Einführung in die Semantik 9783110933826, 9783484220270


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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
I. Antinomien der Semantik
II. Der sprachliche Aristotelismus in der Geschichte und im „Tractatus" von Wittgenstein
III. Die Sprache als Bild der Welt
IV. Die Sprache als Reihe von Ausdrücken
V. Die Sprache als System
VI. Der semantische Skeptizismus
VII. Die subjektive Basis des Zeichengebrauchs
VIII. Die Bedeutung als Organisationsprinzip der Erfahrung
IX. Möglichkeit einer Semantik als historischer Wissenschaft
Anstelle eines Nachworts Zum gegenwärtigen Stand der Semantik
Bibliographische Hinweise
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Einführung in die Semantik
 9783110933826, 9783484220270

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner

Tullio De Mauro

Einführung in die Semantik Aus dem Italienischen von Peter Jaritz und Jürgen Ziegler

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1982

D i e Originalausgabe erschien unter d e m Titel „ I n t r o d u z i o n e alla S e m a n t i c a " im Verlag Gius.

Laterza & Figli Spa, R o m a .

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek De Mauro, Tullio: Einführung in die Semantik /Tullio De Mauro. Aus d. Ital. von Peter Jaritz u. Jürgen Ziegler. Tübingen : Niemeyer, 1981. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft; 27) Einheitssacht.: Introduzione alla semantica NE: GT © Originalausgabe: 1966 by Gius. Laterza & Figli Spa, Roma. ISBN 3-484-22027-9

ISSN 0344-6735

© Deutsche Ausgabe: Max Niemeyer Verlag Tübingen 1982 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: Williams, Clwyd/England Druck: Becht, Ammerbuch

Für die gesuchte Wissenschaft ist es nötig, daß wir uns zuerst dem zuwenden, was zunächst Zweifel erwecken muß. Dies sind teils die abweichenden Ansichten, welche manche hierüber aufgestellt haben, teils anderes, was etwa bisher unbeachtet geblieben ist. Denn für die richtige Einsicht ist gründlicher Zweifel förderlich, indem die später sich ergebende Einsicht die Lösung der früheren Zweifel ist, und man nicht lösen kann, wenn man den Knoten nicht kennt. (...) Man muß deshalb vorher alle Schwierigkeiten in Betracht gezogen haben, sowohl aus dem bereits ausgesprochenen Grunde, als auch weil man bei einer Forschung ohne vorausgegangenen Zweifel den Wanderern gleicht, welche nicht wissen, wohin sie zu gehen haben, und deshalb dann nicht einmal erkennen, ob sie das gesuchte Ziel erreicht haben oder nicht. Denn das Ziel ist ihnen ja nicht bekannt, wohl aber ist es dem bekannt, der vorher gezweifelt hat. Überdies muß notwendig der zur Entscheidung befähigter sein, der die gegeneinander streitenden Gründe, wie ein Richter die streitenden Parteien, angehört hat. ARISTOTELES, Metaphysik III, 1, 995. (dt. v. Hermann Bonitz)

Jedes Jahrhundert hat eine Grammatik entsprechend seiner Philosophie. Das Mittelalter versuchte, die Grammatik auf die Logik zu gründen, und die Allgemeine Grammatik war bis ins 18. Jahrhundert lediglich eine verlängerte Logik. Im 19. Jahrhundert übertrug man die Methode der Beobachtung von Tatbeständen, die in der Physik und den Naturwissenschaften seit der Renaissance üblich war, auf psychische und soziale Tatbestände; dies führte dazu, die Grammatik einer jeden Sprache als ein Ensemble von Tatbeständen zu konzipieren. Aber bisher sind diese Tatbestände in keiner Weise in einen Zusammenhang gebracht. Die Aufzeichnungen, die Ferdinand de Saussure für seine Vorlesungen gemacht hatte und die unter dem Titel „Cours de linguistique générale" herausgegeben wurden, haben die Richtung gewiesen, wie hier ein Anfang gemacht werden könnte. Aber ein großes Stück Arbeit bleibt noch zu tun (...). MEILLET, Linguistique historique et linguistique générale. - Paris 1975, S. Vili.

Inhalt

Vorbemerkung

IX

I.

Antinomien der Semantik

II.

Der sprachliche Aristotelismus in der Geschichte und im „Tractatus" von Wittgenstein

14

1. 2. 3. 4. 5.

14 21 29 45 53

III.

IV.

V.

Der „Tractatus" im modernen Sprachdenken Aristoteles und der Aristotelismus Die Krise des Aristotelismus: von der Renaissance zur Aufklärung Kants Schweigen Die Restauration des Aristotelismus

Die Sprache als Bild der Welt

63

1. Der Satz als Modell der Tatsache 2. Der Solipsismus als Konsequenz des sprachlichen Aristotelismus

63 66

Die Sprache als Reihe von Ausdrücken

68

1. 2. 3. 4.

68 72 75

Interpretationen Croces Die Ursprünge der Sprachwissenschaft Croces Noch einmal Interpretationen Croces: Der Essay und das System Die erste Form der croceanischen Sprachwissenschaft: die Auflösung der Sprache

77

Die Sprache als System 1. Der „Cours" und Saussure 2. Die Bedeutung (signifié) als Wert im System 3. Die Rationalität des Systems und das Mysterium der Kommunikation

VI.

1

87 87 96 . . 103

Der semantische Skeptizismus

107

1. Der methodische Skeptizismus von Harris 2. Die Inkommunikabilität 3. Kommunikation und Denken als unbeweisbare Voraussetzungen jeden Beweises 4. Bedeutungslosigkeit des vom „Dicens" isolierten „Dictum"

107 112 115 118

VII

VII.

Die subjektive Basis des Zeichengebrauchs 1. Die Gesellschaft als Grundlage von System lind Zeichengebrauch beim späten Saussure 2. Die praktische Basis des Zeichengebrauchs: der späte Croce 3. Die subjektive Garantie des Zeichengebrauchs: der semantische Individualismus und der Subjektivismus

VIII. Die Bedeutung als Organisationsprinzip der Erfahrung

IX.

123 123 127 130 137

1. Philosophie und Erkenntnis in den „Philosophischen Untersuchungen" 2. Die Sprache als kollektive Systematisierung der semantischen Erfahrung 3. Die Bedeutung als Gebrauch: das Hyposem 4. Die neue Semantik und die Philosophie der Praxis

142 158 162

Möglichkeit einer Semantik als historischer Wissenschaft

168

137

Anstelle eines Nachworts: Zum gegenwärtigen Stand der Semantik

172

Bibliographische Hinweise

186

VIII

Vorbemerkung

„Der Stand unseres Nichtwissens": so lautet der Titel des ersten Abschnitts des Literaturberichts, den Uriel Weinreich, damals Professor an der Columbia University, im Jahre 1963 über die hauptsächlichen Fragestellungen und Theorien der Bedeutung erstellt hat (Weinreich 1963). Er erklärt dort, daß eine „fatale Kluft" bestehe zwischen allgemeinen Bedeutungstheorien und Einzeluntersuchungen, die die Bedeutungsveränderungen dieses oder jenes Wortes zum Gegenstand haben. Und er schließt: „Fast alles ist noch zu tun." Auf den ersten Blick muten die Worte Weinreichs übertrieben an. Man könnte ihm entgegenhalten, daß die Bedeutung jedermann vertraut ist, daß sie etwas so Handgreifliches, so Alltägliches und gleichzeitig so Feststehendes darstellt, daß man nicht verstehen kann, welche Schwierigkeiten bei ihrer wissenschaftlichen Untersuchung auftauchen sollten. Gibt es nicht seit 150 oder 200 Jahren die Wissenschaftsdisziplin Linguistik, in der in vielen Ländern tausende von Spezialisten arbeiten? Sind der Untersuchungsgegenstand dieser Disziplin nicht die Sprachen? Wie kann man angesichts dieser Tatsachen auf den Gedanken kommen, daß man von einer so leicht zugänglichen Sache wie der Bedeutung so wenig weiß? So weit, so gut. Aber Geschichte und Kulturgeschichte sind nicht der Satz des Pythagoras. Geht man von einer offensichtlichen Realität wie der Bedeutung aus und von einer Disziplin, die sich mit ihr beschäftigen müßte, dann ist der Schluß doch keineswegs zwingend, daß es tatsächlich ein kohärentes Forschungsgebiet und entsprechende Lehren geben muß, die die Bedeutung zum Gegenstand haben. Aber untersucht die Linguistik nicht die Sprache und die Sprachen (il linguaggio e le lingue)? Sie untersucht sie, sicher, aber fast immer unter formal-äußerlichen Gesichtspunkten: untersucht die Linguistik irgendein Wort einer Sprache, dann möchte sie möglichst zweifelsfrei herausbekommen, welches die Phoneme sind, aus denen es besteht, mit welcher durchschnittlichen Häufigkeit es vorkommt bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit es benutzt wird, mit welchen Wörtern es ein Wortfeld bildet, was seine Wurzel ist, mit welchen Wörtern es etymologisch in derselben oder in anderen Sprachen verwandt ist. Dies sind alles Dinge, die nur wenige wissen IX

und die jahrelange Studien und Spezialisierung erfordern. Dagegen hat sich die Linguistik wenig um die Erkenntnis der Bedeutung gekümmert und kaum entsprechende Theorien ausgearbeitet. Wenn, was selten genug vorkommt, von der Bedeutung die Rede ist, dann geht dies nicht über das hinaus, was jeder auch nur halbwegs gebildete Mensch hätte sagen können. Dies mag befremdlich erscheinen, aber es ist so. Die Feststellung Weinreichs steht im übrigen nicht allein da. Der russische Forscher Vygotski behauptete dreißig Jahre vorher, daß die Bedeutung für die etablierte Wissenschaft so unbekannt sei „wie die Rückseite des Mondes". Vor einigen Jahren, als dieser Vergleich unbrauchbar wurde, weil die ersten Photographien von der Rückseite des Mondes gemacht worden waren, griff ein amerikanischer Forscher auf folgenden historischen Vergleich zurück : Unsere Untersuchungen auf dem Gebiet der historischen und der synchronen Semantik gleichen den Berechnungen, die man in der Antike oder im Mittelalter über die Bewegungen der Sterne angestellt hatte: die Rechnungen waren bei aller Kompliziertheit exakt, aber die wirkliche Natur der Himmelskörper und ihre wirklichen Bewegungsgesetze blieben ein Geheimnis. Leo Spitzer hätte gesagt, daß diese immer wieder herangezogen „kosmischen" Metaphern eine klar erkennbare gemeinsame „psychologische Wurzel" haben: wenn wir den festen Boden phonologischer und morphologischer Beschreibung — das bisherige Betätigungsfeld der Linguistik — verlassen, um uns der Bedeutung zu nähern, werden wir gewahr, daß wir eine Welt zu erforschen im Begriff sind, die zwar in irgendeiner Weise immer in unserem Bewußtsein gegenwärtig ist, die uns gleichwohl von Grund auf unbekannt ist. Die Sterne sind uns seit jeher gegenwärtig, und dennoch ist die Erfahrung, in den Kosmos einzudringen, unbekannt und neu. Rationales Erkennen, wissenschaftliches Erfassen und wissenschaftliches Beschreiben der Bedeutungen — das heißt in eine neue Welt, einen unbekannten Raum eindringen. Auch wenn sie scheinbar mit Händen zu greifen ist, von den sprachlichen Lautformen nur hauchdünn getrennt, ist diese Welt in Wirklichkeit nicht weniger unbekannt, unerforscht und unsicher als der extraterrestrische Raum. Angesichts dieser Welt verlieren die gewohnten Unterscheidungen an Bedeutung: der Beitrag des Psychologen kann wertvoll und entscheidend sein ebenso wie der des Logikers; der Linguist wird, will er etwas ausrichten, von jedem Gebrauch machen müssen. Bestimmte, uns teuer gewordene Unterschiede — zwischen Mentalisten und Behavioristen, zwischen Strukturalisten und „Historisten" — verschwinden und werden zunichte angesichts der Neuartigkeit der Untersuchung. Deshalb erscheinen in diesem Buch die Namen von Freud und Jung neben denen von Linguisten wie Trier oder Hockett, erscheint der Name des Philosophen Wittgenstein neben dem des Ethnologen Nida. Wir ziehen ältere X

und moderne Autoren heran: wir versuchen, aus den Erfahrungen und Überlegungen des Empiristen Locke, des „Historisten" Vico, des Rationalisten Leibniz ebenso Nutzen zu ziehen wie aus denen des Behavioristen Bloomfield, des Strukturalisten Saussure, des „Historisten" Croce. Dies soll nicht heißen, daß wir unsere spezifischen Neigungen und eigenen Vorstellungen zurückhalten müßten: die Untersuchungen, die wir hier in Angriff nehmen, sind im Gegenteil von spezifisch linguistischen Interessen geleitet und zielen auf die Anerkennung der Historizität der semantischen Erfahrung. Akademischer Purismus und sektiererische Borniertheit haben hier nichts zu suchen. Das erste Ziel dieser Arbeit ist es, deutlich werden zu lassen, daß Interdisziplinarität und die kritische Verarbeitung und Zusammenführung verschiedener Standpunkte aus Vergangenheit und Gegenwart unabdingbar notwendig sind. Diese Notwendigkeit rührt von der objektiven Schwierigkeit des Unterfangens und dem „Stand unseres Nichtwissens" her. Das zweite Ziel ist, die komplexen historischen und wissenschaftlichen Gründe aufzuspüren, die für das Paradoxon verantwortlich sind, daß es hinsichtlich einer so leicht zugänglichen Realität wie der der Bedeutung durch die Jahrhunderte hindurch nur Unwissen gab. Das dritte Ziel ist der Nachweis, daß eine nur geringe Kenntnis von der Bedeutung keinen Grund darstellt, sich nicht weiter mit ihr zu beschäftigen oder zu schließen, daß „die Bedeutung nicht existiert": auch Don Ferrante schloß, da für ihn die Pest „weder Substanz noch Akzidenz" war, daß die Seuche nicht existent ist und starb dann, wie bekannt, just an der Pest. (Don Ferrante ist eine Figur aus dem in Italien sehr bekannten Roman „I promessi sposi" von Manzoni. — Die Übers.) Das vierte Ziel ist der Nachweis, daß der Stand unserer semantischen Kenntnisse viel besser wird, wenn man die Bedeutungen nicht als eine Funktion der sprachlichen Form, als eine Art ihnen innenwohnende „virtus significativa", betrachtet, sondern als Ergebnis und Funktion des Zeichengebrauchs, des sprachlichen Verhaltens des Menschen im Rahmen einer historischen Gemeinschaft, in die er, vor allem vermittels der gemeinsamen Semantik, eingefügt ist und in der er lebt. In einem einführenden Kapitel wollen wir in Umrissen die Schwierigkeiten darlegen, auf die man bei dem Versuch, eine Theorie der Bedeutung zu konstruieren, stößt. Danach zeichnen wir die Geschichte der am weitesten verbreiteten Vorstellung von der Bedeutung nach, der Vorstellung nämlich, daß die Bedeutung — entweder unmittelbar oder vermittelt durch einen Begriff - mit der vom Wort bezeichneten Sache übereinstimmt (2. Kap.). Wir zeigen dann, wie Wittgenstein auf der Grundlage eben dieser Theorie die Unmöglichkeit von Kommunikation deduziert hat (3. Kap.), und zeigen weiter, daß auch die entschiedene Zurückweisung der traditionellen aristotelischen Vorstellungen durch Croce (4. Kap.) und Saussure (5. Kap.) und XI

die damit verbundene Ausarbeitung neuer Vorstellungen das Gespenst der Inkommunikabilität nicht nur nicht zu bannen vermögen, sondern es wieder heraufbeschwören. Die Tatsache, daß in dieser Hinsicht überraschenderweise sonst sehr verschiedene Vorstellungen konvergieren, rechtfertigt den semantischen Skeptizismus vieler Linguisten, z.B. von Z . S . Harris, von Philosophen und von Literaten: dennoch ist der semantische Skeptizismus, der seine nachvollziehbaren kulturellen Ursachen hat, theoretisch schwach abgesichert und wird zurückgewiesen ( 6 . Kap.). Dies aber macht die Erarbeitung einer Theorie der Bedeutung notwendig: da die alten Theorien die Probe nicht bestanden haben, geht es darum, in ihnen den gemeinsamen Schwachpunkt — falls es einen solchen gibt — zu finden und eine neue, diesen Schwachpunkt vermeidende Theorie zu konstruieren, wie es der späte Saussure und der späte Croce tatsächlich versucht haben (7. Kap.). Dieselbe Richtung schlägt, nur analytisch besser ausgestattet, der späte Wittgenstein ein; die Garantie dafür, daß die Formen Bedeutung haben, findet er im Gebrauch, den die einzelne historische Gemeinschaft von diesen Formen macht. Trier, Vygotski, Cassirer, Pagliaro, Mounin, Hockett, Martinet, Hjelmslev, Whorf und Piaget — Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen und Richtungen — treffen sich in genau diesem Punkt. Wittgensteins Position erweist sich als die beste Grundlage für die Erforschung der Bedeutung und ihrer historischen Formen (8. Kap.), wie im letzten Kapitel der Untersuchung zusammenfassend bekräftigt wird (9. Kap.). Einige Teile dieses Buches sind in z.T. veränderter Form in verschiedenen Zeitschriften erschienen. V o r und während der endgültigen Fassung habe ich viele Textabschnitte mit den Studenten des Seminars über Sprachphilosophie, das ich in R o m zwischen 1962 und 1965 abgehalten habe, diskutiert. Dabei habe ich viele Anregungen erhalten, die ich zu berücksichtigen suchte. Eine etwas gekürzte Fassung des 2., 3. und 8. Kapitels ist in englischer Sprache in der Zeitschrift „Foundations of Language" erschienen. Tullio De Mauro

XII

I. Antinomien der Semantik

An der Tatsache, daß die Wörter eine Bedeutung (un significato) haben, scheint kein Zweifel möglich. Selbstverständlich kann man sich über die genaue Bedeutung des einen oder anderen Wortes im unklaren sein. Aber es scheint offensichtlich, daß die Wörter eine Bedeutung haben müssen, sofern es sich wirklich um Wörter und nicht um eine Folge von Lauten oder Buchstaben bar jeden Sinnes handelt. Diese Tatsache, nämlich daß die Wörter etwas bedeuten, ist für jeden fraglose Wirklichkeit. Die Bedeutung gehört zu einer Kategorie von Dingen, die unmittelbar gegenwärtig sind im Bereich unserer Erfahrung. Es gibt also keinerlei Grund für die Annahme, daß eine derart einfach erfahrbare Wirklichkeit nicht zum Gegenstand unserer Überlegungen und unserer wissenschaftlichen Erkenntnis gemacht werden könnte. Da wir im Gegenteil seit der Renaissance der Überzeugung sind, daß die Gegenstände unserer Erfahrung uneingeschränkt der Erkenntnis zugänglich sind, erscheint die wissenschaftliche Erkenntnis der Bedeutung nicht nur möglich, sondern gleichsam geboten. Wenn wir der wissenschaftlichen Erkenntnis der Bedeutung im AnschlulS an einen großen französischen Linguisten des 19. Jhs., Michel Bréal, den Namen „Semantik" geben, dann können wir sagen, daß die Konstruktion und Perfektion der Semantik ein Bedürfnis und eine Notwendigkeit darstellen, die aus dem Zusammentreffen zweier Tatbestände resultieren: dem Tatbestand, daß die Wörter, sofern sie Wörter sind, eine Bedeutung haben, u n d dem Tatbestand, daß die Menschen die Gegenstände ihrer Erfahrung so gründlich wie nur möglich zu erkennen suchen. Demgegenüber m u ß festgehalten werden, daß im gesamten kulturellen Leben des 20. Jhs. die entgegengesetzte Meinung vorherrscht (selbst wenn sie nicht explizit formuliert wird) — die Meinung nämlich, es sei aus diesen oder jenen Gründen unmöglich, eine Theorie der Bedeutung aufzubauen. Die Linguistik ist nicht sehr populär, und daher sagt den meisten Menschen, sei es in Europa oder in Amerika, der Name Zellig S. Harris höchstwahrscheinlich nichts. Dennoch ist Harris einer der Linguisten russischer Herkunft, dem unsere Erkenntnis der Sprache, unser am weitesten fortgeschrittener

1

linguistischer Wissensstand, zahlreiche wichtige u n d richtige Ideen und Entdeckungen verdankt. Gerade Harris aber ist — u n d mit Harris greifen wir nur einen unter vielen heraus — ein Techniker, ein Spezialist, der gegenüber der Möglichkeit, die Bedeutung wissenschaftlich zu erfassen, große Vorbehalte h e g t Mehr dagegen sagen den meisten Menschen Namen wie Heidegger, Sartre, Ionesco, Pirandello, Ortega y Gasset, und diese haben in der Theorie und im Kunstwerk gerade den Tatbestand herausgestellt, daß die Wörter keine Bedeutung haben. Einerseits also erscheint eine Wissenschaft von der Semantik notwendig, andererseits aber behaupten Experten und angesehene Denker, daß es sie nicht geben kann aus technischen Gründen oder, radikaler, weil die Bedeutung etwas ist, was es nicht gibt, oder, falls es sie gibt, was auf wissenschaftlich rationale Weise nicht erfaßt werden kann. Und so sehen wir uns, schon bevor wir das Thema der Semantik richtig aufgreifen, dem Dilemma gegenüber, daß die wissenschaftliche Erkenntnis der Bedeutung gleichermaßen notwendig und unmöglich ist. Um die Gründe dieses Dilemmas wenigstens in einer ersten Annäherung zu verstehen, wollen wir sofort auf die offensichtlich zentrale Frage der Kontroverse zwischen den überzeugten Befürwortern und den Skeptikern der Semantik eine Antwort geben — eine Frage, die auch die zentrale Frage der Semantik selbst ist, nämlich ob sie als Disziplin überhaupt gerechtfertigt ist. D.h. wir fragen uns, was das eigentlich ist, was wir „Bedeutung" nennen, und wie man es bestimmen kann. Wenn wir uns die Frage stellen, was die Bedeutung ist, dann kann man zunächst einmal sagen, daß die Bedeutung das ist, was durch ein Zeichen mitgeteilt wird. Eine solche Antwort genügt durchaus dem alltäglichen Gebrauch. Wenn ein Polizist uns auf der Straße anhält und uns fragt, ob wir die Bedeutung eines bestimmten Verkehrszeichens kennen, dann verstehen wir sehr wohl, was er sagen will, u n d normalerweise bestehen wir nicht darauf, daß er uns zuerst definiert, was er mit dem Wort „Bedeutung" meint: wir verstehen genau, daß der Polizist uns fragt, ob wir wissen, daß das Vekehrszeichen dieses oder jenes Verbot mitteilt — beispielsweise daß Linksabbiegen oder eine Geschwindigkeit von mehr als 50 Stundenkilometern verboten ist. Wir können also zunächst einmal ohne weiteres sagen, daß im alltäglichen Sprachgebrauch die Bedeutung das ist, was ein sprachliches Zeichen mitteilt. Wenn man sich jedoch einen Augenblick von der hypnotisierenden Wiederholung dieser Formel löst u n d sie mit etwas mehr Distanziertheit betrachtet, dann wird man schnell gewahr, daß sie nur dann einen Sinn hat, wenn man schon weiß, was ein sprachliches Zeichen ist. Etwas formaler ausgedrückt: der alltagssprachliche Begriff der Bedeutung setzt den bestimmten Begriff des sprachlichen Zeichens voraus. 2

Selbstverständlich gibt es auch kompliziertere Bestimmungen der Bedeutung: so wenn beispielsweise gesagt wird, die Bedeutung sei ein „Engramm" oder eine „Gedächtnisspur" oder ein „expressiver Gehalt" oder gar ein „objektiver (oder sogar gegenständlicher) Referent" usw. Man k ö n n t e diese Liste mühelos erweitern: Definitionen von „Bedeutung" als terminus technicus gibt es derart viele, daß Ogden und Richards in dem 1923 erschienenen Buch „The meaning of meaning" sich gezwungen sahen, sechzehn verschiedene Klassen aufzustellen, u m die zig verschiedenen termini technici unterzubringen. Aber auch die noch so genaue Bestimmung als terminus technicus schafft die Schwierigkeit nicht aus der Welt, die wir beim Alltagsbegriff von Bedeutung festgestellt haben. Die Klassen von Entitäten, die wir als „Engramme", „Gedächtnisspuren", „expressive Gehalte", „gegenständliche R e f e r e n t e n " usw. aufgezählt haben, sind immer noch viel zu umfangreich. Sie verhalten sich zur Bedeutung wie Gattung und Art zueinander: so gibt es beispielsweise unbegrenzt viele „Engramme" - Spuren, die äußere Reize im Gedächtnis (oder nach einer veralteten Theorie: direkt im Protoplasma) hinterlassen haben —, und es genügt daher nicht zu sagen, „die Bedeutung ist ein E n g r a m m " ; genauer m u ß es heißen: die Bedeutung ist ein Engramm, aber „ein Engramm, das mit einem sprachlichen Zeichen verbunden ist". Ganz ähnlich verhält es sich, wenn wir sagen, die „Bedeutung ist nichts Mentales, nichts Psychologisches; die Bedeutung ist ein Ding, ein objektiver Referent". Soll diese Bestimmung nicht angesichts der Tatsache, daß es unendlich viele Dinge gibt (was ist eigentlich kein Ding?), verschwommen bleiben, dann müssen wir dahingehend präzisieren, daß „die Bedeutung ein Ding ist, das von einem sprachlichen Zeichen angezeigt wird". Zusammenfassend: es scheint, daß sämtliche Bestimmungen der Bedeutung, von der alltaglichen bis zur genauen Bestimmung als terminus technicus, in die Aporie fuhren, den bestimmten Begriff des Zeichens schon zu enthalten. Dies ist ganz offensichtlich auch bei der Bestimmung der Fall, die unlängst ein ungarischer Strukturalist gegeben hat, nach der „die Bedeutung etwas ist, das die Regelhaftigkeit im Gebrauch eines Zeichens, d.h. die möglichen ,Denotate' des Zeichens festlegt". Die zentrale Frage der Semantik „was ist die Bedeutung?" fuhrt also logischerweise auf die andere Frage „was ist das Zeichen?" zurück. Um sie zu beantworten, versuchen wir zunächst nochmals von gängigen Definitionen auszugehen, indem wir in irgendeinem guten Wörterbuch unter dem Stichwort „Zeichen" nachschlagen. So erklärt beispielsweise der vortreffliche „Dizionario enciclopedico italiano", das Zeichen sei „irgendetwas (Gegenstand, Tatbestand, Erscheinung), das nicht nur als solches in Erscheinung tritt, sondern auch mehr oder weniger unmittelbare Manifestation von etwas 3

anderem ist, mit dem es in irgendeiner Weise verbunden sein m u ß " . Eine weniger sorgfaltige Erläuterung gibt der „Larousse" zum Stichwort „signe": „das, was zum Darstellen gebraucht wird: die Wörter sind die Zeichen der Ideen. Äußerliche Manifestation dessen, was man denkt oder will...". Noch simpler ist die Erläuterung des „Concise Oxford Dictionary" zum Stichwort „sign": „Ding, das als Repräsentation für etwas benutzt wird". Zeichen ist also das, was mit irgendetwas verbunden ist, was es evoziert u n d repräsentiert. Wenn diese Verbindung nicht klar u n d eindeutig ist oder nicht wenigstens als vorhanden unterstellt wird (wir unterstellen sie, wenn wir ein Wort in einer unbekannten Sprache oder ein unbekanntes Wort in der Muttersprache hören), dann können wir nicht entscheiden, ob ein „Gegenstand, Tatbestand, eine Erscheinung" ein Zeichen ist oder nicht. Anders ausgedrückt: Zeichen ist das, was eine Bedeutung hat (oder von dem angenommen wird, es habe eine Bedeutung). Damit gelangen wir zu dem Schluß, daß die Bestimmung des Zeichens die der Bedeutung voraussetzt. Selbstverständlich sind auch der Bestimmung des Zeichens als terminus technicus keine Schranken gesetzt. Wir können das Zeichen (oder wenigstens einen Teil des Zeichens) umtaufen u n d „Monem" nennen, wie dies Frei u n d Martinet tun, freilich nachdem sie präzisiert haben, daß „jedes sprachliche Zeichen mit einer Bedeutung verbunden ist". Oder wir können den Verfassern des „Dizionario enciclopedico italiano" folgen, die wenige Zeilen nach der bereits zitierten gängigen Definition präzisieren, daß „jeder einzelne Teil eines sichtbaren (oder jedenfalls wahrnehmbaren) Prozesses der Mitteilung von Gedanken" ein Zeichen ist. Aber auch bei diesen Bestimmungen erkennt man leicht den Rückgriff auf die Bedeutung: u m zu wissen, ob etwas ein „Monem" ist oder nicht, müssen wir letztlich immer wissen, ob es mit einer Bedeutung verbunden ist oder nicht; und u m zu wissen, ob etwas („Gegenstand, Tatbestand, Erscheinung") „ein Teil eines sichtbaren oder jedenfalls wahrnehmbaren Prozesses der Mitteilung von G e d a n k e n " ist oder nicht, müssen wir vor allem anderen wissen, ob eine bestimmte Folge von Gegenständen, Tatbeständen, Erscheinungen irgendetwas mitteilt oder nicht, d . h . ob sie eme Bedeutung hat oder nicht. Setzt also die Bestimmung der Bedeutung die des Zeichens voraus, so setzt ihrerseits die Bestimmung des Zeichens die der Bedeutung voraus. Wir wissen nicht, was Bedeutung ist, wenn wir nicht wissen, was Zeichen ist; andererseits können wir nicht bestimmen, was Zeichen ist, wenn wir nicht schon wissen, was Bedeutung ist. Dies ist der erste u n d gravierendste circulus vitiosus, in dem sich das traditionelle Denken über die Sprache bewegt. (Ein weiterer circulus vitiosus ist, wie wir noch sehen werden, von Ludwig Wittgenstein konstatiert worden.)

4

Einen Versuch, aus dieser Situation herauszukommen, unternahm vor mehr als einem halben J a h r h u n d e r t Ferdinand de Saussure, und dieser Versuch wurde später von den dänischen Linguisten und T h e o r e t i k e r n Louis Hjelmslev und Niels E g m o n d Christensen wieder aufgenommen. Bevor wir diesen Versuch darstellen, sind einige kurze terminologische Vorbemerkungen am Platze: beim Gebrauch von „ B e d e u t u n g " und „ Z e i c h e n " haben wir bisher nicht ausdrücklich zwischen der Bedeutung eines Satzes und der eines einzelnen Wortes unterschieden, bzw. zwischen dem sprachlichen Zeichen im Sinne eines Satzes und dem sprachlichen Zeichen im Sinne eines einzelnen Wortes (das „ M o n e m " vom Frei und Martinet, das „ H y p o s e m " von N. Lucidi). Man sollte beachten, daß wir, wenn wir hier im folgenden die Ideen Saussures darstellen, unter „ B e d e u t u n g " die Bedeutung eines einzelnen Wortes und unter „ Z e i c h e n " das betreffende Wort verstehen — und dies, obgleich Saussure selbst keineswegs eindeutig verfährt. Wie sieht nun dieser Versuch Saussures aus? Die traditionellen Bestimmungen der Bedeutung und des Zeichens stimmen — so sinngemäß Saussure — bei aller scheinbaren Vielfalt in einem wesentlichen Punkt überein: sie etablieren Bedeutung und Zeichen als voneinander verschiedene E n t i t ä t e n . Dies gilt, trotz völlig verschieden gelagerter Erkenntnisinteressen, gleichermaßen für die Linguisten wie für diejenigen, die Saussure „ P h i l o s o p h e n " nennt, wobei die ersteren vor allem für die Bestimmung des Zeichens, die letzteren vor allem für die Bestimmung der Bedeutung verantwortlich zeichnen. Ist dieser Dualismus von Bedeutung und Zeichen einmal etabliert, dann ist es nach Saussure unvermeidlich, daß wir beim Versuch, das Zeichen zu fassen, uns unversehens mit der Bedeutung in Händen wiederfinden. Anstatt den circulus vitiosus zu beklagen, gehe es darum, sich diesen Sachverhalt bewußt zu m a c h e n . Man dürfe das Zeichen nicht länger als eine F o r m auffassen, die eine bestimmte Bedeutung hat, und die Bedeutung nicht als eine Entität, die von einer F o r m ausgedrückt wird; man müsse vielmehr das Zeichen als untrennbare Einheit von Bedeutung und Bezeichnung, von Vorstellung und Lautbild, begreifen. Um diese untrennbare Einheit besser zu veranschaulichen, greift Saussure a u f einen Vergleich zurück: Bedeutung und Bezeichnung, Vorstellung und Lautbild, Gedanke (oder ganz allgemein: psychische A k t i v i t ä t ) und äußere, akustische F o r m verhalten sich wie die beiden Seiten eines Blatts Papier zueinander: die eine b e s t e h t nicht ohne die andere, und wenn wir von der einen S e i t e etwas abschneiden, dann auch von der anderen. Diese Bestimmung des Zeichens als Einheit von Bedeutung und Bezeichnung trägt dem genannten Sachverhalt R e c h n u n g und scheint vor allem diesen beklagten circulus vitiosus aus der Welt zu schaffen, in den viele „ P h i l o s o p h e n " und Linguisten dem Anschein nach und tatsächlich geraten sind.

5

Saussure war nicht der einzige, der die Existenz einer unaufhebbaren Synthese von Bedeutung und Bezeichnung behauptet hat. Damit soll nicht nur auf die schon erwähnten dänischen Linguisten, sondern auch auf B. Croce hingewiesen werden. Wem die Geschichte der jüngsten italienischen Kultur und die der italienischen wie nichtitalienischen Linguistik gegenwärtig sind, wird verstehen, daß der Name Croces hier ohne Zögern genannt wird. Je nach Standort und mit Ausnahme von wenigen (man denke an E. Cassirer, W.M. Urban and E. Coseriu) werden Croce und Saussure gleichermaßen verehrt oder abgewertet, gutgeheißen oder bekämpft als die Repräsentanten entgegengesetzter Auffassungen von Sprache und Linguistik. Vom historischen Kontext, dem kulturellen Hintergrund und der Mentalität her gesehen, haben sie scheinbar nichts gemeinsames. Es ist aber eine Tatsache, daß die Ansichten von Croce und von Saussure in der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Bedeutung u n d Bezeichnung, zwischen ausgedrücktem Inhalt und der Form, die ihn ausdrückt, in ihrem Gehalt übereinstimmen, wenngleich ihre sonstigen Gedanken tiefgreifende Unterschiede aufweisen. Der Vergleich mit dem „Blatt Papier" hätte dem Lehrer von Croce, De Sanctis, bestimmt gefallen: und er illustriert in der Tat sehr gut diese enge, untrennbare Einheit von Inhalt und Ausdrucksform, die Croce im Geiste von De Sanctis in seinen ersten Schriften postulierte. Für Croce wie für Saussure ist der Inhalt nicht ohne die Form, die ihn ausdrückt, faßbar, und die Form ist nichts, ist tote Materie, wenn man sie sich losgelöst vom Inhalt vergegenwärtigen will. Und auch das Engagement, mit dem der Schweizer Linguist gegen die traditionelle Linguistik u n d die nicht weniger traditionelle Logik polemisiert, die den Anspruch erhebt, mit von der Bedeutung losgelösten Formen und mit von der Form losgelösten Bedeutungen zu operieren, hat sein genaues Pendant in der heftigen Polemik von Croce wider die traditionelle Linguistik und Logik, die er in gut saussurescher Manier beschuldigt, als Entitäten der Wirklichkeit zu nehmen, was, werden sie getrennt, nur armselige verschwommene Abstraktionen sind. Zwei profilierte Autoritäten behaupten also nachdrücklich, daß die Einheit von Bedeutung u n d Bezeichnung unauflösbar ist, und sie behaupten weiter, daß allein in dieser Einheit die Sprache und die sprachlichen Formen die ganze Wirklichkeit sind. Aber so sicher sie auch zu sein scheinen, in Wirklichkeit haben sie Zweifel. Beide haben Beweisschwierigkeiten. Croce, oder zumindest der junge u n d der reife Croce, gehört der „Welt der Sicherheit" an; er schätzt das Unklare, Problematische nicht, läßt kein Für und Wider zu. Im Falle Saussures ist die Schwierigkeit philologischer Natur: bekanntlich stammt der „Cours de linguistique générale", obgleich er unter Saussures Namen erschienen ist, nicht aus dessen Feder (er hat ihn, wie schon M. Lucidi

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behauptet hat, zweifellos deshalb nicht geschrieben, weil er einige seiner Grundideen als keineswegs gesichert ansah). Der „Cours" als in sich abgeschlossenes Werk wurde von drei treuen Schülern abgefaßt. Diese verarbeiteten dabei Notizen des Meisters, eigene Aufzeichnungen und Mitschriften anderer Schüler von drei verschiedenen Vorlesungen, die Saussure in Genf über Allgemeine Linguistik gehalten hatte. Der Wunsch, manche Unklarheiten in einigen Partien des „Cours" zu beseitigen, anfangs sogar rein philologische Skrupel, gaben in jüngerer Zeit den Anstoß, die „handschriftlichen Quellen" neu durchzusehen und zu untersuchen, die ein halbes Jahrhundert vorher von den drei Bearbeitern benutzt wurden. Diese Arbeiten von Godei und von Engler über die saussureschen Manuskripte haben freilich die Grenzen der reinen Philologie überschritten. Die Notizen zeigen einen Saussure, der in wesentlichen Fragen noch nach befriedigenden Lösungen sucht, einen Saussure, der sich weigert, seine Ideen zu veröffentlichen, weil er überzeugt ist, daß sie noch präzisiert und vertieft werden müssen — einen wenig oder gar nicht saussureschen Saussure. Von Vorlesung zu Vorlesung bedenkt er die Probleme neu, schwankt hin und her. Die Bearbeiter aber hatten sich zum Ziel gesetzt, einen in sich konsistenten Text zu liefern, und deshalb unterschlugen sie jede Abschweifung in der Gedankenfuhrung, füllten jede Lücke, der Saussure sich wohl bewußt war, ließen jedes Anzeichen von Unsicherheit verschwinden. Von den zahlreichen Zweifeln, die Saussure hegte und vor seinen Schülern zum Ausdruck brachte, interessiert hier vor allem einer. Nachdem er in einer Stunde der zweiten Vorlesung über Allgemeine Linguistik, am 7. Dezember 1908, eine Reihe von Ideen vorgetragen hat, die sich genau um die Bestimm u n g des Zeichens als Synthese von Bedeutung und Bezeichnung zentrieren, fügt er am Ende dieser Stunde hinzu, daß es hier etwas gebe, was „wenig klar", was „mysteriös" sei. Und in der Tat: der mysteriöse Schatten der lnkommunikabilität legt sich auf die Ideen, die er in der ersten Vorlesung über Allgemeine Linguistik dargelegt und vertreten hatte. Wer die Geduld hat, den Darlegungen in den nächsten Kapiteln zu folgen, der wird sehen, daß die Ideen Saussures tatsächlich nicht nur nicht erklären, wie zwei Personen sich je verstehen, sondern auch, daß sie mit unerbittlicher Logik zu dem Schluß führen, daß zwei Personen, wenn sie sprechen, einander nicht verstehen k ö n n e n . Es ist so gut wie sicher, daß Saussure sich dessen bewußt war: Tatsache ist jedenfalls, daß er, wie wir zeigen werden, in der letzten der drei Vorlesungen den Versuch unternimmt, einen völlig neuen Weg einzuschlagen. Will man die Haltung von Croce richtig einschätzen, bedarf es noch größerer Aufmerksamkeit. Croce hat niemals ausdrücklich seine frühe Philosophie der Sprache in Zweifel gezogen, die sich, wie gesagt, auf die Identität von

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Inhalt und F o r m gründet: dennoch hat er in den letzten zehn Jahren seines Lebens seinen früheren Standpunkt radikal u n d von Grund auf geändert, obgleich er sich Mühe gab, die Kontinuität zu seinem früheren Denken nicht abreißen zu lassen. Die Form des kurzen Essays, in der er nach Vollendung der systematischen Abhandlung „Filosofia dello spirito" bevorzugt seine Theorie darstellte, ist dem entgegen gekommen. Der für die Theorie der Sprache und des Zusammenhangs von Bedeutung und Form kritische Punkt wird in einer Schrift von 1941 manifest: wie wir noch sehen werden, entwickelt Croce in ihr einerseits eine völlig neue Sichtweise des Kommunikationsprozesses, andererseits aber versucht er, die frühere Theorie der Identität von Inhalt u n d Form mit einem in einer früheren Arbeit benutzten Argument aufrechtzuerhalten und zu bekräftigen. Sein Freund Karl Voßler hatte es vermutet und geschrieben, und ein damals junger italienischer Wissenschaftler, Silvio Ceccato, hatte es ihm in einem Colloquium im Jahre 1939 entgegengehalten — nämlich, daß diese Theorie nur schlecht erklärt, wie zwischen zwei verschiedenen Personen Verständigung möglich ist, ja wie ein und dieselbe Person überhaupt das verstehen kann, was sie im Moment zuvor gesagt hat. Schon in der „Poesia" hatte Croce dazu geschrieben: „... die Lehre von der ,communicatio idomatum' als das Werk Gottes, enthält selbst in ihrer mythologischen Form die Wahrheit: die Menschen verstehen sich gegenseitig, weil alle in G o t t sind, leben und sich bewegen". Und in der Schrift von 1941 bekräftigt er: „Selbst das Problem des gegenseitigen Verstehens der Sprechenden hat den mysteriösen Schleier verloren, der es umhüllte, weil es wieder unter die Vorstellung des Geistes gebracht wurde, der — universell-individuell — in seinem Inneren Verständigung u n d Gemeinschaft der Wesen untereinander ist, ohne die weder die Geschichte sich bewegen, noch die Welt sein würde". Hätte Croce diese Worte 3 0 Jahre früher geschrieben, dann hätten sie ohne jeden Zweifel den Sinn, den sie auf den ersten Blick haben. Der Croce am Beginn des 20. Jhs. denkt und glaubt wirklich, die Menschen und die Dinge seien nicht m e h r als vergängliche Erscheinungen, bunte Masken dieser einzigen überindividuellen Realität, die der absolute Geist ist. In jenen Jahren hätte Croce leicht erklären können, wie zwei Personen sich verstehen; er hätte die Erklärung auf die Existenz des überindividuellen Geistes zurückgeführt, dessen flüchtige Verkörperungen u n d Instrumente die Personen lediglich darstellen. Der Croce von 1941 aber war ein anderer. (Es ist angebracht, hier einen Punkt zu klären. Sprachvermögen (linguaggio) und Sprache (lingua) sind, k a n n m a n sagen, die Grundlage unseres Lebens, aber eine Grundlage hat nur dann einen Sinn, weil sie Grundlage eines Bauwerks ist: wir verstehen ihre Form u n d F u n k t i o n nur, wenn wir die Struktur des ganzen Bauwerks bedenken. Man kann deshalb nicht ernsthaft über eine Sprache reden, wenn man sie

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nicht im Kontext der Gesellschaft betrachtet, die sie gebraucht und ihr Leben verleiht, im Kontext der Kultur, deren „Aktualität" sie ist, um es mit Hegel zu sagen. Ebenso wird man auch eine Theorie des Sprachvermögens und der Sprache, der sprachlichen Form u n d der Bedeutung nicht gut verstehen, wenn man sie nicht im Zusammenhang mit dem allgemeinen Denken ihres Autors betrachtet. Aus diesem Grund wird es hier und an anderen Stellen dieser Abhandlung o f t notwendig sein, Probleme, die nicht in das Gebiet der Semantik u n d der Sprachtheorie gehören, aufzugreifen.) Croce ist 1941 ein Mensch, der sich große Erfahrung in der historischen Analyse angeeignet hat, der jahrelang in einem fast allein geführten Kampf gegen eine sehr konkrete politische Macht engagiert ist, und der in der Polemik gegen den Panlogismus Gentiles, wie Garin gezeigt hat, den Sinn des Werts der Personen und Institutionen in ihrer begrenzten und konkreten Realität wiedergefunden hatte. Wenn dieser Croce den absoluten Geist als deus ex machina anruft, damit dieser die Verständigung und gleichzeitig die vollständige Koinzidenz von Inhalt u n d Form sicherstelle, dann darf man annehmen, daß hier der äußerste Versuch unternommen wird, das Unvereinbare zu vereinbaren: die alltägliche erfahrbare Realität der Verständigung und seine Theorie der Identität von Inhalt und Form. Übrigens ist es tatsächlich so, daß er, wie wir gezeigt haben, in den folgenden Schriften sich von dieser Theorie abwendet. Alles weist also d a r a u f h i n , daß Croces Rekurs von 1941 auf den überindividuellen Geist zur Erklärung der Verständigung das genaue Äquivalent zum saussureschen Eingeständnis darstellt, daß es, setzt man bestimmte Vorstellungen von der Bedeutung voraus, etwas „Mysteriöses" im Prozeß der Verständigung gibt. So haben also die Sprachtheorien von Saussure und von Croce dies gemeinsam: beide implizieren, ohne daß dies in der Absicht der Autoren gelegen hätte, in letzter Konsequenz die Behauptung, daß es Verständigung nicht gibt und zugleich gibt in einer Art und Weise, die über das Fassungsvermögen u n d die Vernunft des einzelnen, realen Individuums geht. Was bei Croce u n d Saussure nur als implizite Konsequenz vorhanden ist, ist explizite Folgerung bei Ludwig Wittgenstein. Ausgehend von den traditionellen aristotelischen und kartesianischen Ideen, soweit sie die Sprache betreffen, hat er diese Folgerung auf logischem Weg deduziert und auch ausdrücklich formuliert. Der Abstand, der Saussure von Croce trennt, trennt Wittgenstein von beiden. In den zentralen Kapiteln dieses Buchs versuchen wir, diesen Abstand in objektiver Weise zu bestimmen, indem wir uns mit den Werken beschäftigen. Um hier wenigstens eine Vorstellung von dem enormen Abstand zu geben, der diese drei Personen trennt, ist es der Mühe Wert, zunächst und zu Anfang die Schilderungen wiederzugeben, die uns von ihnen überliefert sind. Diese Schilderungen erfassen, zum großen Teil

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wenigstens, nur das Äußere; aber es ist das Äußere außergewöhnlicher Persönlichkeiten u n d wurzelt sicherlich sehr tief in ihrem ethischen und intellektuellen Charakter. In ihrer Verschiedenheit veranschaulichen sie zusammengenommen, ebenso gut und vielleicht sogar besser als alle minuziösen, jedes D o k u m e n t berücksichtigenden Analysen, den Unterschied, der in ethischer und intellektueller Hinsicht zwischen Saussure, Croce und Wittgenstein besteht. „Wer seine Person kannte, liebte seine Wissenschaft. Mit Staunen sah man, wie seine himmelblauen geheimnisvollen Augen die Realität mit solcher Strenge und solcher Exaktheit erfaßten. Seine harmonische und sanfte Stimme nahm der Grammatik ihre Trockenheit u n d Sprödigkeit. Angesichts seiner Person, seiner jugendlichen und aristokratischen Eleganz, hätte niemand jemals daran gedacht, daß man der Linguistik in irgendeiner Weise vorwerfen würde, sie sei wenig lebendig." So wird Saussure vom größten seiner Schüler, von Meillet, porträtiert. Der Professor aus Genf hat kaum gemeinsame Züge mit Croce, dem „Herrn Senator": 1 „Mäßigkeit und Abneigung gegenüber aller Weichlichkeit und allem Prunk waren meinem Vater vor allem von seiner einzigartigen physischen Konstitution her eingegeben, die Konstitution eines Mannes, der in der Arbeit am Schreibtisch von vorzüglicher Ausdauer war und der sich diese Ausdauer instinktiv bewahrte, indem er alles mied, was er als schädlich empfand, von zu opulenten Speisen bis zu ermüdenden gesellschaftlichen Aktivitäten; sie waren auch bedingt von seiner moralischen Haltung her, der eines Mannes, für den das Leben, das seine u n d das der anderen, die Aufgabe war, die er sich selbst gestellt hatte ... Und ... in der Strenge meines Vaters — eine Strenge, die nichts Moralisierendes u n d Puritanisches an sich hatte — beides Haltungen, die ihm nicht nur fremd waren, sondern ihn verärgerten — war der tief südländische Charakter des Hauses in der Via Trinità Maggiore beheimatet ... Doch diese Strenge war abruzzisch, nicht neapolitanisch. Darin war mein Vater niemals neapolitanisch, obwohl er neapolitanisch in einem ganz anderen Sinn war: er besaß eine Vorliebe für die Komödie, jene einzigartige Einheit von Ungezwungenheit und Leichtigkeit, die die Neapolitaner auszeichnet (und die ihr großes Produkt ist, auch wenn es gern und schnell in Frivolität abgleitet) ..." Dieses von seiner Tochter gezeichnete Porträt des älteren Croce fügt sich gut in das Bild des reifen Croce, das uns Serra hinterlassen hat. Serra erblickt in ihm „den Ausdruck eines tiefen und strengen Anspruchs, der sich nicht mit abstrakten Konstruktionen zufrieden gibt u n d hinter Wissenschaftlichkeit und Lehre festhält an den realen Momenten des ethischen Lebens und der wirklichen Verzweiflung der Reflexion, man m ö c h t e fast sagen: am Festen,

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Croce bekleidete das Amt eines Senators.

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Konkreten, an der Qual, die diese Qual und keine andere im ganzen Universum ist. So zeigt sich hinter der ruhigen Bonhomie, dem feisten, ein wenig schlaffen u n d lächelnden, neapolitanischen Gesicht, das kurzsichtig u n d ausdruckslos ist, Zug u m Zug die harte, schwere, düstere Maske eines unbekannten Denkens." Ein ganz anderer Mensch war der Wiener Philosoph, von dem zwei philosophische Strömungen ausgingen, durch die die traditionelle Ordnung des europäischen Denkens erschüttert wurde. Als er durch die Alleen einer amerikanischen Universität spazierte, war er so gekleidet, daß man ihn für einen „ T r a m p " hielt; und als er eines nachts mit Norman Malcolm spazierenging, zeigte er ihm am Himmel die Kassiopeia und versuchte ihn ernsthaft davon zu überzeugen, daß das Sternbild ganz klar die Initialien seines Namens, ein W, darstelle, und war dann wirklich verärgert, weil Malcolm im Scherz darauf bestand, daß das Sternbild im Gegenteil ganz offensichtlich ein auf dem Kopf stehendes M darstelle. Die Analyse ihrer Werke wird bestätigen, wie groß der Abstand ist, der Croce, Saussure und Wittgenstein trennt. Der Philosoph aus Wien unterscheidet sich vor allem, wie wir sehen werden, von Croce und Saussure dadurch, daß er die traditionellen Vorstellungen von der Sprache und dem Sprachvermögen ohne den geringsten Einwand akzeptiert. Aber trotz solcher Unterschiede gelangt dieser Mann explizit zu genau derselben Schlußfolgerung, die sich als implizite Konsequenz des Denkens der beiden anderen Gelehrten abzeichnet: „Die Grenzen meiner S p r a c h e bedeuten die Grenzen meiner Welt."; „Daß die Welt m e i n e Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenzen d e r Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen m e i n e r Welt bedeuten." Obwohl sie in Zeit und Kultur einander fernstehen, verschieden inspiriert sind, verschiedene Ziele verfolgen, gelangen einzelne Gelehrte, ganze Wissenschaftsrichtungen und Denkströmungen, willentlich oder nicht, bewußt oder nicht, einander fast immer unbekannt, zu ein und derselben Schlußfolgerung. Die „Philosophen" von Piaton und Aristoteles über Descartes bis zum frühen Wittgenstein sind, was ihnen von Saussure und Croce vorgehalten wird, von der Hypothese ausgegangen, daß die Bedeutung als solche bestimmbar sei und daß die Form lediglich ein belangloser materieller Träger dieser Bedeutung darstelle. Und die Linguisten haben ein Jahrhundert lang (und auch sie sind von Croce und Saussure deshalb getadelt worden) die Form untersucht, ohne sich um die Bedeutung zu kümmern, die als schwacher Abglanz der Form angesehen wurde. „Philosophen" und Linguisten — beide scheinen verschiedene Wege zu gehen. In Wirklichkeit aber handelt es sich, wie

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Saussure sah (und auch Croce hat aller Wahrscheinlichkeit nach so gedacht), um genau denselben Weg: ein Weg, der immer wieder auf sich selbst zurückfuhrt in den immer wiederkehrenden vergeblichen Versuch, die Bedeutung ohne die Zeichen und die Zeichen ohne die Bedeutung zu begreifen. Wittgenstein akzeptiert die Vorstellungen, die in der Art, wie die einen philosophieren und die anderen Linguistik treiben, enthalten ist, und zieht dann explizit die Konsequenz des semantischen Skeptizismus: der Mensch spricht, es gelingt ihm aber nicht, sich mit anderen zu verständigen. Ganz anders als der frühe Wittgenstein brechen beide, Croce und Saussure, mit den traditionellen Vorstellungen und Methoden und wagen sich mit dem ersten Schritt ihrer Überlegungen in neue und andere Richtungen: dennoch scheint die lnkommunikabilität der nicht gewünschte, aber unvermeidbare Endpunkt auch ihres Wegs zu sein. Sowohl die, die mit einem viele Jahrhunderte alten und wohl gefestigten Denken k o n f o r m gehen, als auch die, die gegen es rebellieren — alle scheinen den Mystikern, Literaten und Philosophen von Kirkegaard bis Heidegger recht zu geben, die die Inkommunikabilität als die normale, kreatürliche Verfassung des Menschen gelehrt haben. Und selbst wenn sie ihnen nicht ausdrücklich zustimmen, so ist doch sicher, daß sie nicht imstande sind, in kohärenten und rationalen Begriffen zu erklären, wie es möglich ist, daß bestimmte Formen eine für viele Menschen gemeinsame Bedeutung haben, und weiter, wie es möglich ist, daß die Menschen sich verständigen. Die Geschichte des Denkens über die Sprache von der Antike bis ins frühe 20. Jahrhundert exponiert also ein Dilemma. Entweder wir anerkennen die Leitvorstellungen und Techniken eines solchen Denkens und gelangen dennoch zu dem Schluß, daß Verständigung nicht möglich ist, es sei denn unter dem mystischen Entwurf einer Verständigung der Seelen mit Gott (der „positivistische" Linguist der „konkreten F a k t e n " ist dieser Folgerung nicht weniger unterworfen als der „abstrakte" Saussure, der „idealistische" Croce und der „mathematisierende" Wittgenstein), oder, wenn diese Folgerung absurd erscheint, wenn dieser vertraute und ursprüngliche Tatbestand, daß Verständigung zwischen Menschen existiert, anscheinend nicht zu bestreiten ist, dann m u ß man den verbreiteten Irrtum zu finden trachten, der in den verschiedensten Richtungen des traditionellen Sprachdenkens und -forschens gegenwärtig sein kann, dann muß man ihn kenntlich machen, ihn aufzeigen, ihn aus den komplexen Zusammenhängen der neueren Forschungen herauslösen. Diese Untersuchung möchte vor allem diese Alternative vor Augen führen, indem sie ihre historischen und logischen Gründe aufspürt und aufklärt. Aber sie möchte auch die erste der beiden Möglichkeiten zurückweisen. Diese Zurückweisung ist nicht neu, nicht nur in dem Sinn, daß sie im Verhalten 12

unzähliger menschlicher Wesen schon unterstellt ist, die, seit der Mensch Mensch ist, täglich u n d stündlich reden u n d einander verstehen (im übrigen sind die Mystiker der Inkommunikabilität glänzende Redner u n d machen sich sehr gut verständlich); sie ist nicht neu, weil, wie wir sehen werden, sie schon in den letzten Vorlesungsstunden von Saussure hervortritt, in den letzten Schriften von Croce und in den von Wittgenstein in der zweiten Phase seines Denkens erarbeiteten Positionen. In dieselbe Richtung bewegt sich ein Teil der europäischen und amerikanischen Allgemeinen Linguistik: schon hier wollen wir an die Namen von Linguisten erinnern wie Whorf, Hjelmslev, Pagliaro, zu denen sich in neuerer Zeit Mounin, Lyons, Prieto, Coseriu und Revzin gesellen. Diese Untersuchung möchte das neue und zutiefst Originelle in diesen Positionen verteidigen. Um dies zu erreichen, möchte sie vor allem den Irrtum bestimmen, der das gesamte Denken über die Sprache mit wenigen und vereinzelten Ausnahmen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auszeichnet. Dieser Irrtum besteht, wie gezeigt werden soll, in einem Übermaß an Vertrauen, das Logiker u n d Linguisten, Philosophen und Grammatiker, in die semantische Potenz der Sprachformen und der Sprache gesetzt haben. Eine jahrhundertealte Tradition hat fast immer übersehen, daß die sprachlichen F o r m e n in Wirklichkeit keinerlei innere seman tische Potenz besitzen: sie sind mehr oder weniger sinnreiche Instrumente, Hilfsmittel, die Leben und Wert nur haben in den Händen des Menschen, in den historischen Gemeinschaften, die sie gebrauchen. Mit anderen Worten: der Irrtum besteht in der Behauptung u n d im Glauben, daß die Wörter oder die Sätze irgend etwas bedeuten u n d bezeichnen: allein die Menschen schaffen Bedeutung, indem sie die Sätze und Wörter als Zeichen gebrauchen. Nicht die sprachlichen Formen als solche, sondern die Gesellschaften, die sie gebrauchen, gewährleisten Zeichengebrauch (il significare) und Verständigung. Wenn dieser Standpunkt konsequent durchgehalten wird, verschwindet zuallererst das Phantom der Inkommunikabilität; und dann ist es möglich, eine Semantik auf festen kritischen u n d historischen Grund zu stellen, eine Semantik als Theorie des Zeichengebrauchs in seinen historisch bestimmten Formen.

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II. Der sprachliche Aristotelismus in der Geschichte und im „Tractatus" von Wittgenstein

1. Der „Tractatus" im modernen Sprachdenken Es wäre verkehrt, wollte man behaupten, daß das Denken von Wittgenstein von den Semantikern und Sprachtheoretikern vollständig ignoriert worden wäre. Es genügt zu erwähnen, daß der „Tractatus logico-philosophicus" und die „Philosophischen Untersuchungen" in sehr wichtige Abhandlungen Eingang gefunden haben und dort diskutiert worden sind, so bei Ogden und Richards (1923), Urban (1939), Ulimann (1951), Pagliaro (1952), Wells (1954), Regnéll (1958), Ziff (1960), Christensen (1961). Betrachtet man jedoch die Abhandlungen näher, in denen die beiden Werke von Wittgenstein herangezogen werden, dann kann man folgendes feststellen: erstens ist das Interesse für diese Werke gleichsam ein ausschließendes, d.h. dort, wo auf das zweite Werk eingegangen wird, wird das erste in der Regel noch nicht einmal erwähnt, und umgekehrt; wenn dann vom ersten und vom zweiten oder von beiden zusammengenommen die Rede ist, handelt es sich im allgemeinen um Probleme, die für die Struktur des Denkens des frühen und späten Wittgenstein nur am Rande wichtig sind; der Stellenwert endlich, den Erwähnung und Diskussion dieser Probleme innerhalb der angeführten Abhandlungen einnehmen, ist für gewöhnlich relativ gering. Zusammengefaßt heißt dies, daß das Denken von Wittgenstein auch dann, wenn es zur Kenntnis genommen wird, von Semantikern und Sprachtheoretikern als nur von geringer Relevanz veranschlagt wird. Diese geringe Relevanz, die man Wittgenstein zuschreibt, wird nur dann völlig klar, wenn man zusätzlich in Betracht zieht, daß die Abhandlungen, die auf den Wiener Philosophen eingehen, Ausnahmen darstellen: die meisten, die sich mit Semantik oder Allgemeiner Linguistik wissenschaftlich befassen, lassen Wittgenstein normalerweise völlig unbeachtet. 1 1

Im Jahre 1970 merkt De Mauro hierzu an: Diese Behauptung scheint noch immer zu gelten. Schaff (1964) bezieht sich nur auf den „Tractatus"; Lyons (1963, S. 1, 54, 75; 1968, S. 4 1 0 , 488) benutzt nur, allerdings sehr scharfsinnig, die „Untersuchungen". Im allgemeinen neigen nur Wissenschaftler mit philosophischer

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Dies beweisen die jüngsten Werke zur Geschichte der Sprachwissenschaft: Arens (1955) u n d Leroy (1963) nennen und untersuchen nicht nur Grammatiker und Linguisten, sondern auch Philosophen, die sich mit der Sprache auseinandergesetzt haben, wie z.B. Piaton, Krates von Mallos, Smaragdus, den Hl. Thomas, Vico, Kant, Croce u n d Husserl. Beide erwähnen kein einziges Mal den Namen Wittgensteins. Stößt man in einer Abhandlung zur Geschichte des linguistischen Denkens doch auf diesen Namen, so ist dies erstaunlich. 2 Nichtsdestoweniger löst das Denken Wittgensteins — u n d dies gilt für seine erste wie für seine zweite Phase, für den „Tractatus" wie für die „Untersuchungen" — eine tiefe Krise in der Geschichte des Denkens über Sprache und Bedeutung aus, eröffnet aber gleichzeitig völlig neue Perspektiven. Nimmt man dieses Denken mit seinen Irrtümern und seiner Wahrheit nicht zur Kenntnis, dann gerät man leicht auf einen Weg, den schon Wittgenstein als Sackgasse aufgezeigt h a t ; dann versperrt man sich selbst die Möglichkeit, die zahlreichen positiven und negativen Hinweise aufzunehmen, die das Verständnis dieses Denkens dem geben kann u n d auch gibt, der sich mit Semantik befaßt. Das geringe Interesse der Semantiker und Sprachtheoretiker an Wittgenstein ist nicht ohne Folgen für die gängigen Interpretationen seines Denkens geblieben. Wohl ist gesehen worden, daß nicht nur die „Untersuchungen", sondern schon der „Tractatus" eine Bedeutungs- und Sprachtheorie enthalten; im allgemeinen aber hat man dieser Theorie wenig Gewicht beigemessen. Während die Semantiker und Linguisten, die an dieser Theorie das größte Interesse haben müßten, im allgemeinen Wittgenstein ignorieren, wird er von den Logikern und von den Philosophen überhaupt nicht ignoriert - sie kennen ihn im Gegenteil sehr gut. Die Folge ist, daß die logischen und ethischen und nicht die sprachtheoretischen Aspekte des „Tractatus" am meisten diskutiert und bekannt sind. Schon Carnap (1928, 261) sah in den logischen Erörterungen und in der ethischen Haltung die Ausbildung dazu, beide Arbeiten Wittgensteins für eine Theorie der Bedeutung heranzuziehen (vgl. Schaff 1965, 6 9 - 7 5 , 2 3 6 - 2 3 8 , 271). Nur Chomsky stellt in gewisser Hinsicht eine Ausnahme dar. In seinen frühen Veröffentlichungen, z.B. „Syntactic Structures", wird Wittgenstein nicht erwähnt, in „Cartesian Linguistics" finden sich jedoch häufig Verweise auf Wittgenstein, wobei beide Werke berücksichtigt werden. Ks handelt sich jedoch um recht oberflächliche und marginale Hinweise. Bislang trifft die Kritik des späten Wittgensteins an der metaphysischen Lehre von den Universalien auf Chomsky zu, dem es nicht gelungen ist, eine befriedigende semantische Theorie aufzustellen (was Chomsky wohl bewußt ist). 2 Wittgenstein fehlt auch in Wissenschaftsgeschichten der Linguistik, die ausdrücklich dem 20. Jahrhundert gewidmet sind: Bolelli 1965, Lepschy 1966, Malmberg 1966, Robins 1967.

