen, wenn der Feind schwach und kraftlos war, so (im Text fehlt das Wort 'ein') sittliches nicht, wenn es keinen Feind zu überwinden gab" (Simmel 1983a: 215). Als solchen Feind bezeichnet Simmel die Versuchung. In der Geschichte von der Versuchung Jesu wird dem an seine göttliche Sendung glaubenden Jesus nahegelegt, sich diesseitige Macht und irdische Verehrung zu sichern. "Auch die Buddhisten lassen ihrem Heiland einen Versucher nahen, der ihn von seiner mühseligen Bekehrerlaufbahn in die selige Ruhe des Todes locken will, ein Mythus, den die Gläubigen selbst als bloße Symbolisierung eines inneren Vorgangs in seiner Seele deuten, wie sie denn auch hervorheben, daß die Trennung von seinem Weibe und seinem Sohn, die um seiner Mission nötig schien, ein Opfer war, das ihm keineswegs leicht wurde. Von Zarathustra, an dessen Person sich sonst keine Mythen knüpfen, wird doch wenigstens diese überliefert, daß vor Beginn seiner Laufbahn Ahriman sich ihm genähert und ihn versucht habe, statt der reinen Lehre Ahuramazdas lieber irdisches Glück und die Herrschaft des Landes zu gewinnen. Und wenn Tertullian den Ruhm Gottes dadurch vermehrt glaubt, daß er sich bei der Schöpfung der Welt gemüht und angestrengt habe, so entspricht dies dem gleichen Gefühl" (ebd.: 215f). Bei allen Beispielen, die Simmel zur Illustration anfuhrt, geht es übereinstimmend darum, daß die erreichte sittliche Leistung dem betreffenden Asketen keineswegs in den Schoß gefallen ist, sondern daß Schwierigkeiten unterschiedlicher Art zu überwinden waren. Dies ist zunächst noch ein Phänomen, das, wie Simmel schreibt, in den verschiedensten Religionen angetroffen werden kann. Er engt nun aber seine Argumentation in Richtung auf das Christentum ein mit dem Gedanken, "daß sich der Werth der positiven sittlichen That auch auf ihre so häufige Begleiterscheinung der Aufopferung und des Niederkämpfens entgegenstehender Unsittlichkeit übertragen hat, und daß diese schließlich die Vorstellung des wesentlichen sittlichen Wertes umso eher auf sich ziehen konnte, als es gerade die größten und bemerkenswertesten sittlichen Taten waren, mit denen diese Art und Ursache von Werth in hervorragendem Maße verbunden war" (ebd.: 216). Das spezifisch christliche Askesekonzept gewinnt Gestalt durch die Übertragung einer Bewertung von der positiven Tatsache des Überwindens einer Schwierigkeit auf die (ursprünglich negative) Schwierigkeit selbst: Zunächst sind die Erschwernisse als Behinderungen auf dem Weg zum Vollbringen positiver Taten durchaus negativ zu sehen. Da aber ihre Überwindung Voraussetzung für die positive Beurteilung des Erfolges ist, wird so rückwirkend selbst das negative Hindernis positiv umbewertet. Auf der Grundlage dieses

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Vorgangs leistet - nach Georg Simmeis Meinung - das Christentum etwas Einzigartiges, das allen anderen Religionen fehlt: die Einfuhrung der Askese in diesem spezifischen Sinne. "Das Lebensopfer Christi und die Märtyrerzeit der christlichen Kirche müssen ganz besonders dazu beigetragen haben, solchen Handlungen, zu denen persönliche Überwindung, schmerzvoller Verzicht auf die Reizungen des Lebens gehörte, den höchsten Grad der Anerkennung einzutragen... Es war eine ganz neue Idee, die er (Christus) durch seine Lehre und sein Leben in die Welt setzte, daß das Leiden und die Erniedrigung notwendige Durchgangspunkte für die Gewinnung der höchsten Ziele, ja sogar für die Herstellung der Mittel wären, welche uns subjektiv erst zur Gewinnung dieser Ziele dienen sollen. Das Leiden wurde so die letzte auf Erden erklimmbare Staffel der Leiter, welche zum Höchsten führte" (ebd.: 217). Simmel vergewissert sich der Tragfähigkeit seiner These, daß in dem Askesekonzept eine neue und spezifisch christliche Kulturleistung kreiert wird. Er bringt den Vergleich mit der Stoa der griechischen Antike, auch mit dem Buche Hiob des Alten Testaments und kommt zu dem Ergebnis, daß ein hier zwar schon eingeleiteter Prozeß erst in der christlichen Ethik zu seiner abschließenden Form gelangt: "Der psychologische Prozeß geht dann in derselben Richtung weiter, in dem Selbstüberwindung und Schmerz im sittlichen Werte immer höher und schließlich so hoch steigen, daß die positive Handlung, für die die Aufopferung ursprünglich nur Begleiterscheinung war, ganz zurücktritt und die Entsagung und Schmerzzufügung als sittlicher Selbstzweck, als für sich bestehendes Verdienst erscheint; dies ist der Standpunkt der Askese" (ebd.: 218). An seine These von 1892 von der Besonderheit asketischen Tuns im christlichen Wertkontext knüpft Simmel Folgerungen für die Alltagsmoral. Er beobachtet, daß Opferbereitschaft dauerndes Engagement hervorbringt und nennt das Beispiel einer Mutter, die zwar große Entsagungen und Opfer für ihr Kind, zumal in dessen frühester Lebensphase, bringen muß, die sich aber gerade dadurch an das Kind besonders intensiv gebunden fühlt. "Je mehr Opfer wir für eine Sache gebracht haben, ein je größeres Kapital sozusagen wir in sie gesteckt haben, desto größer ist auch unser Interesse an ihr; indem wir unser Persönliches hier hingeben, schmelzen wir uns gewissermaßen in sie ein, negieren die Schranke zwischen uns und ihr" (ebd.: 219). Simmel stellt als Merkmal christlicher Ethik die Leistung heraus, die positive Bewertung des Handlungsresultats gleichsam vorzuziehen auf den von Schwierigkeiten belasteten Handlungsablauf, der auf dem Wege zum Ziel durchschritten werden muß. So kann williges Aufsichnehmen von Entbehrungen, die ursprünglich als unerfreuliche Übel erscheinen müssen, im christlichen Kontext positiv bewertet werden, weil sie zu einem vertieften Engagement

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fuhren, oder, wie Max Weber später schreibt, zu dem Charisma, das solche Entbehrungen dem Asketen verleihen können.

d) Die Umdeutung von beschreibenden zu heuristischen Theorien Wie in dem Abschnitt über den Konstruktivismus erwähnt, hat Simmel eine Umdeutung der Methode Piatons vorgenommen. Er nähert sich dem Werk Piatons mit Bewunderung und mit Kritik. Letzteres, weil das Individuum zur Funktion des Staates gemacht zu werden scheint, Bewunderung, weil Piaton als der Entdecker der Eigenständigkeit des Geistigen gesehen werden kann. Das Reich der ewigen Ideen stellt Piaton als eine transzendente Realität beschreibend dar: Die Seelen, die in unseren Leibern inkarniert sind, hatten vor unserer Geburt Gelegenheit, im Jenseits die ewigen Ideen als physische Wirklichkeiten anzuschauen. Wie wir gesehen haben, weist Simmel daraufhin, daß wir nicht genötigt sind, diesen Mythos gleichsam als Reportage aus dem Jenseits für wahr zu halten. Aber selbst wenn ihm kein Wahrheitschax&VXzx zukommt, ist er doch eine Leistung von einzigartiger Kreativität. Ihre Dignität beruht darauf, daß sie Chancen eröffnet, Einsichten zu erlangen, die sonst unzugänglich bleiben müßten. Da Simmel die Umdeutung von beschreibenden Theorien zu heuristischen

Instrumentarien

zu einem der Grundsätze seiner Methode macht, begegnet der Leser seiner Schriften diesem Verfahren in ganz verschiedenen Kontexten. Wenn Simmel z.B. in der 2. Auflage seines Buches "Die Probleme der Geschichtsphilosophie" von 1905 einen Abschnitt über den Historischen Materialismus einfugt, faßt er seine ausfuhrliche Kritik dieser Theorie so zusammen: Als Darstellung mit dem Anspruch, den tatsächlichen Verlauf der Geschichte historisch wahr abzubilden, ist der Historische Materialismus unhaltbar. Als heuristisches Instrumentarium jedoch, bietet diese Theorie vielfaltige Möglichkeiten, die Einflüsse der Wirtschaft auf andere Bereiche der Kultur und der Gesellschaft zu studieren. Sie wäre demnach zwar nicht wahr, hätte aber einen Wert für die Erarbeitung neuer Erkenntnisse. Simmel mußte von Marxisten abgelehnt werden, weil er dem Historischen Materialismus abspricht, wahr zu sein. Simmel muß aber auch bei Gegnern des Historischen Materialismus mit Kritik rechnen, weil er den heuristischen Wert dieser Theorie zugesteht, anstatt sie - was viel einfacher wäre - insgesamt zurückzuweisen. Der Umdeutung von Tatsachenaussagen in Sichtweisen entspricht eine philosophische Tradition, in der Simmel mit seiner Epistemologie steht. Während Descartes zwischen 'cogitatio' und 'extensio' als zwei Arten von Wirklichkeiten unterschieden hatte, sieht Spinoza in dieser Zweiteilung die Gegenüberstellung zweier Sichtweisen, denen die ganze ungeteilte Wirk-

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lichkeit unterworfen werden kann. Das Konzept der Tatsachenaussagen des Descartes führte zu einem zweigeteilten, dualistischen Weltbild, weil über die Welt des Denkens und die Welt der Ausdehnung in der Wissenschaft wahrheitsgemäß berichtet werden mußte. Dagegen sah Spinoza in dieser Zweiteilung eine Kreation des denkenden Menschen. Demnach gab es für ihn zwei heuristische Prinzipien, die auf die eine Wirklichkeit angewandt werden konnten. Das Konzept von den alternativen Betrachtungsweisen des Spinoza mündet in dessen oft mißverstandenen Monismus oder Holismus: "Die Welt ist ganz Körper und sie ist ganz Idee, Bewußtsein, Erkenntnis. Beide sind wie ein Satz, der in zwei Sprachen geäußert wird. Jede dieser Sprachen ist der anderen unverständlich, und enthält doch den Sinn dieses Satzes ganz vollständig." (Simmel, 1992: 102) Spinoza kann in epistemologischer Hinsicht als Wegbereiter sowohl Kants als auch Simmeis gesehen werden. Er - wie Simmel auch (vgl. dessen Zurückweisung durch Dürkheim) - wurde überall dort abgelehnt, wo sich der Rationalismus des Descartes als einzig legitime Epistemologie durchgesetzt hatte. Der Hinweis Spinozas, Kants und Simmeis auf die Möglichkeit der Subjekte, Wirklichkeit zu konstruieren, galt den Anhängern des Rationalismus als bedrohliche Auflösung aller Festigkeit des Wissens und als Angriff auf die Wahrheit. Das epistemologische Werk Simmeis stellt sich jedoch diesen Befürchtungen Es will heuristische Chancen eröffnen, ohne die Wahrheit preiszugeben. Um die Vorgehensweise Simmels verständlich zu machen, folgt eine Skizze seiner Methode.

e) Simmels Methode im Überblick Parallel zu Immanuel Kants Kritiken hat die Philosophie den Glauben daran verloren, daß es möglich sei, eine konkret gegebene Wirklichkeit unverfälscht als Wissen wiederzugeben. Kant hat den kreativen Eigenbeitrag hervorgehoben, den der denkende Mensch zur Schaffung seines Bildes der Wirklichkeit leistet. Daraus ergab sich erneut die beunruhigende Frage, wie sich der Mensch von der Zuverlässigkeit seines Wissens überzeugen könne. Die traditionelle Methode, nach der es ein Test der Richtigkeit des Gewußten war, die Identität dessen nachzuweisen, was a) als Wissen im Bewußtsein des Menschen abgebildet wurde, mit b) dem, was als in der objektiven Realität vorgegeben nachgewiesen wird, war nur noch begrenzt brauchbar. Der Kritik Kants, nach der der Einzelne in der Auseinandersetzung mit seinem Objekt, dessen gewußte Gestalt erst herausarbeitet, fugt Simmel eine weitere Dimension der Unbestimmtheit hinzu, die Dimension des Sozialen: Nicht nur der isolierte Einzelne ist einzube-

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ziehen, sondern außerdem seine sozialen Beziehungen und Wechselwirkungen. Mit dieser Erweiterung legt Simmel die Grundlage für das, was in der modernen Soziologie als die soziale Konstruktion der Wirklichkeit diskutiert wird. Damit ist der Vorgang der Wissensgewinnung an soziale Prozesse gekoppelt, und Forschungsbereiche wie die Wissenssoziologie oder die Wissenschaftssoziologie erlangen ihre methodische Grundlage. Da die moderne Industriegesellschaft der Kultivierung der Einzigartigkeit des Individuums einen sehr hohen Wert beimißt, nimmt die Neigung zu, immer subjektivere eigene Wirklichkeiten zu konstruieren. Gleichzeitig wächst andererseits die Eigenständigkeit der objektiven Kultur, die - wie Simmel in seinem Vortrag über die Großstädte und das Geistesleben (1903) gezeigt hat - schneller wächst als die Fähigkeiten der Subjekte, sie sich anzueignen. Das fordert das Fremdheitserlebnis, und die Kluft zwischen Subjekt und Objekt wird mehr und mehr zur leidvollen Erfahrung. Simmel sieht die Chance zur Überbrückung dieser Kluft in einem von ihm so genannten "dritten Reich", für das Kunst, Religion und Wissenschaft inhaltliche Beispiele sind. Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens von 1898 bis 1918 benutzt Simmel dazu, die Bedeutung gerade der Religion für die Lösung dieser Aufgabe zu untersuchen. Simmel beschreibt Religion nicht als einen bestimmten abgegrenzten Ausschnitt aus der Wirklichkeit, sondern für ihn geht es vor allem um Religiosität als eine Sichtweise, die auf alle Bereiche der Wirklichkeit angewandt werden kann. Gleichwohl reduziert er seinen Gegenstand nicht auf subjektive Empfindungen und Erlebnisse, sondern Religion ist als objektiver Bereich eine Brücke zwischen dem Subjekt und dem empirischen Objekt. Insofern die Kluft zwischen Individuum und Objektwelt überbrückt wird, gibt der religiöse Mensch verschiedenen Inhalten eine Erlebnisgestalt, die Simmel als religiöse Form bezeichnet: Das hingebungsvolle Kind erlebt so seine Eltern, der begeisterte Patriot so sein Vaterland, der emphatische Weltbürger so die Menschheit der Erde. Diese und andere Inhalte geraten in den Deutungsbereich der religiösen Weltsicht und werden dabei in charakteristischer Weise geformt. Stets handelt es sich um eine soziale Beziehung, die eine religiöse Qualität hat, und die sich deutlich von Beziehungen unterscheidet, die nur auf Egoismus, Überredung oder auch auf der Erfüllung moralischer Pflichten allein beruhen. Die Dichotomie von Form und Inhalt ist ein wichtiges Instrument in Simmeis Methode. Dazu ein Beispiel: Die Vorstellung von Gott als Inhalt kann die Form frommer Meditation annehmen, oder die Form intellektueller Reflexion. Nur im ersten Fall handelt es sich für Simmel um ein religiöses Phänomen. Es entsteht im Handeln des Menschen auf der Grundlage von Glauben, und Simmel definiert Glauben als die Fähigkeit der Person, den Inhalten objektiver Religion jene Form zu geben, die aus subjektiver Religiosität abgeleitet ist.

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Ein zentraler Aspekt der Methode Simmeis ist seine Wahrheitslehre. Das Wissen des Menschen ergibt sich aufgrund praktischer Notwendigkeiten. Die für den Pragmatismus charakteristische Koppelung des Wissens an die Notwendigkeiten des Lebens bezieht sich jedoch bei Simmel nur auf den Prozeß, in dem der Mensch sich Wissen aneignet. Die Rezeption also ist von der Lebenssituation beeinflußt; die objektive Wahrheit, also die Summe all dessen, was potentiell gewußt werden könnte, bleibt von solchen Notwendigkeiten unberührt Angewandt auf Religion bedeutet das, daß die ewigen Wahrheiten religiöser Verkündigung nicht der Kritik unterworfen werden können, die uns von Feuerbach, Marx und Freud vertraut ist. Was jedoch von dem Wahren im individuellen Leben aufgenommen, was emotional hoch bewertet, was flir die Lebensgestaltung als Leitidee übernommen, was zur Weltsicht des Einzelnen ausgestaltet wird, all das ist von der Lebenssituation der Person beeinflußt. Die Wahrheitslehre Simmeis hat die ungewöhnliche Möglichkeit eröffnet, die Vorstellung von einer objektiven und zugleich ewig unwandelbaren Wahrheit zu verbinden mit der Lehre von einer evolutiven, prozessualen Entwicklung des Wissens. Das erreicht Simmel dadurch, daß er die Gesamtheit der objektiven Wahrheit für grundsätzlich unzugänglich hält. Zwar postuliert er die Existenz des Absoluten, er unterstellt aber zugleich dessen Unzugänglichkeit. Der Übergang von objektiv Wahrem in subjektiv Gewußtes ist, wie gezeigt wurde, von den jeweiligen Lebensbedingungen beeinflußt, und da die sich wandeln und entwickeln, wandelt und entwickelt sich auch das jeweils Gewußte. Diese Methode hält einerseits an der Objektivität und an der unbeeinflußbaren Vorgegebenheit der Wahrheit fest. Sie hält die andererseits aber nur für zugänglich über geistige Kreationen des Menschen als Weltanschauungen, die mit Bezug auf die objektive Wahrheit als Heuristik gelten können. Die Radikalität, mit der Simmel zuweilen Weltanschauung als Heuristik behandelt, soll hier nicht vertreten oder empfohlen werden. Simmel war, wie wir sahen, ein Wegbereiter jener Philosophie, die man in den U.S.A. Pragmatismus (pragmatism) nennt. Dabei wird Bezug genommen auf das Bibelwort "an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen". Das konkrete Handeln im Alltag des Lebens und das Leben insgesamt werden zum Kriterium für die Richtigkeit des Denkens erhoben. Während Descartes formuliert hatte "cogito ergo sum", ich denke, also bin ich, würde Simmel vielleicht sagen: weil ich lebe, kann ich auch denken.

f) Der Fremde Das Buch "Soziologie", das Simmel 1908 veröffentlicht hat, enthält einen berühmt gewordenen "Exkurs über den Fremden". Der Exkurs ist vielleicht jener Text von Simmel, der die umfangreichste Sekundärliteratur ausgelöst hat. Heute hat er große Aktualität wegen der

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Anwendungsmöglichkeiten auf Probleme der Minderheiten, die dieser Text bietet. Soziale Minderheiten sind Personengruppen, die nicht nur, wie das Wort von sich aus nahelegt, in geringerer Zahl anwesend sind als die Mitglieder der Bevölkerungs/weArAei/, sondern die außerdem in irgendeiner Form eine Sonderstellung einnehmen. Die Folge ihrer Sonderstellung ist trotz der Verschiedenheiten im konkreten Fall ganz allgemein die, daß von einem Angehörigen der Minderheit, den man noch gar nicht oder nur flüchtig kennt, etwas vom Normalen Abweichendes erwartet wird, und zwar etwas, das aus der Sicht dessen, der solche Erwartungen hegt, die Sonderstellung, die dem Mitglied der Minderheit im voraus zugeschrieben wurde, im nachhinein rechtfertigt. Diese erste Annäherung an das soziale Phänomen der Minderheit deutet schon daraufhin, daß dabei quantitative und qualitative Momente eng miteinander verbunden sind. Einzelne oder kleine Personengruppen, die als Reisende vorübergehend in einer ihnen fremden Kultur auftreten, sind in sehr vielen Gesellschaften durch ein strenges Gastrecht geschützt. Großzügigkeit ihnen gegenüber kann Ausdruck der Stärke der Gastgeber sein, da die Isoliertheit und geringe Zahl der Besucher nicht ernstlich als Bedrohung angesehen wird. Qualitativ und auch quantitativ anders liegt der Fall dann, wenn eine Minderheit nicht nur durchreist, um nach wenigen Tagen weiterzuziehen, sondern bis auf unbestimmte Zeit im Verband der Mehrheit bleibt, und sich dabei auf einen Bevölkerungsanteil von mehreren Prozent vermehrt. Sie ist nun natürlich nicht mehr Gast, sie ist Minderheit, aber sie wird eine gute Chance haben, gern gesehen oder doch mindestens in Frieden geduldet zu werden. Steigt ihr Anteil an der Bevölkerung aber immer weiter an, so wird man sie (irgendwann bei einem Wert zwischen 20% und 30% aller Mitglieder der Gesellschaft) als Bedrohung erleben und dementsprechend abweisend oder gar feindlich behandeln. Selbstverständlich kann es auch ganz andere Gründe für eine Feindschaft zwischen Mehrheit und Minderheit geben. Georg Simmel behandelt die Stellung einer Minderheit in der Gesellschaft unter dem Begriff der Fremdheit. In seinem Buch "Soziologie" (Simmel, 1908a), ist der genannte "Exkurs über den Fremden" auf den Seiten 685 bis 691 enthalten. Darin bestimmt er "das Fremdsein" als "eine besondere Wechselwirkungsform" (ebd.: 685f). Immer und überall, wo Menschen einander begegnen, vermutet Simmel, daß gleichzeitig Elemente der Nähe und der Ferne anwesend sind. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Annahme ist die Wechselwirkung zwischen Einheimischem und Fremdem ein besonders interessanter Sonderfall: "Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist" (ebd.: 685). Für Simmel ist der Fremde der Mensch aus der Ferne, der nah ist, weil er gekommen ist, und der bleibt, obschon er durchaus auch wieder gehen könnte.

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Der Hintergrund der Überlegungen zum Phänomen des Fremdseins ist die Vorstellung von zwei Bevölkerungen, die ursprünglich je eigene Lebensräume bewohnen. Der einzelne Zugewanderte wird nun insoweit als der Fremde erlebt, als man in ihm den Vertreter der anderen Gruppe sieht. Hinter dieser Eigenschaft, Repräsentant einer anderen Bevölkerung zu sein, tritt seine Individualität zunächst zurück. Die Konfrontation mit der ganzen Gruppe, der er angehört, würde vermutlich als bedrohlich empfunden. Doch der Kontakt mit nur dem einzelnen Vertreter ist interessant, vielleicht lehrreich und darum nützlich, in jedem Fall aber ist er außeralltäglich. So wohnt fur Simmel der Kontaktaufnahme zwischen zwei zunächst getrennten Gruppen durch wechselseitig entsandte Fremde eine eigenartige Dynamik inne, die geradezu mit einer gesetzmäßigen Zielstrebigkeit den Wandel beider Gruppen einleitet. (Diese Idee hat der Amerikaner W. I. Thomas übernommen). Simmel schreibt über die "Annäherung bisher getrennter Kreise" (ebd.: 710) wie folgt: "Haben wir zwei soziale Gruppen, Μ und N, die sich scharf voneinander unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigenschaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden Elementen besteht: so bringt die quantitative Erweiterung eine steigende Differenzierung hervor; die ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen nach äußerlichen und innerlichen Anlagen und deren Betätigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den von immer mehreren umkämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel zu gewinnen; die Konkurrenz bildet im numerischen Maß der an ihr Beteiligten die Spezialität des Individuums aus. Wie verschieden nun auch der Ausgangspunkt dieses Prozesses in Μ und Ν gewesen sei, so muß er diese doch allmählich einander verähnlichen. Es steht jedoch nur eine relativ begrenzte und sehr langsam vermehrbare Anzahl wesentlicher menschlicher Formationen zur Verfugung. Je mehr von diesen sich in einer Gruppe vorfinden, d.h. je größer die Unähnlichkeit der Bestandteile von Μ unter sich und derer von Ν unter sich wird, desto wahrscheinlicher wird sich eine immer wachsende Anzahl von Bildungen im einen ergeben, die solchen im anderen ähnlich sind; die nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin fur jeden Komplex für sich gültigen Norm muß notwendig eine - zunächst qualitative oder ideelle Annäherung der Glieder des einen an die des andern erzeugen" (ebd.: 710). In diesem Zitat wird in knapp gefaßter Form eine Evolutionstheorie vorgetragen. Die Elemente der Theorie sind die Folgenden: 1) Zwei Bevölkerungen unterscheiden sich in wichtigen Merkmalen, d.h. alle Mitglieder der beiden Gruppen sind untereinander in einer bestimmten Hinsicht ähnlich und im Vergleich mit den Angehörigen der anderen Gruppe von denen verschieden. Die Pflicht zur Solidarität innerhalb jeder der beiden Gruppen bedeutet zunächst, daß die Mitglieder dazu angehalten

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werden, persönliche Besonderheiten zu unterdrücken und lieber das herauszustellen, was sie als typische oder gar vorbildliche Repräsentanten gerade dieser speziellen Gruppe ausweist. Dem entspricht die Aufforderung zu Uniformität in Kleidung und Verhalten. 2) Die Zunahme der Bevölkerungsdichte verstärkt die Konkurrenz ums Überleben. Unter dem Einfluß des scharfen Wettbewerbs bilden sich individuelle Merkmale der Einzelnen stärker und stärker heraus, und zwar in beiden, ursprünglich verschiedenen Gruppen in ähnlicher Weise, weil nach Simmeis Ansicht, die Zahl der möglichen "menschlichen Formationen" begrenzt ist. Der verstärkte Konkurrenzkampf zwingt also beide Gruppen, in ihren Bevölkerungen auf die herkömmliche Uniformität immer mehr zu verzichten, damit die verschiedenen "menschlichen Formationen" als individuelle Abweichungen vom Gruppenstandard zur Geltung kommen können. 3) Dieser Prozeß der Aufgabe von Uniformität zugunsten zunehmender Individualisierung erfaßt beide Gruppen des Denkmodells in derselben Weise und bewirkt so die Abnahme des Unterschieds zwischen beiden Gruppen. Fast ganz unabhängig also von der Art der Verschiedenheit zu Beginn, stellt sich endlich eine weitgehende Angleichung beider Bevölkerungen ein. Bei diesem Wandlungsprozeß spielt der Fremde eine entscheidende Rolle. Er kommt zwar seiner Herkunft nach aus der Ferne, doch er ist der nah gewordene, der anschaulich und handgreiflich demonstrieren kann, daß es auch andere Formen des Lebens gibt, und zwar nicht nur als ferne utopische Denkmöglichkeit, sondern im gegenwärtigen Fremden konkret personifiziert. Der Fremde signalisiert daher dem Einheimischen das, was man mit dem leider abgegriffenen Wort als "alternative Lebensform" bezeichnen könnte. Dem Gewinn an neuen Lebensmöglichkeiten, die der Fremde durch seine Anwesenheit allein schon nahelegt, entspricht freilich ein Verlust an Uniformität, an Konsens, an Solidarität und an innerer Geschlossenheit der Gruppen. Mit einem Vergleich aus dem Textilwesen könnte man sagen, die Gruppen fransen an ihren Rändern aus. Da die Besonderheiten der Gruppen abgeschliffen werden, gleichen sie sich einander immer mehr an, bis es flir den Einzelnen fast gleichgültig ist, ob er dieser oder jener Gruppen angehört. Die Bevölkerung individualisiert sich, und der Zustand, ein Fremder zu sein, wird allgemein.