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beiden größten Vorzüge des „Tractatus"; dieselben Aspekte haben die Aufmerksamkeit von Gelehrten wie Scholz (1962, 143), Weinberg (1950), Colombo (1954), Barone (1953) auf sich gezogen. Zwar spricht der letzte vom „sprachlichen Solipsismus" Wittgensteins, aber offensichtlich k o m m t es ihm in diesem Ausdruck auf das Substantiv und nicht auf das Adjektiv an. Die sprachlichen Theorien Wittgensteins werden so allerhöchstens als eine Art Brücke dargestellt, die Mittel zum Zweck ist, um zu bestimmten, die Logik betreffenden Folgerungen oder zu einer bestimmten ethischen Haltung mystischer Art zu gelangen. Bemerkenswerte Ausnahmen sind M. Black, der den „Tractatus" vor allem unter sprachlichem Aspekt untersucht (Black 1953, 177—209), und G.H. von Wright, der meint, „der ,'Tractatus' kann definiert werden als eine Synthese aus der Theorie der Wahrheitsfunktionen und aus der Idee, daß die Sprache ein Bild der Wirklichkeit ist" (von Wright 1958, 8); diese beiden Gelehrten wenigstens haben die wesentliche Rolle erkannt, die die Theorie der Sprache im „Tractatus" spielt. 3 Es gibt noch einen weiteren Grund, warum diese Rolle nicht immer in angemessener Weise erkannt wurde. In Bezug auf den „Tractatus" Wittgensteins und auf Theorien von Weinberg schreibt Pagliaro: „Der Begriff des elementaren Satzes, in der die Namen Eigennamen und also identisch mit dem Gegenstand sind, ist nicht der des sprachlichen Satzes. Die Sprache, von der die mathematischen Logiker reden, ist nicht wirklich unsere Sprache ..." (Pagliaro 1952, 309). Auch Barone hat, nur auf Wittgenstein bezogen, ähnliches behauptet: „In der Lehre Wittgensteins gibt es einen Aspekt von großer Wichtigkeit: das System der sprachlichen Symbole wird als projektive Darstellungsform der Realität untersucht; der ganze Bereich der Beeinflussung durch die Sprache, ihre normative Funktion, ihre Fähigkeit, verschiedene Bewußtseinsbereiche zu konstituieren, werden nicht gesehen oder vernachlässigt. Die Sprache wird ausschließlich als Instrument der Erkenntnis betrachtet . . . " ( B a r o n e 1953, 103). Mit anderen Worten heißt dies: die im „Tractatus" exponierten sprachlichen Theorien würden sich viel eher auf künstliche, von der modernen symbolischen Logik konstruierte Sprachen beziehen als auf die „natürlichen" historischen Sprachen, die von den künstlichen sehr verschieden sind, was im übrigen die Logiker sehr wohl wissen (Pasquinelli 1957; Bochenski-Menne 1962). Das könnte das Desinteresse der Semantiker und Linguisten am „Tractatus" rechtfertigen. Eine solche Folgerung verfälscht das, was Pagliaro und Barone wirklich schreiben, und, was wichtiger ist, sie entspricht auch 3

Es gibt eine ausgezeichnete Monographie, die besonders die sprachlichen Vorstellungen Wittgensteins untersucht: Gargani 1966.

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nicht der Realität des „Tractatus". Wittgenstein hat in ihm sicherlich die Umgangssprache häufig unter logischem Aspekt betrachtet, unter vorwiegend logischem Interesse; dennoch beschäftigt er sich nicht mit künstlichen, logischen Sprachen, sondern mit der Umgangssprache, nicht mit Aussagen der symbolischen Logik, sondern mit Sätzen in der alltäglichen Rede. Seine Theorie ist eine Theorie der historischen „natürlichen" Sprache, auch wenn sie eine logische Theorie ist und damit in unverhältnismäßiger Weise Aspekte hervorhebt (oder hervorzuheben sucht), die künstlichen Sprachen eigen sind. Daß dies eine entscheidende Grenze der Theorien des „Tractatus" darstellt, ist im übrigen von Wittgenstein selbst in den späteren „Philosophischen Untersuchungen" behauptet worden, in denen er gegen seine einstigen Vorstellungen häufig polemisiert. So z.B., wenn er die Auffassung von der Sprache diskutiert, die sich in einem Abschnitt von Augustinus' „Confessiones" abzeichnet — eine Auffassung, die allerdings mit der von Aristoteles und Descartes, mit der syntaktischen und grammatischen Tradition von der Spätantike bis zur Moderne, den „Tractatus" eingeschlossen, übereinstimmt: „3. Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muß man in so manchen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: ,Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar?' Die Antwort ist dann: ,Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst.'" Es gibt keinen Zweifel, daß die erste Sprachtheorie Wittgensteins, trotz dieser Grenzen und trotz der Unsicherheiten, die dem nicht sehr klaren und alogischen Wesen der historischen Sprachen entspringen, eine Theorie der ganzen Sprache und des Satzes überhaupt sein sollte (Black 1953; Anscombe 1959). Daß die Theorien des „Tractatus" auf die Umgangssprache, auf die historischen Sprachen, auf umgangssprachliche Sätze bezogen werden sollen, läßt sich im übrigen auf zweierlei Art beweisen. Zunächst, indem wir die Passagen des „Tractatus" anführen, in denen dieser Bezug offensichtlich ist oder sogar ausformuliert wird. Wir zitieren hier im folgenden einige Beispiele, die offenbar in diesem Sinn verstanden werden müssen. „3.11. Wir benutzen das sinnlich wahrnehmbare Zeichen (Laut- und Schriftzeichen etc.) des Satzes als Projektion der möglichen Sachlage." Allein die Anspielung auf das „sinnlich wahrnehmbare Zeichen" läßt vermuten, daß Wittgenstein hier nicht an die Aussagen der Logik, sondern an die umgangssprachlichen Sätze denkt. „3.321. Zwei verschiedene Symbole können also das Zeichen (Schriftzeichen oder Lautzeichen etc.) miteinander gemein haben — sie bezeichnen dann auf verschiedene Art und Weise." Hier zeigt der Hinweis auf den Lautcharakter und auf die Zweideutigkeit des Zeichens, daß 17

der Autor an die umgangssprachlichen Sätze dachte, und nicht an die eindeutigen Zeichen einer logischen, künstlichen und formalisierten Sprache, einer „Zeichensprache also, die der l o g i s c h e n Grammatik — der logischen Syntax - gehorcht." (3.325) „3.323. In der Umgangssprache kommt es ungemein häufig vor, daß dasselbe Wort auf verschiedene Art und Weise bezeichnet — also verschiedenen Symbolen angehört —, oder, daß zwei Wörter, die auf verschiedene Art und Weise bezeichnen, äußerlich in der gleichen Weise im Satze angewandt werden. So erscheint das Wort ,ist' als Kopula, als Gleichheitszeichen und als Ausdruck der Existenz;,existieren' als intransitives Zeitwort wie ,gehen'; .identisch' als Eigenschaftswort; wir reden von E t w a s , aber auch davon, daß e t w a s geschieht. (Im Satze ,Grün ist grün' — wo das erste Wort ein Personenname, das letzte ein Eigenschaftswort ist — haben diese Worte nicht einfach verschiedene Bedeutung, sondern es sind v e r s c h i e d e n e S y m b o l e .)" In dieser wie in den folgenden Passagen, die wir aus dem „Tractatus" zitieren, ist die Bezugnahme auf die alltägliche Rede offensichtlich: „4.002. Der Mensch besitzt die Fähigkeit Sprachen zu bauen, womit sich jeder Sinn ausdrücken läßt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet. — Wie man auch spricht, ohne zu wissen, wie die einzelnen Laute hervorgebracht werden. Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompliziert als dieser. Es ist menschenunmöglich, die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen. (...) Die stillschweigenden Abmachungen zum Verständnis der Umgangssprache sind enorm kompliziert." „4.025. Die Übersetzung einer Sprache in eine andere geht nicht so vor sich, daß man jeden S a t z der einen in einen S a t z der anderen übersetzt, sondern nur die Satzbestandteile werden übersetzt." „5.5563. Alle Sätze unserer Umgangssprache sind tatsächlich, so wie sie sind, logisch vollkommen geordnet." Daraus geht ganz klar hervor, daß Wittgenstein schon im „Tractatus" Behauptungen aufstellen wollte, die den natürlichen Sprachgebrauch und die natürliche Sprache, sprachliche Sätze und sprachliche Zeichen im allgemeinen zum Gegenstand haben. Eine ganz anderer Frage ist dann offensichtlich, ob diese Behauptungen die Eigenschaften der Sprache wirklich vollständig erfassen, oder ob sie nicht, wie Wittgenstein später hervorgehoben hat, nur für einen eingeschränkten Bereich Gültigkeit haben. (Vgl. dazu Black 1953, 206-209). Einen zweiten Beweis, falls ein solcher noch nötig ist, liefert die Analyse des Kerns der Sprachtheorie des „Tractatus" und vor allem der autobiographischen Berichte von Wittgenstein selbst, wie dieser Kern in seinem Denken Form angenommen hat. Wir zitieren diesen Bericht hier aber nicht 18

deshalb ausfuhrlich, um diesen Beweis zu erbringen. In seinem kurzen und instruktiven Essay über Wittgenstein schreibt G.H. von Wright: „Die ältesten Teile des ,Tractatus' sind diejenigen, die von der Logik handeln. Wittgenstein hatte seine Hauptgedanken über diesen Gegenstand vor Ausbruch des Kriegs 1914 ausgearbeitet, also vor seinem 26. Lebensjahr. Später sah er sich mit einem neuen Problem konfrontiert: mit der Frage nach der Natur des sinnvollen Satzes. Wittgenstein erzählte mir, wie er auf die Idee der Sprache als B i l d der Wirklichkeit gekommen war. In einem Schützengraben an der Ostfront las er ein Magazin. Es enthielt ein schematisches Bild, in dem die mögliche Abfolge von Ereignissen bei einem Autounfall abgebildet war. Das Bild diente hier als Satz, d.h. als eine Beschreibung einer möglichen Sachlage. Es hatte diese Funktion aufgrund einer Entsprechung zwischen den Teilen des Bilds und Dingen der Wirklichkeit. Wittgenstein kam der Gedanke, daß man die Analogie umkehren und sagen könnte, daß ein S a t z als ein B i l d dient kraft einer ähnlichen Entsprechung zwischen s e i n e n Teilen und der Welt. Die Art und Weise, in der die Teile des Satzes zueinander stehen — die S t r u k t u r des Satzes —, bildet eine mögliche Kombination von Elementen in der Wirklichkeit ab, eine mögliche Sachlage." (von Wright 1958, 7 f.). Die autobiographische Anekdote, die Wittgenstein von Wright erzählte (und nicht nur ihm: Malcolm 1 9 5 8 , 6 8 f . ) , räumt jeglichen Zweifel daran aus, daß Wittgenstein mit dem Konzept des Bild-Satzes den wesentlichen Charakter des Satzes überhaupt fassen wollte. Aber diese Erzählung gibt darüber hinaus Anlaß zu zwei weiteren wichtigen Überlegungen. Erstens bestätigen die Genauigkeit und Detailliertheit, mit der Wittgenstein berichtet, u n d der noch im Bericht von von Wright spürbare Nachdruck, daß das Konzept der Bild-Sprache kein beiläufiger Gesichtspunkt oder einfacher Folgesatz für Wittgensteins Denken in der Zeit des „Tractatus" darstellt, sondern, wie wir schon zu zeigen versuchten, etwas viel Wichtigeres, Wesentlicheres. Zweitens ist ganz offensichtlich, daß Wittgenstein und mit ihm die beiden Wissenschaftler, die seine Erzählung weitergaben, überzeugt sind, daß das Konzept des Satzes als Bild einer möglichen Situation eine Entdeckung Wittgensteins sei. Genereller noch wird Wittgenstein und dem logischen Positivismus von den Anhängern eben dieser Richtung das Verdienst zugeschrieben, als erste und einzige die Aufmerksamkeit der Philosophen auf die Sprache gelenkt zu haben. So heißt es z.B., daß „die ganze Geschichte der Philosophie vielleicht einen ganz anderen Gang genommen hätte, wenn die großen Denker von der bemerkenswerten Tatsache, daß es so etwas wie Sprache gibt, nachhaltiger beeindruckt gewesen wären." (Schlick 1938, 153). Nun ist es eine nicht zu leugnende Tatsache, und die folgenden Teile dieses Kapitels werden dies

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ausführlich darlegen, daß „die großen Denker" von Piaton und Aristoteles bis zu Leibniz und Vico sich gründlichst mit dem Problem der Sprache und ihrer Funktion beschäftigt haben; besonders im Hinblick auf Aristoteles könnte man die Behauptung von Schlick in ihr Gegenteil verkehren und sagen, daß die Geschichte des abendländischen Denkens vielleicht einen anderen Gang genommen hätte, wenn der griechische Denker der Existenz der Sprache weniger vertraut hätte. Schlicks Behauptung entbehrt jeglicher Grundlage in der Philosophiegeschichte, wie sie wirklich war: sie ist nur, wie wir an geeigneter Stelle sehen werden, ein weiteres Indiz dafür, daß Kants Desinteresse an der Sprache die weittragende und folgenschwere Konsequenz gehabt hat, einen großen Teil der Geschichte des Denkens vergessen zu machen. Wie dem auch sei, hier soll festgehalten werden, daß das Konzept des Satzes als Bild einer Situation und folglich das Konzept der Sprache als Repertoire getreuer Abbilder der Wirklichkeit die am meisten verbreitete Auffassung von der Sprache darstellt; man findet sie in jeder scholastischen Grammatik und in einer über Jahrhunderte reichenden Tradition. Schon von Saussure wurde herausgestellt, daß diese Auffassung die am meisten verbreitete ist: „Da ist zunächst die oberflächliche Vorstellung des großen Publikums: es sieht in der Sprache nur eine Nomenklatur... (...) Für manche Leute ist die Sprache im Grunde eine Nomenklatur, d.h. eine Liste von Ausdrücken, die ebensovielen Sachen entsprechen. (...) Diese Ansicht gibt in vieler Beziehung Anlaß zur Kritik. Sie setzt fertige Vorstellungen voraus, die schon vor den Worten vorhanden waren ... (...); endlich läßt sie die Annahme zu, daß die Verbindung, welche den Namen mit der Sache verknüpft, eine ganz einfache Operation sei, was nicht im entferntesten richtig ist." (Saussure 1922, 34 u. 97; dt. 1967, 20 u. 76). Diese Kritik ist in ähnlicher Weise später auch von anderen vorgebracht worden (Trier, 1934; Hjelmslev 1953, 3Iff.). Daran anknüpfend schrieb Martinet in jüngerer Zeit: „Nach einer ganz naiven, aber recht weitverbreiteten Auffassung wäre eine Sprache eine Inventarliste von Wörtern, d.h. von lautlich (oder graphisch) Hervorgebrachtem, das jeweils einer Sache entspricht: einem gewissen Tiere, dem Pferd, entspräche in der besonderen Liste, die man als,Deutsche Sprache' kennt, eine bestimmte Lauthervorbringung, die orthographisch in der Form ,Pferd' wiedergegeben wird; die Verschiedenheit der Sprachen bestünde letztlich nur in Unterschieden der Benennung: der Engländer sagt zum Pferde ,horse', der Franzose ,cheval'; das Erlernen einer zweiten Sprache bestünde einfach darin, sich eine neue, der alten Punkt für Punkt parallele Nomenklatur einzuprägen. Freilich wäre in einigen Fällen der Parallelismus gestört; hier handelte es sich um Jdiomatisches'. (...) Dieser Begriff von der Sprache als Inventar gründet auf der naiven Vorstellung, die 20

gesamte Welt ordne sich, noch ehe sie der Mensch wahrnimmt, in wohlunterschiedene Gegenstandskategorien, deren jede in jeder Sprache notwendig eine Bezeichnung erhalte." (Martinet 1960, 14f.;dt. 1963, 18f.). Es gibt keinen Zweifel (aber das werden die weiteren Analysen ergeben), daß die „naive Vorstellung" („l'idée simpliste"), von der Martinet spricht, zu den Grundlagen der Sprachkonzeption des frühen Wittgenstein gehört, und daß diese Vorstellung mit jener „oberflächlichen des großen Publikums" zusammenfällt, die Saussure gegeißelt hat. Aber der Aufweis genügt nicht, daß die Konzeption vom Bild-Satz und von der Sprache als Abbild der Welt im Denken des 20. Jahrhunderts weit verbreitet ist; man muß auch zeigen, daß diese Vorstellungen traditionell und alt und damit weit davon entfernt sind, neu und revolutionär zu sein. Umso paradoxer könnte es erscheinen, daß man den Beitrag des frühen Wittgenstein für die Geschichte des Denkens über die Sprache in seiner ganzen Größe nur dann ermessen kann, wenn man bis ins letzte begriffen hat, wie wenig revolutionär, ja wie banal und archaisch die Auffassung von der Sprache im „Tractatus" ist.

2. Aristoteles und der Aristotelismus Die erste geschlossene Systematisierung der Konzeption der Sprache als eines Repertoires von Elementen, die die konstitutiven Elemente einer einzigen universalen Welt genau widerspiegeln, findet man bereits am Anfang der kurzen und berühmten aristotelischen Abhandlung „De Interpretatione" (Lehre vom Satz). Die textkritischen und interpretativen Probleme dieser Passage sind nicht derart, daß man die Position, die Aristoteles insgesamt einnimmt, nicht mit genügender Klarheit ausmachen könnte: „Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen dieselben. Was aber durch beide an erster Stelle angezeigt wird, die einfachen seelischen Vorstellungen, sind bei allen Menschen dieselben, und ebenso sind es die Dinge, deren Abbilder die Vorstellungen sind." (De Int. 16 a 2 - 8 ; dt. 1958,95, Übers. Rolfes). Aristoteles ist nicht der Urheber dieser Vorstellungen. Die Vorstellung, zwischen der Struktur des Satzes und der Struktur des vom Satz repräsentierten Prozesses existiere strikte Parallelität, ist schon bei Heraklit vorhanden (Pagliaro 1952, „Saggi", 131-57), wenn auch in einer noch primitiveren Begrifflichkeit. Tatsächlich findet man bei Heraklit an mehreren Stellen den Glauben deutlich ausgeprägt, der Name sei eine dem Ding objektiv 21

innewohnende Eigenschaft: zum Wesen eines Flusses gehöre beispielsweise eine fließende Strömung und viele verschiedene Wasser, und gleich wesentlich sei ihm ein Name, der immer derselbe und fest sei (Calogero 1948, „Origini"). Solche Ansichten zeugen noch bei Heraklit vom Fortbestand einer Anschauungsweise, die die klassischen Philologen „archaisch" genannt haben (Hoffmann 1925, VII). Wegen ihrer Übereinstimmung mit der Haltung, die man in der kindlichen Anschauungsweise und in primitiven Kulturen den Wörtern gegenüber vorfindet (Piaget 1 9 2 6 , 6 1 - 9 3 ; Lévy-Bruhl 1960, 229), würde man sie vielleicht besser als „primitiv" bezeichnen. Die griechische Kultur mußte sich offensichtlich von all diesen primitiven Überresten frei machen, um zu der reiferen aristotelischen Vorstellung zu gelangen. Eine wichtige Rolle dabei spielte die gegen Heraklit gerichtete Polemik der Eleaten. Die Eleaten entwickelten die Idee eines einzigen, unbewegten, zeitlosen Seins. Dies geschah in einer Weise, die viel diskutiert worden ist. (Nach Calogero wesentlich durch die unbewußte Hypostasie rung, durch die „Entifizierung" der Besonderheit, die das substantivierte Partizip des Verbs „sein" — τό áóv„das Seiende" — auszeichnet: es ist das einzige Wort, dem man immer das Prädikat „ist" zusprechen kann.) Die Wörter der Menschen dagegen — so beobachtete es Parmenides — weisen in ihrer Vielfalt, ihrer Bedeutung und ihren Unterschieden auf mannigfaltige Realitäten und Entitäten, die in steter Veränderung und Entwicklung begriffen sind. Die einzige Möglichkeit, diese Vorstellung des Seins mit den Wörtern in Einklang zu bringen, bestand darin, die letzteren als „konventionell eingerichtet" und als „nicht wahrheitsgetreu" aufzufassen (Parm. Β 8, Diels; Pagliaro 1952, „Saggi", 141 u. 157). Auf diese Weise entstand in der griechischen Kultur das Bewußtsein, daß die Dinge und die Wörter, die Natur und die Sprache verschiedenen Seinsbereichen angehören. Die Wörter sind vom Menschen geschaffen, sind keine den Dingen objektiv zugehörigen Eigenschaften. „Das Wort ,Hund' beißt nicht." Was die Beziehung anbelangt, die zwischen diesen konventionellen Schöpfungen und den natürlichen Gegebenheiten besteht, entwickelten schon Sophisten wie Protagoras die Auffassung, daß es sich hier um Parallelismus handle. Zur Dokumentation dieser Vorstellung und ihrer Entwicklung haben wir neben den Zeugnissen mit philosophisch-lehrhaftem Charakter auch die Karikatur, die Aristophanes von der Sprachauffassung des Sokrates zeichnet. Der Sokrates des Aristophanes vereinigt in sich bekanntlich die ganze, sophistische wie nicht-sophistische „neue Kultur" am Ende des V. Jahrhunderts. Unter anderem macht sich Aristophanes einen Spaß daraus, Sokrates auf die folgende Art und Weise raisonieren zu lassen: da es in der Wirklichkeit männliche und weibliche Hühner gebe, und da zwischen den Wörtern und den Dingen Parallelität bestehe, sei es richtig, daß man im 22

Griechischen zu dem Wort άλεκτρυών („Hahn") das Wort άλεκτρϋαινα („Hähnin") hinzuerfinde (sind die Wörter vielleicht nicht konventionell und parallel zu den Dingen?). (Aristoph. Nub. 665—7) Piaton fuhrt im wesentlichen denselben Gedanken fort und vertieft ihn, freilich nicht in dieser karikierten Konsequenz: im einzigen Dialog, der ausschließlich sprachlichen Problemen gewidmet ist, im „Kratylos", führt er zunächst die alte Vorstellung vom natürlichen Zusammenhang von Name und Ding ad absurdum und schlägt dann vor, das Wort als όργανον, als „Werkzeug" aufzufassen, vom Menschen gebildet, um auf ein Ding hinzuweisen (Pagliaro, 1956,47—76). Im „Kratylos" wird die Vorstellung vom Parallelismus zwischen Wörtern und Dingen nicht widerrufen, sie tritt vielmehr in den Hintergrund zugunsten der Idee, daß die Wörter die Früchte menschlicher Schöpfung und nicht natürlicher Gegebenheiten seien. Aus dieser Idee zieht Piaton die Folgerung, daß fiir den, der die Wirklichkeit erkennen will, die Beschäftigung mit den Wörtern von geringem Nutzen ist: es kommt auf die Dinge, die Ideen, an und nicht auf die Werkzeuge der Sprache, die man benutzt, um auf sie hinzuweisen. Zwei Jahrhunderte später wird dieser Standpunkt in einem anderen kulturellen Kontext vom alten Cato aufgegriffen, wenn er die Exzesse der Rhetorik mit dem Argument bekämpft, sie drohten die überkommene römische Kultur zu verderben: „Rem tene, verba sequentur" (lui. Vict., 374 Hal.); ganz ähnlich denkt Horaz, wenn er mahnt: „verbaque provisam rem non invita sequentur" („die Wörter muß man nicht bitten, einem wohl überlegten Argument zu folgen"; A. P., 311). Die Ansicht von Aristoteles stimmt mit der von Piaton teilweise überein: wie sein Lehrer zweifelt auch er nicht daran, daß die Wörter vom Menschen gebildet werden, daß sie genauer gesagt κατά συνθήκην, ex institutione, i.e. kraft einer institutionalisierten Konvention der menschlichen Gesellschaft existieren. Dies behauptet er nur wenige Zeilen nach der bereits zitierten Passage aus „De Interpretatione" (16 a 19, 24—25). Aristoteles ist aber ganz im Gegensatz zu seinem Lehrer davon überzeugt, daß der Betrachtung der Art und Weise, wie Sprache funktioniert, beim Aufbau nicht nur der Wissenschaft, sondern auch des Staates entscheidende Bedeutung zukomme. (Man sollte nie vergessen, daß Ausgangspunkt und Ziel der philosophischen Spekulation der größten griechischen Denker der „Klassik" immer die „polis" ist: sie sind im allgemeinen zutiefst „politisch".) Der Skeptizismus droht die Grundlagen jeder wissenschaftlichen und staatlichen Ordnung zu erschüttern und ist deshalb der Todfeind. Er kann an seiner Wurzel nur dann getroffen werden, wenn die Sprache und ihr Funktionieren untersucht und berücksichtigt werden. Aristoteles weiß und zeigt sehr klar, daß gegen den Skeptizismus, gegen 23

den „naturalistischen" wie den „sophistischen", keinerlei Beweise ins Feld geführt werden können. Jeder Beweis, der diesen Namen verdient, beruht auf dem Prinzip, wonach ein Ding ist, was es ist, und wonach es nicht gleichzeitig sein und nicht sein kann. Genau dies aber leugnet der Skeptizismus und behauptet im Gegenteil, daß dasselbe Ding ist und nicht ist, daß dieselbe Behauptung wahr und zugleich nicht wahr ist. Ebensowenig können solche Beweise dem Skeptizismus etwas anhaben, in denen aufgezeigt werden soll, daß dessen Position in endlose Absurditäten und Widersprüche fuhrt. Derartige Beweise beeindrucken nämlich nur denjenigen, der schon der Überzeugung ist, daß die innere Widersprüchlichkeit einer Behauptung ein zu vermeidendes Übel sei, d.h. sie überzeugen nur den, der schon überzeugt ist, daß genau die Thesen des Skeptizismus falsch seien (Aristoteles, Metaphys. I V , 4, 1005 b, 35 ff.). Der italienische Wissenschaftler Luigi Scaravelli hat die Schwierigkeit, in der sich Aristoteles wußte, treffend erfaßt: „Hinsichtlich der Identität befand sich Aristoteles in genau derselben Lage wie Zenon hinsichtlich des Seins. Sie ist nicht beweisbar. Er mußte sich wie Zenon darauf beschränken, denjenigen, die sie gerade aufgrund ihrer Unbeweisbarkeit leugnen, zu zeigen, daß sie in nicht endende Widersprüche und Absurditäten geraten, aus denen es keinen Ausweg gibt. Er tat dies, indem er mit ihnen Widerspruch für Widerspruch durchging, auf die nicht abreißende Folge von Absurditäten verwies und sie so von der Absurdität ihrer eigenen Position zu überzeugen suchte. Da freilich deutlich ist, daß in einem solchen Verfahren der Widerspruch nur dann verworfen wird, wenn man bereits die Identität anerkennt, d.h. da deutlich ist, daß diesem Verfahren ein circulus vitiosus zugrunde liegt, läuft es darauf hinaus, etwas so Elementares und Unbezweifelbares, etwas so Offenbares aufzuzeigen, das scheinbar nicht geleugnet werden kann, da es noch elementarer, noch einfacher und grundlegender als selbst die Identität ist." (Scaravelli 1942, S. 5). Dieses „ e t w a s " ist die Eindeutigkeit des Wortes. Für den Streit mit dem Skeptiker empfiehlt Aristoteles folgendes: „Das Prinzip, von dem man auszugehen hat, (...) ist nicht dies, daß man von dem anderen fordert, er müsse doch erkennen, daß etwas entweder ist oder nicht ist — denn das, könnte man sagen, heiße eben das zu Beweisende schon voraussetzen, — sondern nur daß er etwas bezeichne, was für ihn und für den anderen gelten soll. Denn das muß er notwendig tun, wenn er irgend etwas sagt; im anderen Falle würde er gar nichts sagen, weder selber für sich noch für einen anderen." (Metaphys. I V , 1006 a ) 3 a In einem solchen Fall, so heißt es wenig vorher, ist 3a Dt. Übertragung v. A d o l f Lasson (Aristoteles: Metaphysik, Jena 1907, 66f.). Wir wählen diese Übersetzung, da sie der ital. Übersetzung, die De Mauro gibt, in etwa entspricht.

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einer „wie eine Pflanze" u n d nicht länger eine Quelle der Gefahr. Aber sobald es gelingt, den Skeptiker zum Reden zu bringen, ihm auch nur e i η Wort zu entlocken, „so wird auch ein Beweis möglich. Denn dann liegt ein Festhalten an etwas Bestimmtem vor (...)". Im Moment, in dem der Skeptiker irgendein Wort ausspricht, unterstellt und nutzt auch er die Tatsache, daß eine Beziehung zwischen Wort und Ding besteht, eine Beziehung, die zumindest in diesem Moment s o ist, w i e s i e i s t . Den Grund dafür gibt Aristoteles etwas später an: „Vor allem nun ist offenbar eben dieses wahr, daß das Wort Sein oder Nicht-Sein etwas Bestimmtes bedeutet, und schon deshalb kann sich nicht jegliches so und auch nicht so verhalten. (...) Dabei macht es keinen Unterschied, wenn einer sagt, das Wort habe mehrere Bedeutungen; vorausgesetzt nur, daß es bestimmte Bedeutungen sind. Denn da könnte man ebensogut für jede dieser Bedeutungen auch einen besonderen Ausdruck (Namen, d. Übers.) setzen. Wenn z.B. jemand sagte, Mensch habe nicht eine, sondern mehrere Bedeutungen; lebendes Wesen mit zwei Beinen sei nur eine davon, es habe daneben aber noch mehrere andere in bestimmter Anzahl: da könnte man für jede dieser Bedeutungen je einen besonderen Ausdruck (Namen) setzen. Dagegen wäre dem nicht so, und sagte er, das Wort habe unendlich viele Bedeutungen, dann hätte es offenbar gar keinen Sinn mehr. Denn nichts Bestimmtes bedeuten heißt überhaupt nichts bedeuten, und wenn die Wörter nichts bedeuten, so ist damit das Sprechen der Menschen untereinander aufgehoben und in Wahrheit auch das Selbstgespräch; denn es ist unmöglich zu denken, wenn man nicht etwas Bestimmtes denkt. Soll es aber möglich sein, so muß man auch für die bestimmte Sache den bestimmten Ausdruck (den bestimmten Namen) setzen. Es sei also, wie wir zu Anfang gesagt haben: das Wort habe eine bestimmte u n d zwar einheitliche Bedeutung." (Metaphys. IV, 1006 a - b ) . Das Argumentationsschema von Aristoteles ist damit deutlich genug: entweder der Skeptiker redet nicht, und dann ist es verschwendete Zeit, ihn zu widerlegen, oder aber der Skeptiker redet und sei es nur ein einziges Wort: dann aber hat er zugestanden, daß sein Wort einen Sinn hat, u n d damit hat er auch im wesentlichen das principium identitatis eingestanden, die Existenz einer Beziehung, die so ist, wie sie ist. Oder aber er bestreitet dies und behauptet, daß sein Wort nicht e i n e , sondern unbegrenzt viele Bedeutungen habe — dann aber ist es praktisch dasselbe, als wenn er stumm geblieben wäre, da sein Wort ü b e r h a u p t k e i n e Bedeutung hat. Ganz offensichtlich, aber gleichwohl hervorzuheben ist die Tatsache, daß die wesensmäßige Eindeutigkeit, die semantische Identität des Worts durch seine Beziehung mit dem Ding garantiert ist. Der hohe Rang der aristotelischen Argumentation wird von einem „professionellen" Standpunkt aus dann richtig deutlich, wenn 25

man bedenkt, daß mehr als zwei Jahrtausende später Max Black, einer der bedeutendsten Logiker u n d Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts, die Thesen des zeitgenössischen semantischen Skeptizismus nur mithilfe der aristotelischen Argumente zurückzuweisen wußte — wenn auch nicht mit dem gleichen Erfolg. (Black 1 9 5 3 , 1 3 f f . ) Von allen Werturteilen einmal abgesehen, dürfte klar geworden sein, welche wichtige Rolle die Sprache im Denken von Aristoteles spielt (was die oben erwähnte Einschätzung von Schlick Lügen straft); und es dürfte insbesondere klar geworden sein, welche große Bedeutung die Vorstellung des Parallelismus von Wort, Begriff u n d Ding h a t : die Uberzeugung, daß dieser Parallelismus existiert, ist fur Aristoteles die Grundlage, auf der seine radikale Abweisung des Skeptizismus und also auch die Möglichkeit basieren, eine Wissenschaft, eine Ethik und eine Gesellschaft zu errichten, die nicht anarchisch u n d chaotisch, sondern geordnet u n d vernünftig ist. Dieses Ziel vor Augen entwickelt Aristoteles sein Konzept von den ersten Zeilen eines seiner frühen Werke an. In der Kulturgeschichte gab es also einen Zeitpunkt, in dem die Auffassung, die heute „die oberflächliche Vorstellung des großen Publikums" ist, die siegreiche Errungenschaft eines genialen und innovatorischen Denkens war. Dies m u ß betont u n d festgehalten werden. Nicht nur deshalb, weil wir in dieser Abhandlung eben diese Auffassung bekämpfen und ihr deshalb vorher die ihr gebührende Ehre widerfahren lassen wollen, oder weil wir ihre Vorzüge hervorheben, u m dadurch umso deutlicher zu machen, daß es nichts Geringes ist, dagegen anzutreten. Objektive Gründe sprechen dafür, die Bedeutung hervorzuheben, die die Auffassung von Aristoteles zur Zeit ihrer Entstehung hatte. Der erste Grund ist, daß sie sich wie ein Damm dem logischen und moralischen Skeptizismus entgegenstellte: wenn man skeptizistischen, anarchistischen u n d mystizistischen Vorstellungen nicht erneut Tür und Tor öffnen will, ist es nicht damit getan, die Auffassung von Aristoteles einfach zu kritisieren;man m u ß sie durch eine andere, neue Auffassung ersetzen, die gleichwohl dasselbe zu leisten vermag. Der zweite Grund hängt damit unmittelbar zusammen: gerade weil sie als F u n d a m e n t einer jeden rationalen Interpretation des Lebens und des Wissens tauglich war, konnte die Auffassung von Aristoteles jahrhundertelang unangefochten Bestand haben, trotz ihrer Mängel, die die Entwicklung des Denkens über die Sprache zu Tage brachte. Wie wir sehen werden, liefert dieser Grund wahrscheinlich den Schlüssel zum Verständnis der eigenartigen Haltung, die Kant angesichts der Probleme der Sprache einnahm. Den ersten Grund müssen wir hingegen auf den letzten Seiten dieses Werks nochmals aufgreifen. Obwohl man die Auffassung von Aristoteles im K o n t e x t ihrer Entstehung betrachten u n d dann gerechterweise positiv beurteilen muß, darf man die 26

kulturellen und logischen Konsequenzen nicht vergessen, die mit ihr verbunden waren. In der Geschichte des Denkens über die Sprache hat die aristotelische Auffassung in zwei aufeinanderfolgenden Phasen gegenteilige Wirkung gehabt. Als sie konzipiert wurde, klang sie wie ein Appell, die sprachlichen Formen, die in Piatons Lehre geringgeschätzt wurden, ernst zu nehmen: für Aristoteles selbst, für seine unmittelbaren Nachfolger und Gegner, wie die Stoiker, wurde aus diesem Appell ein aufmerksames und tiefes Interesse für die Sprache. So konnten die grundlegenden Begriffe der Phonologie, der Morphologie und der Syntax im peripathetischen und stoischen Umkreis entstehen und eine Systematisierung erfahren, die jahrhundertelang Bestand hatte (De Mauro 1965, §§ 5 u. 7). Aber auf längere Sicht mußte die aristotelische Auffassung wie angedeutet eine entgegengesetzte Wirkung haben: seit der hellenistischen und der römischen Zeit hat sie jedes Interesse an spezifisch sprachlichen Untersuchungen erstickt. Vergegenwärtigen wir uns nochmals den Kern der aristotelischen Auffassung. Die Sprache wird als eine Schrift der Seele betrachtet. Sie transkibiert Abfolgen psychischer Begebenheiten, die in dieser Transkription getreulich und unverfälscht nach außen übermittelt werden. Gerade ihre Natur als getreuer Übermittler macht ihre theoretische Bedeutung aus, und jede ihrer Manifestationen zeugt von der Möglichkeit eindeutiger Beziehungen zwischen zwei Entitäten: Wort und psychischer oder ontologischer Gegebenheit. Die Sprache liefert so die einzige Waffe, die den Skeptiker letztendlich schlägt, und auf die der Skeptiker, wie wir gesehen haben, nicht verzichten kann. Gerade weil die sprachlichen Formen Instrumente darstellen, die die psychischen Gegebenheiten und also auch die konstitutiven Elemente des Realen unverfälscht kundtun, verdienen sie Interesse; aber dieses Interesse ist offensichtlich äußerlich. Sie verdienen Interesse, weil sie die Türen sind, durch die man in die Struktur des Geistes und der Realität eindringen kann. Wirklich aber zählt nur der Geist, die Realität, nicht die Tür, die nur den Zugang verschafft. Die Kultur kann an ihr, wie an allem, was bloße Mittlerfunktion hat, nur ein rein praktisches Interesse haben. Man muß zwar wissen, wie man eine Tür öffnet; aber das ist normalerweise alles, was man in bezug auf Türen für wissenswert hält: das wirkliche Interesse besteht, ist die Tür einmal offen, darin, in einen anderen Raum einzutreten. Es ist wichtig, einen Spiegel klar zu halten, zu verhindern, daß er Sprünge bekommt, zu wissen, wie man mit ihm umgeht: aber was weiß man Wichtiges, wenn man weiß, woher er stammt und woraus er gefertigt ist? Wichtig ist, daß das Spiegelbild unverfälscht und unverzerrt ist. Ebenso verhält es sich mit der Sprache im Rahmen der aristotelischen Konzeption. Gewiß, man interessiert sich für die Sprache, schafft ein corpus von Lehrsätzen, die seit dem späten Hellenismus

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in den Schulen pedantisch gelehrt werden (Marrou 1950, 2 3 1 - 3 2 ) . Aber Interesse und Lehre sind rein normativer Art: Ziel ist es, die Muttersprache oder eine andere Sprache gut sprechen zu lernen. (Nebenbei gesagt: dies und nur dies erklärt den „skeletthaften A u f b a u " der griechisch-lateinischen Grammatiken, den Marrou verwundert konstatiert. (1950, 233)) Anderes zählt nicht: jedes historische und tiefergehende wissenschaftliche Interesse verkümmert und stirbt ab. Wenn in der antiken Welt (ausgenommen den Zeitraum, der durch die Aristoteliker auf der einen u n d die Stoiker auf der anderen Seite markiert wird) dennoch ein davon verschiedenes, nicht normatives Interesse an den sprachlichen Formen überlebte, dann nur darum, weil in bestimmten kulturellen Bereichen und Schichten noch die archaische u n d magische Auffassung fortbestand, die Wörter seien den Dingen inhärent; deshalb lebte der Glauben weiter, daß das Wissen um den Ursprung eines Worts zum Verständnis des Wesens der Sache führe (Pisani 1947, 13—14). Dieser Art von Interesse und Glauben hatte die aristotelische Auffassung und noch vor ihr die platonische gehörig den Prozeß gemacht. Eine wissenschaftliche Linguistik neben und jenseits der normativen Grammatik konnte deshalb n u r entstehen, als die aristotelische Auffassung in eine Krise geraten war. Will man diese Krise verstehen und begreifen, daß diese Krise im gesamten europäischen Denken die Idee von der Sprache als Spiegel und vom Satz als Bild gleichwohl nicht beseitigt hat, m u ß man zunächst zwei Konsequenzen explizit machen, die implizit in der Auffassung von Aristoteles enthalten sind. Wäre die aristotelische Auffassung von der Sprache richtig, dann könnte u n d müßte einerseits von heuristischem Standpunkt aus die Analyse einer Sprache die beste Quelle für ein vollständiges Wissen der in der Realität vorfindlichen Dinge sein, und andererseits würde der Gebrauch einer Sprache bei ihren Sprechern ein solches vollständiges Wissen voraussetzen. Tatsächlich sind diese beiden Konsequenzen nicht rein logische Folgerung geblieben, sondern haben realiter auf das Geistesleben der spätantiken und mitteralterlichen Welt Einfluß ausgeübt. Die erste Konsequenz führte zum Verbalismus, der lange Zeit die Wissenschaft beherrschte. Wir finden das „Manifest" des Verbalismus, auch wenn er wahrscheinlich älter ist, in den „Etymologiae" (I, 7 , 1 L.) des Bischofs Isidor aus dem 7. Jahrhundert n.Ch.: „nomen dictum quasi notamen, quod nobis vocabulo suo res notas efficiat. Nisi enim nomen scieris, cognitio rerum périt": „was wir ,Namen' nennen ist wie ein n o t a m e n , weil es uns die Dinge durch sein Wort bekannt macht. Wenn wir nämlich den Namen nicht kennen, verlieren wir die Kenntnis der Dinge". Gegen den Verbalismus wendet sich im späten Mittelalter der Nominalismus von Wilhelm von Ockham, der behauptet, daß Termini wie „ h o m o " , „animal" etc. keineswegs als Entsprechungen von Universalien angesehen 28

werden können, die außerhalb der Seele reale Existenz haben. Diese Termini seien nur sprachliche Formen, dank derer der Geist eine Reihe von Beziehungen von ausschließlich logischer Bedeutung konstruiere (Vasoli 1961, 443 ff.). Ockham schwächte zwar in manchen Bereichen die verbalistische Position, konnte sie aber nicht ausrotten; ein großer Teil des wissenschaftlichen Wissens bis zum Beginn der Renaissance baute auf ihr auf (Lenoble 1957, 382—89). Die zweite implizite Konsequenz der aristotelischen Auffassung — der Gebrauch einer Sprache setzt die vollständige Kenntnis der Realität voraus — lebte weiter in der logifizierenden, metaphysischen Textgattung solcher Grammatiken, die keine dürftige Aufzählung von Formen darstellten. Wie Vico dann feststellen konnte, wurden Abhandlungen dieser Art bis zur Renaissance geschrieben, „als ob die Leute, die daraus die Sprachen lernten, zuvor in die Schule des Aristoteles hätten gehen sollen, von dessen Prinzipien aus sie (die Grammatiker) ihre Lehrgebäude entfalteten". 4 Die Krise der aristotelischen Auffassung begann, als klar geworden war, daß diese beiden Konsequenzen, der Verbalismus in der Wissenschaft und der Logizismus in der Grammatik, das Geistesleben und die Erkenntnis einengten und in ihrer Entfaltung hinderten.

3. Die Krise des Aristotelismus: von der Renaissance zur Aufklärung Die Krise des Verbalismus in den Wissenschaften hängt mit dem Aufkommen experimenteller Methoden in der Physik zusammen und mit den Klassifizierungen im Bereich der Zoologie, die auf objektiver, nicht mehr bloß verbalistischer Grundlage beruhen. Seit dem 17. Jahrhundert liefern experimentelle Methode und zoologische Klassifizierungen den Beweis dafür, daß es wissenschaftlich erkennbare Gegenstände gibt, die entweder in einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang eingebettet und erklärbar sind oder sich'in einer Hierarchie von Gattung, Art und Familie anordnen lassen, ohne daß diese Gegenstände jemals eine eigene Bezeichnung gehabt hätten, weder in der .vollendeten' lateinischen Sprache, noch in anderen Sprachen. Daher kann Galilei betonen, daß die Erscheinungen, die die neue Wissenschaft Physik entdeckt hat, und die in den natürlichen Sprachen bisher unbenannt waren, in der ,lingua matematica' (Galilei, Opere, VI, p. 232) ihre Bezeichnung finden können und auch gefunden haben, und Linné kann voller Stolz bekennen: „Ego primus hos caracteres composui: genera mea promunt caracteres naturales ...; tales ante me quantum novi dédit nullus... Primus incepi 4

Vico: Scienza Nuova seconda, ed. Nicolini, § 455.

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nomina specifica essentialia condere, ante me nulla differentia digna exstitit." So verbreitete sich, ausgehend von den fortgeschrittensten Bereichen der Wissenschaft, das Bewußtsein, daß der überlieferte Wortschatz einer Sprache weder die einzige, noch die beste Quelle fiir die wissenschaftliche Erkenntnis der Realität darstellt (Preti 1950, 79; Guyénot 1957, 25, 9 4 - 1 0 4 ; Rossi 1957,408—12;Spink 1960, 5 9 , 6 9 , 1 2 5 , 247, 266; Viano 1 9 6 0 , 4 7 I f . ; R o s s i 1962, 16, 74). Während der Verbalismus durch die Verbreitung der neuen Naturwissenschaften überwunden wurde, erlebte der Logizismus seine Krise im Bereich der Literatur.5 Am Ausgang des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit kam es aus den verschiedensten Gründen zu einer Krise der logizistischen und universalistischen Interpretation der Sprache, der zufolge das, was in den einzelnen Sprachen seinen Ausdruck findet, eine logisch und ontologisch reale Welt darstellt. Hier sind vor allem die Streitschriften zu nennen, in denen Literaten zugunsten der Vulgärsprachen und gegen das Latein Stellung nahmen: Dante ist noch wie Isidor davon überzeugt, daß die lateinische Sprache auf ihre Weise vollendet sei und somit die lateinische Grammatik die Grammatik par excellence darstelle. Daher ist für ihn Latein die Sprache der Wissenschaft. Aber er bezweifelt bereits, daß es die geeignete Sprache ist, um den Reichtum der alltäglichen Gefühle zu beschreiben und um höfische Liebeslyrik abzufassen, und meint, daß sich ein ,idioma volgare' besser dazu eigne (Conv. I, 5 — 10). Wann immer nach Dante die Frage diskutiert wird, ob man in einer

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Rossi (1968, 11 f.) zufolge finden sich noch verbalistische Vorstellungen bei Linné, dessen Satz „Nomina si pereant, perit et rerum cognitio" (Systema naturae, Stockholm 10. Ausgabe 1758) an Isidor erinnert. Nach Rossi „verschwindet die antike Vorstellung von einer vollständigen und spiegelbildlichen Entsprechung zwischen den Termini der Enzyklopädie und der Ordnung der Welt" (12) erst mit Leclerc de Buffon und den Enzyklopädisten. Es ist bekannt, daß für Linné die Arten keine konventionellen Festlegungen darstellen, sondern es gibt „davon so viele ... wie das unendliche Wesen ursprünglich geschaffen hat". Die Epistemologie Linnés ist sicher nicht vergleichbar mit derjenigen Buffons oder Humes oder Piagets. Man muß jedoch auch sehen, daß für Linné die Nomenklatur der Arten n i c h t in den Sprachen zu finden ist, sondern erfunden und konstruiert werden muß: der Unterschied zu Isidor ist augenfällig. Rossi, der minutiös (und auch berechtigt) zwischen den Positionen Buffons und Linnés unterscheidet, entgeht der offensichtliche Unterschied zwischen Isidor, der verbalistisches Vertrauen in die Sprachen als Quellen der Erkenntnis zeigt, und Linné, der den Sprachen in dieser Hinsicht mißtraut und die Notwendigkeit einer künstlich geschaffenen Nomenklatur für die Beherrschung der Natur betont. Diese Notwendigkeit macht ein Ende mit der mittelalterlichen verbalistischen Sprachvorstellung und öffnet über die Erfahrung mit dem Aufbau und der Konventionalisierung einer effektiven Nomenklatur dem erkenntnistheoretischen Konventionalismus die Pforten.

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modernen europäischen Sprache dichten könne, greift man bevorzugt auf das Argument zurück, daß die Nationalsprachen den Bedürfnissen der modernen europäischen Völker am besten entsprechen (Kukenheim 1951, 47, 91 ; Klein 1957, 6 1 - 6 7 ; Kukenheim 1962, 1 8 - 2 1 ; De Mauro 1963, 286). Das Entstehen einer nationalsprachlichen Literatur, die Entwicklung mehr oder weniger einsprachiger Nationalstaaten und der daraufhin überall in Europa aufflammende Streit darüber, welche Sprache denn nun die allen anderen überlegene sei, sind geschichtliche Tatsachen, die zusammengenommen die Vorstellung von der historischen Besonderheit einer jeden Sprache bestärken: beginnend mit dem 13. Jahrhundert gewinnt sie während der Renaissance und bis ins Barock hinein immer weitere Verbreitung (Kukenheim 1932, 198— 223; Fubini 1954, 142ff.; Marigo 1957, 75ff.; Borst 1957, 3. Bd., 1029, 1035, 1048). Auch im Zuge der religiösen und theologischen Dispute wurden Tendenzen freigesetzt, die Sprache nicht länger logizistisch, sondern historisch zu begreifen: im 16. Jahrhundert beginnt eine nicht abreißende Folge von Vergleichen der hebräischen, griechischen und lateinischen Bibelausgaben und damit eine ganze Tradition von Beobachtungen über die Unterschiede in Bau und Leistung der drei Sprachen, die wiederum in Verbindung gebracht werden mit der Verschiedenheit dieser drei Nationen (Kukenheim 1951,3, 103f., 133). Als sich im Verlauf der Reformation die Aufgabe stellte, die Heilige Schrift und die liturgischen Texte in den modernen Sprachen zu verbreiten, da erstreckten sich ähnliche Beobachtungen auch auf diese, und die Vorstellung verstärkte sich, daß jede Sprache, auch die lateinische, ihre - wie Luther schrieb — ,eigen art' habe, ihre besondere Art und Weise, die Dinge zu bezeichnen und wiederzugeben und folglich jede mit gleicher Berechtigung zur Verbreitung des göttlichen Wortes genutzt werden kann. 6 Ähnliche Auswirkungen hat die Erweiterung sprachlicher Kenntnisse, die sich mit der Ausweitung der Handelsbeziehungen, mit der Entdeckung neuer Kontinente und den zunehmenden Kontakten der europäischen Völker untereinander ergab. Seit dem 16. Jahrhundert verbreiten sich in Europa, sowohl im Volk wie unter den Gelehrten, Stereotype bei der Beurteilung einzelner Sprachen, die die Jahrhunderte überdauern. Schon Karl V. pflegte der Überlieferung nach zu sagen, daß, „s'il voulait parler aux Dames, il parlerait italien,... s'il voulait parler aux hommes, il parlerait françois, s'il voulait parler à son cheval, il parlerait allemand, et... s'il voulait parler à Dieu, il parlerait espagnol." Das ist selbstverständlich die französisch-spanische 6

Martin Luther: Werke, Gesamtausgabe, 58 Bde., Weimar 1 8 8 3 - 1 9 4 8 . Bd. I, 379; Bd. III, 5 9 7 ; B d . V , 212; Bd. XIX, 7 4 ; B d . XLVIII, 7 0 0 .

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Version der Anekdote; in Italien wird das Merkmal der Weiblichkeit dem Französischen zugeschoben, während das Italienische — wie anders — als ,Sprache der Herren' gilt. Das Deutsche k o m m t auch in einem weiteren Sprichwort des 17. Jahrhunderts schlecht weg: „Deutsch brüllt, Englisch greint, Französisch singt, Italienisch spielt eine Posse und Spanisch redet." Damit ist offensichtlich die Grenze erreicht, w o Beurteilung der Sprachen und nationalistische Vorurteile ineinander übergehen. Dennoch dürfen Äußerungen dieser Art nicht unterbewertet werden: nicht nur, weil man sie unverhofft zwischen den Zeilen manch einer „objektiven" wissenschaftlichen Abhandlung zur strukturalistischen Typologie europäischer Sprachen wiederfinden kann, sondern weil sie bezeichnend sind für die Verhältnisse in Europa zu Beginn der Neuzeit. Sie verstarken im Bewußtsein der Epoche die Vorstellung, daß jede Sprache Teil eines, wenn auch mythischen und mystifizierten, Volkscharakters ist, oder anders, daß sich jede Sprache ebenso von den anderen Sprachen unterscheidet, wie sich die Völker in verschiedenen historischen Epochen und geografischen Regionen voneinander unterscheiden (De Mauro 1963, 2 8 7 - 2 8 9 , 3 2 0 - 3 2 4 ) . Es ist also nicht eine einzelne Persönlichkeit und auch nicht eine einzelne Richtung innerhalb des neuen Denkens, die der jahrhundertealten aristotelischen Konzeption der Sprachwissenschaft ein Ende macht. Der Widerstand gegen Verbalismus und Logizismus geht vom modernen Denken als ganzem aus, und er gebraucht immer häufiger das Argument der historischen Besonderheit der Sprachen, um die alte Vorstellung aus den Köpfen zu vertreiben, daß die Sprache einfach ein unmittelbarer, passiver Reflex einer Welt gegebener Vorstellungen und Dinge sei. Wenn man diese neue Vorstellung von der Sprache zurückführt auf einzelne Gelehrte oder auf die eine oder andere Denkrichtung, etwa auf Muratori oder Locke, den Historismus oder den Empirismus (Bröndal 1943, 51;Cassirer 1954, Bd. 1 , 8 1 ) , dann ist dies eine ungerechtfertigte Einengung: Dante wie Luther, Erasmus wie Claudio Tolomei, Galilei wie Boileau, die Gelehrten wie die Vagabunden der Commedia dell'Arte, sie alle sind Protagonisten dieser Entwicklung, die alle Schulen des Denkens und alle Disziplinen umfaßt (worauf Apel mit Recht hinweist; Apel 1963, 201). Die Früchte dieser neuen Ansicht von der Sprache zeigen sich dann in ihrer ganzen Reife in den Arbeiten von Francis Bacon, Locke, Vico und Leibniz. In „De dignitate et augmentis scientiarum" 7 beschreibt Bacon, daß die Unterschiede zwischen den Sprachen der Welt nicht nur die äußere, lautliche Form betreffen, sondern bis in die Wortbildung und den Satzbau hineinreichen. 7

Opera omnia, Frankfurt/Main 1665, Sp. 1 4 4 - 1 4 7 .

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Bacon nimmt an, daß diese Unterschiede sich als eng verbunden mit dem jeweiligen „Genius" der Völker erweisen könnte, wenn man sie im Rahmen einer „philosophischen Grammatik" untersuchte. Dies sind noch vereinzelte Beobachtungen, Forschungsvorhaben, wenn auch schon klar und bestimmt. Unter den großen Philosophen des 17. Jhs. sind es dann Thomas Hobbes und John Locke, die mit der Einlösung dieses Programmes beginnen. In „De corpore" und im „Leviatan" schlägt Hobbes eine Erkenntnistheorie vor, die ihre Basis im Sprechen hat: „veritas in dictu, non in re." Und da das Sprechen seinerseits nicht auf eindeutige Beziehungen zwischen universalen Ideen und Worten gegründet ist, sondern auf einem zufällig festgesetzten ,arbitrium\ „deduci hinc quoque potest, veritates primas ortas esse ab arbitrio eorum qui nomina rebus primi imposuerunt, vel ab aliis posita acceperunt". 8 Wenn man in dieser Weise davon ausgeht, daß die Sprache den „ursprünglichen Wahrheiten" voraufgeht, dann ist es ratsam, die verschiedenen Sprachen mit neuer Aufmerksamkeit zu betrachten und ihre Verschiedenheiten und historischen Besonderheiten zu untersuchen. John Locke verfolgte, wenn auch auf seine besondere Weise, dasselbe Ziel. Im dritten Buch seines Werkes „Über den menschlichen Verstand" zeigt er, daß das Erlernen und der Besitz bestimmter Wörter Voraussetzungen sind für die Aneignung allgemeiner Vorstellungen. 9 Diese allgemeinen Vorstellungen können folglich aus psychologischen Gründen nicht als angeboren angesehen werden. Mehr noch: wenn man die verschiedenen Sprachen einander gegenüberstellt, so wird schnell deutlich, daß zwischen ihnen, besonders im Gebiet der allgemeinen Vorstellungen, tiefgreifende Unterschiede bestehen. Selbst in den Fällen, in denen die scholastische Tradition für Wortentsprechungen zwischen verschiedenen Sprachen gesorgt hat, zeigt eine etwas genauere Analyse der vorgeblichen Äquivalente, daß sie Bedeutungsschattierungen aufweisen, die in den anderen Sprachen keine Entsprechung finden. Wenn nun aber die Sprache eine Voraussetzung für die Entwicklung allgemeiner 8

9

Von Hobbes vergleiche besonders die ersten 5 Kapitel der „Computatio sive Logica", den ersten Teil von „De corpore" und den „Leviathan". Von den nach den Untersuchungen von R.M. Martin „On the Semantics of Hobbes" (Philosophy and Phenomenological Research 14, 1953/54, 205ff.) und von M. Robbe „Zu Problemen der Sprachphilosophie bei Th. Hobbes" (Deutsche Zeitschrift für Philosophie 8, 1960, 436ff.) erschienenen und sich beständig vermehrenden Arbeiten zitieren wir nur A.G. Gargani „Idea, mondo e linguaggio in Th. Hobbes e J. Locke" (Annali della Scuola normale superiore di Pisa 35, 1966,152ff.). V. D'Alessandro „Hobbes filosofo dell'educatione" (Florenz 1968) mit ausgezeichneten Beobachtungen zum Nominalismus und der Sprachtheorie bei Hobbes (64ff„ 117f.); Rosiello (1967, 29ff.) und danach besonders wichtig Formigari (1970). An Essay Concerning Human Understanding, III, Kap. 5, §§ 7 - 1 6 .

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Vorstellungen ist, u n d wenn jede Sprache ihre unverwechselbare individuelle geschichtliche Prägung hat, dann können menschliche Ideen und menschliches Wissen nichts Überzeitliches sein, sie sind eingebunden in die Geschichte, Ergebnis der Erfahrung der menschlichen Gesellschaft. Dies fuhrt zu der Einsicht, daß die Beziehungen zwischen Wörtern und Sachen keine überzeitlichen Beziehungen sind, die universelle Gültigkeit haben. Sofern das Wissen über die Welt universelle Gültigkeit beanspruchen will, m u ß es sich notwendigerweise unabhängig machen von den Ausdrücken einer Einzelsprache. Locke kritisierte auf diese Weise nicht nur die Vorstellungen von angeborenen Ideen, sondern zugleich den Verbalismus in der mittelalterlichen Logik und der scholastischen Wissenschaft (Bröndal 1943, 51; Cassirer 1954, Bd. 1, 73ff. ; Viano 1960,469—476). Die gegen Verbalismus und angeborene Ideen gerichteten Argumente Lockes, die auf den Untersuchungen der Beziehungen zwischen „Ideen" und den Wörtern von Einzelsprachen aufbauen, wurden von Berkeley wiederaufgenommen, und Hume zögert nicht, in diesem Argum e n t die bedeutendste „Entdeckung" zu erblicken, mit der das neue Jahrhundert die Gelehrtenwelt bereichert hat. 1 0 Diese Überschwenglichkeit ist verständlich: für Hume ist dies das Hauptargument gegen jede sich auf Apriorismus und angeborene Ideen stützende Philosophie (Urban 1939, 19). Das bemerken am Ende des gleichen Jahrhunderts sowohl Godwin als auch einige Jahre früher Hamann, der, wie wir sehen werden, Kant vorwarf, eben dies Argument bewußt übersehen zu h a b e n . " Die erwähnten Argumentationsweisen und Vorstellungen werden im allgemeinen, auch von sehr gründlichen Gelehrten, als „humboldtianisch" bezeichnet. Wir wollen weiter unten zeigen, wie diese Meinung entstehen konnte. Hier kann man vorwegnehmen, daß schon hundert Jahre vor H u m b o l d t häufig in „humboldtschen" Termini über die Sprache nachgedacht wurde. Den Untersuchungen der Empiristen entsprechen, am anderen Ende Europas, Giambattista Vicos Reflexionen über die Sprache. Bis in unsere Zeit hinein ist Vico nie recht bekannt geworden. In der gängigen Vorstellung der Sprachwissenschaftler ist sein Name mit dem Namen von Croce verbunden, und man pflegt zu glauben, daß er zusammen mit Croce die Theorie der Identität von Kunst und Sprache vertritt (Calogero 1947, 105, 175). In den letzten Jahren ist es vorgekommen, daß Gelehrte viel Zeit darauf verwandten, die Etymologien Vicos als falsch nachzuweisen, was im übrigen keine neue Feststellung ist. Vico war, unter dem Verdacht der Ketzerei, 10 A Treatise o f Human Nature, London 1 7 3 9 , vol. I, 38. 11 W. Godwin: The Inquiry concerning Political Justice and its Influence in General Virtue and Happiness, London 1793, vol. I, Kap. 4 ; J.G. Hamann: Sämtliche Werke (Hg. Nadler), Wien 1 9 5 5 , Bd. 3, 281.

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gequält von Minderwertigkeitskomplexen, zermürbt von den vergeblichen Versuchen, sich ungebildetem Publikum verständlich zu machen, einem Publikum, auf dessen Achtung er gleichwohl nicht verzichten mochte, dieser Vico war für Jahrhunderte ohne Nachfolger geblieben. Dann erreichte er eine überraschende Berühmtheit, wurde dabei aber mißverstanden oder zumindest wenig verstanden, und nun läßt man den napoletanischen Denker beim sprachwissenschaftlichen Examen schmählich durchfallen. Das m u ß so schwerwiegend erschienen sein, daß sein Name sogar in der umfangreichen u n d hervorragenden Geschichte der Sprachwissenschaft von Arens ( 1 9 5 5 ) fehlt. Schon Pagliaro ( 1 9 5 2 , 4 7 ) hat dagegen protestiert, daß man die sprachlichen Theorien Vicos dem Mißverständnis und dem Vergessen ausliefert. Er hat in einem langen Aufsatz, der eine vollständige Revision der verbreiteten Ansicht über die Beziehungen zwischen der Sprachphilosophie Croces und den Ideen Vicos bringt (Piovani 1962, 17), Vicos wahre Bedeutung gewürdigt (Pagliaro 1961, 2 9 8 - 3 6 4 ) . Wenn von Vico die Rede ist, so kennzeichnet man ihn gewöhnlich als einen Denker, der etwas mystische Vorstellungen von der Geschichte und ihrem zyklischen Verlauf hatte, und der in diesem Zusammenhang auch einige Gedanken über die Sprache anstellte, als deren wichtigste die These der Identität von Kunst und Sprache gilt. Diese gewöhnliche Vorstellung von Vico hat sich sozusagen zu einem nicht revisionsfähigen Urteil verfestigt: man findet es in einer neueren Geschichte der Linguistik wieder (Leroy 1963, 12f.). Die Wirklichkeit sieht anders aus. 12

12 Als Linguist wird Vico von Linguisten und Philosophiehistorikern nach wie vor kaum wahrgenommen. Dies wird durch die „harte Kritik" eines so präzisen Linguisten wie Mounin ( 1 9 6 7 , 132ff.) bestätigt und vom Verhalten eines sonst so gut informierten und aufmerksamen Historikers wie Paolo Rossi. Rossi ist einer der ganz wenigen Philosophiehistoriker, der schon in den 50er Jahren die Bedeutung der sprachwissenschaftlichen Lehren für das Denken des 17. und 18. Jahrhunderts hervorhob (vgl. Rossi 1957 und 1968). Aber selbst er ist sich nicht der zentralen Rolle bewußt, die die sprachwissenschaftlichen Ideen im Gedankengebäude der Philosophie Vicos spielt. Diesem Gegenstand wird nur eine einzige von 4 9 Seiten des Artikels „G.B. Vico" im 5. Band der „Storia della letteratura italiana" von Cecchi und Sapegno (Mailand 1968, 5 - 5 4 ) gewidmet. Für die Interpretation von Vicos Denken und seiner Sprachwissenschaft verweise ich auf meinen Aufsatz „G.B. Vico dalla retorica allo storicismo linguistico" (La Cultura 6 , 1968, 167ff.; engl. Übersetzung in: G.B. Vico. An International Symposium, Hg. G. Tagliacozzo und H.V. White, Baltimore 1969, 2 7 9 f f . ) , worin auch die Kritik Mounins und ähnliche Interpretationen Rossis diskutiert werden. Pagliaro, der eine Neuinterpretation des gesamten Vico'schen Denkens (und nicht nur seiner sprachwissenschaftlichen Vorstellungen) angeregt hat, hat diesem Gegenstand neuerdings einen originellen Aufsatz gewidmet (Le origini del linguaggio secondo V o c o , in: Campanella e Vico, H. 126, Problemi attuali di scienza e cultura, Academia dei Lincei, R o m 1 9 6 9 , 269ff.).