g) Das Geheimnis Wir können auf ähnliche Weise die Anwendung der Methode Simmeis an seinen Aussagen zum Thema Geheimnis illustrieren, ebenfalls in seinem Buch "Soziologie". Kapitel V trägt darin die Überschrift "Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft" (Simmel, 1908a:

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337-402). Das Geheimnis ist fur Simmel nicht ein Objekt. Es ist vielmehr eine Qualität, es ist die Eigenschaft oder die Form einer Beziehung. Geheimnisse als solche gibt es nicht. Was es lediglich gibt, sind Wechselwirkungen oder Beziehungen zwischen Personen, in denen diese absichtlich einander Wissen vorenthalten. Was es ist, das sie einander nicht erzählen wollen, interessiert Simmel nicht: ihm geht es nicht um die Inhalte, sondern eben um die Form des Geheimnisses als einem Handeln, des er für eine wichtige Voraussetzung der Kultiviertheit hält Für Simmel ist es als Verhalten erwachsener Menschen kindisch und unreif, vorbehaltlos jedem alles zu sagen, was man getan hat oder gerade denkt. Nur wenn es im Leben Geheimnisse gibt, besteht die Chance zur Konstruktion vielfältiger Wirklichkeiten. Wenn jedoch der Anspruch erhoben oder gar aggressiv durchgesetzt wird, nur jene Wirklichkeit sei real und legitim, die stets offen ausgesprochen wird, kann es keine Deutungsalternativen geben und das gelebte Leben wird eindimensional und oberflächlich (ebd.: 358). Simmeis positive Bewertung des Geheimnisses bringt ihn in Gegensatz zu der Lehre des Immanuel Kant, insbesondere zu der Position, die der in seiner Abhandlung "Zum ewigen Frieden" (1795) eingenommen hat. Kant meinte, wenn alle Regierungsgeschäfte vor den Augen und Ohren der Öffentlichkeit geplant und durchgeführt werden müßten, sei es ausgeschlossen, einen Krieg vorzubereiten. Es kann kaum bezweifelt werden, daß diese Lehre Kants bis heute als Rechtfertigung der Pressefreiheit große Bedeutung hat. Es ist charakteristisch für Simmeis Art zu argumentieren, daß er wie in anderen Zusammenhängen auch, hier Ambivalenzen erkennt und neben den möglichen Vorteilen der Bekämpfung von Geheimnissen auch die schweren Nachteile sieht, die damit einhergehen können. So weist Simmel darauf hin, daß eine besondere private Nähe nur hergestellt und aufrecht erhalten werden kann, wenn der Person, die Partnerin oder Partner dabei sein soll, Informationen besonderen Inhalts mitgeteilt werden, die anderen - ferner stehenden - Personen vorenthalten werden. So kann die "fruchtbare Tiefe der Beziehungen" (ebd.: 357) eine "Zartheit und Selbstbeherrschung" (ebd.) erfordern, "die das Recht auf Frage durch das Recht auf Geheimnis begrenzen läßt" (ebd.). Da Simmel die Eigenschaften und Wirkungen sozialer Beziehungen untersucht, wird für ihn die Frage entscheidend, ob über die Respektierung einer Geheimhaltung Konsens erreicht werden kann, oder ob die "Absicht des Verbergens" konfrontiert wird mit der "Absicht der Entschleierung" (ebd.). Im Falle des Konsens wird im Alltagssprachgebrauch das Wort "Geheimnis" gar nicht auftauchen; man redet dann von der Achtung der Privatsphäre. Dagegen braucht die Enthüllungsabsicht zu ihrer eigenen Rechtfertigung die Unterstellung der ethischen Bedenklichkeit oder gar Verwerflichkeit der aufzudeckenden Geheimhaltung.

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Was Simmel an dem Thema Geheimnis interessiert ist das soziale Handeln der Geheimhaltung. Er untersucht die folgenden sechs Aspekte: 1) Es geht zunächst um ein Verhalten der "Diskretion" (ebd.: 348) als einer "der Gesamtpersönlichkeit gegenüber geübte(n) Reserve" (ebd.: 349). Ein kultivierter Mensch fragt eben in einer bestimmten Situation nach bestimmten Dingen nicht. "Das Geheimnis in diesem Sinne, das durch positive und negative Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten, ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit" (ebd.: 357f ). 2) Wenn alle im Prinzip Zugang zu jeder in der Gesellschaft verfügbaren Information haben, entspricht das einem Zustand der Undifferenziertheit, also etwa dem, was Dürkheim die mechanische Solidarität als Gemeinschaftserfahrung auf einer primitiven Stufe vor Augen hat, auf der es kaum Arbeitsteilung gibt. "In einem kleinen und enggeschlossenen Kreise wird Ausbildung und Bewahrung von Geheimnissen schon technisch erschwert sein, weil ein jeder den Verhältnissen eines jeden zu nahe steht und weil die Häufigkeit und Intimität der Berührungen zu viel Verfuhrungen zur Enthüllung mit sich bringen" (ebd.: 362). Simmel hat eine Evolution der Gesellschaft im Blick, bei der ein sicheres Umgehen mit Information, mit ihrer Vorenthaltung oder Verfugbarmachung, als "Errungenschaft" (s.o.) Merkmal eines reifen Entwicklungsstandes ist, und zwar im Vergleich mit "dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist" (ebd.: 358). 3) Simmel verteidigt das Recht auf Geheimhaltung im kultivierten Leben, "weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen können. Das Geheimnis bietet sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren, und diese wird von jener auf das Stärkste beeinflußt" (ebd.). Der Hinweis auf die "zweite Welt" fuhrt das Denken in mehreren Sinn-Universa vor, und Simmel bewegt sich hier in Nachbarschaft zu William James und als Vorläufer von Alfred Schütz und hilft, das Konzept der "multiple realities" vorzubereiten. 4) Bestimmte Inhalte des Wissens, die in einer frühen Phase, als solches Denken noch neu war, den Schutz der Geheimhaltung brauchten, können später, nachdem sie allgemein anerkannt sind, in das volle Licht der Öffentlichkeit eintreten (ebd.). Der Inhalt Α kann also bald in die Form des Geheimnisses eintreten, bald wieder nicht, und diese Fragestellung eröffnet interessante Möglichkeiten einer vergleichenden kulturhistorischen Forschung auf der Makroebene: "Die englischen Parlamentsverhandlungen waren lange geheim, und noch unter Georg III. wurden Mitteilungen über sie durch die Presse strafrechtlich verfolgt" (ebd.: 360). Georg III. hat Großbritannien von 1760 bis 1811 regiert und starb 1820. Ein schwacher

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Nachhall dieser Tradition ist vielleicht das lange Zögern, Fernsehkameras bei den Parlamentssitzungen des britischen Unterhauses zuzulassen. 5) Das Denken in Ambivalenzen, das fur Simmel so charakteristisch ist, verhindert jede Illusion über menschliche Neigungen. So weiß er eben auch, daß mit der Bereitschaft, jemandem ein Geheimnis anzuvertrauen, das Risiko einhergeht, das Vertrauen könnte mißbraucht und das Geheimnis könnte verraten werden. "Auch das Geheimnis ist getragen von dem Bewußtsein, es verraten zu können, und damit die Macht zu Schicksalswendungen und Überraschungen, zu Freuden und Zerstörungen, wenn auch vielleicht nur zur Selbstzerstörung, in der Hand zu haben" (ebd.: 361). Allgemein verleiht ja der Zugang zu Wissen auch Macht. Das gilt besonders dann, wenn es sich um das Wissen über etwas Böses handelt, wenn also der Geheimnisträger damit drohen kann, Informationen über die Immoralität des Partners preiszugeben. Der Weg bis zur Möglichkeit der Erpressung ist dann nicht weit. Selbst wenn es zu einer förmlichen Erpressung nicht kommt, kann ein Verhältnis der Abhängigkeit entstehen, aus dem sich der ausgelieferte Teil nicht befreien kann. 6) Schließlich hat der Umgang mit Information eine erhebliche Bedeutung fur den Prozeß fortschreitender Individualisierung. In entwickelten Gesellschaften wird dem Individuum abverlangt, daß es in mehreren sozialen Kreisen Mitgliedschaften erwirbt und sicher agieren kann Jedem dieser Kreise entspricht ein spezifischer Wissensvorrat, an dem die Mitglieder teilhaben. Um die mehrfachen Mitgliedschaften nicht in chaotischer Diffusion untergehen zu lassen, muß also das Individuum präzise differenzieren können, welche Information zu welchem sozialen Kreis gehört, und welche jeweils zurückgehalten werden sollte. Wer den komplizierten Umgang mit multiplen Sätzen von Information nicht beherrscht, kann nur auf einem niedrigen Niveau der sozialen Differenzierung mit Aussicht aus Erfolg agieren. Das Fehlen des Geheimnisses bedeutet, daß zur Konstruktion vielfältiger Wirklichkeiten kein Anhaltspunkt bleibt, daß das Individuum sich eingesperrt fühlt in die durchsichtige Oberflächenwirklichkeit, die es dann mehr und mehr als bedrohlich erlebt. Wer etwas geheim hält, kann dafür Motive haben, die moralisch akzeptabel sind oder nicht. Dazu freilich kommt es dann doch darauf an, was der Inhalt des Geheimnisses ist. Aber als soziale Form ist das Geheimnis die Voraussetzung dafür, daß die Seele Raum zum Atmen hat, um aus ihrem emotionalen Inneren heraus Sichtweisen zu kreieren, die sie zur Konstruktion ihrer eigenen Wirklichkeit braucht.

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h) Das individuelle Gesetz Ähnlich wie mit seinen Überlegungen zum Geheimnis begab Simmel sich auch mit seinen Grundgedanken zur Ethik in Gegensatz zu Kant. Der kategorische Imperativ Kants lautet: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." Schon Hegel hat den Formalismus dieses Imperativs kritisiert. Aber Simmel wendet sich wegen der Mißachtung der Individualität des Menschen dagegen: Es ist zwar plausibel, wenn Kant dem Einzelnen keine Sonderrechte gegenüber der Allgemeinheit zugestehen will, aber was Kant nach Simmeis Meinung übersieht, ist die Möglichkeit, daß ein Individuum an sich selbst strengere Maßstäbe anlegen möchte als an die große Zahl seiner Zeitgenossen. Die theoretische Grundlegung zu diesen Überlegungen, also zur Begründung einer individualistischen Ethik, schuf Simmel in seinem Aufsatz "Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik", der zuerst 1913 in der Zeitschrift Logos veröffentlicht wurde, und den er zur Aufnahme in das letzte Buch vor seinem Tode, "Lebensanschauung" gründlich überarbeitete, um dort eine ganz andere Fassung (S. 154-245) abdrucken zu lassen. Simmel verbindet in "Das individuelle Gesetz" zwei Begriffspaare miteinander: das eine Paar heißt Individuelles und Allgemeines, das andere Paar heißt Wirkliches und Gefordertes. Für Gefordertes schreibt er auch Ideales. Die ganze Welt - als Totalität von allem was ist - existiert nur einmal. Sie ist insofern ebenso individuell wie eines ihrer Teile. Oder, gewandt auf die Soziologie, von der Simmel in diesem Text nicht ausdrücklich handelt, die Gesellschaft teilt mit dem Individuum das Merkmal der Einzigartigkeit. Daraus folgt: alles Wirkliche - gleich ob soziales Gebilde oder Person ist individuell, unvergleichlich, einzigartig. Kant folgert nun - und Simmel hält das für falsch -, daß umgekehrt das nicht-Wirkliche oder noch-nicht-Wirkliche nicht ebenfalls individuell sein könne, sondern allgemein sein müsse (Simmel, 1968: 174). Das Wirkliche sei also ein Individuelles, jedoch das Geforderte sei ein Allgemeines. Darum ist der kategorische Imperativ allgemein zu formulieren: als etwas, das gefordert werden soll, kann er - so mein Kant nicht auf individuelle Besonderheiten eingehen. Simmel hält das philosophisch für fehlerhaft. So zu argumentieren sei für das Denken der Juristen oder der Naturwissenschaftler typisch; denn nach diesem Grundsatz denkt der Jurist an Gesetze, die in Paragraphen der Rechtsordnung festliegen, und der Naturwissenschaftler an Gesetze, nach denen in Physik, Chemie, Biologie Regelmäßigkeiten ablaufen. Doch im Fall der Rechts- wie der Naturwissenschaften ist zugleich auch ganz deutlich, daß wir es mit

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sprachlichen Konstruktionen zu tun haben, mit Rechtsparagraphen und mit von Menschen formulierten Naturgesetzen. Simmel weißt darauf hin, daß die Sprache stets das Wirkliche nur skizzenhaft einfangen kann. Er schreibt, "daß der Begriff gleichsam ein Gerippe, ein ideelles Schema ist, an das jene individuellen Teile oder Qualifizierungen anwachsen, eine innere Form, die alle im Umfang des Dinges gelegenen Elemente zusammenhält" (ebd.: 175). Sprachlich kann man das Ding - oder in der Soziologie das Individuum - nur in seinem logischen Existenzminimum fixieren; als Student, als Lehrer, als Ehefrau u s w., indem man die Merkmale festlegt, "die das Ding mindestens zeigen muß, um auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt zu werden" (ebd.). Es handelt sich aber dann tatsächlich gar nicht um ein Wirkliches, als in seiner Einmaligkeit empirisch dem Erkennen, Verstehen und Formulieren vorgegeben. Es liegt gar nicht das unvergleichliche Individuelle vor, dem man dann das Geforderte als allgemeingültig gegenüberstellen müßte. Statt dessen geht es, wie Simmel zeigt, um "eine Form, durch die sehr mannigfaltige Daseinsstücke zirkulieren können" (ebd.). Damit aber angesichts der Mannigfaltigkeit die Individualität nicht zerfällt, damit aus den vielfältigen Möglichkeiten kontinuierliche Individualität realisiert werde, muß die eine Form als ein individuelles Gesetz im Bereich des Individuellen selbst ein Gefordertes zur Geltung bringen (ebd.: 176) Individuum zu sein ist nämlich weniger ein Vorgegebenes und Wirkliches als ein Gefordertes, obschon nicht Allgemeines. Damit entfällt die Gleichsetzung von dem Allgemeinen mit dem Geforderten einerseits und von dem Individuellen mit dem Wirklichen andererseits als fehlerhaft. Und Simmel wendet sich ausdrücklich gegen Kant: "Den entsprechenden Fehler aber: nach der Bedeutung eines von seinem Träger gelösten Tuns zu fragen und von der Antwort darauf die Beziehung des letzteren zu seinem Träger als recht oder unrecht zu beurteilen, begeht der kategorische Imperativ. Er trennt die Handlung: Lüge oder Aufrichtigkeit, Wohltat oder Hartherzigkeit usw. von ihrem Subjekt, behandelt sie als logischen, freischwebenden Inhalt und fragt nun nach ihrer Zulässigkeit; diese bestimmt er nach dem, was sie an und fur sich, nicht nach dem, was sie an dem Subjekt, an dem sie haftet, bedeutet" (ebd.: 182). Einem Gesetz, das den Wirkungen, die es dem Individuum gegenüber hat, gleichgültig zuschaut, und das er dem Verdacht der Unmenschlichkeit aussetzt, stellt Simmel das individuelle Gesetz gegenüber, das sich an der Erlebensform und an der personalen Kontinuität orientiert. An diesem Punkt freilich geht seine Kultursoziologie über in die erkenntnistheoretische Fundierung einer individualistischen Ethik.

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3. Max Weber (1864-1920)

a) Person und Werk Die Mutter Max Webers hieß vor ihrer Heirat Helene Fallenstein. Ihre Eltern, die später die Großeltern Max Webers werden sollten, stammten beide aus Hugenottenfamilien. Helene wurde "eine Frau von hoher Bildung, die sich stark mit religiösen und sozialen Problemen beschäftigte und ab 1904 in der Armenverwaltung" (Käsler, 1978: 40) in Berlin tätig war. Sie schenkte ihrem Mann, Dr.jur. Max Weber sen., in den Jahren zwischen 1864 (der Geburt Max Webers) und 1880 acht Kinder. Max Weber wuchs aber mit nur fünf Geschwistern auf, weil eine Tochter schon im Jahr ihrer Geburt wieder starb und eine weitere Tochter als ganz kleines Mädchen, bevor sie in die Schule kam. So hatte Max Weber eine Mutter vor Augen, die ein entbehrungsreiches Leben fuhren und die Frage nach dem Sinn schweren Leids aufgrund ihrer tiefen Religiosität beantworten konnte. Vielleicht personifiziert die Mutter für Max Weber die Themen Religion, Askese und Theodizee. Der Vater Max Webers war beruflich als Verwaltungsjurist besoldeter Stadtrat in Berlin. Daneben wurde er Politiker als Mitglied der Nationalliberalen Partei und wird als Parlamentarier Abgeordneter sowohl im Parlament von Preußen (1868-1897) als auch im Deutschen Reichstag (1872-1884) (ebd.). Der Vater war also Bürokrat und Politiker, hatte mit Religion nicht viel im Sinn und erschien seinem ältesten Sohn Max zeitweilig als amoralischer Genußmensch (ebd.: 41). Max Weber lebte in der Spannung nicht nur zwischen seinen Eltern, sondern zwischen deren Familien. Zwei Schwestern seiner Mutter hatten Professoren geheiratet. Eine von ihnen war die Frau Hermann Baumgartens, deren Tochter Emmy Max Webers erste große Liebe war. Er trennt sich aber von ihr und heiratet eine Enkelin des ältesten Bruders seines Vaters, Marianne Schnitger (Schreibweise richtig!). Diese Ehe Max Webers, die aus einer intellektuellen Kameradschaft hervorgegangen war, blieb kinderlos und muß sehr entbehrungsreich gewesen sein. Einige frühe Fehldeutungen des Werkes Max Webers in den Jahren nach seinem Tode mögen damit zusammenhängen, daß manche Interpreten kritiklos den Aussagen Marianne Webers gefolgt sind und die innere Distanz zwischen Max und Marianne Weber unterschätzt haben. Der Großvater Max Weber väterlicherseits war ein Textilindustrieller in Westfalen, der für Max Weber als Modell des frühkapitalistischen Unternehmers gewirkt hat. Ein Bruder seines Vaters, "der Onkel, David Carl Weber, übernahm später die Fabrik in Oerlinghausen bei

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Bielefeld und führte moderne Unternehmensführung ein: er gab das Vorbild des modernen kapitalistischen Unternehmers ab" (ebd.: 40). Durch Ablegen seiner akademischen Examina war Max Weber Jurist geworden, wie der Vater. Mit seinen Untersuchungen zur Landarbeiterfrage im Gebiet östlich der Elbe praktizierte er das christlich-soziale Engagement wie der Vetter Otto Baumgarten aus der Familie seiner Mutter, mit dem zusammen er die Schrift 'Evangelisch-soziale Zeitfragen' herausgab (ebd.: 43). Um Verwaltungsjurist wie sein Vater zu werden, bemühte er sich 1890 um eine Stelle in der Stadtbürokratie von Bremen als Syndikus. Da diese Bewerbung scheiterte, entschied er sich für eine akademische Karriere nach dem Vorbild der Schwäger seiner Mutter und habilitierte sich 1891/92 als Rechtsgelehrter in Berlin Zur Biographie Max Webers gibt es weit mehr Literatur als über das Leben Simmeis. Hier daher nur kurz in Stichworten die wichtigsten Stationen aus Webers 'curriculum vitae1: Er wurde am 21. April 1864 in Erfurt geboren und starb am 14. Juni 1920 als eines der zahlreichen Opfer einer Grippewelle in München. Dazwischen liegen: 1889 die Promotion aufgrund einer Dissertation über ein rechtsgeschichtliches Thema zum Dr.jur. in Berlin, 1892 die Habilitation aufgrund einer Habilitationsschrift, wieder über ein rechtsgeschichtliches Thema, ebenfalls in Berlin, 1894 die Übernahme eines Lehrstuhls für Nationalökonomie in Freiburg im Breisgau, 1897 die Übernahme eines Lehrstuhls für Nationalökonomie in Heidelberg, 1898 der Nervenzusammenbruch und die zunehmende Unfähigkeit, die Tätigkeit als Universitätslehrer fortzusetzen, 1903 die endgültige Beurlaubung, Reisen, Interesse für die mittelalterlichen Klöster in Italien, und 1919 die Übernahme des Lehrstuhls von Lujo Brentano an der Universität München.

b) Der Objektivitätsaufsatz

aa) Weber wird Mitherausgeber des "Archivs" Nach dem außergewöhnlich großen beruflichen Erfolg, der in den kurz aufeinander folgenden Berufungen nach Freiburg und Heidelberg zum Ausdruck gekommen war, muß die Arbeitsunfähigkeit - wahrscheinlich als Folge von Überarbeitung - ein schwerer Schlag für Max Weber gewesen sein. Umso mehr wird es ihn gefreut haben, als er 1904 im Alter von 40 Jahren Mitherausgeber der angesehenen Zeitschrift "Archiv für Sozialwissenschaft und So-

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zialpolitik" wurde. Etwas von Webers Enthusiasmus spürt man zwischen den Zeilen seines Artikels "Die Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", mit dem er sich den Lesern als neuer Mitherausgeber vorstellt und zugleich das zukünftige Programm der Zeitschrift entwirft. Der schwerfällige Titel dieses Aufsatzes erklärt sich einfach aus dem Namen der Zeitschrift: Die Zeitschrift wollte unter ihren Lesern sowohl Sozialwissenschaftler als auch Sozialpolitiker ansprechen, und darum war Weber bemüht, seinen Aufsatz dieser Doppelthematik zu widmen. Der lange und komplizierte Titel bedeutet also einfach dies. Wie verhält es sich mit der Objektivität' dessen, was in dieser Zeitschrift veröffentlicht werden soll? Freilich war der Name der Zeitschrift, meist abgekürzt als 'das Archiv', mehr als nur ein erst neuerlich so beschlossenes Faktum, das Weber eben akzeptieren mußte. Die Doppelthematik "Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" stellt ein zentrales und selbständiges Problem in Max Webers wissenschaftlichem Arbeiten dar. Es war für ihn durchaus fraglich, ob sozialwissenschaftlichem und sozialpolitischem Wissen derselbe Typ von Objektivität zugrundeliegen konnte. Ja selbst, ob beide Arten des Wissens in einer Zeitschrift gemeinsam behandelt werden sollten, oder ob es nicht besser wäre, ihnen je eigene Zeitschriften zu widmen, war für Weber problematisch. Auf jeden Fall übernimmt er mit großer Begeisterung die neue Aufgabe als Herausgeber, und es muß mit Zustimmung seiner beiden Mitherausgeber Werner Sombart und Edgar Jaffe geschehen sein, daß Weber diesen methodologischen Grundsatzartikel schrieb. Er erschien in Nummer 1 des 19. Bandes im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik und war damit, soweit wir heute wissen, im März 1904 der Öffentlichkeit zugänglich. Zugleich spricht manches dafür, diese Arbeit als den Beginn der Phase des Weber'schen Werkes anzusehen, die man der Soziologie zurechnen kann. Wie wir gesehen haben, war er ja der wissenschaftlichen Ausbildung nach Jurist und nach den Titeln seiner bis dahin erschienenen Arbeiten Rechtshistoriker, Volkswirt und Sozialpolitiker und allgemein an politischen Fragen interessiert. Erst in diesem Jahr, dem Jahre 1904, veröffentlichte er in rascher Folge die Aufsätze, die seinen Ruhm als Soziologe begründen sollten: zuerst diesen Text, kurz Objektivitätsaufsatz genannt, im März 1904, dann den ersten Teil des zweiteiligen Artikels "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus. I. Das Problem" (im Original: "Geist" in Anfuhrungszeichen) im November 1904 und die Fortsetzung als zweiten Teil "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus" im Juni 1905. Alle drei Texte erschienen jeweils in der ersten Nummer eines Bandes, der Objektivitätsaufsatz in Band 19, der Protestantismusaufsatz, Teil 1, in Band 20 und der Protestantis-

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musaufsatz, Teil 2, in Band 21. Da die neuen Herausgeber ihre Tätigkeit mit Band 19 übernahmen, begann dieser Band mit einem "Geleitwort der Herausgeber (zum Übergang des Archivs für Soziale Gesetzgebung und Statistik auf die neuen Herausgeber Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffe)" (S. 1-7). Der Objektivitätsaufsatz wurde in eine der als Buch veröffentlichten Aufsatzsammlungen Max Webers aufgenommen, die unter dem Namen "Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre" (abgekürzt GAWL) bekannt ist. In der dritten Auflage dieser "Wissenschaftslehre" von 1968 findet man den Text auf den Seiten 146 bis 214. bb) Erster Teil des

Objektivitätsaufsatzes

Weber beginnt damit, daß er dem Archiv zwei Aufgaben zuweist: 1) Es soll dazu beitragen, das Wissen über soziale Tatsachen aus allen Ländern zu vermehren und 2) es soll den Lesern helfen, in praktischen Angelegenheiten richtig zu urteilen (Weber, 1968: 147). Doch gleichsam in Eile fügt er hinzu, daß das Archiv eine wissenschaftliche Zeitschrift sein solle, daß also beide genannten Ziele ausschließlich mit wissenschaftlichen Methoden erreicht werden müssen. Das führt ihn direkt zu der zentralen Frage nach den Regeln, die für das Fällen von Urteilen gelten sollen, oder anders ausgedrückt: Welches sollen die Kriterien für die Gültigkeit von Werturteilen sein (ebd.)? Alle Aussagen sollen wissenschaftlich sein, fordert Max Weber. Daher stellt er sich der Aufgabe zu klären, was das zu bedeuten habe. Wissenschaftlich sind für ihn solche Denkergebnisse, die objektiv sind. Wegen ihrer objektiven Gültigkeit können sie als wahr akzeptiert werden. Gibt es aber diesen Typ der Wahrheit überhaupt in dem Bereich der Wissenschaften, den Weber nun "Wissenschaften vom Kulturleben" nennt, fragt er (ebd.). Seine Unterteilung in Wissenschaften unterschiedlicher Art steht in der Kontinuität von Diltheys Begriffspaar Naturwissenschaften - Geisteswissenschaften. Heinrich Rickert hatte nicht wie Dilthey von Geisteswissenschaften, sondern von Kulturwissenschaften gesprochen, und an ihn scheint Weber sich anzulehnen, wenn er die Formulierung "Wissenschaften vom Kulturleben" gebraucht. Die angesprochenen Leser des Archivs sind Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspolitiker, und Weber schreibt, daß aus der Sicht der Ökonomie an deren Beginn zunächst die Aufgabe stand, "Werturteile über bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen des Staates zu produzieren..." (ebd.: 148). So war die Volkswirtschaftslehre an ihrem Anfang eine Technik zur Erreichung bestimmter praktischer Effekte, vergleichbar der klinischen Medizin.

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Zwar entwickelte sich das Fach über diese Anfangsstadien hinaus, doch "eine prinzipielle Scheidung von Erkenntnis des 'Seienden' und des 'Seinsollenden'" (ebd.) wurde nicht vollzogen. Als Grund für diesen Mangel nennt Weber - ganz ähnlich wie Dilthey - Schwächen der geschichtsphilosophischen Denkweisen. Das Archiv nimmt in den Personen seiner neuen Herausgeber eine eindeutige Stellung ein, indem es, wie Weber schreibt, den Gedanken entschieden zurückweist, eine empirische Wissenschaft könne die Aufgabe haben, Werturteile zu produzieren, und zwar "aus einer spezifisch 'wirtschaftlichen Weltanschauung' heraus" (ebd.: 149). Weber begründet diese programmatische Zurückweisung so: Eine empirische Wissenschaft habe die Aufgabe, das 'Seiende' zu ermitteln. Aus dem, was ist, kann nicht geschlossen werden, was sein soll, also kann es keine empirische Grundlage geben, auf die sich eine Einzelwissenschaft stützen könnte, wenn es um die Ermittlung von Werten geht. Darum darfeine empirische Wissenschaft nicht den Irrweg beschreiten, ein Seinsollendes zu entwerfen und dann davon Rezepte oder praktische Handlungsanweisungen zu deduzieren. Insoweit hat eine Einzelwissenschaft wie die Nationalökonomie, die Weber hier vor Augen hat, und die Soziologie, für die das Gleiche gilt, werturteilsfrei zu sein. Das bedeutet aber nicht, daß etwa Werturteile von der wissenschaftlichen Diskussion ausgenommen wären. Werturteile sind vielmehr wissenschaftlicher Kritik zugänglich und solcher Kritik durchaus zu unterwerfen. Wie vollzieht sich demnach, und was ist der Zweck einer kritischen Diskussion von Idealen und von Werturteilen, fragt Weber weiter. Solche Kritik kann sich beziehen: a) auf das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel und damit auf die Aufdeckung unbeabsichtigter Nebenfolgen und das Abwägen der "Kosten" solcher Nebenfolgen (ebd.: 149f). b) auf die "Kenntnis der Bedeutung des Gewollten selbst" (ebd.: 150), also auf die Frage, wie sinnvoll es überhaupt ist, einen bestimmten Zweck zu verfolgen, seine Verwirklichung anzustreben, und zwar bezogen auf die gegebene historische Situation oder Lage, in der die Verfolgung des fraglichen Zieles zur Debatte steht. In seiner berühmten Rede "Wissenschaft als Beruf' vom 7. November 1917 formuliert Weber das so: "Wir können so, wenn wir unsere Sache verstehen (was hier einmal vorausgesetzt werden muß), den Einzelnen nötigen, oder wenigstens ihm dabei helfen, sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns" (Weber, 1968: 608). Weber geht von der Tatsache eines "Allzusammenhanges alles Geschehens" (Weber, 1951: 150) aus, ganz ähnlich wie Dilthey das getan hat. Der Allzusammenhang läßt es überhaupt erst zu, die Erreichung eines Zweckes gegen die Kosten abzuwägen, die sie in Form der Verletzung anderer Werte verursacht. Die Wissenschaft hat mindestens den Bildungswert,

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aufgrund dessen jedem die Chance geboten wird zu lernen, daß es wertneutrales Handeln nicht geben kann, weil jedes Handeln, gleich in welcher Form, notwendig immer eine Stellungnahme für oder gegen bestimmte Werte bedeutet. Das gilt nach Weber ebenso fur das Nichthandeln durch Handlungsabstinenz. Immer wenn jemand etwas tut oder unterläßt, vollzieht er eine "Parteinahme" (ebd.). Wissenschaft kann das dem Menschen bewußt machen, und sie kann ihm außerdem zeigen, welches die Bedeutung dessen ist, was er will. Bei alledem handelt es sich zwar mindestens zum Teil um Sozialphilosophie, jedoch hält Max Weber es für nötig, daß das Archiv, dessen neuer Mitherausgeber er geworden ist, sich diesen Problemen stellt, ja sie "in den Kreis ihrer wichtigsten Pflichten einbeziehen wird" (ebd.: 151). "Aber die wissenschaftliche Behandlung der Werturteile möchte nun weiter die gewollten Zwecke und die ihnen zugrunde liegenden Ideale nicht nur verstehen und nacherleben lassen, sondern vor allem auch kritisch 'beurteilen' lehren. Diese Kritik freilich kann nur dialektischen Charakter haben..." (ebd.). Mit "dialektisch" meint Max Weber "eine formallogische Beurteilung" und "eine Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren

Widerspruchslosig-

keit des Gewollten" (ebd.). Eine kritische Beurteilung also der Werturteile hält Weber durchaus für möglich und nötig. Wenn aber der einzelne Handelnde sich erst einmal seiner Wertungen und vielleicht auch der inneren Widersprüchlichkeit seiner Werte bewußt geworden ist, dann darf es keinesfalls von den empirischen Wissenschaften übernommen oder erwartet werden, dem einzelnen zu sagen, welche Werte er für richtig halten soll, oder zu welchen Werten er sich öffentlich bekennen sollte. Dazu findet Weber die einprägsame Formulierung: "Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und - unter Umständen - was er will" (ebd.). Ohne ausdrücklich auf Nietzsche Bezug zu nehmen, aber doch in innerer Nähe zu dessen Denkweise, die er genau kannte, erklärt Weber: "... Gerade jene innersten Elemente der 'Persönlichkeit', die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, werden von uns als etwas 'objektiv' Wertvolles empfunden. Wir können sie ja nur vertreten, wenn sie uns als geltend, als aus unseren höchsten Lebenswerten fließend, sich darstellen. " (ebd.: 152). Darin liegt freilich ein Bekenntnis, das zu formulieren Weber sich nicht scheut. Jedenfalls sind für ihn Überlegungen zur Gültigkeit von Werten eine Angelegenheit des Glaubens, der Überzeugung (wie bei Simmel), und auf keinen Fall eine der empirischen Wissenschaft, gleich welcher Disziplin. Konflikte sieht Weber nicht nur als Klassenkonflikte oder als Auseinandersetzungen über Fragen des Besitzes und der Verfügungsmacht über materielle Dinge, sondern für ihn entstehen Konflikte zwischen den Repräsentanten verschiedener Weltanschauungen. Dabei gesteht

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er zu, daß sich zwischen einem "Klasseninteresse" und einer bestimmten Weltanschauung eine "Wahlverwandtschaft" ergeben kann (ebd.: 153). Doch er kommt zurück zu der Aussage, daß die empirischen Wissenschaften unzuständig sind, wenn es darum geht, Werte als gültig zu erklären. Das können nur Religionsgemeinschaften, und zwar vorwiegend solche mit bestimmten Merkmalen, von denen Weber schreibt: "Nur positive Religionen - präziser ausgedrückt: dogmatisch gebundene Sekten - vermögen dem Inhalt von Kulturwerten die Dignität unbedingt gültiger ethischer Gebote zu verleihen" (ebd.: 154). Diese Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Glaube ist eines der unverwechselbaren Merkmale der Wissenschaftslehre Max Webers. Dafür ist er angefeindet worden von Personen, die dem Bereich der Religion keine eigene Zuständigkeit zubilligen, sondern unter Berufung auf Wissenschaft unmittelbar Weltanschauung begründen oder einreißen wollten. Freilich ist diese Position Max Webers selbst eine weltanschauliche Stellungnahme eigener Art. Sie wird am eindrucksvollsten deutlich aus der folgenden Formulierung: "Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß 'Weltanschauungen' niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren" (ebd.). Dieser Satz konzentriert auf engstem Raum eine ganze Reihe fundamentaler Aussagen Webers. Zunächst greift er noch einmal die These auf, daß Erfahrungswissenschaften keine Werte begründen können, daß man also, wie er hier schreibt, den Sinn des Weltgeschehens nicht ermitteln kann, selbst wenn man Geschichte und Gesellschaft mit aller nur erdenklichen Gründlichkeit durchforscht. Dann geht er über zu dem Grandsatz Kants und Simmeis, daß der Forscher selbst sich seine Wirklichkeit konstruieren muß: Weber schreibt vom Sinn des Weltgeschehens, daß wir ihn "selbst zu schaffen imstande sein müssen" (ebd.). Der dritte wichtige Gedanke ist der, daß sich Ideale stets nur "im Kampf mit anderen Idealen" (ebd.) auswirken können. Daran schließt endlich ein vierter Gedanke an, nach dem anderen ihre Ideale "ebenso heilig sind, wie uns die unseren" (ebd.). Mit imponierendem Temperament fährt Weber fort, sein Wissenschaftsideal forsch zu vertreten, ohne Rücksicht darauf, wen er gerade vor den Kopf stoßen könnte. Er hält nichts von oberflächlichen Kompromissen und von einem "optimistische(n) Synkretismus" (ebd.), der aus verschiedenen und nach Webers Vorstellungen miteinander unvereinbaren Weltanschauungen hier dieses, dort jenes Teilstück herausnimmt und zu einem neuen Mischgebilde zu-

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sammenstückelt. Solche Synkretisten präsentieren sich gern im Gewände des friedenstiftenden Vermittlers, doch Weber erkennt an ihnen die Seite des Opportunisten. Er schreibt gegen diese Kompromißler, daß die Suche nach Wahrheit mit dem Einschwenken auf eine mittlere Linie nichts zu schaffen hat. "Es kann selbstverständlich subjektiv im einzelnen Falle genau ebenso pflichtgemäß für den praktischen Politiker sein, zwischen vorhandenen Gegensätzen der Meinungen zu vermitteln, als für eine von ihnen Partei zu ergreifen. Aber mit wissenschaftlicher Objektivität' hat das nicht das Allermindeste zu tun. Die 'mittlere Linie' ist um kein Haarbreit mehr wissenschaftliche Wahrheit, als die extremsten Parteiideale von rechts oder links" (ebd.). Die Folgerung für die Redaktionspolitik der neuen drei Herausgeber, in deren Namen Weber hier schreibt, ist eindeutig: "Das Archiv wird die schwere Selbsttäuschung, man könne durch Synthese von mehreren oder auf der Diagonale zwischen mehreren Parteiansichten praktische Normen von wissenschaftlicher Gültigkeit gewinnen, unbedingt bekämpfen, denn sie ist, weil sie ihre eigenen Wertmaßstäbe relativistisch zu verhüllen liebt, weit gefahrlicher für die Unbefangenheit der Forschung als der alte naive Glaube der Parteien an die wissenschaftliche 'Beweisbarkeit' ihrer Dogmen" (ebd.: 155). Zwei Pflichten weist Weber denen zu, die in seinem Lager stehen: eine wissenschaftliche und eine praktische. Wissenschaftliche Pflicht ist es, die Wirklichkeit der Fakten unverfälscht zu sehen, und praktische Pflicht ist es, für die eigenen Ideale und Werte offen einzustehen. Wenn im wissenschaftlichen Handeln, wenn in der Forschung selbst Werte zur Geltung kommen müssen, dann darf das nur unter der Voraussetzung geschehen, daß solche Werte offengelegt werden, und zwar bedeutet das, daß sie als außerwissenschaftliche Vorentscheidungen, gleichsam als apriorische Rahmenbedingung des wissenschaftlichen Arbeitens eingestanden und unverhüllt anerkannt werden, und zwar von dem Wissenschaftler selbst, der so vorgehen will (ebd.: 156). Neben dem Anliegen der Sozialwissenschaften soll das Archiv freilich auch dem der Sozialpolitik seinen legitimen Platz einräumen. Sozialpolitik sieht Weber als "die Darlegung von Idealen" (ebd.: 157). Doch in konsequenter Fortführung der bisher schon vorgetragenen Argumente schreibt er: "Aber: wir denken nicht daran, derartige Auseinandersetzungen für 'Wissenschaft' auszugeben und werden uns nach besten Kräften hüten, sie damit vermischen und verwechseln zu lassen" (ebd.). Die Unterscheidung, um die es Weber immer geht, präzisiert er noch einmal entlang der Dichotomie Denken - Wollen oder jener verwandten Gegenüberstellung Verstand - Gefühl.

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cc) Zweiter Teil des Objektivitätsaufsatzes Damit endet Teil I des "Objektivitätsaufsatzes". Im zweiten Teil nennt Weber die Themen, denen das Archiv gewidmet sein soll. Die Ausführungen sind ausdrücklicher auf das Interesse des Wirtschaftswissenschaftlers zugeschnitten und darum für uns als Soziologen von etwas geringerer Bedeutung. Weber nennt die Namen von Karl Marx und von Wilhelm Roscher (1817-1894), der als Nationalökonom Begründer und bedeutendster Vertreter der älteren historischen Schule war. Roscher hatte die Gesetzessuche der Klassiker seines Faches abgelehnt, die meinten, Regelmäßigkeiten finden zu können, die für alle Völker aller Kulturen und aller Zeiten gelten. Statt dessen forderte schon Roscher den Kulturvergleich durch die Gegenüberstellung der Wirtschaftsweisen der verschiedenen Völker zu verschiedenen historischen Epochen. Ihm und einem anderen Vertreter der älteren historischen Schule der Nationalökonomie, Karl Gustav Adolf Knies (1821-1898), dessen Nachfolger Weber in Heidelberg wurde, ist eine Reihe von drei Aufsätzen gewidmet, die Max Weber unter dem Rahmentitel "Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie" in den Jahren 1903, 1905 und 1906 in Schmollers Jahrbuch veröffentlichte. Ziel bleibt für Weber, mit der isolierten Betrachtung der Wirtschaft abzuschließen. Sie leuchtet

ihm

durchaus

nicht ein.

Statt dessen

vertritt

er

die

Perspektive

der

"Sozialökonomie", und strebt "die Heraushebung der sozialökonomischen Seite des Kulturlebens" (1968: 165) an "Wir ziehen nur die Konsequenzen dieses Verhaltens, wenn wir jetzt als eigenstes Arbeitsgebiet unserer Zeitschrift die wissenschaftliche Erforschung der allgemeinen Kulturbedeutung

der sozialökonomischen

Struktur des menschlichen

Gemein-

schaftslebens und seiner historischen Organisationsformen bezeichnen. - Dies und nichts anderes meinen wir, wenn wir unsere Zeitschrift 'Archiv für Sozialwissenschaft' genannt haben" (ebd.). Der Name der Zeitschrift ist so neu wie die Herausgeberschaft durch Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffe. Den Zusatz "und Sozialpolitik" übergeht Weber an dieser Stelle Aber jedenfalls begründet er die Namensänderung des Archivs, das vorher den Namen trug: "Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik". Die Kontinuität ist gewahrt in der Kurzbenennung als "Das Archiv", das übrigens später ganz in das Eigentum von Edgar JafFe überging. Zum Verständnis der Methode Max Webers in der Tradition Kants, Diltheys und Simmeis ist seine Aussage dazu wichtig, was eine einzelwissenschaftliche Disziplin konstituiert: "Nicht die 'sachlichen' Zusammenhänge der 'Dinge', sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde..." (ebd.: 166). So wie sich der Gegenstand der Forschung erst in der Beschäftigung mit ihm konstituiert, so

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sind auch die Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaften weniger durch die zu erforschende Realität vorgegeben als vielmehr durch die methodischen Festlegungen des Problems, das untersucht werden soll. Weber distanziert sich kritisch vom historischen Materialismus (ebd.: 166f), wie das ja auch Simmel getan hat. Er antizipiert den von Hans Freyer populär gemachten Begriff "Wirklichkeitswissenschaft", wenn er schreibt: "Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft.

Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Le-

bens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen - den Zusammenhang und die Kullurbedeutung

ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einer-

seits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits" (ebd.: 1700Dem Konzept der Wirklichkeitswissenschaft stellt Weber das der Kulturwissenschaft zur Seite. "Wir haben als 'Kulturwissenschaften' solche Disziplinen bezeichnet, welche die Lebenserscheinungen in ihrer Kulturbedeutung zu erkennen streben. Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns 'Kultur', weil und insofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen..." (ebd.: 175). Auch als Professor der Volkswirtschaftslehre bleibt Max Weber am Studium der Kultur des Menschen im weitesten Sinne interessiert, und insofern stehen seine früheren Arbeiten als Rechtshistoriker in ungebrochener Kontinuität zu dem, was er als Ökonom oder was er als Soziologe schreibt. Heute gilt Max Weber als Hauptvertreter der 'Verstehenden Soziologie'. Doch die Grundlegung seiner Methode geht zurück auf Dilthey, Simmel und Rickert, deren Schriften Weber genau gekannt hat und denen er vieles verdankt. Die Methode des Verstehens, die Max Weber entwickelt und empfohlen hat, ist eng mit einem Verfahren verknüpft das er "Konstruktion von Idealtypen" genannt hat. Die Grundzüge dieses Verfahrens findet der Leser ebenfalls in dem Objektivitätsaufsatz,

von dem im vorigen

Abschnitt schon die Rede war. Weiterhin sind die Beispiele für wissenschaftliche Problemlösungen aus der Nationalökonomie, also der heutigen Volkswirtschaftslehre genommen, wobei Max Weber allerdings die Tradition der historischen Schule der Wirtschaftsforschung fortsetzen will und teils deshalb, teils auch unabhängig davon seine methodische Auseinandersetzung mit Historikern fuhrt. Weber erwähnt (Weber, 1951: 188) die Neigung, Wirtschaftstheorie nach dem Vorbild einer Naturwissenschaft zu betreiben. Das lehnt er selbstverständlich ab als eine Analogie, die "hie

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und da phantastischerweise in Anspruch genommen" wurde, um "aus gegebenen realen Prämissen quantitativ bestimmte Resultate - also Gesetze im strengsten Sinne - mit Gültigkeit für die Wirklichkeit des Lebens deduzieren" (ebd.) zu können. Um so methodisch vorzugehen, müsse man zuvor unterstellen, daß "die Wirtschaft des Menschen... eindeutig 'determiniert' sei" (ebd.) wie die Natur aus der Sicht des Physikers oder Astronomen. So verstandene volkswirtschaftliche Theorien wurden wie naturwissenschaftliche Gedankengebäude betrachtet, in die dann der wirtschaftende Mensch als Objekt einer ebenfalls naturwissenschaftlich, nämlich behavioristisch arbeitenden Psychologie eingebaut wurde (ebd.). "Man glaubte, es handele sich um die psychologische Isolierung eines spezifischen 'Triebes', des Erwerbstriebes, im Menschen, oder aber um die isolierte Betrachtung einer spezifischen Maxime menschlichen Handelns, des sogenannten wirtschaftlichen Prinzips" (ebd.: 188). In Ermangelung zureichender empirischer Daten wurden zu der Zeit, die Weber kritisiert, "psychologische Axiome" (ebd.) gesetzt, mit der Folge, "daß die Historiker nach einer empirischen Psychologie riefen..." (ebd.). Angesichts dieser Ausgangslage erkennt Max Weber die 1904, als er den Objektivitätsaufsatz veröffentlicht, ihm vorliegenden Forschungsergebnisse der Sozialpsychologie und die darin enthaltenen "zum Teil glänzenden Ansätze" (ebd.: 189) durchaus an, teilt aber nicht "den Glauben an die Bedeutung einer - erst zu schaffenden - systematischen Wissenschaft der 'Sozialpsychologie' als künftiger Grundlage der Kulturwissenschaften" (ebd.). Den Glauben teilt er deshalb nicht, weil nach seiner Überzeugung ein induktives Voranschreiten von den psychischen (Weber schreibt "psychologischen") "Qualitäten des Menschen zur Analyse der Institutionen" (ebd.) nicht möglich ist. Statt dessen muß eine genaue Erforschung der Institutionen zuvor geleistet worden sein, ehe dann unter Hinzunahme psychologischer Erkenntnisse "eine im konkreten Fall höchst wertvolle Vertiefung der Erkenntnis ihrer historischen Kulturbedingtheit und Kulturbedeutung" (ebd.) zu erwarten ist. Max Weber hat zwar nicht die Soziologie vor Augen, wenn er diese Passagen schreibt, doch er befürwortet eine Zusammenarbeit der Nationalökonomie mit der Sozialpsychologie, weil er sich davon eine "Durchmusterung" (ebd.) verschiedener Bereiche der Kultur "auf ihre Deutungsfähigkeit fur unser nacherlebendes Verständnis hin" (ebd.) verspricht. So führt Weber seinen Leser mit der Formulierung von dem "nacherlebende(n) Verständnis" zu seiner Sicht des verstehenden Ansatzes hin, den er sogleich weiter entfalten wird. Von der "Deutungsfähigkeit" des Kulturwissenschaftlers schreibt er: "Wir werden durch sie, von der Kenntnis der einzelnen Institutionen ausgehend, deren Kulturbedingtheit und Kulturbedeutung in steigendem Maße geistig verstehen lernen, nicht aber die Institutionen aus psychologischen Gesetzen deduzieren oder aus psychologischen Elementarerscheinungen erklären wollen" (ebd.: 189).

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c) Zur Konstruktion von Idealtypen An der Methodologie Georg Simmeis war deutlich geworden, daß Simmel nicht in erster Linie neue Verfahrensweisen empfiehlt, die vor ihm niemand befolgt hatte, sondern daß er vertraute und gut eingebürgerte Verfahrensweisen neu deutet. So hält Simmel es für normal - ähnlich wie Spinoza

daß der Mensch sich aufgrund bestimmter Wertungen ein Bild von

der Wirklichkeit schafft, dann aber verleugnet, zu dieser Konstruktion auch nur einen Beitrag geleistet zu haben, und sich statt dessen das Produkt seiner eigenen Kreativität als objektiv gegeben vorstellt. Max Weber geht ähnlich vor, wenn auch er wie Simmel gut eingebürgerten Vorgehensweisen eine neue Deutung gibt, jedoch bezieht Weber seine erkenntnistheoretischen oder - wie Weber selbst schreibt - logischen Erörterungen nicht allgemein auf alle Menschen in deren jeweiligen Alltagswelt, sondern ausschließlich auf den Wissenschaftler, hier konkret den Wirtschaftswissenschaftler. Max Weber stellt seinem Leser die "abstrakte(n) Wirtschaftstheorie" (ebd.: 190) vor Augen, "welche man als 'Ideen' historischer Erscheinungen zu bezeichnen pflegt" (ebd.). Sie ergeben sich eben nicht induktiv als gleichsam naturwissenschaftlicher Kosmos von Gesetzen, die aus unerbittlich wirksamen Trieben des Menschen und ohne einen Konstruktionsbeitrag des Forschers logisch gefolgert werden könnten. Sie sind statt dessen fur Max Weber notwendig konstruiert, und er verfahrt insoweit ganz ähnlich wie Simmel, als er das methodische Vorgehen, das ohnehin geschieht, das längst üblich ist und kaum rasch verändert werden kann, gleichsam entlarvt, indem er darlegt, daß seine Autoren nicht wissen was sie tun, weil in Wahrheit unerkannt etwas geschieht, was sie nicht vermuten oder verleugnen, nämlich das Konstruieren von Idealtypen. "Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter

Zusammenhänge. Inhaltlich

trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche

Steige-

rung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art, also vom 'Markt' abhängige Vorgänge, in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch

veranschaulichen

und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch, wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein" (ebd.: 190). Dieses Zitat ist darum wichtig, weil es die Einfuhrung des Idealtypus in den Text des Objektivitätsaufsatzes enthält. Der Begriff "GedankenMcf erinnert an Simmeis wiederholten

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Vergleich des verstehenden Nachschaffens mit der Kreativität des Künstlers, zumal des Malers. Die Zusammenhänge werden widerspruchslos gedacht, und Weber bezeichnet das Ergebnis auch als Utopie, also als in des Wortes Urbedeutung etwas, das es so nirgendwo gibt. Zweck und Aufgabe des Konstruktionsverfahrens, das zur Utopie oder zum Idealtypus fuhrt, ist es, die Eigenart eines Zusammenhangs zu veranschaulichen

und sie verständlich zu ma-

chen (190). "Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine 'Hypothese', aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung

des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel

verleihen" (ebd.). All dies ist wie bei Simmel die notwendige Neufassung der Logik als Reaktion auf den Kritizismus Immanuel Kants. Es ist das Anerkenntnis des Konstruktionsbeitrags, den der Wissenschaftler bei der Theoriebildung leistet. Aber im Unterschied zu Simmel kreist das methodologische Denken Webers - wie erwähnt - nur um die Aktivitäten des Wissenschaftlers, nicht die des Alltagsmenschen. Daraus ergibt sich dann trotz der Zurückweisungen von Deduktion und Gesetzessuche und trotz der Ablehnung von Analogien zur Naturwissenschaft bei Weber eine größere Nähe zum naturwissenschaftlichen Objektivitätsbegriff. Wir kommen darauf im Zusammenhang mit dem Stellenwert des Konzepts der Geltung bei Max Weber zurück. Zunächst fährt Weber mit der Einfuhrung des Idealtypus als heuristischem Werkzeug fort, indem er genau beschreibt, wie der Wissenschaftler bei der "historische(n) Arbeit" vorzugehen hat. Die Frage: wie gelangt man zu einem Idealtypus beantwortet er so: "Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen £/«ze/erscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fugen, zu einem in sich einheitlichen GedankerioWde. In seiner begrifflichen Reinheit ist diese Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht..." (191). Damit ist der Übergang vollzogen von der Position, die nur ein allgemein übliches Verfahren neu deutet. Wir hatten ja den Weg zur Konstruktion des Idealtypus bei Max Weber bisher in diesen Schritten nachgezeichnet: 1) Weber weist den quasi naturwissenschaftlichen Anspruch zurück, man könne eine Kulturtheorie der Wirtschaft als System von Gesetzen auf der Grundlage unerbittlicher menschlicher Triebe induktiv erarbeiten und dann davon Antworten auf Einzelfragen deduzieren. 2) Weber nimmt die ihm abgeschlossen vorliegende wissenschaftliche Theoriebildung zur

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Gründer der Soziologie

Kenntnis, macht aber seinem Leser bewußt, daß es sich dabei in Wahrheit um die Konstruktion von Idealtypen handelte, selbst wenn das den Autoren nicht einsichtig war. 3) Weber empfiehlt das absichtliche und planmäßige Konstruieren von Idealtypen und gibt dazu genauere Anweisungen. Als anschauliche Beispiele nennt Weber: a) "die 'Idee' der historisch gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft" (ebd.: 190f ), b) "die Idee der 'Stadtwirtschaft' des Mittelalters... nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobachteten Städten tatsächlich bestehenden Wirtschaftsprinzipien, sondern ebenfalls als einen Idealtypus" (ebd.: 191) c) "die 'Idee' des 'Handwerks'" (ebd.) als Resultat des Versuchs, eine Gesellschaft zu zeichnen, in der alle Zweige wirtschaftlicher, ja selbst geistiger Tätigkeit von Maximen beherrscht werden, die uns als Anwendung des gleichen Prinzips erscheinen, welches dem zum Idealtypus erhobenen 'Handwerk' charakteristisch ist. Man kann nun weiter jenem Idealtypus des Handwerks als Antithese einen entsprechenden Idealtypus einer kapitalistischen Gewerbeverfassung, aus gewissen Zügen der modernen Großindustrie abstrahiert, entgegensetzen und daran anschließend den Versuch machen, die Utopie einer 'kapitalistischen' d.h. allein durch das Verwertungsinteresse privater Kapitalien beherrschte Kultur zu zeichnen" (ebd.: 191). Auf der Grundlage dieser letztgenannten Konstruktion ergibt sich endlich als weiteres Beispiel d) die '"Idee' der kapitalistischen

Kultur".