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Vico selbst erläutert uns in der Einleitung zur „Scienza nuova seconda", daß „die Entdeckung, die der Hauptschlüssel zu dieser neuen Wissenschaft i s t " u n d , so fügte er hinzu, „den zu finden es einer unermüdlichen Suche während unseres ganzen wissenschaftlichen Lebens b e d u r f t e " , eine bestimmte Sprachauffassung sei: wohlgemerkt, nicht eine besondere Geschichtsauffassung, sondern eine besondere Vorstellung von der Sprache. Im Fortgang der „Scienza nuova" verdeutlicht Vico, daß die Sprachgeschichte die Basis darstellt, um auf eine genaue und vollständige Art und Weise die Probleme der Ideengeschichte, der Religion und des Rechtswesens anzugehen (§§ 34, 35, 145, 161 Nicolini). Diese Auffassung Vicos mag richtig oder falsch erscheinen, man kann sie akzeptieren oder zurückweisen. Jedenfalls bleibt die Tatsache bestehen, daß Vico, im Gegensatz zur geläufigen Ansicht, wie Aristoteles, Locke, Berkeley und Leibniz ein Denker ist, der eine bestimmte Vorstellung von der Sprache ausbildet und dann als Konsequenz eine bestimmte Konzeption der Wirklichkeit entwickelt, d.h. im Falle Vicos der Geschichte. Nachdem die Untersuchung Pagliaros vorliegt, fällt es leicht, kurz die Ideen Vicos über die Sprache zusammenzufassen. An erster Stelle ist hervorzuheben, daß Vico nicht entfernt an eine Identität von Intuition und Expression denkt, von Sprechen und künstlerischer Aktivität. Etwas derartiges zu vertreten, hat er nicht im Sinn, es fehlen ihm dafür sogar die Worte. Er unterstreicht im Gegenteil mit allem Nachdruck, daß es ein Irrtum ist, in den Sprachen einen Reflex der universalen Vorstellungen und Kategorien zu sehen, von denen die Aristoteliker und die Rationalisten sprechen, Kategorien und Vorstellungen, die unabhängig von und vor jedem menschlichen Eingriff existieren. Wie die neuere Allgemeine Linguistik, so hält auch Vico eine solche Konzeption von der Sprache für,,sehr einfältig", da es ihr, worauf bereits hingewiesen wurde, nicht gelingt, alle jene „unendlichen Besonderheiten" zu erklären, die sich in jeder Sprache der logifizierenden Analyse der rationalistischen und aristotelischen Grammatiker entziehen. Die Sprachen sind sehr viel früher entstanden als die Menschen Gelegenheit hatten, die „Schule des Aristoteles" zu besuchen. Das Wissen, das sich in ihnen ausdrückt, kann unmöglich ein rationales, logisches und wissenschaftliches sein. Das In-Beziehung-Setzen von Handlungen u n d Gegenständen, das Benennen und Klassifizieren mithilfe von Wörtern geschieht auf eine vorwissenschaftliche, nicht rationale, bildhafte Art und Weise. Die Sprachen entwickelten sich in einer Epoche, in der es weder Wissenschaft noch Philosophie, weder Moral noch Recht gab, in der Gewalt u n d Imagination (poesia) den Menschen beherrschten. Auf dem Grunde der Sprachen kann man daher keine anderen Kräfte finden als diese. Deshalb ist ein S t u d i u m der Sprache, wie es von den logisierenden Grammatikern vorgeführt wird, die vorgeben, die Sprache an der Logik, mehr noch an e i n e r 36

Logik, der Logik des Aristoteles, zu messen, völlig verfehlt. Und auch nachdem die Sprachen zum Werkzeug eines rationalen, wissenschaftlichen Wissens geworden sind, einer zivilisierten, nicht mehr barbarischen Gesellschaft, bleibt ihre ursprüngliche Grundlage erhalten und vermischt sich auf die verschiedenste Weise mit der Rationalität. Dergestalt hat jede Sprache ihren eigenen „Geist", der verbunden ist mit der Entstehungsgeschichte der Nation, die die Sprache benutzt. Vico versucht ein möglichst genaues und, soweit das für seine Zeit möglich ist, präzises Bild von der Geschichte der großen europäischen Kultursprachen zu geben. Sicherlich finden sich auch hier, wie in den Etymologien, Fehler und Ungenauigkeiten. Aber in den betreffenden Passagen Vicos 13 findet jede sprachgeschichtliche Betrachtungsweise ihr erstes Vorbild, die die Probleme der Entwicklung einer Kultur und Zivilisation einer Gesellschaft mit den Problemen einer Sprachgemeinschaft und mit dem kontinuierlichen Anpassen des Instrumentes dieser Gemeinschaft, der Sprache, an beständig sich verändernde Erfordernisse in Beziehung setzen will. Bekanntlich blieb Vico ohne Nachfolger. Um genau zu sein, einige hatte er: aber sie waren entweder sehr mittelmäßig, wie jener Priester Antonio d'Aronne, ein Kalabreser, der eine lateinische Grammatik im Geiste Vicos schreiben wollte, sie aber glücklicherweise nicht geschrieben hat, oder es waren hervorragende Köpfe, die jedoch wegen ihrer engen Anlehnung an Vico wenig bekannt wurden. Dies ist der Fall bei Foscolo und seinen Arbeiten über die Geschichte der italienischen Sprache, die selbst von Fachleuten wenig beachtet wurde. Als daher in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. Gelehrte wie Ascoli damit begannen, eine Tradition von sprachwissenschaftlichen Untersuchungen in Italien aufzubauen, konnte dieses Vorhaben dem Tommaseo als „etwas Deutsches" erscheinen, etwas der italienischen Nationalkultur Fremdes (Stussi 1963,44). Ganz anders dagegen war das Schicksal Leibniz' in den Ländern deutscher Sprache und überhaupt im ganzen Europa des 17. und 18. Jhs. Im dritten Buch seiner „Nouveaux essays" 14 nimmt er die Gedanken Lockes wieder auf und entwickelt sie in einem Vico sehr nahekommenden Sinne. Bei dem Versuch, im Lexikon das notwendige Gleichgewicht herzustellen zwischen Allgemeinbegriffen mit allgemeiner Bedeutung und Spezialbegriffen, die seltener gebraucht werden und eine enger begrenzte und bestimmte Bedeutung haben, findet jede Sprache ihren eigenen Weg. Die Ergebnisse der 13 Vico, Scienza nuova seconda, §§ 151, 152,158, 159,455, 530, 773, 994. 14 G.W. Leibniz: Nouveaux essays, in: Opera philosophica, hg. v. J.E. Eidmann, Berlin 1860, 296-335.

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modernen quantitativen Linguistik bezüglich der Struktur des Lexikons gehen nicht weit über solche Erwägungen hinaus. Mit verschiedenen und sehr schlagenden Beispielen zeigt Leibniz darüber hinaus, daß zwischen den verschiedenen Sprachen weder Übereinstimmung in der syntaktischen Konstruktion noch im morphologischen System besteht. Aufgrund dieser Feststellungen k o m m t er zu der Aussage, daß jede Sprache ihre besondere Physiognomie habe, und das nicht nur, wenn man die Sprachlaute betrachtet, sondern auch unter einem syntaktischen u n d semantischen Aspekt. Die Sprache ist der Leibnizschen Analyse zufolge nicht etwa nur die lautliche, u n d durch ihre Lautform von anderen Sprachen unterschiedene Hülle für ein Skelett von universellen Vorstellungen und Kategorien, „für alle gleich", sondern ein Werkzeug, das auf jeweils besondere Weise Erfahrungsgehalte in diskrete Einheiten — Begriffe und ihre Bezeichnungen - analysiert. Und dank dieser Besonderheit der Sprache ist Sprechen in den Augen von Leibniz nicht nur passives Abbilden, sondern ein Mittel, um den Erfahrungsgehalten Gestalt zu geben. Leibniz zufolge, der darin mit Locke und Vico übereinstimmt, spiegelt sich in der Sprache eines Volkes nicht nur dessen Geschichte wider, sie vermag sogar Einfluß zu nehmen auf seine Mentalität und seine Sitten. Gerade das vertiefte Verständnis von der Leistung des Wortes u n d das Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der sprachlichen Instrumente bringen Leibniz dazu, jenes Projekt zu erwägen, das noch immer zum Beweis seines Rationalismus und seines Antihistorismus herangezogen wird (Urban 1939, 17; De Ruggiero 1950, II, 3 2 - 3 3 ) von einer Geschichtsschreibung, die geneigt ist, den Polemiken der Romantiker gegen den „Antihistorismus" der Aufklärung Glauben zu schenken: das Projekt eines Symbolsystems, das zum Ausdrucksmittel der neuen Naturwissenschaften werden sollte und an die Stelle der vielen voneinander abweichenden historischen Sprachen treten könnte. Dieser Idee hing schon Locke nach und vor ihm Descartes, der in einem Brief an Mersenne (20. Nov. 1629: Descartes, Corresp. ed. Adam Tannery, I, 80ff.) von einer lingua universalis gesprochen hatte, einem allen Völkern gemeinsamen Mittel der mathesis universalis. Jedoch war die Motivation Descartes' wie die anderer Rationalisten des 17. Jhs., z.B. Becher (Heilmann 1963 ; De Mauro 1963, Becher), ganz anderer Art. Descartes glaubte noch, gut aristotelisch, daß die Wörter in der Lage seien, die Entitäten, die Gegenstand der intellektuellen Erkenntnis sind, unmittelbar zu bezeichnen. Nachdem er in den „Prinzipien der Philosophie" die Idee, daß sich im cogito die Keimzelle aller Gewißheit befinde, erläutert h a t , schreibt er, u m einem kritischen Einwand zuvorzukommen:

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Ich erkläre hier keine weiteren Begriffe, die ich schon gebraucht habe oder noch brauchen werde, da sie mir ausreichend bekannt erscheinen. Ich habe oft festgestellt, daß sich die Philosophen täuschten, wenn sie versuchten, Dinge, die an sich einfach und klar waren, auf logische Weise zu definieren und sie damit nur unklar machten. Und als ich behauptete, daß die Aussage ,ego cogito, ergo sum' die erste und gewisseste von allen ist, wollte ich damit nicht leugnen, daß man zuvor wissen muß, was ,cogitatio\ ,existentia', .certitudo' (...) bedeuten; aber da dies ganz einfache Begriffe sind, habe ich sie aufgrund der genannten Ansichten nicht weiter erwähnt. (Principii, 1.1, 1 0 )

So konnte sich der aristotelische Standpunkt im Frankreich des 17. Jhs. auch auf die neue Autorität Descartes stützen. Und man versteht nun auch, wieso die „Grammaire générale et raisonnée" von Port-Royal (Arens 1955, 72ff.) sowohl cartesianisch als auch aristotelisch inspiriert sein könnte, wenn sie im einzelnen die These zu untermauern versucht, daß die grammatischen Formen und Kategorien sowie die Arten des Satzes sich eng anlehnen an universelle Vorstellungen und logische Kategorien, (s.u. S. 138f.) Im Kontext der europäischen Kultur des 16. und 17. Jhs. klingen die Äußerungen von Descartes, Becher, Arnauld u n d Lancelot wie unbedingte Treueschwüre gegenüber einer Sprachvorstellung, die bereits im Vergehen ist. Dieser Vorstellung konnte Descartes jedoch das Projekt einer lingua universalis hinzufugen, deren einziger Vorteil in seinen Augen ist, daß ihre Zeichen in jedem Land und zu jeder Zeit leicht verstanden werden. Für Leibniz dagegen ist das Projekt einer characteristica universalis nur das Gegenstück zu seiner Aussage von der Geschichtlichkeit der Sprachen. Er hält es für möglich, eine universale Wissenschaft aufzubauen (s.u. S. 40), weiß aber zugleich, wie groß der unkürzbare historische Anteil an den Gemeinsprachen ist und in welchem Ausmaße sie folglich ungeeignet sind, die Begriffe der Wissenschaften auf universelle Art auszudrücken (Apel 1963, 311). Aus dem Bewußtsein der Geschichtlichkeit der Sprachen entwickelt Leibniz nicht nur dieses Projekt einer characteristica universalis. Er plant zudem, was den geschichtlichen Zug seines Denkens belegt, eine ganze Reihe von sprachgeschichtlichen Forschungen: ein „Lexicon" der zeitgenössischen deutschen Sprache, ein „Glossarium etymologicum", das auf der Basis einer kritischen Philologie soweit wie möglich zu den Quellen der Sprache zurückgehen wollte, eine Sammlung und systematische Beschreibung von Sprachdaten, die die Rekonstruktion der Abstammung der verschiedenen Sprachen erlaubt (Arens 1955, 77ff.; Waterman 1962, 1 3 - 1 5 ; Apel 1963, 307ff.). Wissenschaftliche Nachfolger von Leibniz, wie z.B. Eckhart, haben dann damit begonnen, dieses Programm umzusetzen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß fur Leibniz wie für Vico das 39

Interesse für Sprachuntersuchungen, die sich auf einzelne Sprachen und einzelne Worte richten, verbunden ist mit der neuen Vorstellung von der Sprache. Andererseits führte bei beiden die Konfrontation mit den Meinungen der radikaleren englischen Empiristen dazu, daß sich rationalistische Restbestände in ihrem Denken hielten. Z.B. h o f f t e Vico, daß die Analyse der Sprachen und ihres Wortschatzes zur Entdeckung eines „dizionario mentale" von universeller Gültigkeit führen könnte: (...) in diesem erstmalig vorgelegten Werk wird die Idee eines ,Gedankenwörterbuchs' (dizionario mentale) ausgeführt, das die Bedeutungen aller Sprachen angibt, indem es sie auf gewisse substantielle Ideen zurückführt, die aufgrund gewisser Modifizierungen, die die einzelnen Volker dabei beachten, von diesen mit verschiedenen Wörtern belegt werden. (§ 4 4 5 Nicolini)

Auch Leibniz hegt eine ähnliche Hoffnung: Ich bin der Überzeugung, daß die Sprache der beste Spiegel des menschlichen Geistes ist und daß eine genaue Untersuchung der Wortbedeutungen besser als jede andere Untersuchung zeigen kann, wie der Verstand funktioniert. 1 5

Dennoch kann dieser Glaube an die Existenz einer übergeschichtlichen Rationalität die Neuheit dieser Vorstellungen von der Sprache nicht vermindern: im Gegensatz zu Aristoteles, den Scholastikern und den cartesianischen Rationalisten wissen Vico und Leibniz, daß sich die angenommene übergeschichtliche Vernunft nicht direkt und unmittelbar in den menschlichen Sprachen ausdrückt. Sie haben die Entdeckung gemacht, daß zwischen der angenommenen übergeschichtlichen V e r n u n f t , zwischen dem „dizionario mentale", das aus „einigen substantiellen I d e e n " besteht, und dem Sprechen u n d Sich-Verständigen der Einzelnen sozusagen ein Abstand besteht, der sich erklärt aus den „Modifizierungen der Völker", d.h. aus den semantischen und syntaktischen Besonderheiten einer jeden Sprache. Das Studium der Sprachen hat demzufolge nicht nur einen praktischen Wert. Es dreht sich nicht nur darum, daß man ein Instrument beherrschen lernt, mit dessen Hilfe universell gültige Verstandesinhalte unmittelbar hervorgerufen werden können; die Sprachen werden vor allem systematisch untersucht, um ihre historische Besonderheit zu erfassen und darüber hinaus das, was im menschlichen Geist und in der menschlichen Geschichte universell sein kann. Und sie werden untersucht, weil die semantischen und syntaktischen Besonderheiten mit von Volk zu Volk verschiedenen Gebräuchen, Traditionen und Sitten in einem wechselseitigen Zusammenhang stehen, so daß die Erforschung von 15 G.W. Leibniz: Die philosophischen Schriften, hg. v. C.I. Gerhardt, Berlin 1875ff., Bd.3,313.

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sprachlichen Materialien eine unschätzbare Quelle historischer Erkenntnis darstellt. Es scheint daher unmöglich, das zusammenfassende Urteil zu unterstützen, das ein dänischer Linguist am Anfang dieses Jahrhunderts gefallt hat, demzufolge die Arbeiten der englischen, französischen und deutschen Philosophen des 17. und 18. Jhs. ein „Wiederkäuen der Probleme, die schon die griechischen Philosophen beschäftigt haben, nämlich die Frage nach der Beziehung zwischen Sprache und den Ideen, die Frage nach dem Ursprung der Sprache" sind „und nichts zu tun haben mit der Linguistik, da sie weder direkten noch indirekten Einfluß auf diese Wissenschaft genommen h a b e n " und nur „zur Erfolglosigkeit verdammte subjektive Spekulationen sind, da die Autoren sie weder mit empirischen Untersuchungen noch mit sprachgeschichtlichen Aussagen und mit dem wirklichen Funktionieren der Sprache untermauern k o n n t e n " (Thomsen 1902, 61 f.). Dieses Urteil ist aus mehreren Gründen ungerechtfertigt. Vor allem muß betont werden, daß die linguistischen Forschungen, die während des ganzen 18. Jhs. in London, in Paris, in Deutschland blühten, unerklärlich bleiben, wenn man sie nicht in Beziehung setzt zu einem neuen Sprachverständnis, das demjenigen des Aristoteles, der für Jahrhunderte jedes Interesse an der Untersuchung linguistischer Tatsachen zum Erlahmen gebracht hatte, entgegengesetzt ist. So schien die neue Sprachwissenschaft, die im Kontext der tiefgreifenden Neuerungsbewegung der Neuzeit entstanden war, um die Mitte des 18. Jhs. schließlich zu triumphieren. Nur wenig mehr als ein Jahrhundert zuvor hatte Descartes in „Principia philosophiae" gelassen behaupten können, daß eine Kenntnis der Wortbedeutung völlig irrelevant sei für die Erforschung des Grundes aller Gewißheit, indem er diese Bedeutung als „höchst einfach", d.h. unmittelbar einsichtig bezeichnet. Zu einer Zeit jedoch, in der auch das rationalistische Projekt einer lingua universalis in einem veränderten intellektuellen Klima seine Bedeutung verloren hatte, schien der Aristotelismus für immer aus der europäischen Kultur verschwunden zu sein. Indem wir dies feststellen, sind wir am Kern des Problems angelangt, das im Mittelpunkt dieses Exkurses über die Krise der aristotelischen Bedeutungskonzeption steht. Man m u ß sich an dieser Stelle fragen, wie es möglich war, daß diese Ideen, die auf der Vorstellung von der Sprache als einem Spiegel oder getreuem Abbild von der Wirklichkeit gründen, nachdem sie so kenntnisreich widerlegt worden waren, wieder auftauchen u n d zur „normalen" Betrachtungsweise sprachlicher Tatsachen werden konnten. Abgesehen von diesem historischen Problem gibt es noch eins der Historiegraphie: welches sind die Ursachen dieser „damnatio memoriae",

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die in der Geschichtsschreibung der Sprachwissenschaft u n d Philosophie die Periode vom 16. bis zum 18. Jahrhundert getroffen zu haben scheint? Zwar versäumen es umsichtiger geschriebene Geschichten der Sprachwissenschaft wie die mehrfach zitierte von Arens oder diejenige von Waterman nicht, an die Untersuchungen Leibnizens oder diejenigen der englischen und französischen Indologen zu erinnern (letztgenannte u n d besonders William Jones werden übrigens auch in der Sprachgeschichte von Thomsen erwähnt), aber daß im 18. J h . eine beeindruckende Fülle von sprachgeschichtlichen Untersuchungen entstand, daß die ersten gesicherten Aussagen über Verwandtschaften zwischen den bekannten Sprachen u n d besonders über den gemeinsamen Ursprung des Griechischen, Lateinischen und des Sanskrit gemacht wurden, das wird meist verschwiegen. Als „Vater" der Sprachwissenschaft wird von den meisten ein deutscher Gelehrter aus dem Anfang des 19. Jhs., Franz Bopp (Saussure 1922, 14;Meillet 1 9 3 7 , 4 5 7 ; Belardi 1959, 51; Leroy 1953, 17—21;usw.), angegeben. Wenn der eine oder andere mit dieser Boppschen Vaterschaft nicht übereinstimmt, so deswegen, weil diese Anerkennung einem dänischen Linguisten gebühre, der mit Bopp mehr oder weniger gleichaltrig ist: Rasmus Kristian Rask (so z.B. Thomsen 1902,63— 71). Und ein französischer Wissenschaftler, nach dessen Aussage Bopp ein intellektuell eher mittelmäßig begabter und kulturell wenig gebildeter Mann gewesen sei, der nicht der Urheber der Sprachwissenschaft sein könne, hat versucht, in Wilhelm von Humboldt den eigentlichen Vater der Sprachwissenschaft zu suchen (Tesnière 1959, 13). Aber auch wenn man die Anfänge der Linguistik von Bopp oder Rask auf Humboldt oder, wie das Arens (1955, 139ff.) mit größerer Berechtigung vorschlägt, auf Friedrich Schlegel verschiebt, läßt man nach wie vor die Sprachwissenschaft mit dem Anfang des 19. Jahrhunderts beginnen. Trotz der erdrückenden Belege von Arens und des lebhaften Protests von Tesnière wird Bopp nach wie vor als Vater der Sprachwissenschaft gefeiert (Leroy 1963, 1 7 - 2 1 ) . Würde er jedoch, statt nur gefeiert, auch gelesen, dann hätten die Sprachwissenschaftler des 20. Jhs. den geschichtlichen und ideengeschichtlichen Ursprung ihrer Disziplin vielleicht nicht vergessen. Nicht nur, daß die Lektüre der Arbeiten Bopps selbst Mängel und „vorwissenschaftliche" Oberflächlichkeiten zeigt, die nicht geringer sind als jene, die man, mit Ausnahme von Vico, in den vergessenen sprachwissenschaftlichen Abhandlungen des 18. Jhs. findet, die Lektüre der „Vergleichende Grammatik" von Bopp hätte vielleicht die Erinnerung an das Vorwort wachgehalten, oder besser noch an dasjenige der überragenden französischen Ausgabe von Michel Bréal im Jahr 1866. Es lohnt sich, einen zentralen Abschnitt aus der langen Einleitung Bréals im Zusammenhang wiederzugeben. 42

In d e i Nachfolge von Leibniz, der viele richtige u n d tiefe Einsichten in diesen Zus a m m e n h a n g h a t t e , h a t t e Herder die D e u t s c h e n gelehrt, die S p r a c h e n nicht als e i n f a c h e I n s t r u m e n t e z u m Austausch von Ideen a n z u s e h e n : er k o n n t e zeigen, d a ß die S p r a c h e n für d e n , der sie zu befragen weiß, die ältesten u n d echtesten Zeugnisse von der Lebens- u n d Gefühlswelt der Völker erschließen. Im A s c h a f f e n b u r g e r G y m n a s i u m , das seine Lehrer z u m Teil u n t e r den Professoren der Mainzer Universität g e w a n n , h a t t e B o p p einen Bewunderer Herders, Karl Windischmann, als Lehrer (...) Kür die Religionen u n d Sprachen des Orient e m p f a n d Windischmann l e b h a f t e s Interesse. Wie die Gebrüder Schlegel, w ie Creuzer u n d Goerres. deren Ansichten er teilte, e r h o f f t e er sich von einer genaueren K e n n t n i s Persiens und Indiens Aufschlüsse über den Ursprung der Menschheit. (Bréal 1 8 6 6 , Vol. 1, VHIf.)

Diesen Anregungen folgend entschied sich Bopp, seine Studien der Orientalistik zu widmen und suchte Kontakte mit den Gelehrten in Paris: Für diese E n t s c h e i d u n g ist sicher ein b e r ü h m t gewordenes Buch, das sich nach d e n ersten Kapiteln in einen dichten H y p o t h e s e n n e b e l verliert, dessen A n f a n g aber das l e b h a f t e s t e Interesse eines Sprachwissenschaftlers erwecken m u ß t e , nicht o h n e E i n f l u ß gewesen. Wir sprechen von Friedrich Schlegels ,Über S p r a c h e und Weisheit der I n d e r ' (...) (Bréal 1 8 6 6 , X)

Dies zeigt, daß für Bréal das Bewußtsein der „philosophischen" Abstammung der Sprachwissenschaft noch wach ist. 1 6 Überzeugt, sich an einen völlig informierten Leser zu wenden, zieht er mit wenigen Strichen eine Linie, die von Bopp aufsteigt zu Friedrich Schlegel und Windischmann, von diesen zu Herder und von Herder schließlich zu Leibniz. Und genau das Bewußtsein dieses Erbes ist aus den historischen Darstellungen der Sprachwissenschaft von Thomsen, Meillet und Saussure verschwunden und ebenso aus der gesamten Sprachwissenschaft des 20. Jhs. Als in den letzten Jahren die Ideen von Locke, Vico und Leibniz, d.h. die Vorstellung von der wechselseitigen Beziehung zwischen semantischen Systemen und syntaktischen Strukturen auf der einen Seite und Kultur und ethnos auf der anderen Seite wieder zu Ehren kamen, hat man, um sie zu bezeichnen, von der Sapir-Whorf-Hypothese gesprochen (Hoijer 1954, 9 2 f f . ) oder, darauf wurde bereits hingewiesen, von Humboldtschen Ideen (Wartburg 1946, 148; Uli m an η 1952, 19;Greenberg 1954, 3f.; Mounin 1 9 6 3 , 4 3 ; Titone 1964, 2 5 1 ) . Dies ist vielleicht der deutlichste Beleg dafür, daß die Geschichte der Sprachwissenschaft des 18. Jhs. bei den Sprachwissenschaftlern selbst in Vergessenheit geraten ist. 16 A u c h Bernardo Biondelli, d e m wir die ersten italienischen, von B o p p inspirierten A r b e i t e n in Vergleichender Sprachwissenschaft v e r d a n k e n , sieht die Ursprünge sprachwissenschaftlicher U n t e r s u c h u n g e n bei Locke, Leibniz u n d in der A u f k l ä r u n g : m a n vergleiche d e n s c h ö n e n Aufsatz „Origine e sviluppo della linguistica" (Rivista europea, Juni 1 8 4 5 , 6 4 9 - 6 6 3 ) .

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In den Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie wird das Denken über die Sprache im 18. Jh. noch weniger berücksichtigt. Selbstverständlich gibt es Monographien u n d das nicht nur im Falle Vicos (Rossi 1957; Viani 1960; Apel 1963), in denen man auf dieses Denken hinweist, aber daß sie alle in jüngster Zeit erschienen sind, ist vielleicht doch etwas mehr, als eine rein chronologische Feststellung. In den großen Arbeiten aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wird die Tatsache, daß sich Vico, Leibniz oder Locke mit linguistischen Fragen beschäftigt haben — in völliger Übereinstimmung mit der offiziellen Geschichte der Sprachwissenschaft — für irrelevant gehalten. De Ruggiero (1950, IV, ii, Bd. I, 102) erwähnt flüchtig das 3. Buch des Lockeschen „Essay", aber, obwohl er sich sonst ausführlich mit dem englischen Denker beschäftigt (63—125), klärt er nicht, welchen Anteil die Theorien über die Sprache an diesem Denken haben. Immerhin werden so die sprachtheoretischen Gedanken Lockes zumindest erwähnt, wohingegen das 3. Buch der „Nouveaux essays" und andere sprachwissenschaftliche Schriften von Leibniz in derselben Wissenschaftsgeschichte (1950, IV, ii, Bd. II, 5 — 119) ungenannt bleiben, wenn man einmal von der üblichen kurzen Erwähnung der characteristica universalis absieht. Auch von Urban (32f.) wird Leibniz nur aus diesem einzigen Grunde erwähnt (1939, 17). Abbagnano (1953, II, 1, 286f.) geht kurz auf die Lockesche Sprachtheorie ein und übergeht die sprachgeschichtlichen Überlegungen Leibnizens mit Schweigen. Windelband (1948, II, 126f.) erinnert an den „Nominalismus" Lockes, erwähnt aber die Leibnizsche Sprachtheorie ebenfalls nicht. Man kann zusammenfassend sagen, daß die Folgen der eindrucksvollen Krise der aristotelischen Sprachkonzeption am Anfang der Neuzeit nur bis ins 17. und 18. Jahrhundert hineinwirken: am Ende des 19. Jahrhunderts ist dieses Sprachverständnis wieder allgemein herrschend (und das — wie wir sehen werden — nicht nur beim ,grand public'); zudem m u ß man feststellen, daß Linguisten und Philosophie hist oriker sowohl die Versuche des 18. Jhs., eine Konzeption der Bedeutung und der Sprache zu erarbeiten, als auch die vielen ins einzelne gehenden linguistischen Forschungsarbeiten, die in dieser Zeit begonnen wurden, aus dem Gedächtnis verloren haben. 1 7 17 Man möchte wünschen, daß diese Aussagen nunmehr überholt sind: viele der in den Anmerkungen zu dieser Ausgabe genannten Werke (Chomsky 1 9 6 6 ; Rosiello 1 9 6 7 ; D o n z é 1 9 6 7 ; Mounin 1 9 6 7 ; Rossi 1 9 6 8 ; S i m o n e : Intioduzine a Grammatica e Logica, 1 9 6 9 ; Formigari 1 9 7 0 ) und andere, die man hier anfügen könnte, lassen h o f f e n , daß die Wiederentdeckung des sprachlichen Denkens des 17. und 18. Jahrhunderts ein wenn auch noch nicht abgeschlossener, so d o c h eigenständiger Forschungsgegenstand geworden ist. Bestehen bleibt allerdings das historische Problem, wieso bis in die 60er Jahre hinein Sprachwissenschaftler und Philosophiehistoriker die Erinnerung an dieses Denken verloren hatten.

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4. Kants Schweigen „Diesen Weg (,..)bin ich nun eingeschlagen und schmeichle mir auf demselben die Abstellung aller Irrungen angetroffen zu haben, die bisher die Vernunft im erfahrungsfreien Gebrauche mit sich selbst entzweit hatten. Ich bin ihren Fragen nicht dadurch etwa ausgewichen, daß ich mich mit dem Unvermögen der menschlichen V e r n u n f t entschuldigte, sondern ich habe sie nach Prinzipien vollständig spezifiziert, u n d nachdem ich den Punkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst entdeckt hatte, sie zu ihrer völligen Befriedigung aufgelöst. (...) Bei dieser Beschäftigung habe ich Ausführlichkeit mein großes Augenmerk sein lassen und ich erkühne mich zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht w o r d e n . " 1 8 In einem Punkt sind die Worte, die Kant in seiner Einleitung zur ersten Ausgabe der „Kritik der reinen V e r n u n f t " voranstellte, nicht zutreffend: es handelt sich dabei u m die Sprache oder besser gesagt um die sprachtheoretischen und -philosophischen Fragestellungen, die in den 200 Jahren vor Erscheinen der ,JKritik" aufgeworfen worden waren. Diese Ungenauigkeit Kants ist eine doppelte. Vor allem, daß die Thesen von Leibniz und besonders von Locke, Berkeley und Hume über die Sprache nicht in Betracht gezogen werden, in denen dem Gebrauch einer geschichtlich bestimmten Sprache eine entscheidende Bedeutung für den A u f b a u allen menschlichen Wissens zugesprochen wird, zeigt, daß die „Ausführlichkeit", was diesen Teil der Kantschen „Kritik" betrifft, nur eine Absichtserklärung ist. Kant versucht weder in der ersten „Kritik" noch in den beiden nachfolgenden zu rechtfertigen, wieso er diese Probleme nach einer Diskussion, die sich über zwei Jahrhunderte hingezogen hatte, plötzlich auf eine derartig radikale Weise aus dem Kreise des Untersuchungswürdigen verbannt. Sprachprobleme werden von ihm weder explizit gestellt noch werden sie gelöst, aber es gibt zwei Passagen in den „Kritiken", die einen Hinweis darauf geben, daß Kant eine genaue Vorstellung von ihnen besaß. Wenn dies zutrifft, können wir schließen, daß Kants einleitende Worte eine zweite Ungenauigkeit enthalten: er ist ganz bewußt diesen Fragen „ausgewichen". Die erste dieser beiden Passagen findet sich im ersten Kapitel der „Analytik der Grundsätze" und betrifft den Begriff des „Schemas", ein Schlüsselbegriff der Kantschen Erkenntnislehre: In der That liegen unsern reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemate zum Grunde. Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde

18 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Akademie-Ausgabe, Bd. 4 , Berlin 1911, 9f.

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gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, das dieser für alle, recht- oder schiefwinklichte etc., gilt, sondern immer nur auf einen Theil dieser Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existiren und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft in Ansehung reiner Gestalten im Räume. Noch viel weniger erreicht ein Gegenstand der Erfahrung oder Bild desselben jemals den empirischen Begriff, sondern dieser bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema der Einbildungskraft, als eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe. Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Thieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein. Dieser Schematismus unseres Verstandes in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden. 1 9 Man fragt sich, worin diese „verborgene K u n s t " bestehen kann, wenn n i c h t in der Fähigkeit, sowohl einzelne Bilder als auch die Begriffe m i t ein und demselben Zeichen zu verbinden ( w o d u r c h die allgemeine B e d e u t u n g der Zeichen entsteht. Die Ubers.). Man fragt sich, o b K a n t nicht voraussetzt, daß dies genau diejenige Grundfunktion der S p r a c h e ist, die sie in den T h e o r i e n von L o c k e und Berkeley e i n n i m m t , besonders da die Ausdrücke und die Beispiele, die er benutzt, übereinstimmen m i t denjenigen, die L o c k e und Berkeley verwenden, wenn sie von der Bedeutung der Worte h a n d e l n . 2 0 K a n t hütet sich, dieser „ K u n s t " a u f den Grund zu gehen, ihr Funktionieren im einzelnen zu untersuchen und ihre Eigenschaften zu b e s t i m m e n , und beschränkt sich darauf, ihre E x i s t e n z und ihre große B e d e u t u n g für die Erkenntnis zu konstatieren. Genau die gleiche Haltung zeigt sich in der zweiten Passage, die der F u n k t i o n der Sprache gew i d m e t ist. In der „ K r i t i k der Urteilskraft" (§ 5 9 ) schreibt K a n t : 19 Kant, ebd., 101. - Über den Zusammenhang von Schematismus und Sprache bei Kant hat sich schon C. Brandi (Celso o della poesia. Turin 1957, 37f.) geäußert und neuerdings Garoni ( 1 9 6 8 , 1 2 2 - 1 2 4 ) . Das, was Kant über die Beziehung zwischen den Schemata und den Erscheinungen in ihrer unmittelbaren Form behauptet, ist vergleichbar mit dem, was wir uns heute unter der Beziehung zwischen Bedeutung (significato als mögliche Abstraktionsklasse) und Sinn (senso) vorstellen, wenn wir den Gedanken Saussures folgen. Aber gerade die Berechtigung dieser Vergleichbarkeit, die zeigt, daß Kant eines der Hauptprobleme der Sprachwissenschaft gesehen hat, hebt die Tatsache, daß diese Theorie in seinem Werk nicht weiterentwickelt wurde, umso deutlicher hervor. 20 The Work of G. Berkeley, Hg. G. Sampson, 3 Bde., London 1897ff., Bd. I, 168f. (= A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge, part I, Introduction, § 13, vgl. auch §§ 1 6 - 1 8 ) .

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Es ist ein von den neuern Logikern zwar angenommener, aber sinnverkehrender, Unrechter Gebrauch des Worts s y m b o l i s c h , wenn man es der i n t u i t i v e n Vorstellungsart entgegensetzt; denn die symbolische ist nur eine Art der intuitiven. Die letztere (die intuitive) kann nämlich in die s c h e m a t i s c h e und in die s y m b o l i s c h e Vorstellungsart eingetheilt werden. Beide sind Hypotyposen, d.i. Darstellungen (exhibitiones): nicht bloße C h a r a k t e r i s m e n , d.i. Bezeichnungen der Begriffe durch begleitende sinnliche Zeichen, die gar nichts zu der Anschauung des Objects Gehöriges enthalten, sondern nur jenen nach dem Gesetze der Association der Einbildungskraft, mithin in subjectiver Absicht zum Mittel der Reproduction dienen; dergleichen sind entweder Worte oder sichtbare (algebraische, selbst mimische) Zeichen, als bloße A u s d r ü c k e für Begriffe. Alle Anschauungen, die man Begriffen a priori unterlegt, sind also entweder S c h e m a t e oder S y m b o l e , wovon die erstem directe, die zweiten indirecte Darstellungen des Begriffs enthalten. Die erstem thun dieses demonstrativ, die zweiten vermittelst einer Analogie (...) So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur s y m b o l i s c h vorgestellt. Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Causalität zu reflectiren. Dies Geschäft ist bis jetzt noch wenig auseinander gesetzt worden, so sehr es auch eine tiefere Untersuchung verdient; allein hier ist nicht der Ort, sich dabei aufzuhalten. Unsere Sprache ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält. So sind die Wörter Grund (Stütze, Basis), Abhängen (von oben gehalten werden), woraus Fließen (statt Folgen), Substanz (...) und unzählige andere nicht schematische, sondern symbolische Hypotyposen und Ausdrücke für Begriffe nicht vermittelst einer directen Anschauung, sondern nur nach einer Analogie mit derselben, d.i. der Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direct correspondiren kann. Wenn man eine bloße Vorstellungsart schon Erkenntnis nennen darf (...), so ist alle unsere Erkenntniß von Gott bloß symbolisch. 2 1 A n d e r s als im A b s c h n i t t aus der „Kritik der reinen V e r n u n f t " wird hier explizit auf die Sprache als P r o d u k t i o n u n d Gebrauch v o n „Charakterismen", d.h. e i n f a c h e n E t i k e t t e n , reinen B e z e i c h n u n g e n u n d als P r o d u k t i o n u n d G e b r a u c h v o n S y m b o l e n h i n g e w i e s e n . N o c h einmal h e b t K a n t ausdrücklich die Wichtigk e i t dieser sprachlichen L e i s t u n g hervor, b e t o n t , daß sie eine „tiefere Unters u c h u n g " v e r d i e n e , hält aber erklärtermaßen u n d b e w u ß t auf der S c h w e l l e zu dieser U n t e r s u c h u n g inne. A b g e s e h e n v o n diesen b e i d e n G u c k l ö c h e r n , die g e ö f f n e t u n d kurz darauf eilends w i e d e r g e s c h l o s s e n w e r d e n , b i e t e t sich d e n A u g e n des Kant-Lesers n i c h t s v o n der a u s g e d e h n t e n u n d vielfaltigen p h i l o s o p h i s c h - s p r a c h l i c h e n P r o b l e m a t i k . K a n t s c h w e i g t . D i e w e n i g e n S e i t e n in d e n späten V o r l e s u n g e n 21 I. Kant: Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausg., Bd. 5, Berlin 1908, 351ff.

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zur Anthropologie, 2 2 in denen einzelne nichtssagende Gemeinplätze über verschiedene europäische Sprachen wiederholt werden, bezeugen dieses Schweigen nur umso deutlicher. Dieser Mann, der stolz verkündete, vor keinem noch so schweren Problem zu verzagen, und der seinen analysierenden Verstand auf jegliches Problem, und sei es noch so gering, richtete, angefangen bei den Eigenarten der Nordseewinde bis zur Frage, ob die Hausarbeit nun vom schönen oder vom starken Geschlecht erledigt werden solle, hat offensichtlich noch nicht einmal einen kleinen Teil seiner intellektuellen Fähigkeit auf ein Thema wie die Sprache verwandt. Die PhilosophieGeschichtsschreibung hat in diesem Schweigen Kants im allgemeinen kein Problem gesehen und schon gar nicht erwähnt, daß es ein außerordentliches Verschweigen darstellt, gemessen an der Fülle von sprachlichen Fragestellungen, der sich die Philosophen des 17. und 18. Jhs. ausgesetzt sahen. Hier kommt es vor allem darauf an, dieses Schweigen festzuhalten und die nachteiligen Folgen aufzuzeigen, die daraus für das Denken über die Sprache in Europa entstanden sind. Obwohl es für den Fortgang der Argumentation von geringer Bedeutung ist, mag es dennoch nützlich sein, an diese Feststellung einen Interpretationsversuch anzuschließen. Besonders eine allzu einfache Interpretationshypothese sollte man sofort ausschließen: Kant habe von den Problemen der Sprache deswegen nicht gehandelt, weil er sich nie in sie vertieft habe. Die oben zitierten Passagen sind sichere Anzeichen dafür, daß Kant diesen Problemen begegnete. Wir haben dafür auch sichere biographische Belege. Es ist bekannt, daß um das Jahr 1769 herum eine entscheidende Wende in der Entwicklung des kantschen Denkens stattfand, und es steht außer Zweifel, daß diese Wende mit der Lektüre der „Nouveaux essays" von Leibniz verbunden ist, die zwar am Anfang des Jahrhunderts geschrieben, aber erst 1765 veröffentlicht wurden. Es wurde bereits erwähnt, welche Rolle die Sprache in dieser Leibnizschen Arbeit spielt. Doch damit nicht genug: die Leibniz-Lektüre bringt Kant dazu, neuerlich den „Essay" von Locke zu lesen sowie andere Arbeiten aus der empiristischen Tradition, in denen die auf sprachlichen Untersuchungen beruhenden Argumente einen entscheidenden Anteil haben. Diese Lektüre bringt Kant zu seinem Kritizismus. Man kann nicht davon ausgehen, daß Kant diese Werke nur flüchtig gelesen habe, wie das dann zur Gewohnheit der kantianischen Philosophie-Geschichtsschreiber wurde, wenn sie sich mit den Problemen der Sprache beschäftigten. Selbst wenn man sich einmal vorstellt, daß Kant so hätte verfahren können, so hätte ohne Zweifel sein Königsberger Freund, Johann Georg Hamann, mit seiner scharfen Polemik dafür gesorgt, daß dieser 2 2 I. K a n t : Anthropologie. Akademie-Ausg., Bd. 7, Berlin 1 9 1 7 , 3 1 1 ff.

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Mangel korrigiert worden wäre. Die beiden standen in engem Kontakt, tauschten Gedanken aus, schrieben einander, planten gemeinsame Arbeiten und diskutierten miteinander. Und der Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzungen ist eben die Sprache, von der Kant nicht reden will und über die Hamann nicht schweigen kann. Als Kant seine erste „Kritik" veröffentlichte, setzte ihm Hamann seine „Metakritik" entgegen, in der er die Thesen von Berkeley und Hume aufnimmt und betont, daß die Vernunft auch in ihrer Selbstbeschränkung niemals rein sein kann, sondern sprachliche Eigenheiten, die von der einzelnen Sprache in ihrer historischen Besonderheit herrühren und von denen sich die Vernunft niemals befreien kann, voraussetzt. Übrigens hat Kant seine Typen des Urteils und seine Kategorien gerade dadurch gewonnen, daß er sich unbewußt auf Strukturen einer einzelnen Sprache stützt: Es bedarf keiner Deduktion, um zu beweisen, daß die Sprache die Stammutter der heiligen sieben Funktionen von Aussagen und logischen Syllogismen und ihres Geschlechtes ist. Nicht nur die gesamte Denkfähigkeit beruht auf der Sprache (...), sie ist auch der Funkt, an dem das Mißverständnis des Verstandes mit sich selbst entsteht, teils wegen der häufigen Übereinstimmung zwischen dem weiteren und dem engeren Begriff, der Leere und der Fülle eines solchen Begriffs bei idealen Aussagen, teils wegen der Undefiniertheit der sprachlichen Figuren im Vergleich mit den syllogistischen. 2 3

Die Kritik Hamanns blieb ohne erkennbare Folgen für Kants Denken, wie man an der zweiten Ausgabe der ersten „Kritik" und an den anderen beiden großen Werken sehen kann. Andererseits k o n n t e Kant sie nicht ignorieren. Sein Schweigen ist folglich nicht zufällig, sondern entspricht einer bewußt getroffenen Entscheidung. Es ist ein „systematisches" Schweigen. Urban hat folgende Erklärung dafür vorgeschlagen: Kant war der Auffassung, daß Mitteilung und Mitteilbarkeit Bestandteil des Begriffs der Erkenntnis seien, und daß das universale Element, das allein Kommunikation möglich macht, den Begriff eines Geistes oder eines Ich impliziere, das sowohl das Objekt transzendiert, als auch die individuellen Subjekte, die kommunizieren. Er sieht mit aller Klarheit, daß nur dank der transzendentalen Kategorien der Erkenntnis verständige Kommunikation möglich ist. (Urban 1939, 210f.)

Man kann zur Unterstützung der Urbanschen Hypothese einen Abschnitt aus der „Kritik der Urteilskraft" (§ 39 „Von der Mittheilbarkeit einer Empfindung") anführen, in dem gesagt wird, daß nur die Einheit der subjektiven Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis uns ermöglichen, eine Empfindung 23 Hamann: Metakritik, ebd., 2 8 6 .

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„allgemein mitteilbar" zu machen. Auch wenn man diese Hypothese akzeptiert, bleiben zwei Fragen offen. Die erste und augenscheinlich unlösbare ist, festzustellen, wieso Kant diese These niemals explizit gegen Hamann, Leibniz, Locke, Berkeley u n d Hume verwandt hat. Ein zweites Problem liegt darin, daß tatsächlich u n d auch in den Augen Kants die Kommunikationsfunktion nur eine Funktion der Sprache ist. Es ist diejenige Funktion, wie sich zeigte, die die Sprache mit Hilfe der „Charakterismen" löst und zugleich diejenige, der Kant eine geringere Bedeutung beizumessen scheint. Darüber hinaus erfüllen die Wörter die Funktion, vermittelt über ihre Bedeutung unserem Bewußtsein die notwendigen Symbole zu liefern, u n d diese Bedeutungen haben nicht nur einen symbolischen Wert, sondern auch, wenn die hier vorgeschlagene Interpretation des Abschnitts aus der ersten „Kritik" richtig ist, einen Wert als Schemate, in denen sich unser intuitives und empirisches, begriffliches und abstraktes Wissen konzentriert. Es scheint unmöglich, die Urbansche Hypothese auch auf diese symbolischen und schematischen Funktionen auszudehnen, die Kant, und sei es auch nur beiläufig, der Sprache zuschreibt. Der Gebrauch von Bedeutungen mit dem Wert eines Schemas oder sogar der Gebrauch eines Symbols von etwas, das nicht direkt wahrnehmbar ist (man vergesse nicht, daß für Kant das menschliche Wissen von G o t t ein „symbolisches" ist), kann nicht als bewußtseinsimmanent gelten, er scheint vielmehr, wie schon die Empiristen und auch Hamann meinten, ein selbständiges Element darzustellen, das jegliche Erkenntnis bedingt und beeinflußt. Und die beiden Schneisen, die diese Probleme in das Werk Kants schlagen, erlauben den Verdacht, daß er sich dessen wohl bewußt war. Damit soll nicht gesagt werden, daß Kant im Bewußtsein der Probleme, die entstehen konnten, wenn er sich explizit mit den von Leibniz, Locke, Berkeley und Hume diskutierten sprachlichen Fragen auseinander gesetzt hätte, diese mit einer armseligen List umgangen habe nach der Art von Wissenschaftlern, die die Argumente ihrer Gegner in die Anmerkungen verstecken, um damit zu zeigen, daß sie von ihrer Existenz wissen, und sie mit der Bemerkung ,Jcann im übrigen nicht überzeugen" abtun. Die intellektuelle und moralische Strenge Kants ist ein ausreichender Grund, um eine solche armselige Hypothese auszuschließen. Ist dies ausgeschlossen, so bleibt, um die bisher herausgestellten Momente in Übereinstimmung zu bringen (die großen Sprachdiskussionen, die sich um Kant herum und zum Teil gegen ihn gerichtet abspielen, sein Schweigen in dieser Diskussion, seine sporadischen Hinweise auf Bedeutung, die nicht reduzierbar ist auf pure Kommunikation), nur ein letzter Erklärungsversuch. Kant hätte demzufolge nicht, wie Hamann vielleicht meinte, die Argumente von Berkeley u n d Hume verschwiegen, sondern sie im Gegenteil sehr geschätzt. Er verstand

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vielleicht eher als Hamann, daß diese Argumente dem Verstand keine Hilfe boten, sein Selbstmißverständnis zu begreifen, sondern eher zu dem Schluß führten, daß man zu jener Zeit nicht mehr von einer übergeschichtlichen Vernunft sprechen konnte, die fáhig war, sich selbst zu begreifen u n d die eigenen Widersprüche zu erkennen. Kant verstand, daß man nicht mehr, wie Leibniz dies getan hatte (und, wie wir zeigten, auch Vico), zur gleichen Zeit die kreative Funktion des Sprechens betonen und auf der Instanz einer übergeschichtlichen Vernunft bestehen konnte, deren Verständnis sich aus der Erklärung der geschichtlichen Formen der Sprache hätte ergeben müssen. Die Schwäche dieser Argumentation m u ß ihm offensichtlich gewesen sein. Wenn man die Leibnizschen Ansichten über die Sprache weiterentwickelte, dann blieb als einzige widerspruchsfreie Lösung der Neonominalismus von Berkeley und Hume, die radikale Verneinung jedes Apriori und jeder überempirischen Vernunft. Entweder geht man das Risiko dieser Argumentation ein, an deren Ende man womöglich auf das Irrationale und den Skeptizismus trifft, den zu vermeiden ja Aristoteles seine Konzeption der linguistischen Formen als reine „Charakterismen" ausgearbeitet hatte, oder man verfolgt den Lösungsweg des Aristoteles weiter u n d führt den erhabenen Versuch einer Begründung der Vernunft aus sich selbst heraus zu Ende. Kant hat offensichtlich diesen zweiten Lösungsweg gewählt, unserer Interpretation zufolge jedoch in voller Bewußtheit ihrer Mängel. Sein Schweigen über die Sprache erscheint in diesem Licht nicht als Ignoranz oder Verständnislosigkeit und auch nicht als feige List. Es ist ein Schweigen zugunsten der Argumentation von Berkeley und Hume gegen die Begriffe „ V e r n u n f t " und „abstrakte Idee", wie man sie noch bei Leibniz u n d Locke findet. Vielleicht bezeugt dieses Schweigen die höchste Anerkennung, die je der unaufhebbaren Geschichtlichkeit der menschlichen Fähigkeit zum Zeichengebrauch gezollt wurde. Wie immer man diesen Erklärungsversuch beurteilen mag, Kants Schweigen selbst bleibt eine sichere Tatsache, und sie hatte nicht weniger offensichtliche geschichtliche Folgen. Da die Ursachen seines Schweigens unentdeckt blieben, hat die Philosophie des 19. Jhs. die Probleme so aufgegriffen und diskutiert, wie sie in den drei ,.Kritiken" explizit gestellt wurden und hat die Sprache entsprechend vernachlässigt. Die Probleme der herrschenden Philosophie des 19. Jhs. sind die der Selbstbegründung der Vernunft oder besser der historischen Begründung der Vernunft oder derjenigen Tatsachen, denen sie angemessen sein m u ß , geblieben: im 19. Jh. herrscht die Skepsis, aber ein rein erkenntnistheoretischer Skeptizismus, der ohne jede Beziehung zur Sprache bleibt. Kants Schweigen hat sich wie ein schwerer, undurchdringlicher Bleimantel auf eine Diskussion gelegt, die zwei Jahrhunderte gedauert hatte. 51

Für das 19. Jh. kann man sagen, daß seine Philosophen nicht besonders beeindruckt waren von der Tatsache, daß es eine Sprache gibt. Hegel spricht in der „Phänomenologie" unter anderem auch von der Sprache. Man pflegt seinen Satz zu zitieren, daß die Sprache die „ A k t u a l i t ä t " der Kultur sei. 2 4 Genauer gesagt hat die Sprache Hegel zufolge das Wesen zum Inhalt und ist dessen Form. Sprache ist für ihn Gegenwärtigkeit der Kultur, sofern sie entäußerte Kultur ist, und bezogen auf die Entäußerungsformen des Geistes, die sich als Kunst zeigen, als Religion und Philosophie. Dies vergißt man gewöhnlich zu zitieren. Dies war Hegels bündige Aussage über die Sprache, seine Probleme waren im übrigen andere. Die letzte Konsequenz dieser Ansichten wurde bereits angedeutet: erzogen in einer kantianischen Umgebung, sind die Philosophiehistoriker, da sie hier nichts erwarteten, was der Auseinandersetzung Wert gewesen wäre, über die sprachtheoretischen Debatten des 17. u n d 18. Jhs. wie über eine Eisbahn hinweggeschliddert. Wer noch an den unverzichtbaren u n d selbständigen Wert von Gelehrsamkeit und Philologie glaubt und daran, daß zunächst das gewissenhafte Studium der Tatsachen der Wahrnehmung der eigentlichen Probleme voraufgehen muß, dem bietet sich hier ein bedenkenswertes Exempel. Solches Unverständnis hat sich von der Neuzeit auch auf die Antike ausgedehnt. In einem Klassiker, „Griechische Denker" von Gomperz (1909, IV, 609), wird kurz u n d mit Respekt von den Sprachtheorien des Aristoteles gesprochen, und zwar gestützt auf das Kapitel 20 der „Poetik", sicherlich ein grundlegender Abschnitt, der aber nur einige Ergebnisse der von Aristoteles unternommenen Systematisierungsversuche grammatischen Wissens darstellt, und nicht, wie wir sahen, die zugrunde liegenden Motive dieser Systematisierungen und seine sprachtheoretischen Gedanken. Man darf Gomperz nicht Unrecht t u n , hatte doch selbst ein Spezialist in der Geschichtsschreibung linguistischer Theorien, nämlich Heyman Steinthal, einige Jahre zuvor das Denken des Aristoteles über die Sprache abgetan, indem er es „naiv" und manchmal ganz offen „lächerlich" nannte (Steinthal 1890,1, 185). Schließlich kann man auch dem Neopositivisten Schlick nicht vorwerfen, daß er, aufbauend auf den schönen Fundamenten solcher Sprach- und Philosophiegeschichte, glaubte, daß sich vor der glücklichen A n k u n f t des Neopositivmus niemand mit der Sprache beschäftigt habe. Kants Denken hat auf diese Weise dazu beigetragen, daß nicht die Spur einer Erinnerung an die Sprachphilosophie des 17. und 18. Jhs. blieb. Gegen die Mitte des 19. Jhs. kamen dann, wie um diese Arbeit zu vervollständigen, das 24 G . W . F . Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hg. H. Glockner, Stuttgart 1929, 3 9 0 f f .

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positivistische Methodenkonzept der Junggrammatiker und in seiner Folge eine geistige Verarmung der Sprachwissenschaft hinzu.

5. Die Restauration des Aristotelismus Hans Arens verdanken wir die vollständigste und detaillierteste Zustandsbeschreibung der europäischen und besonders der deutschen Linguistik im Anfang des 19. Jhs. (Arens 1955,139ff.). Von anderen Geschichten der Sprachwissenschaft (Thomsen 1922) unterscheidet sich die Untersuchung von Arens dadurch, daß sie die Gelenkstellen heraussucht und dokumentiert, die die linguistischen Theorien und Untersuchungen des 18. Jhs. mit denen des frühen 19. Jhs. verbinden. Man kann darüber diskutieren, und wir werden dies auf den folgenden Seiten auch tun, ob man der Sprachwissenschaft des 18. Jhs. nicht noch einen größeren Platz einräumen müßte, aber es ist schon ein großes Verdienst der historischen Darstellung von Arens, hervorgehoben zu haben, daß zwischen dem 18. und dem 19. Jh. kein grundlegender Einschnitt besteht, keine Revolution, sondern im Gegenteil eine weitgehende Kontinuität. Damit nicht genug: Arens weiß und kann gut belegen, daß Franz Bopp nur eine der Stimmen ist, die den Chor der deutschen Linguistik zu Anfang des 19. Jhs. ausmachen. Wir haben weiter oben das Urteil Tesnières über Bopp referiert: die Sprachwissenschaftler, die in der Nachfolge Meillets ( 1 9 3 7 , 4 5 8 - 4 6 0 ) die Bedeutung Bopps hervorheben und dabei diejenige Humboldts unterbewerten, haben unrecht. Bopp sei ein „simple technicien", der nicht das Verdienst, die wissenschaftliche Linguistik begründet zu haben, für sich beanspruchen könne, wohingegen man dieses Verdienst sehr wohl Wilhelm von Humboldt zuschreiben könne, „(...) dem Freund Schillers und Goethes, (...) einem Bopp weit überlegenen Kopf, universell, hoch gebildet, mit profunden wissenschaftlichen Kenntnissen (...), den ein Mann wie Goethe in seinen intellektuellen Freundeskreis aufnahm." (Tesnière 1959, 13) In Wirklichkeit hat Meillet in seiner Geschichte der Linguistik Humboldt keineswegs unrecht getan. Wie Tesnière, so erkennt auch er an, daß sich Bopp eher der „genauen Bestimmung einzelner Sprachdaten" zugewandt hat, während Humboldt in seinen Veröffentlichungen „kaum mehr als einige allgemeine Ideen darlegt". Die Bedeutung dieser Ideen entgeht Meillet nicht: auch wenn sie von den Tatsachen widerlegt wurden, so hat doch die von ihnen angeregte Forschung „zur Begründung einer historischen Wissenschaft geführt". (Meillet 1937,460). Den Gegensatz zwischen den beiden französischen Linguisten kann man so zusammenfassen, daß sie zwar einerseits darin übereinstimmen, daß Humboldt

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die Ideen lieferte, Bopp die methodisch genaue Untersuchung der Fakten, daß sie dann aber uneins sind in ihrem Urteil über diese Arbeiten. Meillet hat als Positivist großes Zutrauen in eine ins einzelne gehende Analyse der konkreten Fakten und sehr viel weniger Zutrauen zu Ideen und k o m m t so dazu, die Bedeutung Bopps zu betonen. Tesnière dagegen, ausgebildet in einem Klima des wissenschaftlichen Relativismus, weiß nur zu gut, daß die „konkreten F a k t e n " nicht weniger „abstrakt" und konstruiert sind als die Ideen, und hat mehr Zutrauen in diese, in den kritischen Verstand, die Intelligenz, und zieht folglich Humboldt Bopp vor. Man sollte jedoch wiederholen, daß der geschichtliche Rahmen, den die beiden französischen Sprachwissenschaftler vor Augen haben und dem Leser darstellen, genau der gleiche ist. Arens k o m m t das große Verdienst zu, eben diesen geschichtlichen Rahmen verändert zu haben. „Rufer und Initiator" der Sprachwissenschaft ist Friedrich Schlegel (1772 bis 1829), ein Rufer wegen der Ideen, die er hervorbringt und vertritt, ein Initiator wegen der Fakten, die er zur Unterstützung dieser Ideen sammelt, und wegen der Methoden, mit denen er sie auswählt und ordnet. Die Sprachwissenschaftler der nachfolgenden Generationen standen wie hypnotisiert vor einem großen Irrtum, der Schlegel unterlaufen war: er hatte geglaubt, daß Sanskrit nicht nur eine der indoeuropäischen Sprachen sei, wenn auch eine besonders alte, sondern die „Ursprache" selbst, von der die anderen Sprachen abstammten. Dieser Irrtum, der übrigens W. Jones nicht unterlaufen war (Waterman 1962, 16), wurde einige Jahre nach der Veröffentlichung des Aufsatzes „Über die Sprache und Weisheit der Inder" (1808) korrigiert und zwar gerade dadurch, daß die von Schlegel begonnenen Untersuchungen weiter entwickelt wurden. Die traditionelle Sprachwissenschaft verdankt ihm die Idee, daß wissenschaftliche Analyse sprachlicher Tatbestände eine historische Analyse sein m u ß (Arens 1955, 144), und sie verdankt ihm zugleich die ersten ausgeführten Forschungen, die diese Idee im Bereich der indoeuropäischen Sprachen verwirklichen. Auf Schlegel geht auch die Ansicht zurück, daß äußerliche Ähnlichkeiten zwischen Wortdoubletten verschiedener Sprachen kein ausreichender Beweis für einen gemeinsamen Sprachursprung sind. Erst wenn sich regelmäßige phonetische Beziehungen feststellen lassen, werden sie dazu, und wenn zusätzlich zu den lexikalischen Ähnlichkeiten grammatische Übereinstimmungen hinzutreten (Schlegel, zit. n. Arens 1955, 140). Denn erst das ganze morphologisch-syntaktische System macht Schlegel zufolge die „ S t r u k t u r " einer Sprache aus. (Arens 1955, 139, 141, 145) Schlegel zielt mit der Sammlung u n d Analyse einzelner Sprachdaten auf eine Rekonstruktion der Struktur einer jeden Sprache. Eine Rekonstruktion, die für ihn die Basis sowohl fur rein historische Studien über die Beziehungen zwischen Sprachen 54

desselben Stammes, als auch für typologische Studien darstellt, die die Sprachen der Welt gemäß ihren strukturellen Eigenschaften klassifizieren (Arens 1 9 5 5 , 143, 145). Arens schließt ( 1 4 5 f . ) : „Friedrich von Schlegel war kein Rufer in der Wüste: seine Stimme wurde gehört. Auch hatte er j a keinen abstrakten Hinweis gegeben, sondern gleich selbst einige der Fragen, die nun auftauchten, beantwortet. Fragen wie diese: mit welchen Sprachen ist denn nun das Sanskrit verwandt, mit welchen nicht? Was sind echte Gleichheiten, was nur zufallige Gleichklänge? Welches ist also der sicherste Weg, die Verwandtschaft nachzuweisen? Welcher Art ist das Verwandtschaftsverhältnis? Wie ist unter dem Gemeinsamen das Entlehnte vom Angestammten zu unterscheiden? Wenn man, um zu sicheren Ergebnissen in der Sprachvergleichung zu kommen, die Geschichte der Sprachen heranziehen mußte, wie sollte man sie erkennen ohne ausreichendes Material? Dies sind einige der Fragen ... (ganz zu schweigen von der: wo und wie lerne ich diese Sprache am zuverlässigsten? Erst seit 1818 hatte die Universität Bonn in August Wilhelm von Schlegel einen Sanskritisten)." Schlegel hat also nicht nur gewisse Ideen produziert, die noch ihrer Überprüfung durch die Tatsachen harren, sondern (wie das öfter der Fall ist, wenn man von wirklichen Ideen sprechen kann und nicht von abstrakten Aufgeblähtheiten) seine Ideen setzen eine präzise Untersuchung einzelner Tatsachen in Gang. Die gleiche dialektische Spannung zwischen dem Erarbeiten einer allgemeinen Perspektive und der Untersuchung bestimmter linguistischer Tatsachen beseelt das umfangreiche Werk Wilhelm von Humboldts (Arens 1955, 1 4 9 - 5 4 , 1 5 8 - 6 6 , 1 8 1 - 9 4 ) . Ein weiteres Mal hat hier die Entgegensetzung von einem „Liebhaber großer Gedanken" und den „Freunden der Tatsachen" keine Berechtigung: gerade weil er ein Freund großer Gedanken ist, widmet er seine Arbeit der historischen und methodisch genauen Bestätigung dieser allgemeinen Ideen, und die Ergebnisse seiner philologischen Untersuchungen führten ihn dazu, den allgemeinen, philosophischen Rahmen dieser Untersuchungen beständig weiter zu entwickeln. Im Kontext der europäischen und besonders der deutschen Sprachwissenschaft im Anfang des 19. Jhs., wie er von Arens mit viel Liebe zum Detail aufgebaut wird, sind August Wilhelm von Schlegel, Franz Bopp, Jakob Grimm, Rasmus Kristian Rask diejenigen, die, von den Materialien Humboldts und Friedrich Schlegels angeregt und oft auch unterstützt, mit ihnen zusammen am Aufbau einer Sprachwissenschaft arbeiten. Sie, und unter ihnen auch Bopp, sind viel eher die Söhne, als die Väter der neuen Disziplin, die von Leibniz zu Herder und von diesen zu Friedrich Schlegel und Humboldt im Deutschland der Aufklärung und der Romantik herangereift war.