Gerade der Hinweis auf dieses letzte der vier Beispiele, auf den Idealtypus der "kapitalistischen Kultur" macht deutlich, daß Weber uns in diesem Objektivitätsaufsatz von 1904 nicht nur methodische Möglichkeiten vage andeutet, sondern daß er uns gleichsam einen Blick in die eigenen Werkstatt tun läßt; denn wie bekannt hat Weber gerade mit seinem

Idealtyp

der

aus

der

protestantischen

Ethik

des

Kalvinismus

entwickelten

"kapitalistischen Kultur" seinen Weltruhm als Soziologe begründet und eine nicht endende Debatte ausgelöst. Nachdem wir Weber durch die genannten drei Schritte hindurch gefolgt sind, erkennen wir nun, wie er sich zurückwendet zu dem, was er in der ersten Hälfte seines Objektivitätsaufsatzes vorgetragen hat: Es handelt sich bei dem, was er vertritt, um eine

Erfahrungswissen-

schaft, und aus dem Studium dessen, was ist kann unter gar keinen Umständen abgeleitet werden, was sein soll. Daran ändert sich selbstverständlich auch dann nichts, wenn man sich als Denk- und Darstellungs- und Deutungswerkzeuge Idealtypen konstruiert. Das Mißverständnis, etwas, das den Begriff 'ideal' enthalte, müsse doch wohl auf gute und erwünschte

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Zustände hindeuten, sieht Weber voraus, und er scheidet scharf zwischen dem "Gedanke(n) des Seinsollenden, 'Vorbildlichen"' (ebd.: 192) einerseits, daß hier nicht gemeint ist, und "in rein logischem Sinn 'idealen' Gedankengebilden" (ebd.) andererseits, um die es sich hier allerdings handelt. Aber nicht nur demjenigen gibt Weber eine Absage, der eine normative Theorie wünscht und sich daher vom Idealtypus einen Hinweis darauf erhofft, wie die Dinge geordnet sein sollen. Wir finden ihn wieder an der Seite von Georg Simmel, wenn er ganz ebenso wie die normative Theorie auch den erkenntnistheoretischen Realismus zurückweist, gegen den Simmel sein Buch "Die Probleme der Geschichtsphilosophie" geschrieben hat. Der Idealtypus kann also weder aussagen, was sein soll noch auch unbearbeitet gleichsam im Rohzustand die Wirklichkeit so wiedergeben, wie sie objektiv ist! Idealtypische Begriffe, wie Max Weber sie verwenden will, sind also fur Realisten nicht geeignet: "Wer auf dem Standpunkt steht, daß die Erkenntnis der historischen Wirklichkeit 'voraussetzungslose' Abbildung 'objektiver' Tatsachen sein solle oder könne, wird ihnen jeden Wert absprechen" (ebd.). Diese Formulierung zeigt ein wenig auch das Temperament Webers: Er plädiert nicht fur seine Position, um den Vertreter des erkenntnistheoretischen Realismus zu überzeugen, sondern er schließt einfach: wer den Realismus konsequent vertritt, wird notwendig idealtypischen Begriffen "jeden Wert absprechen" (ebd.). Ihre letzte gültige Quelle ist nämlich nicht die Empirie, sondern die Phantasie. "Es handelt sich um die Konstruktion von Zusammenhängen, welche unserer Phantasie als zulänglich motiviert und also 'objektiv möglich', unserem nomologischen Wissen als adäquat erscheinen" (ebd.). Wenn der Idealtypus nicht sagen darf, was wünschenswert ist, wenn er nicht sagen kann, was man tatsächlich da draußen in der unberührten Wirklichkeit vorfindet, dann ist zu befurchten, daß seine Kritiker ihn "überwiegend... einfach als Spielerei ansehen" (ebd.: 193) werden. "Und in der Tat: ob es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden: es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung. Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht" (ebd.). Hier legt Max Weber das Kriterium offen, mit Hilfe dessen das Konstruieren von Idealtypen wissenschaftlich kontrolliert werden kann: Der Idealtypus muß seine Fruchtbarkeit erweisen, der Erfolg bei dem Ringen um neue und klarere Erkenntnisse entscheidet darüber, ob die Konstruktion legitim war oder nicht. Freilich ist dies nicht das einzige Kriterium, aber es ist ein notwendiges.

Gründer der Soziologie

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Ein weiterer Einwand, nach jenem, der im Konstruieren von Idealtypen überwiegend eine Spielerei sieht, ist mit dem Hinweis auf das Fehlen einer dauerhaften Gültigkeit gegeben. Naturwissenschaftliche Gesetze werden ja in der Erwartung formuliert, daß sie Aussagen sind über Tatbestände, die sich nicht ändern. Denn z.B. eine Änderung der planetarischen Ordnung unseres Sonnensystems brächte das Ende der Bewohnbarkeit der Erde und damit der Wissenschaft. Nun kennt Max Weber den Einwand gegen die Methode, die er vertritt, in dem deren Gegner sie mit der Unreife der Volkswirtschaftslehre oder der jeweiligen Kulturwissenschaft in Verbindung bringen. Eine ausgereifte Wissenschaft dagegen sei sehr wohl in der Lage, Ergebnisse vorzulegen, die nicht ständig überholt würden. Weber wendet dieses Argument gegen dessen Urheber zurück: Aus der angesonnen Unreife macht Weber die Lebenskraft der Jugend, die eben mancher dürr gewordenen älteren Wissenschaft fehlt: "(Sondern vor allem:) es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zufuhrt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidbarkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe" (ebd.: 206). Aus der Not, daß sich wissenschaftliche Ergebnisse im Bereich der Kulturwissenschaften durch den Wandel ihrer Gegenstände überholen, macht Max Weber die Tugend der stets neuen idealtypischen Konstruktionen, die geschaffen werden müssen, damit die Wissenschaft mit der Wirklichkeit Schritt halten kann: "Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken... (ebd.: 214). Das ist der Entwurf des verstehenden Ansatzes, wie Weber ihn in seinem Objektivitätsaufsatz von 1904 vorlegt. Doch diese Position, die zu der von Georg Simmel in deutlicher Nähe steht, hält er nicht durch. Im Laufe der Jahre von 1906 bis 1911, welche die Max-WeberForscher gelegentlich auch "die dunklen Jahre" (Küenzlen, 1980: 46-55) nennen, geht Weber zu Simmel in manchen Einzelheiten seiner Methode auf Distanz. Nach Webers Tod erst wird "Wirtschaft und Gesellschaft" von seiner Witwe herausgegeben, doch die Arbeiten daran müssen etwa 1911 begonnen worden sein (Küenzlen, 1980: 50). Darin findet man nun den anderen Weber dokumentiert. Obwohl Max Weber und Georg Simmel Vertreter des verstehenden Ansatzes als Methode der Soziologie sind, (Max Weber bezieht sich 1905 zustimmend auf Simmeis Konzept des Verstehens), findet man in "Wirtschaft und Gesellschaft" einige Passagen, in denen deutlich wird, daß nun beide eindeutig voneinander abweichen. Es läßt sich zeigen, daß solchen Ver-

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Gründer der Soziologie

schiedenheiten der methodischen Standpunkte nicht oberflächliche Differenzen zwischen den beiden Autoren zugrundeliegen, sondern daß sie konsequent aus der jeweiligen Erkenntnistheorie folgen, die Weber und Simmel vertreten haben. In dem für den "Grundriß der Sozialökonomik" geschriebenen Text "Soziologische Grundbegriffe" erwähnt Weber "Simmeis Methode (in der 'Soziologie' und in 'Philos. des Geldes')", von der er, Weber, "durch tunlichste Scheidung des gemeinten von dem objektiv gültigen 'Sinn'" (Weber, 1951: 527) ausdrücklich abweichen will. Aufgabe "der empirischen Wissenschaften vom Handeln" (ebd.: 528), also "der Soziologie und der Geschichte" sei es, ihr Erkenntnisinteresse auf den gemeinten Sinn auszurichten, während "Jurisprudenz, Logik, Ethik" und andere dogmatische Disziplinen "den 'richtigen', 'gültigen', Sinn erforschen wollen" (ebd.). Webers Bemerkung, nach der Simmel beide Erscheinungsformen von Sinn "nicht nur nicht immer scheidet, sondern oft absichtsvoll ineinander fließen läßt" (ebd.: 527), signalisiert keineswegs eine nachlässige Arbeitsweise Simmeis, sondern dessen Erkenntnistheorie, nach der jeder Sinn das Ergebnis eines Konstruktionsvorgangs ist, und eine objektive Wahrheit zwar nicht in ihrer Existenz geleugnet, aber ihre unverformte Erkennbarkeit prinzipiell bestritten wird. Max Weber weist die Neigung, soziale Gebilde "genau so zu behandeln wie Einzelindividuen" (ebd.: 538f.) der Jurisprudenz zu, legt dagegen die Soziologie auf einen methodischen Individualismus fest, nach dem nur die Personen und deren Handlungen im Sinne der Empirie real sind (ebd.: 539). So sind Kollektivgebilde für ihn "Vorstellungen... in den Köpfen realer Menschen" (ebd.), die er gegen das reale Geschehen abgrenzt (ebd.: 540). Für Simmel besteht in Kultur und Gesellschaft alle geistige und soziale Realität aus Vorgestelltem, daher ist auf der Grundlage seiner erkenntnistheoretischen Prämissen die Scheidung, die Weber vornimmt, nicht möglich. Wir können vor dem Hintergrund des Begriffs der Form bei Simmel, den Idealtyp als eine bewußt geschaffene Konstruktion zum Zweck des wissenschaftlichen Arbeitens sehen. Ein wichtiges Beispiel sind Webers Idealtypen der Herrschaft als charismatische, traditionale und legale oder rationale Herrschaft.

d) Mensch und Region im Kulturwandel Vor dem Nervenzusammenbruch von 1898, also während der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, wiesen Max Webers Veröffentlichungen ihn als Rechts- und Sozialhistoriker aus. Die intensive Beschäftigung mit dem römischen Recht machte ihn zu einem Fachmann der Geschichte der Antike und des Übergangs zum frühen Mittelalter. Aus dieser For-

Gründer der Soziologie

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schungsperiode stammt eine kleine Arbeit, die der soziologischen Frage nach den Quellen sozialen Wandels schon sehr nahe steht. Diese Studie von 1896, die nach dem überarbeiteten Manuskript seines Vortrage unter dem Titel "Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur" veröffentlicht wurde (Weber, 1896), enthält alle wichtigen Gedanken zur Beziehung zwischen sozialem Wandel und regionaler Identität der Kultur. Max Weber erläutert in dieser Studie, daß die Kultur des Altertums, wie später die des Mittelalters, städtische Kultur gewesen sei. Dabei war die Stadt Trägerin von Politik, Kunst und Literatur. Als Binnenstadt pflegte sie ökonomischen Austausch mit dem sie umgebenden Landgebiet, wobei die gewerblichen Produkte der Stadt gegen Agrarprodukte des Umlandes getauscht wurden. Diesem Modell liegt das Prinzip der Autarkie zugrunde. Die Verbindung mehrerer solcher autarker Regionalkulturen entsteht nur entlang der Küsten des Mittelmeeres als Küstenkultur der Küstenstädte, die internationalen Handel mit dem Transportmittel Schiff untereinander treiben. Max Weber weist darauf hin, daß nicht große Bevölkerungsmassen an dieser Küstenkultur partizipieren, sondern daß die nur von einer dünnen wohlhabenden Schicht getragen wurde. Die Existenz der internationalen bzw. überregionalen Küstenkultur war also mit der sozialen Differenzierung und dem Bestehen einer ökonomisch unabhängigen Oberschicht verkoppelt. Bei der Entfaltung seines Modells zeigt Max Weber, daß die antike Kultur nicht nur Küstenkultur und Oberschichtenkultur, sondern unter ökonomischem Aspekt zugleich auch Sklavenkultur war. Er spricht von einem verkehrswirtschaftlichen Überbau, den die Küstenkultur trägt, einerseits und andererseits von einem Unterbau mit verkehrsloser Bedarfsdeckung auf der Grundlage der Sklavenhaltung. Hier wird in naturalwirtschaftlicher Weise Landwirtschaft zur Bedarfsdeckung betrieben. Veranstalter ist dabei eine große Haushaltung, die für den Angehörigen der Oberschicht genügend Reichtum erwirtschaften mußte, um ihn an der Küstenkultur teilhaben zu lassen. Kriege dienen der Menschenjagd für den Sklavenmarkt und der Konfiskation von Land zur Erwirtschaftung von Überschüssen. Das Modell, konstruiert durch die kausale Verknüpfung von Regionalkultur, Küstenkultur, Oberschichtenkultur, Sklavenkultur und Eroberungskrieg als Sklavenjagd, wird nun dynamisch betrachtet, um damit den Wandel erklären zu können. Durch die Einbeziehung großer Binnenterritorien wie Spanien und Gallien verlagert das römische Weltreich seinen Schwerpunkt von den Küsten des Mittelmeeres in das Binnenland. Zur Aufrechterhaltung seines stehenden Heeres und seiner zahlreichen Beamtenschaft braucht das Imperium große Geldeinnahmen. Damit wächst die Abhängigkeit von Sklavenhaltern als ökonomischen Trägern der antiken Kultur.

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Gründer der Soziologie

Der kasernierte Sklave ist aber eigentumslos und familienlos. Da die biologische Fortpflanzung der Sklaven (von zahlenmäßig unbedeutenden Ausnahmen abgesehen) ausgeschlossen bleibt, sind die Sklavenhalter auf fortwährenden Zukauf neuer Sklaven angewiesen. Dieses System funktioniert nur, solange die Sklavenmärkte von einer ausreichenden Menschenzufuhr gespeist werden, solange also weiterhin kriegerische Unterwerfungen fremder Völkerschaften stattfinden. Als die Eroberungskriege eingestellt werden und die Sklavenmärkte versiegen, wird es für die Sklavenhalter immer weniger möglich, Geldsteuern an den Staat abzuführen. "Um die Geldaufbringung dreht sich immer mehr die ganze Staatskunst..." (Weber, 1956: 22). Ein Zustand, der merkwürdig an die Gegenwart erinnert. Die antike Kultur fällt mehr und mehr aus der Geldwirtschaft in die Naturalwirtschaft zurück. Damit war die überregionale Orientierung nicht aufrechtzuerhalten. "Völlig naturalwirtschaftlich versucht man endlich durch Beleihung von Barbaren mit Land gegen Kriegsdienstpflicht die Grenzwache zu bestreiten, und diese Form, der entfernte Vorbote des Lehens, findet zunehmende Verwendung" (ebd.). Der Sklave der Karolingerzeit ist zwar weiterhin der 'servus', aber er hat jetzt eine Familie und Eigenbesitz, so daß sich seine Schicht - oder genauer, sein Stand - fortpflanzen und vermehren oder mindestens erhalten kann. In der Feudalordnung verschwinden das stehende Heer und das besoldete Beamtentum. Im Militärwesen müssen nun die Vasallen Waffen, Pferde und Fuhrwerke für den Krieg in natura stellen, der Kaiser reist als Landwirt von Pfalz zu Pfalz, um die dort aufgehäuften Vorräte zu verzehren, die Geldsteuer ist entfallen und "seine Beamten speist der König am eigenen Tisch...". "Verschwunden ist die Stadt, die Karolingerzeit kennt sie als spezifischen verwaltungsrechtlichen Begriff überhaupt nicht. Die Gn/wiAerrschaften sind die Träger der Kultur..." (ebd.: 24). Zerrissen ist das Netz der Küstenkultur oder der überregionalen Kultur des Weltreichs. Mit dem Wegfall der Geldwirtschaft und der Rückorientierung zur regionalen Naturalwirtschaft endet die antike Kultur. Erst im Mittelalter gewinnt die Stadt wieder an Bedeutung, und eine neue überregionale Kultur entsteht auf der Grundlage des Christentums. In dieser frühen wirtschaftshistorischen Arbeit Max Webers aus dem Jahre 1896 ist von Religion freilich noch nicht die Rede. Weber war als Jurist und Rechtshistoriker ausgebildet worden und hatte gerade 1894 in Freiburg im Breisgau einen Lehrstuhl für Nationalökonomie übernommen. An der Freiburger Universität wird er Kollege von Heinrich Rickert, dem prominenten Vertreter der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Und obwohl bis zu seiner ersten wissenschaftstheoretischen Arbeit über Roscher und Knies im Jahre 1903 (drei Aufsätze, 1903-06, Weber, 1951: 1-145) noch einige Jahre vergehen werden, leistet Max Weber schon in dieser Arbeit von 1896 nichts geringeres als die gedankliche Konstruktion des Idealtypus der antiken Kultur.

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Er ist der akademischen Disziplin nach zunächst Jurist, dann Nationalökonom, doch er beschäftigt sich ausdrücklich mit dem Thema Kultur. So kann er die Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Territorium als Problem der Kultur darstellen. Er unterscheidet die Kultur der Stadtregion von der Kultur eines Weltreichs, die verkehrswirtschaftliche kultur von der naturalwirtschaftlichen Kultur mit dem Zusammenbruch

Agrarkultur

Küsten-

und erklärt den Untergang der antiken

des Geldwesens.

Daß fur Max Weber das Geld nicht etwa nur Meßgröße quantifizierbarer Gesetzmäßigkeiten ist, sondern selbst symbolisch in seiner Qualität verstanden wird, hat er in seinem Objektivitätsaufsatz so formuliert: "Ohne Qualitäten kommen - von der reinen Mechanik abgesehen auch die exakten Naturwissenschaften nicht aus; wir stoßen ferner auf unserem Spezialgebiet auf die - freilich schiefe - Meinung, daß wenigstens die für unsere Kultur fundamentale Erscheinung des geldwirtschaftlichen Verkehrs quantifizierbar und eben deshalb

'gesetzlich'

erfaßbar sei..." (Weber, 1968: 173): "Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff'

(ebd.: 175). So ist die Beziehung zwischen Mensch und Territorium bei Max

Weber auch eine Frage der Kultur und des symbolischen Verstehens. Die symbolische Bedeutung des Geldes einer bestimmten Währung ist an das Territorium geknüpft, in dem dieses Geld gültig ist. Mit dem Zusammenbruch der Geldwirtschaft ist darum in Max Webers Untersuchung über den Untergang der antiken Kultur nicht etwa nur ein ökonomischer Sachverhalt beschrieben worden. Vielmehr handelt es sich dabei um den Niedergang eines Symbols und um die Konsequenzen fur Kommunikation zwischen denjenigen Individuen, die in ihrer Gesamtheit als Trägerkollektiv jene Werte am Leben erhalten, auf denen die Kultur jeweils beruht. Die Zurückbildung von Politik auf Techniken der Geldaufbringung, die Betonung symbolischer Aspekte der Territorien und des Geldes, die Hervorhebung der Frage, wie entscheidend es sein kann, ob eine Teilpopulation - am Beispiel der Untersuchung Webers sind es die Sklaven - sich durch Fruchtbarkeit aus eigenen Familien selbst erhält, oder ob sie beständig durch Ergänzung von außerhalb der Gesellschaft am Untergang gehindert werden muß, diese und andere Denkfiguren lassen sich auf Probleme der Gegenwart unmittelbar übertragen.

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e) Fehldeutungen einzelner Arbeiten Da moderne Soziologen eine so überragende Gestalt wie Max Weber nicht ignorieren können, da sich aber manche nicht in die Kontinuität seiner Methode stellen mögen, unterliegt der eine oder andere von ihnen der Versuchung einer einseitigen oder sonst fehlerhaften Interpretation seiner Schriften. Auf einige solcher - nach meiner Überzeugung - falschen Aussagen über Weber bezieht sich das Folgende. aa) Rechts-, Wirtschafts-, Sozialgeschichte Im Dezember 1980 erschien in der American Sociological Review ein Artikel von Randall Collins (Collins, 1980), in dem der Verfasser den Anspruch erhebt, die letzte Fassung der Kapitalismustheorie Max Webers entdeckt zu haben. Dabei bezieht er sich auf die letzte Vorlesung, die Max Weber mit dem Titel "Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" (das wird zum Untertitel der Buchveröffentlichung: Wirtschaftsgeschichte, hg. v. S. Hellmann und M. Palyi, München und Leipzig 1923) kurz vor seinem Tode im Wintersemester 1919/20 an der Universität München gehalten hat. Die Unterstellung von Collins, daß sich in der letzten Vorlesung Max Webers vor seinem Tode auch der höchste, am weitesten entfaltete und für ihn selbst ausgereifteste Stand seiner eigenen Arbeit am Kapitalismusthema niedergeschlagen habe, ist nicht vertretbar. Schon die einleitende Bemerkung der beiden Herausgeber Hellmann und Palyi auf den Seiten V bis VII, die in englischer Übersetzung auch dem Text vorangestellt ist, mit dem Collins gearbeitet haben muß, enthält den Hinweis, daß Max Weber diese Vorlesung nur ungern auf dringenden Wunsch der Studenten gehalten habe, ungern deshalb, weil sie ihn von den "großen soziologischen Aufgaben, denen er sich zugewandt hatte" (Hellmann, Palyi, 1923: V), nur ablenkte. Tatsächlich enthält also diese Vorlesung nicht die reife Kapitalismustheorie, sondern die Wiederholung dessen, was Max Weber zur Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus schon in seinen früheren Arbeiten ausgeführt hat. Diese Arbeiten sind allerdings als frühe rechtshistorische Untersuchungen in der neueren Soziologie kaum beachtet worden. Es handelt sich dabei um: Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht von 1891, sodann um Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur von 1896, von uns gerade hier behandelt, und schließlich um die Agrarverhältnisse im Altertum, als Beitrag zum Handwörterbuch der Staatswissenschaften 1909 erschienen. Vergleicht man die Erscheinungsdaten, so wird deutlich, daß die von Collins in der letzten Vorlesung vor dem Tode Max Webers vermeintlich "entdeckte" Darstellung des Kapitalis-

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mus von ihm in unveränderter Form schon 1891, 1896 und 1909 veröffentlicht wurde. Ohne einen Zugang zum Gesamtwerk Max Webers zu haben, konfrontiert Collins die, wie er meint, späte sozialhistorische Darstellung des Kapitalismus mit der, wie er meint, frühen religionssoziologischen Protestantismusstudie und schließt daraus: Während der junge Max Weber den Marxismus habe widerlegen wollen, bewege sich der reife Max Weber ein gutes Stück auf Karl Marx zu. Collins reiht dann Max Weber wie Karl Marx unter die Konflikttheoretiker der Soziologie ein (Collins, 1980: 941). Collins meint sogar, daß die beiden letzten Sätze der aus dem Nachlaß herausgegebenen Vorlesung zur Wirtschaftsgeschichte von der Bedrohung durch eine Revolution der Arbeiterklasse handeln: Max Weber hatte geschrieben: "Es war möglich, daß die Arbeiterklasse sich mit ihrem Los beschied, solang man ihr die ewige Seligkeit versprechen konnte. Fiel diese Vertröstung weg, so mußten allein daraus jene Spannungen innerhalb der Gesellschaft sich ergeben, die seitdem noch ständig im Wachsen begriffen sind. Damit ist der Zeitpunkt am Ende des Frühkapitalismus und beim Anbruch des Eisernen Zeitalters im 19. Jahrhundert erreicht" (Weber, 1923: 315). Die Neigung von Collins, aus diesen Sätzen die Ankündigung einer proletarischen Revolution herauszulesen, ist wohl kaum gerechtfertigt. Der Hinweis auf ein Eisernes Zeitalter legt vielmehr die Assoziationen mit antiken Bildern von einer Abfolge der Epochen menschlicher Kulturen nahe: "aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo..."! Wenn Max Weber von dem Entfallen der Vertröstungen auf die ewige Seligkeit spricht, dann hat er dabei den Prozeß der Entzauberung und Modernisierung vor Augen. hb) Ethik und Sekten des Kalvinismus Max Weber begann seine Publikationstätigkeit als Soziologe im engeren Sinne mit der berühmten Arbeit "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus". Die erste Fassung dieser Abhandlung wurde, wie erwähnt, in zwei Teilen niedergeschrieben, der erste Teil im Jahre 1904, der zweite Teil im Jahre 1905. Im Titel dieser ersten Fassung war das Wort Geist noch in Anfuhrungszeichen gesetzt. Als später die gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie entstehen und im ersten Band 1920 auch diese Untersuchung wieder abgedruckt ist, fehlen die Anfuhrungszeichen (Weber, 1920). Ein Jahrzehnt später, im Jahre 1930, erscheint eine erste englische Übersetzung, die Talcott Parsons angefertigt hatte. In dem einflußreichen Lehrbuch "Sociology", das William F. Ogburn und Meyer F. Nimkoff 1940 zusammenstellten und herausgaben, steht eine Leseempfehlung für den Studenten als Hinweis auf die von Parsons übersetzte Arbeit Max Webers über "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" mit der Erläuterung: "Entwickelt die Hypothese, daß das Aufkommen der individualistisch protestantischen