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Für die Älteren wie für die Jüngeren ist es selbstverständlich, daß die neue Disziplin ihre Proben im Bereich der Beziehungen zwischen Sprachgeschichte und allgemeiner Geschichte, Kulturgeschichte und Sittengeschichte ablegen muß. Die philologische Bestätigung der Sprachgeschichte ist kein Selbstzweck. Sie beabsichtigt vielmehr die Rekonstruktion der Geschichte der „inneren Form" der Sprachen, um sie dann in die allgemeine Geschichte einer Epoche und eines Volkes integrieren zu können. Die vom älteren Schlegel ausgearbeiteten und angewandten Verfahren, die dann später vonRask und Bopp zur phonetischen und morphologischen Analyse verwandt wurden, stellen nur ein Werkzeug dar für die Ausführung der allgemeinen Aufgaben der Linguistik, wie sie von Humboldt 1820 beschrieben wurde (Arens 1955,158): sie sollen die Interpretationswillkür beim Erarbeiten und Darstellen semantischer und syntaktischer Aussagen zur „inneren F o r m " der verschiedenen Sprachen in bezug zu ihrer Kultur- und Sozialgeschichte möglichst auf ein Minimum einschränken. Ist eine Verwirklichung dieses Humboldtschen Programmes in jenen Jahren überhaupt möglich gewesen? Zum Teil ja. Was die Beschreibung der äußeren Merkmale der verschiedenen Sprachen betraf und die Analyse der Beziehungen zwischen ihnen, die auf der Grundlage dieser Beschreibung durchgeführt wurde, so entwickelten sich die Untersuchungen, wovon die Arbeiten von August Wilhelm Schlegel, Bopp, Grimm, Rask und den Sprachwissenschaftlern der zweiten nachhumboldtschen Generation, Pott, Raumer, Steinthal und Brücke Zeugnis ablegen, sehr zügig. (Arens 1955, 204—26) Bei der Bestätigung, Klärung und Interpretation der phonetischen und morphologischen Einzeldaten erzielt die Sprachwissenschaft von Jahr zu Jahr hervorragende Ergebnisse. Die Forschungen über die „innere Form" der Sprachen erbrachten nichts Vergleichbares: nur durch die Arbeiten Humboldts, die sehr viel einfacher zu bewundern und nachzuahmen waren als wirklich weiter zu entwickeln, überschritten die Forschungen die schon von Friedrich Schlegel vorgelegten Resultate. Heute sehen wir die Gründe dafür deutlich vor uns liegen. Die Pioniere der Sprachwissenschaft arbeiteten vor allem über tote Sprachen. Es war schon ein Problem, mit der nötigen Genauigkeit den phonetischen und morphologischen Aufbau einer Sprache zu beschreiben; ihr syntaktisches und semantisches Beziehungsgefüge zu rekonstruieren war, wenn man bedenkt, daß eine vollständige, umfassende Dokumentation des lexikalischen und syntaktischen Sprachstandes fehlte, ein weit schwerer wiegendes Problem, das bis heute keine gut begründeten Lösungen fand; schließlich erscheint es ganz undurchführbar, eine Verbindung zwischen diesen Beziehungssystemen und dem sozialen und kulturellen Status der Völker, die sich einer gewissen Sprache bedient hatten, herzustellen, wenn die einzige verläßliche Nachricht über diese Völker eben jene Sprache darstellt. 56

Aber selbst wenn es sich um lebende Sprachen handelte und eine Bevölkerung, die sozusagen im Licht der Geschichte gelebt hatte, führte der unentwickelte Stand der volkskundlichen, ethnologischen, kulturgeschichtlichen und soziologischen Forschungen (diese Wissenschaften bildeten sich z.T. erst in der ersten Hälfte des 19. Jhs. heraus) dazu, daß die wirklichen Kenntnisse über das soziale und geistige Leben einer Sprachgemeinschaft ziemlich gering waren. So war das Ziel des humboldtschen Programms, dessen Einlösungsversuche zum Auf- u n d Ausbau der Sprachwissenschaft geführt hatten, beim Stand der wissenschaftlichen Entwicklung jener Epoche unerreichbar. Wenn man dennoch versuchte, es einzulösen, so ging dies nur mit Hilfe eines engen Netzes von Hypothesen, deren eine sich auf die andere stützen mußte. Eben dieser hypothetische Charakter solcher Untersuchungen begann sich mit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. abzuzeichnen. Madvig, der außer linguistischem noch einen reichen Vorrat an geschichtlich-politischem Wissen besaß, kritisierte die Abstraktheit und Konventionalität der Ideen Friedrich Schlegels über die Geschichte der menschlichen Gesellschaften (Madvig 1875, 169). Bréal (1866, XI) konnte diesbezüglich von einem „dichten Hypothesennebel" sprechen, obwohl er sehr wohl wußte, was die Sprachwissenschaft Leibniz, Herder, Humboldt und vor allem Friedrich Schlegel schuldete. Auch Pott erkannte dieses Erbe an. Sein Einstand in die Sprachwissenschaft war eine Untersuchung über diejenigen Beziehungen, die von Präpositionen ausgedrückt werden, und er hielt entschieden dafür, daß die Ursache sprachlicher Entwicklung im „Geist" zu suchen sei, in einer Kultur, die sich einer Sprache bedient und, indem sie das tut, sie beständig in neue und neuen Bedürfnissen angemessene Formen bringt. (Broendal 1948, 50; Arens 1955, 212) Sowohl Pott u n d die anderen nachhumboldtschen deutschen Sprachwissenschaftler als auch Bréal wollten als letztes Ziel immer noch dasjenige Schlegels und Humboldts erreichen: sie sahen aber andererseits ein, daß jede sprachwissenschaftliche Untersuchung im Bereich der Beziehungen von sprachlicher Bedeutung u n d allgemeinem Kulturzusammenhang zu ihrer Zeit dazu verdammt war, sich auf sehr unsicherem Boden zu bewegen. Aus dieser gemeinsamen Diagnose wurden jedoch entgegengesetzte Konsequenzen gezogen. Einerseits die von Madvig in Dänemark und von Bréal in Frankreich: wenn das syntaktische und semantische Funktionieren der Sprache und das Problem der Beziehungen zwischen diesen Funktionen u n d der tatsächlichen Geschichte der Völker schwieriger zu erforschen waren als die Seite der äußeren Sprachform, dann mußten alle Anstrengungen wissenschaftlicher Untersuchungen eben auf das Schwierigere u n d nicht auf das Einfachere gerichtet werden. Die syntaktischen und semantischen Studien von Madvig und die semantischen Arbeiten von Bréal (1913), der der Semantik 57

übrigens ihren Namen gab, entsprachen einem solchen Programm. Diese Arbeiten blieben jedoch vereinzelte Ausnahmen, kaum verstanden und bald vergessen. Und isoliert, trotz ihrer organisatorischen Aktivität — Meillet berichtet von Bréal, daß er ein sehr liberaler Organisator gewesen sei, der seine Mitarbeiter nicht auf seine eigenen Ideen verpflichtete — blieben auch Madvig und Bréal (Devoto 1958, 3 7 9 - 8 5 ; De Mauro 1959, 258, 1960, 1; Meillet 1963, 210—227). So kommt es, daß sie kaum zitiert werden, oder in den Geschichten der Linguistik überhaupt nicht auftauchen: Arens gibt zwar Hinweise auf Bréal als Lehrer Saussures und als Ubersetzer Bopps, verschweigt aber den Namen Madvigs völlig. Thomsen wiederum ruft Madvig in Erinnerung, gibt aber kaum einen Hinweis auf Bréal (Thomsen 1902, 76, 87, 110). In gewissem Sinn kann man dies den Geschichtsschreibern der Sprachwissenschaft nicht vorwerfen. Die Disziplin, deren Geschichte sie aufzeichnen, folgte in der Tat einem anderen Weg, dem Weg Potts. Gegenüber dem hypothetischen Charakter der semantischen, syntaktischen u n d sprachlich-kulturellen Forschungen Friedrich Schlegels und Wilhelm von Humboldts befleißigte sich Pott der ehrlichen Haltung dessen, der andere Absichten lobt und ihre Durchführung verfolgt, sich selbst aber ans Sichere hält und sieht, daß er anders verfährt. Den theoretischen Bekenntnissen zum Humboldtianismus stehen andere Erklärungen Potts gegenüber, die Meillet „entscheidende Aussagen" für die Sprachwissenschaft nennt: mit diesen Aussagen unterstrich Pott, daß im „Labyrinth" der Etymologie „der Buchstabe ein sicherer Führer zur Bedeutung sei, wenngleich er o f t zum Gegenstand unüberlegter Gedankensprünge w e r d e " (Pott, zit. n. Meillet 1947,462). Die Angst vor der Bedeutung zeigt sich demnach schon in der zweiten Linguistengeneration. Und zur Angst vor der Bedeutung gesellt sich die Angst vor jeder Art allgemeiner Theorie. Es ist wieder Pott, der betont, daß „der Grimmsche Ansatz zur Beschreibung phonetischer Veränderungen in den germanischen Sprachen allein sehr viel mehr wert ist, als viele Sprachphilosophien" (Meillet, ebd.). Bei anderen Forschern ist die Neigung, die Untersuchungen auf äußere Aspekte der Sprache, besonders phonologische,zu beschränken und vielleicht nur auf einzelne dieser Aspekte noch viel stärker (Arens 1955, 213ff., 221ff.). Von Jahr zu Jahr verstärkt sich diese Neigung und es verstärken sich auch die beiden Ängste, die sie verursacht haben. Schleicher versucht sich noch an Systematisierungen allgemeiner Art. Sein ganzes Interesse gilt aber der Phonologie indoeuropäischer Sprachen, erst an zweiter Stelle der Morphologie; Syntax und Semantik läßt er völlig beiseite. (Meillet 1937, 4 6 5 ) Gleichzeitig hat Schleicher aber ein offenbares Interesse für die Probleme der Frühgeschichte und Vorgeschichte der Sprache: ein Zug in die Vergangenheit, zu schlecht dokumentierten 58

Sprachen, deren sozialer und kultureller Kontext unbekannt und deren syntaktisches und semantisches Funktionieren kaum zugänglich sind, wird zur dritten die Linguistik beherrschenden Neigung. Die Mehrzahl sprachwissenschaftlicher Arbeiten, die nach der ersten Hälfte des 19. Jhs. beendet wurden, befolgt sehr genau diese Grundhaltungen. Man benennt und katalogisiert präzise (d.h. phonetische und morphologische), zahlreiche (d.h. isolierte) und möglichst alte Sprachdaten (Meillet 1937,468). Dies wird zur ehrwürdigen Dreifaltigkeit in den sprachwissenschaftlichen Seminaren Deutschlands, und da sich die Linguistik zu jener Zeit von Deutschland aus in andere Länder verbreitet, verbreiten sich diese drei Grundhaltungen mit ihr. Es fällt schwer, diese dreifache Ausrichtung der traditionellen Sprachwissenschaft mit entsprechenden expliziten Äußerungen zu belegen. Sie sind äußerst rar, denn sobald jemand seinen Glauben an die „konkreten Fakten" erklärt, ist dies fast immer begleitet von einer peinlichen Beschwörung allgemeiner Grundsätze. Man kann jedoch festhalten, daß Meillet, also einer der wenigen traditionellen Linguisten, der Interessen allgemeiner Art verfolgte, geschrieben hat: „Die Erfahrung zeigt, daß eine neu entdeckte und gut beschriebene Tatsache die Wissenschaft weiter bringt als zehn Bände selbst guter Prinzipien." (Meillet 1923, 83) Und schließlich hat Jakob Wackernagel, einer der wenigen historischen Sprachwissenschaftler, der keine Berührungsangst vor der Syntax hatte, zumindest bei einer Gelegenheit in expliziter Weise sein olympisches Desinteresse für den semantischen Wert der Worte, deren Etymologie er untersuchte, erklärt und die Etymologie somit zu einem puren Spiel formaler Übereinstimmungen gemacht. (Wackernagel 1953, 1306). Den beeindruckendsten Beleg findet man jedoch im Gegensatz zwischen der Masse von tausenden von Artikeln, Aufsätzen und Bänden, die der diachronischen und vergleichenden Erforschung und Beschreibung der phonetischen und morphologischen Systeme der verschiedenen Sprachen gewidmet sind auf der einen Seite und der geringfügigen Zahl von Arbeiten zur Syntax und Semantik auf der anderen Seite. Dieser Beleg findet sich in der Fülle von phonetischen und phonologischen Handbüchern und in der kleinen Zahl von Handbüchern zur Semantik und allgemeinen Syntax. Auch im Aufbau der klassischen Werke aus diesem Studiengebiet wird dies Mißverhältnis deutlich. Um nur ein einziges Beispiel zu geben: in Meillets „Introduction à l'étude comparative des langues indoeuropéennes" stehen 63 Seiten zur Phonologie, 198 zur Morphologie, 22 zur Charakterisierung der formalen Eigenschaften des Satzes (Wortstellung usw.) ganzen 11 Seiten gegenüber, die der Syntax gewidmet sind. 59

Seit der Mitte des 19. Jhs. hat die Sprachwissenschaft mit ihrer betonten antisyntaktischen und antisemantischen Ausrichtung das Ziel, dem sie ihre Entstehung verdankt, völlig aufgegeben: das Studium der Eigentümlichkeiten der Sprachen als Funktionszusammenhang von Bedeutung und Syntax. Wir werden weiter unten darlegen, weshalb unseres Erachtens eine rein formale Analyse der Sprache unmöglich ist: man kann unmöglich von Phonemen sprechen, von lexikalischen und grammatischen Formen, ohne auf irgendeine Weise auf die Bedeutung der Wörter, deren äußere Form man studiert, einzugehen. Es ist sicherlich möglich, das Interesse fur die semantische und syntaktische Seite einer Sprache auf ein Minimum zu reduzieren; es ist jedoch unmöglich, von dieser Seite der Sprache völlig abzusehen. Das bedeutet, daß einige, wenn auch unentwickelte Vorstellungen über das, was Bedeutung und syntaktische Funktion der sprachlichen Formen darstellen, selbst für eine Sprachwissenschaft als Wissenschaft vom historischen Wandel der Lautformen notwendig ist. Man kann allenfalls zugestehen, daß diese Vorstellungen nicht besonders betont werden müssen. Nach 1870 hat sich die Sprachwissenschaft diese Maxime wirklich zu eigen gemacht und, wie man sehen wird, daraus sogar einen Vorzug abgeleitet, ein bewußtes Programm, ein Gütezeichen. Diese Krise im Bereich der Syntax und Semantik hatte schwere Folgen. Das Schicksal der Syntax ist exemplarisch dafür: in einer Zeit, in der syntaktische Analysen nicht hoch im Kurs standen, haben die großen Handbücher der historischen Sprachwissenschaft, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengestellt wurden, entweder die Syntax völlig ausgelassen oder die syntaktischen Funktionen der Sprachen in traditionellen Termini beschrieben, und zwar in Termini der scholastischen Tradition der Grammatik. Die Definitionen der Redeteile, der Kasus, der Modi und Tempi des Verbs, der Satzglieder, wie sie im 17. Jahrhundert von den Rationalisten von Port-Royal aufgestellt worden waren, werden (nicht ohne unzulässige Vereinfachung) von den „historischen" und „wissenschaftlichen" Abhandlungen wieder aufgenommen und wiederholt. (Glinz 1947, 75; Leroy 1963,13f.) Das Paradoxon liegt offen zutage. Das Interesse für sprachwissenschaftliche Fragen war im 17. und 18. Jh. gerade in dem Maße entstanden und verstärkt worden, in dem die rationalistischen Sprachvorstellungen immer unglaubwürdiger und durch neue Ansichten von der Sprache ersetzt wurden. Zwei Jahrhunderte später erfolgt die Rache des Aristotelismus: begünstigt vom Desinteresse der Philosophen an linguistischen Problemen und dem Desinteresse der Linguisten an syntaktisch-semantischen Fragestellungen und einem umfassenden Theorieentwurf macht er sich triumphierend mit Hilfe der größten und angesehendsten Handbücher der historischen Sprachwissenschaft in den Köpfen der Linguisten breit.

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Eine Philosophie, die die vorkantische Sprachdiskussion weitergeführt h ä t t e , und eine entsprechende Philosophiegeschichte, die die Erinnerung an diese Diskussion wachgehalten hätte, hätten vielleicht die Sprachwissenschaft zur Ordnung rufen und ihren Kurs, der zum Asemantizismus abrutschte u n d vermittelt über diesen zur Wiederaufnahme der alten und schon erledigten aristotelischen Ideen fiihrte, korrigieren können. Andererseits hätte eine Sprachwissenschaft, die ihren Ursprung nicht verraten hätte, die die Untersuchung der Beziehungen zwischen linguistischen Formen, syntaktischsemantischen Funktionen und sozialer und kultureller Organisation fortgeführt hätte, vielleicht nicht ihre A b k u n f t aus dem 18. Jh. vergessen und hätte folglich ihren Beitrag dazu geleistet, daß die vorkantische Sprachdiskussion in Erinnerung geblieben wäre, und vor allem hätte sie möglicherweise die europäische Philosophie dazu anhalten können, sich neuerlich mit der Analyse der Bedingungen zu beschäftigen, die die sprachlichen Formen dem A u f b a u des Bewußtseins und der Praxis der Individuen und der menschlichen Gesellschaften auferlegen. Statt dessen haben die nachkantische Philosophie u n d die Linguistik nach der zweiten Hälfte des 19. Jhs. mit ihren bestehenden Vorlieben Nebenwirkungen gezeitigt, die sich gegenseitig verstärkten. Das Desinteresse, die Denkfaulheit der einen wie der anderen ließen es dazu kommen, daß die Herrschaft aristotelischer Ideen bezüglich der Sprache gegen Ende des Jahrhunderts im europäischen Geistesleben völlig wiederhergestellt war. Dank der unvergleichlichen Entwicklung des Schulunterrichts in den westlichen Ländern konnten sie wie nie zuvor in die mittleren und unteren Bildungsschichten eindringen, in das dichte Gestrüpp der „Allgemeinbildung", und dergestalt zur Sprachauffassung des „großen Publikums" werden. Eine strahlende Epoche nicht nur der philosophischen, sondern überhaupt der wissenschaftlichen, literarischen, sozialen und politischen Geschichte des modernen Europa schien umsonst gewesen zu sein: das A u f k o m m e n der experimentellen Methoden, der literarische und religiöse Widerstand gegen die Idee einer universalen, vollendeten Sprache, die Entdeckung der inneren, semantischen und syntaktischen Verschiedenheit der Sprachen und schließlich das Interesse für diese ihre Geschichtlichkeit, die Betrachtungen von Bacon und von Locke, von Vico, von Leibniz, Berkeley, Hume, Hamann; all dies scheint, wenn man zu Ende des 19. Jhs. die Sprachdiskussion überblickt, nie existiert zu haben. Begünstigt vom Desinteresse der Philosophen, aufgenommen und dabei verstärkt du r ch das allgemeine Vorurteil, bekräftigt vom faulen Schweigen oder den törichten Wiederholungen der „Spezialisten" scheint die aristotelische Sprachvorstellung, obschon verschossen u n d zerschlissen vom ständigen Benutztwerden, ohne Alternative zur Herrschaft bestimmt.

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Und vor diesem Hintergrund träger Uberlieferung von Ideen ehrwürdigen Alters ist das Denken derer angesiedelt, die am Anfang des 20. Jhs. die westliche Philosophie und Sprachwissenschaft aufriefen, über die allgemeinen Probleme der Sprache und die Probleme der Bedeutung nachzudenken. Gerade wegen des Neuen, das Croce, Saussure und Wittgenstein vor diesem Hintergrunde gemeinsam haben, stellen sie sich trotz aller Verschiedenheit wie Protagonisten desselben historischen Ereignisses dar: der Renaissance der Sprachphilosophie und des Anfangs einer neuen Semantik. Beim Kampf gegen die Tradition verlegen sich Croce und Saussure, wie sich zeigen wird, unverzüglich auf einen direkten und polemischen Angriff (auch wenn sie in manchen Punkten dem Einfluß altertümlicher Ansichten unterliegen). Wittgenstein dagegen erkennt zu Anfang die traditionellen Vorstellungen ausnahmslos an. Aber indem er sie klärt, einander zuordnet, verschiedene Aussagen streng miteinander verknüpft und mit unerbitterlicher Logik Konsequenzen zieht, hat er sie bis zur Absurdität, ja darüber hinaus getrieben. Und darin liegt sein erstes Verdienst.

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III. Die Sprache als Bild der Welt

1. Der Satz als Modell der Tatsache Wittgensteins „Tractatus" beginnt mit einer Reihe von Behauptungen, die Welt und Dinge zum Gegenstand haben. „Die Welt ist alles, was der Fall ist" (1), „ist die Gesamtheit der Tatsachen" (1.1.) und „zerfallt in Tatsachen" (1.2.). Die Welt ist aber keine chaotische Anhäufung von Tatsachen: „Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt." (1.1.3.) So wie die Welt aus Tatsachen besteht und strukturiert ist, so sind ihrerseits die Tatsachen organisierte Strukturen von Dingen: eine Tatsache „ist das Bestehen von Sachverhalten" (2), ist „eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen)" (2.01.). Nicht umsonst bemerkt Wittgenstein in der Einleitung zum „Tractatus", daß es für ihn völlig belanglos ist, in welchem Maß sein Denken mit dem anderer Philosophen übereinstimmt: wer sich diese ersten Aussagen des „Tractatus" vergegenwärtigt, wird sich in der Tat schnell bewußt, daß Wittgenstein in ihnen sicherlich keine neuartigen Behauptungen aufstellen will. An e i n e r Vorstellung hält Wittgenstein, wie wir sehen werden, trotz der Krisen fest, die sich im Ubergang vom „Tractatus" zu den „Untersuchungen" manifestieren: daß nämlich die Philosophie nicht die Aufgabe hat, Neues zu entdecken, sondern das, was jeder sieht und weiß, klarer und bewußter zu machen. Daß Wittgenstein nichts Neues vorbringen möchte, ist offenkundig genug: die an den Anfang gestellten Behauptungen des „Tractatus" sind ihrem Inhalt nach das, was in der modernen westlichen Gesellschaft als „common sense" bezeichnet wird. Die Originalität Wittgensteins besteht einzig in der präzisen Formulierung dieses Inhalts, im klaren und eindeutigen Festhalten des Gebrauchs von Wörtern wie „Welt", „der Fall sein", „Tatsache", „Sachverhalt", „Ding", „Objekt". Gewöhnliche Wörter, die normalerweise ziemlich vage und schillernd zum Ausdruck eines bestimmten Inhalts gebraucht werden, werden auch hier gebraucht, um eben diesen Inhalt auszudrücken, nur eben präziser, strenger: sie werden so zu eisernen Gleisen, in denen das Denken sich ohne jede Abweichung zu bewegen hat, wenn ein bestimmter Inhalt als selbstverständliche Prämisse einmal akzeptiert ist. 63

„Das Bild ist eine Tatsache" ( 2 . 1 4 1 ) : dies ist eine zweite nicht hinterfragbare Behauptung. In der T a t : soweit ein Bild zur Welt gehört, kann es unmöglich keine Tatsache sein. Es ist freilich eine Tatsache besonderer Art: sie muß irgend etwas mit dem, was sie abbildet, gemeinsam haben, also mit einer anderen Tatsache. „Die Tatsache muß, um Bild zu sein, etwas mit dem abgebildeten gemeinsam haben" (2.16). Dieses „Etwas" nennt Wittgenstein „Form der Abbildung" (2.17). Die Form der Abbildung ist die Möglichkeit, daß die konstitutiven Elemente der Abbildung in denselben Relationen zueinander stehen (d.h., daß sie dieselbe „Struktur" haben) wie die konstitutiven Gegenstände der abgebildeten Tatsache ( 2 . 1 5 , 2 . 1 5 1 ) . Damit will Wittgenstein folgendes klarmachen: weil eine Abbildung so beschaffen ist, muß sie nicht notwendig die Tatsache, deren Bild sie ist, naturgetreu-bildhaft wiedergeben: die graphischen Zeichen der Töne der Musik bilden jene akustischen Entitäten ab, die die Töne der Musik sind, selbst wenn sie, bedingt durch die Andersartigkeit des Materials, keine bildhaften Abbildungen sein können. Dies ist von großer Wichtigkeit, wenn man im Sinne von Wittgenstein dahin kommen will, die Aussage (proposizione) der Sprache als B i l d einer Tatsache aufzufassen: „Auf den ersten Blick scheint der Satz — wie er etwa auf dem Papier gedruckt steht — kein Bild der Wirklichkeit zu sein, von der er handelt. Aber auch die Notenschrift scheint auf den ersten Blick kein Bild der Musik zu sein, und unsere Lautzeichen-(Buchstaben-)Schrift kein Bild unserer Lautsprache. Und doch erweisen sich diese Zeichensprachen auch in gewöhnlichem Sinne als Bilder dessen, was sie darstellen." ( 4 . 0 1 1 ) Was einen Satz zum Bild macht, ist seine Artikulation ( 3 . 2 5 1 ) , ist der Umstand, daß seine Struktur identisch mit der Struktur der Tatsache ist, auf die er referiert. Wegen der identischen Relation zwischen den konstitutiven Elementen und also wegen der identischen Struktur kann man sagen: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken." ( 4 . 0 1 ) Wenn der Satz das Modell einer Tatsache ist, kann man von ihm selbstverständlich sagen, er sei „Projektion der möglichen Sachlage" ( 3 . 1 1 ) : seine konstitutiven Elemente, die wir die „einfachen Zeichen" nennen können, sind die Namen ( 3 . 2 0 2 ) . Ebenso selbstverständlich bezeichnet jeder Name einen Gegenstand: und der Gegenstand ist das Signifikat eines jeden Namens ( 3 . 2 0 3 ) . Dies alles vorausgesetzt folgt klar, daß die Konfiguration der Gegenstände in der möglichen Situation, von der ein Satz handelt, das Gegenstück zur Konfiguration der Namen dieses Satzes bildet ( 3 . 2 1 ) . Ein letzter ganz offensichtlicher Parallelismus zwischen Wörtern und Dingen ist anzuzeigen: wenn wir ein Ding, eine Sache (una cosa) denken, können wir es/sie, wie sehr

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wir uns immer bemühen, nicht vollständig losgetrennt von irgendeiner möglichen Situation denken, von der es/sie ein Teil sein könnte. Denken wir an die einfachste Sache der Welt, denken wir an den geometrischen Punkt: unser Denken ist nur möglich, insofern wir den Punkt mit dem euklidischen Raum in Relation setzen. Zusammengefaßt: ganz gleich, um welchen Gegenstand es sich handelt, er kann nicht außerhalb der Kombinationsmöglichkeit mit anderen Gegenständen in einem Sachverhalt vorgestellt werden (2.021). Anknüpfend an einen Gedanken von Frege (1884,62) klärt Wittgenstein, daß dasselbe fur einen Namen gilt: wir können ihn nur dann als Entität denken, die ein Signifikat hat, d.h. als einen Namen und nicht als bloß akustischen Körper, wenn wir ihn nicht der Möglichkeit berauben, mit anderen Namen in einem Satz in Beziehung zu stehen. D.h.: nur in einem möglichen Satz kann ein Name ein Signifikat haben (3.3), insofern der Name nur im Satz einem gegebenen Gegenstand entspricht. Daraus folgt schließlich: der Name kann nicht für sich bestimmt werden: er ist ein „Urzeichen", das nur in der Einbettung in einem Satz Bedeutung gewinnt. Darin gipfeln die Überlegungen Wittgensteins. Und vom Gipfel dieses Bergs von Banalitäten eröffnet sich der Blick auf die ruhige, geordnete Welt des Spießbürgers, in der das „grand public" zu leben und zu denken beliebt. Die Welt der Dinge und der Wörter, die den Dingen entsprechen, der Tatsachen und der Sätze, die den Tatsachen entsprechen, der Namen, die „Substanzen, Dinge, Personen denotieren", der Adjektive, die „Akzidenzien denotieren", der Verben, die „Zustände, Handlungen oder die Passivität denotieren", der Subjekte, die „die Person oder das Ding, das die Handlung begeht" denotieren, der Objekte, die „das, was die Handlung erleidet, denotieren". In dieser Welt kann es nur solange Zweifel geben, bis wir „eine vollständige Analyse" gemacht haben; ist diese „vollständige Analyse" aber einmal geleistet — sei es mit dem gesunden Menschenverstand der Angelsachsen, sei es mit der skrupulösen und ein bißchen langweiligen Genauigkeit der Deutschen oder mit dem genialischen Duktus der Italiener —, dann gibt es keinen Zweifel mehr: ein Satz drückt aus, was er ausdrückt, und es gibt nur eine einzige Möglichkeit seiner Analyse (3.251 ; 3.25). Antike und moderne Grammatiker, Philosophen, Gelehrte und positivistische Linguisten und die einfachen Leute von der Straße bevölkern diese Welt, und alle sind sie davon überzeugt, daß sie, wenn sie etwas sagen, genau das sagen, was sie sagen, dank der Übereinstimmung zwischen Wörtern und Dingen, genau wie Humpty Dumpty, den Alice hinter dem Spiegel trifft. Diese solide Welt des gesunden Menschenverstandes — sie könnte als „bürgerlich" bezeichnet werden, wäre sie nicht viel älter als die Bourgeoisie — löst sich mit einem Schlag auf wie in einem Science-fictionRoman, wenn Wittgenstein aus ihr und aus dem, was alle von ihr denken, einfach und offensichtlich die äußerste logische Konsequenz zieht. 65

2. Der Solipsismus als Konsequenz des sprachlichen Aristotelismus Wie kann man jemandem begreiflich machen, welches Ding ein Wort bezeichnet? Ganz offensichtlich dadurch, daß man zu noch einfacheren Wörtern greift, um dasselbe Ding zu bezeichnen. Wenn wir gefragt werden, was„Panzerechse" bezeichnet (bedeutet), dann sagen wir, daß z.B. ein Krokodil unter diese Bezeichnung fallt, und wenn wir weiter gefragt werden, was denn ,.Krokodil" bezeichnet (bedeutet) und wir keine Wissenschaftler sind (ein Wissenschaftler würde sofort sagen: „Krokodile gehören zu den Panzerechsen."), sagen wir vielleicht, daß es ein Tier ist, das sowohl im Wasser als auf dem Lande lebt, mit einem Schuppenpanzer bedeckt ist, ein großes Maul und kräftige Zähnt hat usw. Von Erklärung zu Erklärung gelangt man so zu Sätzen, die aus sehr einfachen Wörtern bestehen, die ihrerseits sehr einfache Gegenstände bezeichnen (indicano). Und was geschieht, wenn man nachfragt, was diese sehr einfachen Wörter bedeuten (significano)? Die Antwort ist einfach: wir erläutern die Beziehung, die zwischen den Wörtern und den bezeichneten Gegenständen besteht. Und wie erläutert man diese Beziehung? Offensichtlich in verschiedenen Systemen, die sich in letzter Analyse alle in Sätze auflösen lassen, die in elementarer Weise den nämlichen Bezug erklären. Aber müssen wir nicht diese Sätze verstehen? Selbstverständlich! Und wie geschieht dies? Äußerst einfach: man m u ß nur die einzelnen Wörter dieser Sätze verstehen, dann gibt es keine weitere Schwierigkeit. Der Satz 3.263 des „Tractatus" ist die Version „in Schönschrift", die Wittgenstein von solchen ganz selbstverständlichen Überlegungen gibt: „Die Bedeutung von Urzeichen können durch Erläuterungen erklärt werden. Erläuterungen sind Sätze, welche die Urzeichen enthalten. Sie können also nur verstanden werden, wenn die Bedeutungen dieser Zeichen bereits bekannt sind." Von daher ist klar, was hier schon gesagt wurde (3.3): „Nur der Satz hat Sinn; nur im Zusammenhang des Satzes hat ein Name Bedeutung." Das Verstehen der Sätze setzt das Verstehen der Namen voraus, die die Sätze bilden. Aber das Verstehen der Namen setzt das Verstehen der Sätze voraus, die aus den Namen gebildet werden. Mit anderen Worten: wir verstehen letztendlich einen Satz nur dann, wenn wir ihn schon verstanden haben. Und so ist die friedliche Welt, in der wir uns alle verständigen, weil jedes Wort mit einem gegebenen Ding eisern verkettet ist, eine Welt qualvoller Einsamkeit: wir können reden, einen Satz sagen, aber wir werden nur von dem verstanden, der den Satz bereits verstanden hat, der, noch bevor wir ihn äußern, schon weiß, was er bedeutet, für den es also belanglos ist, daß wir ihm den Satz sagen.

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Die Folgerung von Wittgenstein gilt gleichermaßen für Aristoteles, Descartes, Kant, die alten Grammatiker und fur den modernen Menschen auf der Straße. Die sichere Welt der Dinge, von denen wir reden, existiert in Wirklichkeit ganz in unseren Reden, im Reden eines jeden einzelnen in u n a b ä n d e r licher Isolation: „ d i e G r e n z e n m e i n e r S p r a c h e bedeuten die Grenzen meiner Welt." (5.6) - „Was der Solipsismus nämlich m e i n t , ist ganz richtig, nur läßt es sich nicht s a g e n , sondern es zeigt sich. Daß die Welt m e i n e Welt ist, das zeigt sich darin, daß die Grenzen d e r Sprache (der Sprache, die allein ich verstehe) die Grenzen m e i n e r Welt bedeuten." ( 5 . 6 2 ) Wittgenstein war als Mensch sehr konsequent. Als er beispielsweise von religiösem Erleben erfaßt und dahin gebracht wurde, in ein Konvent einzutreten und Mönch zu werden (dies geschah sofort nach der mystischen Folgerung des „Tractatus", und dies ist ein weiteres Beispiel seltener Konsequenz), entschied er sich, sich der vom Vater geerbten Grundstücke zu entledigen. Er schenkte sie Verwandten, freilich reichen und nicht armen Verwandten, um letzteren nicht mit weltlichem Reichtum Schaden zuzufügen (Barone 1953, 162; von Wright 1958, 1 Of.). In sprachphilosophischen Fragen ist er gleichermaßen konsequent; deshalb beginnt das Vorwort zum „Tractatus" so: „Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind — oder doch ähnliche Gedanken — schon selbst einmal gedacht h a t . " Für Wittgenstein war dies keine sonderbare Bemerkung. In diesen Worten drückt sich die äußerste Wahrheit des „Tractatus" aus. Nur eine unbeweisbare Übereinstimmung in Erfahrung und Denken, nur eine unio mystica der Seelen sichert, daß die Bedeutung eines Satzes von jemand anderem verstanden wird. Wenn man aber von Mystizismus und Irrationalität nichts hält, m u ß man sich geschlagen geben und eingestehen, daß in der soliden und festgefügten aristotelischen Welt der Wörter, die die Dinge nach dem Motto „Gleichheit für alle" bezeichnen, die Verständigung unmöglich ist.

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IV. Die Sprache als Reihe von Ausdrücken

1. Interpretationen Croces 1 Wie gesagt, scheint es keine Beziehungen zwischen dem Denken Croces und demjenigen des frühen Wittgenstein zu geben. Wittgenstein ist der Philosoph einer Wirklichkeit, die eingeordnet ist in einen unbeweglichen logischen Raum; Croce ist der Philosoph der Geschichte, die weiterwirkt. Wittgenstein betrachtet die Sprache in ihrer logischen Funktion, Croce versucht, ihre Identität mit ästhetischer Praxis zu zeigen. Während der erste nicht vor mystischen Schlußfolgerungen zurückschreckt, erklärt der andere ironisch seine Abneigung gegenüber den Mystikern des Unsagbaren. Wittgenstein macht sich ohne weiteres die traditionellen sprachwissenschaftlichen Ideen zu eigen, Croce dagegen weist von Anfang an die traditionelle Lehre von der Grammatik und Rhetorik zurück. Während der Name Wittgensteins, ob nun zu Recht oder zu Unrecht, mit einer logifizierenden und mathematisierenden Theorie der Sprache verknüpft wird, scheint Croce seinen Namen mit der Theorie der Identität von Sprache und Kunst verbunden zu haben. Wieder finden wir uns einer Theorie gegenüber, die in ihren Voraussetzungen und in ihren Konsequenzen mit sich selbst in Spannung liegt und eher noch um ihre Form ringt, als daß sie in sich abgeschlossen wäre. Ihr Sinn wird vor allem durch eine Interpretation verstellt, die auch heute noch bei Linguisten, seien es Gegner oder Freunde Croces, im Schwange ist. Dieser Interpretation folgend hat Croce mit seiner Theorie der Identität von Sprache und Poesie oder Kunst behaupten wollen, daß die Veränderung eines Phonems oder einer Endung, die Prägung eines Wortes oder die Weiterentwicklung der Bedeutung eines schon bestehenden Ausdrucks allesamt ästhetische Akte darstellen, eben Kunstwerke. Diese Meinung findet sich schon 1908 bei 1

Über die sprachwissenschaftlichen Ideen Croces und ihren Einfluß hat C. De Simone eine wichtige zusammenfassende Arbeit geliefert (Die Sprachphilosophie von Benedetto Croce. In: Kratylos 1 2 , 1 9 6 7 , 1 - 3 2 . ) . Nützliche kurze Hinweise zu den logisch-philosophischen Wurzeln einiger Themen von Croces Ästhetik findet man auch in Garroni 1 9 6 8 , 6 9 f .

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Trabalza, der Croce das Verdienst zuspricht, „Wort und Intuition" (Trabalza 1908, 525) identifiziert zu haben. Dieselbe Interpretation findet sich mehrfach in den ersten Schriften, mit denen Voßler die positivistische Sprachwissenschaft auf eine, wie er glaubte, croceanische Art und Weise bekämpfte (wenn auch mit einigen Zweifeln und Ungewißheiten, auf die wir später zu sprechen kommen werden): Ein altes Wort in einem neuen Kontext bringt von sich aus eine phonetische Veränderung, d.h. es ist nicht mehr dasselbe, sondern etwas Neues, zumindest eine Veränderung (...) Schließlich unterliegt jedes Wort phonetischen Veränderungen. Was war es dann aber, das dem Wort ,amore' aus dem Munde Francescas drei verschiedene Klangformen gab? Etwa eine Veränderung ihrer Stimmorgane? Oder die klimatischen Bedingungen des Inferno? Oder kulturelle Veränderungen? Die Mischung verschiedener Rassen? Nein, lieber Leser, es waren der neue Sinn, der neue Zusammenhang, der neue Anlaß, die neue Intuition, aus denen das neue Wort entsprang. (Voßler 1908, 186-187)

Und an anderer Stelle hebt er noch deutlicher hervor: Unter phonetischem Prozeß verstehen wir die unendlichen phonetischen Individualisierungen der lautlichen Seite der Sprache, sofern sie von der intuitiven Tätigkeit unseres Geistes verursacht sind und geregelt werden und folglich auf sie als hervorbringende und regelnde Ursache zurückgeführt werden können. Mit anderen Worten: der phonetische Prozeß findet statt, wenn sich innere Intuitionen vermittelt über die Stimmorgane äußern.2 (Voßler 1908, 194)

Die gleiche mißverständliche Interpretation der sprachwissenschaftlichen Gedanken Croces zieht sich durch den langen Aufsatz Fubinis, der gegen die Unterscheidung von Sprache und Kunst bei Calogero gerichtet ist (Fubini 1948). 1956 hat ein bekannter italienischer Linguist, der sich, wenn auch mit einigen Vorbehalten, als Croceaner versteht, G. Bonfante, geschrieben: „Wenn ich .Wolkenkratzer' sage, so gebrauche ich eine fantastische, unlogische und, wenn man so will, absurde Wortbildung, da ein Wolkenkratzer nicht am Himmel kratzt" (Problemi 1956, 23). Der „poetische Ursprung" der Sprache bestünde demzufolge im bildhaften Charakter vieler Bedeutungsassoziationen, in den Metaphern, die beim Gebrauch gegebener Worte impliziert sind, kurz in jener Zeichenfunktion, die Kant „symbolische Darstellung" nannte. Von dieser Funktion leiten sich, immer nach dem bekannten italienischen Linguisten, die Veränderungen der linguistischen Systeme her: beispielsweise haben die Entwicklungen der italienischen Sprache „einen 2

Das Zitat wurde ins Deutsche rückübersetzt. Der Text der italienischen Ausgabe, nach der De Mauro zitiert, ist offensichtlich gegenüber der deutschen, die nur 98 Seiten umfaßt, wesentlich erweitert worden.

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expressiven und ... folglich poetischen C h a r a k t e r " ( B o n f a n t e „ P r o b l e m i " 1 9 6 5 ,

62). Die b e k a n n t e n Namen, die für diese Interpretation stehen (zu denen Trabalzas, V o ß l e r s und B o n f a n t e s k ö n n t e man leicht andere, besonders italienische hinzufugen), dürfen uns nicht davon abhalten, festzustellen, daß diese Interpretation das Ergebnis eines Mißverständnisses ist. Phoneme, Wörter, Wortbedeutungen, linguistische Einheiten und F u n k t i o n e n , die für diese Interpretation croceanischer Gedanken sowohl von ihrem Entstehen als auch von ihrer Entwicklung her Ergebnis eines poetischen Schöpfungsaktes sind, sind für Croce selbst in seiner „ Ä s t h e t i k " „ A b s t r a k t i o n " und „ P s e u d o b e g r i f f e " . Wie wir gleich sehen werden, negierte Croce damit, daß P h o n e m e , S i l b e n , Wörter einen ähnlichen Grad von Wirklichkeit wie der expressiv-intuitive A k t besitzen, und vertrat die Ansicht, daß die linguistischen E i n h e i t e n , von denen in der Grammatik gehandelt wird oder aus denen die Wörterbücher bestehen, das Ergebnis einer Abstraktion der Individuen sind oder besser, wenn man berücksichtigt, daß für Croce die Fähigkeit zur A b s t r a k t i o n und zur Produktion von S c h e m a t a Teil einer allgemeinen praktischen Tätigkeit ist, daß sie Ergebnis der Praxis sind: nicht die Sprechenden haben sie geschaffen, sondern die G r a m m a t i k e r und Linguisten bei ihrer schematisierenden und katalogisierenden Tätigkeit. Croce hat mehrmals und zu Anfang erfolglos versucht, V o ß l e r dies auch in privaten Briefen zu erklären (Croce 1 9 5 1 , 3 1 , 3 4 , 6 1 , 6 5 f f . , 7 9 f f ) . G e h t man von Croces Verständnis aus, hat es folglich keinen Sinn zu behaupten, daß derartige Einheiten aus ästhetischen Gründen entstehen oder sich verändern: wer sich, das gilt besonders für Italien, für einen Croceaner hält, weil er auf irrationalen, unlogischen und fantastischen

Begrün-

dungen für die Entstehung und Veränderung linguistischer E l e m e n t e besteht, befindet sich im Irrtum. Übrigens hat auch V o ß l e r die F e h l e r seiner Interpretation erst nach der Lektüre der logischen Schriften Croces eingesehen ( C r o c e 1 9 5 1 , 8 6 , 124/25). D a ß die von Croce proklamierte Identität von Sprache und Kunst nie b e d e u t e t h a b e n k a n n , daß Phoneme, Silben, Wörter und ihre Bedeutung „ p o e t i s c h " sind, haben G . Devoto und E . Coseriu sehr gut gesehen. Analog zu den Behauptungen anderer über die linguistischen Theorien des frühen Wittgenstein haben D e v o t o und Coseriu darauf hingewiesen, daß Croces Bemerkungen zur Sprache nicht so zu verstehen sind, daß sie sich a u f die gesamte sprachliche Wirklichkeit beziehen, sondern nur a u f einen Teil von ihr. D e v o t o m e i n t , Croce habe eine Theorie der parole versucht, des individuellen Äußerungsaktes nicht in seiner verfestigten u n d grammatisch definierten F o r m , sondern als parole agrammaticale: Croces Bemerkungen k ö n n e n sich

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in keinem Fall auf Phoneme, Endungen, Wörter usw. beziehen und folglich kann man, selbst wenn man annimmt, daß das Sich-Ausdrücken ursprünglich ästhetischer Natur ist, von den Elementen einer Grammatik des Ausdrucks eine Theorie aufstellen, die nicht unbedingt „anti-croceanisch" wird (Devoto 1953). Coseriu hat sehr vehement gegen einzelne Punkte der Devotoschen Interpretation polemisiert, aber im Kern ist seine eigene Interpretation nicht weit von deijenigen Devotos entfernt und entspricht im Grunde derselben Einsicht. Croce hat auch Coseriu zufolge keine Theorie dessen erarbeiten wollen, das man gemeinhin die sprachliche Wirklichkeit nennt. Auch wenn Croce unterschiedslos von Sprache (linguaggio) spricht, so bezieht er sich damit doch ausschließlich auf diejenigen Teile der Sprache, die kreativ und poetisch sind, und läßt alles Nicht-Poetische beiseite. Mit anderen Worten, im Grunde handelt es sich bei der croceanischen Identifikation von Sprache und Kunst um eine Tautologie, und Croce hat um dieser Identifikation willen sozusagen alle jene sprachlichen Akte ausgemerzt, die nicht auf das Ästhetische zurückzuführen sind (Coseriu 1 9 6 2 , 3 1 f.). Daher ist es, so sagt auch Coseriu, durchaus möglich, eine Theorie des Nicht-Poetischen in der Linguistik aufzustellen, d.h. eine strukturalistische Sprachtheorie, die dennoch nicht notwendigerweise anticroceanisch ist. Diese Interpretation von Devoto und Coseriu gründet sich auf eine aufmerksame Untersuchung und Beurteilung der croceanischen Position, die deren positive Elemente bewahren will, um eine allgemeine Sprachtheorie mit historischem Einschlag zu konstruieren. Man muß zudem sagen, daß die Interpretation der beiden genannten Gelehrten eine solide Basis in einer bestimmten Periode der Entwicklung der croceanischen Sprachphilosophie hat, d;h. in der Periode, die von der Abfassung der „Poesia" (1936) bis zu den sprachtheoretischen Schriften der Jahre 1940—45 reicht, während der, wie wir noch sehen werden, Croce tatsächlich ganz ähnlich dachte, wie ihm dies von Devoto und Coseriu zugeschrieben wird. Man m u ß jedoch gleichzeitig daraufhinweisen, daß weder Coseriu noch Devoto ihre Interpretation in einen begrenzten zeitlichen Rahmen setzen; sie stellen sie als global vor. Sobald sich jedoch diese Interpretation auf die gesamte croceanische Sprachtheorie während ihrer Entwicklung bezieht, ist sie unannehmbar. Sie trifft in besonderem Ausmaße nicht zu auf die frühen Formulierungen einer Sprachtheorie bei Croce, wie man sie in der „Ästhetik" findet, in den anderen Bänden der „Philosophie des Geistes" und in den kleineren Schriften, die die Ausarbeitung dieser größeren Werke begleiten. Wenn Croce in der „ Ä s t h e t i k " von Sprache spricht, so bezieht er sich nicht, wie Coseriu sich ausdrückt, auf „seine" Sprache, d.h. auf das Poetische an der Sprache, sondern auf die Sprache eines jeden und in ihrer Gesamtheit: jeder Satz ist in seinem 71

Innersten Poesie u n d wird als solche beschrieben. Man kann auch nicht behaupten, daß Croce Phoneme, Silben, Endungen, Wörter und ihre Bedeutung beiseite ließe (quasi vergäße in einer Art Niemandsland, in das man Einlaß findet, ohne anticroceanisch zu sein). Croce beschäftigt sich sehr wohl mit den so bezeichneten Einheiten und bezeichnet sie in der Phase seiner „Philosophie des Geistes" als „pseudobegriffliche Fiktionen", die aus der praktischen Beschäftigung heraus für die Unterrichtspraxis gebildet wurden. Croce zufolge ist es ein Irrtum, wenn man glaubt, daß derjenige, der spricht, solche Einheiten verwendet; es ist vielmehr so, daß man sich in völliger Freiheit der Erfindung ausdrückt, und wer einen Ausdruck angemessen beschreiben will, kann ihn nur als solchen beschreiben, in seiner einzigen und ungeteilten Wirklichkeit, nicht aber, indem er ihn sich in Wörter und Phoneme aufgeteilt vorstellt. Diese in ihrer Radikalität einzigartigen Behauptungen sollen im Folgenden genauer untersucht werden.

2. Die Ursprünge der Sprachwissenschaft Croces Am Ursprung der ganzen croceanischen Theorie stehen die Kenntnis und die Erfahrung mit der Lehre De Sanctis. Bekanntlich ist der Begriff der Form für Croce der Pol, auf den seine literarischen Untersuchungen ausgerichtet sind. Kunst und Poesie bestehen darin, daß sie Formen hervorbringen, deren jede einzigartig ist, jede das Modell ihrer selbst und als solche zu beurteilen. Diese Meinung vertrat De Sanctis sehr bestimmt gegenüber einer inhaltsbezogenen und moralistischen Kritik und Ästhetik, die die Kunstwerke entsprechend ihrer angenommenen moralischen Qualität bewertete und sie in Termini ihres Inhalts beschrieb. Gegenüber einer „intimistischen" Ästhetik und Kritik übersieht er manchmal, daß das Kunstwerk ein geformtes und gestaltetes Werk ist, nicht einfach Ausdruck einer unbestimmten Erregung. Und gegenüber einer philologischen Kritik, die sich nur um Quellen, Lesarten, Textverbesserungen kümmert, brachte er nützliche Korrekturen an, wobei ihm allerdings manchmal das Gespür für den Wert der künstlerischen Form abhanden kam. De Sanctis verstand es, den Begriff der Form als wirkungsvolle polemische Waffe zu gebrauchen, dennoch vermochte er nicht endgültig zu bestimmen, was denn die Form sei. (Croce 1902,409ff.) Genau an diesem Problem setzen die philosophischen Erwägungen des jungen Croce an. In einer kleinen Schrift von 1894 über die literarische Kritik versucht Croce eine erste Bestimmung des Begriffs der künstlerischen Form als Gesamtheit von Lauten, Pausen, Wörtern und Sätzen eines literarischen Werkes (Croce 1894, 107). Einige Jahre später sollte er diese Interpretation als 72

„oberflächlich" zurückweisen (Croce 1 9 0 2 , 4 0 9 ) . Sie führte immerhin dazu, daß er zum ersten Mal die Vorstellung von der Eigentümlichkeit der Kunst als Produktion expressiver Formen faßte. Dies war ein erster noch unsicherer, später wegen seiner Unzulänglichkeit zurückgenommener Schritt hin zur Identifikation von Kunst und Sprache, und es ist bemerkenswert, daß schon hierbei die primäre Motivation nicht im Bereich einer autonomen Untersuchung sprachlicher Fakten liegt. In den Jahren, die diese Jugendschrift von der ersten Ausgabe der „Ästhetik" trennen, entwickelt sich Croces Philosophie vermittelt über die Auseinandersetzung mit dem Denken von Marx und Kant. Croce erarbeitet sich Begriffe und Überzeugungen, die in der Folge sein gesamtes Denken und auch seine sprachwissenschaftlichen Theorien bestimmen. Von beiden Philosophen hat Croce gelernt, was Konkretheit bedeutet. Dies gilt, wie er selbst berichtet, besonders offensichtlich im Fall Marx: Die ökonomischen Studien, die im Marxismus eine Einheit mit der allgemeinen Wirklichkeitsauffassung und mit der Philosophie bildeten, gaben mir die Gelegenheit, zu philosophischen Fragestellungen zurückzukehren, besonders zu solchen der Ethik und Logik, aber auch zu allgemeinen Fragen des Geistes und der verschiedenen Weisen seines Wirkens. Dies waren alles Reflexionen, die, wie die ökonomischen Studien, die Geschichte zum eigentlichen Ziel hatten ... Aber diese Auseinandersetzung mit der marxistischen Literatur, mit deutschen und italienischen sozialistischen Zeitschriften und Zeitungen, erschütterte mich und erweckte in mir zum ersten Mal den Anschein politischer Leidenschaft ... In diesem Feuer verbrannte ich auch meinen abstrakten Moralismus und lernte, daß die Geschichte das Recht hat, die Individuen zu verschleppen und zu erdrücken. (Croce 1952, 1151)

An anderer Stelle, in einem Vorwort zu seinen Jugendschriften über den Marxismus, schrieb Croce: Durch dieses System angeregt, erfaßte mich wieder die Begeisterung für die große Geschichtsphilosophie der Romantik, und ich begann, einen Hegelianismus zu entdecken, der so viel konkreter und lebendiger war als das, was ich gewöhnlich bei Gelehrten und Hegeldeutern gefunden hatte, die Hegel zu einem Theologen oder platonisierenden Metaphysiker verkleinerten. Was die politischen Vorstellungen betrifft, so führte mich der Marxismus dank seiner Betonung der Stärke, der Kampfkraft und der satirischen, bissigen Opposition gegen die naturrechtsphilosophischen, geschichtslosen demokratischen Belanglosigkeiten, die sogenannten Ideale von '89, zu den besten Traditionen der italienischen politischen Wissenschaft zurück. (Croce 1917, S. IV)

In der Literatur wird mit Recht darauf verwiesen (Garin 1959, 207), daß Marx und De Sanctis zusammenwirkten, um bei Croce sowohl die Vorstellung von der Unwiederholbarkeit und Individualität des Konkreten auszubilden, als auch den Gedanken, daß nur das Konkrete bedeutungsvoll ist, sowohl für 73

die Geschichte als auch für ihre Erkenntnis. Zu diesen Grundsätzen fand Croce eine logische und erkenntnistheoretische Begründung durch seine Kantlektüre, während er in jüngeren Jahren in dieser Hinsicht Herbart gefolgt war. Bei Kant fand er die Anleitung, u m aus erkenntniskritischer Sicht die gleichen verallgemeinerten Abstraktionen der Kritik zu unterziehen, die Marx und De Sanctis unter dem Aspekt ethisch-politischer u n d literarischer Geschichtsschreibung als verfehlt nachgewiesen hatten. Kant schien ihm die Ablehnung einer Erkenntnis nahezulegen, die man als Erkenntnis des Universellen, getrennt vom Besonderen und Individuellen auffassen könnte (Croce 1908,347), u n d führte ihn zu einer Konzeption der Erkenntnis als Synthese von Besonderem und Allgemeinem, Intuition und universellem Begriff, führte ihn zu einer Konzeption der Erkenntnis als „synthesis apriori", ungeachtet der Tatsache, daß sie „außerhalb des Bezirks der modernen Philosophie, vielleicht außerhalb der Philosophie überhaupt" sich befindet (Croce 1908, 141). Darauf aufbauend sah sich Croce am Ende des letzten Jahrzehnts des vergangenen Jahrhunderts gezwungen, gegen G. Gröber zu polemisieren, der die Möglichkeit der Interpretation des individuellen Stils gemäß allgemein gültigen stilistisch-rhetorischen Kategorien behauptete. Hier, wie zuvor im Bereich der Ethik u n d Politik, der Kunst und Literatur bezweifelte Croce die Legitimität einer Analyse, die das Individuelle mit Hilfe generalisierender Theorien und Schemata interpretiert. Er bestritt die Brauchbarkeit der Gröberschen stilistisch-rhetorischen Kategorien und zog das Vorgehen insgesamt in Zweifel, indem er nicht nur diese Kategorien, sondern jede Art von grammatischer und syntaktischer Aufgliederung als Ergebnis abstrahierender Tätigkeit darstellte. Die Worte, in denen sich das Sich-Äußern konkretisiert, setzen weder die Kategorien des „Professor Gröber" noch Phoneme, Silben, Wörter und syntaktische Regeln voraus. Jeder Diskurs ist eine individuelle Einheit, aus unwiederholbaren Elementen bestehend: ist ein U n i k u m sowohl als Ganzes wie in seinen einzelnen Teilen (Croce 1899—1900, Croce 1951, 2—9 u n d 1 3 - 1 5 ) . Hätte es Croce jedoch bei dieser Argumentation belassen, so hätte er nur die Kreativität des Sprechens betont, hätte eine besondere Realität der Sprache verneint und gegen Grammatiker und Linguisten polemisiert; er wäre aber nie dazu gekommen, die Behauptung von der Identität von Sprache und Kunst aufzustellen, wenn er nicht den Anstoß dazu sozusagen durch den architektonischen Entwurf des Systems erhalten hätte, mit dessen Verwirklichung er eben begonnen hatte.

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3. Noch einmal Interpretationen Croces: Der Essay und das System Gentiles Polemik gegen Croce, in der er den ehemaligen Freund beschuldigt, diese „vier Wörter" („schön", „wahr", „nützlich" und „gut" bzw. „ K u n s t " , ,.Denken", „Ökonomie" und „ E t h i k " ) zu verschiedenen Formen der Realität überhöht zu haben, zu unterschiedlichen universellen Kategorien, verführte die Interpreten, gleichgültig o b es sich n u n um Nachfolger oder Gegner croceanischer Gedanken handelte, allzu o f t dazu, in ihm den Philosophen der „Unterscheidung" (distinzione) zu sehen. E r ist, sagen die Kritiker, ein Philosoph, der als verschieden betrachtete Aktivitäten nebeneinander setzt, und sich nicht bemüht, sie dank ihrer gemeinsamen Grundlage als einheitliche darzustellen. Er ist, sagen die anderen, ein Philosoph, der nicht Synthesen nachhängt, die sich nur auf Wortspiele gründen, sondern sich bemüht, die verschiedenen Aktivitäten des Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zu bestimmen, so daß die Erfordernisse und spezifischen Probleme einzelner Bereiche der Philosophie und der Kultur erfaßt und neu interpretiert werden können. Croce hat, als er nach vielen Jahren seine geistige Grundhaltung als junger Mann nachzeichnet, die zweite Interpretationen bestätigt und sein Denken als „Philosophie der Unterscheidung" bezeichnet. (Croce 1952, 1162; Garin 1959, 2 0 7 - 8 ) Aber man kann das Denken Croces als Ganzes nicht verstehen und insbesondere begreift man nicht, wieso er das Unterfangen nie ganz aufgab, seine Vorstellungen in eiri System zu bringen, wenn man nicht die andere durchgängige Tendenz croceanischer Forschung sich vor Augen führt, nämlich die Suche nach der gemeinsamen Grundlage von Ideen unterschiedlicher kultureller Herkunft, nach prinzipieller Einheit dort, wo die akademische und spezialisierte Wissenschaft nur Differenzen sah, den Versuch, die disparaten und unscharfen Begriffe, deren sich z.B. De Sanctis bedient hatte, zu vereinheitlichen. (Croce 1 9 0 2 , 4 1 2 ; C r o c e 1951, 127) Die vier Unterscheidungen, an denen er festhält, nehmen sich gering aus gegenüber der Vielzahl von Vereinheitlichungen (unificazioni) und Reduktionen eines Begriffs auf den anderen. Von der Abhandlung des jungen Croce über die Reduktion des Begriffs Geschichte auf den der Kunst bis zum späten Aufsatz über den Primat des Tuns ist sein philosophischer Werdegang von Vereinheitlichungen gekennzeichnet: des Ökonomischen mit dem Utilitaristischen, des ö k o n o mischen mit der allgemeinen Philosophie oder Geschichte der Praxis, des Rechtes mit dem Utilitaristischen, der Religion mit der Moral, der Kunst mit der intuitiven Erkenntnis, der intuitiven Erkenntnis mit der künstlerischen Erfahrung, der passiven künstlerischen Erfahrung, d.h. dem Geschmack mit der Kreativität u n d der aktiven künstlerischen Erfahrung, der Einbildungskraft mit der praktischen Tätigkeit, der Mathematik u n d Naturwissenschaft mit der 75

Produktion von Modellen, der Produktion von Modellen mit dem praktischen Handeln, des Begriffs mit dem Urteil, des Urteils mit der Wahrnehmung und der historischen Kenntnis, der Theorie und des Begriffs mit der Philosophie, der Philosophie mit der Geschichte und der Geschichte mit der Philosophie, der Politik mit der Macht und folglich der Ökonomie, die im übrigen vereint wird mit der Ausarbeitung und Anwendung juristischer Normen. Diese lange Reihe von Vereinheitlichungen, die von Croce vorgeschlagen und durchgehalten wurde, ist nicht vollständig, aber sie gibt doch in ausreichendem Maße Hinweise auf die Intensität und Beständigkeit, mit der er diese Einheit stiftende Tendenz verfolgte. „Entia praeter necessitatem non sunt multiplicanda", schrieb er in einen Brief an Voßler, der dort Unterscheidungen einführen oder wieder einführen wollte, wo Croce zu Vereinheitlichungen gekommen war. (Croce 1951, 70) Dieses Motto kennzeichnet seine Haltung nicht nur auf dem Gebiet derSprache. Ohne Zweifel ist das Entstehen und die Differenzierung des Systems der vier grundlegenden Formen der Aktivität und der vier entsprechenden universellen Kategorien unmittelbar verknüpft mit dem intellektuellen Bedürfnis, disparate Vorstellungen zu vereinigen, die verschiedenen Klassen von Erscheinungen auf wenige grundlegende Kategorien zurückzufuhren. Daß in Croces Untersuchungen der „Geist des Systems" am Werk ist, das ist von den aufmerksamen Interpreten richtig gesehen worden (Collorni 1932, 9; Garin 1959, 244f.). Allein diese Erkenntnis macht die Aussagen einiger Kritiker wenig plausibel, Croces Aufsätze seien Beiträge, die jeweils einzeln oder nur zusammen mit wenigen anderen zu begreifen seien, ansonsten aber völlig unverbunden nebeneinander stünden. Sie sehen nicht, daß es sich vielmehr u m „Etappen eines mühevollen Versuchs handelt, untrennbar verbunden mit kritischen Erfahrungen und geleitet von einer genauer bestimmten Fragestellung". (Garin 1959, 253) Dies genügt jedoch noch nicht zur völligen Charakterisierung der Aufgabe, welche dem Systemgedanken in der Entwicklung von Croces Denken zukommt. Sicherlich reicht diese Aussage aus, um den Sachverhalt in Erinnerung zu behalten u n d damit Croces System selbst, wenn m a n eine beliebige seiner Arbeiten liest; dies gilt jedoch nur für uns unter hermeneutischem Aspekt u n d sagt noch nichts darüber aus, welche Bedeutung das System für Croce und die wirkliche Entwicklung seiner Forschungsarbeiten hatte. Croces Interpreten antworten auf diese Frage, indem sie auf einen von Gentile herausgestellten Gegensatz zurückgreifen: auf den Widerspruch zwischen einem Croce, der auf die Notwendigkeit von einheitlichem und systematischem Denken hinweist und einem Croce, der „sich auf dem Felde des Empirismus tummelt". Gentile beurteilte den zweiten Croce negativ; Collorni u n d Garin bevorzugen, mit unterschiedlicher Betonung, den zweiten 76

Croce, d.h. den der Arbeiten über ein umschriebenes Problem, den „unermüdlichen Experimentator", dessen Hauptwerk nicht ein systematisches Buch darstellt, sondern, mit dem schönen Ausdruck Garins, „eine ,Kritik', wo die Einheit eines riesigen Forschungsbereiches nicht durch die Symmetrie seines Aufbaus gewährleistet ist, sondern durch ein Methodenbewußtsein und eine Persönlichkeit, das zugleich denkende und handelnde Leben eines außergewöhnlichen Menschen über fünf Jahrzehnte hinweg" (Garin 1955, 254). Jedoch bleibt, auch wenn sich die Beurteilungen unterscheiden, der Widerspruch bestehen. Das Problem, das man sich hier stellen könnte, können wir nicht in toto ausbreiten: ob man einen Essayisten und Empiriker Croce trennen kann von einem Croce, der an einer einheitlichen Vorstellung der Welt und der Kategorien a priori arbeitet. Dennoch scheint es, zumindest was die Ästhetik und Sprachphilosophie betrifft, daß man diese Trennung und den damit verbundenen Widerspruch nicht derartig ausnahmslos sehen sollte, wie dies bisher geschah. Man kann die Ursachen für die letzten croceanischen sprachwissenschaftlichen Untersuchungen nur im Bedürfnis nach Systematisierung finden, im Bedürfnis, die Fragen, die sich ihm nach und nach stellten, im Zusammenhang seines Systems zu lösen. Zumindest hier ist es unverzichtbar, Croce in einer „vereinheitlichenden Perspektive" zu lesen (Ferrara 1964, 394/95), wenn man nicht tiefgreifenden Mißverständnissen unterliegen will.