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Ideologie den Antrieb darstellte fur das Wachstum des Kapitalismus in der westlichen Welt. Eine interessante Interpretation, die jedoch wirtschaftliche und technische Faktoren vernachlässigt" (Ogburn, Nimkoff, 1940: 772; Übersetzung von mir). Vielleicht wird hier schon jene Fehldeutung der Protestantismusstudie Max Webers begründet, die sich bis zu der erwähnten neuesten Arbeit von Collins fortgeschleppt hat. Wir werden zeigen, daß die Absicht Max Webers sehr viel grundlegender und selbständiger war als jene vermuten, die in diesem Werk nur die Kritik und Zurückweisung von Karl Marx sehen. Zu den Vorarbeiten für diese Protestantismusstudie gehören Untersuchungen, die er über die mittelalterlichen Klöster während einer Romreise gegen Ende seiner Nervenkrankheit gemacht hat (Küenzlen, 1980:16). Nachdem er 1904 den ersten Teil der Protestantischen Ethik abgeschlossen hatte, trat er zusammen mit seiner Frau Marianne und seinem Freund Ernst Troeltsch eine Amerikareise an, die die drei vom August bis zum Dezember 1904 an die Harvard University, nach St. Louis und an andere Orte der USA führte. Nach der Rückkehr von dieser Reise schrieb Max Weber dann den zweiten Teil seiner Arbeit: "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus" mit der Überschrift: " II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus". Die beiden Teile, der vor der USA-Reise verfaßte erste und der danach verfaßte zweite Teil erschienen in den Jahren 1904 und 1905, der erste Teil im zwanzigsten, der zweite Teil im einundzwanzigsten Band des "Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik". Die Amerikaerfahrung wird ausdrücklich sichtbar in den Veröffentlichungen "'Kirchen' und 'Sekten'" in der Frankfurter Zeitung bzw. '"Kirchen und 'Sekten' in Nordamerika" in "Christliche Welt". Beide Veröffentlichungen erscheinen jeweils in zwei Teilen im Jahre 1906. Im Jahr vor seinem Tod hat Max Weber diese Protestantismusstudien gründlich umgearbeitet. Den Anlaß dafür bot die Herausgabe der "Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie", zu deren erstem Band er zwar noch die Korrekturfahnen in der Hand gehabt hat, dessen Erscheinen er aber nicht mehr erlebte. Jedenfalls muß die heutige Forschung beachten, "daß der Originaltext der Archiv-Ausgabe von 1905 nicht identisch ist mit dem im Band 1 der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie vorliegenden Text. Dies wurde von der Interpretation bislang kaum zur Kenntnis genommen" (Küenzlen, 1980: 11). Im zweiten Teil der "Protestantische Ethik" schreibt Max Weber schon 1905 am Schluß einige Sätze zur Klärung seiner Intention, die ihn wohl vor aufkommenden Mißverständnissen in Schutz nehmen sollen. Er betont dort einerseits, daß man "sich die Bedeutung, welche religiöse Bewußtseinsinhalte auf die Lebensführung, die 'Kultur' und die 'Volkscharaktere' gehabt haben" (Weber, 1905: 110) gar nicht groß genug vorstellen könne. Obwohl dies so sei, wolle er aber selbstverständlich nicht "an (die) Stelle einer einseitig 'materialistischen'

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ein(e) ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung... setzen"(ebd). Doch dieser Versuch, sich vor dem Mißverständnis des spiritualistischen Gegenstücks zur materialistischen Geschichtsdeutung zu schützen, mißlingt. Von dem abwertenden Hinweis in dem amerikanischen Lehrbuch von Ogburn und Nimkoff als Kommentar zu Talcott Parsons 'Übersetzung von 1930' war schon die Rede. Grundthema der Religionssoziologie Max Webers ist in diesen frühen Protestantismusstudien von 1904 bis 1906 tatsächlich nicht die Auseinandersetzung mit Karl Marx, sondern die mit Rationalität und Kulturwandel. Max Weber lebte und dachte in einer Zeit, in der wie Küenzlen schreibt, "der Glaube an einen fortdauernden und sich selbst anhaltend fortentwickelnden Fortschritt, der einen dauerhaften Sieg der Vernunft verspricht" (Küenzlen, 1980: 17), vorherrschte. Einen solchen naiven Fortschrittsglauben teilte er nicht. Das Ziel des Fortschritts war ihm zutiefst verdächtig. So begann Max Weber spätestens seit seiner Freiburger Antrittsrede, also schon etwa seit 1894 die Auseinandersetzung mit Naturalismus, Historismus und Marxismus Das Thema seiner Untersuchungen war von nun an kein geringeres als die Frage nach "der Herkunft und der Zukunft der gegenwärtigen Kultur als dem Gehäuse des modernen Menschen" (ebd.: 18).

cc) Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen In einem unbegreiflichen Aufwand an Energie schreibt Max Weber in den auf die Protestantismusstudien folgenden Jahren ausfuhrliche Abhandlungen über a) Konfuzianismus und Taoismus b) Hinduismus und Buddhismus und c) das antike Judentum Wie sehr diese Arbeiten für die Sozialwissenschaften der Gegenwart bedeutsam geblieben sind, zeigt der Sammelband "Max Webers Studie über das antike Judentum - Interpretation und Kritik", den Wolfgang Schluchter herausgegeben hat (Schluchter, 1981). Trotz der Bereitschaft vieler Soziologen, sich immer wieder der "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" zuzuwenden, haben unterschiedliche Fehldeutungen eine den Intentionen Max Webers selbst gerecht werdende Rezeption weitgehend verhindert. Man hat vielfach gemeint, es gehe Max Weber nur darum, die Entstehung des Kapitalismus zu erklären. Die Untersuchungen der anderen Weltreligionen nehmen sich dann als Kontrolluntersuchungen zu den Protestantismusstudien aus, die gleichsam verständlich machen, warum es im asiatischen Raum nicht zur Entstehung von Kapitalismus gekommen sei. Diese Meinung ist genährt worden durch den Eindruck, der bei einer Durchsicht der Publikations-

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liste Max Webers entsteht, daß er sich nämlich zwischen den Jahren 1906 und 1911 nicht mit Fragen der Religionssoziologie,

sondern mit industriesoziologischen Untersuchungen

beschäftigt habe. Ende der siebziger Jahre haben aber Friedrich H. Tenbrock und Gottfried Küenzlen für das Wirken von Max Weber von 1906 bis 1911 folgende Thesen formuliert: Die Beschäftigung mit der Arbeitswelt steht in der unmittelbaren Kontinuität der Kapitalismusuntersuchungen von 1905, weil es nun darauf ankommt, "die konkrete Lage des Berufsmenschen innerhalb des 'stahlharten Gehäuses' zu untersuchen und zu beschreiben, überhaupt die Lage und Zukunft der 'kapitalistischen Ordnung' abzuschätzen" (Küenzlen, 1980: 49). Aus dem Briefwechsel Max Webers mit dem Verlag Siebeck in Tübingen, den Friedrich Tenbruck seit Jahrzehnten zum erstenmal eingesehen hatte, wird deutlich, "daß die Vorbereitungen für die etwa 1911 einsetzenden Arbeiten an "Wirtschaft und Gesellschaft" und an der "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" weiter zurückreichen, als bisher angenommen und stärker an die Thematik der Protestantischen Ethik anschließen, als man bisher vermerkt hatte" (ebd.: 50). Entscheidendes Motiv für die Forschungen Max Webers war offenbar die Entdeckung, daß der Fortgang der Geschichte nicht durch Überwindung der Religion als einem unvernünftigen Aberglauben wissenschaftlich zu erklären sei, sondern daß "die Religion selber zur wirkenden Kraft der historischen Entwicklung werden" (ebd.: 33) könne. dd) Wirtschaft und Gesellschaft Das vielschichtige Werk "Wirtschaft und Gesellschaft" gehört zusammen mit den beiden berühmten Reden Max Webers "Wissenschaft als Beruf' und "Politik als Beruf' zu dem Spätwerk, das der Interpretation besondere Schwierigkeiten bereitet. Von den beiden Reden hatte Marianne Weber behauptet, Max Weber habe sie im Jahre 1918 gehalten und 1919 veröffentlicht. Gemäß neuerer Forschungsergebnisse hielt Max Weber "Wissenschaft als Beruf' am 7. November 1917 und "Politik als Beruf' am 28. Januar 1919 (Roth, Schluchter, 1979: 114)1. "Als Marianne Weber 1921 WG herausgab, bezeichnete sie die Arbeit im ersten Satz ihrer Vorrede als das nachgelassene Hauptwerk Webers" (Tenbruck, 1975. 664).

' Auszug aus einem Gespräch zwischen Immanuel Birnbaum (B) und H. J. Helle (H), 1982 in München (Transskript einer Tonbandaufzeichnung): B: Ah, ja. Ich habe selber herausgegeben: "Wissenschaft als Beruf' und "Politik als Beruf'. Er (Max Weber) hat ja beides nicht geschrieben, sondern ich habe es mitschreiben lassen und ihn dann gezwungen, der Publizierung zuzustimmen. Die erste Auflage von "Wissenschaft als Beruf' ist mit einem Nachwort von mir erschienen, (weiter nächste Seite)

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Es lag nahe, daß man der Witwe des großen Toten glaubte: und so geschah es. Vor allem Johannes Winckelmann hat dazu beigetragen, daß dieser Glaube über Jahrzehnte hinweg nicht erschüttert wurde. Wir wissen aber heute, daß das Buch "Wirtschaft und Gesellschaft" von Weber selbst so nie hat veröffentlicht werden sollen. Geplant war vielmehr ein "Grundriß der Sozialökonomik", bei dem Max Weber als Herausgeber nur einige Beiträge selbst schreiben und eine große Zahl anderer von anderen Autoren schreiben lassen wollte Der im Archiv des Siebeck-Verlags von Friedrich Tenbruck entdeckte Stoffverteilungsplan läßt erkennen, welche Beiträge Max Weber von vornherein selbst hat schreiben wollen und welche er nur notgedrungen später übernommen hat, weil sich keine anderen Autoren fanden. Schon die Kenntnis dieser Unterscheidung ist offenkundig von großer Bedeutung, um "Wirtschaft und Gesellschaft" verstehen zu können (Küenzlen, 1980: 53). Diese Erkenntnisse haben es mehr als fraglich werden lassen, in "Wirtschaft und Gesellschaft" Max Webers geistiges Vermächtnis und hinterlassenes Hauptwerk zu sehen. Manche Interpreten haben die Undurchschaubarkeit und fehlende Einheitlichkeit dieses Buches damit erklärt, daß Max Weber es nicht hat vollenden können, oder damit, daß er eben eine ent-

H: Sie haben es stenographieren lassen? B: Ja. H: Ja, und aus dem Stenogramm ist es ... B:... nachher übertragen worden und von ihm nochmal durchgesehen worden. H: Ah, ja. Aber hätten Sie diese Initiative nicht ergriffen, wäre es nicht erhalten. B: Er wollte "Politik als Beruf absolut nicht machen. "Ich bin kein Politiker, ich bin ein Gescheiterter der Demokratischen Partei" (sagte Max Weber), und erst als ich ihm drohte, dann würden manche Leute den Eisler holen, dann sagter er "dann komme schon ich". H: "Dann schon lieber ich"? In welcher Eigenschaft haben Sie damals diese Dinge veranlaßt? B: Ich war damals in der Freistudentischen Organisation. Ich war damals schon nicht mehr Student, aber Freistudentischer Bund, und es war eine geplante Vorlesungsreihe, in der Max Weber diese beiden Vorlesungen halten sollte und gehalten hat, in der Kerschensteiner sprach über Erziehung als Beruf, der Jesuit Lippert - ich selber bin gar nicht katholisch - sprach über Priester als Beruf oder Religion als Beruf, usw. H: Und man hat eine Zeit lang herumgerätselt, wann das war. Die neuesten Daten, die ich gelesen habe, was die Politik anbelangt, Ende Januar 1919? B: Ganz richtig. H: Und das Andere war schon 1917? B: Richtig. H: Das sind also die richtigen Daten. B: Ja, das ist ganz richtig. H: Marianne Weber hat das, glaube ich, etwas ungenau ... B: Ja, ja, die Weber hat vieles ungenau gesagt: Sie war eine sehr schlechte Biographin. Sie hat ihren Mann verherrlicht und propagiert, aber nicht sehr gut gekannt. Das Gespräch wurde am Mittwoch, den 3. März 1982, zwischen 15 und 16 Uhr in München in der Westendstraße 174, 6. Stock, Zimmer 618 geführt. Die verabredete Zusendung eines Transskripts des Gesprächs unterblieb, da Immanuel Birnbaum bald darauf starb.

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sprechend geniale und vielseitige Persönlichkeit gewesen sei. Solche Formulierungen sind offenkundig Notlösungen, mit denen sich die Deutung des Werkes Max Webers für die Sozialwissenschaften der Gegenwart nicht zufriedengeben kann.

f) Protestantismus und Kapitalismus Als Volkswirt hatte Max Weber sich selbstverständlich mit Fragen der Wirtschaft auseinanderzusetzen. Er hat sich dabei vor allem für die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen sozialwissenschaftlichen Arbeitens interessiert. Wir haben schon gehört, daß Max Weber auch Historiker und vor allem Sozialhistoriker gewesen ist. Seine besondere Leistung liegt darin, daß er die Kulturen mit den dazugehörigen Religionen ganz unterschiedlicher Völker und Epochen genauestens studiert hat. Seine verschiedenen Arbeiten zur Religionssoziologie liegen uns heute als zwei voneinander getrennte Veröffentlichungen vor und zwar einmal in dem dreibändigen Werk mit dem Titel "Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie" und sodann zweitens im fünften Kapitel des nachgelassenen Werkes "Wirtschaft und Gesellschaft". Der erste Band der "Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie" enthält den Nachdruck des berühmten Zeitschriftenartikels "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus", von 1904 und 1905. Die Abschnitte tragen die Bezeichnungen: I. Das Problem 1. Konfession und soziale Schichtung 2. Der 'Geist' des Kapitalismus 3. Luthers Berufskonzeption. Aufgabe der Untersuchung II. Die Berufsethik des asketischen Protestantismus 1. Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese 2. Askese und kapitalistischer Geist Im Jahre 1906 veröffentlichte Max Weber in der Osternummer der Frankfürter Zeitung einen Aufsatz mit ganz ähnlichem Titel. Er gab ihm nun die Überschrift: "Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus". Eine neue und erweiterte Fassung dieses Aufsatzes ist ebenfalls im ersten Band der "Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie" abgedruckt. Die jetzt übliche Fassung, in der der erste Band dieser Aufsatzsammlung erscheint, enthält als Vorbemerkung des Autors vor dem Artikel von 1904 "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" einige wichtige Aussagen Max Webers, die er aber eben nicht schon 1904 schrieb, sondern die zu den letzten Texten gehören, die Max Weber vor seinem Tode

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zu Papier gebracht hat. In dieser Vorbemerkung stellt Max Weber die Frage, woran es liegt, daß eine Reihe von Erscheinungen, die die Kultur und die Wissenschaft betreffen, nur im Abendland entstanden sind. Zu diesen Erscheinungen gehört vor allem der Kapitalismus, von dem er schreibt, er sei die "schicksalsvollste(n) Macht unsres modernen Lebens" (Weber, 1920: 4). Zur begrifflichen Bestimmung von Kapitalismus sagt Max Weber, ebenfalls in diesen Vorbemerkungen: "'Erwerbsgier', 'Streben nach Gewinn', nach Geldgewinn, nach möglichst hohem Geldgewinn hat an sich mit Kapitalismus gar nichts zu schaffen... Es gehört in die kulturgeschichtliche Kinderstube, daß man diese naive Begriffsbestimmung ein fur allemal aufgibt. Schrankenloseste Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen 'Geist'. Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes. Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn, im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn: nach 'Rentabilität'" (ebd.). Max Weber kommt es also darauf an, den Kapitalismus als eine Besonderheit des Abendlandes zu bestimmen, und möglichst auch zu erklären, wie es zu seiner Entstehung hat kommen können. Dabei wendet Max Weber sich gegen den ökonomischen Determinismus

als Erklä-

rung für die Entstehung des erwerbswirtschaftlichen Systems, d.h. er will die Herausbildung der kapitalistischen Kultur nicht als unvermeidliche Konsequenz aus bestimmten wirtschaftlichen Gegebenheiten abgeleitet wissen, sondern zum marxistischen

Erklärungsschema eine

Alternative entwickeln. Um das zu erreichen, geht er von dem Vergleich zwischen katholischen und kalvinistisch-protestantischen Gesellschaften aus. Ihm fällt auf, daß die Industrialisierung in den kalvinistischen ging als in den katholischen.

Ländern viel rascher voran-

Diese Beobachtung fuhrt ihn zu der allgemeineren Fragestel-

lung nach dem Verhältnis zwischen religiös begründeter Wirtschaftsethik einerseits und wirtschaftlichem Handeln andererseits. Er hat eben darum neben dem hier kurz zu skizzierenden Verhältnis zwischen protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist auch die anderen Weltreligionen und die ihnen entsprechende Wirtschaftsethik untersucht. Am Kalvinismus in seiner ursprünglichen Fassung interessiert Max Weber vor allem die Konzeption der Prädestination.

Danach ist es für den Menschen bei seiner Geburt schon

vorherbestimmt, ob er bei seinem Tode zu den Geretteten oder zu den Verdammten gehören wird. Verständlicherweise hat jeder einzelne Mensch ein großes Interesse daran, herauszufinden, ob ihm nach seinem Tode das ewige Heil oder die ewige Verdammnis beschieden sei. Die Möglichkeit, das in Erfahrung zu bringen, liegt für den gläubigen kalvinistischen Chris-

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ten darin, daß er in seinem Beruf möglichst rastlos arbeitet, um an dem Erfolg seiner Berufsarbeit ablesen zu können, ob Gott ihm seine Unterstützung gewährt oder nicht. Wer in seinem Beruf, insbesondere in seiner Tätigkeit als industrieller Unternehmer erfolgreich ist, kann daraus schließen, daß Gott zu ihm hält, daß Gott ihm schon hier auf Erden den diesseitigen Erfolg beschert, und damit zu erkennen gibt, daß er ihn nach seinem Tode fur den Himmel ausersehen hat. Da sich im Kapitalismus beruflicher Erfolg in der Form von angesammeltem Wohlstand manifestiert, wird Reichtum, der im traditionellen Christentum also bei Katholiken und Orthodoxen - eher als heilsgefährdend angesehen wurde, nun radikal umgedeutet, wird gleichsam zu einem Mitgliedsabzeichen im Club der fur den Himmel Erwählten. Das durch diese Interpretation verstehbare Motiv zu rastloser Berufsarbeit ist allerdings gekoppelt mit der Verpflichtung zu Askese und Sparsamkeit. Der erfolgreiche Industrielle hat also nicht das Recht, den erwirtschafteten Gewinn dem Konsum zuzuführen und etwa ein großzügiges luxuriöses Leben zu fuhren. Vielmehr ist er durch die kalvinistischprotestantische Ethik dazu verpflichtet, asketisch sparsam zu leben und den von ihm erwirtschafteten Gewinn neu zu investieren. So eben entsteht kapitalistisches Wirtschaften, denn Kapitale könnten nicht akkumuliert werden ohne die Investitionsbereitschaft der Unternehmer. Daß Max Weber, wie wir sehen, in seiner Theorie Askese und Sparsamkeit betont, anstatt von schonungsloser Ausbeutung zu reden, hat ihm die Feindschaft marxistischer Theoretiker (z.B. Herbert Marcuse 1964 auf dem Max-Weber-Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Heidelberg) eingetragen. Diese beiden Elemente, einmal das große Engagement an die berufliche Tätigkeit des Unternehmers, sodann das Verbot, den erwirtschafteten Gewinn anders als für Neuinvestitionen zu verwenden, stellen nach der Überzeugung Max Webers die wichtigsten Voraussetzungen für die Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftssystems dar. Der Askeseverpflichtung entspricht die empirische Tatsache, daß in der frühen Phase des Kapitalismus in den USA ein Millionär durchaus als Geizhals auftrat, der mit der Verwendung seines Reichtums zu Konsumzwecken extrem zurückhaltend war. An Max Webers berühmter Arbeit über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus und die von ihm darin vertretene These hat sich eine Vielzahl von Publikationen angeschlossen. Die Flut der Sekundärliteratur ist kaum noch überschaubar. Dabei ist freilich Max Weber vielfach auch mißverstanden worden. Seine Kritiker haben darauf hingewiesen, daß die protestantischen Denker, auf die Max Weber sich bezieht, niemals vorgehabt hätten, durch ihre Lehren das kapitalistische Wirtschaftssystem in Gang zu setzen oder zu fördern.

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Das mag zutreffen; tatsächlich hat auch Weber selbst niemals behauptet, daß etwa das Denken der Kalvinisten diese Absicht verfolgt hätte. Im Gegenteil wußte Weber sehr wohl, daß die Intentionen ganz andere gewesen sein mögen, daß die Konsequenzen sich jedoch unabhängig von den Absichten der handelnden Subjekte eingestellt haben. Genau das zu verdeutlichen war eines der Ziele Max Webers. So zeigt uns seine Untersuchung über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus ein Bild von der Ironie menschlichen Tuns. Die Geschichte wird uns dargestellt nicht als Verwirklichung der Idee Einzelner oder der Anstrengungen von historisch bedeutsamen Personen und einflußreichen Gruppen, sondern Geschichte stellt sich hier dar als das Ergebnis von schwer überschaubaren Zusammenhängen, das häufig durchaus nicht übereinstimmt mit dem, was die handelnden Subjekte beabsichtigt hatten. Keineswegs soll damit etwa gesagt werden, daß Ideen unbedeutend wären, keineswegs will Max Weber dem materialistischen Denken und damit dem Denken eines ökonomischen Determinismus zustimmen. Ideen sind wichtig. Davon geht auch Max Weber in seiner Soziologie aus. Nur ist das Ergebnis des Handelns, das an solchen Ideen sich orientiert, und das man nicht verstehen kann, ohne die Ideen zur Kenntnis zu nehmen, die ihm zugrunde gelegen haben, häufig eben nicht in seinen Ergebnissen mit dem in Einklang zu bringen, was von dem handelnden Subjekt beabsichtigt war. Wir wenden uns wieder dem Text von Webers Protestantismusstudie zu und gehen von den Vorbemerkungen des Autors über zu dem Aufsatz 1904/1905 selbst. Zu Beginn dieses Aufsatzes "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" stellt Max Weber die Frage nach den Ursachen für die Unterschiede zwischen evangelischen und katholischen Bevölkerungsgruppen. Er spricht von dem "ganz vorwiegend protestantischen Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums sowohl, wie der oberen gelernten Schichten der Arbeiterschaft, namentlich aber des höheren technisch oder kaufmännisch vorgebildeten Personals der modernen Unternehmungen" (Weber, 1920: 18). Max Weber ist sich des Umstandes wohl bewußt, daß diese Parallelität zwischen a) an ökonomischen Maßstäben gemessener sozialer Schichtung und b) Konfessionszugehörigkeit alte historische Ursprünge hat. In der historischen Betrachtung stellt sich ihm die Frage, inwieweit "die konfessionelle Zugehörigkeit nicht als Ursache ökonomischer Erscheinungen, sondern, bis zu einem gewissen Grade, als Folge von solchen erscheint" (ebd.: 19). "Welchen Grund hatte diese besonders starke Prädisposition der ökonomisch entwickeltsten Gebiete fur eine kirchliche Revolution?" (ebd.: 19f). Weber meint, daß "die Abstreifung des ökonomischen Traditionalismus" ein Moment sei, "welches die Neigung zum Zweifel auch

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an der religiösen Tradition und zur Auflehnung gegen die traditionellen Autoritäten überhaupt ganz wesentlich unterstützen mußte" (ebd.: 20). Diese Überlegung geht also davon aus, daß sich die Wirtschaftsethik von dem traditionell ethischen Modell des Katholizismus abwenden mußte, um ein Handlungsmuster erfolgreichen Wirtschaftens im Sinne des modernen Kapitalismus möglich zu machen. Die dadurch entstehende Skepsis gegenüber der Wirtschaftsethik der traditionell katholischen Religion, nach der ja ein Kamel leichter durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel gelangen könne, übertrug sich nach Meinung Webers auf den Glauben insgesamt und die Kirche selbst. Max Weber prüft im Verlaufe seines brilliant dialogisch niedergeschriebenen Textes alle Argumente fur und wider die verschiedenen Hypothesen, die einen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Wirtschaftsethik und Religionszugehörigkeit erklären könnten. Dabei zeigt sich, daß die Dinge viel komplizierter sind, als man auf Anhieb bei oberflächlicher Betrachtung meinen könnte: "Soll also überhaupt eine innere Verwandtschaft bestimmter Ausprägungen des altprotestantischen Geistes und moderner kapitalistischer Kultur gefunden werden, so müssen wir wohl oder übel versuchen, sie nicht in dessen (angeblicher) mehr oder minder materialistischer oder doch anti-asketischer 'Weltfreude', sondern vielmehr in seinen rein religiösen Zügen zu suchen" (ebd.: 29). Um nun aber die Absichten Max Webers in seiner religionssoziologischen Erörterung des Kapitalismus nicht mißzuverstehen, muß man sich klarmachen, was er mit "Geist des Kapitalismus" meint. Um das zu klären zitiert Weber Benjamin Franklin. Es ist interessant, daß Weber auf Franklin zurückgreift und nicht auf Calvin selbst. Eine Quelle aus Calvins eigener Hand, ein Brief zur Frage des Zinsnehmens, ist Max Weber wohl noch nicht bekannt gewesen. In diesem Brief setzt Calvin sich mit der Aussage im Buch Deuteronomium des Alten Testaments auseinander, in der das Gesetz des alten Bundes ausgesprochen wird, nach dem der Jude von seinem Bruder und Stammesgenossen keine Zinsen nehmen dürfe, jedoch von einem Menschen der nicht Angehöriger

des auserwählten Volkes ist, sehr wohl Zinsen neh-

men könne. Dies zweifache Recht, das sich auf zweierlei Adressaten bezieht und das das Handeln der diesem Recht unterworfenen Menschen jeweils anders ordnet, je nachdem ob sie bei ihrem Handeln mit einem Stammesbruder oder mit einem Fremden interagieren, läßt sich mit den christlichen Grundsätzen der Gleichheit aller Menschen vor Gott schwerlich in Einklang bringen. Calvin stand als Christ folglich vor dem Dilemma, das differenzierte Gebot, das das Zinsnehmen gegenüber dem Bruder untersagte, gegenüber dem Fremden jedoch gestattete, dahingehend zu interpretieren, daß Zinsnehmen entweder generell verboten oder generell erlaubt sei. Calvin entschloß sich anzunehmen, daß Zinsnehmen in vernünftigen Grenzen gene-