4. Die erste Form der croceanischen Sprachwissenschaft: die Auflösung der Sprache Diese Tendenz der Vereinheitlichung und des Systems wirkt nachhaltig in der gesamten „Ästhetik" und beherrscht die Erörterung über die Sprache, zumindest während der ganzen ersten Phase croceanischen Denkens. „Die Erkenntnis hat zwei Formen: sie ist entweder intuitive Erkenntnis oder logische Erkenntnis, Erkenntnis durch Phantasie oder durch den Intellekt; Erkenntnis des Individuellen oder Erkenntnis des Allgemeinen, Erkenntnis der Einzeldinge oder ihrer Relationen; sie erzeugt in uns entweder Bilder oder Begriffe." (Croce 1902, 3) So führt das Vorwort der „Ästhetik" eine vierfache Identifizierung der intuitiven Erkenntnis oder der Intuition mit der Erkenntnis des unverbundenen Einzelnen ein und identifiziert dieses wiederum mit einem aktiven, nicht rezeptiven Moment, nämlich mit der Produktion (und nicht bloß der Rezeption) von Repräsentationen, eben der Phantasie. Und da jede Repräsentation zumindest einen inneren Ausdruck einschließt, wird intuitive Erkenntnis mit expressiver Aktivität identifiziert. Diese Identifikationskette, die auf den letzten Seiten der „Ästhetik" geschmiedet wird, reicht allein nicht aus, um 77

zu verstehen, a u f w e i c h e Art die Sprache mit der Kunst und der intuitiven Erkenntnis gleichgesetzt wird. Zu diesem Zweck m u ß man sich erinnern, daß sich schon in der „Ästhetik" eine Vorstellung von wissenschaftlicher Erkenntnis und von verallgemeinernden Abstraktionen ankündigt, die dann in dem Hegel gewidmeten Aufsatz und in der „Logik" vollendet werden. Daß sie diese Vorstellung nicht berücksichtigt haben, ist der Hauptgrund für die beiden differierenden Interpretationen croceanischen sprachwissenschaftlichen Denkens, die wir oben anführten. Wie aus der Einleitung der „Ästhetik" hervorgeht, gibt es bei Croce keinen Platz für ein Erkennen, das solche Entitäten zum Ziel hat oder sich mit ihrer Hilfe verwirklicht, die weder individuell noch universell sind. Der Begriff des Universellen wird in der „Logik" vertieft. Universell dürfen nur solche Kategorien genannt werden, die „omnirepräsentativ" sind, d.h. notwendigerweise in jeder denkbaren Darstellung enthalten. Um dies zu erreichen, müssen diese Kategorien zudem ontologisch allgegenwärtig sein. Wenn man, dies vorausgesetzt, die sogenannten Begriffe „ K a t z e " oder „Dreieck" untersucht, findet man, daß es sich bei ihnen sicherlich nicht um Repräsentation von Einzeldingen handelt (der Begriff „Katze" referiert auf jede denkbare Katze und so verhält es sich auch mit dem des Dreiecks), sie sind aber genauso wenig universell. Dazu fehlt ihnen entweder die Omnirepräsentativität (so umfangreich die Klasse der Katzen auch ist, muß man doch zugeben, daß es sich bei ihnen nur um einen Teil der Wirklichkeit insgesamt handelt), oder, wenn man versucht, Begriffe der „geometrischen A r t " so allgemein wie möglich zu machen, werden diese Einheiten ihres Darstellungscharakters entleert, sie werden universell, geben damit aber jede Verbindung zu realen Einzeldingen auf: diese reine und vollkommene geometrische Form ist, ebenso wie die reine Bewegung ohne jede Hemmung in der Wirklichkeit nicht auffindbar (Croce 1908, 14f.). Gerade wegen ihrer Omnirepräsentativität und Allgegenwärtigkeit sind die universellen Kategorien für die einzelne Erfahrung transzendental: sie können nicht a posteriori gebildet werden, sind aber auch keine der einzelnen Intuition a priori vorausgehende Einheiten, insofern sie notwendigerweise in jedem Moment der Wirklichkeit enthalten sind und damit auch in jeder Intuition. Begriffe vom T y p „Katze" oder „Dreieck" werden dagegen entweder a posteriori oder a priori konstruiert und sind folglich auf einer anderen Ebene anzusiedeln als der wirklich universelle Begriff. Es wäre aber ein Irrtum, fährt Croce fort, Begriffe dieser Art als „falsche" oder „begrenzte Verallgemeinerung" aufzufassen (dies war der Irrtum Hegels, Croce 1908, 351), die mit besseren Begriffen zu korrigieren und zu überwinden seien. Im Gegenteil vollbringen diese Begriffe eine beständige

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Dienstleistung, sie dienen als „begriffsähnliche Erfindungen", sind kein Produkt der Erkenntnis, sondern eins der praktischen Bedürfnisse des Menschen. (Croce 1908, 18f.) Wenn wir eine begriffsähnliche Erfindung a posteriori konstruieren, z.B. den Begriff „Katze", oder eine solche a priori, z.B. den Begriff der „geometrischen F o r m " , dann erfährt unser Wissensschatz dadurch keine wesentlichen Erweiterungen oder Bereicherungen: wir erweitern unser Wissen nicht, sondern wir benutzen es einfach. Was wirklich Erkenntniswert hat, ist die einzelne Intuition u n d das Wiedererkennen der Realität oder Irrealität vermittels dieser Intuition, d.h. das Existenzurteil, das darin besteht, daß das einzelne intuitiv Wahrgenommene auf eine universelle Kategorie zurückgeführt wird. Es ist nun so, daß die Intuition oder das Existenzurteil einer Intuition niemals „Katze" oder „Dreieck" ergeben, sondern einzig und allein ein undeutliches Bild, dem man nur mit einiger Willkür die Entitäten „Katze" oder „Dreieck" entnehmen kann. Solch ein willkürliches Heraustrennen benutzt den Erkenntnisschatz, verändert ihn jedoch nicht, stellt folglich kein wirkliches Erkennen dar, sondern biederes gedankliches Handwerk. Was wir auf diese Art gewinnen, ist sicherlich wertvoll für unseren Alltagsgebrauch, hat aber nicht den Wert von Erkenntnis oder Begriff und wird von Croce mit dem Terminus „Pseudobegriff" belegt. (Croce 1908, 24f.) Von dieser Konzeption aus negiert Croce, daß den Klassen von Empfindungen oder Anschauungen (intuizioni) und den Klassen von Ausdrücken Realität zukomme: die fünf oder sechs Klassen von Anschauungen (Sehen, Hören usw.) haben nicht die Bedeutung universeller Repräsentativa. Es handelt sich bei ihnen um pseudobegriffliche Erfindungen, die nützlich sind aber nicht universell wahr, während die wirkliche universelle Entität der ungeteüte Begriff der Anschauung ist, die Kategorie der Anschauung selber. (Croce 1902, 21 f.) Dementsprechend handelt es sich auch bei den verschiedenen Ausdrucksklassen, die man zu unterscheiden pflegt, musikalische, sprachliche, plastische usw., nur um Pseudobegriffe, die willkürlich aus der einheitlichen universellen Wirklichkeit des Ausdrucks, die mit der Anschauung identisch ist, herausgelöst wurden. (Croce 1908, 4f.) Damit sind wir nun beim letzten Motiv angelangt, aus dem heraus Croce sich gezwungen sah, der Unterscheidung zwischen Sprache und jeder anderen Art von Ausdruck jeden Wirklichkeitswert abzusprechen. Nicht die Lebendigkeit, Bildhaftigkeit oder geniale Außerordentlichkeit, die in der Alltagssprache wie in der des Künstlers vorhanden sind, ist, wie so viele Croceaner von Trabalza bis Fubini geglaubt haben, die grundlegende und entscheidende Komponente der Sprachtheorie Croces, sondern die prinzipielle Verneinung der Möglichkeit (eine Verneinung aus logischen Motiven, die er aus der Kritik der Irrtümer Kants u n d

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Hegels entwickelt und nicht aus ästhetischen und sprachlichen Motiven, was einen Rückgriff auf G. Vico nahegelegt hätte. Vgl. Croce 1951, 34), auf eine erkenntnistheoretisch begründete Weise verschiedene Arten des Ausdrucks voneinander unterscheiden zu können. Aus eben diesem Grunde findet die Sprache in der begrifflichen und ontologischen Welt Croces keinen Platz. Sprache ist für ihn ununterscheidbar von anderen Ausdrucksformen. Darüberhinaus bedeutet es eine Pseudobegriffsbildung zweiten oder dritten Grades, wenn man meint, innerhalb der Klasse sprachlicher Ausdrücke noch Konstanten feststellen zu können. Wenn wir glauben, ein bestimmtes Wort, „Katze" oder „Mutter", zu isolieren und zu betrachten, oder wenn wir sogar von Substantiven und Adjektiven sprechen, von den Regeln ihres Gebrauchs usw., dann häufen wir nur pseudobegriffliche Abstraktionen aufeinander. Indem wir die grundsätzliche Einheit jeder Art von Ausdruck zerreißen, konstruieren wir zunächst den Pseudobegriff einer Klasse von sprachlichen Ausdrücken, auf diesem ersten Fehlurteil bauen wir den Pseudobegriff einer Klasse von „italienischen" oder „französischen" Ausdrücken auf, hierauf wieder wird der dritte Pseudobegriff „Satz" aufgebaut, und mit den Sätzen wird ebenso verfahren. Wir sehen ab von ihrer Flüchtigkeit und Unwiederholbarkeit und bilden Pseudobegriffe der fünften Ordnung, die „Redeteile", das „Phonem" usw. Eine Sprachwissenschaft, die Croces Argumentation nicht zuwiderläuft, wäre nur unter der Bedingung möglich, daß sie sich erklärtermaßen der Konstruktion künstlicher Einheiten widmete, die ohne jeden Erkenntniswert sind, ohne jede Verbindung zur sprachlichen Wirklichkeit, und ihre Aufgabe allein darin sähe, solche künstlichen Einheiten zu schaffen. Dies entspricht nun wirklich nicht der Erwartung, mit der man auf die Möglichkeit einer croceanischen Sprachwissenschaft gehofft hat, die für Devoto wie für Coseriu vor allem eine Sprachwissenschaft sein sollte, die sich mit den wirklich existierenden und den Ausdruck des Einzelnen bestimmenden Momenten beschäftigen sollte. Eine Linguistik dieser Art ist jedoch unmöglich, wenn man in der Begriffswelt des frühen Croce bleibt. Ebenso unmöglich ist allerdings eine Sprachwissenschaft, die die irrationalen Aspekte des sprachlichen Ausdrucks betont: wer sich mit „Mond" oder „Wolkenkratzer" beschäftigt, um deren Bildhaftigkeit herauszuarbeiten, der ist soweit von der frühen croceanischen Sprachwissenschaft entfernt, wie deqenige, der sich den gleichen Worten mit der Absicht etymologischer oder phonologischer Analyse nähert. V/er glaubt, die Sprache sei eine Gesamtheit von Isoglossen und kein System, der ist von Croce genauso weit entfernt wie derjenige, der sie für ein System hält. Wenn die Möglichkeit einer erkenntnistheoretisch tragfähigen Unterscheidung, sei es zwischen sprachlichen Ausdrücken und anderen Kategorien

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von Ausdrücken, sei es innerhalb sprachlicher Ausdrücke, wo Gruppen verschiedener sprachlicher Ausdrücke zu unterschiedlichen Sprachen geschlagen werden, innerhalb derer dann wieder verschiedene Worte zu unterscheiden sind — wenn die Möglichkeit solcher Unterscheidungen geleugnet wird, dann erscheint das Sprechen als ein unteilbares Kontinuum, ein Gesang, eine Musik, in der die Wirklichkeit sich selbst zum Ausdruck bringt und Gestalt annimmt. Dies gilt dann nicht nur für poetisches Sprechen, wie Coseriu glaubte, sondern für jede Art des Sprechens, wie Croce mit Bestimmtheit feststellt: „Silben, Vokale und Konsonanten, die Reihung von Silben, die wir Worte nennen, alle für sich genommenen Phoneme, ergeben keinen bestimmten Sinn, sind noch keine sprachlichen Tatsachen, sondern einfach Laute oder besser gesagt physikalisch abstrahierte und klassifizierte Laute" (Croce 1902, 162); „im übrigen sind die Silbengrenzen, wie auch diejenigen des Wortes, reichlich willkürlich und durch den wirklichen Sprachgebrauch nur äußerst ungenau bestimmt. Das Sprechen ... ist ein Kontinuum, ohne begleitendes Bewußtsein seiner Einzelbestandteile, die nur eingebildete Größen sind, wie man sie in den Schulen braucht" (ebd. S. 163). Aber gibt es nicht doch Ähnlichkeitsbeziehungen, Kontinuitäten zwischen einem Satz und einem anderen? Croce verneint diese Frage, er muß das bei seinen Voraussetzungen tun. Die Verbindung zwischen den verschiedenen individuellen Ausdrücken, die die Sprache darstellt, hat keine wirkliche Existenz außer derjenigen einer „Reihe von Ausdrücken, von denen jeder auf seine Weise und nur einmal vorkommt" (Croce 1910, 159). Wie kann man aber kommunizieren, wenn es keine Verbindung zwischen den unendlich vielen Ausdrücken gibt, die nebeneinander stehen und aufeinander folgen? Die Frage stellt sich so heute nicht mehr, wurde aber in dieser Form von Voßler Croce gegenüber gestellt. Er glaubte, die Ideen Croces in seiner Polemik gegen die positivistische Sprachwissenschaft benutzen zu können, und zwar besonders gegen diejenigen Theoretiker, die Lautgesetze als Naturgesetze auffaßten und dabei die Aktivitäten des einzelnen völlig unberücksichtigt ließen. Diese Hoffnung beflügelte anfänglich Voßlers Arbeit über „Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft" und auch die Briefe vom Anfang des 20. Jhs. an Croce (1951, 7f.). Der hielt zwar zunächst seine Differenzen mit Voßler vor der Öffentlichkeit verborgen, ließ es aber in seinen Briefen von Anbeginn dieses mehrjährigen Dialoges (Croce 1951, 8/9) nicht an Präzisierungen seiner Auffassung über die Irrealität jedes grammatischen Schemas fehlen. Voßler wurde sich erst nach und nach der eigentlichen Absichten Croces bewußt (und als er sie verstanden hatte, vermied er jede Erwähnung linguistischer Fragen in den Briefen). Im Verlauf dieses mühevollen Prozesses der Verständigung über die Ideen des Freundes und Meisters schrieb er: 81

Stellen wii uns eine Sprachwissenschaft vor, wie wir sie wollen, d.h. von Grund auf idealistisch und ästhetisch. Nehmen wir an, daß jeder sprachliche Ausdruck als freie und individuelle Schöpfung erklärt wird, Ergebnis der individuellen Anschauungen des Einzelnen. Dann erhebt sich sofort eine schwerwiegende Frage: Wo ist das vereinheitlichende Prinzip? Millionen von Sprachschöpfern, Millionen von sprachlichen Formen, von der kürzesten Aussage „Es regnet", „Wie schön!", „Achtung!" bis ganz hinauf zum größten und tiefsinnigsten Kunstwerk, sollen unabhängig nebeneinanderstehen, ganz frei und selbständig? Ist das nicht die verrückteste Anarchie? Wer könnte in diesem entfesselten, zerwühlten Meer von Stimmen einen festen wissenschaftlichen Haltepunkt finden? Wenn jede neue Zeile und jeder neue Satz unter gewissen Gesichtspunkten gegen die Tradition rebelliert, wieso werden die Sprachen da nicht in alle Windrichtungen zerstreut? Müßte es nicht an jedem Tag, sogar in jeder Sekunde, überall auf der Welt zu einer babylonischen Verwirrung kommen? Wenn jede Sprache eine wirklich freie Schöpfung darstellt, wo ist dann die mäßigende Kraft, die den individuellen Impulsen Widerstand bietet? (Voßler 1908, 113f.)

Diese Fragen sind mit Pathos gestellt und zugleich zeigen sich vorsichtige Anklänge von Widerspruch, Anzeichen einer nichtauflösbaren Meinungsverschiedenheit. Croce jedoch bleibt unerschütterlich und hält sowohl in seinen privaten Briefen als auch öffentlich an dem fest, was er schon in der „Ästhetik" geschrieben hatte: „Die verschiedenen Ausdrücke sind einzigartig, keiner mit dem anderen vergleichbar, es sei denn in ihrer gemeinsamen Ausdrucksqualität ... Die Eindrücke bzw. die Inhalte sind verschieden; jeder Inhalt ist verschieden von jedem anderen, weil sich nichts im Leben wiederholt; und dem beständigen Wechsel der Inhalte entspricht die prinzipielle Verschiedenheit der Ausdrucksformen als ästhetischer Verarbeitung der Eindrücke" (Croce 1902, 76). Eugenio Garin hat sicher recht, wenn er philologisch gut belegt nachweist, daß der Erfolg, die Bedeutung CTOces in der wissenschaftlichen Diskussion des frühen 20. Jhs. weitgehend mit einem grundsätzlichen Unverständnis gegenüber dem zusammenhing, was er wirklich dachte und schrieb. (Garin 1959, 251). Nur so wird verständlich, wieso ein so gewissenhafter Gelehrter wie Bartoli die sprachwissenschaftlichen Theorien Croces für akzeptabel halten konnte und wie Soffici und andere das ganze croceanische Denken als „geballte Ladung gesunden Menschenverstandes" bezeichnen konnten. Dabei war es eine geballte Ladung hochexplosiven Unsinns. Unter allen hat dies vielleicht allein Serra verstanden, der, aus Abneigung scharfsichtig, in der schon erwähnten Charakterisierung Croces schrieb: „So zeigt sich hinter der ruhigen Bonhomie, dem feisten, ein wenig schlaffen und lächelnden, neapolitanischen Gesicht, das kurzsichtig und ausdruckslos ist, Zug um Zug die harte, schwere, düstere Maske eines unbekannten Denkens" (Serra 1920, 147). So ist es. Hinter dem vernünftigen und wirkungsvollen Hinweis auf die 82

Notwendigkeit konkreten und alltagsnahen Vorgehens verbarg sich als letztes Motiv die Vorstellung von der Person als „Pseudobegriff": Der empirische Begriff ist nichts anderes als der Begriff eines Gegenstandes, d.h. einer Zusammenfassung einer gewissen Anzahl von Gegenständen unter einen von ihnen, der als Typus fungiert (...) Der empirische Begriff kann schließlich Begriff des Individuellen sein. Wenn in der Realität das Individuum der Zustand des universellen Geistes in einem bestimmten Augenblick ist, so verändert sich das Individuum bei empirischer Betrachtung zu etwas Isoliertem, Beschränktem und in sich Abgeschlossenem und ihm wird auf diese Weise eine gewisse Beständigkeit im Hinblick auf die wechselnden Ereignisse seines Lebens gegeben (...) Sokrates und sein Leben sind nicht zu trennen von der Zeit, in der er lebt; man kann aber bei empirischem Vorgehen daraus einen Begriff von Sokrates gewinnen, der den Polemiker und den mit unerschütterlicher Ruhe ausgestatteten Lehrer hervorhebt und dem gegenüber der essende, trinkende, sich kleidende und unter diesen und jenen Umständen lebende Sokrates nur von nebensächlicher Bedeutung scheint. Man kann, wie wir sahen, vom Individuum ebenso einen Pseudobegriff bilden wie vom Gegenstand ... (Croce 1 9 0 8 , 4 2 - 4 3 )

Wohlgemerkt, aus dieser Auflösung des Begriffs der Person als eines Wesens, das im Leben und in der Geschichte konkret agiert, eine Auflösung, die auf der Ebene des „Systems" und mit den begrifflichen Mitteln des „Systems" realisiert wird, bezog Croce dann die Energie, einen jeden an die Notwendigkeit eines in jedem Augenblick politisch u n d ethisch verantworteten Lebens zu erinnern u n d abstrakte Programme zu verdammen. Und mit dem Pseudobegriff als Waffe polemisierte er gegen die literarische psychologisierende Kritik und rief, wiederum mit viel Scharfsinn und Genauigkeit, die Kritiker zur Beurteilung des Werkes auf und nicht zur Beurteilung der vom Werk abstrahierten Person; und schließlich, in einem ganz anderen Feld, bekämpfte er damit die Schematismen der Geschichtsschreibung, die Geschichten, die e n t s t a n d e n e m große historische Perioden zum Vorschein zu bringen, und machte sich dafür zum Vorkämpfer einer Geschichtsschreibung, die sich als Beurteilung und Bewertung bestimmter Situationen verstand. Der Croce der Kritik läßt sich nicht trennen von demjenigen des Systems; der „lächelnde Neapolitaner" verdankt seine ganze Überredungskraft der harten Maske, die er verbirgt, die folglich keine Maske ist, sondern der eigentliche Gehalt seines Denkens. Ebenso verhält es sich mit seinen sprachwissenschaftlichen Aussagen. Von der Auflösung des Sprachbegriffs, von der Betonung des hermetischen Charakters jedes expressiven Aktes, der jeweils abgeschlossen ist, weil er keine Verbindung zu irgendeinem anderen hat, der seine Bedeutung vollständig erfaßt, weil er unlösbar mit seinem Inhalt verbunden ist — von diesen Bestimmungen macht Croce Gebrauch bei seinen polemischen, genauen und 83

scharfsinnigen Beiträgen. Damit hat er beispielsweise sehr wirkungsvoll in die Geschichte der italienischen Sprachwissenschaft eingegriffen, die Theorie einer „Modellsprache" bekämpft und die Berechtigung einer Spontaneität des Ausdrucks gegen jeden überflüssigen Purismus verteidigt, gegen die alte klassizistische Rhetorik und das, was Francesco D'Ovidio die „neue Rhetorik" genannt hat, die Sprache Manzonis und De Amicis mit ihrem einfachen pseudofamiliären Stil (Croce 1902, 1 6 4 - 1 6 5 ; 1910, 211-221). In einem Land, das gerade seine sprachliche Einheit zu verwirklichen suchte, in einer literarischen Tradition, die verstört war von puristischen Alpträumen und Modellen jeder Sorte, waren die Beiträge Croces außerordentlich bedeutsam (De Mauro 1963, 118, 197,336). Die Ursachen lagen jedoch in seiner Konzeption des Ausdrucks als Produktion hermetischer Einheiten. Dieselbe Motivation lag paradoxerweise seiner Polemik gegen die „Mystiker des Unsagbaren" zugrunde. Folgt man ihnen, so notiert er ironisch, dann muß das Leben, um sein Inneres zu begreifen, nicht etwa das Licht, sondern den Schatten suchen, nicht das Wort, sondern das Schweigen. Schweigend erhebt die geheimnisvolle Iside ihr Haupt und enthüllt ihr Antlitz; oder enthüllt vielmehr nichts, sondern erfüllt uns, gibt uns das Gefühl von ihr (...) Das Göttliche ist nichts Erkennbares, sondern innigste und unaussprechliche Erfahrung (...) Aber während sie uns so das Schweigen empfehlen, behandeln sie selbst das Schweigen keineswegs verschwiegen; sie zeigen und erklären, wie wirksam ihr Rezept ist, das Verlangen nach Universellem zu befriedigen. Schwiegen sie wahrhaftig, dann stünden wir nicht ihrer Theorie als einer doktrinären Formel gegenüber, die diskutiert werden will (...) Und wer redet heutzutage so viel wie die Mystiker des Unsagbaren? Was könnten sie überhaupt anderes tun, als reden? Und w o trifft man sie gewöhnlich, in der Einsamkeit oder in Versammlungen und Cafés, Plätzen, an denen man nicht schweigt? (Croce 1 9 0 8 , 8 - 1 1 ) .

Aber, auf die Gefahr hin, daß wir uns wiederholen, muß man sich fragen, woher denn die begriffliche Kraft und das Bedürfnis nach dieser heftigen Auseinandersetzung Croces mit den „Mystikern des Unsagbaren" rührt. Offensichtlich bezieht diese Polemik ihre Kraft aus der von Croce erarbeiteten Systemvorstellung, derzufolge, da sie die Existenz von Ausdrucksklassen (akustisch, optisch usw.) ebenso leugnet wie die Gültigkeit einer Analyse, die Sätze in Wörter zerlegt, „die Sprache in der strengen Bedeutung, in der sie hier verstanden wird, Ausdruck ist; und Ausdruck ist identisch mit Repräsentation, da man sich weder eine Repräsentation vorstellen kann, die nicht auf die eine oder andere Weise ausgedrückt wäre, noch einen Ausdruck, der nichts repräsentiert und damit bedeutungslos ist. Das eine wäre keine Repräsentation und das andere kein Ausdruck, d.h. beide müssen, wie sie das ja auch tun, eine Einheit bilden." (Croce 1908,5)

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Ob er nun einen Teil seiner Vorstellungen in einem Artikel entwickelt, oder ob er gegen die „gentilische Redeweise" von De Amicis oder gegen die Mystiker des Unsagbaren polemisiert, immer steht die gesamte sprachwissenschaftliche Theorie Croces zur Debatte. Sie steht hinter all diesen Polemiken, die sich den Anstrich gesunden Menschenverstandes geben. Und der Preis dieser Theorie war, wie Voßler richtig erkannt hat, in letzter Konsequenz eine radikale, destruktive Verneinung des gesunden Menschenverstandes. Wie für den frühen Wittgenstein, so ist auch für den frühen Croce jeder Satz „gut so, wie er ist", erfüllt vollendet seine Bedeutungsfunktion, indem er auf eindeutige, unwiederholbare und daher unbezweifelbare Art und Weise mit seinem einzigartigen Inhalt verbunden ist. Diese Perfektion hat ihren Preis: jeder Ausdruck steht für sich in einer unüberbrückbaren Einsamkeit. Der Mensch spricht vollendet, aber dieses Sprechen wird nicht von den anderen Menschen verstanden, wenn Verstehen die Rekonstruktion eines Inhalts auf der Grundlage seiner Formen bedeutet. In der paradoxen Gedankenwelt Croces gibt es keinen Platz für diejenigen, die an das Nichtausdrückbare glauben, weil es in ihr keine Intuition ohne Ausdruck geben kann. Alles findet notwendigerweise Ausdruck, alles ist „Kommunikation und Gemeinschaft der Menschen untereinander, ohne die es weder eine geschichtliche Entwicklung noch überhaupt die Welt gäbe." (Croce 1941, 246) Versteht man aber den Ausdruck als punktuelle Entsprechung eines Inhaltes, dann trägt die Sprache, obgleich man sie zu einer kosmischen Macht erhebt, zu einem Universellen, das geschichtlich allgegenwärtig ist, ihr Geheimnis in sich selbst: den Menschen mit einem so verstandenen Ausdrucksvermögen ist die Fähigkeit zur Verständigung mit den Mitteln ihres Verstandes nicht gegeben. Croce wußte das sehr wohl, er kommentierte seine Theorie, viele Jahre, nachdem er sie entwickelt hatte und als sich ihm schon erste Anlässe für ihre Überarbeitung boten, folgendermaßen: Auf geheimnisvolle Weise vollzieht sich täglich das Wunder des Lernens und Verstehens von Fremdsprachen: es ist keineswegs dadurch erklärt, daß wir die Gegenstände, Verhaltensweisen, Ereignisse und Personen, von denen in jenen Sprachen die Rede ist, vor den Sinnen und vor dem Verstand haben, noch hilft es, wenn wir die ungefähren und abstrakten Bedeutungsentsprechungen zwischen ihren Sprachlauten und den abstrahierten Sprachlauten, die der uns eigenen Sprechweise entnommen sind, kennen (...) Neue und fremde Sprachen sind für uns nicht nur jene, die wir gewöhnlich Fremdsprachen nennen, sondern (womit wir uns an die Wirklichkeit des Sachverhaltes wie an die Genauigkeit des Begriffs halten) jedes Wort, das wir hören, ist eine neue und fremde Sprache, denn es wurde noch nie so für das Vorhergegangene verwendet und ist nicht identisch mit irgend zuvor Gesagtem (...) Alle Poesie ist nichts anderes als Ausdruck einer neuen Sprache, denn die Vorstellung, daß sich die

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Dichter und überhaupt die sprechenden Menschen der Sprachlaute wie Karten bedienten, die sie bereits vorgefertigt finden und die sie nur in diese oder jene Anordnung zu bringen haben, ist ein Märchen für Lexikografen und Grammatiker, das wir hier unverzüglich widerlegen wollen. (Croce 1935, 78/79)

Und, um dies zu verdeutlichen, fugt er folgende Anmerkung hinzu: Die Versuche, das wechselseitige Einander-Verstehen der Menschen durch Imitationen, Assoziationen, Konventionen, Übertragungen u.a. zu erklären, sind unzureichend. (...) Die Lehre von der .communicatio idiomatum' durch Gottes Werk (...) enthält, wenn auch in mythologischer Form, die Wahrheit: die Menschen verstehen einander, weil sie alle in Gott sind, leben und sich bewegen. (Croce 1935, 270)

Wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, stellt Croce schon in dem Buch, aus dem dieses Zitat stammt, diese verachteten „unzureichenden und nutzlosen Versuche" an, und sie beherrschen sein Denken in seinem ganzen letzten Lebensabschnitt. Diese Aussagen sind folglich unzutreffend oder widersprüchlich, wenn man von der zweiten Sprachtheorie Croces ausgeht; sie sind jedoch zutreffend und ein korrekter Ausdruck seiner ersten Theorie, mit der man sich bisher ausschließlich beschäftigte. Die eindeutige Entsprechung zwischen Ausdrucksform und ihrem Inhalt sichert einerseits Bedeutungsfülle und formale Perfektion, verhindert aber andererseits, daß sie allein auf Grund der menschlichen Fähigkeiten kommunikativ genutzt werden kann, ohne das wundersame Dazwischentreten des „universell-individuellen Geistes" (Croce 1941, 246), ohne die aktive Anwesenheit eines Gottes, in dem „alle sind, leben und sich bewegen". Den Menschen mit ihren Fähigkeiten und ihrer Vernunft ist es nur gegeben, ihre vollendeten Ausdrücke zu formen, nicht aber sie zu verstehen. Die Annahme, daß alles ausdrückbar ist, die der croceanischen Gedankenwelt ihren Glanz verleiht, verwandelt sich durch eine unerwünschte dialektische Wendung in den geheimnisvollen, unergründlichen Schatten der Inkommunikabilität.

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V. Die Sprache als System 1

1. Der „Cours" und Saussure Obgleich Wittgenstein und Croce aus verschiedenem kulturellen Umkreis stammen und sich in der Art der Argumentation und der Darstellung unterscheiden, hatten beide doch — neben ihrer Übereinstimmung in Fragen des Ausdrucks und der Verständigung — eins gemeinsam: sie waren Philosophen. Wenn auch vor allem Croce eine gewisse Kenntnis von den Methoden der Sprachuntersuchung hatte, wie sie von der historischen und vergleichenden Linguistik angewandt wurden, so bewegten sich doch beide außerhalb der zünftigen Linguistik mit ihrer Art, Sprache oder Aussagen und ihre sprachlichen Formen und Funktionen zu behandeln. Beide haben, wie wir sahen, Sprachtheorien ausgearbeitet, die explizit oder implizit darauf hinauslaufen, daß es keine Erklärung dafür gibt, wie die sprachlichen Formen der Verständigung dienen; genauer: für beide gibt es in dieser Hinsicht eine Erklärung, wenn vorausgesetzt wird, daß die Verständigung auf einer mystischen Ebene jenseits der menschlichen Vernunft angesiedelt ist. Beweist eine solche Schlußfoigerung vielleicht nur, daß es verfehlt ist, sich den sprachlichen Formen von einer allgemeinen philosophischen Warte aus zu nähern? Liefert sie vielleicht ein Argument dafür, daß auch außergewöhnliche Denker in unauflösbare Widersprüche, in absurde Schlußfolgerungen sich verstricken, wenn sie den Königsweg der Sprachwissenschaft der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, den Weg der „präzisen", „zahlreichen", „möglichst alten F a k t e n " verlassen? Höchst wahrscheinlich hätte die mitteleuropäische und amerikanische Linguistik angesichts der Ideen von Wittgenstein und Croce so reagieren können, wenn nicht ungefähr gleichzeitig Ferdinand de Saussure im Rahmen der durchaus traditionellen und orthodoxen Linguistik seine Ideen ausgearbeitet und, darüber hinaus, seinen Zweifeln Ausdruck verliehen hätte. 1

Für alle in diesem und im 7. Kapitel abgehandelten Fragen verweise ich auf die Einleitung und die biographischen und kritischen Anmerkungen in der von mir besorgten kritischen Ausgabe von de Saussures „Cours" (F. de Saussure: Cours de linguistique générale. Ed. critique préparée par Tullio De Mauro, Paris 1975).

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Nach Saussure konnte sich, wie festgestellt wurde, der Linguist nicht mehr darauf beschränken, konkrete Fakten zu sammeln, d.h. er konnte es wenigstens nicht mehr ernsthaft tun, weil die Frage Saussures genau die Existenz und die Essenz dessen betraf, was unter dem Titel „konkretes sprachliches F a k t u m " firmierte. Auf diese Frage kann man viele, durchaus gegensätzliche Antworten geben: sie ignorieren aber hieße sich außerhalb der Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft stellen (Malmberg 1954, 10; Leroy 1963, 60). Saussure hatte es sich zur ureigensten Aufgabe gemacht, diese Frage herauszuarbeiten, sie zu präzisieren, zu verteidigen und bekanntzumachen. Wer die bewegende Saussure-Biographie liest, die Meillet 1913 sofort nach dem Tode des Meisters schrieb, gewinnt das Bild einer außergewöhnlichen und dennoch unvollendeten Persönlichkeit. Im übrigen war es sicherlich Meillets Absicht, diesen Eindruck hervorzurufen. „Unter den Gelehrten, die zwischen 1875 und 1880 die vergleichende Grammatik der indoeuropäischen Sprache erneuert hatten, gibt es keinen, der mehr neue Ideen gehabt hätte, als Ferdinand de Saussure, und keinen, dessen Einfluß auf die weitere Entwicklung stärker gewesen wäre. Nach mehr als 3 0 Jahren sind die Ideen, die Ferdinand de Saussure in seinem Erstlingswerk zum Ausdruck brachte, so fruchtbar wie damals. Und dennoch haben seine Schüler das Gefühl, daß er in der Linguistik seiner Zeit bei weitem nicht den Platz eingenommen hat, der ihm aufgrund seines genialen Talents gebührte ..." (Meillet 1936, 174). Nach seinen Studien in Leipzig „publizierte er als Student im 6. Semester im Dezember 1878 - er war gerade 21 Jahre alt geworden — den ,Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes' (...). Niemals, weder vor noch nach dem ,Mémoire', war zur vergleichenden Grammatik ein so sicheres, so neues und so reiches Buch erschienen. Der ,Mémoire' reichte aus, um Ferdinand de Saussure mit einem Schlag in die Reihen der linguistischen Koryphäen seiner Zeit zu stellen." (175—177) Im „Mémoire" wurde ein wesentlicher Aspekt der Phonologie der indoeuropäischen Sprachen für lange Zeit definiert. Danach, sieht man von seiner Dissertation ab, die „ein einfacher technischer Artikel" war (177), „unterbrach (Saussure) sein Schweigen nur, um relativ kurze Abhandlungen zu veröffentlichen (...). Seine letzten Artikel sind zweifellos nur erschienen, weil er sich verpflichtet glaubte, für bestimmte Sammlungen einige Seiten zu liefern (...)." (179f.) Trotz ihrer Kürze handelt es sich um grundlegende Beiträge; aber nicht diese, sondern vor allem die Lehrtätigkeit — 9 Jahre in Paris und 21 Jahre in Genf — machten die Lehren und Methoden Saussures bekannt. Unter den Studenten „war sein Einfluß ungeheuer" ( 178), schrieb Meillet und fügte hinzu: „Ich für meinen Teil habe kaum eine Seite veröffentlicht, von der ich ohne Gewissensbisse sagen könnte, 88

sie sei allein mein Verdienst: das Denken von Ferdinand de Saussure war so reich, daß ich davon immer durchdrungen blieb. Ich würde es nicht wagen, in meinen Schriften das auszusondern, was ich ihm verdanke; aber ich bin sicher, daß die Lehre Saussures voll und ganz in dem gegenwärtig ist, das wohlwollende Richter manchmal an ihnen lobenswert fanden." (179) Mit den Jahren 1894 und 1895 werden die Schriften von Saussure noch spärlicher; er setzte sich mit neuen Gegenständen auseinander, „die z.T. fernab von der Linguistik lagen (...); er beschloß indes, nichts von diesen langen Überlegungen zu veröffentlichen." (182) Dieses galt — so Meillet — besonders fiir die „Überlegungen zur Allgemeinen Linguistik, die ihn während des größten Teils seiner letzten Jahre beschäftigt h a t t e n " (183). Bis zu seinem Tod, so schließt die Biographie von Meillet, ,piatte er das schönste Buch der vergleichenden Grammatik hervorgebracht, das jemals geschrieben wurde, hatte Ideen gesät und geschlossene Theorien aufgestellt, hatte seinen zahlreichen Schülern seinen Stempel aufgedriickt, und dennoch hatte er sein Schicksal nicht voll erfüllt." (183) Saussure, seine Absichten und Ziele und sein Lebensweg sind so ein Rätsel geblieben: er schrieb nicht mehr über Gegenstande der historischen Linguistik, obgleich er sich weiter damit beschäftigte und zwar in glänzender Manier; andererseits aber sind seine Überlegungen zur Allgemeinen Linguistik nicht über seinen Schülerkreis hinausgedrungen, sind Fragen ohne Antworten geblieben. Die Veröffentlichung des „Cours de linguistique générale" im Jahre 1916 trug wenig dazu bei, diese Rätsel zu lösen. Drei Schüler von Saussure — Ch. Bally, A. Sechehaye und Α. Riedlinger — zogen die Mitschriften von drei Vorlesungen, die Saussure in Genf 1906/7, 1908/9 u n d 1910/11 über Allgemeine Linguistik gehalten hatte, sowie die persönlichen Notizen des Meisters heran und machten daraus eine einheitliche Fassung: den „Cours". Das Echo auf dieses Werk war seltsam: es reichte von begeisterter Zustimmung bis zur befremdeten und kühlen Ablehnung. Die amerikanische Linguistik bewahrte dem „Cours" gegenüber immer eine gewisse Distanz (Hall 1957, 61), obgleich sie vom Standpunkt der traditionellen „europäischen" historischen Linguistik aus gesehen Saussure sehr nahe stand: sei es, daß sie dessen Theorien als „naiv" bezeichnete (Ogden/Richards 1923,4—6), sei es, daß sie sie überhaupt nicht zur Kenntnis nahm, wie dies in einem der besten linguistischen Lehrbücher der Fall ist (Hockett 1958). Die Prager Linguisten, die schon Meillet mit Saussure in Verbindung brachte (Meillet 1 9 3 7 , 4 7 9 ) , beriefen sich auf den Meister aus Genf anfänglich nur im Hinblick auf die Theorie der parole (Thèses 1929, 15); im Hinblick auf ihre gesamte Konzeption wurde erst nachträglich, wie zu recht bemerkt wurde (Lepschy 1961, 207), eine Verbindung hergestellt. Im Umkreis der italienischen Linguistik dagegen, die noch

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vor wenigen Jahren wegen des beherrschenden Einflusses von Croce als „asaussuriano" eingestuft werden konnte (Leroy 1963, 136), wurde der „Cours" bereits 1928 von Devoto und 1930 von Pagliaro in einem Lehrbuch (Pagliaro 1930, 86ff.) diskutiert und ist seitdem im Mittelpunkt der Überlegungen der fuhrenden Linguistik geblieben. Die Übereinstimmung mit Meillet war total, zuerst in der ersten Auflage (1921) seiner „Linguistique historique et linguistique générale" (Meillet 1936, VIII) und später im Vorwort zu seiner klassischen „Introduction" in der Ausgabe von 1934 (Meillet 1937, XIII—XIV).2 Was nun zeichnet den „Cours" Saussures aus — den „Cours", den die Linguistik während eines halben Jahrhunderts als abstrakt verdammt oder als alle Probleme lösenden Königsweg gefeiert hat, den sie verehrt oder dem sie die kalte Schulter gezeigt hat? Man braucht nur die ersten Seiten aufzuschlagen, um den Eindruck zu gewinnen, daß hier ein Gelehrter seine Gedankengänge mit großer Sicherheit exponiert. Die Geschichte der Linguistik, mit der der „Cours" beginnt, ist, wie wir bereits sahen, ein Beispiel für eine Geschichte ohne Probleme: die antike Grammatik, die Philologie und die wissenschaftliche Linguistik scheinen säuberlich getrennt einander abzulösen. Saussure läßt hier keine Zweifel aufkommen: die eine Bemerkung, daß in Wirklichkeit die historische Linguistik weiterhin mit den alten in der Antike und im Mittelalter herausgearbeiteten Begriffen arbeitet, findet man beiläufig in einem völlig anderen Zusammenhang und liest sie dort als eine Art Polemik gegen unbedarfte Kollegen (Saussure 1922, 153). Dies bedeutet nichts besonderes, denn Saussure faßt seine linguistischen Kollegen nicht gerade mit Samthandschuhen an. Mit großer Selbstgewißheit werden die einzelnen Theoriestücke vorgebracht. Man dürfe die Betrachtung linguistischer Fakten zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mit der Betrachtung eben dieser Fakten in ihrer historischen Entwicklung verwechseln; also gibt es eine synchrone und eine diachrone Linguistik. Man dürfe auch nicht die „langue" — die Gesamtheit der linguistischen Enti täten, deren man sich beim Sprechen bedient — mit der „parole" — dem individuellen Sprechen — verwechseln. Die Sprache stelle nur auf den ersten Blick eine Summe von Einheiten dar; 2

In Wirklichkeit gab es zwischen Saussure und Meillet keine völlige Übereinstimmung, wie ich dies angesichts der großen Distanz zur amerikanischen Linguistik nach Bloomfield u n d den „Asaussurismus" der italienischen Linguistik noch in der ersten Ausgabe dieses Buches schrieb. Eine genauere Untersuchung der saussureschen Begriffe „Arbitrarität", „System" und „Form" zeigt die Differenz zwischen Meillet und Saussure; vgl. auch G. Mounin „La notion de système chez Antoine Meillet" (La Linguistique 2, 1 9 6 6 , 1 7 - 2 9 ) und G. Mounin „Ferdinand de Saussure ou le structuraliste sans le savoir", Paris 1968, 76ff.

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in Wirklichkeit sei sie ein System. Die linguistischen Einheiten bildeten zusammen ein System: dies aber könne nicht positiv, sondern nur differenziell und negativ bestimmt werden. Die Linguistik müsse sich mit der „langue" befassen. Hier haben wir das beherrschende Motiv des „Cours" vor uns; er schließt bezeichnenderweise mit einem Satz, der als einziger zur „berühmten saussureschen Behauptung" oder „zur berühmten (und diskutablen) saussureschen Behauptung" geworden ist. Es lohnt sich, diesen Satz wiederzugeben, den, wie wir sehen werden, Saussure niemals niedergeschrieben hat: „So haben wir denn einige Streifzüge in die Grenzgebiete unserer Wissenschaft u n t e r n o m m e n , und es hat sich dabei eine Lehre ergeben, die zwar negativ ist, aber insofern besonders bedeutsam, als sie in vollem Einklang steht mit dem Grundgedanken, der diese Darlegungen überhaupt beherrscht: d i e Sprache an u n d für sich selbst betrachtet ist der einzige wirkliche Gegenstand der Sprachw i s s e n s c h a f t . " (Saussure 1967, 279; die Sperrung entspricht dem frz. Original) Dieses Sammelsurium von Theoremen wurde wieder und wieder kolportiert, u n d es hat sich so etwas wie eine „ideale Vulgata des absorbierten Saussureanismus im europäischen Denken" herausgebildet (Lepschy 1962, 69): mit der spärlichen Ausnahme einiger Saussuregegner (Jaberg 1937, 123 — 36) — u n d hier sei nochmals darauf aufmerksam gemacht, daß mehr Intelligenz gegen den „Cours" als für ihn aufgebracht wurde — werden die verschiedenen Theoriestücke des „Cours" einfach aneinander gereiht, ohne daß sie miteinander klar in einen Zusammenhang gebracht würden. Sie werden, um nochmals Lepschy zu zitieren, als eine Art „nuclei vitali" dargestellt, ohne inneres Band, so zum Beispiel bei Leroy (1963, 6 1 - 7 4 ) und selbst bei Lepschy (1961, 201—6), der sich der Grenzen dieser Art der Darstellung wohl bewußt ist (201). 3 Man m u ß freilich wissen, daß der „Cours" in seiner „vulgata"Fassung kaum eine stimmige Interpretation zuläßt. Zweifel an der „vulgata" könnte bei sorgfältiger Überlegung vielleicht durch einen Bericht aufkommen, der Ende 1931 beim Internationalen Linguistenkongreß in Genf von W. Doroszewski vorgetragen wurde. Doroszewski bezieht sich darin auf eine Information von L. Caille und versichert, daß Saussure der soziologischen 3

Die einschränkenden Äußerungen („Es waren eher einzelne (...) Punkte des ,Cours', die Glauben fanden. Diese Punkte wurden aus dem Kontext des Saussureschen Gedankengangs herausgelöst ..." usw.) kehren wörtlich in einem späteren Buch Lepschys wieder (Die strukturale Sprachwissenschaft. München 1969, 34). Doch weder in diesem Buch noch in dem jüngst erschienenen Band (A Survey of Structural Linguistics. London 1970, 4 2 - 5 2 ) sind Interpretation und Darstellung des Saussureschen Denkens verändert; immer noch ist die Rede von „einzelnen Punkten".

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Auseinandersetzung zwischen E. Durkheim und G. Tarde mit großer Aufmerksamkeit gefolgt war. Durkheim b e t o n t darin die Wichtigkeit des „fait social" u n d des Zwangs („contrainte"), den dieser auf das Individuum ausübt, während Tarde den Individuen im sozialen Geschehen mehr Spielraum einräumt. Diese Auseinandersetzung könne Saussure angeregt haben, die Begriffe von „langue" u n d „parole" und die von den wechselseitigen Beziehungen zwischen individueller Rede und Sprache auszuarbeiten (Godei 1957, 282; Lepschy 1961, 203f.). Es war bzw. es wäre die Frage zu stellen gewesen, wie ein derartiges Interesse für eine andere Disziplin sich mit der Schlußbehauptung des „Cours" verträgt, in der das Ideal einer introvertierten Linguistik aufgestellt wird und in der sorgfältig darauf geachtet wird, die eigene Autonomie und Jungfräulichkeit nicht durch selbst ehrbare Beziehungen mit anderen Wissenschaften zu kompromittieren. Tatsächlich tauchten die ersten Zweifel an der Zuverlässigkeit des „Cours" hinsichtlich des saussureschen Denkens erst sehr viel später auf. Die Gelegenheit bot sich durch einen Artikel von E. Benveniste über die Arbitrarität des Zeichens (Benveniste 1939). Benveniste behauptet, daß der „Cours" in diesem Punkt widersprüchlich sei. An einer Stelle des „ C o u r s " heißt es: „Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild. Dieses letztere ist nicht der tatsächliche Laut, der lediglich etwas Physikalisches ist, sondern der psychische Eindruck dieses Lautes". (Saussure 1967, 77) In Übereinstimmung mit dieser Behauptung entwickelt Saussure, wie wir bereits angekündigt haben und nochmals an anderer Stelle sehen werden, die These von der Untrennbarkeit des Bezeichneten, des Signifikats, u n d des Bezeichnenden, des Signifikans. Indem Saussure aber behauptet, daß das Band zwischen Signifikat und Signifikans arbiträr sei, widerspricht er dieser These u n d der ersten Behauptung: man kann die Arbitrarität des Zeichens nach Benveniste nur behaupten, wenn man sich sozusagen außerhalb der Sprache stellt, denn nur der Bezug auf etwas außersprachlich Gegebenes kann mit der Behauptung der Arbitrarität des Zeichens in Einklang stehen: „Hier wird klar, daß der Gedankengang verfälscht wird durch das unbewußte und unterschwellige Zurückgreifen auf einen dritten Begriff, der in der Ausgangsdefinition nicht enthalten war" (Benveniste 1974, 62); d.h. auf die „Sache", hinsichtlich derer das Zeichen arbiträr erscheint, das dann gegen die ursprüngliche Konzeption als Name aufgefaßt wird. Die Inkohärenz der Argumentation wird in einem weiteren Passus des „Cours" offensichtlich: „das Wort,arbiträr' verlangt ebenfalls eine Bemerkung. Es soll nicht bedeuten, daß das Bezeichnende („signifiant") von der freien Wahl des sprechenden Subjekts abhinge (weiter unten werden wir sehen, daß es nicht in der Macht

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des Individuums steht, etwas an einem einmal in einer sprachlichen Gemeinschaft etablierten sprachlichen Zeichen zu ändern); wir sagen, daß es unmotiviert („immotivé") ist, d.h. arbiträr in bezug auf das Signifikat („signifié"), mit dem es in der Realität keinerlei natürliches Band h a t " (Saussure 1922, 101 ; entspr. Stelle der dt. Ausgabe 1967, 80). Der Aufsatz von Benveniste war der A u f t a k t zu einer der längsten u n d kompliziertesten Auseinandersetzungen in der Geschichte der Linguistik: der Aufsätze und Beiträge, die mehr oder weniger zu dieser Frage Stellung nahmen, waren mehr als hundert (Engler 1962, 12—39; 1964, 26f., Lepschy 1962, 9 9 - 1 0 2 ) . Sie waren zwar für oder gegen die Interpretation des saussureschen Textes durch Benveniste und —je nach Interpretation — für oder gegen den saussureschen Text selbst geschrieben, hatten aber den fruchtbaren Nebeneffekt, die Notwendigkeit einer vorsichtigen Einschätzung des „Cours"-Textes vor Augen zu führen; und diese Notwendigkeit, die in Aufsätzen von N. Ege (1949) und M. Lucidi (1950) dargelegt wurde, war ein erster Schritt für die weitergehende Forderung, auf die handschriftlichen Quellen des Textes des „Cours" zurückzugreifen. Nach Lucidi basiert die Interpretation von Benveniste wahrscheinlich auf einer Zweideutigkeit und auf der falschen Einschätzung, daß der Ausdruck „in der Realität" („dans la réalité") sehr bedeutsam sei und keinen bloßen Pleonasmus darstelle (Lucidi 1950, 188). Um derartige Hypothesen zu untermauern, war es freilich geboten, auf die Dokumente zurückzugreifen, die die Herausgeber des „Cours" zugrunde gelegt hatten. Jedenfalls beschränkte sich Lucidi „in seinen scharfsinnigen Analysen der Arbitrarität des Zeichens" (Engler 1964, 32) nicht auf diese Hypothesen, sondern faßte zum ersten Mal eine Lösung des saussureschen Rätsels ins Auge. Für ihn war das lange Schweigen Saussures im Bereich der historischen Linguistik der Notwendigkeit geschuldet, die unbewußt unterstellten begrifflichen Vorgaben der „positiven" Linguistik in eine Ordnung zu bringen; auf der anderen Seite aber war die Tatsache nicht zufällig, daß Saussure keinen einzigen Gedanken offen niederlegte, sondern wahrscheinlich von der Überzeugung getragen war, daß seine vorliegende Theorie in bezug auf die Definition der linguistischen Einheit unzureichend war. Dank der Intention eines Mannes, der in kongenialer Weise das Bedürfnis nach Wahrheit, das beschwerliche und rastlose Suchen nach exakten u n d erschöpfenden Definitionen mit Saussure teilte, wurde hinter dem so klaren Text des „Cours" ein anderes Büd von Saussure sichtbar: das Bild eines Menschen, der nicht mit professoraler Sicherheit eine Reihe „eindrucksvoller" Lehren vorträgt, sondern von seinen theoretischen Untersuchungen so besessen ist, daß er sogar die Möglichkeit konkreter sprachhistorischer Analysen opfert.

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Der Artikel von Lucidi wurde wenig beachtet, und erst in jüngerer Zeit haben G. Lepschy (1962, 70) und R. Engler (1964, 25 und 32) wieder auf ihn aufmerksam gemacht. 4 Die Problemstellung indes, die der Arbeit Lucidis zugrunde lag, gelangte inzwischen auf anderen Wegen in die linguistische Diskussion. Seit 1954 publizierte Robert Godei in den „Cahiers Ferdinand de Saussure" sowohl die Mitschriften der Studenten von den Vorlesungen Saussures über Allgemeine Linguistik, als auch die unveröffentlichten Manuskripte Saussures, als auch Verzeichnisse anderer handschriftlicher Quellen. Godei verfaßte auch eine Monographie, in der er die handschriftlichen Quellen, deren sich die drei Herausgeber des „Cours" bedient hatten, umfassend auswertete. Die Krönung dieser Forschungsarbeit stellt eine Ausgabe des „Cours" dar, in der synoptisch zum Text des „Cours" dessen handschriftliche Quellen Satz für Satz herangezogen werden. Würde man sich nochmals der Aufgabe unterziehen, diese Quellen zu einer einheitlichen und geschlossenen Abhandlung zusammenzufassen, so würde man dies, wie verschiedentlich bemerkt wurde, wahrscheinlich heute noch kaum besser bewerkstelligen können, als es Bally, Sechehaye und Riedlinger durch ihre Streichungen, Ergänzungen und Vereinheitlichungen getan hatten. Was anfechtbar an dieser Arbeit ist, ist ihr Ziel: in einer einheitlichen Abhandlung ohne Lücken und Inkohärenzen wird notwendigerweise ein lebendiges und in steter Bewegung befindliches Denken in eine Zwangsjacke gepackt, „eingefroren", mumifiziert — ein Denken, das um seine Unzulänglichkeit weiß und das nach neuen Lösungen sucht. Die Veröffentlichung der unedierten Schriften Saussures hat für eine Reihe von Passagen und von einzelnen Problemen bessere Interpretationen möglich gemacht. Dies war beispielsweise der Fall für Vorstellungen, die Saussure von der „Arbitrarität des Zeichens" hatte. Es zeigte sich, daß sein Denken in diesem Punkt niemals einheitlich war und ständig hin und her schwankte. Hinsichtlich des Prinzips der Arbitrarität existieren in seinen Darlegungen nämlich eine einfache Fassung (lectio facilior) und eine komplexere Fassung (lectio difficilior) nebeneinander. In der lectio facilior ist die Verbindung des Signifikans als Lautkörper mit dem Signifikat als Vorstellung „unmotiviert"; die lectio difficilior erst zeigt den eigentlichen Sinn des Prinzips: „wenn man sich fragt, was Signifikans und Signifikat für sich genommen sind, gelangt man notwendig zu der Feststellung, daß sie ihrerseits nur aufgrund dieser Verbindung existieren, und zwar dieser arbiträren Verbindung — daß also weder 4

Vgl. jetzt auch seine Würdigung durch den äußerst gewissenhaften Interpreten und profunden Kenner Saussures, R. Godei (De la théorie du signe aux termes du système. In: Cahiers F. de Saussure 2 2 , 1 9 6 6 , 5 3 - 6 8 , bes. 62).

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das eine noch das andere einer vorgegebenen, präkonstituierten Realität entspricht." (Godei 1958,31) Wesentlich besser lernte man auch die Haltung kennen, die Saussure gegenüber der Geschichte der Linguistik eingenommen hatte. Einer der „ébauches assez anciennes", der ziemlich alten Entwürfe vor 1900, den die Herausgeber des „Cours" verwendeten, erlaubt die Feststellung, daß Saussure in aller Schärfe und in ganzer Negativität das gesehen hatte, was man die formalistische Krise der Linguistik in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. und die daraus resultierende theoretische Verarmung dieser Disziplin genannt hat. (Saussure 1900, 67f.) Noch klarer ist die Haltung Saussures in der folgenden Anmerkung: Es wird für alle Zeiten ein Gegenstand philosophischer Reflexion sein, daß die Sprachwissenschaft, in Deutschland geboren, in Deutschland entwickelt und in Deutschland von einer Menge von Leuten liebevoll gepflegt, fünfzig Jahre lang von sich aus niemals auch nur einen schwachen Versuch unternommen hat, den Abstraktionsgrad zu erreichen, der nötig ist, um einerseits das, w a s man t u t , in den Griff zu b e k o m m e n , andererseits die Legitimität und raison d'être seines Tuns innerhalb der Wissenschaften zu bestimmen. Aber ein weiterer Gegenstand des Erstaunens wird es sein, wenn man sieht, daß diese Wissenschaft, als sie endlich aus ihrer Bewußtlosigkeit aufzuwachen schien, in dem lachhaften Versuch von Schleicher gipfelt einem Versuch, der seiner eigenen Lächerlichkeit zum Opfer fallt. Das Prestige, das Schleicher allein dem V e r s u c h verdankt, irgendetwas Allgemeines über die Sprache zu sagen, ist derart, daß er auch heute noch als eine in der Geschichte der Linguistik unvergleichliche Figur gilt, und daß die Linguisten eine komisch anmutende ernste Miene aufsetzen, wenn von dieser großen Figur die Rede i s t . . . Soweit wir die Sache überblicken können, ist es offensichtlich, daß Schleicher bei allen hochgeschraubten Ansprüchen von größter Mittelmäßigkeit war ... (Saussure 1 9 0 0 , 59).

Schließlich muß auf die Wichtigkeit der Tatsache hingewiesen werden, daß der berühmte Schlußsatz des „Cours" mit Sicherheit Wort für Wort von den wirklichen Verfassern des „Cours" erfunden wurde (Godei 1957, 119): sie ergibt sich ganz deutlich aus der Lektüre der handschriftlichen Aufzeichnungen, die von der „Autonomie" der Linguistik handeln (und die im übrigen einer akademischen Antrittsvorlesung würdig sind). Es ist unbestreitbar, daß Saussure auch diesen Gedanken verfocht, aber, wie wir sehen werden, als einen absolut untergeordneten: der Verweis auf die Autonomie der Linguistik, auf die die Linguisten eifrig bedacht waren (und es noch sind), war für ihn lediglich ein Argument ad hominem; es hatte für ihn den Sinn, daß eine Disziplin, die ihren Gegenstandsbereich („le fait linguistique concrète") nicht präzise definieren will oder kann, erst recht nicht ernsthaft für ihre eigene Autonomie bürgen kann, weil wegen dieser ihrer Nachlässigkeit und Unfähigkeit psychologische, physische oder physiologische Begriffe illegitimerweise sich in ihr breitmachen. Auf diese und andere Informationen aus den „unedierten" Schriften 95

werden wir uns, wie gesagt, beziehen. Aber die unedierten Schriften geben mehr und anderes her als lediglich eine Summe besserer Daten. Durchbricht man die glatte Oberfläche der „Cours"-Redaktion, dann geben die fragmentarischen Notizen, die unvollständigen Sätze, die oszillierenden und manchmal inkohärenten Formulierungen die intellektuelle Persönlichkeit des Genfer Meisters besser wieder. Der Linguist Saussure, der die ideale „Cours-Vulgata" in einer etwas freien Art und Weise mit einer Theorie nach der anderen unterläuft, wird heute in unseren Augen wieder zu dem, was er war: der Mann, der sein Bestes dafür einsetzte, die Begriffe für ein Problem auszuarbeiten und zu präzisieren.

2. Die Bedeutung (signifié) als Wert im System Nach der fundamentalen Arbeit Godels (1957) ist der logische und psychologische Ausgangspunkt der Überlegungen Saussures klar. 1894 — das Jahr, von dem an seine Publikationen zur historischen Linguistik immer spärlicher werden — schreibt Saussure an Meillet anläßlich einer Untersuchung der Intonation im Litauischen: ,Aber dies alles widert mich an, und ebenso die Schwierigkeit, die man im allgemeinen beim Schreiben von nur zehn Zeilen hat, wenn man bei der Untersuchung der sprachlichen Fakten gesunden Menschenverstand bewahrt. Seit langem beschäftige ich mich vornehmlich mit der logischen Klassifikation dieser Fakten, mit der Klassifikation der Gesichtspunkte, unter denen wir sie abhandeln, und ich werde mehr und mehr der ungeheuren Arbeit gewahr, die man aufbringen müßte, um dem Linguisten zu zeigen, w a s e r tut, indem er jede Operation auf ihre bereitgestellte Kategorie zurückfuhrt, und gleichzeitig sehe ich die ziemlich große Breite dessen, was man in der Linguistik letztlich tun kann. Letztendlich ist es nur die pittoreske Seite einer Sprache, das, was ihren Unterschied gegenüber allen anderen ausmacht, insoweit sie einem bestimmten Volk mit einem bestimmten Ursprung zugehört; diese fast ethnographische Seite hält mein Interesse wach: ich habe, genau genommen, die Lust verloren, diesen Studien mich ohne Hintergedanken zu widmen und mich mit den einzelnen Fakten aus einem bestimmten Milieu zufrieden zu geben. Diese Stupidität der gängigen Terminologie, die Notwendigkeit ihrer Reform und damit des Nachweises, welche Art von Gegenstand die Sprache im allgemeinen darstellt, verdirbt mir (laufend) meine Freude an der historischen Untersuchung, obgleich ich keinen größeren Wunsch habe, als mich nicht mit der Sprache im allgemeinen beschäftigen zu müssen.

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Dies läuft, gegen meine Intention, auf ein Buch hinaus, in dem ich leidenschaftslos darlegen werde, warum es in der Linguistik keinen einzigen Begriff gibt, den ich mir in irgendeiner Weise zueigen machen könnte. Und erst danach, ich gestehe es, könnte ich meine Arbeit da wieder aufnehmen, wo ich sie unterbrochen habe. Hier also ein vielleicht stupider Entwurf, der Duvau („administrateur" der „Société de linguistique" von Paris) möglicherweise erklärt, warum ich z.B. die Veröffentlichung eines Artikels, der keinerlei substantielle Schwierigkeiten machen würde, mehr als ein Jahr verschleppt habe — ohne übrigens die logischerweise verhaßten Ausdrücke vermeiden zu können, weil es dazu einer entschiedenen u n d radikalen Reform bedürfte ..." (Godei 1957, 31). Dieses Streben nach Ordnung und nach Klarheit sollte Saussure nicht mehr verlassen. 15 Jahre nach diesem Brief an Meillet sagte er in einem Gespräch mit Riedlinger, der es aufzeichnete: Die Schwierigkeit des Gegenstandes (sujet) besteht darin, daß man ihn - wie bei bestimmten Theoremen der Geometrie - von verschiedenen Seiten her anpacken kann: in der statischen (= synchronen) Linguistik folgt ein Theorem aus dem anderen: ob man von Einheiten, Differenzen, Oppositionen redet, das läuft auf ein und dasselbe hinaus. Die Sprache ist ein geschlossenes System (système serré), und die Theorie muß ein System darstellen, das ebenso geschlossen ist wie die Sprache. Hierin liegt die Schwierigkeit, denn es bringt nichts, wenn man den einen oder anderen Satz, die eine oder andere Ansicht über die Sprache hintereinander aufzählt; es kommt darauf an, sie in ein System zusammenzufassen. (...) Die beste Vorgehensweise wäre die, die Aussagen von guten Linguisten zu nehmen, wenn sie von statischen Phänomenen reden, und die I r r t ü m e r und die I l l u s i o n e n zu betrachten, die in diesen Aussagen enthalten sind. So verwenden sie das Wort ,Form\ um ganz verschiedene Dinge zu bezeichnen: lautliche Beschafgenheit, Funktion emes Worts. (...) (Godei 1957, 29).

Dieses Streben nach Klarheit entspricht einerseits der Mentalität Saussures; andererseits hat es — worauf er selbst mehrfach hinweist — noch andere Gründe. In den handschriftlichen Notizen für einen Aufsatz über Whitney, die von den Herausgebern des „Cours" für den Anfang des 3. Kapitels der Einleitung verwendet wurden, bemerkt Saussure: „Was ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft — wenn wir ihn vollständig u n d konkret bestimmen wollen? Diese Frage ist besonders schwierig ... (...) Andere Wissenschaften befassen sich mit Gegenständen, die von vornherein gegeben sind und die man nacheinander unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten kann. Ganz anders auf unserm Gebiet. Es spricht jemand das französische Wort ,nu' aus: ein oberflächlicher Beobachter wäre versucht,

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darin ein konkretes Objekt der Sprachwissenschaft zu erblicken; aber eine aufmerksamere Prüfung läßt darin nacheinander drei oder vier verschiedene Dinge erkennen, je nach der Art, wie man es betrachtet: als Laut, als Ausdruck einer Vorstellung, als Entsprechung des lateinischen ,nudum' usw. Man kann nicht einmal sagen, daß der Gegenstand früher vorhanden sei als der Gesichtspunkt, aus dem man ihn betrachtet; vielmehr ist es der Gesichtspunkt, der das Objekt erschafft ..." (Saussure 1922, 23; dt. 1967, 9; vgl. auch Saussure 1922, 146-149; dt. 1967, 124-127). Die genaue Bestimmung der Begriffe, die in der linguistischen Argumentation enthalten sind, ist also nicht nur Pedanterie oder eine individuelle Forderung nach Strenge, sondern eine Notwendigkeit, die mit der Natur der Disziplin selbst zusammenhängt. Diese Begriffe und diese in den Begriffen implizierten Standpunkte sind die wesentlichen Komponenten, die die Beschaffenheit des Untersuchungsobjekts ausmachen. Von dieser Uberzeugung her rührt die scharfe Polemik Saussures gegen die Schlamperei der herrschenden Linguistik und gegen deren Abneigung gegen allgemeine und Methodenprobleme : „So arbeitet die Sprachwissenschaft immerzu mit Begriffen, die von Grammatikern gebildet sind und von denen man nicht weiß, ob sie wirklich den gestaltenden Faktoren des sprachlichen Systems entsprechen." (Saussure 1922, 153; dt. 1967,130). Auf diese Weise stellt sich für Saussure seit 1894 das Problem, das nach dem treffenden Urteil von Godei (1957, 136) den „Knoten" von Saussures Denken darstellt. Es ist dasselbe Problem, das Aristoteles im 4. Buch der Metaphysik exponiert - die Schlüsselfrage einer jeden Betrachtung und Analyse der sprachlichen Fakten. Es besteht darin, zu bestimmen, was ein Wort zu einem Wort, ein Satz zu einem Satz, irgendeinen sprachlichen Ausdruck zu einem sprachlichen Ausdruck macht. Für Saussure, der als historischer Linguist die diachrone Analyse kannte und gleichzeitig die synchrone Linguistik begründete, hat dieses Problem zwei Dimensionen — eben eine diachrone und eine synchrone. In der diachronischen Linguistik ist beispielsweise davon die Rede, daß das lateinische Wort „cantare" zu frz. „chanter" oder lat. „calidus" zu frz. „chaud" wird. Eine Behauptung dieser Art ist nur dann möglich, wenn man unterstellt, daß es hier eine Kontinuität von „cantare" zu „chanter", von „calidum" zu „chaud" gibt; und um sagen zu können, daß eine Entität sich so verändert, muß notwendigerweise in dieser Entität irgend etwas identisch geblieben sein (Saussure 1900, 5 5 - 5 8 ; 1922, 249; Godei 1957, 68). Bei der verbreiteten Oberflächlichkeit sprechen wir in der Linguistik

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von Phänomenen, die zwischen diesen und jenen Ausdrücken (termes) statthaben, als ob diese Ausdrücke irgendwelche sichtbaren und nicht weiter zu bestimmenden Gegenstände wären, als ob diese Ausdrücke selbst nicht zuerst bestimmt werden müßten. Dies ist eine Fiktion. Dies genau ist der heikelste Punkt der Linguistik: sich darüber klar werden, was die Existenz irgendeines Ausdrucks ausmacht, denn keiner ist uns wie eine Art Entität völlig klar gegeben, es sei denn durch unsere Einbildung, die uns die Gewohnheit verschafft (handschriftliche Notiz, zit. bei Godei 1 9 5 7 , 4 8 ) .