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rell erlaubt sei. Zinsnehmen war fortan nicht mehr mit Wucher schlechthin identisch, sondern nur eine extreme Form besonders hoher Zinsen wurde als Wucher verstanden. Max Weber aber kannte diese Aussage Calvins offenbar nicht. Er zitiert, wie erwähnt, Benjamin Franklin. Dazu übersetzt er einen Text, den Benjamin Franklin als Anweisung an das Verhalten eines jungen Mannes geschrieben hat. In Max Webers Übersetzung heißt es dort: "Bedenke, daß die Zeit Geld ist; wer täglich zehn Schillinge durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag spazieren geht, oder auf seinem Zimmer faulenzt, der darf, auch wenn er nur sechs Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat neben dem noch fünf Schillinge ausgegeben oder vielmehr weggeworfen. - Bedenke, daß Kredit Geld ist. Läßt jemand sein Geld, nachdem es zahlbar ist, bei mir stehen, so schenkt er mir die" Zinsen, "oder soviel als ich während dieser Zeit damit anfangen kann... Bedenke, daß Geld von einer zeugungskräftigen

und fruchtbaren

Natur ist. Geld kann Geld erzeugen

und die Sprößlinge können noch mehr erzeugen und so fort" (Weber, 1920: 31). Um das Besondere des protestantisch kapitalistischen Geistes herauszuarbeiten, vergleicht Max Weber die Äußerungen Benjamin Franklins mit Jakob Fugger. Als Fugger von einem anderen Kaufmann daraufhingewiesen wurde, er sei doch inzwischen reich genug, um sich zur Ruhe zu setzen, soll Fugger geantwortet haben, daß eine solche Einstellung kleinmütig sei, und daß er Gewinn machen wolle solange er noch könne. Max Weber sieht den Unterschied zwischen den Einstellungen Fuggers einerseits und Franklins andererseits darin, daß es sich bei Fugger um kaufmännischen Wagemut und um eine persönlich und sittlich indifferente Neigung zum Geldverdienen nach Art eines reizvollen Spieles handelt, während bei Franklin die Einstellung mit tödlichem Ernst verbunden ist und "den Charakter einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung" annimmt (ebd.: 33). Damit wird in Umrissen deutlich, was Max Weber meint, wenn er vom 'Geist des Kapitalismus' spricht. Freilich hat er dabei den modernen

Kapitalismus vor Augen. Weber sieht in

dem Puritaner den Träger jenes religiösen Bewußtseins, das als kalvinistisch-protestantische Ethik seiner berühmt gewordenen These nach den Anstoß zur Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsform gegeben hat. Weber stellt den Prozeß der Umwertung der traditionell christlichen Einstellung zur Arbeit und zum Reichtum in ein puritanisches Verständnis im Sinne Calvins so dar. "Nicht Arbeit an sich, sondern rationale Berufsarbeit ist eben das von Gott Verlangte. Auf diesem methodischen Charakter der Berufsaskese liegt bei der puritanischen Berufsidee stets der Nachdruck, nicht, wie bei Luther, auf dem Sichbescheiden mit dem einmal von Gott zugemessenen Los" (ebd.: 174f). Nicht der lutherische

Protestantismus also, sondern der kalvinistische

schuf die bewußt-

seinsmäßigen Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus aus rastloser Berufsar-

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beit in Verbindung mit Askese und Investitions^Ao/. Dazu war vor allem eine Überwindung der traditionell christlichen Verdammung des Reichtums wichtig. Solange im Christentum die Meinung vorherrschte, daß Reichtum dem Seelenheil im Wege stehe, weil leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr denn ein Reicher in den Himmel käme, war die Entstehung von Kapitalismus kaum denkbar. Für den Puritaner dagegen ist "Reichtum... eben nur als Versuchung zu faulem Ausruhen und sündlichem Lebensgenuß bedenklich und das Streben danach nur dann, wenn es geschieht, um später sorglos und lustig leben zu können. Als Ausübung der Berufspflicht aber ist es sittlich nicht nur gestattet, sondern geradezu geboten" (ebd.: 176). Nach diesen Worten Max Webers wurde das Streben nach Reichtum von dem Puritaner von einer sündhaften der Werkheiligkeit

zu einer tugendhaften

Neigung uminterpretiert. Hier hat der Ausdruck von

seine Berechtigung. Damit, also mit dieser Heiligung

von rastloser Be-

rufsarbeit und Anhäufung von Produktionsmitteleigentum, war - so meint Max Weber - die geistige Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus gegeben. Dieser geistigen Entwicklung entspricht nun bei Weber eine strukturelle. Wir haben zu dem Gesellschaftsbegriff, den wir hier im Zusammenhang mit den Arbeiten von Saint-Simon kennenlernten, die Vorstellung erwähnt, daß ein soziales Gebilde aus vielen Menschen, die sich zu einer Gruppierung oder einem Großkollektiv zusammenschließen, gleichsam den sozialen Körper darstellt, zu dem eine Seele nach Art eines religiösen oder anders ideengeprägten Bewußtseins

gehört. In Fortsetzung dieser Betrachtungsweise findet man nun auch bei Max

Weber die Fragestellung, welche spezifische

Gestalt sozialer Beziehungen, oder wie wir zu

sagen uns angewöhnt haben, welche Sozialstruktur denn dem kapitalistischen Geist entspricht. Bei der Suche nach diesem strukturellen Korrelat gelangt Max Weber zu dem Gebildetyp der protestantischen Sekte. Er unterscheidet Kirche und Sekte als zwei voneinander verschiedene Strukturprinzipien der Gesellschaft und zwar so: "'Kirche' als Gnadenanstalt, oder 'Sekte', als Verein der religiös Qualifizierten..." (Weber, 1920: 221). Während die Kirche unter einer hierarchischen Führung alle Menschen

erfassen will und dabei in Kauf nimmt,

eine Kirche auch der Sünder zu sein, versteht sich die Sekte als eine Elite der Erwählten,

die

selbst als Gemeinschaft persönlich bekannter Mitglieder die schwere Verantwortung für ihre eigene Reinhaltung trägt. So übt die Sekte eine unerbittlich scharfe Kontrolle über die Lebensführung ihrer Mitglieder aus. Sie treibt den einzelnen Puritaner zu rastloser Berufsarbeit an, denn Arbeit ist der sicherste Schutz vor Sündhaftigkeit, Reichtum aber ist der Erweis, rastlos gearbeitet und also nicht gesündigt zu haben. Das bestätigt das Sprichwort: Müßiggang ist aller Laster Anfang.

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Die von den Puritanern neu geschaffene kalvinistisch-protestantische Ethik bringt demnach außer gewissen, den Kapitalismus begünstigenden Handlungsformen auch die Strukturform der Sekte hervor, die es im Gegensatz zur Kirche möglich macht, zwischen den Sektenmitgliedern als den erwählten Brüdern und den übrigen Menschen als den sündigen Fremden zu unterscheiden. Damit ist durch den Wechsel von Kirche zu Sekte als religiösem Strukturprinzip interessanterweise wieder die Voraussetzung fur ein doppeltes Recht neu entstanden, die Voraussetzung also dafür, daß im Umgang mit den Seklenbrüdern andere Regeln Gültigkeit haben können als für den Umgang mit den Nichtmitgliedern der eigenen Sekte. Das im Deuteronomium, also im 5. Buch Mose des Alten Testaments angedeutete Prinzip der exklusiven Werthaltung, die dem Mitglied sowohl sein Sendungsbewußtsein als auch seine Bevorrechtigung im wirtschaftlichen Umgang garantiert, ist durch die Sektengestalt des Christentums wieder möglich geworden. Auf diesen Umstand hat auch Werner Sombart hingewiesen in seinem Buch "Die Juden und das Wirtschaftsleben" (Sombart, 1911).

g) Das antike Judentum Mit der mosaischen Religion des jüdischen Volkes beschäftigt Max Weber sich innerhalb seiner Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen unter der Überschrift "Das antike Judentum". Sein Interesse an der Wirtschaftsethik verschiedener Kulturen legt es für ihn nahe, die Konfrontation zweier Kulturen zur Zeit des antiken Judentums auch unter dem Gesichtspunkt der Güterproduktion zu sehen. (Weber, 1920 Bd.III: 49ff.) So kommt es, daß er Viehzüchter und Bauern einander gegenüberstellt: "Abraham hält in der Sage außer Schafen auch Kamele und trinkt keinen Wein, sondern bewirtet die drei Männer der göttlichen Epiphanie mit Milch... Jakob gilt zwar, im Gegensatz zu dem Bauern Esau, wesentlich als in Zelten wohnender Viehzüchter, wird aber als ger in Sichern seßhaft und kauft Land" (ebd.: 49). Am Schluß seines Lebens will er als rituell Gemiedener gelten, um "ohne Vermischung mit den Ägyptern leben zu können. Er betreibt Ackerbau und bedarf Getreide zur Nahrung. Allen Erzvätern wird Rinderbesitz zugeschrieben" (ebd.). Doch daneben interessiert sich Weber eben für die religiösen Besonderheiten, die mit Ackerbau einerseits oder Viehzucht andererseits einhergehen. Er stellt den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs als unbürokratisch dar und schreibt über den Gott der Viehzüchter: "Nachdrücklich weist er sein Volk darauf hin, daß in Israel nicht wie in Aegypten der Ackerertrag durch die Bewässerung bedingt werde - also, heißt das, ein Produkt der bürokratischen Verwaltung des irdischen Königs und der eigenen

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Arbeit des Bauern sei -, sondern durch den von ihm, Jahwe, nach seiner freien Gnade gespendeten Regen" (ebd.: 139). Zur Religion der seßhaften Landwirtschaft gehört der durch König und Bürokratie wirkende, zum nomadisierenden Viehzüchter der unmittelbar aus den Wolken regierende Gott, der sich auf keinen irdischen Verwaltungsstab zu stützen braucht. Eine weitere Gegenüberstellung entwickelt Weber zwischen dem im Tempel ansässigen Stadt- oder Ortsgott, den sein Verehrer außerhalb dieser einen Stadt nicht antreffen oder verehren konnte einerseits (ebd.: 143), und dem allgegenwärtigen Gott "der halbnomadischen Viehzüchterstämme... Sie wissen recht gut, daß Jahwe auch von nichtisraelitischen Stämmen verehrt wird..." (ebd.: 144). Außerdem ist es für Krieger und Viehzüchter charakteristisch, daß sie ihr Heiligtum mit sich führen, wie im Katholizismus in der Fronleichnamsprozession, wodurch die Unabhängigkeit des Kultes von einem "seßhaften" Stadtheiligtum erreicht wird. Doch die eigentliche Neuerung und bedeutsame Kulturleistung des Abrahamglaubens ist für Max Weber weniger die Universalisierung und Mobilisierung des Heiligen, sondern die Abschaffung des Orgiasmus, auf dessen sexuelle Komponente Weber ausführlich hinweist: "Die Baalkulte, wie die meisten alten Ackerbaukulte, waren und blieben bis zuletzt orgiastisch,

und zwar insbesondere alkohol- und sexwa/orgiastisch. Die rituelle Begattung

auf dem Acker als homöopathischer Fruchtbarkeitszauber, die alkoholische und orchestische Orgie mit der unvermeidlich sich anschließenden Sexualpromiskuität, abgemildert später zu Opfermahl, Singtanz und Hierodulenprostitution, sind mit voller Sicherheit als ursprüngliche Bestandteile auch der israelitischen Ackerbaukulte nachzuweisen. Die Reste liegen zutage. Der 'Tanz um das goldene Kalb', gegen welchen nach der Tradition Mose, die 'Hurerei', gegen welche die Propheten eifern..." (ebd.: 202). An die Stelle der Sexualorgiastik der Bauern, setzen die Patriarchen als Viehzüchter und Hirten das Verbot des Ehebruchs: "Der Ehebruch des Dekalogs war Verletzung der Ehe eines fremden Mannes, nicht der Bruch der eigenen Ehe. Den Geschlechtsverkehr des Mannes außerhalb der Ehe zu verpönen hat erst die spätere nachexilische Zeit begonnen..." (ebd.: 204). Die funktionale Bedeutung dieser Norm ist offenkundig: Es kam den Repräsentanten der mosaischen Kultur darauf an, für die eindeutige Bestimmung von Vaterschaft die biologischen Voraussetzungen zu schaffen. Darum durften die Frauen zum Geschlechtsverkehr nur mit einem einzigen Mann zugelassen werden, der dann im Falle der Schwangerschaft als Vater feststand. Polygynie war, wie die Bibel berichtet, bei den Patriarchen üblich. Sie stand nicht im Gegensatz zum Prinzip der Vaterschaft und der

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patrilinearen Abstammungsordnung. Dem entsprach die Vererbung des Viehbesitzes in männlicher Linie vom Vater auf den Sohn.

h) Konfuzianismus und Taoismus Die Durchsetzung der patrilinearen Abstammungsordnung kennzeichnet auch die Kulturen Nordostasiens. Max Weber untersucht als die Religionen Chinas den Konfuzianismus und den Taoismus (Weber, 1920 Bd. I: 276ff.). Wie bei seinen anderen Arbeiten zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen auch, geht es ihm im Falle Chinas um die "praktischen Antriebe zum Handeln" (ebd.: 238). Er unterstellt, daß neben anderen Faktoren

"die religiöse

Bestimmtheit

der Lebensführung"

(ebd.)

und

besonders

die

"Einstellung des Menschen zur Welt" (ebd.) das Handeln beeinflussen. Er interessiert sich in dieser Absicht für die dogmatischen Inhalte als das, was religiös für wahr und für wirklich gehalten wurde. Außerdem interessiert er sich für die führenden sozialen Schichten, die durch ihre Überzeugung und ihre Lebensführung der ganzen Bevölkerung die Richtung weisen. Das führt beim Konfuzianismus Chinas zur Bildungsschicht der Literaten und zu der von ihnen entwickelte Standesethik (ebd.: 239). Da man je nach dem Verständnis von Religion den Konfuzianismus dazu rechnen kann oder nicht, - im letzteren Falle erscheint er als ein rein weltliches ethisches System - müssen wir uns Max Webers Kriterium für das Religiöse ansehen: Er gesteht zu, daß der Übergang fließend ist, schreibt aber dann: "Es gibt keinerlei Scheidung von 'religiösen' und 'profanen' Zuständlichkeiten anders als durch die /Iwjtteralltäglichkeit der ersteren" (ebd.: 250). So gesehen handelt es sich beim Konfuzianismus um eine Religion. Als außeralltäglich betrachtet Max Weber die Gottesidee, aber nicht sie allein. Sie ist in ihrer jeweils spezifischen Form kulturprägend. Weber stellt dem "zürnenden, vergebenden, liebenden, fordernden" (ebd.: 258) Gott der iranischen, vorderasiatischen und okzidentalen Religionen das höchste Wesen Indiens und Chinas gegenüber: Es ist "nur kontemplativ, als Zuständlichkeit, zugänglich(en)" (ebd.). Der Vergleich zwischen dem Okzident, den Weber ja wegen der weitgehenden Rationalisierung der Lebensführung für weltweit einzigartig hält, einerseits, und China speziell oder - wie wir wohl unter Einschluß von Korea und Japan sagen können - Nordostasien andererseits, läuft nun etwa auf das Folgende hinaus:

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Die Irrationalismen der Gottesidee, die zunächst Zorn, Liebe und andere unzuverlässige und schwer voraussagbare Neigungen bei dem höchsten Wesen einschlossen, mußten aus dem Alltagshandeln zurückgenommen werden können, um ein stabiles Staatswesen religiös abstützen zu können. Sonst könnte jede Form des launenhaften Despotismus mit der Berufung auf eine ähnlich launische Gottheit legitimiert werden. Im Okzident wird dieser Effekt angestrebt - und mit Einschränkungen auch erreicht - durch die Entzauberung des Diesseits und die Verbannung des personal irrational Göttlichen ins Jenseits. In Nordostasien dagegen bleibt das Göttliche im Diesseits anwesend, wird aber als der "Himmel", dessen Sohn der Kaiser dem Glauben nach ist, immer unpersönlicher. Der Kaiser opfert "dem Himmel", doch die empfangende Macht, an die das Opfer sich richtet, ist keine von Emotionen getriebene Gottheit, sie ist das Prinzip von Ordnung und Harmonie. Bei Ordnung und Harmonie handelt es sich nicht um Personen, die geliebt, gefürchtet und denen nachgefolgt werden kann, sondern um Zuständlichkeiten,

in die das Diesseits, in

die also die Natur ebenso wie der Staat und der darin lebende Mensch versetzt werden sollen. Wenn in Nordostasien die Polarität heilig - profan nicht durch die Unterscheidung von Gegenständen,

sondern von Zuständen herbeigeführt wird, ordnet sich auch die Zweitei-

lung in Diesseits und Jenseits anders als im Okzident. Im Abendland, dessen Tendenz zu fortlaufender Rationalisierung Max Weber kritisch herausarbeitet, wird das Diesseits für den vernünftigen Verstand immer durchsichtiger, weil nach dem Glauben Israels das auserwählte Volk - nach der Prädestinationslehre Calvins der zum Heil vorherbestimmte Puritaner - geheiligt, die anderen Menschen dagegen verworfen sind. Es sind also konkrete Personen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Volk Israel oder ihrer Prädestination das Heiligsein unverlierbar in sich tragen, unabhängig von der Zuständlichkeit, in der sie sich jeweils befinden. Sie können daher kontinuierlich als die Pioniere und Neuerer der Gesellschaft die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben. Das nordostasiatische Weltbild kennt ein Diesseits und ein Jenseits, unterschieden als empirische Welt der Alltagserfahrung einerseits und Welt des Außeralltäglichen andererseits. Doch im Diesseits wie im Jenseits kann ein Zustand der Harmonie oder einer der Unordnung herrschen! Das sogenannte Böse, wie der Titel eines Buches von Konrad Lorenz formuliert, ist nicht so leicht lokalisierbar als Merkmal von konkreten Personen und Sachen, es ist ein Zustand, in den die Natur und der Staat geraten können, wenn rituelle Fehler gemacht werden. Das muß man sich bei einem evolutionären Konzept von nordostasiatischer Religion wohl in einer sehr frühen Phase als Glaube an die Harmonie in der

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Natur vorstellen, die der Jäger durch das Erlegen von Tieren stört. Der Religionsdiener der Lokalgruppe vollzog periodisch das Ritual zur Wiederherstellung von Harmonie und Ordnung, was ein friedliches Einvernehmen mit den Mächten des Jenseits - also auch mit den Geistern der getöteten Tiere und der verstorbenen Menschen - einschloß. Das Anliegen, die Harmonie der Natur nicht zu stören, verhinderte oder hemmte doch mindestens die Entstehung des Kapitalismus. Max Weber meint aufgrund seiner Kenntnis der sinologischen Forschungsergebnisse, die ihm vor einem Menschenalter vorlagen, daß sich die kaiserliche Macht als ein - die zu Streit neigenden Fürsten befriedendes - Ordnungsprinzip herausbildete. Der Kaiser war nicht primär ein Herrscher, der aufgrund seiner überlegenen militärischen Macht die konkurrierenden Regionalfürsten besiegen und unterwerfen konnte. Er war für sie vor allem Garant eines Zustandes des Friedens und der Harmonie, und er garantierte das nicht durch weltliche, d.h. militärische Aktionen, sondern durch rituelles Handeln. So "wurde das Opfer für den Himmel, als dessen 'Sohn' der Kaiser galt, dessen Monopol; die Fürsten opferten den Geistern des Landes und der Ahnen, die Hausväter den Ahnengeistern des Geschlechts" (ebd.: 300). Als Inhaber des rituellen Monopols war der Kaiser von China in religionssoziologischer Sicht dem Papst des Abendlandes vergleichbar. Doch ein solcher Vergleich würde dem Herrscher Chinas als Pontifex und Zelebrant des Reichsrituals wohl eine stärkere Stellung einräumen müssen als der Papst sie je gehabt hat. Der Papst war und ist ja seinem Selbstverständnis nach als Bischof von Rom einer von vielen Bischöfen des Weltkreises, und das Ritual, das er zelebriert, ist im Wesentlichen die Messe, die jeder Pfarrer feiert. Der Kaiser jedoch vollzog einen Ritus, den nur er vollziehen konnte. Er war, wie das chinesische Schriftzeichen für "König" anschaulich macht, der Mittler zwischen Himmel und Erde, der Pontifex im wörtlichen Sinne, jener, der die Brücke zum Himmel baut. Die für einen Religionsdiener überaus erhabene Stellung des Kaisers setzte voraus, daß er von den Literaten als einer Schicht religiöser "Virtuosen" umgeben war, die seine einzigartige Bedeutung durch rituelle Affirmation stützten. So wurde sein kaiserlich geformtes Leben dem Bereich des Außeralltäglichen zugerechnet, und der lange Weg durch die vielen Tempeltore bis zu ihm selbst mußte bei dem, der den Kaiser oder auch nur einen seiner hohen Beamten besuchen durfte, den Eindruck einer Jenseitsreise fördern. Das "Verbotensein" der "Verbotenen Stadt", wie die alte Kaiserresidenz in Beijing genannt wird, drückte die tiefe Kluft aus, welche "die Lebenssfuhrung der 'Laien' von jener der Virtuosen-Gemeinschaft" (ebd.: 262) schied. "Die Herrschaft des religiösen Virtuosen-

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standes innerhalb der religiösen Gemeinschaft glitt dann gern in die Bahnen einer magischen Anthropolatrie: der Virtuose wurde als Heiliger direkt angebetet..." (ebd.: 262). Das gilt nach Max Weber nur für die "kontemplative und die ekstatische Religiosität" (ebd.: 261). Beim Protestantismus und anderen asketischen Religionen dagegen, die ihren Gläubigen nicht die Meditation, sondern die aktive Umgestaltung der Welt zur Aufgabe machen, erfolgte die Entzauberung des Diesseits und damit am Ende auch die des Herrschers, wie das im Okzident typisch ist. Eine der faszinierendsten Erfahrungen, die ich bei Gesprächen in Nordostasien machen durfte, war die mit einigen Kollegen dort geteilte Einsicht, daß Marx, Mao und die Entzauberung des Diesseits für Denkweisen des Westens stehen, die der Kulturtradition Chinas, Koreas und Japans ganz fremd sind. In der Religionsgeschichte Chinas wurden der Himmelsgeist, der Himmelskönig, der Himmel selbst, in der Meditation über sie immer unpersönlicher (ebd.: 300). "In der konfuzianischen Philosophie verschwand die Vorstellung eines persönlichen Gottes, die noch im 11. Jahrhundert Vertreter fand, seit dem 12. Jahrhundert..." (ebd.). Der Weg des Himmelsgottes von einer heiligen Person zu einer Zuständlichkeit der Harmonie, der Ordnung und des Friedens im menschlichen Vorstellen wird bei Max Weber durch den Vergleich mit dem Gott der Israeliten anschaulich gemacht. Dort, bei Jahwe handelt es sich um einen personalen Gott, der "zuerst ein bergsässiger Sturm- und Naturkatastrophengott" war und "der in Gewitter und Wolken den Helden zu Hilfe in den Krieg heranzog..." (ebd.: 301). Da aber sein Volk nicht endlich dank seiner Segnungen durch militärische Erfolge ein Großreich errichten konnte, mußte Jahwe ein "überweltlicher Schicksalslenker werden" (ebd.), der im Diesseits - mindestens zunächst - noch nicht so recht zum Zuge gekommen war. Der Himmel dagegen, dem der Kaiser von China opfert, den er und nur er allein rituell verehrt, wölbt sich jahrtausendelang über ein gigantisches Reich aus vielen Völkern. So kann die befriedete Ordnung des kaiserlichen Staates als der zwar immer wieder gefährdete, aber doch grundsätzlich gegebene, ins Diesseits gewendete himmlische Zustand gedeutet werden. Ihr Garant ist der Kaiser. Indem der Himmel die Qualität eines persönlichen Gottes verliert, gewinnt der Kaiser die einer Inkarnation des Göttlichen. Dabei ist das Göttlichsein - im Sinne der schon erarbeiteten Gegenüberstellung - eine Zuständlichkeit, in die ein Mensch eintreten kann, ohne daß er deshalb aufhören müßte, ein Mensch zu sein. Wenn Japan seinen Kaiser spät erst in seiner Geschichte zum Gott erklärt, so war das wohl ein Zugeständnis an westliches Denken, und wenn die U.S.A. als Sieger 1945 den Kaiser zwangen, öffentlich zu erklären, er sei kein Gott, so wurde dadurch vielleicht

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in der Religionsgeschichte Japans eine Westabweichung durch eine Intervention aus dem Westen korrigiert. Japan mag sich übrigens von China durch die Art unterscheiden, wie militärische Leistung in der jeweiligen Kultur bewertet wurde. Max Weber jedenfalls glaubt schließen zu können, daß die Männerbruderschaft in China sehr früh den militärischen Kampf als Leistungsnachweis ersetzt, und zwar einerseits durch das Studium der Klassiker, also durch Schriftgelehrsamkeit - was ja wohl nicht nur dem japanischen, sondern auch dem abendländischen Krieger eher fern gelegen haben dürfte - und andererseits durch ritualisiertes Kämpfen, z.B. als Bogenschießen (ebd.: 302). Während die Kaiser und Könige des Okzidents gern als oberste Krieger und in Generalsuniform auftraten (und das immer noch tun), vollzog der chinesische Kaiser "den Ritus des Pflügens, er war ein Schutzpatron des Ackerbauers geworden und also längst nicht mehr ein Ritterfürst" (ebd.: 303). Die Heiligung des Ackerbaus rückt China in die Nachbarschaft Ägyptens und Mesopotamiens und bringt es in typologischen Gegensatz zu Judentum und Protestantismus. Doch was hatte der Bauer davon, daß sein Kaiser aus besonderem Anlaß pflügte? War nicht die Außeralltäglichkeit des kaiserlichen Zelebrierens und Regierens die Ursache für eine so gewaltige soziale Distanz, daß die völlige Ohnmacht der Untertanen die Folge war? Nein, denn auch der einfache Laie lebte in dem religiösen Kosmos aus Himmel und Erde und konnte sich über den Kaiser und dessen Beamte beim Himmel beschweren. Max Weber schreibt, daß wie im alten Ägypten und Mesopotamien so auch im kaiserlichen China bei den Regierenden aller Ränge "der Fluch des Bedrückten und Armen besonders gefurchtet war" (ebd.: 303). Im Fluch wurde der Verlust der Harmonie sichtbar! Weber sieht darin "ein ganz spezifisches Merkmal bureaukratischer und zugleich pazifistischer Gesinnung" (ebd.), weil Fluch und antizipatorische Angst vor dem Verfluchtwerden mit großer Wahrscheinlichkeit Aufstände und Volkskriege in ihrer Zahl reduzierten (ebd.: 304). Überhaupt führten die religiösen Vorstellungen im kaiserlichen China dazu, daß rechtmäßige Kriege im "Innern nicht mehr möglich" (ebd.) waren. Das - gemessen an der Bevölkerung des Riesenreiches - zahlenmäßig kleine Militär wurde nur gegen äußere Feinde eingesetzt. Auch insofern war das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens ganz und gar un-chinesisch. Harmonie ist in der Perspektive chinesischer Kulturtradition nicht eine Frage des Lebensstils ruhebedürftiger Menschen, sondern ein heiliger Zustand, der in der unpersönlichen Ruhe des Himmels vorgebildet ist. "Die Garantie der Ruhe und inneren Ordnung leistete am besten eine in ihrer Unpersönlichkeit und gerade durch sie

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als über alles Irdische spezifisch erhaben qualifizierte Macht, welcher Leidenschaft, und vor allem 'Zorn': das wichtigste Attribut Jahwes, fremd bleiben mußte" (ebd.: 305). Die heilige Macht im Jenseits, der Himmel, offenbart sich den einfachen Menschen in China durch das, was ihnen in ihrem Alltag geschieht, also auch durch die Art, wie sie regiert werden! "Gutes Ergehen der Untertanen dokumentierte die himmlische Zufriedenheit, also: das richtige Funktionieren der Ordnungen" (ebd.: 307). Und umgekehrt, Streit und Unordnung im politischen Alltag waren der Beweis, daß den Herrschenden das Charisma fehlte, daß sie sich vom Himmel abgewandt hatten und daher zur Ordnung gerufen oder abgesetzt werden mußten. Der vom Charisma erfüllte Kaiser übte eine Herrschaft über das Schicksal aus, zuweilen auch gegen Götter und Geister, die ihm, dem Kaiser, im Rang unter Umständen gleichoder nachstanden! Nicht nur der Kaiser, auch ein Gott oder Geist konnte versagen. "Noch 1455 hielt ein Kaiser dem Geist des Tsai-Berges offiziell eine strafende Rede" (ebd.: 309) und der Kaiser konnte verfügen, daß einem unzuverlässigen Geist "Kulte und Opfer gesperrt" (ebd.) wurden. Andererseits verlieh der Kaiser "den Göttern, die sich bewährt hatten, Anerkennung..." (ebd.). Das nun ist eine religiöse Funktion, für die es im Abendland bei Menschen keine Parallele gibt, außer vielleicht das Privileg des Papstes, Heiligsprechungen vorzunehmen. All dies im Zusammenhang mit seiner rituellen und weltlichen Machtfülle sollte dem Kaiser dazu verhelfen, daß er aus der Sicht seines Volkes Erfolg hatte. "Das magische Charisma des Kaisers mußte sich zwar auch in kriegerischen Erfolgen (oder doch dem Fehlen eklatanter Mißerfolge) vor allem aber in gutem Erntewetter und gutem Stande der inneren Ruhe bewähren...: er mußte den rituellen und ethischen Vorschriften der alten klassischen Schriften entsprechend leben" (ebd.: 311). Konnte er nicht erreichen, daß es dem Volk gut ging, "so fehlte ihm eben das Charisma" (ebd.: 312) "Er tat dann... öffentlich Buße für seine Sünden" (ebd.). "Wenn auch das nicht half, hatte er Absetzung, in der Vergangenheit wohl Opferung, zu gewärtigen" (ebd.). Wenn die Chinesen einen ihrer Kaiser abgesetzt haben, war das häufig durch ihre Religion gedeckt. So blieb der Kaiser und Sohn des Himmels Garant himmlischer Harmonie, was ausreichenden Regen und gute Ernteerfolge der Landwirtschaft einschloß. Der Imperativ, die Harmonie der Natur nicht zu stören, steht im kaiserlichen China wie überall der Entwicklung des Kapitalismus im Wege.

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Die Beziehung zwischen Konfuzianismus und Taoismus ist - wie Weber zeigt - anders als die zwischen Hinduismus und Buddhismus. Zwar waren die Brahmanen in Indien ebenso wie die Mandarine in China stolz "auf ihr Wissen um die Ordnungen der Welt" (Weber, 1921: 147), doch wollten "die chinesischen Literaten" (ebd.), die "eine politische Amtsbürokratie darstellten" (ebd.), nach einer rationalen Ethik leben und "mit magischer Technik nichts zu tun" (ebd.) haben. Solche von ihnen verachteten Künste im Umkreis des Schamanismus überließen sie "vielmehr den taoistischen Zauberern" (ebd.), wie Max Weber die Religionsdiener des Taoismus nennt. Von Indien dagegen berichtete er, daß "die Brahmanen der Herkunft und dem bleibenden Wesen nach Priester, und das heißt: Magier waren" (ebd.). Dem entspricht die rauschhafte Komponente mit dem "orgiastischen Charakter der alten" SchiwaKulte (ebd.: 198) im Kontext des orthodoxen Hinduismus. Davon setzte sich allerdings innerhalb der geistigen Führungsschicht Indiens eine von den Brahmanen verschiedene Gruppe ab: die Anhänger einer "heterodoxen IntellektuellenSoteriologie" (ebd.), mit eher nüchternen und asketischen Neigungen. Als eine solche aus dem Hinduismus hervorgegangene und doch gleichsam sektenhafi von ihm abgeschiedene Neustiftung sieht Max Weber den Buddhismus ebenso wie die nur wenig jüngere BhagavataReligiosität (ebd.: 191 ff.) um Krischna. Buddhismus und "Heilslehre des Bhagavadgita" (ebd.: 192) sind aus dem Hinduismus hervorgegangen, haben sich jedoch seiner magischen Komponenten entledigt. Insofern also in Indien innerhalb der Literatenschicht danach unterschieden werden muß, ob es sich um Brahmanen, also um orthodoxe Hindus, oder um Buddhisten und Bhagavadgita-Anhänger als Abweichler handelt, wird ein deutlicher Unterschied zum kaiserlichen China sichtbar, weil dort der Konfuzianismus die geistige Führungsschicht weitgehend eint. Bei dem Vergleich zwischen den Religionen Chinas und Indiens zeigt Max Weber (ebd.: 137-141, 144, 147-152), daß die Brahmanen den Hinduismus unter Einschluß seiner magischen Komponenten auf der Ebene des Literatenstandes entschieden vertraten (ebd.: 136), während die Mandarine eben Konfuzianer und nicht Taoisten waren. Da er dabei durchweg Brahmanen mit Mandarinen vergleicht, stellt er inhaltlich den Hinduismus (der Brahmanen) dem Konfuzianismus (der Mandarine) gegenüber, während der Buddhismus bei den Vergleichen unberücksichtigt bleibt und gesondert bearbeitet werden muß (ebd.: 217ff). Was Weber über den Buddhismus, seine Formen und seine unterschiedlichen Ausprägungen in Indien, Ceylon, Hinterindien, China, Korea und Japan schreibt, soll hier übergangen werden.

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i) Rationalisierung, Entzauberung und Modernisierung Wie die Texte über Religionen zeigen, ging es Max Weber um den Versuch einer Deutung des Kulturwandels in der Geschichte der Menschheit. Der letzte Stand seiner Überlegungen zu diesem Thema läßt sich nicht aus einem zusammenhängenden Hauptwerk entnehmen, das er etwa gegen Ende seines Lebens geschrieben hätte. Zugang zu dem reifen Stand seiner Erkenntnisse finden wir aber dennoch: Die Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie sind das letzte, was er mit eigener Hand für die Veröffentlichung vorbereitet hat. Man müßte also in allen Einzelheiten die Urfassung seiner religionssoziologischen Arbeiten mit dem Text vergleichen, der in den Jahren 1920 und 1921 als "Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie" (GARS) erschienen ist. Ein solcher Vergleich Satz für Satz durch den ganzen Text hindurch ist bisher nicht geleistet worden. Friedrich Tenbruck hat jedoch auf die zentrale Bedeutung jener Abschnitte hingewiesen, die Max Weber aus Anlaß der Herausgabe der GARS zusätzlich zu den früheren Fassungen geschrieben hat. Dabei handelt es sich um die im 1. Band der GARS abgedruckte Vorbemerkung (S. 1-16) und um die ursprünglich 1916 veröffentlichten, dann aber durch zahlreiche Einschübe ergänzten Textteile: Einleitung (S. 237-275) und Zwischenbetrachtung (S. 536-573). Max Weber ist nicht selten der Vorwurf gemacht worden, seinem Werk fehle eine eindeutige Anthropologie. Die Bedeutung der "Einleitung" muß darin gesehen werden, daß sie implizit eine solche Anthropologie enthält. Sie nimmt ihren Ausgang bei der These Webers von dem "mit zunehmender Rationalität der Weltbetrachtung zunehmende(m) Bedürfnis nach einem ethischen 'Sinn' der Verteilung der Glücksgüter unter den Menschen" (Weber, 1920: 246). Diese Erwägung gibt ihm Anlaß, sich mit dem Problem der Theodizee intensiv zu beschäftigen. Zum Thema der Theodizee kennt das Neue Testament der Bibel die folgende Geschichte: "Und im Vorbeigehen erblickte er einen Menschen, der von Geburt an blind war. Und seine Jünger fragten ihn: 'Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde?' Jesus antwortete: 'Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern. Vielmehr sollen die Werke Gottes an ihm offenbar werden.'" (Joh. 9, 1-3) In diesem bekannten Text wird die sehr simple Theodizee der Jünger, nach der Blindheit schlicht die Strafe für Sünde ist, konfrontiert mit einer sehr viel komplizierteren, die Jesus selbst vertritt. Beschränkt man sich bei dieser Sinnfrage nicht auf schweres körperliches Leid, sondern erweitert sie auf Gerechtigkeit im allgemeinen, so steht der Mensch vor dem Problem der Er-

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fahrung, daß es vielfach nicht den 'Besten', sondern den moralisch 'Schlechten' im Diesseits gutgeht. Max Weber legt eine Stufenfolge der Wertungen des Leidens in der religiösen Ethik verschiedener Religionen vor. Der Gedankengang nimmt etwa den folgenden Weg: 1. Die Unglücklichen trifft die gerechte Strafe, sie gelten daher als rituell unrein. 2. Die Glücklichen begnügen sich aufgrund fortschreitender Rationalisierung nicht damit allein, sondern sie wollen ihr Glück zusätzlich legitimiert sehen. 3. Der Mensch hat die Möglichkeit, seine Beziehung zum Glück nicht uneinsehbaren Kräften zu überlassen, sondern durch Askese sich selbst vom Glück zu enthalten. Diese selbstgewählte Distanz zum Glück verschafft dem Asketen Charisma und kultische Reinheit. 4. Die traditionelle Beschränkung der Möglichkeiten des Heils oder der Errettung auf Angehörige des eigenen Clans oder Stammes wird durch das Charisma aufgebrochen: Der Charismatiker errettet den erlösungsbedürftigen einzelnen unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu diesem Stamm oder jenem Volk. So wird die Bildung einer Gemeinde möglich 5. Nunmehr sind Leiden als Folge von Sünde in zweierlei Weise interpretierbar: a) als Strafe für einen Verstoß gegen rituelle Gebote, b) als Abwendung vom Glauben an das Charisma des 'Erlösers'. 6. Die höchste von Max Weber erwähnte Stufe der Wertung des Leidens in der religiösen Ethik erfolgt in der Heilands-Religiosität: Der sterbende und auferstehende Gott ist selbst ein Leidender. Leid schafft nun Nähe zu dem leiderfahrenen Heiland (Weber, 1920: 242ff). Diese aus der "Einleitung" zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen entnommene Stufenfolge wird von Max Weber in der "Zwischenbetrachtung" im Anschluß an die Ausführungen über "Konfuzianismus und Taoismus" wieder aufgegriffen. Max Weber untersucht hier die Genese methodischer Lebensführung und gelangt dabei zu einer Gegenüberstellung von Askese einerseits und Mystik andererseits (ebd.: 540). Auf der Suche nach Sicherheit und Schutz vor unvorhersehbarem Leid entstehen in der Menschheit immer neue Antriebskräfte, durch die das Stadium der Magie überwunden wird. Die Askese macht den Menschen von den magischen Techniken unabhängig und soll der Erweckung des Charismas dienen; die Mystik andererseits hat die Verhütung bösen Zaubers zum Ziel. Beides faßt Max Weber zunächst zusammen unter dem Gesichtspunkt der Weltablehnung. Er arbeitet dann die "Gegensätze auf dem Gebiete der Weltablehnung" (ebd.: 538) heraus: Während die Askese den Menschen zum aktiven Subjekt dessen werden läßt, was fortan geschehen soll, ist der kontemplative Heilsbesitz als GegenbegrifF gekennzeichnet von der "Mystik des Habens". Die Askese fuhrt zu "gottgewolltem Handeln" des einzelnen, der sich

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dabei als Werkzeug Gottes versteht. Der Mystiker dagegen sieht sich als Gefäß des in der Welt anwesenden Göttlichen. Das läßt freilich einen Begriff von jenseitigen Kräften zu, die ein unpersönliches höchstes Wesen handhabt. Dagegen tendiert die aktive Askese, die den Menschen als Werkzeug Gottes sieht, zu einem Gottesbild von einem persönlichen Schöpfergott (ebd.: 257f). Diese Gegensätze in der Deutung der Beziehung zwischen Mensch und Gott treten nun auch auf bei der Deutung menschlichen Handelns. Aus der Perspektive der kontemplativen Weltablehnung ist Handeln eine Gefährdung der außerweltlichen Heilszuständlichkeit. Die weltflüchtige Kontemplation findet hier ihre Begründung. Der um Askese bemühte Mensch als Werkzeug Gottes sucht dagegen die "Bändigung des kreatürlich Verderbten durch Arbeit" (ebd.: 539). Diese durch rastlose Arbeit anzustrebende innerweltliche Askese kann als Methode der Weltablehnung bezogen sein auf die Ordnungen der Welt oder auf die eigene Verderbtheit. Dem äußeren Verhalten nach sieht Max Weber eine enge Beziehung zwischen der auf die Verderbtheit im eigenen Wesen bezogenen Askese einerseits und der weltflüchtigen Kontemplation des Mystikers andererseits. Doch der theoretische Gegensatz zwischen der auf die Ordnungen der Welt bezogenen Arbeit und der mit Weltflucht gekoppelten innerweltlichen Mystik kann in der Praxis nicht schwinden. So bleibt als Gegensatz auf dem Gebiet der Weltablehnung bestehen: daß der Asket sich innerweltlich durch sein Handeln bewährt, während der Mystiker sich gegen die Welt und gegen sein Handeln in ihr in die Kontemplation zurückzieht. Die Fremdbilder freilich heben negative Akzente hervor. Dem innerweltlichen Asketen erscheint die Kontemplation des Mystikers als "träger Selbstgenuß", während die Aktivitäten des Asketen dem Mystiker als "mit eitler Selbstgerechtigkeit verbundene Verflechtung in das gottfremde Treiben der Welt" erscheinen muß (ebd.: 539). Hier kann der Außenstehende den Puritaner wegen seiner "glücklichen Borniertheit" bedauern. Jedenfalls hat die Erweckung des Charismas durch den Verzicht auf Möglichkeiten des Glücks ein Doppelgesicht. Sie ist in ihrer Konsequenz zugleich Weltabwendung und Weltbeherrschung. Die von fortschreitender Rationalisierung angetriebene Entwicklung produziert den Charismatiker in drei aufeinander folgenden Gestalten: a) als Magier, b) als Prophet, c) als Heiland. (Zur Debatte um Charisma in den Kirchen vgl.: Iserloh, 1982). Während die kontemplative und ekstatische Religiosität eindeutig wirtschaftsfeindlich ist (ebd.: 261), begünstigt die innerweltliche Askese der Heilands-Religiosität eine „Orientierung der Lebensführung an dem Streben nach einem Heilsgut" (ebd.: 540), die somit weltumgestaltend und wirtschaftsbegünstigend wirken kann. Das disziplinierte innerweltliche

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Handeln des Asketen dient der Befreiung vom Leid. Was er durch Askese anstrebt, sucht der Mystiker durch Orgie und Kontemplation zu verwirklichen. Die damit erreichten leidfreien Zustände sind aber immer nur vorübergehend. Angestrebt wird ein fortdauernder Heilszustand, ein Dauerzustand des "gegen das Leiden gefeit"-Seins als Ziel (ebd.). Wer dieses Ziel für sich verwirklicht, ist der Erlöste. Er steht freilich als von der Welt erlöster in einem dauernden Spannungsverhältnis zur Welt, dies um so mehr, je mehr sich die Kultur, der er angehört, vom Ritualismus zur Gesinnungsreligiosität entwickelt hat und je mehr die Rationalisierung der weltlichen Güter fortgeschritten ist. Den Menschen werden mit fortschreitender Rationalisierung immer mehr die, wie Max Weber sagt, "inneren Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Sphären... bewußt" (Weber, 1920: 541). Die "Unbefangenheit der Beziehung zur Außenwelt" (ebd.) geht verloren... Diese anthropologische Analyse fuhrt zu "einer multilinearen Typologie der religiösen Entwicklung" (Tenbruck, 1975: 685). So treibt die Entwicklung von den Stammesreligionen der Eingeborenenkulturen zu dem Typ einer Religion, die "unter dem Druck dieser Rationalisierung... umfassende Weltbilder und explizite Theodizeen" (ebd.: 687) hervorbringt. Es entsteht aus der Sicht Max Webers die ethische Erlösungsreligion in der Form des Monotheismus, die im antiken Judentum ihre erste dramatische Verwirklichung findet. Solange nämlich "der Mensch viele Mächte kennt, muß er verschiedenen verschieden dienen, sozusagen dem Apoll wie der Aphrodite, weil die Welt in Kompetenzbereiche verschiedener Götter zerfällt. Im Gedanken eines überweltlichen Schöpfergottes oder auch einer dem All immanenten Gottheit schießen dem Menschen die heterogenen und heteronomen Wirklichkeiten zu einer Ordnung zusammen, der ein einheitlicher Plan oder Wille zugrunde liegt (ebd.: 688). Freilich sieht Max Weber, daß die Reflexion über die Qualität solcher Ordnungen in der Gesellschaft nicht gleichmäßig verteilt ist. Es würde aber zu weit fuhren, die Konsequenzen für die Sozialstruktur hier auch noch zu erörtern. In der christlichen Tradition sind es religiös besonders qualifizierte Inhaber von Amtspositionen, in der indischen sind es die Angehörigen der oberen Kaste. Allgemein kann darauf hingewiesen werden, daß es in den verschiedenen Kulturen und Gesellschaften die jeweiligen Intellektuellen sind, denen vor allem die Aufgabe der Weltdeutung zukommt. Entsprechend der Gegenüberstellung zweier alternativer Typen der Weltablehnung ist es in der Geschichte der Entwicklung menschlicher Kulturen tatsächlich zu einer Zweiteilung gekommen. Friedrich Tenbruck spricht von einer Gabelung, "welche hier zu einer von magischer Heilssuche freien Weltauffassung führt, der der Mensch als Werkzeug Gottes gilt, dort auf Vereinigung mit dem Göttlichen in mystischer Kontemplation drängt und den Menschen zum Gefäß des Göttlichen macht. Jener Weg wurde im Judentum, dieser in Indien einge-

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schlagen, und beide zeitigten rational konsequente Lösungen der Theodizee. den Prädestinationsglauben und die indische Intellektuellenreligion des Karma" (ebd.: 688). Zwischen diesen beiden radikalen Positionen gibt es freilich Kompromisse. Im christlichen Lager hat der Katholizismus, mehr noch die Orthodoxie und in geringerem Maße auch das Luthertum den Weg der Kontemplation neben dem der Askese zugelassen. Die Besonderheit des Kalvinismus besteht darin, daß er das Erbe des Judentums antritt, den radikalen Monotheismus faktisch wiederherstellt, die diesseitige Welt von allen magischen Resten rücksichtslos reinigt und die Theodizeefrage endgültig stillsteht mit der Bemerkung: Dem Menschen steht es nicht zu, nach dem unerforschten Willen Gottes zu fragen. Gott hat eben einige für das Heil ausersehen und andere verworfen. Erfolg und Leid in der Welt sind Folgen dieser Entscheidung. Darüber hinaus gibt es nichts zu fragen! Max Weber sieht hier das Ende einer Entwicklung, über die der Weg nicht mehr hinausgeht. Was bleibt, ist die Soziologie des Pluralismus, ist die Vielfalt der Werte in Industriegesellschaften, ist die Unmöglichkeit, das Theodizeeproblem in monotheistischer Weise rational für alle Angehörigen einer Gesellschaft übereinstimmend zu lösen. Das Werk Max Webers, durchzogen von solcher Grundintention, stellt sich uns in unglaublicher Aktualität dar, wenn wir in der Endpassage seiner berühmten Rede "Wissenschaft als Beruf' die folgenden Sätze lesen: "Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der einzelnen zueinander... Versuchen wir, monumentale Kunstgesinnung zu erzwingen und zu 'erfinden', dann entsteht ein so jämmerliches Mißgebilde wie in den vielen Denkmälern der letzten 20 Jahre. Versucht man, religiöse Neubildungen zu ergrübein ohne neue, echte Prophetie, so entsteht im innerlichen Sinn etwas Ähnliches, was noch übler wirken muß. Und die Kathederprophetie wird vollends nur fanatische Sekten, aber nie eine echte Gemeinschaft schaffen. Wer dies Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen kann, dem muß man sagen: Er kehre lieber, schweigend, ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, in die weit und erbarmend geöffneten Arme der alten Kirchen zurück" (Weber, 1968: 612). Seit dem Jahre 1917, als Max Weber diese Worte öffentlich aussprach, ist die Lage in den Industriegesellschaften nicht problemloser, sie ist allenfalls deutlicher geworden. Rationalisierung und Entzauberung sind vorangeschritten, und parallel zu der Flucht vieler junger Menschen "in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens" haben Gewalt und Terror in den großen Städten zugenommen. Der tröstliche Rat, sich zu den alten Kirchen zurückzuflüch-

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ten, wirkt heute weniger überzeugend als gegen Ende des ersten Weltkriegs. Mit dem Zerfall des Monotheismus und der Vielfalt des Angebots auf dem Markt der Werte ist die Position der Christenheit schwächer geworden. Das Theodizeeproblem kann nicht mehr in traditioneller Weise für alle verbindlich gelöst werden, weil dazu die monotheistischen Voraussetzungen fehlen. Die Legitimation des Glücks wird so sehr erschwert, daß das Glück des einen dem anderen als unverdienter Zufall erscheint. Leid und Unglück werden ohne Bezugnahme auf ein dualistisches Weltbild strikt immanent interpretiert als durch die jeweils anderen verschuldet. Aus dem traditionsreichen "mea culpa" der Christenheit ist fur immer mehr Menschen in Industriegesellschaften das moderne "tua culpa" geworden: Wir ballen die Faust nicht mehr schuldbewußt gegen die eigene Brust, sondern erheben sie zornig gegen die Brust des Nächsten. Diese Bemerkungen sind nicht als resignativer Pessimismus gemeint. Sie deuten aber empirisch nachweisbare Tendenzen in modernen Industriegesellschaften an, deren Vorhandensein zu leugnen niemandem helfen würde. Aufgabe und Verpflichtung der Sozialwissenschaften muß es heute sein, Wege zum Verstehen solcher besorgniserregender Tendenzen und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung wissenschaftlich zu erarbeiten. Aus dem Denken Max Webers lassen sich dazu wichtige Hilfen entnehmen.

j) Sinnverlust durch Individualisierung Die 'Zwischenbetrachtungen' sind am Ende von Bd. 1 auf den Seiten 536 bis 573 abgedruckt (Weber, 1920 Bd.I: 536ff). Max Weber gibt dieser umfangreichen Arbeit den Titel "Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung". Wir können freilich dieses hochbedeutsame Werk hier nicht würdigen, sondern nur skizzenhaft andeuten, was uns daraus Bezug auf die Lage der Industriegesellschaften der Gegenwart zu haben scheint. Wir können hier auch nicht die Endfassung des Textes mit der 1915 im "Archiv für Sozial Wissenschaft und Sozialpolitik", Bd. 41, veröffentlichten 1. Fassung vergleichen, sondern müssen uns auf den Hinweis beschränken, daß Max Weber nicht etwa nur die Überschrift abgewandelt, sondern daß er den ganzen Text gründlich überarbeitet und verändert hat. Zentrale Fragestellung ist im Schlußteil der 'Zwischenbetrachtung' das Problem, daß ein religiöser Sinngehalt verloren geht, wenn er der rationalen Analyse unterworfen wird. Max Weber greift dieses Problem am Thema des "Mystischen Erlebnisses" auf, von dem er darlegt, daß es seine Wirkung als Quelle religiöser Sinngehalte unangefochten nur behält, solange seine prinzipielle

Nichtmitteilbarkeil

postuliert wird. Religionen neigen aber dazu, reli-

giöse Sinngehalte mitteilbar und erklärbar zu machen und sie sogar einer rationalen Deutung

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zu unterwerfen (ebd.: 566f). Max Weber sieht das Dilemma darin, daß ein mystisches Erlebnis vor der Gefahr der Profanisierung nur wirksam bewahrt bleibt, wenn der im Besitz der Jenseitserfahrung befindliche Mensch darauf verzichtet, es anderen mitzuteilen. Eine Aufbereitung religiöser Sinngehalte jedoch unter dem Gesichtspunkt ihrer rationalen

Kommuni-

zierbarkeit und weit gestreuten Verbreitung unter immer mehr - auch einander innerlich ferner stehenden - Menschen bringt mit sich die Tendenz zur nur noch "rationalen Deutung". Mit diesem Dilemma konfrontiert bemüht sich Religion darzulegen, "daß der Weltverlauf, wenigstens soweit er die Interessen der Menschen berührt, ein irgendwie sinnvoller Vorgang sei" (ebd.: 567). Das Vorhandensein von Sinn ist ja Voraussetzung dafür, daß die Welt symbolisch gedeutet werden kann. In Abwesenheit von Sinn würden Methoden des Verstehens unangebracht und die Phänomene der Welt nur noch als Gegenstände der Naturwissenschaft positivistisch bearbeitet werden können. Auf der Suche nach Sinn im Weltverlauf taucht zunächst das "Problem des ungerechten Leidens auf' (ebd.). So stellt sich Max Weber dem Problem der Theodizee von dem wir schon gehört haben. Da der Anspruch auf die Vollkommenheit Gottes nicht aufgegeben werden kann, ergibt sich die Konsequenz der Unvollkommenheit der Welt. Das Problem der "Unvollkommenheit und Vergänglichkeit der Weltgüter" (ebd.: 568) verschärft sich noch einmal dadurch, daß Menschen offenbar die für sie höchsten 'Kulturgüter' nur unter Bedingungen schaffen und erhalten können, die gegen das Gebot der Brüderlichkeit und der Liebe verstoßen und daher schwer mit Schuld belastet sind. "Gerade alles Höchste, was diese Welt an Gütern zu bieten hatte, schien dadurch mit der größten Schuld belastet Die äußere Ordnung der sozialen Gemeinschaft, je mehr sie zur Kulturgemeinschaft des staatlichen Kosmos wurde, war offensichtlich überall nur mit brutaler, um Gerechtigkeit sich nur nominell und gelegentlich, jedenfalls nur soweit die eigene ratio es zuließ, kümmernder Gewalt aufrechtzuerhalten, die aus sich unvermeidlich immer neue Gewalttaten nach außen und innen und überdies noch unaufrichtige Vorwände für solche erzeugte, also: offene oder, was schlimmer scheinen mußte: pharisäisch verhüllte Lieblosigkeit bedeutete" (ebd.). Aus dieser Perspektive erscheint uns die innerweltliche Kultur nicht nur als unvollkommen und vergänglich, sondern geradezu als ein Produkt der Lieblosigkeit und Brutalität. Max Weber illustriert diese brüderlichkeitsfeindliche Tendenz sogar am Beispiel der Geschlechtsliebe. Er leitet aus dem Anspruch der Religion selbst, ihre Sinngehalte allen Menschen

verständ-

lich darzutun und daher rational zu argumentieren und an die vernunftgemäße Einsicht des Menschen zu appellieren, die Konsequenz ab, daß eine mit der Erfahrung der Lieblosigkeit

Gründer der Soziologie

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begründete Weltablehnung zustande kommt, die auf das Verdikt der Sinnlosigkeit hinausläuft. So bleibt ein "Kosmos der Naturkausalität" (ebd.: 569) übrig, der sich gegen den religiösen Kosmos göttlicher Gerechtigkeit und ethischer Sinnhaftigkeit immer mehr durchsetzt. An die Stelle der Religion tritt die Wissenschaft mit dem Anspruch, sie allein könne "die einzig mögliche Form der denkenden Weltbetrachtung" sein (ebd.). Wissenschaftlichkeit als hoher Kulturwert geht aber einher mit aristokratischer Isolierung des Gelehrten von der Masse der Menschheit. In dieser "unbrüderliche(n) Aristokratie des rationalen Kulturbesitzes" (ebd.) wiederholt sich das Problem der Schuldbelastetheit durch Unbrüderlichkeit. Das Individuum isoliert und verselbständigt sich immer weiter um den Preis des Sinnverlustes. "Die Sinnlosigkeit der rein innerweltlichen Selbstvervollkommnung zum Kulturmenschen, des letzten Wertes also, auf welchen die 'Kultur' reduzierbar schien, folgte fiir das religiöse Denken ja schon aus der - von eben jenem innerweltlichen Standpunkt aus gesehen - offenbaren Sinnlosigkeit des Todes, welcher, gerade unter den Bedingungen der 'Kultur', der Sinnlosigkeit des Lebens erst den endgültigen Akzent aufzuprägen schien" (ebd.). Von dem in sein Territorium und seine Regionalkultur fest eingebundenen Bauern sagt Max Weber, er habe "lebenssatt sterben können wie Abraham". Dasselbe habe auch fiir den aus seiner regionalen Orientierung identifizierten Grundherrn und Kriegshelden gegolten. Die hier von Max Weber angeführten Beispiele, stellen Personen dar, die "einen Kreislauf ihres Seins" erfüllten, "über den sie nicht hinausgriffen. Sie konnten so in ihrer Art zu einer innerirdischen Vollendung gelangen, wie sie aus der naiven Eindeutigkeit ihrer Lebensinhalte folgte" (ebd.: 570). Dagegen ist der individualisierte, durch rationale Distanzierung aus Kultur und Region herausgelöste 'gebildete' Mensch stets auf die noch nicht abgeschlossene Bemühung um Vervollkommnung seiner selbst verwiesen. "Und je mehr sich die Kulturgüter und Selbstvervollkommnungsziele differenzierten und vervielfältigten, desto geringfügiger wurde der Bruchteil, den der einzelne, passiv als Aufnehmender, aktiv als Mitschöpfer, im Laufe eines endlichen Lebens umspannen konnte" (ebd.). So stand ihm nicht der Weg offen "im Sinne der Vollendung eines Kreislaufs 'lebenssatt'" (ebd.) zu werden, sondern nur 'lebensmüde'. Er steht der Kultur als isoliertes Individuum gegenüber, bezieht sie nur als Instrumentarium auf die brennende Pflicht zur Selbstvervollkommnung, kann ihr aber keinen innerweltlichen Sinn abgewinnen. Was Max Weber hier leistet, ist eine freilich sehr pessimistische, aber wohl zutreffende Analyse der kulturellen Situation des Intellektuellen. Je mehr das Lebensmodell des Intellektuellen zum Vorbild für viele Schichten der Bevölkerung wird, desto verallgemeinerungsfähiger wird die Analyse für die Beschreibung der Situation des modernen Menschen überhaupt.