Dasselbe Problem taucht aber auch in der synchronen Dimension auf: „worauf soll die Identität (...) eines Worts ( M e s s i e u r s ) beruhen, spricht man es zweimal aus?" (Godei 1957,68). Obgleich die drei Herausgeber des „Cours" die Analyse dieses Problems in zwei verschiedene Lehrstücke — nämlich in die synchrone und in die diachrone Analyse — aufgespalten haben (Saussure 1922, 150ff.; 249ff.), war sich Saussure selbst der grundlegenden Identität des Problems in beiden Dimensionen wohl bewußt und behandelte es von Anfang an wie auch später in der zweiten Vorlesung unter beiden Aspekten (Saussure 1900, 55—58; Godei 1957,69). Vor Saussure (und manchmal auch, wie wir sehen werden, nach ihm) gab es zwei verschiedene Wege, das Problem der Identität der linguistischen Form zu lösen. Einen formalistischen Weg, den Saussure als den von den Linguisten bevorzugten Weg einschätzte, und einen inhaltlichen Weg, den die „Philosophen" einzuschlagen pflegen, wie Saussure schon in seiner Schrift über Whitney schrieb. Die formalistische Position beinhaltet folgendes: die Identität einer sprachlichen Form wird durch die Identität oder Ähnlichkeit ihres akustischen Materials garantiert. Wie wir sehen werden, hat der semantische Skeptizismus des 20. Jhs. viele Linguisten dazu veranlaßt, diese Position explizit zu vertreten. Diese Position ist freilich äußerst schwach. Wenn die Identität durch akustische Kriterien gegeben sein soll, dann gilt der Einwand, daß zwei sprachliche Formen (Sätze, Wörter, Laute), so ähnlich sie sich sein mögen, akustisch weder exakt identisch sind noch sein können. Das, was wir „derselbe Satz", „dasselbe Wort" oder „derselbe Laut" nennen, ist, rein phonetisch betrachtet, in zwei verschiedenen Äußerungen niemals identisch. Weder vom synchronischen noch vom diachronischen Standpunkt aus kann der Grund für die Identifikation mit rein phonetischen Kriterien angegeben werden. Saussure (Godei 1957,69 Anm. 64) hat, genauso wie Croce (Hall 1957,60), sehr genau erkannt, daß dies ein gutes Argument für die Nichtidentifizierbarkeit sprachlicher Formen darstellt. Die Unwiderlegbarkeit dieses Arguments führt notwendigerweise dazu, die formalistische Lösung fallen zu lassen. Die Polemik Saussures gegen das ungebrochene Vertrauen

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der Linguisten in die „phonische Substanz", sein sog. Antisubstantialismus, hat ihre Wurzel in dieser Zurückweisung. Die inhaltliche Position, dem Methodenpostulat der herrschenden Linguistik entgegengesetzt, beinhaltet folgendes: zwar ist es richtig, daß ein Wort akustisch betrachtet niemals als Identisches wiederholt wird, weder in der Synchronie und noch weniger in der Diachronie; dennoch ist es und bleibt es dasselbe, weil es immer dasselbe Ding denotiert und immer dieselbe Vorstellung ausdrückt und also, was immer man als das Signifikat definiert, immer dasselbe Signifikat hat (Godei 1957, 45). Dies ist wohlgemerkt die Lösung, die von Aristoteles bis Wittgenstein vorherrscht: was eine Form zu dem macht, was sie ist, ist ihre semantische Verbindung mit dem Designat, und in dieser Stabilität der Verbindung sah Aristoteles die radikale Widerlegung der skeptizistischen Einwände gegen das Prinzip der Identität. Aber auch diese These der „Philosophen und Logiker" erscheint Saussure in ihrer ganzen Schwäche. Die These wäre gültig, wenn wir das Signifikat wahrnehmen und gleichsam fassen könnten unabhängig von der Form, die es ausdrückt: die Sprache wäre dann aber - ganz abgesehen von der psychologischen Schwierigkeit einer solchen Operation (Benveniste 1939, 25) — eine bloße Nomenklatur. Saussure scheint die Kritik nicht zu kennen, die von empiristischen Philosophen, von Vico und von Leibniz im 17. und 18. Jh. an einer solchen Sprachkonzeption geübt worden war; deshalb schreibt er diese Konzeption pauschal den „Philosophen" zu. Aber er ist zu sehr Historiker, um die Substanz dieser Kritik nicht in seinen geistigen Habitus aufgenommen zu haben. Nicht nur die Lautformen, sondern auch die Signifikate selbst verändern sich, so daß das Band zwischen den lautlich-akustischen Entitäten und den Signifikaten „durch das Phänomen der Zeit den Veränderungen unterliegen, die die Logik nicht kalkulieren kann" (Godei 1957,45). Vor allem aber ist das Signifikat grundsätzlich außerhalb seines Bezugs zu einer bezeichnenden Form unerreichbar (Saussure 1922,98ff.; 155ff.; Godei 1957, 137 und 139f.). Die Ablehnung der formalistischen und der inhaltlichen Position und deren Art, das Problem der Identität zu lösen, führen Saussure zum Versuch einer dritten und neuen Lösung. Das Zeichen ist weder nur das Signifikat, noch nur das Signifikans, insofern wir ein solches Zeichen weder so noch so erfassen können. Ein Zeichen ist, wie andere in der Nachfolge Saussures behaupteten (Hjelmslev 1953, 36; Christensen 1961, 179ff.), die Synthese von Signifikans und Signifikat, ist „ein doppeltes Wesen, das aus einer Folge von Silben besteht, insofern man ihr eine bestimmte Bedeutung (signification déterminée) beilegt" (Saussure 1908/09, 24). Wenn man auch mit dieser Definition den circulus vitiosus durchbricht, in dem die gängigen Definitionen des Zeichens als Signifikans und die Definition des Signifikats befangen sind, so ist damit

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das Problem der Identität eines Zeichens noch nicht gelöst. Was garantiert, daß eine bestimmte Einheit von Silben und Signifikat dieselbe bleibt, solange Silben und Signifikat Veränderungen ausgesetzt sein können? Sicherlich „bringt es schon etwas", wenn man die Silben, das akustische Material, nicht als reale Basis nimmt, und wenn man ihnen das Signifikat als untrennbar hinzufügt; aber dies reicht nicht aus zur Lösung des Problems. Saussure unternimmt deshalb einen Lösungsversuch, indem er behauptet, daß die Realität, die Identität einer sprachlichen Einheit, ihr Wert ist. In der zweiten Vorlesung Saussures notieren sich Riedlinger und andere Studenten den folgenden Gedankengang: Wir sind auf einen Punkt zurückgekommen, den wir bereits berührt haben. Der Einfachheit halber macht M. de Saussure keinen grundlegenden Unterschied zwischen den folgenden fünf Dingen: Wert (valeur), Identität (identité), Einheit (unité), Realität (réalité) (im linguistischen Sinn: sprachliche Realität) und konkretem sprachlichen Element (élément concret linguistique). Damit es nicht den Anschein hat, wir zögen Außergewöhnliches heran, n e h m e n wir dieses Pferd des Schachspiels: ist es ein konkretes Element des Schachspiels? Sicherlich n i c h t , da es i n seiner Materialität allein, außerhalb seines F e l d e s und anderer Verhältnisse, etwas darstellt in Bezug auf die universale Materie, aber rein gar nichts in Bezug auf das Schachspiel. Was konkret ist, ist das Pferd s a m t s e i n e m Wert, mit dem es e i n s ist. Hat es Identität? Voll und ganz, insofern es einen Wert h a t . Festzuhalten ist, daß nicht nur jedes andere Pferd, sondern auch Figuren, die keinerlei Ähnlichkeit mit diesem Pferd aufweisen, als identisch für das Schachspiel erklärt werden können, vorausgesetzt, sie unterscheiden sich von allen anderen, und vorausgesetzt, sie haben denselben Wert. Daraus ersieht man, daß der Maßstab der Identität in den Systemen, von denen wir reden, nicht derselbe ist wie anderswo: man erkennt die Verbindung (lien) von Identität und Einheit, indem eins die Grundlage des anderen ist. (Saussure 1 9 0 8 / 0 9 , 48; Godei, 139).

Allein der Bezug auf die Identität oder die Unterschiedenheit des Werts erlaubt es, zwei Entitäten als homophon (frz. „pas" als Substantiv und als Negation) oder als Varianten ein und desselben Worts zu unterscheiden (Godei I.e.). Auf diese Weise wird das Problem der Identität jedoch nur ein weiteres Mal verschoben. Wenn nämlich die Klärung dessen, was die Identität ist, auf den Wert verlagert wird, muß darüber Klarheit herrschen, was der Wert einer Form ist. Um auf dieses Problem eine wirkliche Antwort zu finden, und nicht der abstrakten Forderung zu genügen, die Dinge in eine ideale Form zu bringen, entwickelte Saussure seine bekannteste Theorie: die Theorie des Systems. Die Idee, daß die sprachlichen Fakten von einem globalen Standpunkt aus in ihrer reziproken Gesamtheit betrachtet werden müssen, war bereits 101

von F. Schlegel, Humboldt und Pott nachdrücklich vertreten worden (Arens 1 9 5 5 , 1 3 9 , 1 5 0 , 212) u n d war auch innerhalb der positivistischen Linguistik vertraut (Sommerfeit 1952, 77ff.; Heilmann 1955, 136ff.; Lepschy 1961, 187f.). Saussure jedoch mißt dieser Idee eine entscheidende Rolle bei, sowohl bei der linguistischen Analyse spezieller, besonders semantischer Fakten, als auch in der allgemeinen linguistischen Theorie. Die Formulierung einer solchen Idee findet man in den Mitschriften verschiedener Studenten der zweiten Vorlesung über Allgemeine Linguistik: Die Psychologen oder Philosophen betrachten die Sprache als Nomenklatur (wenigstens ist dies in der Praxis der Fall) und u n t e r s c h l a g e n so d i e reziproke Bestimmtheit der W e r t e der Sprache d u r c h eben i h r e Koexistenz. Ein Zeichen nennt die Idee, hängt von einem Zeichensystem ab (und das wird vernachlässigt), alle Zeichen sind solidarisch. Alle Größen hängen voneinander ab: will man so bestimmen, was im Französischen Jugement' ist? Man kann es nur bestimmen durch das, was es umgibt, sei es u m zu sagen, was es ist, sei es um zu sagen, was es nicht ist. Dasselbe gilt, will man es in eine andere Sprache übersetzen. V o n hier aus ergibt sich die Notwendigkeit, das Zeichen, das Wort, im Gesamt des Systems zu betrachten. Ebenso existieren die S y n o n y m e .craindre, redouter 1 nur eins neben dem anderen, eins durchs andere; ,craindre' würde den ganzen Inhalt von .redouter' mit aufnehmen, wenn .redouter' nicht existierte. Aber mehr noch: ,chien' würde den Wolf bezeichnen, wenn das Wort ,loup' nicht existierte. Das Wort hängt also vom System ab; es gibt keine isolierten Zeichen. Also: aus den Augen verlieren, daß es nur ein S y s t e m von Zeichen zu untersuchen gibt, heißt leicht die wahre Methode der Semeologie verfehlen. (Saussure 1 9 0 8 / 0 9 , 20f.)

Man wird in der Geschichte der Linguistik kaum etwas finden, was sich an Bedeutung mit der vollständig bewußten Aufnahme der Systemidee vergleichen läßt. Als Beleg für diese Behauptung ist Meillet herangezogen worden (Morpurgo 1 9 6 0 , 4 6 0 f . ) , der, nachdem er den „Cours" kennengelernt hatte, erklärte, er müsse sein Hauptwerk nochmals neu schreiben. Einen weiteren Beleg liefert Leroy, der die Geschichte der Linguistik in zwei Abschnitte aufteilt: in einen vor u n d in einen nach Saussure. Tatsächlich würde eine Linguistik, die ihren Gegenstand untersuchen wollte, ohne die Saussuresche Erfahrung verarbeitet u n d bis zu Ende gedacht zu haben (selbst um sie zu korrigieren oder zu widerlegen) — eine solche Linguistik würde sich zur Saussureschen Linguistik verhalten wie das dümmliche Schwatzen über das Einkommen des Nachbarn zur ökonomischen Analyse. Und dennoch war der erste, der sich mit dieser Idee, mit der ihr zuerkannten Rolle u n d mit ihrer Konzeption nicht zufrieden gab, Saussure selbst. Godei (1957, 139ff.) hat minutiös die verschiedenen Formulierungen des Systembegriffs bei Saussure untersucht: man findet in ihnen — daran ist kein Zweifel — Zögern und Zurückhaltung. Diese Haltung Saussures ist gut motiviert. Der strenge Genfer 102

Linguist k o n n t e sich nicht mit der Lösung zufriedengeben, die die Einfuhrung des Systembegriffs für das Problem des Werts u n d damit für das Problem der Identität einer sprachlichen Form anzubieten schien.

3. Die Rationalität des Systems und das Mysterium der Kommunikation Wenn der Wert u n d damit die Identität und die sprachliche Brauchbarkeit einer Form vom System abhängen, in dem die F o r m ihren Platz hat, dann führt dies zu verschiedenen Antinomien und Paradoxien. Eine Antinomie ist sicherlich von Saussure selbst vorausgesehen worden. Einerseits m u ß man zugestehen, daß eine sprachliche Form außerhalb ihrer Beziehungen zu den anderen Formen des Systems ihre Spezifität verliert; andererseits aber ist es unmöglich, diese Beziehungen ohne Rückgriff auf die Formen, zwischen denen diese Beziehungen bestehen, festzuhalten und zu erfassen. Man definiert die Formen aufgrund ihrer Beziehungen zueinander, aber die Beziehungen können nur definiert werden, wenn zunächst die Formen definiert sind. „Die Linguistik ist damit in einem Zirkel befangen" (Godei 1 9 5 7 , 2 2 1 ) . Zu dieser von Godei festgestellten Antinomie gesellt sich das Paradoxon, das M. Lucidi aus der Systemidee Saussures ableitet. Dieses Paradoxon hat auch einen psychologischen Aspekt. Wie Godei gezeigt hat, beabsichtigte Saussure in keiner Weise eine rein philosophische Untersuchung der Sprache; er wollte vielmehr die „Philosophie der Linguistik" untersuchen, deren Ausgangs- u n d Endpunkt die Methoden sein sollten, mit denen der Linguist bei der Erforschung der Sprache arbeitet bzw. arbeiten muß. Seit einem Jahrhundert erforschte man die Sprache im wesentlichen unter diachronischen Gesichtspunkten. Saussure war quasi darin aufgewachsen, und das ursprüngliche Ziel seiner Überlegungen zum Problem des konkreten Gegenstandes linguistischer Untersuchung war es, wie der Brief an Meillet von 1894 zeigt, die Methoden dieser Untersuchungen strenger und besser zu machen. Das Paradoxon, das Lucidi feststellt, folgt gerade aus der Unterstellung, eine diachronische Untersuchung der sprachlichen Fakten sei möglich. Der Wert und, ihm nachgeordnet, das Signifikat eines Wortes sind ganz und gar eine Funktion des Systems, von dem das Wort ein Teil ist. Saussure hat daran keinen Zweifel gelassen u n d auch nicht lassen wollen. ... kein System ist so geschlossen wie die Sprache: geschlossen impliziert P r ä z i sion d e r W e r t e (die geringste Nuance verändert das Wort); V i e l z a h l der A r t e n von Werten; ungeheure Vielzahl von Termini (termes), E i n h e i t e n im Spiel im System; reziproke und strikte

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Abhängigkeit der Einheiten voneinander: alles ist syntaktisch in der Sprache, alles ist ein System. (Saussure 1908/09, 69)

Die Konsequenz aus dieser Konzeption der sprachlichen Einheit u n d des Systems ist, daß sich das ganze System und mit ihm jede Einheit verändern, wenn nur ein einziges Element dem System hinzugefügt oder aus ihm herausgenommen wird. Saussure hat diese Konsequenz in der folgenden Feststellung festgehalten: wenn man die Sprache um ein einziges Zeichen vermehrt, verringert sich die Bedeutung aller anderen Zeichen (Saussure 1 9 0 8 / 0 9 , 6 9 ) .

Wer also im Lautkörper eines Wortes oder in seinem Signifikat einen festen Bezugspunkt findet, um eben dieses Wort zu bestimmen, kann diese Konsequenz leicht akzeptieren. Aber wenn man wie Saussure zur Bestimmung eines Wortes nur den Bezug zuläßt, den das Wort zu den anderen Wörtern des Systems hat, dann hat dies schwerwiegende Folgen. Es bedeutet, daß es nichts konkretes Sprachliches gibt, was bei der Veränderung eines sprachlichen Systems oder einer sprachlichen Einheit bestehen bleibt, und daß daher der Begriff der Veränderung selbst nicht mehr möglich ist. Vom rigorosen Saussureschen Standpunkt aus ist die Rede, daß das altitalienische Wort „ g a t t a " im modernen Italienisch eine Bedeutungsveränderung erfahren habe, weil daneben eine Form „gatto" entstanden sei und „gatta" jetzt nur noch den weiblichen Teil der Spezies „Katze" bedeute, ebenso unsinnig wie wenn man sagen würde, daß das altitalienische „gatta" eine Bedeutungsveränderung erfahren habe, weil es zum Wort „tavola" des modernen Italienisch geworden sei: die Verschiedenheit der lexikalischen Inventare des alten und des modernen Italienisch genügt, um zwei Formen, so offensichtlich sie einander ähnlich sind, absolut unvergleichbar zu machen. Setzt man ein verändertes System voraus, dann steht das Wort „gatta" des alten Italienisch hinsichtlich der diachronen Kontinuität zu dem modernen Wort „gatto" in keiner engeren Beziehung als zu den Wörtern „tavola", „sedia" oder „dinosauro". Die Saussuresche Bestimmung der sprachlichen Einheit und des sprachlichen Systems, die gerade aus der Notwendigkeit geboren wurde, die Prozeduren der diachronen Linguistik zu erhellen, läuft darauf hinaus, daß es unerklärbar wird, wie Vergleiche und Bezüge zwischen zwei aufeinanderfolgenden Phasen desselben Elementes oder eines ganzen sprachlichen Systems möglich sind. Nach Lucidi waren es vor allem das Bewußtsein dieser Schwierigkeit und das daraus folgende Dilemma (nämlich entweder die Definition des Systems oder die Möglichkeit einer diachronen Linguistik aufzugeben), die Saussure daran gehindert haben, seine Ideen in definiter Weise zu veröffentlichen. Und

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vielleicht Schloß Saussure seine Lektion über das Verhältnis von synchroner und diachroner Untersuchung gerade deshalb mit den Worten: Das alles ist nicht dunkel gewesen, es ist aber auch nicht vollständig aufgeklärt worden. (Saussure 1908/09, 71)

Aus den Ideen Saussures läßt sich aber nicht nur die von Lucidi aufgezeigte paradoxe Konsequenz ziehen. Dieses Paradoxon stellt die „normale" Arbeit des Linguisten radikal in Frage: es macht sie unerklärbar. Es wiegt schwer, besonders fur den Linguisten Saussure, ist aber dennoch nur ein untergeordnetes Problem. Das Paradoxon verdeckt eine Konsequenz, die sehr viel schwerer wiegt, denn sie stellt mehr in Frage als nur die Methode e i n e r Forschungsrichtung. Saussure selbst betont mehrmals, daß das Problem der diachronen Identität des Sprachzeichens — das Problem, wie lat. „calidus" mit ital. „caldo" oder frz. „chaud" identifiziert werden kann — nur eine etwas kompliziertere Variante des Problems der synchronen Identität des Sprachzeichens darstellt — des Problems, wie „Messieurs" und „Messieurs", zweimal hintereinander ausgesprochen, identifiziert werden können (Saussure 1900,58; 1908/09,38f.; 1922, 249f.; Godei 1957,138). Danach ist zu vermuten, daß auch das von Lucidi aufgezeigte Paradoxon eine einfachere synchrone Variante zuläßt. Ein wenn auch noch so geringer Unterschied im Wortschatz zweier Individuen (und man weiß sehr gut, daß solche Unterschiede gewöhnlich nicht gering, sondern ziemlich groß sind; Miller 1956, 165—70) müßte notwendig bedeuten, daß zwei Individuen immer verschiedene Sprachen sprechen. Dieser Schluß ist unabwendbar, bleibt man den Saussureschen Prämissen treu. Läßt man einmal die unrealistische Möglichkeit, daß der Wortschatz zweier Personen ganz und gar übereinstimmt, beiseite, dann sind selbst die Wörter, die aufgrund ihrer lautlichen Ähnlichkeit und/oder ihrer Referenz auf annähernd dieselben Objekte äußerlich dieselben scheinen, in Wirklichkeit Wörter mit verschiedener Bedeutung (significato), da sie in verschiedenen Beziehungsstrukturen ihren Stellenwert haben. Man versteht jetzt sehr gut, warum Saussure in der Vorlesung vom 30. November 1908 nach dem Tadel für die traditionelle Linguistik, sie arbeite mit „schlecht definierten Einheiten", nach der Feststellung, daß die Aufgaben der Linguistik just in der Definition solcher Einheiten bestehe, und nach der Behauptung, daß nur mittels dieser Einheiten „Laut und Gedanke" als „zwei amorphe Massen" sich verbinden und sich zu einer Ordnung formieren können, den Schluß zog, daß die Beziehung zwischen der Ebene der Signifikate und der der Formen „etwas Mysteriöses" an sich habe. Und so ist tatsächlich die Einsamkeit, die Alleinheit des Sprechenden, der sprachliche 105

Solipsismus, der explizit vom konservativen „Philosophen" Wittgenstein festgestellt wird, nicht nur in der Sprachphilosophie des Idealisten und Spiritualisten Croce enthalten, sondern auch in der Allgemeinen Linguistik des Positivisten Saussure. Auch der Saussuresche Sprecher reiht Wort an Wort, und jedes hat seine vollständige Bedeutung; aber auch der Saussuresche Sprecher weiß nicht, wie er es erreichen soll, daß eine solche Bedeutung (significato) sich anderen Menschen übermittelt. Im Gegenteil, alles deutet daraufhin, daß er anderen Individuen eine Bedeutung überhaupt nicht übermitteln kann, sondern nur die Lautschwingungen seiner Wörter. Danach scheint wieder nur das Zugeständnis möglich, daß der Schatten des Mysteriums sich über den Kommunikationsprozeß legt, ganz gleich, ob man diesen mit den Augen Wittgensteins, Croces oder Saussures betrachtet.

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VI. Der semantische Skeptizismus

1. Der methodische Skeptizismus von Harris So scheinen verschiedene Wege zum gleichen Ziel zu führen. Man folgt einem Weg, der bezeichnet ist durch die traditionellen aristotelischen, scholastischen und rationalistischen Vorstellungen von der Sprache, wie das der frühe Wittgenstein tat; oder man verläßt diesen Weg zugunsten eines anderen, der die Sprache als konkrete Bedingung allen Sprechens leugnet und im einzelnen Akt des Ausdiucks die Gewähr für seine Bedeutungshaftigkeit sieht; oder man begibt sich schließlich auf einen Weg, der dieselbe Garantie nicht aus der Zugehörigkeit der linguistischen Form zu einem universellen System von Bedeutungen und Kategorien u n d auch nicht aus der expressiven Kraft des einzelnen sprachlichen Aktes hernimmt, sondern aus der Existenz geschichtlich bestimmter, geschlossener sprachlicher Systeme, innerhalb derer die sprachlichen Zeichen und die Sätze zu analysieren sind und ihren Wert haben: in allen diesen Fällen scheint die letzte Konsequenz immer dieselbe zu sein. Wenn man über die einfache Analyse der Formen, sei sie nun synchron oder diachron, hinausgeht und die Bedeutungen erforschen will, verwickelt man sich in Antinomien und verfällt, ob man will oder nicht, auf Schlußfolgerungen, die auf das Zugeständnis der Unmöglichkeit zu kommunizieren hinauslaufen oder gerade die Vorgänge, die man untersuchen wollte, als irreal ausweisen. Ob bewußt und beabsichtigt oder nicht, der fiühe Croce sowohl als der frühe Wittgenstein und auch Saussure haben die Uberzeugung bestärkt, daß es vernünftiger sei, jeder Erörterung semantischer Aspekte der Sprache aus dem Wege zu gehen, und haben damit die Tendenz zur semantischen Skepsis, die in der Sprach- und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts umgeht, noch verstärkt. Ein Philosoph hat geschrieben, daß das Problem der Bedeutung d a s Problem des 20. Jahrhunderts sei (Henle 1954,25). Das scheint übertrieben, da, wie wir sahen, die ganze abendländische philosophische Tradition von Aristoteles bis Kant das Problem der Bedeutung keineswegs vernachlässigt hat, vielmehr die historische Sprachwissenschaft gerade unter dem Aspekt der

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geschichtlichen Bedeutungsanalyse herangewachsen und -gereift ist von Leibniz über Schlegel und Humboldt, ehe sie dann der formalistischen Krise in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Opfer fiel. Das 20. Jahrhundert kann die Vaterschaft nicht für das Bedeutungsproblem selbst, wohl aber für die Skepsis gegenüber der Bedeutung beanspruchen. Der semantische Skeptizismus kannte über Jahrhunderte hinweg nur sporadische Vorläufer und wird erst im 20. Jahrhundert zu einer allgemeinen Tendenz, einer geistigen Stimmung, von der ein guter Teil der kulturellen u n d künstlerischen Produktion des Jahrhunderts lebt. Um ihn genauer zu charakterisieren, kann man sagen, daß der semantische Skeptizismus sich in zwei ziemlich voneinander verschiedenen Formen präsentiert, die sich gegenseitig ignorieren·, einmal in der sich technisch gebenden, rationalen, dem äußeren Anschein nach sogar mathematischen Form dessen, was wir den methodischen Skeptizismus nennen wollen (ein ansehnlicher Teil der heutigen Linguistik gehört dazu), und zum anderen in der irrationalen, literarischen, mystischen Form des existentiellen Skeptizismus. Der methodische Skeptizismus hat vor allem im Umkreis der Linguistik F u ß gefaßt und auch in verwandten Gebieten eine günstige A u f n a h m e gef u n d e n : neben einigen Mathematikern u n d Informationstheoretikern (Mandelbrot, 1957, 12, 73) sind seine Theoretiker vor allem Phonologen und distribu tionelle Linguisten (Bloch, 1948;Harris, 1951;Antal, 1963). Die eben genannten Linguisten zeigen zwar gegenüber der von ihnen als traditionell bezeichneten Linguistik oder der wegen ihres Übergewichts der komparativen und diachronen Untersuchung historisch genannten Linguistik wenig Wohlwollen, es steht jedoch außer Frage, daß sie in ihren Theorien die antisemantische oder asemantische Haltung explizieren und in eine zusammenhängende und überzeugende Form zu bringen versuchen, eine Haltung, die bekanntlich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den größten Teil linguistischer Forschung bestimmt. Man sagt bis heute, daß es der Behaviorismus gewesen sei, der einem solchen Skeptizismus mit seiner Scheu vor allem, was man „nicht sehen, nicht berühren, nicht fühlen" k a n n , den Boden bereitet hat. Mit seiner Neigung, nur das als „wissenschaftlich" zu bezeichnen, was sinnlich wahrnehmbar ist, hat er sicherlich alle diejenigen Untersuchungen, die nicht allein der Form, sondern den Funktionen der linguistischen Form galten, wenig ermutigt (Titone, 1963,13). Infolge dieser Beurteilung hört man häufig, daß diese antisemantische Haltung „amerikanisch" sei, aber dies ist nicht völlig korrekt. Vor allem, weil nicht alle nordamerikanischen Linguisten diese Haltung teilen — viele von ihnen kritisieren sie —, u n d dann, weil der semantische Skeptizismus der Linguisten sich in einer viel präziseren und entwickelteren Weise ausdrückt, als der amerikanische Behaviorismus alter Art. 108

Nicht ohne Grund wird der linguistische Skeptizismus „methodisch" genannt. Damit soll nicht behauptet werden, wie Watson das tut, daß die Bedeutung nicht existiert; man will nur etwas vorsichtiger darauf hinweisen, daß die Signifikate im Unterschied zu den Signifikanten keine vergleichbar gesicherte und strenge Beschreibung erlauben. Die Anhänger dieser linguistischen Richtung richten ihre Forschung auf die Inventarisierung sprachlicher Erscheinungen (utterances) einer Sprachgemeinschaft, auf die „Segmentierung" dieser Erscheinungen in „Morpheme", aus denen sie zusammengesetzt sind, und schließlich die weitere Segmentierung dieser Morpheme in Phoneme, und die Auflistung und systematische Beschreibung der so erhaltenen Morpheme und Phoneme unter besonderer Berücksichtigung ihrer „Distribution", d.h. ihrer möglichen Verteilung innerhalb von Äußerungen. Damit wäre die Aufgabe einer wissenschaftlichen Linguistik erschöpft, ohne daß bei einem dieser Schritte ein Rückbezug auf die so ungewisse Bedeutung erforderlich wäre. Gegen dieses Forschungsprogramm sind verschiedene Einwände vorgebracht worden. Der erste Einwand besteht darin, daß es bisher niemandem gelungen ist, eine Sprache zu analysieren und dabei Punkt für Punkt das formalistische Analyseprogramm zu berücksichtigen. Selbst der größte Theoretiker dieser Schule, Harris, hegt Zweifel gegenüber der wirklichen Realisierbarkeit des formalistischen Programms (Mounin, 1963, 32—35), d.h. gegenüber der Möglichkeit einer Sprachbeschreibung ohne jeden Rückbezug auf die Bedeutung. Das beweist jedoch noch nicht die Unausführbarkeit des Programms. Dazu bedarf es anderer Einwände. Der erste Einwand betrifft die Unmöglichkeit, ein Inventar der utterances, der Sätze einer Sprache, ohne ausdrücklichen oder stillschweigenden Rückbezug auf die Bedeutung zu verfertigen. Wie unterscheidet man überhaupt bei den lautlichen Erscheinungen die sprachlichen von den nichtsprachlichen? Wenn man wirklich von jeder Berücksichtigung der Bedeutung absehen würde, „läuft man Gefahr, am Ende nicht einen Satz, sondern eine beliebige andere und möglicherweise weniger kultivierte mündliche Äußerung segmentiert zu haben" (Belardi, 1959, 127). Der Rückbezug auf die Bedeutung ist jedoch nicht nur während der ersten Untersuchungsphase notwendig, d.h. in dem Augenblick, wo der formalistische Linguist entscheiden muß, ob er eine gewisse Lauterscheinung in die Zahl sprachlicher Erscheinungen aufnehmen will oder nicht. Er ist ebenso unverzichtbar in der zweiten Phase, in der die verschiedenen sprachlichen Erscheinungen als Exemplare (token) des gleichen Satzes identifiziert werden müssen. Wenn man einen Rückbezug auf die Bedeutung völlig aufgibt, kann man unmöglich behaupten, daß der Satz „die Katze hat das Fleisch gefressen", 109

wenn er hastig oder wenn er langsam und deutlich gesprochen wird, wenn er geschrien oder wenn er leise geflüstert wird, wirklich „derselbe Satz" ist. Unter strikt akustischen Gesichtspunkten ist zweifelsohne der leise von einem jungen Mädchen geflüsterte Satz „die Katze hat das Fleisch gefressen" dem vom selben Mädchen leise geflüsterten Satz „die Katze hat das Fleisch gefressen" sehr viel ähnlicher, als der Satz „die Katze hat das Fleisch gefressen", der von einem Opernsänger mit Baritonstimme schnell gerufen wird. „Ohne jede Berücksichtigung der ... Bedeutung" (Bloch, 1948, 5) ist nicht einzusehen, mit welchen Mitteln man feststellen kann, daß der erste Satz des Mädchens „derselbe Satz" ist, den der Bariton äußert, und nicht vielmehr „derselbe", den das Mädchen beim zweiten Mal aussprach, und der ihm ohne Zweifel unter phonetisch-akustischen Gesichtspunkten sehr viel ähnlicher ist. Auf diesen Einwand haben die Formalisten jedoch eine Antwort. Um herauszufinden, welche der drei Sätze demselben Typ angehören und welche nicht, können sie, ohne auf die ungeliebte Bedeutung zurückzukommen, sich darauf beschränken, die „native speaker" zu befragen, das hieße im hier vorgestellten Fall, das junge Mädchen und den Opernsänger mit der Baritonstimme, und so das Problem eiligst wie einen ungedeckten Scheck einfach weiterreichen. Auf diese Art erfährt der Linguist aus den Antworten der ,.native speaker", ohne einen semantischen Fehltritt zu begehen, ob bestimmte Lautäußerungen derselbe Satz sind oder nicht sind. Offensichtlich handelt es sich hierbei nicht darum, den Rückgriff auf die Bedeutung zu vermeiden, sondern die mit ihm verbundenen Schwierigkeiten auf die befragten Sprecher abzuwälzen. Der Bedeutungsbezug, von wem auch immer vorgenommen, bleibt eine unausweichliche Voraussetzung fur eine Analyse des Inventars sprachlicher Formen. Selbstverständlich kann und muß man diesen Einwand gegenüber den Formalisten auch erheben, wenn sie von der Feststellung einzelner Sätze zur Identifizierung der kleineren Einheiten, aus denen sie bestehen, der Wörter und Phoneme fortschreiten. Wenn man die Bedeutungsfunktion unberücksichtigt läßt, dann ist nicht zu sehen, auf welche Weise man feststellen kann, daß italienisch „e" und „ed", „a" und „ad", „bei" und „begli", „devo" und „debbo" Varianten desselben „Morphems"' sind, desselben Wortes, während „su" und ,,sud", „mai" und „magli", „savia" und „sabbia" Paare verschiedener Morpheme darstellen. Und erst dann, wenn man auf der Basis ihrer semantischen Leistungen die Identität eines jeden Morphems einer Sprache definiert hat, kann man feststellen, ob zwei kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten zwei Phoneme darstellen oder Varianten desselben Phonems sind: zwischen dem dentalen „r", das die Mehrheit der Italiener spricht und dem uvularen, „französischen" „r" oder dem spirantisierten „r", das einige 110

andere sprechen, besteht ein Unterschied, den man mit demjenigen vergleichen kann, der „ d " von „ g " und von „v" trennt. Warum hält man die drei verschiedenen lautlichen Einheiten im ersten Fall für Varianten desselben Phonems, u n d warum spricht man im zweiten Fall von drei verschiedenen Phonemen? Die Begründung ist, daß die drei Formen von „rana", wie immer man den Anlaut ausspricht, solange dasselbe Wort repräsentieren, wie man in ihnen dieselbe Bedeutung erkennt. „Dai", „gai" und „vai" (Formen, die sich nicht mehr u n d nicht weniger als „rana" in seinen verschiedenen Aussprachen voneinander unterscheiden) werden wegen der Verschiedenheit ihrer Bedeutung als drei verschiedene Wörter erkannt. Die Behauptung Saussures (Godei, 1 9 5 7 , 6 8 ) und Bloomfields (1933, 27), der zufolge es unmöglich ist, die linguistischen Einheiten zu bestimmen und abzugrenzen, ohne auf die Bedeutung einzugehen, wird immer wieder durch neue Argumente gestützt u n d von vielen geteilt (Voegelin, 1948; Hall, 1950, 288; Martinet, 1950, 8 4 f f . ; Frei, 1954, 1 3 6 f f . ; Hockett, 1958, 137ff.; Bellardi, 1959, 127ff.; Carroll, 1959, 28). Man könnte also sagen, daß der semantische Skeptizismus der Formalisten eine Haltung ist, dergegenüber viele zeitgenössische Linguisten die Wichtigkeit der Bedeutung betont haben, nachdem sich die Sprachwissenschaft nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer langen asemantischen Phase befunden hatte. Diese Feststellung hat jedoch, auch nachdem sich eine wissenschaftliche Semantik etabliert hat, nur einen begrenzten Wert. Wie Hockett richtig beobachtet hat, warf man den Distributionalisten nur vor, auf den Bedeutungsbezug als heuristisches Mittel für die Aufstellung und Beschreibung des Inventars linguistischer Formen verzichten zu wollen, aber was für die Formalisten das einzige Ziel der Sprachwissenschaft war, die bloße Formanalyse nämlich, bleibt auch für diejenigen Linguisten bevorzugtes Forschungsziel, die den Formalismus für „übertrieben" halten. Mit anderen Worten, die Aussage, daß es notwendig sei, die Bedeutung zu berücksichtigen, hat nicht gleich zur Folge, daß die semantischen Aspekte der Sprache zum Gegenstand geschichtlicher u n d theoretischer Untersuchungen gemacht werden. N i m m t man sich einige konkrete Fälle vor, so findet man bestätigt, daß diejenigen, die gegen den linguistischen Formalismus polemisierten, ihrer Polemik keineswegs semantische Untersuchungen folgen ließen: André Martinet gehört zu den schärfsten Kritikern des Formalismus, aber seine Hauptarbeit ist die „Economie des changements phonétiques"; Hall bietet ein beachtliches Beispiel amerikanischer Linguistik, die sich dem als amerikanisch geltenden Formalismus widersetzt, aber seine grundlegende deskriptive Grammatik des Italienischen übergeht eine Untersuchung der Bedeutungsaspekte der grammatischen u n d lexikalischen F o r m e n ; Belardi führt seine Kritik am Formalismus in seinem Hauptwerk aus, das nicht etwa

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eine semantische, sondern eine phonologische Abhandlung ist. Phonologie und synchrone sowie diachrone Morphologie sind immer noch die bevorzugten Studienobjekte der Sprachwissenschaft. Wie viele andere, so spricht auch Antal (1963, 7ff.) vom Beginn des Strukturalismus als dem Anfang einer neuen Ära, da an die Stelle komparativer und diachroner Untersuchungen synchrone getreten seien. Wir wollen diesen Wechsel nicht unterbewerten; was aber die Mißachtung des semantischen Aspekts der Sprachen angeht, so schließt die neuere synchrone Linguistik strukturalistischer oder distributionalistischer Spielart nahtlos an die Sprachwissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an (De Mauro 1963, „Becher"). Es steht außer Zweifel, daß der Formalismus, obwohl er auf der Ebene abstrakter Argumentationen das Nachsehen hat, den linguistischen Forschungsalltagvöllig beherrscht; und dies wird so bleiben, bis ihm nicht nur Argumente entgegengesetzt werden, sondern auch etwas viel Mühsameres und Langwierigeres, nämlich die Entwicklung der für das Studium semantischer Prozesse notwendigen begrifflichen Voraussetzungen, ihre theoretische und historische Untersuchung, kurz: der Aufbau eines angemessenen Komplexes von Forschung und Lehre im Gebiet der allgemeinen und historischen Semantik.

2. Die Inkommunikabilität Wenn die methodisch und philosophisch reflektierten Wissenschaften in ihrem praktischen Tun oder auch in ihrer Programmatik die historischen und theoretischen Probleme der Semantik auslassen bzw. sie auf der Basis von Voraussetzungen behandeln oder zu Ergebnissen kommen, die die sprachliche Kommunikation unerklärbar machen, dann kann man sich nicht wundern, wenn in Kunst und Literatur und im ganzen publizistischen Unterbau der Kultur des 20. Jahrhunderts das Thema der Inkommunikabilität anziehend erscheint, faszinierend und dominierend wird. Die Literatur der Inkommunikabilität hat sicherlich einen romantischen Ursprung. Aber in der romantischen Darstellung der Inkommunikabilität bleibt der Protagonist ein außergewöhnlicher Mensch, ein Genie: wie Faust gegenüber seinen Mitbürgern und dem Famulus Wagner, wie Peter Schlemihl, der seinen Schatten verkaufte und sich dann auslöste, die Sieben-MeilenStiefel anzog und die Welt erforschend nur noch einsamer wurde, wie Beethoven oder Florestano, der erzürnt ist über die zahlreichen Philister, die alle von sich sagen: „Ich liebe Beethoven", wie Don Juan allein im Schiff der Verdammten. Die Isolierung, die Unmöglichkeit zu kommunizieren, sind das aristokratische Privileg des außergewöhnlichen Menschen. 112

Anders erscheint das Bild, das Literatur u n d Kunst im 20. Jahrhundert zeichnen. Nicht Faust, sondern ein einfacher Bürger, der die Gesetze und Vorschriften achtet, spricht in einer Novelle Pirandellos zu seiner Frau über die Flüsse Lapplands, als sie sich mit ihm unterhalten will; u n d der arme Neapolitaner in der Komödie De Filippos, der mit den Seinen nur durch Trick-Track-Schießen und Feuerwerk „kommuniziert", hat niemandem seinen Schatten verkauft und hat auch keine Wunderstiefel an; die alltaglichen Engländer, die Konversation machen und ihre Gespräche mit einem Fugato von Worten u n d Silben beenden, die sinnlos m o n o t o n wiederholt werden, sind weder Musiker noch Genies; und die Angst der isolierten Einzelnen, die die Bilder Edward Münchs anfüllen, ist alltäglich. Die Inkommunikabilität ist ein Massendrama, quasi natürliche Bedingung des normalen Menschen, geradezu Ausdruck seiner Normalität. In diesem Sinn wird die Inkommunikabilität dargestellt in Ortega y Gassets „Aufstand der Massen": „ D u o si idem, non est idem". Diese Bedingung ist häufig theoretisch analysiert worden. Eine „anerkannte und weithin verbreitete" Argumentation (Black 1953, 2) vertritt zum Beispiel C.I. Lewis: Angenommen, ich hätte die Wahrnehmung, die ihr „rot" nennt, während ich etwas sehe, das ihr „grün" nennt und umgekehrt. Angenommen, mein Eindruck von unmittelbaren qualitativen Wahrnehmungen sei immer genau das Gegenteil von eurem Eindruck. A n g e n o m m e n , die Tonwahrnehmungen, die ihr durch den Gehörsinn erfahrt, wären identisch mit den Wahrnehmungen von Farbqualitäten, die ich mit dem Gesichtssinn erfahre. Da niemand direkten Zugang zum Wahrnehmungsapparat eines anderen hat und da die unmittelbare Wahrnehmung von rot oder von einem anderen Element C nicht mitgeteilt werden kann, wie können wir dann jemals herausfinden, ob diese Besonderheiten der Wahrnehmung des Einzelnen bestehen oder nicht? (Lewis 1 9 2 9 , 75)

Die Brauchbarkeit sprachlicher Reaktionen, die von Psychologen wie Guillaume herangezogen wurden, um die Introspektion durch irgendetwas „Objektives" zu ersetzen (Guillaume 1932, lOff.), wird also radikal geleugnet. Ein jeder ist isoliert in seiner privaten Welt, Reden garantiert nicht die Möglichkeit von Kommunikation. Ähnliche Ansichten haben dann, ohne sich allerdings u m eine argumentative Begründung ihrer Annahmen zu kümmern, Literaten und Philosophen von Rilke („Briefe an einen jungen Dichter") über Blanchot bis zu den Existentialisten vorgetragen (Mounin 1963, 170—170 u n d 180ff.). Den Existentialisten zufolge verlieren sich die Menschen eher in das „Gerede", als daß sie sprechen. Das Gerede besteht aus einem vergeblichen Aneinanderreihen von Worten, aus Wahrnehmen u n d Wiederholen von Worten ohne jede 113

authentische Verbindung mit dem, wovon die Rede ist. Der Bedeutungsverlust der Rede u n d die Inkommunikabilität sind normale Lebensbedingungen eines normalen Menschen. Nur dem Dichter wird Ausdruck zugestanden, nur dem existentialistischen Philosophen wird, wenn er still über das Sein meditiert, Kommunikation zugestanden (Heidegger 1935, 68ff.; 1937, 8). Wie schon Kierkegaard (1948, Band 2, 147) schrieb, ist die einzig mögliche Gemeinschaft für den Menschen diejenige mit Gott, in einer Beziehung von Einzelnem zu Einzigem. Damit sind wir offensichtlich beim Gegenpol der romantischen Vorstellung: im 20. Jahrhundert bedeutet das Kommunizieren eine mystische Auszeichnung des außergewöhnlichen Menschen. Diese Positionen sind sicherlich angreifbar, wenn man die aristotelische Technik der Widerlegung aufgreift. Wie Black beobachtet hat, „wären wir Lewis zufolge gar nicht im Stande, irgendeine seiner Darlegungen zu verstehen, und wenn es so wäre, dann implizierte diese Hypothese wirklich einen besonderen Typ von reductio ad absurdum. Auch wenn seine These zuträfe, wäre das für uns ohne Bedeutung; wir können nicht erwarten, daß wir sie verstehen und sie nicht einmal glauben. (Die Form dieser Reduktion ist selbstredend ziemlich verschieden von dem bekannteren Argumentationstyp, in dem man nachweist, daß eine Proposition ihre eigene Negation impliziert)" (Black 1953, 7). Blacks Gegenargumente sind überzeugend. Dennoch gibt die in Parenthesen angeführte Beobachtung zu verstehen, daß er sie zwar grundsätzlich für befriedigend hält, aber doch von beschränkter Überzeugungskraft. Genauer gesagt, seine Argumente können denjenigen überzeugen, der sich nie zuvor das Problem gestellt h a t ; wer aber vor dieser Frage steht und sie überprüft, der erkennt nicht, wieso er seine Position aufgeben soll. Black zeigt, daß es unsinnig ist, seine These mitteilen zu wollen; dies trifft jedoch nur zu, wenn zutrifft, daß Black diese These verstanden hat. Die Worte des Skeptikers können ja ebenso gut etwas ganz anderes bedeuten als die Darstellung einer These: beispielsweise die Beschreibung eines Spazierganges auf dem Lande. Aus Blacks Perspektive, der annimmt, daß der skeptische Theoretiker eine These über die Unmöglichkeit zu kommunizieren darstellt, ist diese Position unsinnig, und obwohl sie sich als letzter modischer Schrei präsentiert, ist sie alt und schimmelt seit mehr als 2 0 0 0 Jahren. Aus der Perspektive des Skeptikers sehen die Dinge ganz anders aus: Er spricht, und allein Gott, der Gott Kierkegaards, weiß, was er gerade sagen mag. Auch anderen gegenüber hat Blacks Argumentation ein begrenztes Gewicht. Er kann einen rechtschaffenen Menschen korriegieren, der, nachdem er die Worte von Lewis gehört hat, daraus zu entnehmen meint, daß es unmöglich sei zu kommunizieren ; sobald der rechtschaffene Mensch aber Skeptiker oder Solipsist werden will, kehrt sich Blacks Argumentation gegen ihn selbst.

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Das gleiche m u ß man von der reductio ad absurdum sagen, die Croce in seiner „Logica" entwickelt hat: wieso trifft man die Theoretiker der Inkommunikabilität ausgerechnet im Café oder an den literarischen Dienstagen? Und was tun sie, außer täglich ihre Gedanken in kleinen Büchlein, Luxusausgaben, in den Feuilletons der bürgerlichen und proletarischen Presse und in erfolgreichen Filmen mitzuteilen? Und klappern sie etwa nicht mit den Münzen, die sie durch ihr unkommunizierbares Kommunizieren einnehmen? (Er variiert damit den Ratschlag des Novellini, den Regisseuren, die die Inkommunikabilität filmen, solle man anstelle der Bezahlung in guten Banknoten den Gegenwert für ihre Arbeit in ungültigen Scheinen zahlen.) Dies sind jedoch satirische Aussagen, polemisch wirksam, aber nicht überzeugend für jemanden, der wirklich von der Unmöglichkeit des Kommunizierens überzeugt ist. Da führen theoretische Argumente nicht weiter, man kann nur praktisch reagieren. Die These, derzufolge der semantische Gehalt linguistischer Formen rational nicht ergründbar ist, scheint unbesiegbar zu sein. Das gilt auch für ihre beiden möglichen Folgen, die methodische, die empfiehlt, sich mit anderem zu beschäftigen, mit Phonemen und Morphemen, und die Bedeutung beiseite zu lassen, und die existentialistische, derzufolge die Worte keine feste Bedeutung haben, es sei denn für den Allmächtigen u n d die wenigen Privilegierten, die sich mit ihm verständigen können. Was für diese These spricht, ist beeindruckend: die sprachlichen Theorien des Aristoteles, die vom frühen Wittgenstein zu ihrer ganzen Klarheit weiterentwickelt wurden, begünstigen in ihren Konsequenzen diese These; für sie streiten, ohne es zu wollen, die präzisen Argumente Saussures, die Sprachtheorie des frühen Croce, die semantische Enthaltsamkeit der traditionellen Sprachwissenschaft, die Semantikfeindlichkeit der neueren und besonders stringenten Richtungen der zeitgenössischen Linguistik, von Künstlern, Literaten, existentialistischen Philosophen.

3. Kommunikation und Denken als unbeweisbare Voraussetzungen jeden Beweises Gegen eine so dichte Phalanx hilft kein Argumentieren. Nicht ein Argument ist hier die einzig mögliche Waffe, sondern eine Erfahrung: die Erfahrung des Kommunizierens selbst. Es ist, um einen leider häufig mißachteten Gedanken von Aristoteles wieder aufzunehmen, ein von unvollständiger Bildung herrührender Irrtum, alles das „beweisen zu wollen", was, wie der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch oder die Welt oder das Leben oder eben das Kommunizieren, den unverzichtbaren Rahmen bildet, innerhalb dessen sich 115

jedes mögliche Beweisen abspielt. Wir können das Leben oder die Notwendigkeit des folgerichtigen Denkens nicht beweisen, sondern nur leben oder folgerichtig denken. Das Gegenteil des Wahnsinns oder des Nichtexistierens kann man unmöglich beweisen, man kann nur versuchen, das Gegenteil dessen, was wir für normal halten, zu vermeiden und abzuwenden. Diese vorgängige Festlegung, die Festlegung der Kommunikation als normale Erfahrung für jedes menschliche Wesen, reicht aus, u m jeglicher Argumentationsreihe die Unterstützung zu entziehen, die implizit oder explizit, gewollt oder ungewollt, entweder die Negation des Prozesses der Kommunikation oder die Negation der Möglichkeit, über all das, was diesen Prozeß konstituiert, nachzudenken, zur Folge hat. Aber es reicht noch nicht aus, eine Theorie der Kommunikation u n d also auch eine Semantik einzurichten. Damit dies stattfinden kann, ist noch mindestens eine weitere Festlegung notwendig, die man nicht beweisen kann. Denn, wie ein Philosoph der Antike jemandem, der die Möglichkeit der Bewegung verneinte, antwortete, indem er sich einfach erhob und ging, so kann man auf die Theorien, die auf die Inkommunikabilität hinauslaufen, so einfach antworten, wie seit hunderttausenden von Jahren, seit der Mensch Mensch ist, jeder Mensch antwortet: indem wir einfach mit unseresgleichen sprechen und uns verstehen. Mit der Bewegung reagierte der Philosoph der Antike praktisch auf diejenigen, die die Bewegung negierten und brachte die verneinte Möglichkeit zur Wirklichkeit; er stellte jedoch damit noch keine Theorie der Bewegung auf. Hierzu bedarf es eines weiteren, nämlich Vernunft und Einsicht. Man muß sich aber nicht notwendigerweise dafür entscheiden. Einsicht ist nicht unbedingt notwendig. Es ist sehr gut möglich, zu leben, ohne das Leben zu verstehen und ohne das Leben zu erforschen, es ist möglich zu kommunizieren, ohne das Kommunizieren zu verstehen und ohne es zu erforschen. Die Intelligenz und ihr Geschöpf, freilich ein historisch sehr junges Geschöpf, die Wissenschaft, sind keine unverzichtbaren Notwendigkeiten des Daseins. Hat man sich aber einmal entschieden, nicht nur zu leben, sondern auch zu verstehen, hat man einmal den Weg der Einsamkeit und der Schizophrenie ausgeschlagen und nimmt stattdessen den Weg, den die Menschen seit hunderttausenden von Jahren gehen, seit sie begonnen haben zu sprechen, und setzt m a n zudem auf Intelligenz und Vernunft, dann wird der Aufbau einer vollständigen Theorie der Kommunikation zu einem „Muß", dem sich eine Gesellschaft nicht entziehen kann, wenn sie nicht die Grundentscheidungen verleugnen will, auf denen sie sich aufbaut. Und weil das Kommunizieren nicht darin besteht, daß man Lautformen zum Vergnügen aneinanderreiht, sondern diese Formen als Zeichen fungieren, die etwas mitteilen (und eben dies ist Sprache), ist nicht einzusehen, wie man

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vernünftigerweise Verstehen und Untersuchung der Sprache auf reine Formanalyse beschränken kann. Wir stützen uns nicht auf eine mehr oder weniger brillante Argumentation, sondern auf die Autorität all derer, die gesprochen haben und noch sprechen, auf die Intelligenz des Menschen, wenn wir von der Linguistik fordern, daß sie sich nicht darauf beschränke, allein die äußerlichen Aspekte der untersuchten Phänomene zu berücksichtigen. Man muß hier wiederholen, was ein großer zeitgenössischer Semantiker schrieb : Im Augenblick scheint die Semantik in einer zweifelhaften Position zu sein. Nach langem Zögern hat sie sich dem Strukturgedanken geöffnet, der die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts revolutioniert hat, und diese Neuorientierung h a t auch schon wertvolle Ergebnisse erbracht. Gleichzeitig verschließt sich die strukturalistische Schule noch immer den Betrachtungsweisen der Semantik. Wenn das so weitergeht, könnte das für die Semantik und für die Sprachwissenschaft als Ganzes schlimme Folgen haben. Auf dem Gebiet der Semantik würde es den Fortschritt hemmen,junge Forscher davon abhalten, sich hier zu spezialisieren und die Semantiker unnötig in der Defensive halten. Die strukturalistische Sprachwissenschaft würde dadurch zu einer einseitigen Disziplin, die sich ausschließlich mit der formalen Seite des Gegenstandes beschäftigt. Die wissenschaftliche Genauigkeit wäre zu teuer erkauft, wenn man ihretwegen die semantische Seite der Sprache vernachlässigen müßte. Es wäre sogar eine ziemlich unwissenschaftliche Auffassung von der Sprachwissenschaft, denn es gehört zum sine qua non einer jeden wissenschaftlichen Methode, daß sie ihrem Gegenstand angemessen sein muß. Eine Sprachwissenschaft ohne Semantik würde außerdem die Strukturalisten und die Nichtstrukturalisten einander noch mehr entfremden und die Philosophen und alle diejenigen enttäuschen, die an der Sprache interessiert sind und die von den Sprachwissenschaftlern Aufschluß erwarten. Es handelt sich hier um ein brennendes Problem, und es ist nicht zuviel gesagt, daß die Zukunft der Semantik und der Sprachwissenschaft als Ganzes von dessen Lösung abhängt. (Ullmann 1967, 295)

Nach einem Jahrhundert kehrt das Echo der Vorschläge für semantische Untersuchungen zurück, wie sie z.B. Madvig und Bréal machten. Möglicherweise werden die professionellen Linguisten sie ebenso ignorieren, wie sie sie vor hundert Jahren ignorierten. Es kann aber sein, daß die allgemeine Situation in den Wissenschaften ihr nunmehr hundertjähriges Ausweichen vor der Semantik nicht länger als schwerwiegend, sondern einfach als pittoresk und von ethnographischem Interesse erscheinen läßt. Beschreibende und experimentelle Psychologie, Ethnologie, Soziologie, Geschichte der Philosophie und der Kultur sind mittlerweise ausgearbeitete und gefestigte Disziplinen, die vor 100 Jahren noch nicht bestanden oder kaum dem Embryonalstadium entwachsen waren. Wenn die systematische Forschung der semantischen Funktion linguistischer Form nicht von den Linguisten unternommen wird, dann wird sie eine Aufgabe sein, die Psychologen, Soziologen und Ethnologen, Geschichtsschreiber der Philosophie und der Kultur sehr gut lösen können. 117

Wenn man versucht, eine wissenschaftliche Semantik aufzubauen, kann man offensichtlich keine der traditionellen Theorien und Definitionen der Bedeutung als Grundlage nehmen. Das Schlüsselproblem der Semantik ist heutzutage noch nicht ein Problem historischer Forschung, sondern eins der Theorie. Sieht man die Fehlschläge der vorangegangenen Versuche, dann geht es darum, den Untersuchungsgegenstand der Disziplin neu zu begrenzen und zu bestimmen. Vor einem solchen Unterfangen wird es jedoch nützlich sein, sich einen Augenblick lang die theoretischen Ergebnisse der Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Aristoteles und Descartes, Wittgenstein, Croce und Saussure haben ihre Definition und Lehre von der Bedeutung nicht eingedenk ihrer skeptischen oder solipsistischen Konsequenzen aufgebaut: ihre Grundentscheidungen, daß Kommunikation möglich sei, daß Verstehen möglich sei, sind dieselben Grundentscheidungen, die hier erneut vorgeschlagen werden. Ehe man an eine weitere Definition der Bedeutung geht, ist es daher vernünftig, sich zu fragen, ob in ihrer Argumentation nicht ein gemeinsamer schwacher Punkt aufscheint, aus dem sich die skeptischen und solipsistischen Konsequenzen ihrer Lehre ergeben: „Die folgende Sicherheit des Vorgehens beruht auf nichts anderem, als dem Lösen zuvor erkannter Probleme; einen Knoten kann jedoch nur der auflösen, der ihn k e n n t . . . " .

4. Bedeutungslosigkeit des vom „Dicens" isolierten „Dictum" Rufen wir noch einmal kurz die drei bereits untersuchten Lehren in Erinnerung. In der Konzeption des Aristoteles, die von Wittgenstein wieder aufgenommen wird, wird Kommunikation erklärt, indem man bestätigt, daß die Wörter eine feste Bedeutung haben, und diese Festigkeit wird auf die Tatsache zurückgeführt, daß die Wörter Sachen und Begriffe bezeichnen, die „für alle die gleichen" sind. Die Reihe von Wörtern ist durch eine jeweils eindeutige Entsprechung mit einer Reihe von Sachen verbunden, und dank dieser Entsprechung sind die Wörter „grundsätzlich für alle gleich". Gegen diese Konzeption der Sprache als eine Nomenklatur, die für Jahrhunderte jede linguistische Untersuchung fruchtlos machte, haben die Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts und später dann Saussure, Trier, Hjelmslev, Martinet gewichtige Einwände vorgebracht. Vor allem aber ist es der frühe Wittgenstein, der diese Konzeption, indem er sie sich zueigen macht, ad absurdum führt. Wenn die Sprache als Nomenklatur aufgefaßt wird, gewinnen die Wörter möglicherweise an Festigkeit der Bedeutung, aber wenn sie zu einem Satz zusammengefügt werden, bleibt unverständlich, wieso sie zur Mitteilung von etwas Neuem dienen können. Croce weist mit Entschiedenheit die alten 118

grammatischen und logischen Vorstellungen zurück. Das Unterscheiden zwischen verschiedenen Vokabeln u n d Klassen verschiedener sprachlicher Gegenstände k o m m t einer Unterwerfung der in sich ungeteilten Wirlichkeit unter einen ungeeigneten abstraktiven Prozeß gleich. Croce zufolge ist es naiv, zu glauben, daß die Bedeutung eines Satzes von der Summe der Bedeutungen seiner einzelnen Wörter abhänge; die Wörter existieren nur in der Vorstellung der Grammatiker. Und der Satz hat seine bestimmte Bedeutung nur dank der Tatsache, daß er Form ist, wie jede Form, Form eines einzigen unwiederholbaren Gehaltes u n d sonst nichts. Die Übereinstimmung zwischen Form und Gehalt ist in dieser Konzeption derart vollständig und vollständig gesichert, daß es in der Folge ganz unverständlich wird, wie die Wahrnehmung der Form es einem Sprechenden erlaubt, zum „unwiederholbaren" Inhalt zurückzufinden. Dennoch, Croce sagt es wörtlich, hat das Problem nunmehr den Schleier des Geheimnisses, der es umgab, verloren: wie jeder feststellen kann, leben und bewegen sich die Menschen in Gott, und mit der Hilfe Gottes können sie die Schwierigkeiten überwinden, die, wenn sie außerhalb der göttlichen Gnade lebten und sich bewegten und wenn die Theorie Croces richtig wäre, sicherlich für die Kommunikation hinderlich wären. Der Positivist Saussure ist weit von solchen Ideen entfernt. Für ihn haben Sätze eine Bedeutung, weil sie aus Wörtern bestehen, die einen bestimmten Wert haben, und die Bestimmtheit dieses Wertes ist durch das System, in das die sprachlichen Formen integriert sind, gesichert. Damit das System als Garant der semantischen Identität der Formen aufgefaßt werden kann, ist es notwendig, es als ein vollständig geschlossenes System aufzufassen, in dem jedes Einzelne zählt und „alles zusammengehört". Da man leicht feststellen kann, daß die sprachlichen Systeme eines jeden Einzelnen, die Idiolekte oder, wie in Italien G. Nencioni u n d G. Devoto gesagt haben, die Individualsprachen von Person zu Person stark variieren und sogar für dasselbe Individuum von Tag zu Tag verschieden sind, fuhrt die Saussuresche Sprachvorstellung zu der Konsequenz, daß das, was man sinnvollerweise für dasselbe Wort halten könnte, in Wirklichkeit eine völlig verschiedene Bedeutung hat, je nachdem, ob sie von Peter oder von Paul gebraucht wird. Bei aller Verschiedenheit ist es den drei Konzeptionen der Sprache gemeinsam, daß die Identität der sprachlichen Formen begriffen und erklärt wird als Folge des Zusammenhangs der sprachlichen Formen selbst. Bei Aristoteles, den Rationalisten und dem frühen Wittgenstein wegen ihrer Beziehung zu den Sachen oder den Begriffen, bei Croce wegen ihrer Nähe zum Gehalt, bei Saussure wegen ihres Eingepaßtseins in ein System. In jedem Fall wird, auch wenn die Akzente, die Hilfsannahmen u n d Voraussetzungen sehr unterschiedlich sind, die Gewißheit der Tatsache, daß die sprachlichen Formen eine

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Bedeutung haben, in einer Eigenschaft gesucht, die den sprachlichen Formen selbst innewohnt. Wir können die Hypothese aufstellen, daß es eben dieses einzige gemeinsame Element ist, das das Verstehen der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation verhindert, die Bewertung der semantischen Aspekte der Sprache verwirrt u n d verdunkelt, u n d jeden Forscher, der sich zu wissenschaftlicher Genauigkeit verpflichtet fühlte, von der Semantik ferngehalten hat. Um diese These zu stützen, kann man einmal auf die Tatsache verweisen, daß die Konzeptionen, die von einem derart weitgehenden Zutrauen in die sprachlichen Formen getragen sind, das sprachliche Kommunizieren nicht auf befriedigende Weise erklären können. Zudem gibt es eine bestimmte negative Erfahrung, die diese These stützt, und zwar das Fehlschlagen von Projekten automatischer Übersetzung. Die Untersuchungen über die Möglichkeit automatischer Ubersetzung sind von Linguisten und vor allem von Ingenieuren und Kybernetikern unter aristotelischer Perspektive vorgenommen worden. In dieser Perspektive stellt die Übersetzung - ob sie n u n automatisch ist oder nicht - keinerlei Probleme. Wenn z.B. die grammatische Eigenschaft des Substantives, der Begriff „Hund", der Begriff der dritten Person und des Singulars, der Begriff „sein" und der Begriff „schnell" Einheiten wären, die „für alle gleich" sind, und wenn die Unterschiede zwischen den Sprachen nur in der Unterschiedlichkeit der Lautformen läge, mit denen diese Begriffe ausgedrückt werden, dann wäre ohne Zweifel der deutsche Satz „der Hund ist schnell" automatisch übersetzbar in den italienischen Satz „il cane è veloce". Nachdem sich die Forscher eifrig bemüht hatten, das Problem der automatischen Übersetzung unter diesen Voraussetzungen zu lösen, entdeckten sie bald die Abwegigkeit ihrer Annahmen. S. Ceccato, der für eine der vielen Forschergruppen verantwortlich war, die jahrelang in Ost u n d West von den Militärs der verschiedenen Staaten finanziert wurden, schrieb I960: „Die automatische Übersetzung kann nicht durch irgendeinen Geniestreich erreicht werden, dies Problem erfordert eine unendliche Geduld. Das erste Jahr, das wir diesem Forschungsziel gewidmet hatten, h a t gezeigt, daß wir unter zwei Gesichtspunkten den Gegenstand der Forschung ein wenig unterschätzt hatten ... Die zweite Entdeckung, die eine unvorhersehbare Steigerung des Arbeitsaufwandes mit sich brachte, kann man so zusammenfassen, daß der Grad exakter Entsprechung zwischen den Ausdrücken verschiedener Sprachen sehr viel geringer ist, als wir alle jemals erwarteten. (...) Zwei Sprachen können z.B. die gleichen Wahrnehmungsgegenstände aufweisen, aber die Beziehung, in denen sie gezeigt sind, ist verschieden, oder es besteht ein Unterschied in den Elementen, aus denen sich der benannte Gegenstand zusammensetzt usw." (Ceccato 1960, 1 9 - 2 0 ) .

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Die mechanischen Übersetzer haben also experimentell „entdeckt", was Vico, Locke u n d Leibniz schon gezeigt hatten: die Unvergleichbarkeit des Wortbestandes verschiedener Sprachen. Viel interessanter und aktueller ist die andere Erfahrung, die die mechanischen Übersetzer machten. Hören wir noch einmal die Darstellung Ceccatos: „Anfangs glaubten wir, daß, wenn man von einer Sprache ausging, es möglich wäre, den Gedankengehalt nahezu vollständig mit Hilfe der Kennzeichen zu verstehen, die in den Ausdrücken enthalten waren, indem man sie bezüglich der zwei Arten von Kennzeichen, die sie enthalten, analysierte. Das waren die Kennzeichen, die die einzelnen Dinge betrafen, die in Beziehung zueinander standen, man kann sagen, der Gedankeninhalt, und die Kennzeichen, die die Funktionen betrafen, die von den Sachen beim Eingehen ihrer Beziehungen übernommen wurden, d.h. die charakteristische Struktur des Gedankens. Es wurde jedoch sehr bald deutlich, daß ein erheblicher Teil der Gedanken, die wir im Verlauf eines Diskurses hervorbringen, ganz andere Quellen hat (...). Ein Ausdruck fällt nicht auf unfruchtbaren Boden, sondern auf einen, in dem lauter Samen stecken; und so, wie unsere Sprache konstruiert ist und wie wir sie gebrauchen, stützt sie sich in jedem Fall auf eine Integration ihrer verschiedensten Voraussetzungen (wobei Bedingungen des Wahrnehmens u n d Denkens berücksichtigt werden)" (Ceccato 1960, 19). Herausgerissen aus der Situation, in der er gesagt oder geschrieben wurde, kann ein Satz sehr verschiedene Bedeutungen annehmen: dies ist das zweite Ergebnis der Erfahrungen mechanischer Übersetzung. Dieses Ergebnis war zwar eines der größten Hindernisse für die Fortführung der Versuche automatischer Übersetzung, aber sein Wert ist doch bemerkenswert. Etwas ähnliches konnte man schon den wechselnden Bedeutungen verschiedener Mottos entnehmen wie „beati pauperes spiritu", „sapere aude", „le style est l'homme", die aus ihrer ursprünglichen Situation herausgenommen und von einer Epoche in eine andere versetzt sich mit unterschiedlichen Bedeutungen anfüllten, die ihrer ursprünglichen entgegengesetzt sein konnten. Man konnte glauben, daß Erscheinungen dieser Art, wie auch Doppeldeutigkeiten, zur Pathologie des Sprechens gehören. Ohne es zu wissen u n d ohne sich dessen bewußt zu sein, haben Ceccato und die anderen Forscher, die den abenteuerlichen Versuch einer automatischen Übersetzung unternommen hatten, entdeckt, daß diese Erscheinungen im Gegenteil zur Anatomie unseres Sprechens gehören. Die Information, die wir den sprachlichen Formen entnehmen, hängt immer u n d nicht nur in Ausnahmefällen nicht allein von diesen selbst ab, sondern von ihren Beziehungen zu allem, was wir von dem, der sie anwendet, wissen und wahrnehmen. 121

Wenn wir die Termini der Semiotik von Morris verwenden wollen, können wir sagen, daß wir einen Satz vollständig verstehen, wenn seine syntaktische Beurteilung (bezüglich der Beziehungen der Teile des Satzes untereinander) und seine semantische (bezüglich der Beziehungen der Teile des Satzes zu ihren möglichen Denotaten) sich verbinden mit einer pragmatischen Beurteilung, die die Beziehungen zwischen dictum und dicens berücksichtigt. Es gibt keine Möglichkeit, das dictum isoliert vom dicens zu bestimmen (Ziff-De Mauro, 1963). Die Untersuchungen zur mechanischen Übersetzung liefern den experimentellen Beweis zur zuvor aufgestellten Hypothese, derzufolge es ein Irrtum ist, mit der gesamten Tradition zu glauben, daß die sprachlichen Formen eine ihnen allein innewohnende semantische Kraft besitzen. Isoliert man sie vom Sprecher, dann sind sie nicht in der Lage, eine eindeutige Bedeutungsübermittlung zu garantieren. Diese Fähigkeit erwerben sie nur im Zusammenhang mit dem, der sie gebraucht. Diese Feststellung exponiert das neue Thema, dem sich die Reflexionen des späten Saussure, die letzten sprachwissenschaftlichen Arbeiten Croces und die „Philosophischen Untersuchungen" Wittgensteins zuwenden. In diesem Thema kann man den Beginn der neuen Semantik erkennen.

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VII. Die subjektive Basis des Zeichengebrauchs

1. Die Gesellschaft als Grundlage von System und Zeichengebrauch beim späten Saussure Schon in der zweiten Vorlesung über Allgemeine Sprachwissenschaft zeigt sich zwischen den Zweifeln und Schwankungen, mit denen Saussure seine Theorie des Systems als Garant von Wert und semantischer Identität der sprachlichen Formen entwickelt, eine neue Perspektive, in der die semantische Identität zwar noch durch das System vermittelt ist, letztlich aber ihre Grundlage in der Gesellschaft findet, die das Sprachsystem gebraucht. In der Vorlesung vom November 1908 bekräftigt Saussure, daß jede Untersuchung der sprachlichen Formen, um ihrem Gegenstand angemessen zu sein, kontrolliert werden muß mit Hilfe der Beziehungen zum System, in das die sprachlichen Formen gehören: Nur wenn man die Zeichen in der Sprache (langue) untersucht, wird man ihre wesentlichen Seiten, ihr Leben erkennen. So daß eine Untersuchung der Sprache, wird sie von Nicht-Linguisten vorgenommen, nicht die wesentlichen Seiten des Gegenstandes trifft. Daran liegt es, daß der semiologische Gegenstand nicht zum Vorschein kommt, wenn man ihn unter anderen Gesichtspunkten als dem der Sprache (langue) untersucht oder wenn man die Sprache so untersucht, wie sie Philosophen, Psychologen oder auch jedermann untersuchen: tatsächlich betrachten (Psychologen und Philosophen) die Sprache als Nomenklatur und mißachten auf diese Weise die wechselseitige Determination der Werte der Sprache (langue) durch ihr Zusammenbestehen selbst. (Ein Zeichen ... hängt von einem System von Zeichen ab - gerade dieser Punkt wird vernachlässigt - alle Zeichen sind miteinander wechselseitig verbunden.) Alle Größen hängen jeweils voneinander ab. (Saussure 1 9 0 8 - 1 9 0 9 , 20)

Saussure bemerkt mit aller Klarheit (dies ist eine grundlegende Aussage, auf die wir zurückkommen müssen), daß die Vermittlung durch das System das einzelne sprachliche Element der Laune des Individuums entzieht. Wenn man anerkennt, daß man das Zeichen (in seinem Wert und in seiner sozialen Existenz) betrachten m u ß , ist man versucht, zuerst nur das herauszugreifen, was am meisten von unserem Willen abhängt und man beschränkt sich auf diesen Aspekt und

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g l a u b t , das Wesentliche e r f a ß t zu h a b e n : d a n n spricht m a n von der Sprache als e i n e m Vertrag, einer Ü b e r e i n k u n f t . (Damit hat m a n das Charakteristische vernachlässigt. Das Zeichen in seinem Wesen hängt nicht von u n s e r e m Willen ab.) (Saussure e b d . , 21)

Die Herausgeber des „Cours" haben in diesen Sätzen eine antisoziologische Polemik gesehen, eine Polemik zu Gunsten einer Sprachwissenschaft, die die langue „an und für sich selbst betrachtet" untersucht. Der Gedankengang Saussures scheint jedoch anders zu verlaufen. Wogegen er sich richtet, ist die Vorstellung vom einzelnen sprachlichen Element außerhalb des Systems, oder die Vorstellung von den Wirkungen, die die Absicht des einzelnen Individuums auf das einzelne sprachliche Element hat. Sprachlicher Atomismus, stilistischer Individualismus und ihre Kombination sind es, wogegen sich Saussure richtet. Demgegenüber beruft er sich aufs System, in dem die einzelnen Elemente ihren Wert annehmen, und zusammen damit auf die Gesellschaft: Wenn ein semiologisches System z u m Gemeingut einer G e m e i n s c h a f t geworden ist, ist es in der T a t vergebens, es außerhalb dessen beurteilen zu wollen, was für es aus diesem kollektiven C h a r a k t e r resultiert, u n d es genügt zur Erfassung seines Wesens, zu u n t e r s u c h e n , was es hinsichtlich der Kollektivität darstellt. Wir sagen, daß es nicht m e h r nach e i n e m i n t e r n e n , u n m i t t e l b a r e n Merkmal beurteilt werden k a n n , weil von diesem M o m e n t an nichts m e h r garantiert, daß ein individueller Verstand (ähnlich d e m unseren) die V e r b i n d u n g zwischen Zeichen u n d Idee beherrscht. A priori wissen wir n i c h t , (welche Gesetze), (welche K r ä f t e auf das Zeichensystem einwirken. Die S p r a c h e ist also das Schiff auf dem Meer, nicht das Schiff in der Werft : ) m a n k a n n seinen Kurs nicht a priori durch die F o r m seines R u m p f e s usw. b e s t i m m e n . Es genügt, die Sprache als etwas Kollektives, Soziales a n z u s e h e n : Nur das Schiff auf d e m Meer k a n n als Schiff u n t e r s u c h t werden. (Allein wie das Schiff sich auf dem Meer verhält, ist untersuchenswürdig.) Ebenso verdient nur das S y s t e m den N a m e n System u n d ist ein solches, das S y s t e m einer G e m e i n s c h a f t ist. Alle Eigentümlichkeiten, die der Kollektivität vorausgehen, d.h. die rein individuellen M o m e n t e , sind bedeutungslos. Das Zeichensystem (sucht immer die Umgebung zu finden, in der allein es leben k a n n ) ist für die Kollektivität geschaffen, wie das Schiff tur das Meer. Deshalb u n d gegen allen Augenschein ist allem Semiologischen die Tatsache der sozialen Kollektivität niemals äußerlich. Diese soziale N a t u r (des Zeichens) gehört zu seinen i n n e r e n u n d nicht e t w a seinen ä u ß e r e n Merkmalen. Wir halten also n u r den Teil der Erscheinungen für semiologisch, der in charakteristischer Weise ein soziales P r o d u k t ist ... (Saussure e b d . , S. 25f.)

Diese Überlegungen Saussures sind von Bedeutung, und für denjenigen, der nur den Saussure des „Cours" kennt, sind sie zumindest unter zwei Aspekten eine außerordentliche Neuigkeit. Der erste scheint von unserer Argumentation abzuführen, aber er ist zu bedeutend, um nur aus dieser Erwägung heraus beiseite gelassen zu werden, eine Erwägung, die zudem, wie sich weiter unten

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zeigen wird, nicht ganz zutreffend ist. Die erste Frage stellt sich mithin so: fünfzig Jahre lang hat man für oder gegen Saussure gestritten und ihm dabei eine Unterscheidung zwischen interner u n d externer Linguistik unterstellt, wobei die Grenze zwischen intern und extern zwischen die Vorstellung von den sprachlichen Formen „an und für sich selbst betrachtet" u n d die Vorstellung von den sprachlichen Formen in Beziehung zu der Gemeinschaft, innerhalb der sie gebraucht werden, fallt. Wer einer so gefaßten Unterscheidung zustimmte, der zog daraus Anregungen fiir sprachliche Untersuchungen, die sich ausschließlich der synchronen u n d diachronen Darlegung der Merkmale der konstitutiven Einheiten der linguistischen Systeme zuwandten; wer dieser Unterscheidung widersprach, wandte sich Untersuchungen zu, in denen die Sprachdaten in ihren sozialen und historischen Kontext reintegriert wurden, und wähnte sich, indem er das tat, außerhalb der Saussureschen Lehre. Man muß einräumen, daß es einem Formalisten wie Antal nicht entging, daß sich schon im „Cours" von 1916 Spuren fanden, die eine andere Ansicht von der Beziehung zwischen der Analyse der sprachlichen Formen und der Analyse des psychologischen Kontextes, in dem diese Formen leben, zeigen. „Saussure geht über diesen Gesichtspunkt (den Antal psychologisch nennt) nicht hinaus. Obwohl er einerseits auf sehr beeindruckende Weise das Entstehen einer allgemeinen Semiologie vorhersagt, versteht er sie andererseits als eine neue Wissenschaft im Bereich der Sozialpsychologie" (Antal 1963, 11). Antal hat völlig recht (abgesehen von dem verächtlichen Ton, den er gegenüber denjenigen gebraucht, die nicht mit seiner formalistischen Position übereinstimmen), daß Saussure eine Vorstellung entwickelt, nach der die sprachlichen Daten bezüglich zweier Koordinaten aufgestellt werden, nämlich System und Gesellschaft. So wird hier der zweite Aspekt deutlich, unter dem die Darlegungen der zweiten Vorlesung über Allgemeine Sprachwissenschaft Aufmerksamkeit verdienen. Neben der Vorstellung, in der der Wert des Zeichens, d.h. seine formale und semantische Identität, völlig und ausschließlich dem System zugesprochen wird, schält sich in diesen Darlegungen eine zweite Konzeption heraus, die bei der Bestimmung der Identität des Zeichens zu einer zweiten „Variablen" greift: der Gesellschaft. Kurz nach der zitierten Stelle faßt Saussure seine Argumente zusammen. In den Aufzeichnungen seiner Studenten klingt es, mit einigen Varianten, so: ... der Wert ist im allgemeinen sehr komplex und ... das Wort ist vielleicht einer der komplexesten Werte ... besonders in dem Sinn, daß, sowie man von Werten spricht, ihre Beziehung ins

daß die verschiedenen Einheiten notwendiger-

daß man von einem reziproken Wert sprechen

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Spiel kommt (kein Wert existiert ganz allein), d.h. daß das Zeichen für sich keinen Wert hat ohne Verankerung in der Kollektivität. Es scheint, als ob es im Zeichen zwei Werte gäbe: einen Wert an sich und einen, der der Kollektivität entstammt - aber letztlich ist es derselbe.

weise Werte haben, die reziprok sind. Aber der Wert wird nur durch die soziale Autorität etabliert, die ihn sanktioniert. Geht man den Dingen auf den Grund, sind diese beiden Aspekte identisch.

kann. Kein Wert existiert ganz allein. Andererseits ist der Wert Ergebnis seiner sozialen Verankerung. Es scheint sich um verschiedene Werte zu handeln - letztlich ist es derselbe.

Wir sind also vor bestimmten Irrtümern geschützt. Wir sehen sofort und sehr viel besser als zuvor, dali allein das Soziale (fait sociale) das hervorbringt, was in einem semiologischen System existiert. (Saussure 1 9 0 8 / 0 9 , 27)

Erst während der dritten u n d letzten Vorlesung über Allgemeine Sprachwissenschaft k o m m t Saussure zu einer abschließenden Formulierung, von der Godei ( 1 9 5 7 , 139) in den Aufzeichnungen von G. Dégallier einen wichtigen Nachhall fand. (Biblioth. pubi, et univ., Genève, Ms. Cours univ. 431, S. 196) Es ist wichtig zu sehen, daß hierin (in der Beurteilung der Identität oder Nichtidentität eines sprachlichen Elementes) etwas Subjektives liegt, das jedoch allen Menschen gemeinsam ist. Es ist sonst schwer zu sehen, wo Identität sein soll. Und die Identitäten sind die Basis. Die ganze Maschinerie der Sprache dreht sich um Identität und Differenz.

Saussure hat also sehr wohl das Ungenügen des Systems erkannt, wenn man es als einzige Garantie für eine feste Beziehung zwischen „Ideen und Zeichen", zwischen den Lautformen und ihren Bedeutungen versteht. Ein so verstandenes System könnte, wie wir gesehen haben, vielleicht auch synchron vom Linguisten beschrieben werden, es macht aber unverständlich, wie sich zwischen den Individuen eine Kommunikationsbeziehung herstellen kann und wie eine Beschreibung des diachronen Entstehens des Systems möglich ist. Um die eine wie die andere Tatsache zu erklären, m u ß es bei dem Wechsel des Systems von Individuum zu Individuum und von Epoche zu Epoche eine Variable geben, die man als unveränderlich annehmen kann und die folglich vom System selbst unterschieden sein m u ß . Diese Variable findet Saussure im sozialen Zusammenhang, in dem das System seinen Platz hat. Dieser Zusammenhang ist das „subjektive Element", das jedoch allen Menschen gemeinsam ist, auf das Saussure in seiner letzten Vorlesung hinweist. Dies ist nur ein Hinweis in eine bestimmte Richtung, aber es ist mehr als dies, wenn man sieht, daß die Gedanken des späten Croce, die Sprachanalyse der „Philosophischen Untersuchungen", die Überlegungen von Übersetzungstheoretikern und Linguisten, die unter unterschiedlichen Gesichtspunkten die Notwendigkeit gesehen haben, die enge Verbindung zwischen Sprachtatsachen u n d Tatsachen geschichtlicher, soziologischer u n d

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ethnografischer Art zu erkennen, in dieselbe Richtung gehen. Saussure starb zu früh, um diese neue Konzeption vollständig auszuformulieren, er hat uns von ihr nur das Motto hinterlassen, das dann unbewußterweise fast wörtlich von Wittgenstein und Pagliaro aufgegriffen wird: Das System der Zeichen ist für die Kollektivität gemacht und nicht für ein Individuum, so, wie ein Schiff für das Meer gemacht ist (...) Das System (...) strebt immer danach, die Umgebung zu finden, in der allein es leben kann. (Saussure 1 9 0 8 / 0 9 , 26)

2. Die praktische Basis des Zeichengebrauchs: der späte Croce Wie wir gesehen haben (vgl. o. S. 77ff.), gehörte die systematische Nichtberücksichtigung alles dessen, was überindividuell ist, ohne jedoch universal zu sein, notwendig zum Denken Croces in jener weit zurückliegenden Phase, die am strengsten in den beiden ersten Bänden der „Philosophie des Geistes" und in dem Aufsatz über Hegel Ausdruck fand. Da die Sprache für Croce etwas typisch Interindividuelles war, mußte er ihre Existenz als konkrete Voraussetzung des Sprechens leugnen und in die chaotische Ansammlung von Pseudobegriffen a posteriori verweisen. Der Preis für dieses Vorgehen, d.h. flir die Vorstellung vom Satze als einem ungeteilten und unteilbaren Kontinuum, dessen Gehalt nicht mitteilbar ist, weil er nicht auseinandergelegt werden kann in Formen, die mehreren Individuen bekannt sind, wurde von Croce ohne weiteres bezahlt. Er war nach wie vor bereit, noch viel mehr für die Bestätigung seiner Konzeption des universell Konkreten aufzugeben. Jedoch enthält schon die „Philosophie der Praxis" mit ihrer Einführung des Begriffs „Haltung" einen ersten Hinweis, eine Vorankündigung einer veränderten Auffassung. Dies ist den Sprachwissenschaftlern oft entgangen, die zwar in der Nachfolge Croces oder zumindest des Historismus bleiben wollten, aber zugleich bemüht waren, auf irgendeine Weise die Wirklichkeit der Sprache, verstanden als Zusammenhang von „Haltungen" und „Institutionen", bewahren wollten. Croce schrieb: „Diese Neigungen oder willentlichen Haltungen sind nicht unveränderlich, weil es im wirklichen Leben nichts Unveränderliches gibt. Wie das Bett eines Flusses seinen Lauf regelt und gleichzeitig beständig von ihm verändert wird, so ergeht es den Neigungen (passioni) und den willentlichen Haltungen (abiti volitivi), die von der Wirklichkeit gebildet und verändert werden, während des Veränderns neu gebildet und dabei wieder verändert. Daher bleibt immer eine gewisse Willkür, wenn man die Haltungen so definiert, als entsprächen sie einer geschlossenen und fest umgrenzten Wirklichkeit. Die Haltungen sind weder Kategorien, noch kann man sie sich als bestimmte Begriffe vorstellen, sie sind d a s Ä h n l i c h e i m U n ä h n l i c h e n , auch in sich selbst 127

nicht einheitlich und dennoch auf eine bestimmte Weise unterscheidbar von anderen Gruppierungen uneinheitlicher Tatsachen. Sie sind insofern von großer Bedeutung, als sie das Skelett des Körpers der Wirklichkeit bilden. In ihnen ist die Individualität begründet, verstanden als empirischer Begriff, was in diesem Fall nichts anderes bedeutet, als ein Komplex von Haltungen, die mehr oder weniger dauerhaft und kohärent sind." (Croce 1908, Practica 148) Hier wird, wie an anderen Stellen der „Philosophie der Praxis", ein starkes Schwanken im Gedankengang Croces deutlich. Die „Haltungen" finden sich jenseits der individuellen Situationen, die immer „uneinheitlich" sind, während sie doch ganz im Widerspruch dazu das „Ähnliche im Unähnlichen" sind: sie werden als das,.Skelett der Wirklichkeit" aufgefaßt, zugleich versucht Croce jedoch weiterhin, sie in den Rahmen von Pseudobegriffen einzuzwängen. Jedenfalls zeigt sich hier zum ersten Mal eine neuartige Konzeption der Wirklichkeit, die nicht mehr nur aus örtlich und zeitlich begrenzten Situationen u n d Universalien besteht. Croce sah zuerst, daß der Begriff der Haltung eine unmittelbare Übersetzung in die Sprachtheorie erlaubte. In der „Philosophie der Praxis" schreibt er: „Dem Historismus verdanken wir zudem den Vergleich zwischen dem Leben des Rechts u n d dem Leben der Sprache, der schon von der komparatistischen Sprachwissenschaft vorbereitet wurde und insofern grundsätzlich richtig ist, als, wie wir sahen, er sich auf die g r a m m a t i s c h e Form beider Aktivitäten richtet. Dasselbe Bild wählte mit anderer Absicht und deutlicherem Ausdruck seines Gehaltes Jacobi, der an schon genannter Stelle im ,Woldemar', wo er darauf besteht, daß es eine moralisch legitimierte Übertretung von Gesetzen gibt, schreibt: ,Für diese Ausnahmen, für diese Freiheiten großer Poesie hat die Grammatik der Tugend keine bestimmten Regeln und schweigt daher darüber. Keine Grammatik, am wenigsten die allgemeine u n d philosophische, könnte in sich all das beschließen, was zu einer lebenden Sprache gehört, und somit festlegen, was zu allen Zeiten und in jedem Dialekt sprachlich gebildet werden darf. Es wäre jedoch unsinnig, deswegen zu behaupten, daß jeder so reden könne, wie es ihm gefällt " (Croce 1908, Practica 3 7 9 - 3 8 0 ) . Die „Haltungen" begründen etwas Institutionelles, in das der Ausdruck des Einzelnen einmündet. In diesem Zusammenhang einer genaueren Beurteilung der institutionellen Aspekte der Erfahrung beginnt, von Voßler angeregt, die Berücksichtigung der objektiven Realität der Sprache, die jetzt nicht mehr als von Grammatikern zu pädagogischen Zwecken erfundene Anhäufung von pseudobegrifflichen Fiktionen gesehen wird, sondern als objektives „Skelett des Körpers der sprachlichen Wirklichkeit", als eine konkrete wirkliche 128

Bedingung der einzelnen sprachlichen Handlungen. In diesem Verständnis kann die Sprache gewiß nicht weiterhin als „Poesie" verstanden werden (eine Behauptung dieser Art hat, wiewohl sie von vielen Linguisten, die sich als Croceaner verstanden, aufrecht erhalten wurde, für Croce keinen Sinn). Sie m u ß etwas anderes sein. Die Unterscheidung verschiedener Arten des Ausdrucks, mit der „Die Dichtung" (Croce 1970, 5 - 5 2 ) beginnt und die nicht bar innerer Widersprüche und Ungenauigkeiten ist (De Mauro 1954, 380—86), bereitet den Weg für eine positive Bestimmung dessen, was die Sprache ist. Schon in einer Schrift aus dem Jahre 1941, auf die wir oben hinwiesen, gibt es den ersten Versuch einer Bestimmung: ,,Das, was außerhalb der Sprachproduktion, des Nachdenkens und Beurteilens von Ausdruck, Sprache genannt wird, die Sprache der Linguisten ... muß etwas ganz anderes sein, m u ß wieder eintauchen in das Leben des Menschen, sein Begehren und seine Wünsche, seinen Willen und seine Handlungen, seine Gewohnheiten, das Schweifen seiner Phantasie, seine Verhaltensweisen (und darunter auch die Art, wie er dem einen oder anderen geformten Laut Bedeutung zuweist oder ihn in der einen oder anderen Weise hervorbringt), in all dieses..., das für sich ... ein praktisches Tun ist" (Croce 1941, 241—42). Die Idee der Sprache als sozialer Praxis und der Sprache als Produkt und Werkzeug dieser Praxis, die in der zitierten Schrift aufzukeimen scheint, konnte von Croce gewiß nicht bis zu Ende entwickelt werden, ohne daß er sich radikal von den Lehren der Logik und allgemeinen Philosophie abgewandt hätte, die er 4 0 Jahre zuvor in der „Philosophie des Geistes" dargestellt hatte. (De Mauro 1954, 3 8 6 - 8 7 ; Cavaciuti 1959. 9 2 - 9 3 ; Lombardi 1963, passim). Umso bedeutsamer ist es, daß Croce in seinen letzten Schriften häufig auf diese Vorstellung hingewiesen hat, am deutlichsten in einem Aufsatz über Natur und Aufgaben der Sprachwissenschaft (Croce 1950, 247—53). Durch die Erscheinung eines Bandes von Nencioni angeregt, sich neuerlich mit den Untersuchungen der Sprachwissenschaftler zu beschäftigen, schreibt Croce: „Was sind die einzelnen Wörter, die den Gegenstand solcher Untersuchungen bilden? ... Ich habe vorgeschlagen und schlage hier wieder vor, sie .Zeichen' zu nennen, lautliche, gestische, graphische Zeichen oder Kombinationen von ihnen oder wie immer man sie einteilen will. Und was ist das Zeichen?". Der alte Croce nimmt einen schon an anderer Stelle gegebenen Hinweis auf (Croce 1935, 3—8) und betont aufs neue die Unterscheidung zwischen dem, was nur „ A n z e i c h e n " einer Situation ist, und dem, was Zeichen ist: „Praktischer Wille u n d praktische Tätigkeit, deretwegen man von sozialer Kommunikation spricht (man darf hierbei nicht vergessen, daß auch die Kommunikation mit uns selbst und in uns selbst soziale Kommunikation ist), k o m m e n hinzu, um diese verschiedenen Anzeichen zu entwickeln und zu

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fixieren, und erheben sie damit zu Zeichen ... als praktischen Hilfsmitteln, die Dinge oder die Tatsachen zurückzurufen und, wie soll man sagen, sie zu bezeichnen" (Croce 1950, 2 4 8 - 4 9 ) . Auch für den ganz späten Croce hat also der Zeichengebrauch eine subjektive Grundlage und, wie für Saussure, ist diese Subjektivität nicht individualistisch zu verstehen, sondern ergibt sich aus den „Ursachen sozialer Kommunikation". Für eine Untersuchung des croceanischen Denkens reicht diese Aussage, um die Entfernung zu messen, die zwischen dieser Position und der des frühen Croce besteht, der den Zeichengebrauch als immer neue Erfindung einer Beziehung zwischen einer unteilbaren und unwiederholbaren Form und einem ebenso globalen und unwiederholbaren Inhalt begriff und der auf Gott und die „communicatio idiomatum" zurückgriff, um zu erklären, wie auf dieser Basis Kommunikation möglich sei. Auch fur den beabsichtigten Aufbau einer Semantik, die vor den Irrtümern der Vergangenheit geschützt sein soll, liefern die Vorstellungen des späten Croce wertvolle Hinweise. Allerdings sind diese Hinweise summarisch: die Beziehung zwischen Gesellschaft und Sprache, zwischen Einzelzeichen und Sprache ist kaum skizziert. Die Vertiefung dieser von Croce nur gestreiften Gesichtspunkte wurde, mit einer starken Betonung des individualistischen Aspekts, von Guido Calogero unternommen.

3. Die subjektive Garantie des Zeichengebrauchs: der semantische Individualismus und der Subjektivismus Wie Eugenio Garin (1959,466f.) gezeigt hat, erreicht Calogero sehr früh ein volles Bewußtsein des Angelpunktes, um den sich die philosophische Diskussion in Italien seit 1925 dreht. Schon mit den ersten Untersuchungen über Croce wird das Bemühen deutlich, jede „theologisierende" Position zu vermeiden, jede Position, die sich ein Individuum ohne die Möglichkeit des Akzeptierens oder Zurückweisens von Vorstellungen, Gesetzen, Gesetzesformulierungen, Dogmen, Traditionen, Gewohnheiten, Kategorien, Begriffen, Universalien, Herrlichkeiten aller Art vorstellt. Wenn das Individuum eine Beziehung zur Welt herstellt, dann verdankt diese Beziehung ihre Form ausschließlich dem Individuum selbst, das sie eingerichtet hat. Es gibt keine Universalien a priori, die die Freiheit des Individuums beschränken, es sei denn die notwendige und immerwährende Anwesenheit des Individuums bei sich selbst. Auf diese Weise war Calogero jeder Sorge um ein System enthoben und konnte einzelne Beiträge Croces benutzen, ohne sich verpflichtet zu fühlen,

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die vielen Vereinheitlichungen und Identifikationen zu berücksichtigen, zu denen sich Croce gezwungen hatte. Besonders im Gebiet der Philosophie der Kunst und der Sprache konnte er seit 1942, als die neuen Anschauungen Croces über die Sprache noch nicht entwickelt und bekannt waren, die Unterscheidung zwischen ästhetischer und künstlerischer Erfahrung auf der einen Seite und semantischer Praxis auf der anderen Seite (Calogero 1947, 12—13, 119f.) sowie in einer Polemik gegen Anschauungen des frühen Neopositivmus des Wiener Kreises mit guten Argumenten die grundsätzliche Verschiedenheit zwischen der Ebene der Semantizität und der wirklichen oder angenommenen Ebene der Logizität zeigen (Calogero 1948, 123—133). Die gleiche Abneigung, die Calogero die Wiedereinführung der Unterscheidung zwischen Kunst und Sprache erlaubte, die Abneigung nämlich gegen alles Nicht- und Überindividuelle, führte ihn dann, als er sich genauer mit semantischer Erfahrung beschäftigte, dazu, die Spuren des frühen Croce zu verlassen. Für diesen gibt es, wie für Calogero, in der Welt des Zeichengebrauchs keinen Raum für die Sprache, für fest an gegebene Formen gebundene Signifikanten, sondern allein für den individuellen Ausdruck und Zeichengebrauch. Die Sorge, daß jede Betonung der Sprache und der sprachlichen Zeichen als interindividuelle Einheiten zu platonischen, metaphysischen, theologisierenden Vorstellungen zurückführen k ö n n t e , bringt Calogero dazu, Annahmen zu machen, die noch enger und strenger sind, als diejenigen des frühen Croce: „Gegenüber jedem Plato, der fragt: ,Was ist die Tugend', tritt immer ein Sokrates auf, der ihn zur Genauigkeit anhält, indem er fragt: ,Was verstehst Du unter .Tugend'? ... Was genau versuchst Du zu bezeichnen, wenn Du von .Tugend' sprichst?' Die wirkliche Begriffskritik ist in der Tat nichts anderes, als dieses ,sokratische Fragen' ..., das unermüdliche Bestehen darauf, daß der Gesprächspartner die Bedeutung seiner Wörter immer genauer zu bestimmen versucht... Das einzige, das... wirklich von Bedeutung ist, ist zu verstehen, was ... Peter u n d Paul im Einzelfall meinen, wenn sie gewisse Termini benutzen, welche Gesamtheit unmittelbarer Lebenserfahrungen und Lebenserwartungen sie mit der Wiederholung dieser Schemata zu vergegenwärtigen suchen ..."(Calogero 1947, 1 8 4 - 8 5 ) . Calogero scheint also eine Alternative aufzustellen: entweder hält man es mit Sokrates oder man hält es mit Piaton; entweder räumt man ein, daß die Wörter eine gesicherte Bedeutung nur dann haben, wenn der Einzelne sie ihnen zuspricht und die Einzelnen, während sie miteinander sprechen, diese Zuschreibungen in Übereinstimmung bringen, oder man m u ß zugeben, daß die Wörter eine Bedeutung per se haben und damit auf eine Position zurückfallen, die Calogero „platonisch" nennt und die wir aristotelisch und 131

rationalistisch genannt haben, eine Position, deren Grenzen, Mängel und absurde Konsequenzen wir schon aufgezeigt haben. Und da er aus allgemeinen Gründen heraus diese zweite Position vermeiden m u ß , schlägt er sich auf die Seite Sokrates' und bezeichnet alle semantischen Untersuchungen, die auf die Bestimmungen einzelner Vokabeln im allgemeinen abzielen, einmal als „akademischen Zeitvertreib, oder im besten Fall Illustrierung der sprachlichen Gewohnheiten, die es mehr oder weniger verdienen, respektiert zu werden", ein ander Mal noch entschiedener als „Geschwätz". Einzig zulässig war seiner Meinung nach, wie wir sahen, eine Untersuchung, die sich auf das richtete, „was Peter und Paul im Einzelfall meinen, wenn sie diese Termini gebrauchen". Der unbeschränkten Freiheit des sprachlichen Gebrauchs des Einzelnen kann nur der Einzelne Grenzen setzen, indem er „die bekannte soziale Regel" akzeptiert, „daß es nicht angeht, zu sehr die Bedeutung eines Terminus zu verändern, da die Gewohnheit der Zuhörer ihr gutes Recht h a t " (Calogero 1947, 195). Es ist also durchaus möglich, daß die Wörter im Gebrauch verschiedener Personen dieselbe Bedeutung haben können. Aber diese Übereinstimmung ist das einfache Resultat einer guten Erziehung, der wechselseitigen Höflichkeit der Sprecher. So wie wohlerzogene Leute, wenn sie nicht zerstreut sind, auf der Straße acht geben, daß sie einander nicht anrempeln, so geben sie beim Sprechen acht, daß sie die Wörter nicht allzu unterschiedlich voneinander gebrauchen. Aber ebenso, wie wir bei einer Beschreibung der motorischen Vorgänge des menschlichen Körpers davon absehen können, daß die Menschen, wenn sie wohlerzogen sind, einander ausweichen, ebejnso können wir bei einer Beschreibung der semantischen Vorgänge davon absehen, daß die Menschen die Wörter auf dieselbe Art und Weise gebrauchen. Gegenüber der Tatsache, daß jemand ein Wort mit einer bestimmten Bedeutung verbindet, ist die Frage, ob diese Bedeutung mit derjenigen übereinstimmt, die ein anderer mit demselben Wort verbindet, völlig irrelevant, mit Ausnahme des „ k o n k r e t e n " Falles eines Gesprächs zwischen diesen beiden. Die individualistische Auffassung vom Zeichengebrauch birgt jedoch, wenn sie mit derartiger Strenge und Schärfe wie bei Calogero formuliert wird, einige Schwierigkeiten. Sicherlich ist man, wenn m a n sie akzeptiert, gefeit gegen metaphysische Gefahren und gegen den sprachlichen Solipsismus, den man aus der aristotelisch rationalistischen Vorstellung von der Sprache ableiten kann. Man bleibt jedoch anderen Einwänden ausgesetzt. Vor allem trifft der Vorwurf, daß diese Vorstellungen nur eine schlechte Beschreibung des wirklichen sprachlichen Verhaltens darstellen. Es k o m m t ja tatsächlich vor, daß wir beim Sprechen gefragt werden oder selbst einen Gesprächspartner fragen, was er mit diesem oder jenem Wort meint. Aber es handelt sich dabei um äußerst 132

seltene Fälle. Selbst Alice, an die wir schon wegen ihrer Vorliebe zum Nichtverstehen erinnerten, passiert es nur ein einziges Mal während ihrer ganzen Reise hinter den Spiegel in den berühmten u n d verzwickten Gesprächen mit Goggelmoggel: „Eine Glocke für Dich!" „Ich verstehe nicht, was sie mit ,Glocke' meinen", sagte Alice. Goggelmoggel lächelte verächtlich. „Wie solltest du auch, ich m u ß es dir doch zuerst sagen. Ich meinte: ,Wenn das kein einmalig schlagender Beweis ist'." „ A b e r Glocke heißt doch gar nicht .einmalig schlagender Beweis'," wandte Alice ein. „Wenn ich ein Wort gebrauche", sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, „dann heißt es genau das, was ich für richtig halte — nicht mehr und nicht weniger." „Es fragt sich n u r " , sagte Alice, „ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen k a n n . " „Es fragt sich n u r , " sagte Goggelmoggel, „wer das Sagen hat, das ist alles." Dialoge dieser Art sind ziemlich selten; gewöhnlich fragen wir Peter und Paul nicht, um herauszufinden, was sie mit einem Wort meinen, sondern bedienen uns offensichtlich anderer Mittel, die in der individualistischen Bedeutungsvorstellung im Dunkeln bleiben. Abgesehen von diesem Einwand m u ß man sagen, daß eine individualistische Bedeutungsvorstellung, wenn sie ein exaktes Abbild des normalen Sprachverhaltens sein will, jeden sinnvollen Dialog äußerst erschwert. Kaum daß unser Gesprächspartner den Mund geöffnet hat, müßten wir ihn sokratisch fragen „was meinst du denn mit diesem Wort?" und unser Gesprächspartner hätte das Recht, sogar die sokratische Pflicht, zurück zu fragen: „und was meinst du mit ,was meinst du denn mit diesem W o r t ' ? " . Wenn der Zeichengebrauch auf individualistischen Zustimmungsakten beruhen würde, dann würden die Menschen am Ende schweigen oder sich unaufhörlich Fragen wie diese stellen: „Was meinst du mit , w a s ' ? " oder sogar „Wie ,was'?". Gibt es, wenn man diesen Konsequenzen ausweichen will, keine andere Möglichkeit, als in die Vorstellung der Sprache als Nomenklatur zurückzufallen? Gibt es, um die Einwände zu vermeiden, die man gegenüber Sokrates (und den Sophisten) vorbringen kann, keine andere Möglichkeit, als die Sprache im Sinne Piatos (und Aristoteles) zu verstehen? An anderer Stelle seiner Schriften schlägt Calogero eine dritte Lösungsmöglichkeit vor, um aus dem Dilemma zwischen rationalistischer und individualistischer Auffassung des Zeichengebrauchs herauszuführen. So schreibt er: „Es ist so, daß das Zeichen mit der Bedeutung durch eine geschichtliche Tradition verbunden ist, die sich langsam herausgebildet hat und sich durch unendliches Wiederholen und Erneuern der menschlichen Rede entwickelt und die es immer grundsätzlich zu beachten gilt, auch in jeder einzelnen Neubildung, denn sonst wäre Sprechen ein ebenso schwieriges wie vergebliches

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Unterfangen ... Unter diesem Gesichtspunkt gibt es nichts Instrumentelleres, nichts, das radikaler dem Gebrauch unterworfen wäre, als die Sprache. Ihr ganzer Wert liegt in ihrer kommunikativen Wirksamkeit. Wenn man sich mit ihrer Hilfe verständigt, ist das Ziel erreicht... Im Gebrauch, d.h. in der häufigsten oder am meisten gefestigten Sprechgewohnheit liegt der letzte Maßstab der funktionalen Richtigkeit einer Sprache" (Calogero 1947, 181). Diesem Hinweis zufolge hängt die Bedeutung eines Wortes nicht vom Gebrauch eines Individuums in einem einmaligen Akt ab, sondern vom Gebrauch eines Individuums, insofern es in eine bestimmte historische Gemeinschaft eingefugt und von daher gezwungen ist (auch wenn es nicht wohlerzogen ist), jede individuelle Willkür bei der Verbindung von Bedeutung und Wort zu vermeiden. Die Anerkennung des institutionellen Charakters des Zeichengebrauchs war ziemlich weit verbreitet im Umkreis einer beachtlichen Gruppe italienischer Linguisten, angeführt von G. Nencioni (1946, 155ff.) und G. Devoto (1950, 3—53 und 1951). Diese Anerkennung entsteht dadurch, daß man die verschiedenen und entgegengesetzten Notwendigkeiten empfindet, die vom frühen Croce ausgedrückt u n d von Saussure im „Cours" notiert wurden: die „Institutionalisten" unter den Linguisten halten es mit Croce und verneinen, daß die Sprache als ein Gefüge von Normen aufgefaßt werden könne, das sich von außen den Sprechenden überstülpt, als ob es ein Eigenleben besäße und die Fähigkeit, Einschränkungen aufzuerlegen; und sie halten es mit Saussure und betonen, daß man in einer sprachlichen Tradition nicht nur eine unendliche Reihe individueller und untereinander unverbundener Akte sehen kann, sondern die Existenz einer verborgenen Systematik in jedem sprachlichen Akt anerkennen m u ß , durch die er erst zu einem solchen wird u n d durch den die Menschen Bedeutungen ausdrücken können. Um diese entgegengesetzten Anforderungen auszubalancieren und zu vereinheitlichen, haben sie den Begriff der Individualsprache entwickelt und haben die Sprache als Gesamtheit der Übereinstimmung zwischen den Individualsprachen dargestellt oder, mit entschiedener Betonung der interindividuellen Bedeutung der Sprache, sie als „intermediäres Element, zeitlich ausgedehnt, und zugleich abstrakt", und als „Kristallisation" der primären, von den Individualsprachen dargestellten Wirklichkeit bezeichnet. Aber wieso ergeben sich diese Übereinstimmungen und wieso kommt es zu solchen „Kristallisationen"? Noch grundsätzlicher gefragt, wieso institutionalisieren sich die individuellen sprachlichen Akte und werden „grammatikalisiert" in einer „Individualsprache", die getrennt ist von diesen einzelnen Akten? Möglicherweise kann eine Vertiefung der Analogien zwischen Sprachverhalten und dem juristisch zu beurteilenden Verhalten, die im übrigen schon von Lucidi angeregt wurde

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( 1 9 4 6 , 8 3 ) und ebenfalls von Piovani ( 1 9 6 2 , 1 3 und passim), helfen, genau diese Fragen zu beantworten. Die Individualsprache wird verstanden als Summe der Übereinstimmung zwischen den zahllosen Akten der „parole" desselben Individuums, als Grammatikalisierung und Regelbildung, die sich auf eine Auswahl desselben Individuums bezüglich seines Sprachverhaltens und seines Zeichengebrauchs stützen. Veränderungen sind nur insofern möglich, als es ihnen gelingt, in der Individualsprache fußzufassen, sich dort zu fixieren und somit zur Regel zu werden. Anderenfalls werden sie mit Sanktionen belegt. Hierbei ist leicht zu sehen, daß die Probleme mit denjenigen übereinstimmen, die Bobbio in zwei aufeinanderfolgenden Arbeiten über die Theorie der Normen und die Theorie der Rechtsordnung herausstellte (Bobbio 1 9 5 8 , 1960). Bobbio schrieb: „Juristische Nonnen nennen wir diejenigen, deren Ausführen durch äußerliche und institutionalisierte Sanktionen gesichert i s t " ( 1 9 5 8 , 198). Zur Präzisierung dieser Definition schrieb er weiter: „Diese Definition ist eine Bestätigung ... der Notwendigkeit, in der sich ein Theoretiker des allgemeinen Rechts befindet,... der die einzelne Norm nur innerhalb der gesamten Rechtsordnung bestimmen kann. Wenn juristische Normen nur institutionalisiert sein müssen, so bedeutet dies, daß, damit R e c h t sein kann, notwendigerweise auch eine kleine oder große Organisation, d.h. ein vollständiges normatives System bestehen muß. Wenn man das R e c h t vermittelt über den Begriff der organisierten Sanktionen definiert, dann bedeutet dies, daß man das bestimmende Merkmal des Rechts nicht in einem einzelnen Element der Norm, sondern in einem komplexen Zusammenhang von Nonnen sucht(...). Unsere Forschung (...) ist eine Bestätigung des Vorgehens ,vom Teil zum Ganzen', dem die allgemeine Rechtstheorie folgt, wenn sie das Wesen des Rechts verstehen will: sie geht zwar von der einzelnen Norm aus, kommt dann aber doch bei der Rechtsordnung als ganzer an ( . . . ) " (Bobbio 1 9 6 0 , 1 4 - 1 5 ) . Ebenso kann man die Grammatikalisierung oder die Sanktionen des jeweiligen Sprachverhaltens der Einzelnen nicht verstehen, ohne sich auf die Systematizität der Grammatik oder des Zusammenhangs von Sanktionen zuriickzubeziehen, die eine Individualsprache ausmachen. Dies ist möglicherweise etwas, das dem von Saussure erdachten kollektiven System sehr ähnlich ist. Wesentlich dabei ist jedoch, daß es eine Ordnung darstellt, die sich außerhalb des einzelnen sprachlichen Aktes bildet und diesen erst zum Akt der Sprache macht. Ob es seinen Platz nun im Gehirn eines einzelnen oder von hundert Individuen hat, das ist ein zweitrangiges Problem und nur dann wichtig zu wissen, wenn man verstehen will, wie die Menschen einander verstehen. Zunächst einmal ist wichtig, daß ein Mensch, auch wenn er für sich

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allein sprechen will, dies nicht tun kann, ohne sich auf ein Normengefüge zu beziehen. Ziff (1960, 7ff.) hat gezeigt, daß wir die Semantik einer Äußerung auch dann studieren können, wenn wir uns auf einen einzelnen Idiolekt beziehen, insofern der Idiolekt, obwohl er auf ein einzelnes Individuum beschränkt ist, sich nicht im einzelnen Äußerungsakt erschöpft, sondern schon „Sprache" ist. Im übrigen ist der Bezug zu einer Ordnung, die den einzelnen sprachlichen A k t qualifiziert und folglich in ihm nicht völlig auflösbar ist, auch einem so leidenschaftlichen Verfechter des sprachlichen Individualismus wie Terracini aufgefallen, der es aus seiner Sicht mehrfach als „gefahrlich und mehrdeutig" bezeichnet h a t , „von einer Individualsprache zu reden" und hinter dem Begriff der Institution die wirkliche Existenz des Saussureschen „Systems" sehen wollte (Piovani 1962, 20; 3 5 ; Terracini 1963). Kurz, die lebhafte Debatte, die sich zwischen denjenigen italienischen Sprachwissenschaftlern entwickelte, die den croceanischen Gedankengängen am nächsten standen, scheint zu bestätigen, daß man, wenn man die ursprüngliche croceanische Position aufgibt, welche die Sprache auflöste und als einzige sprachliche Wirklichkeit den einzelnen, einzigartigen und keiner Regel unterworfenen Ausdrucksakt beibehielt, nichts anderes bleibt, als den Weg „von den Teilen zum Ganzen" zu gehen, um die Worte Bobbios zu wiederholen. Und von der Vorstellung der Institutionalisierung des einzelnen sprachlichen Aktes ist es nicht weit zur Anerkennung der systematischen Regelhaftigkeit, die das Verhalten des Einzelnen als Sprachverhalten bewertet. Diese Probleme, die Hinweise des späten Croce, die Vorstellungen, die Saussure in seiner letzten Vorlesung zur Allgemeinen Sprachwissenschaft entwickelte, sind auf kongeniale Weise aufgenommen worden, umgeformt in den Gegenstand einer gründlichen analytischen Reflexion in den p h i l o s o phischen Untersuchungen" von Ludwig Wittgenstein.

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Vili. Die Bedeutung als Organisationsprinzip der Erfahrung

1. Philosophie und Erkenntnis in den „Philosophischen Untersuchungen" Bisweilen hat man behauptet, die „Philosophischen Untersuchungen" seien ein Buch, das sich einzig und allein mit Sprachtheorie und Semantik beschäftige. Im großen ganzen ist dies richtig. Will man indes dieses Buch voll verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß es, worauf Wittgenstein selbst im Vorwort hinweist, das Gegenstück zum „Tractatus" ist. Dies bedeutet, daß man in ihm a u c h eine Methodologie und Ontologie zu suchen hat, die sich von denen im „Tractatus" unterscheiden, ja ihnen entgegengesetzt sind. Und wenn man den „Tractatus" nicht voll verstehen kann, ohne die Rolle der Ideen von der Sprache zu berücksichtigen, dann kommt man bei den „Untersuchungen" nicht ohne das Verständnis der ontologischen und philosophischen Ideen aus, die in der Darlegung der Ideen von der Sprache enthalten sind. Den Kern der „Philosophie der Philosophie" der „Untersuchungen" findet man im folgenden Paragraphen: „90. Es ist uns, als müßten wir die Erscheinungen d u r c h s c h a u e n : unsere Untersuchung aber richtet sich nicht auf die E r s c h e i n u n g e n , sondern, wie man sagen könnte, auf die M ö g l i c h k e i t e n ' der Erscheinungen. Wir besinnen uns, heißt das, auf die A r t d e r A u s s a g e n , die wir über die Erscheinungen machen." Die Aufgabe des Philosophen besteht demnach nicht in der Entdeckung von Erscheinungen und noch viel weniger im Beweis, daß bestimmte Erscheinungen existieren, sondern darin, die Bedingungen anzugeben, unter denen wir die Erscheinungen beschreiben und erkennen. „109. (...) Diese (= die philosophischen. — D. Ubers.) Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten."; „126. Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. - Da alles offen daliegt, ist auch nichts zu erklären. (...) .Philosophie' könnte man auch das nennen, was v o r allen neuen Entdeckungen und Erfindungen möglich ist."; „127. Die Arbeit des Philosophen ist ein Zusammentragen von Erinnerungen zu einem bestimmten Zweck." 137

Wittgenstein liegt damit nicht nur auf der Linie der modernen Philosophie der Erkenntnis, sondern gehört zu ihrer Avantgarde, wenn es richtig ist, daß „die tiefste Bedeutung der modernen Gnoseologie, soweit sie die positive Modernität des menschlichen Denkens in seinem Anspruch auf geltungsrelevante Erkenntnis in der Nachfolge Kants und des modernen Idealismus ist (im Gegensatz zu Unterstellungen, daß die Transzendentalphilosophie mit der alten Lehre von den Begriffen (Ideen), die als universal und rational, als apriori, betrachtet werden, immer noch von der griechischen philosophischen Spekulation zehrt), ihre kritische Fundierung ist und nicht mehr die dogmatische des Realismus" (Lombardi 1963, 181). Wittgenstein bemüht sich um eine Klarstellung in diesem Sinne: „91. (...) Man kann das auch so sagen: Wir beseitigen Mißverständnisse, indem wir unseren Ausdruck exakter machen: aber es kann nun so scheinen, als ob wir einem bestimmten Zustand, der vollkommenen Exaktheit, zustreben; u n d als wäre das das eigentliche Ziel unserer Untersuchung." Wittgenstein geht es, wie wir gesehen haben, um anderes. Dieser Methodologie der philosophischen Forschung — nämlich die Möglichkeit oder die Arten der möglichen Aussagen herauszufinden - entspricht eine neue Auffassung vom ganzen menschlichen Wissen: in einer langen Tradition des philosophischen Denkens, vom „Theaitetos" Piatons bis zu Russell und zum frühen Wittgenstein, wurde angenommen und behauptet, daß es in der Wirklichkeit „erste Elemente" gäbe (die „individuals" Russells, die „Gegenstände" des „Tractatus"), die die einfachsten konstitutiven Bestandteile des Realen ausmachen. Dieser Standpunkt ist für die Linguistik von entscheidender Wichtigkeit, ganz gleich, ob man ihn beibehält oder ob man ihn der ihn auflösenden Kritik unterwirft. Saussure nannte eben diese alte und traditionalle Sichtweise, die, von Aristoteles bis zum „Tractatus", die Sprache als Nomenklatur auffaßt, die Meinung des „grand public". Offensichtlich nahm die rationalistische Grammatik eben diesen Standpunkt ein: ,J)ie Gegenstände unseres Denkens sind entweder die Dinge wie ,die Erde', ,die Sonne', ,das Wasser', ,das Holz', also das, was man gewöhnlich .Substanz' nennt, oder es sind die Modi (das Sosein) der Dinge wie ,rund'sein, ,rot'-sein, ,hart'-sein, ,gelehrt'-sein usw., also das, was man ,Akzidenz' nennt. (...) Dies hat den Hauptunterschied zwischen den Wörtern bewirkt, die die Gegenstände unseres Denkens bezeichnen: denn diejenigen, die die Substanzen bezeichnen, sind .Substantive' (,noms substantifs') genannt worden, und diejenigen, die die Akzidenzien bezeichnen, indem sie (gleichzeitig) das diesen Akzidenzien Zugrundeliegende (das Subjekt) bezeichnen (,mar quer'), sind .Adjektive' (,noms adjectifs') genannt worden. (...)" „Die Menschen haben sich also zuerst selbst betrachtet, und nachdem sie 138

unter sich einen sehr beträchtlichen Unterschied, nämlich den der beiden Geschlechter, festgestellt hatten, beschlossen sie, die Adjektive in entsprechender Weise zu verändern mit Hilfe verschiedener Endungen, je nachdem, ob sie auf Männer oder auf Frauen angewandt wurden. (...) Aber dies mußte schon sehr früh geschehen sein (...), damit dieselben Adjektive anderen Dingen als Männern oder Frauen zugesprochen werden k o n n t e n . (...)" „Würde man die Dinge immer voneinander getrennt betrachten, dann hätte man den Namen (.noms') nur die beiden Veränderungen gegeben, die wir eben aufzeigten: d.h. die Veränderung der Zahl (Numerus) für jede Art von Namen, und des Genus für die Adjektive. Aber weil man sie o f t in den verschiedenen Beziehungen betrachtet, in denen sie zueinander stehen, bestand eine der Erfindungen, deren man sich in einigen Sprachen bedient, um diese Beziehungen zu kennzeichnen, darin, den Namen zusätzlich verschiedene Endungen beizugeben, die man Kasus genannt hat ..." (Arnauld/Lancelot 1966, 30f., 39, 43) Diese Naivitäten haben, wie bereits gesagt, die Zeiten überdauert; und weü die etablierte Linguistik für alles, was den semantischen Aspekt der Sprachen angeht, nur Desinteresse bekundete, haben sie in den seit dem späten 19. Jh. ausgearbeiteten syntaktischen Werken gar die Weihe der Wissenschaftlichkeit erhalten. Wie weit dies ging, zeigt ein konkreter Fall. Als vor noch nicht allzu langer Zeit eine Autorität wie Benveniste begründete Zweifel an der Konsistenz der traditionellen Definitionen von Substantiv — Redeteil, der den „Gegenstand" („oggetto") anzeigt — und Verb — Redeteil, der den „Prozeß" anzeigt — vorbrachte und behauptete, daß im Gegenteil die Unterscheidung von Gegenstand und Prozeß eine Projektion und Ontologisierung des in unserer Sprache vorhandenen Unterschieds von Nomina u n d Verben sei (Benveniste 1950, 29—36), war dies verblüffenderweise für die „Spezialisten" ein Skandalon (Lasso de la Vega 1955, 22f.). Sie sahen offenbar die Welt rings herum zusammenstürzen oder, besser gesagt, das, was nach einigen Jahrhunderten rationalistischer Syntax für die Welt gehalten wurde. Noch bezeichnender aber ist es, daß diese archaischen Sichtweisen den ersten vollendeten Versuchen der Strukturalisten zugrunde lagen: das bemerkenswerteste Beispiel ist die von R. Jakobson ausgearbeitete allgemeine Kasustheorie, die von den alten Vorstellungen von Port-Royal nicht abweicht, wonach die Kasus die Beziehungen zwischen den durch die Namen gekennzeichneten Dingen anzeigen sollen, und die lediglich versucht, die aus der Spätantike stammenden Definitionen der Kasus auf äußerliche Weise zu rationalisieren, ohne sich deren radikaler Insuffizienz bewußt zu werden (Jakobson 1936, bes. 247f. und 262). Die sich als „ m o d e r n " verstehende Linguistik ist also alles andere als weit davon entfernt, semantisch-syntaktische

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Auffassungen von größter Archaik weiterhin Glauben zu schenken. Tatsächlich gründet auch das berühmte „semantische Dreieck" von Ogden und Richards auf der platonischen Vorstellung von den „ersten Elementen", das von den angelsächsischen Gelehrten so wiedergegeben wird (Ogden/Richards 1923, 11; dt. 1974, 18): GEDANKE ODER BEZUG ZULÄNGLICH nimmt Bezug auf (andere kausale Beziehungen)

ZUTREFFEND symbolisiert (eine kausale Beziehung) SYMBOL

steht für

R E F E R E N T (BEZUGSOBJEKT)

(eine angenommene Beziehung) WAHR

Interessanterweise hegt Ulimann dem „Dreieck" gegenüber Unbehagen: zwar akzeptiert er es der Sache nach, gibt aber — neben einigen terminologischen Änderungen, denen zufolge , S y m b o l " , „Gedanken" und „ R e f e r e n t " durch „Namen", „Sinn" u n d „Sache" ersetzt werden sollen — zu bedenken, daß „der Linguist gut daran tut, seine Aufmerksamkeit auf die linke Seite des Dreiecks zu beschränken, auf die Verbindung von Symbol und Gedanken bzw. Referenten" (Ullmann 1962, 5 5 - 5 7 ; Rosiello 1962,49f.). Wenngleich man, wie gesagt, die Fähigkeit zur Selbstbeschränkung bei Linguisten nicht gering schätzen sollte, so sieht man doch nicht, welchen logischen Grund dieser Appell hat: in voller Übereinstimmung mit ihrer prähellenistischen Sichtweise definieren die beiden modernen Amerikaner die Beziehung, die zwischen Symbol und Gedanken u n d zwischen Gedanken und Sache (Ding) besteht, jeweils als Kausalbeziehung. Wenn es sich so verhält, dann ist nicht zu verstehen, im Namen welcher Abstinenzregel der Linguist sich enthalten sollte, zu den ersten Gründen seiner Untersuchungsgegenstände zurückzugehen, d.h. zu den Dingen und zu den „pathemata", die diese in der Seele hervorrufen. Schließlich gelangen auch andere, wenngleich sie nicht gern von Seele sprechen, zur gleichen Auffassung vom semantischen Wert der Wörter als einer Beziehung zwischen Lautkörpern und Dingen, wobei die letzteren als präkonstituierte Entitäten, als „erste Elemente" begriffen werden — seien es Behavioristen u n d Semiotiker wie Morris, seien es Strukturalisten mit stark formalistischem Einschlag wie Antal. Nach Antal „ist die Bedeutung (significato) etwas, das die Regularität des Gebrauchs eines Zeichens festlegt, was soviel bedeutet, wie daß sie die möglichen Denotate des Zeichens festlegt" (Antal 1964, 61). Wenn die Linguisten sich weniger mit Phonologie beschäftigt und dafür den „Tractatus" von Wittgenstein aufmerksamer

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gelesen h ä t t e n , d a n n h ä t t e die a b s u r d e K o n s e q u e n z , die der Wiener Philosoph m i t logischer Strenge aus dieser Prämisse zieht, sie an der Gediegenheit dieser Prämisse zweifeln lassen. N o c h m a l s : was etablierte Linguistik, S e m a n t i k u n d S y n t a x nicht geleistet h a b e n , w u r d e von Wittgenstein geleistet. Wenn der frühe Wittgenstein mit seinem Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit der K o m m u n i k a t i o n eine offensichtliche u n d wirksame Kritik im R a h m e n der Lehre von der S p r a c h e als N o m e n k l a t u r anregt, w e n n Gelehrte wie Saussure, Trier, Hjelmslev, Martinet mit g u t e n A r g u m e n t e n eben diese Lehre kritisieren, so packt der späte Wittgenstein diese Lehre an d e r Wurzel, wenn er b e s t r e i t e t , daß man von „ersten E l e m e n t e n " , von „ e i n f a c h e n E l e m e n t e n " , von „einheitlichen G e g e n s t ä n d e n " in einem absoluten Sinn sprechen kann. „ 4 7 . A b e r welches sind die einfachen Bestandteile, aus denen sich die Realität z u s a m m e n s e t z t ? — Was sind die e i n f a c h e n Bestandteile eines Sessels? — Die S t ü c k e Holz, aus d e n e n er z u s a m m e n g e f ü g t ist? Oder die Moleküle, oder die A t o m e ? - ,Einfach' h e i ß t : nicht z u s a m m e n g e s e t z t . Und da k o m m t es darauf an: in welchem Sinne z u s a m m e n g e s e t z t ' ? Es h a t gar keinen Sinn von den e i n f a c h e n Bestandteilen des Sessels schlechtweg' zu reden. O d e r : Besteht mein Gesichtsbild dieses Baumes, dieses Sessels, aus Teilen? u n d welches sind seine e i n f a c h e n Bestandteile? Mehrfarbigkeit ist e i n e Art der Z u s a m m e n g e s e t z t h e i t ; eine andere ist, z.B., die einer g e b r o c h e n e n K o n t u r aus geraden Stücken. Und ein Kurvenstück kann m a n zusammengesetzt n e n n e n aus einem a u f s t e i g e n d e n u n d einem absteigenden Ast. Wenn ich j e m a n d e m o h n e weitere Erklärung sage ,Was ich j e t z t vor mir sehe, ist z u s a m m e n g e s e t z t ' , so wird er mit R e c h t fragen: .Was meinst du mit .zusammengesetzt'? Das kann ja alles Mögliche h e i ß e n ! ' - Die Frage ,Ist, was a u siehst, z u s a m m e n g e s e t z t ? ' h a t wohl Sinn, w e n n bereits f e s t s t e h t , um welche Art des Zusammengesetztseins - d.h., u m welchen b e s o n d e r e n Gebrauch dieses Wortes -- es sich handeln soll. Wäre festgelegt w o r d e n , das Gesichtsbild eines Baumes solle , z u s a m m e n g e s e t z t ' heißen, w e n n m a n nicht n u r einen S t a m m , sondern auch Äste sieht, so h ä t t e die Frage ,Ist das Gesichtsbild dieses Baumes einfach oder z u s a m m e n g e s e t z t ? ' u n d die Frage .Welches sind seine e i n f a c h e n Bestandteile?' einen klaren Sinn — eine klare V e r w e n d u n g . (...) Aber ist z.B. nicht ein S c h a c h b r e t t o f f e n b a r u n d schlechtweg z u s a m m e n gesetzt? — Du d e n k s t wohl an die Z u s a m m e n s e t z u n g aus 3 2 weißen u n d 3 2 schwarzen Q u a d r a t e n . Aber k ö n n t e n wir z.B. n i c h t auch sagen, es sei aus den F a r b e n Weiß, Schwarz und dem S c h e m a des Q u a d r a t n e t z e s z u s a m m e n g e s e t z t ? Und w e n n es hier ganz verschiedene Betrachtungsweisen gibt, willst du d a n n n o c h sagen, das S c h a c h b r e t t sei z u s a m m e n g e s e t z t ' schlechtweg? — Außerhalb eines b e s t i m m t e n Spiels zu fragen ,Ist dieser Gegenstand 141

zusammengesetzt?', das ist ähnlich dem, was einmal ein Junge tat, der angeben sollte, ob die Zeitwörter in gewissen Satzbeispielen in der aktiven, oder in der passiven Form gebraucht seien, und der sich nun darüber den Kopf zerbrach, ob z.B. das Zeitwort .schlafen' etwas Aktives oder etwas Passives bedeutet. Das Wort .zusammengesetzt' (und also das Wort .einfach') wird von uns in einer Unzahl verschiedener, in verschiedenen Weisen miteinander verwandten, Arten benutzt. (Ist die Farbe eines Schachfeldes einfach, oder besteht sie aus reinem Weiß und reinem Gelb? Und ist das Weiß einfach, oder besteht es aus den Farben des Regenbogens? — Ist diese Strecke von 2 cm einfach, oder besteht sie aus zwei Teilstrecken von je 1 cm? Aber warum nicht aus einem Stück von 3 cm Länge und einem, in negativem Sinn angesetzten, Stück von 1 cm?)" Summa summarum: die Einfachheit oder Komplexität eines Gegenstandes und damit auch die Konsistenz des Gegenstandes hängen von den Koordinaten ab, unter denen der Gegenstand betrachtet wird. Der Gegenstand, sofern er eine bestimmte Konsistenz und Konstitution aufweist, ist keine vorgängige Gegebenheit für die Wahl der Koordinaten, und also geht er der Erfahrung nicht voraus. Von der Analyse des Wissens herkommend trifft sich Wittgenstein damit mit den Linguisten, die häufig direkt vom in dieselbe Richtung weisenden Neukantianismus Cassirers beeinflußt sind, und die ihre Polemik richteten gegen „die naive Vorstellung, die gesamte Welt ordne sich, noch ehe sie der Mensch wahrnimmt, in wohl unterschiedene Gegenstandskategorien" (Martinet 1960, 15; dt. 19). Bei einer solchen Einstellung können die Sprache und die Bedeutung natürlich nicht mehr als Abbild einer ontologisch und logisch vorgegebenen Realität aufgefaßt werden: wir verdanken Wittgenstein die Bestimmung dessen, was Sprache und Bedeutung im Rahmen der neuen, von ihm aufgezeigten Perspektive des menschlichen Wissens sind. In dieser Hinsicht steht er, wie wir sehen werden, mit seinen Überlegungen nicht allein da. Sie überschneiden sich mit denen von Cassirer und der fortgeschrittensten zeitgenössischen Linguistik und Semantik.