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Gründer der Soziologie

"Als Stätte der Unvollkommenheit, der Ungerechtigkeit, des Leidens, der Sünde, der Vergänglichkeit, der notwendig schuldbelasteten, notwendig mit immer weiterer Entfaltung und Differenzierung immer sinnloser werdenden Kultur: in allen diesen Instanzen mußte so die Welt, rein ethisch angesehen, dem religiösen Postulat eines göttlichen 'Sinnes' ihrer Existenz gleich brüchig und entwertet erscheinen" (ebd.: 571). Angesichts der Verzweiflung bewegt sich das Bewußtsein des rational argumentierenden Denkers immer intensiver in Richtung auf das zu, "was den spezifischen Inhalt des Religiösen ausmachte" (ebd.). Das aus der sozialen Bindung herausgelöste Individuum bemüht sich in seiner Isolierung um religiöse Sinngebung. Dabei greift es zu Lösungen, mit denen es sich auf eigene Faust zu stabilisieren sucht, mit denen es zugleich aber erneut gegen das Gebot der Brüderlichkeit verstößt, und so neue Schuld und Sinnlosigkeit produziert. Max Weber schreibt: "Und schließlich: die spezifisch intellektualistische, mystische Erlösungssuche gegenüber diesen Spannungen fiel auch selbst der Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit anheim. Einerseits war ja ihr Charisma nicht jedermann zugänglich. Sie war also, dem Sinne nach, Aristokratismus höchster Potenz: religiöser Heilsaristokratismus" (ebd.). Max Weber erwähnt andererseits die Konkurrenzwirklichkeit des Berufsalltags, in der jeder zur Erwirtschaftung ökonomischer Vorteile sein eigenes Wohl im Auge hat. So bleibt nur den wenigen Angehörigen sehr wohlhabender Schichten die Möglichkeit, sich sorgenfrei der Brüderlichkeit mit ihresgleichen hinzugeben. Weber kommt zu dem Schluß, daß fur Brüderlichkeit in "einer rational zur Berufsarbeit organisierten Kultur" (ebd.) kaum noch Platz bleibt: "das Leben des Buddha, Jesus, Franziskus zu fuhren, scheint unter den technischen und sozialen Bedingungen rationaler Kultur rein äußerlich zum Mißerfolg verurteilt" (ebd.). Max Webers Reflexionen der 'Zwischenbetrachtung', die wohl autobiographische Züge tragen und die er gewiß schon vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges konzipiert und freilich in der Urfassung 1915 publiziert hat, werden von ihm - und das ist für seine Arbeitsweise charakteristisch - schließlich in eine Typologie der Theodizee hineingeführt. So gelangt er durch gedankliche Konstruktion zu drei Arten der Theodizee: a) Der Dualismus als Verzicht auf die Allmacht eines Gottes geht von dem Nebeneinander von guten und bösen Kräften aus (Max Weber hat das Beispiel des zarathustrischen Dualismus vor Augen). b) Die Welt wird als eine brüchige Vermischung von Reinem und Unreinem gedeutet, in der jedoch schließlich die Allmacht Gottes wieder siegt. Diese Theodizee kann konsequent nur konstruiert werden unter Verzicht auf die Güte Gottes. Das Ergebnis ist die kalvinistische Prädestinationslehre und das Anerkenntnis der "Unmöglichkeit, Gottes Ratschlüsse mit

Gründer der Soziologie

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menschlichen Maßstäben messen zu können..." (ebd.: 572f). c) Als dritter Idealtyp einer rational konsequenten Theodizee nennt Max Weber die indische Karmanlehre. Sie spricht gerade den isolierten Intellektuellen an wegen der ihr eigenen "Vereinigung virituosenhafter Selbsterlösung aus eigener Kraft mit universeller Zugänglichkeit des Heils" und "strengster Weltablehnung" (ebd.: 573, vgl. auch 247). Mit diesen drei Idealtypen einer rationalen Theodizee legt Max Weber drei mögliche inhaltlich bestimmte Sinnsysteme vor. Sie zeichnen sich zwar durch ihre konsequente Rationalität aus, sind aber alle drei als Inhalte religiöser Wertvorstellungen unbrauchbar: die beiden ersten Typen kranken daran, daß in einem Falle die Allmacht, im anderen Falle die Güte Gottes fehlt, und der dritte Typ einer Theodizee scheitert an der hier vorausgesetzten Individualisierung wegen des Brüderlichkeitsgebots. So schließt sich der Kreis der Weber'schen Analyse: der religiöse Sinngehalt als kulturtragende Wertidee verkraftet es nicht, durch rationale Analyse kommunikabel und propagierbar gemacht zu werden. Die Individualisierung belastet den modernen Menschen angesichts des Brüderlichkeitsgebots mit Schuldgefühlen, die ihn zu immer intensiverem Raisonnement treiben. Sinnverlust und Individualisierung bestärken einander wechselseitig in einem Prozeß, der sein eigenes Ende herbeifuhren muß, weil er die Voraussetzungen aufhebt, auf denen er beruht (vgl. Helle, 1983).

Anhang: Geburts- und Sterbejahr ausgewählter Soziologen und Philosophen Rousseau, Jean-Jacques

1712-1778

Kant, Immanuel

1724-1804

Saint-Simon, Claude Henri de

1760-1825

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich

1770-1831

Comte, Auguste

1798-1857

Marx, Karl Heinrich

1818-1883

Spencer, Herbert

1820-1903

Riehl, Wilhelm Heinrich

1823-1897

Schäffle, Albert

1831-1903

Dilthey, Wilhelm

1833-1911

Gumplowicz, Ludwig

1838-1909

Peirce, Charles Sanders

1839-1914

Ratzenhofer, Gustav

1842-1904

James, William

1842-1910

Windelband, Wilhelm

1848-1915

Cooley, Charles Horten

1854-1929

Tönnies, Ferdinand

1855-1936

Dürkheim, Emile

1858-1917

Simmel, Georg

1858-1918

Dewey, John

1859-1952

Mead, George Herbert

1863-1931

Rickert, Heinrich

1863-1936

Thomas, William Isaac

1863-1947

Weber, Max

1864-1920

Vierkandt, Alfred

1867-1953

Weber, Alfred

1868-1958

Scheler, Max

1874-1928

von Wiese, Leopold

1876-1969

178

Anhang

Spann, Othmar

1878-1950

Freyer, Hans

1887-1969

Plessner, Helmut

1892-1985

Mannheim, Karl

1893-1947

Horkheimer, Max

1895-1973

Schütz, Alfred

1899-1959

Blumer, Herbert

1900-1987

Parsons, Talcott

1902-1979

Adorno, Theodor W.

1903-1969

Gehlen, Arnold

1904-1976

König, Rene

1906-1992

Shils, Edward

1910-1995

Schelsky, Helmut

1912-1984

Strauss, Anselm

1916-1996

Bendix, Reinhard

1916-1991

Bahrdt, Hans-Paul

1918-1994

Tenbruck, Friedrich

1919-1994

Goffman, Erving

1922-1982

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Personen- und Sachregister Abendland 151; 160; 164

Bibelwort 90; 115

Adorno, Th. W. 8; 18f, 178f

Bourgeoisie 52; 62

Agrargesellschaft, Agrarkultur 86, 143

Buber, M. 102

Alienation 31

Buddha 174

Altertum 144

Buddhismus, Buddhisten 85; 87f; 102; 110, 147;

Anarchie, Anarchismus 73, 75, 84

165

Animismus 86

Bürgertum 24

Anomie 81

Bürokratie 20

Antagonismus 64 Anthropologie 10ff; 51; 109; 166

Calvin 154

Antike 111; 140

Charisma 112; 164; 167; 174; 181

Antisemitismus 99

Charismatiker 167; 168

Arbeiterklasse 145

China, chinesisch 21; 159; 161fif

Arbeiterorganisation 68

Christentum, christlich 54; 85; 94; 96; 109ff;

Arbeitsteilung 25; 70; 77ff; 120 Arbeitsteilungstheorie 80 Aristokratie 173

152; 156 Comte, A. 8; 241Γ; 57f; 60; 66; 68f; 7 Iff; 108; 177; 179; 186

Aristoteles 10; 13; 45 Askese, Askesekonzept 109ff; 124; 150; 152; 156; 167f; 170

Dahrendorf, R. 66 Dämonen 92

Asket, asketisch 152, 168

Darwin, Ch. 33; 69; 108; 109

Atavismus 108

Deduktion 136

Atheismus 40; 87

deduzieren 128; 134; 136

Atheisten, atheistisch 39, 54; 71

Deismus 39

Ausbeutung, Ausbeutungsverhältnis 20; 65, 152

Dekonstruktivismus 107

Autorität 32; 40; 58; 73

Dekorporation 79 Descartes, R. 42; 112f; 115

Bacon, F. 71

Determinismus 67; 151

Beamtentum, Beamte 142, 163

Dialektik, dialektisch 52; 59f; 67, 129

Bedürfnis 45; 55; 62; 97; 166

Dilthey, W. 4; 8; 20f; 91f; 98; 101; 104; 109;

behavioristisch 134

127f; 133; 177; 179ff

Bergson, H. 76

Dualismus 51; 105; 174

Berufsarbeit 152; 155f; 174

Dürkheim, E. 19; 25; 31; 70f; 75ff; 113; 120;

Berufsaskese 155

177; 180; 182

Berufsethik 150 Berufsidee 126; 146; 155; 187

Eigentum 8; 63f; 132

Berufskonzeption 150

Emanzipation, emanzipiert 2, 15; 25; 53ff

Berufspflicht 156

Empirie, empirisch 3; 9; 30; 75; 83; 94f; 104;

Berufung 59; 99f; 102; 109; 130; 160 Bibel 3; 33; 158; 166

106; 123; 135f; 138, 140, 171 Empirismus 4

Personen- und Sachregister

Engels, F. 46ff; 62; 64; 68

Glaubensaussagen 6; 9; 90

Entfremdung, entfremdet 31; 46, 59; 61; 63

Glaubensgemeinschaft 55

Entwicklungslehre 69; 77

Glaubensinhalte 72f

Entzauberung 35; 86; 145; 160; 162; 166; 170

Glaubenssätze 5; 44

Epistemologie 112f

Glaubenswahrheit 9

Erfahrungswissenschaft 6; 105; 137

Gott 4; 36; 39f; 42; 55f; 59; 92; 94; 105; 114;

Erkenntnislehre, Erkenntnistheorie 5; 8, 92; 102; 105; 108; 140; 181

152; 154f; 157f; 162; 164; 167f; 170 Götter 15; 36ff; 56; 59; 87f; 94; 164; 169

Erlösungsreligion 169

Gottesbild, Gottesvorstellung 63, 168

Ethik, ethisch 19; 29f; 33; 35; 88; 97; 103; 109;

Gottheit 2f; 36; 39f; 86; 89; 92; 94; 102; 160;

111; 122f; 126; 137; 140; 145f; 148; 150ff; 165; 167; 174, 187

169 Göttin 36

Ethnologie 70; 77

Gottlosigkeit 4; 26

Evolution 39; 108; 109

Gruppe, Gruppierung 7; 19; 75; 78f; 86; 117;

Evolutionismus, evolutionistisch 33; 80, 103; 108f

189

156, 165; 184 Gurvitch, G. 24; 43

Evolutionstheorie 117 Habermas, J. 19f; 180 Fetischglaube, Fetischismus 32ff

Handlung 7; 111; 123

Feudalordnung 40; 60; 142

Handlungsanweisungen 5; 128

Feuerbach, L. 46; 50ff; 59; 63; 94; 115

Handlungsformen, Handlungsmuster 154, 157

Fortschrittsglauben 147

Handlungsnormen 17; 109

Frankfurter Schule 8; 19

Handlungsunsicherheit 53

Franklin, B. 154f

Hegel, G. W. F. 44f; 50f; 59ff; 97; 122; 177; 180

Freud, S. 115

heilig 88; 130; 160

Freyer, H. 133; 178; 180

Heiligung 34; 86f; 156; 163

Frühkapitalismus 145

Heilszustand 169

Funktionalismus, funktionalistisch 18f; 76, 82

Herrschaft 8; 25; 32; 60; 110; 140; 161; 164 Heuristik 115

Geheimnis 34; 52; 55; 62; 89; 118ff

heuristisch 135

Gehlen, A. lOff; 16; 18; 87; 109; 178ff

Hierarchie 40f

Geisteswissenschaft 108

Hinduismus 147; 165

Geld, Geldwirtschaft 7; 55f; 58; 63; 142f; 155

Höhlengleichnis 6

Gemeinschaft, gemeinschaftlich 17, 19; 47, 80;

Holismus 113

86; 156; 161; 170; 172; 186 Geschichtsphilosophie 26; 69; 100; 138; 184f

Horkheimer, M. 8; 19; 178 Husserl, E. 97

Geschichtswissenschaft 97 Gesellschaftsbegriff 156

Idealismus 55; 61

Gesellschaftsbild 14

Idealtyp 20; 137; 140; 175

Gesellschaftsordnung 31

Ideenlehre 105

Gesellschaftssystem 82

Ideologie 28; 46f; 50; 146

Gesellschaftstyp 81

Individualisierung 79; 121; 171; 175

Gesellschaftswissenschaft 100

190

Personen- und Sachregister

Individualismus, individualistisch 31, 68; 84; 140, 145

Konfessionszugehörigkeit 153 Konfiskation 141

individuelles Gesetz 123

Konflikttheorie 18; 19

Induktion, induktiv 8; 36, 135f

Konfuzianismus 93; 147; 159; 165; 167

Industrialisierung 23f; 151

König, R. 38; 45; 75; 79; 142; 158; 161; 178;

Industrialismus 34

182

Industriegesellschaft 17; 25; 86; 114

Konstruktivismus 103£f; 112

Instinkt 41

Kontemplation 31; 168ff

instinktgesteuert 12

kontemplativ 31; 159

Instinktmechanismen 13

Konversion 108

Instinktreduktion 16f

Kulturbedeutung 109; 132ff

Institution, institutionalisiert 1 Iff, 20, 39ff; 70,

Kultursoziologie 108; 123

93, 134, 181

Kulturwandel 36; 140; 147

Interaktionismus 103; 106

Kulturwissenschaften 127; 133f; 139

Islam 41; 85

Kunst 17; 37; 56; 65; 67; 103; 108; 114; 141;

James, W. 4; 21; 90; 103; 120; 177; 181

Kunstgeschichte 44; 98

181f Jenseitserfahrung 172 Judaismus 40

L' Αηηέβ Sociologique 77; 85

Judentum 54ff; 147; 157; 163; 169; 183

Landshut, S. 43; 50; 182 Lepsius, R. 97

Kaiser von China 161f

Luckmann, Th. 102; 105; 179

Kalvinismus, kalvinistisch 35, 41; 137; 145;

Luhmann, N. 19

15 lf; 155; 157, 170 Kant, I. 29f; 94; 97f; 100; 102; 104ff; 113; 119;

Luther, M. 41; 58f; 155 Luthertum 41; 43; 170

122f; 177; 181; 184 Kapitalismus 20; 34; 52; 67; 126; 144ff; 150ff; 161; 164; 187

Mafia 79 Magie 93; 167

Karmanlehre 175

Makrosoziologie 6; 181

Katholizismus 20; 40f; 85; 154; 158; 170

Marcuse, H. 152

Kirche 40f; 59; 73; 97; 102; 111; 154; 156f; 181

Marx, K. 8f; 15; 19; 24; 31; 40; 42ff; 73; 85;

kirchlich 27 Klasse 25; 28; 52; 62; 64ff; 89 Klasseninteresse 130 Klassenkampf 64f; 67; 107

94ff; 102; 115; 132; 145£f; 162; 177; 179; 181f; 186 Marxismus, marxistisch 8, 10, 64f; 68; 145; 147, 15 lf

Klassenlage 65

Massengesellschaft 79

Klerus 60

Materialismus 52; 55; 59f; 96; 10 lf; 112; 133

Klöster 125; 146

Mauss, M. 77

Kollektivbewußtsein 96

Mead, G. H. 76; 89; 101; 177; 180; 182

Kollektivgefuhl 81

Metaphysik 28f; 42; 51; 63; 104; 109; 181

Kommunikation 61; 143

Methodologie 135

Kommunismus, kommunistisch 46ff, 50, 62, 66

Mikrosoziologie 6; 9

Konfession, konfessionell 97, 101; 150

Modernisierung 145; 166

Personen- und Sachregister

Monotheismus 32; 35; 39ff; 56; 169ff

positivistisch 9

Moral, moralisch 13; 30; 39ff; 51; 69; 75; 81;

Prädestination 72; 151; 160

93; 100; 109; 121, 167, 184

191

Prädestinationslehre 160; 174

Moralität 13; 25

Pragmatismus 4; 21; 56; 90f; 103; 106; 115

Moralwissenschaft 109; 181; 185

Produktionsmittel 52; 156

Mystik 167f

Produktionsverhältnisse 65ff

Mythologie 94

Produktionsweise 67

Mythus, Mythen 88, 110

Produktivkräfte 51; 65; 67 profan 88; 94; 159f

Nationalökonomie 46; 59; 63; 125; 128; 132; 134; 142; 186; 187 Naturismus 86 Naturlehre 30 Naturwissenschaften 2; 18; 23; 26; 89; 91f; 107; 122; 143 Neukantianismus 76; 142

Profanisierung 172 Proletariat 52; 55; 62; 66f; 95 Protestantismus, protestantisch 20; 41; 43; 58; 126; 146; 150; 155; 162f; 187 Protestantismusaufsatz 126 Protestantismusstudie 93; 145f; 153 Puritanismus, puritanisch 20; 35; 75

Newton, I. 24; 26f; 69 Newtonianer 24

Rationalisierung 36; 41; 159f; 166f; 168ff

Nietzsche, N. 97; 129; 184f

Rationalisierungsthese 35

Nonnen 17f; 109; 131

Rationalismus, rationalistisch 90f; 113

Normensystemen 17

Rationalität 40; 147; 166; 175 Rechtshistoriker 126; 133; 142

Objektivität, objektivistisch Iff; 102; 107, 115; 126; 131; 186

Rechtsphilosophie 45; 57; 61

Objektivitätsaufsatz 125ff; 133f; 139; 143

Relativismus, relativistisch 3; 109, 131

Ontologie 103

Religionsbegriif 54

Organismus 18; 19; 33; 70; 76f

Religionsgemeinschaft 40

Organismusanalogie 70

Religionskritik 51

Organismusbegriff 70

Religionssoziologie 20; 37; 77; 86; 145ff; 166;

Organologie 82

Regionalkultur 141; 173

181f; 185; 187 Religiosität 36; 58; 114; 124; 162; 165; 167f

Parsons, Τ. 19; 71; 145; 147; 178; 182

Rickert, H. 97; 99f; 127; 133; 142; 177; 182

Pathologie, pathologisch 81; 84

Ritual, Ritualgesetze 38; 88; 108, 161

Peirce, Ch. S. 4; 103; 177

Rousseau, J. J. 13ff; 50; 177; 183

Perspektive 2; 3; 19; 21; 35; 102; 132; 163; 168; 172

Scheler, M. 10; 109; 177

Phänomenologie 60; 180

Schelsky, H. 66; 178; 183

Piaton 104f; 112

Schicht, Schichtung 52, 141f; 150, 153, 161

platonisch 104

Schmoller, G. 82

Plessner, H. 10; 109; 178; 183

Schopenhauer, A. 97; 102; 185

Polytheismus 32; 35ff; 56

Schöpfergott 2; 39; 168

Popper, K. R. 8; 180

Sekte 24; 68; 156f; 180

Positivismus 7f; 26; 28ff; 32; 37; 74; 76; 94

Selbstentfremdung 51; 56

192

Personen- und Sachregister

Selbsterlösung 175

Szientisten, szientistisch 9

Selbstmord 77; 81; 83f; 180 Sexualmoral 89

Taoismus 147; 159; 165; 167

Simmel, G. 4; 8; 20f; 33; 67; 76; 92; 96ff; 129;

Teilkulturen 79

133; 135f; 138ff; 177; 179ff Sinngehalt 7; 61; 88; 171; 175

Theodizee 124; 166; 170; 172; 174f Theologie, theologisch 2; 8, 32ff, 4 Iff, 51, 53f

Sinnsysteme 95; 175

Thomas, W. I. 24; 102; 105; 117; 177; 186

Sinnverlust 171; 175

Totemismus 86f; 89

Sinnwelt 93

Traditionalismus 153

Sitten 17; 29; 108; 181

Troeltsch, E. 146

Situationsdefinition 105 Skeptizismus 103; 105

Überbau 65ff; 141

Small, A. W. 72; 186 Sokrates 103f Solidarität 19; 78; 80ff; 117f; 120 Sombart, W. 126f; 132; 157; 186

Verstehen 5, 7f, 10, 18, 20f, 28, 40, 71, 93, 95f, 102, 105f, 109, 123, 128f, 133f, 139, 143, 149, 153f, 171f; 179ff, 185f

Sozialisation 12; 15

Völkerkunde 70

Sozialisationstheorie 106

Völkerpsychologie 97; 100; 183

Sozialismus, sozialistisch 20; 46; 67; 73, 81

Volkswirtschaftslehre 46; 127; 133; 139

Sozialökonomie 132 Sozialphilosophie, sozialphilosophisch 5, 23; 27; 33; 73; 129 Sozialpolitik 126; 131f; 146; 171; 186; 187 Sozialpsychologie 97; 134 Sozialstruktur 52; 64; 86; 156; 169 Sozialtheorie 19 Sozialwissenschaften 26; 76f; 105; 131; 147; 150; 171

Wahrheitsbegriff 104; 106 Wahrheitslehre 115 Wandel 19; 36f; 46; 60; 67f; 80; 108; 117; 139; 141 Weber, M. 8; 20; 34f; 37; 60; 67; 76; 86f; 93; 97; 99; 102; 112; 124ff Wechselwirkung 18; 106; 116 Wechselwirkungsform 116

Soziologismus 75

Weltablehnung 167f; 171; 173; 175

Spencer, H. 37; 38; 68ff; 108; 177; 181; 186

Weltanschauung 25f; 56; 115; 128; 130

Spinoza, B. d. 42; 112f; 135

Wert 17; 56; 93; 109; 112; 114; 116; 135; 138

Spiritismus 101; 184

Wertbegriff 133; 143

Spiritualismus 63

Wertidee 175

Staatsreligion 41

Wiese, L. v. 69; 71; 177; 187

Staats Wissenschaften 144

Wirklichkeitskonstruktion 106

Stammesreligionen 169

Wirtschaftstheorie 133; 135

Subjektivismus, subjektivistisch Iff, 107

Wissenschaftslehre 127; 130; 186; 187

Subkulturen 79

Wohlstandsgesellschaft 66

Symbol 8; 21; 180; 182

Wundt, W. 7 6 , 9 8

symbolisch 143; 172 Symbolisierung 110 Synkretismus 130

Zweiklassenmodell 52