2. Die Sprache als kollektive Systematisierung der semantischen Erfahrung Nach Wittgenstein beeinflußt die Sprache in doppelter Weise die Wahl der Koordinaten, nach denen wir unsere Kenntnis eines Gegenstandes als einfachen oder zusammengesetzten konstruieren. Zum einen beeinflußt sie die Wahl in einer Weise, die wir metasprachlich nennen können, insofern der Gebrauch einer bestimmten Sprache unter bestimmten Umständen sich in der Metasprache konstituiert, d.h. zu Sätzen (proposizioni) über diese Sprache 142

selbst f ü h r t . Wenn wir unser Wissen von einem als einfach oder z u s a m m e n gesetzt b e t r a c h t e t e n Gegenstand beurteilen o d e r rechtfertigen, dann m u ß notwendigerweise, wie bereits weiter oben gesagt, unser S p r e c h e n , i n d e m es im einen oder anderen Sinn den G e b r a u c h der beiden Wörter regelt, das Urteil über die S t r u k t u r des Dings aktiv beeinflussen: „ 4 7 . (...) Auf die philosophische Frage: ,Ist das Gesichtsbild dieses Baumes zusamm e n g e s e t z t , u n d welches sind seine Bestandteile?' ist die richtige A n t w o r t : ,Das k o m m t darauf an, was du u n t e r z u s a m m e n g e s e t z t ' verstehst.' ( . . . ) " . A b e r die S p r a c h e b e e i n f l u ß t diese Wahl im allgemeinen n o c h in anderer Weise: nicht nur auf der Ebene der Sätze hinsichtlich der A r t u n d Weise, wie wir die Wörter „ e i n f a c h " u n d „ z u s a m m e n g e s e t z t " verwenden, s o n d e r n auch auf der Ebene der F o r m u l i e r u n g eines beliebigen Satzes über eine beliebige S i t u a t i o n u n d damit a u f der E b e n e des Wortschatzes u n d des Wortgebrauchs einer S p r a c h e . Die Vorstellung, daß d e r tradierte sprachliche Bestand, das V o k a b u l a r u n d die syntaktischen S t r u k t u r e n , eine konstitutive K o m p o n e n t e unseres Wissens darstellen k ö n n e , wurde s c h o n ein J a h r h u n d e r t , ja a n d e r t h a l b J a h r h u n d e r t e vor H u m b o l d t entwickelt, nämlich bei L o c k e , Vico und Leibniz u n d später in den vergessenen Analysen von Berkeley u n d H u m e präzisiert. H a m a n n wiederholt sie, u n d vermittelt d u r c h H a m a n n u n d die K e n n t n i s von Leibniz' Werk gerät sie m i t Herder und H u m b o l d t in den festen Bestand von Vorstellungen, die die R o m a n t i k e r als ihre ureigenen b e t r a c h t e t e n — eine Meinung, die von Historikern fortgeschrieben w u r d e . Wir sahen bereits, wie die r o h e n u n d oberflächlichen Kenntnisse in Kultursoziologie, Ideengeschichte u n d Psychologie dafür verantwortlich w a r e n , daß die skizzierte I d e e zu U n t e r s u c h u n g e n ohne gesicherte Ergebnisse geführt h a t t e . Die innere S c h w ä c h e dieser Untersuchungen war für einige wenige wie Madvig oder Bréal ein zusatzliches Motiv, um alles Allgemeine, nicht Konkretisierte in ihren Voraussetzungen u n d Resultaten auszuscheiden, sie zu präzisieren, zu verd i c h t e n ; die „ S y n t a x " von Madvig u n d die semantischen Essays von Bréal f a n d e n indes keine Nachfolger - glänzende u n d einsame Zeugnisse davon, wie auch hervorragende Arbeiten nicht dazu motivieren k o n n t e n , ihrem Beispiel zu folgen, wie dies logischer- u n d vernünftigerweise nahegelegen h ä t t e . Die etablierte Linguistik wollte sich von der Möglichkeit des I r r t u m s reinhalten und beschränkte sich auf das sichere Gebiet der diachronischen u n d später synchronischen Beschreibung der sprachlichen F o r m e n ; dabei überging sie deren semantische u n d s y n t a k t i s c h e F u n k t i o n und die Rolle, die diese bei der K o n s t i t u t i o n des kollektiven wie individuellen kognitiven V e r m ö g e n s spielen. S o l c h e Vernachlässigung d a u e r t n u n über ein J a h r h u n d e r t an u n d ist h o f f e n t l i c h bald Geschichte. Wie wir zu zeigen versucht h a b e n , ist dafür in b e t r ä c h t l i c h e m Maß die europäische Philosophie verantwortlich.

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Indem diese sich die von Kant aufgeworfene Problematik zum Thema machte, vernachlässigte sie alle Probleme, die mit der Sprache als solcher und mit den einzelnen Sprachen verbunden sind. Glücklicherweise „gibt es jemand, der mehr Geist hat als Voltaire, nämlich die ganze Welt" („il y a quelqu'un qui a plus d'esprit que Voltaire: c'est tout le m o n d e " ) ; und „ t o u t le m o n d e " wurde in diesem Fall vor allem durch die experimentelle Psychologie vertreten: „Ein Großteil der Unterschiede, die wir an Gegenständen und Ereignissen wahrnehmen, würde uns entgehen, wenn die Gesellschaft uns für diese Gegenstände und Ereignisse nicht verschiedene Namen beigebracht hätte. Natürlich gilt auch das Umgekehrte: die Gegenstände der Wahrnehmung, mit denen wir täglich in Beziehung stehen, erlangen Einheit und Kontinuität, die einen Namen erforderlich machen; d.h. wir unterscheiden o f t erst einen Gegenstand oder eine Klasse von Gegenständen und lernen dann den Namen. Im allgemeinen jedoch ist es schwerer zu verstehen, daß die Kenntnis eines Namens die Möglichkeit, den Gegenstand wiederzuerkennen, steigert. Wir verdanken A. Lehmann (1889) den ersten experimentellen Nachweis dieser Tatsache. Er fand heraus, daß Versuchspersonen neun verschiedene Grautöne besser wiedererkannten, wenn man sie vorher instruiert hatte, diese mit verschiedenen Indizes zu bezeichnen. Bei Versuchspersonen, die die unterscheidenden Bezeichnungen nicht gelernt hatten, lagen die Ergebniswerte nicht über den durch Zufall erreichbaren. Die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Grautönen gelang nur im Zusammenhang mit der Kenntnis der sprachlichen Bezeichnungen." (Miller 1956, 269ff.) Wenige Jahre nach Lehmann zeigte Freud, daß zwischen dem Netz der verbalen Assoziationen und den emotiven und memorialen Phänomenen eine genaue Korrelation besteht, indem er Hypothesen formulierte und sie dem strengen Test klinischer Erfahrung aussetzte. Die Forschungen Freuds gingen in den grundlegenden Forschungen Jungs auf: sie zielten nicht mehr ausschließlich auf die Wechselbeziehungen zwischen semantischem u n d emotivem Verhalten pathologischer Natur, sondern auf die möglichen Wechselbeziehungen überhaupt, d.h. auf die „Physiologie" solcher Beziehungen. Gleichzeitig wurden unter dem Einfluß Piagets (1923, 1926) immer häufiger Forschungen durchgeführt, die die Rolle untersuchten, die Besitz und Erwerb der muttersprachlichen Bezeichnungen in der Entwicklung der Intelligenz spielen. In einem Buch, das in den westlichen Ländern von den meisten erst vor noch nicht allzu langer Zeit rezipiert wurde, aber aus dem Jahre 1930 stammt u n d seit dieser Zeit hätte bekannt sein können und auch indirekt bekannt war, faßt Vygotski die Ergebnisse seiner Forschungen so zusammen: „Wir müssen noch mit einigen Worten die Perspektiven andeuten, die sich aus unserer Arbeit ergeben. Unsere Untersuchung galt den i n t e r n e n 144

Aspekten des S p r e c h e n s , die in d e r Wissenschaft so u n b e k a n n t waren, wie die Rückseite des M o n d e s . Wir haben gezeigt, daß das grundlegende Unterscheidungsmerkmal des Wortes die verallgemeinerte Widerspiegelung der Wirklichkeit ist. Dieser Aspekt des Wortes führt uns an ein noch umfassenderes und tiefer gehendes Problem heran: das allgemeine Problem des Bewußtseins. Denken und Sprache widerspiegeln die Realität anders als die Wahrnehmung und sind so die Schlüssel zum Verständnis der Natur des menschlichen Bewußtseins. D i e Wörter machen nicht nur einen Hauptteil in d e r E n t w i c k l u n g d e s D e n k e n s aus, sondern auch in der historischen Entwicklung des ganzen Bewußtseins. Ein Wort ist ein Mikrokosmos des menschlichen Bewußtseins" (Vygotski 1962, 153). 1 Diese und spätere Forschungen haben dazu geführt, daß man der formenden Kraft Aufmerksamkeit zollte, die vom Erwerb der Muttersprache ausgeht und die sich in drei Richtungen entwickelt: „(...) vor allem ist die Sprache (linguaggio) von Anfang an von funktionalexpressivem Wert. (...) In der ersten Phase der kindlichen Entwicklung (...) zeigt sie sich eng gebunden an die Befriedigung unmittelbarer und physiologischer Bedürfnisse; aber in dem Maß, in dem das Kind sich weiterentwickelt, werden diese Bedingungen immer indirekter und sekundärer, proportional zum wachsenden Interesse an der Beschaffenheit und den bedeutsamen Aspekten der Umgebung. (...) Gegen Ende des zweiten Lebensjahres (...) macht das Kind bereits intensiv von der Sprache Gebrauch als Mittel der Erkundung seiner Beziehungen zu der Welt der Dinge und Personen: es lernt, Fragen zu stellen und die Hilfe anderer Personen zur Entdeckung des Namens eines Dings in Anspruch zu nehmen, es lernt, die Welt nach Kategorien zu ordnen, die ihm von der Sprache selbst gegeben sind, es wird sich der Freiräume und Sanktionen bewußt, die sich im Umgang mit den anderen Personen ausprägen. Im wesentlichen verläuft die funktionale Entwicklung von einem affektiv-motivationalen Gebrauch der Sprache zu einer immer höheren Erkenntnisfunktion. Die beiden Funktionen — die individuelle (Autosatisfaktion, Autostimulation, Ludismus usw.) u n d die soziale (Kommunikation, Beziehungen zu anderen usw.) — verschmelzen und überlagern sich und wechseln sich nicht mehr bloß ab. Ausführlich ist der Nachweis erbracht worden —(...) von Piaget und von Vygotski, in zahlreichen Studien über die Entwicklung der Intelligenz —, daß die Sprache (linguaggio verbale) ziemlich schnell eine entwicklungspsychologische Größe 1

Wir folgen hier dem italienischen Text, der sich von der entsprechenden Partie in der deutschen Übersetzung unterscheidet; in der deutschen Ausgabe findet sich die entsprechende Stelle S. 35 2f. (Die Übers.).

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wird: die Sprache ist nicht nur Zeichen eines inneren Reifungsprozesses des Denkens und der allgemeinen Erfahrung des Individuums, sondern auch Mitursache und Faktor ersten Ranges in diesem Reifungsprozeß. (...) Die Sprache, die das Kind erworben h a t u n d die man ihm in der Schule unter elementaren systematischen Gesichtspunkten beigebracht hat, stellt schließlich einen kulturellen Wert dar (...), sei es, weil der Wortschatz des 6jährigen Kindes bereits eine gute Grundlage fur eine vertiefende allmähliche Entfaltung abgibt (...), sei es, weil dieser Wortschatz als solcher eine erste Enzyklopädie der Kultur, der Geschichte, der Sitten darstellt. (...) In der erworbenen Sprache sind das ganze Kind als kreatives Wesen u n d in nuce die ganze von einer menschlichen Gemeinschaft vermittelten Kultur vorhanden." (Titone 1964, 189f.) Während die Psychologie und die Psychoanalyse weiter versuchten, die „Rückseite des Mondes" zu erkunden, erwachte auch bei den Philosophen, angeregt durch die „Ästhetik" von Croce u n d die Untersuchungen von Mauthner u n d Husserl, das seit einem Jahrhundert schlafende Interesse an den Problemen der Sprache. Dieses Interesse war nicht beiläufig wie das der etablierten Linguistik, galt nicht nur lautlicher und formaler Spielerei; es richtete sich voll u n d ganz auf die semantische Erfahrung, die über Zeichen gewonnen wird. Innerhalb der Richtung, die die alten Gedanken von Locke, Vico u n d Leibniz aufnimmt, ist vor allem Cassirer hervorzuheben. Von kantischer Position aus gelangt er zur Ausarbeitung einer komplexen Sicht der Funktionen, die der sprachliche Bestand bei der Konstitution der Welt der Gegenstände h a t : die Aufnahme seiner fundamentalen Abhandlung in das größte europäische Periodikum für Psychologie bestätigt, daß die Ergebnisse der psychologischen Untersuchungen und die neuen sprachphilosophischen Interessen zueinander gefunden haben (Cassirer 1933). Endlich wurde der Weg, den Bréal und Madvig ohne Erfolg gewiesen hatten, den Saussure ungehört und mißverstanden zu gehen versuchte, von den Linguisten realisiert und aufgenommen. Ogden und Richards erkannten bereits an, wenn auch zu polemischem Zweck (nämlich um auf Art der Neopositivisten zu zeigen, daß den Termini der später so genannten „Protokollsätze" u n d damit den Aussagen der Beobachtungssprache der wissenschaftliche Primat z u k o m m t ) , daß ein Fundus an Sprachzeichen die wesentliche Bedingung für den Erwerb abstrakter Ideen darstellt (Ogden/Richards 1923, 4 0 - 4 7 ) . Diesen Standpunkt hat die theoretische Linguistik ohne weitere Rücksicht auf jene Polemik u n d ohne Zögern eingenommen (Pagliaro 1952, 26ff.). Die konkreten u n d in Einzelheiten gehenden semantischen Untersuchungen von Trier u n d Weisgerber verpackten diesen Ansatz so, daß er der herrschenden Linguistik trotz ihrer Einstellung zugänglich 146

wurde (Trier 1934; Weisgerber 1949). Weisgerber (1949, 13), und nach ihm Pagliaro (1950, passim; 1952, 238ff.), Hjelmslev (1953, 3 I f f . ) , Martinet (1960, 14f.), Mounin (1963, 24ff.) haben ihre Forschungen konsequent und nach diesem neuen Paradigma ausgerichtet, das die Sprache nicht mehr als passiven Spiegel begreift, sondern als eine Kraft, die aktiv die Konstitution u n d die Tradierung menschlicher Erfahrung bestimmt. Unabhängig davon gelangen die „Philosophischen Untersuchungen" zu derselben Perspektive. Der Ansatz dazu ist scheinbar eher zufällig, entsprechend der Anlage der „Untersuchungen", die nicht der Form einer systematischen Abhandlung genügen (und damit auch in diesem Punkt mit dem „Tractatus" kontrastieren). Nach der Darstellung verschiedener „Sprachspiele" — möglicher sprachlicher Verhaltensmodelle — konfrontiert uns Wittgenstein mit einem Einwand: „65. Hier stoßen wir auf die große Frage, die hinter allen diesen Betrachtungen steht. — Denn man könnte mir einwenden: ,Du machst dir's leicht! Du redest von allen möglichen Sprachspielen, hast aber nirgends gesagt, was denn das Wesentliche des Sprachspiels, und also der Sprache, ist ...'(...)". Wittgensteins Antwort auf diesen Einwand ist auf den ersten Blick verwirrend: „Und das ist wahr. — Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam, weswegen wir fiir alle das gleiche Wort verwenden, — sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen v e r w a n d t . U n d dieser Verwandtschaft, oder dieser Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle .Sprachen'. (...)" (65) Die daran anschließenden neun Paragraphen erklären nicht nur diese A n t w o r t , sondern sie manifestieren auf eindrucksvolle Weise ein neues Verständnis vom Verhältnis, das zwischen dem Menschen und der Realität besteht, und von der Rolle, die die Sprache in diesem Verhältnis spielt. Welche Gründe haben wir, bestimmte Handlungen als „Spiele" zu spezifizieren? Die Versuchung liegt nahe, entsprechend der Tradition des Philosophierens die gewichtige Antwort zu geben, daß diese Handlungen ein gemeinsames „Wesen" aufweisen. Doch hinsichtlich der Tatsachen bleibt dieses „Wesen" verschwommen. Wie Wittgenstein leicht zeigt, kann man an dem, was „Spiel" genannt wird, nichts Gemeinsames finden; und Wittgenstein erweist sich in dieser Frage als äußerst kompetent. Dagegen finden sich zahllose Affinitäten, Analogien, Symmetrien, die eine dieser Handlungen mit der anderen oder mit Klassen von Handlungen verbinden. Dasselbe gilt für das, was wir „Zahl" nennen: man erweitert fortwährend die Klasse der schon bezeichneten Klassen kraft der Analogie, die zwischen einem neuen Typus von Entità ten u n d einem bereits bekannten Typus hergestellt wird. Dasselbe

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gilt für das „Grüne" u n d für das, was wir „ B l a t t " nennen. „67. (...) Und wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen." Die Art, wie wir ein Wort verwenden, hebt u n d bringt die Bande der Verwandtschaft hervor; wir dehnen seinen Gebrauch aus, indem wir die Verwandtschaft erkunden, die die Dinge Faser um Faser verbindet. Wenn diese Schlußfolgerung auch nicht explizit im Umkreis der zitierten Abschnitte gezogen wird, so ist sie doch in den „Philosophischen Untersuchungen" gleichsam unter der Oberfläche immer gegenwärtig. Offen formuliert werden indes ganz andere Folgerungen: „371. Das W e s e n ist in der Grammatik ausgesprochen."; „373. Welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik. (Theologie als Grammatik.)"; „381. Wie erkenne ich, daß diese Farbe Rot ist? — Eine Antwort wäre: ,Ich habe Deutsch gelernt.' " ; „384. Den B e g r i f f S c h m e r z ' hast du mit der Sprache gelernt." Dennoch wäre es falsch anzunehmen, daß der Neonominalismus Wittgensteins eine antiwissenschaftliche Haltung zur Folge hätte, daß er bedingungslos an der Sprache h a f t e n bliebe, wie dies z.B. Gellner (1961) behauptet. Dieser Einwand trifft Wittgenstein nicht, schon eher seine Adepten. Wittgenstein selbst ist im ersten Teil der zitierten Paragraphen bemüht, gegen die Möglichkeit einer solchen Interpretation Stellung zu beziehen. „68. ,Gut; so ist also der Begriff der Zahl für dich erklärt als die logische Summe jener einzelnen miteinander verwandten Begriffe: Kardinalzahl, Rationalzahl, reelle Zahl, etc., u n d gleicherweise der Begriff des Spiels als logische Summe entsprechender Teilbegriffe.' — Dies muß nicht sein. Denn ich k a n n so dem Begriff ,Zahl' feste Grenzen geben, d.h. das Wort ,ZahP zur Bezeichnung eines fest begrenzten Begriffs gebrauchen, aber ich kann es auch so gebrauchen, daß der Umfang des Begriffs n i c h t durch eine Grenze abgeschlossen ist. Und so verwenden wir ja das Wort,Spiel'. Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel u n d was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ζ i e h e η : denn es sind noch keine gezogen. (Aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort,Spiel' angewendet h a s t . ) , Aber dann ist ja die Anwendung des Wortes nicht geregelt; das ,Spiel', welches wir mit ihm spielen, ist nicht geregelt.' — Es ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regel dafür z.B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel u n d es hat auch Regeln." Für Wittgenstein können Wissenschaft und Technik sehr wohl neue Regeln für den Gebrauch eines Wortes einfuhren: das Wort „kann in einer Weise gebraucht werden, die von seiner Verwendung im ursprünglichen Kontext 148

abweicht, vorausgesetzt, daß es sich dabei wirklich um einen .neuen Gebrauch' handelt, d.h. daß die neuen Regeln, die für diesen neuen Gebrauch die Grundlage abgeben, zur Verfügung stehen oder doch erkennbar sind" (Parisi 1962, 319). Aus diesen Überlegungen ergibt sich sogleich eine Konsequenz, die die Semantik im engen technischen Verstände, genauer: die Methode der semantischen und natürlich auch der syntaktischen Analyse betrifft. Es ist nicht richtig, bei der Beschreibung der Bedeutung einer Form vom Ding oder vom Begriff auszugehen, die angeblich von dieser Form denotiert werden, da der Gebrauch eben dieser Form eine Komponente bei der Konstitution des Dings bzw. des Begriffs als Einheit darstellt. Bei der semantischen bzw. syntaktischen Analyse eines Wortes kommt man deshalb nicht darum herum, bei der Analyse des Gebrauchs dieses Wortes anzusetzen. Wittgenstein hat diese Konsequenz selbst formuliert: „43. Man kann für eine g r o ß e Klasse von Fällen der Benützung des Wortes .Bedeutung' — wenn auch nicht für a l l e Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. (...)" Die ostensive Definition einer Form, d.h. die Definition durch Aufweisen, ist deshalb nicht mehr die Regel (wie dies in der gängigen Konzeption der Semantik der Fall ist), sondern sie stellt einen Grenzfall unter den möglichen Beschreibungen der Bedeutung dar: „43. (...) Und die B e d e u t u n g eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen T r ä g e r zeigt." Daß Wittgenstein die Möglichkeit der ostensiven Definition, wenn auch nur als Grenzfall, zugesteht, beweist im übrigen mit großer Evidenz, daß seine Definition der Bedeutung als Gebrauch keineswegs einen formalistischen, Harris'schen Standpunkt in der linguistischen Analyse nach sich zieht. Sicherlich: semantische Analysen, die bei den Dingen ansetzen, oder syntaktische Analysen, in denen einer grammatischen Form verschiedene Funktionen unter Vernachlässigung der formalen Gegebenheiten zugeschrieben werden, waren bereits veraltet. Dennoch ist vom Standpunkt Wittgensteins aus die rein formale Analyse allein nicht hinreichend. Der Grenzfall der ostensiven Definition legt bei Wittgenstein die Auffassung nahe, daß die Sprache kein bloßes Spiel mit Lauten darstellt, das durch bestimmte komplizierte Normen geregelt wird, sondern daß sie in der Produktion von Sätzen und dem Gebrauch von Formen besteht, und zwar so, daß sie diese nach bestimmten Regeln mit außersprachlichen Gegebenheiten und Verhaltensweisen korreliert. Die Sprache muß demnach nach folgendem Prinzip beschrieben werden: die formale Analyse steht am Anfang, aber sie ist nur die unerläßliche Basis für die Analyse des semantischen Werts der Formen (SpangHansen 1949,390; Whatmough 1956, 73;De Mauro 1960, If.). 149

Wenn Wittgenstein behauptet, daß das, was „Bedeutung" genannt wird, mit dem Gebrauch eines Wortes zusammenfallt, will er also keineswegs die semantisch-syntaktische Analyse auf eine Summe einfacher Beschreibungen von Formen und ihrer charakteristischen Distribution in Sätzen reduzieren. Sein Konzept zielt auf einen neuen Begriff von Semantik: diese ist nicht mehr die Wissenschaft von der Bedeutung (significato) oder von den Bedeutungen (significati) (dies ist die gängige Auffassung, die sich in den herkömmlichen Definitionen des Namens dieser Disziplin in verschiedenen Sprachen widerspiegelt, z.B. in der deutschen Bezeichnung „Bedeutungslehre"; vgl. Read 1948), sondern die Wissenschaft vom Zeichengebrauch (significare). Sein Ziel ist der Abweis der traditionellen Auffassung, die die sprachlichen Formen u n d ihre Bedeutungen als Klassen von Entitäten begreift, die untereinander in Beziehung stehen k r a f t ihrer selbst, k r a f t der Identität des menschlichen Geistes oder kraft ihres unbeweglichen Platzes in einem geschlossenen System. Wittgenstein weist die traditionellen Auffassungen zurück, deren Mängel wir mehrfach aufgezeigt haben, und stellt ihnen die Behauptung entgegen, daß die sprachlichen Formen eine Bedeutung haben, weil sie vom Menschen verwendet werden, und daß nur diese Verwendung den Zusammenhang von bestimmter sprachlicher Form u n d bestimmter Bedeutung garantiert. In diesem Punkt k o m m t das Denken Wittgensteins den Überlegungen des späten Saussure und des späten Croce merklich nahe. Gemeinsam ist allen, daß die Bedeutung vom Zeichengebrauch abhängt und nicht umgekehrt, daß - allgemeiner gesprochen - die Sprache (lingua) vom Sprechvermögen (linguaggio) abhängt. Die Gegenstände der linguistischen u n d semantischen Untersuchung sind keine „sprachlichen Fakten", keine „sprachlichen Formen", keine „Bedeutungen", sondern das sprachliche Verhalten, der Zeichengebrauch. Diese Vorstellung taucht heute unvermittelt u n d selbständig in völlig verschiedenen wissenschaftlichen und kulturellen Kontexten auf. Sie wird mit derselben Eindringlichkeit von einem Philosophen idealistischer Prägung (Calogero 1947, 124f., 181, 194f.), von einem Linguisten, der sich mit Problemen des Spracherwerbs befaßt (Siertsema 1961) und von einem Komparatisten (Pisani 1959, 1—28) zum Ausdruck gebracht. Bei allen findet man die Vorstellung, daß „das Lautsymbol vom Leben der Sprecher l e b t " (Pagliaro 1952, 61) u n d Wert u n d Bedeutung nur im Gebrauch empfängt. Diese Vorstellung fanden wir, in ähnliche Worte gefaßt, bei Saussure; sie findet ihre endgültige Formulierung bei Wittgenstein: „432. Jedes Zeichen scheint a l l e i n tod. W a s gibt ihm Leben? - Im Gebrauch l e b t es. (...)" Wittgenstein bleibt indessen nicht bei der These stehen, daß die Bedeutung Funktion des Gebrauchs eines Wortes sei. Diese These läßt — wir sahen es bereits — eine individualistische Variante zu, in der Gebrauch als individueller,

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als Gebrauch einer einzelnen Person verstanden wird, die eine Form völlig willkürlich in der einen oder anderen Weise verwendet. Selbstverständlich wird auch der Gebrauch im Sinne Wittgensteins von einzelnen u n d konkreten Personen getragen; dennoch gelangt er im Verlauf der Untersuchung zu einer Auffassung, die seine These davor bewahrt, in eine individualistische Position abzugleiten. Wittgenstein zeigt und konzipiert das semantische Verhalten des Individuums als ein Verhalten, das aus innerer Notwendigkeit heraus geregelt und organisiert ist. Um wirklich semantisches Verhalten zu realisieren, unterwirft sich das Individuum zwei Beschränkungen: einmal dem Spracherwerb im Milieu der Gewohnheiten einer determinierten Gesellschaft — Wittgenstein nennt dies „Training" — und zum zweiten der Notwendigkeit einer systematischen Koordination mit dem sprachlichen Verhalten anderer. Die ersten Paragraphen der „Philosophischen Untersuchungen" beschäftigen sich genau mit der ersten Beschränkung. Mit aristotelischer Technik räumt Wittgenstein für seine Analyse den Thesen, die er bekämpfen will, den günstigsten Platz ein. Man stelle sich eine sehr einfache Sprache vor, deren Wörter fest und eindeutig mit bestimmten Gegenstandsklassen verbunden sind. Dieser Fall ist rein hypothetisch, denn keine unserer Sprachen ist eine Nomenklatur. Aber selbst in einem solchen Fall erweist es sich als unmöglich, die Wörter semantisch erfolgreich zu verwenden, wenn es keine Erziehung und keine Ausbildung im Rahmen einer determinierten Gesellschaft gibt, und wenn die Individuen sich nicht zu einer Gesellschaft auf Gegenseitigkeit organisieren. Außerhalb einer bestimmten Erziehung und einer sozialen Organisation werden auch Wörter mit sehr einfachem Wert unvermeidbar mehrdeutig u n d verlieren jeglichen Bezug. Selbst in dem Fall, in dem der Wert eines Wortes durch Aufzeigen gelehrt werden kann, reicht eine solche Art der Unterweisung allein nicht aus, um eine wirksame Verwendung des Wortes zu garantieren: wenn ein Sprecher A zu einem Sprecher Β „Stein!" sagt, dann mag dies aufgrund der Unterweisung durch Aufzeigen im Gedächtnis von Β eindeutig das Bild eines Steins hervorrufen, aber die Reaktionen von Β können vielfältig sein, und daher ist der Wert des von A ausgesprochenen Zeichens letztendlich nicht eindeutig. Nur wenn A u n d Β in eine determinierte Reihe von Bezügen kraft ihrer Erziehung eingebunden sind, kann das Risiko von Äquivokationen reduziert werden. Nur in diesem Fall kann semantische Erfahrung wirklich zustande k o m m e n ; unter anderen Umständen wäre sie, selbst wenn ein derart elementares u n d eindeutiges Zeicheninventar zur Verfügung stünde, nicht möglich. Wittgenstein gelangt so über die logisch zwingende Analyse verschiedener elementarer Sprachmodelle zu derselben Folgerung, zu der die unterschiedlichsten zeitgenössischen Wissenschaftler auf anderen Wegen ebenfalls gelangt 151

sind. Die Beschreibung von sprachlicher Bedeutung und sprachlichem Wert bildet mit der Ethnographie der Gesellschaft, in deren Rahmen das Zeichen verwendet wird, eine Einheit. Ein so banaler Ausdruck wie „die Schuhbänder" ist nicht unmittelbar in eine Sprache übersetzbar, die von Menschen gesprochen wird, denen Schuhe als Dinge völlig unbekannt sind. Der Wert, den dieser Ausdruck für uns hat, löst sich sogleich in ethnographische, soziologische, im weiten Sinne kulturelle u n d in jedem Fall in außersprachliche Faktoren a u f ( N i d a 1945;Greenberg 1948;Hattori 1952, 210;Pagliaro 1957, 366f.; Mounin 1963, 2 2 7 - 2 4 1 ) . Diese Verbindung mit „dem ganzen übrigen Mechanismus" einer determinierten Gesellschaft ermöglicht das Funktionieren des einzelnen Zeichens. Wir benutzen es als Ausdruck aufgrund dieser Verbindung, so wie man sagen kann, daß wir bremsen, indem wir einen Hebel drücken, aber nur, „wenn der übrige Mechanismus vorhanden ist". Die Notwendigkeit dieser Verbindung stellt die erste Beschränkung individualistischer Willkür im sprachlichen Verhalten dar. Die Bedeutung ist Funktion des Gebrauchs, der allerdings gesellschaftlich geregelt und koordiniert ist. Genau darauf Bezug nehmend kann Wittgenstein schreiben: „19. Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. — Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung. Und unzählige Andere. — Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen. (...)" Die zweite von Wittgenstein auferlegte Beschränkung ist der notwendig systematische Charakter des Sprechens. Für einen historisch und strukturalistisch denkenden Linguisten, der den Begriff des Sprachsystems ziemlich unkritisch hinzunehmen pflegt, gibt es doch immer die psychologische, vor allem aber theoretische Möglichkeit, die Geltung dieses Begriffs in Zweifel zu ziehen. Ist es tatsächlich der Fall, daß nicht nur sprachliches Verhalten, d.h. Akte der p a r o l e , sondern auch das Sprachsystem, die l a n g u e , existieren? Hat nicht möglicherweise gerade der Begriff des Systems das Denken Saussures in negativer Weise belastet u n d es zu absurden Positionen getrieben? Und hat nicht das Programm, die sprachlichen Fakten ohne Rekurs auf das System zu beschreiben, in die verschiedensten wissenschaftlichen und kulturellen Paradigmen Eingang gefunden? Man pflegt dieses Programm als „idealistisch" abzutun: aber es ist nicht nur beim frühen Croce oder bei Calogero, sondern auch bei einem Komparatisten wie Pisani (1959, 1 If.) u n d in einem völlig anderen wissenschaftlichen Traditionszusammenhang in der Semiotik von Morris präsent (1964). Diese betrachtet, wie wir schon sagten, das sprachliche Zeichen unter dreifachem Aspekt, d.h. sie unterscheidet drei Dimensionen: eine pragmatische (Beziehungen zwischen Zeichen u n d Benutzer), eine semantische (Beziehungen zwischen Zeichen und Gegenstand),

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eine syntaktische (Beziehungen zwischen dem Zeichen und den anderen Zeichen im Satz). Auch hier ist das Fehlen einer „systematischen" Dimension offenbar, versteht man unter ihr die (syntagmatischen u n d paradigmatischen — Die Übersetzer) Beziehungen zwischen dem Zeichen und den anderen Zeichen derselben Sprache. Wittgensteins Gedanken sind Gegengift für solche Zweifel. Er übernimmt nämlich den Begriff des „Systems" keiner wissenschaftlichen Schule, muß nicht mit ihm zurechtkommen und ihn rechtfertigen, sondern er rekonstruiert ihn sozusagen in der Analyse des sprachlichen Verhaltens der Individuen. Gleichzeitig definiert er ihn, wie wir sehen werden, mit Hilfe von Termini, die der Gefahr des Solipsismus, wie sie in der saussureschen Definition des „système serré" gegeben ist, entgeht. „20. Aber wenn nur Einer sagt,Bring mir eine Platte! so scheint es ja jetzt, als könnte er diesen Ausdruck als e i n langes Wort meinen : entsprechend nämlich dem einen Worte ,Platte!'. — Kann man ihn also einmal als e i η Wort, einmal als vier Wörter meinen? Und wie meint man ihn gewöhnlich? — Ich glaube, wir werden geneigt sein, zu sagen: Wir meinen den Satz als einen von v i e r Wörtern, wenn wir ihn im Gegensatz zu anderen Sätzen gebrauchen, wie . R e i c h mir eine Platte zu', .Bring i h m eine Platte', .Bring z w e i Platten', etc.; also im Gegensatz zu Sätzen, welche die Wörter unseres Befehls in andern Verbindungen enthalten. — Aber worin besteht es, einen Satz im Gegensatz zu andern Sätzen gebrauchen? Schweben einem dabei etwa diese Sätze vor? Und a 11 e ? Und w ä h r e n d man den einen Satz sagt, oder vor-, oder nachher? — Nein! Wenn auch so eine Erklärung einige Versuchung für uns hat, so brauchen wir doch nur einen Augenblick zu bedenken, was vielleicht geschieht, um zu sehen, daß wir hier auf falschem Weg sind. Wir sagen, wir gebrauchen den Befehl im Gegensatz zu anderen Sätzen, weil u n s e r e S p r a c h e die Möglichkeit dieser anderen Sätze enthält. Wer unsere Sprache nicht versteht, ein Ausländer, der öfter gehört hätte, wie jemand den Befehl gibt,Bring mir eine Platte!', könnte der Meinung sein, diese ganze Lautreihe sei ein Wort und entspräche etwa dem Wort für .Baustein' in einer Sprache." Der Gebrauch eines Satzes ist so an die Gesamtheit der Möglichkeiten des Gebrauchs anderer Sätze gebunden. Gerade die Möglichkeit, seine konstitutiven Elemente zu identifizieren und ihn also zu verstehen, gründet in der Möglichkeit der Verbindung und Kontrastierung mit anderen Sätzen, die sich wenigstens in einem Element unterscheiden. Ein weiteres Mal ist die Darstellung Wittgensteins in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Linguistik. Man denke, um ein einziges Beispiel herauszugreifen, an die Einleitung von Hockett's Hauptwerk (1958, 15): 153

„Nehmen wir an, du fragst einen Lebensmittelhändler nach dem Preis von Eiern, u n d er sagt: ,Sechzig Cents das Dutzend'. Wie kannst du wissen, daß er gerade dies gesagt hat und nicht etwa: .Achtzig Cents das Dutzend' oder: ,Wir haben heute keine Eier' oder irgendetwas anderes? Die Antwort liegt auf der Hand. Die verschiedenen Dinge, die jemand in einer gegebenen Situation (und in einer gegebenen Sprache) sagen kann, k l i n g e n verschieden. Du unterscheidest eine Äußerung von einer anderen mit dem Ohr, ganz so wie du die Gesichter deiner Freunde mit den Augen erkennst." Besonders groß ist die Übereinstimmung mit Untersuchungen, die die einzelnen Phasen des Erwerbs der Muttersprache beschreiben. Den Ausgangsp u n k t stellt der Erwerb von Sätzen dar, die als globale Signale wiederholt und an eine bestimmte, ebenfalls als global wahrgenommene Situation gebunden sind (und in denen jedenfalls nicht die Elemente unterschieden werden, die für den Erwachsenen den Satz konstituieren); der zweite Schritt besteht darin, mit wachsender Übung alternative Sätze zu entdecken. Auf die Phase der Imitation und Wiederholung globaler Sätze folgt eine Phase, in der die diese Sätze bildenden Elemente erkannt werden; in dieser Phase wird auch die spezifische semantische Funktion dieser Elemente erworben (Guillaume 1927; Carroll 1939;Titone 1964, 180). Wir können diesen Gesichtspunkt noch genauer formulieren: die Unterscheidung verschiedener Elemente, die an derselben Stelle des Satzes füreinander substituiert werden können, bzw. die Unterscheidung verschiedener paradigmatischer Reihen — und das ist letztendlich das System — beruht auf der Notwendigkeit, zahlreiche verschiedene Strukturen (Wortsequenzen) möglichst ökonomisch zu unterscheiden in bezug auf die verschiedenen Situationen, die sprachlich individuiert werden müssen (individuare linguisticamente). Theoretisch könnten diese voneinander unterschiedenen Strukturen, zahllos wie die zahllosen zu individuierenden Situationen, als Einheiten konzipiert werden, wobei jede nur eine einzige Anwendung hat, nämlich genau in dem Satz, in dem sie erscheint. Danach wäre jede Struktur oder jeder Satz von jeder anderen Struktur bzw. jedem anderen Satz verschieden, verschieden auch in allen konstitutiven Elementen. Auf diese Weise würde jede Struktur oder jeder Satz ein Höchstmaß an Individualität aufweisen, und jeder sprachliche Akt eines Individuums erhielte ein Höchstmaß an stilistischer Expressivität; dies bedeutete aber auch ein Höchstmaß an Gebundenheit jeder Struktur an eine ihr entsprechende Situation. In einer solchen Sprache (parlare) gäbe es kein System, weil es von vornherein keine Formen gäbe, die in der Struktur substituierbar wären; es existierte lediglich eine Summe von verschiedenen und nicht wiederholbaren Strukturen und Sätzen. Dieses theoretische Modell realisiert das Sprechvermögen (linguaggio) ohne Sprache

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(lingua); wir können es „croceanisch" nennen (denn es stimmt mit Croces erster Konzeption der Sprache überein). Es hätte aber den Mangel, weder für den Sprecher noch für die anderen die Situationen, deinen die Sätze zugeordnet sind, fixierbar zu machen, da die sprachlichen Verhaltensweisen der einzelnen Individuen völlig atomisiert und isoliert wären. Darüber hinaus wäre es völlig unökonomisch im Hinblick auf das Gedächtnis. Die Regel, nach der ein solches Sprechvermögen (linguaggio) absolut einzigartige Zeichen produzieren würde, bestünde darin, die Wiederholung schon einmal benutzter Zeichen zu verhindern; all die zahllosen schon einmal realisierten Strukturen und Sätze müßten im Gedächtnis gespeichert sein, um „Irrtümer" zu vermeiden. Die Inpraktikabilität und die mangelnde Ökonomie einer solchen Sprache an der Grenze der Kommunikation machen deutlich, welche große Rolle das Bedürfnis nach Integration (Übereinstimmung) der Verhaltensweisen und das Bedürfnis nach geringster Anstrengung bei der Bildung unseres sprachlichen Verhaltens spielen. Wenn indes diese auf Rationalisierung zielenden Kräfte sich völlig durchsetzen könnten, würde sich wiederum ein sprachliches Modell herausbilden, das für den Zweck der Kommunikation unbrauchbar wäre. Unter welchen Bedingungen kann ein Höchstmaß an Integration der Sprecher erreicht werden? Offensichtlich dann, wenn alle Ideolekte und individuellen Sprachen (lingue individuali) zusammenfallen, wenn der sprachliche Bestand eines jeden Punkt fur Punkt mit dem sprachlichen Bestand aller anderen übereinstimmt. Und unter welchen Bedingungen wird das Gedächtnis am wenigsten belastet, braucht man zur Beherrschung einer Sprache so gut wie keine Übung? Wenn die Sprache aus einem einzigen Wort besteht u n d wenn auch die Sätze dieser Sprache aus diesem einzigen Wort bestehen. Damit ist ein Modell der Sprache „à la Ionesco" entworfen: alle kennen, besitzen, hören und benutzen in jedweder Situation ein und dasselbe Wort. Die Maximierung des Bedürfnisses nach Integration u n d des Bedürfnisses nach geringster Anstrengung fuhren damit zu einer Sprache und zu einem sprachlichen Verhalten, die außerstande sind, mit verschiedenen Zeichen verschiedene Situationen zu individuieren. Sowohl innerhalb der „croceanischen" Sprache als auch innerhalb der Sprache „à la Ionesco" kann sich keine semantische Erfahrung herausbilden. Wer die beiden einander entgegengesetzten Grenzfälle mit Geduld ins Detail verfolgt, wird sich klar darüber, daß die Regeln unseres sprachlichen Verhaltens einem Kompromiß folgen — einem Kompromiß zwischen entgegengesetzten Bedürfnissen: einerseits dem Bedürfnis nach einem Höchstmaß an expressiver Individuation u n d an Gebundenheit an die Situationen in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit und andererseits dem Bedürfnis nach einem Höchstmaß an Integration und an Ökonomie. Die sprachliche 155

„Ökonomie", von der Martinet, angeregt von Z i p f ( 1 9 4 9 , 56—133), spricht, erwächst genau aus diesem Kompromiß: ja, sie ist dieser Kompromiß (Martinet 1955, 94ff.; 1960, 182f.). Dieser Begriff leistet wertvolle Dienste bei der Interpretation aller Typen von Einheiten u n d Ebenen einer Sprache, ihrer Konfiguration und ihrem geschichtlichen Gewordensein. Aus dem Begriff der Ökonomie zogen Phonologie und Morphologie, die Untersuchung der Syntagmen und der Distribution der phonologischen (fonematiche) und morphologischen (morfematiche) Einheiten und die Untersuchung ihrer „ O k k u r e n z " ihren Nutzen. Besonders vorteilhaft aber war er bei der Untersuchung der semantischen Aspekte der Sprache, der, um mit Vygotski zu sprechen, „Rückseite des Mondes". Der Begriff der sprachlichen Ökonomie erlaubt es, die erste u n d schlimmste „Schwierigkeit" zu begreifen, der man bei dem Problem der mechanischen Übersetzung begegnet: die Polysemie der Sätze. Der Tendenz nach produzieren wir Sätze, die voneinander verschieden sind, freilich innerhalb bestimmter Grenzen: um die Zahl der verschiedenen Sätze einzuschränken, verwenden wir o f t bei der Identifikation grundverschiedener Situationen denselben, d.h. phonologisch identischen Satz, der dennoch verschiedene Bedeutung hat; indem er so formuliert wird und dennoch verstanden werden kann, nutzen wir die Beziehungen aus, die zwischen Satz und der jeweiligen Situation gestiftet wird. So kann z.B. der Satz „Machen wir also wirklich die Öffnung nach links?" („facciamo dunque veramente l'apertura a sinistra?") von einem christdemokratischen Abgeordneten benutzt werden, der ängstlich seinen Fraktionsvorsitzenden fragt, und er kann von einem Polier benutzt werden, der den Architekten fragt, was er machen soll. In einer anderen Sprache als dem Italienischen, z.B. in der Sprache eines noch nomadischen Volkes, das keine festen Bauwerke kennt, oder einfach in der Sprache eines Volkes, das noch nicht politisch übereingekommen ist, andere Personen in die Festungen der Macht hineinzulassen, müßten die beiden Sätze jeweils verschieden übersetzt werden. Ihre semantische Polyvalenz ist freilich so gewählt, daß eine eindeutige Bedeutung zustandekommt (der Fraktionsvorsitzende wird niemals annehmen, daß der Abgeordnete ihn fragt, ob die Partei die linke Mauer der Aula des Montecitorio (des Römischen Parlaments) aufreißen möchte, und der Architekt wird nicht davon ausgehen, daß der Polier ihn vorsichtig von der Notwendigkeit überzeugen will, sich der örtlichen kommunistischen Sektion anzunähern, um die Arbeit der Kooperative vorwärts zu bringen). Dieser selektive Prozeß, der dank des hergestellten Bezugs zwischen Satz u n d objektivem „ R a h m e n " stattfindet, ist ein Reflex der sprachlichen Ökonomie. Analoges gilt für das einzelne Wort. Wir haben weder nur ein einziges, noch Milliarden verschiedener Wörter zur Verfügung. Die Wörterbücher unserer

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Sprache enthalten (wenn sie gut sind) höchstens eine halbe Million verschiedener Wörter; eine sehr gebildete Person bringt es aber nur auf einen Wortschatz von 25- bis 30.000 verschiedener Wörter; und in der alltäglichen Kommunikation kommen wir mit weniger als 3.000 Wörtern aus. Dies ist wenig, verglichen mit den unzähligen Situationen, die sprachlich individuiert werden müssen. Die Polysemie jedes Wortes stellt hier für uns eine Hilfe dar. So hat z.B. das Wort „alto" (hoch, tief) verschiedene Bedeutungen: es kann benutzt werden, um die Entfernung eines Punktes über dem Meeresspiegel und um die Entfernung vom Meeresspiegel zum Meeresgrund zu bezeichnen. In anderen Sprachen (wie im Deutschen oder im Altgriechischen) wird man möglicherweise auf zwei verschiedene Wörter zurückgreifen müssen, um dasselbe zu Wege zu bringen. Mit Hilfe der Polysemie des Wortes „alto" können wir recht verschiedene Dinge sagen und benutzen doch immer nur eine einzige lexikalische Einheit. Die Polysemie, die immer als ein irrationaler Zug der Sprache angesehen wurde, erweist sich so im Gegenteil als das Resultat von Rationalisierung, von Tendenz zur Ökonomie. Die Vorteile des Begriffs der sprachlichen Ökonomie sind so groß, daß wir heute dem Risiko seiner Hypostasierung ausgesetzt sind und uns einbilden, die Ökonomie stelle eine Kraft dar, die objektiv in der Bildung und den Umbildungen der Sprachen wirke. Es muß deshalb hervorgehoben werden, daß die Ökonomie keine bewirkende Ursache, sondern eine Wirkung ist: ein Resultat der Art unseres Zeichenverhaltens (nostro modo di comportarci per significare), immer auf das Gleichgewicht zwischen maximaler Differentiation und minimaler Differentiation bedacht. Die Auffassung, Kommunikation und System seien etwas Prekäres, Instabiles, Ungenaues, evoziert eine Realität, die sicher weniger streng geordnet und perfekt ist als die Realität der traditionellen Auffassungen. Die monoverbale Sprache mit der perfekten Integration aller Sprecher, die Sprache mit unendlich vielen gänzlich verschiedenen Sätzen und der vollkommenen Individuation jeglichen expressiven Gehalts, die altehrwürdige Sprache als Nomenklatur eines Systems von vorbestimmten und ewigen Dingen und Kategorien, die Sprache als „système serré", vollkommen kohärent und geschlossen — dies alles sind sehr viel beeindruckendere Modelle als dieses diffizile Aggregat von Formen, das sich in der Begegnung der Individuen in der Gemeinschaft bildet. Dennoch ist es das einzige Modell, das uns nicht daran hindert zu begreifen, wie Kommunikation statt hat. Und es ist das einzige Modell, das die Konstruktion der Semantik anzupacken erlaubt, dank der Bestimmung der Bedeutung, die in seinem Zentrum steht: die Bestimmung der Bedeutung als Gebrauch.

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3. Die Bedeutung als Gebrauch: das Hyposem Der größte Vorteil der von Wittgenstein vorgeschlagenen Bestimmung der Bedeutung als Gebrauch besteht darin, daß sie uns die Realität der Dinge wieder zugänglich macht u n d uns gleichzeitig die große Komplexität des semantischen Werts einer Form erschließt, auf die auch Saussure aufmerksam gemacht hat. Der entscheidende Mangel anderer Bestimmungen der Bedeutung — Wittgenstein h e b t es ausdrücklich hervor (anläßlich der Bestimmung der Bedeutung als „Ding") — besteht darin, zu vereinfachen, was die Verfechter eben solcher Bestimmungen oft in Widersprüche führt, die freilich nicht eingestanden werden und so Indizien für eine nur verworrene Erkenntnis der Komplexität von Bedeutung darstellen. Wollten wir die Bedeutung als „Ding" bestimmen, als etwas Äußerliches und Wahrnehmbares, dann blieben aus dieser Bestimmung zwei weite Bereiche der Bedeutung ausgeschlossen: wir könnten nicht angeben, was für Dinge mit Wörtern wie „Zeit", „gestern", „heute", „ R a u m " , „dort", „dieser" bezeichnet werden - dies gilt insgesamt für alle Wörter, die keine ostensive Definition zulassen (die These von Ogden u n d Richards, nach der solche Wörter „mentalistisch", „introspektivistisch" seien, ist so naiv wie falsch, wie die hier herangezogenen und teilweise schon von Wittgenstein gewählten Beispiele beweisen); wir könnten weiterhin nicht angeben, was jenes zusätzliche Moment ist, das wir bei einem Wort empfinden und das in einer rein „dinglichen" Bestimmung nicht zugänglich ist. Selbst wenn wir annehmen, wir hätten in einer solchen Bestimmung Wörter wie „Krieg" oder „Frieden" bestimmen können, so dürfen wir doch nicht die „ A u r a " („risonanza") vernachlässigen, die Wörter dieser Art bei den Sprechern auslösen u n d die in diesem wie in anderen Fällen über die Entsprechung Wort-Ding hinausgeht. Just die Notwendigkeit, die Aura, die jedes Wort umgibt, in irgendeiner Weise zu berücksichtigen, hat der Antimentalist Bloomfield herausgestellt. Beim Versuch, jegliche Bezugnahme auf Daten, die nicht das äußere, sichtbare Verhalten betreffen, einzuschränken (Mounin 1963, 27—31), war er gezwungen, den Begriff der „ K o n n o t a t i o n " wieder einzuführen. Konnotation ist für ihn der Inbegriff der ungreifbaren emotiven und subjektiven Faktoren, die mit der „Denotation", dem „dinglichen" und eigentlichen semantischen Bezug des Wortes einhergehen (Bloomfield 1933, 1 5 1 - 1 5 5 ) . Häufig wird behauptet, der Begriff der „ K o n n o t a t i o n " gehe auf den englischen Logiker John Stuart Mill zurück (Mounin 1963, 144). Es gibt ihn indes mindestens seit der „Grammaire générale et raisonnée" von PortRoyal, in der es heißt, daß der Name „neben seiner deutlichen Bedeutung (signification distincte) noch eine verworrene Bedeutung (signification confuse) hat, die man Konnotation eines Dings nennen kann, dem das 158

zukommt, was durch die deutliche Bedeutung bezeichnet (marqué) ist". (Arnauld/Lancelot 1966, 31 f.) Der Begriff der Konnotation gehört demnach in einen theoretischen Kontext, der deutlich als „mentalistisch" und „introspektivistisch" charakterisiert werden kann, wie dies bei der Schule von Port-Royal der Fall ist. Der Rückgriff auf diesen Begriff erweist sich indes gerade dann als notwendig, wenn man an der Bestimmung der Bedeutung als Ding festhält, diese sich dennoch nicht allzusehr von der sprachlichen Wirklichkeit, die es zu bestimmen gilt, entfernen soll. Ebenso vereinfachend sind auf der anderen Seite „introspektivistische" Bestimmungen, die in der Bedeutung ein „inneres Bild", ein „ E n g r a m m " oder eine „Gedächtnisspur" sehen. Neben den Einwänden, die sowohl von idealistischer, als auch von behavioristischer und sprachanalytischer Seite gegen die von dieser Bestimmung vorausgesetzte Unterscheidung von „ a u ß e n " und „innen" vorgebracht worden sind, sind sie aus zwei mehr technischen Gründen nicht akzeptabel: auch sie können nicht erklären, wie die „Gedächtnisspuren" mit Wörtern wie „ d o r t " , „da", „dieser", „ist" verbunden sind und wie es möglich ist, Wörter in Bezug auf Dinge, von denen wir keine unmittelbare Erfahrung haben, korrekt und in vollem Umfang zu benutzen — Wörter, die wir nur in Gesprächen mit anderen kennengelernt haben. Die Bestimmung der Bedeutung als Gebrauch hingegen stellt die ganze, objektiv gegebene Komplexität des zu bestimmenden Gegenstandes wieder her. Sie sagt erstens aus, daß das Wort für sich selbst „ t o t " ist. Dadurch macht sie es, zweitens, möglich, einem wichtigen Faktum den ihm gebührenden Platz zuzuweisen: nämlich daß das Wort in der Regel in Verbindung mit anderen Wörtern lebendig wird und etwas bedeutet. Genau dieser Eigenschaft wegen schlägt M. Lucidi (1950) vor, den Terminus „Zeichen" nur für den Satz zu verwenden (inklusive solcher Sätze, die aus einem Wort bestehen, z.B. Ausdrücke wie „Feuer!", „Hilfe!"), für das einzelne Wort dagegen den Terminus „Hyposem". Dieser Terminus bringt zum Ausdruck, daß das einzelne Wort nur als Bestandteil eines Satzes zu einer Einheit (entità) mit semantischem Wert wird, d.h. eine Art „Unterzeichen" darstellt. Die Bestimmung der Bedeutung als Gebrauch impliziert drittens, daß die Bedeutung — für den Sprecher wie für den Linguisten — nur bestimmt werden kann, wenn das einzelne Wort auf die Wörter bezogen wird, durch die es im Satz substituiert werden kann (wie Saussure dies immer behauptete): der Gebrauch eines Satzes ist nämlich bestimmt im Rahmen der Ordnung, der durch alle Alternativen zu diesem Satz gegeben ist. Das Hyposem leistet seinen Beitrag zur Referenz auf Erfahrungsbereiche mit Hilfe des Satzes u n d mit Hilfe des Systems, dem es zugehört; es individuiert diese Erfahrungsbereiche freilich nur im Zusammenspiel mit Verhaltensweisen, die im Rahmen einer Gemeinschaft eben diesen Bereich charakterisieren und bestimmen. 159

Letzteres sind die subtilsten Überlegungen in den Untersuchungen Wittgensteins, aber gerade hier gelingt ihm der Durchbruch, mit dem er die Tür zur systematischen Erforschung der Bedeutung öffnet. Der Bezug des Hyposems auf einen Bereich der menschlichen Erfahrung (wohl gemerkt: nicht auf ein Ding) ist nur möglich im Zusammenspiel aller Tätigkeiten und Verhaltensweisen, die im Rahmen einer menschlichen Gemeinschaft diesen Bereich kennzeichnen. Zuweilen glaubt man, man könne die Bedeutung des Wortes „ B u c h " lehren, indem man auf den so bezeichneten Gegenstand weist und seinen Namen ausspricht. Aber solches ist nur ein Behelf und keine Notwendigkeit. Auf jeden Fall reicht es nicht aus: wenn man annimmt, man könne das Hyposem durch bloße Aufweisung einem anderen beibringen, dann gibt es keine Erklärung dafür, warum dieser dem aufgewiesenen Gegenstand nicht die Bedeutung „Papier" oder „papierenes Parallelepipedon" oder „Gegenstand, den m a n in der Hand hält und betrachtet" zuschreiben kann. Die Bedeutung des Hyposems „Buch" entsteht aus der Art und Weise, wie die verschiedenen Verwendungen der Form im Satz mit den verschiedenen Verwendungen zusammentreffen, die eine Gemeinschaft vom Buch macht. Einmal auf diesem fortgeschrittenen Stand in der Erörterung des Bedeutungsbegriffs — nämlich Bedeutung als Gebrauch — angekommen, können wir uns, ohne jeden behavioristischen Purismus, die bloomfieldsche Behauptung wieder zu eigen machen, die besagt, daß der Sinn einer sprachlichen Aussage in der „Situation" besteht, „in der der Sprecher die Aussage macht, und gleichermaßen im Response-Verhalten, das diese Aussage im Hörer auslöst" (Bloomfield 1933, 139). Und wir verstehen u n d unterschreiben auch die Betrachtungen von L. Hjelmslev: „Nicht durch eine physikalische Beschreibung der bezeichneten Gegenstände gelangt man dazu, den semantischen Gebrauch einer Sprache, den eine Sprachgemeinschaft angenommen hat u n d der zu einer Sprache gehört, sinnvoll zu charakterisieren. Dies geschieht durch die Beschreibung der von der betreffenden Sprachgemeinschaft allgemein anerkannten sozialen Wertungen, der kollektiven Auffassungen der sozialen Meinung. Die Beschreibung der Substanz m u ß also vor allem aus einer Annäherung zwischen Sprache und den anderen sozialen Institutionen bestehen u n d so einen Berührungspunkt der Linguistik und den anderen Zweigen der sozialen Anthropologie darstellen. So kann ein und derselbe physikalische Gegenstand sehr verschiedene semantische Beschreibungen erhalten, je nach der betrachteten Zivilisation. Dies gilt nicht allein für die Begriffe der unmittelbaren Wertung wie ,gut', .schlecht' oder für die Dinge, die durch die Zivilisation unmittelbar geschaffen sind, wie ,Haus\ ,Stuhl',,König', sondern auch für die Dinge der Natur. Nicht nur werden ,Pferd', ,Hund', ,Berg', ,Tanne' in einer Gesellschaft, in der sie als

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einheimisch erkannt und a η erkannt sind, anders definiert als in einer Gesellschaft, wo sie fremde Erscheinungen bleiben, was, wie man weiß, nicht hindert, daß die Sprache über einen Namen zu ihrer Bezeichnung verfugt, wie z.B. das russische Wort für ,Elefant': ,slon'. Ein Elefant ist auch für einen Hindu oder Afrikaner, der ihn gebraucht und aufzieht, fürchtet oder liebt, etwas ganz anderes als für eine europäische oder amerikanische Gesellschaft, für die der Elefant nur als Kuriosität bekannt ist, die im Zoo oder Zirkus zu bewundern ist und in zoologischen Handbüchern beschrieben wird. Der ,Hund' wird bei den Eskimos, wo er-in der Hauptsache Zugtier ist, eine andere semantische Definition erhalten als bei den Parsen, wo er als heiliges Tier gilt, oder in irgendeiner Hindu-Gesellschaft, wo er als Paria empfunden wird, oder auch in unseren okzidentalen Gesellschaften, wo er hauptsächlich das für Jagd und Wache dressierte Haustier ist." (Hjelmslev 1954, 175f.; dt. 1974, 90f.) Hjelmslevs Worte klingen an Ausführungen B.L. Whorfs an. Wir können an Whorf und an Forschern, die ähnliche Positionen vertreten, die „psycholinguistische Uberstürztheit", die methodischen Fehler kritisieren, wie dies zu recht Mounin getan hat (Mounin 1963, 216ff.). Aber der Grundgedanke ist richtig: „Die Sprache organisiert die Erfahrungen. Wir neigen dazu, in der Sprache eine einfache Technik zum Ausdruck von Gedanken zu sehen, und begreifen so nicht, daß eine Sprache vor allem eine Klassifikation und eine Strukturierung des Stroms sinnlicher Eindrücke darstellt, der sich so zur jeweiligen Welt ordnet. Wir gelangen daher zu einem neuen Relativitätsprinzip, das besagt, daß nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild gefuhrt werden, es sei denn, ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich oder können in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden." (Whorf 1958, 55, 214; der letzte Satz in der deutschen Ausgabe 1963, 12) Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, können wir mit Antonino Pagliaro sagen, daß Sprache (linguaggio) ein Erkennen (un conoscere) darstellt, das sich historisch im Rahmen einer Gemeinschaft verwirklicht (Pagliaro 1963). Das Wort „Erkennen" ist indes selbst voller historisch bedingter Konnotationen aufgrund seiner Einbindung in philosophische Lehren, die das Erkennen als Eindruck, als passive Aufnahme begreifen. Es ist deshalb vielleicht besser zu sagen, daß Sprache, d.h. das Verwenden von Zeichen (il significare), eine Art und Weise des Handelns in der Welt darstellt; wir bringen so das Neue in der modernen Auffassung von der Zeichenverwendung besser zum Ausdruck. Zeichen verwenden aber ist Praxis. Eine Praxis, die, vermittelt über das Gemeinsame im Gesellschaftlichen und die 161

Systematisierung ihrer individuellen Manifestationen, die historisch jeweils verschiedene Verbindung eines Erfahrungausschnitts mit einer Lautform zu Wege bringt, wobei dieser Zusammenhang nur im Gebrauch selbst, in seinem Vollzug garantiert ist. Das Band zwischen einer Form und einem Wissen (un sapere) - und das ist das Zeichen Saussures und das Hyposem Lucidis - ist die Kristallisation einer abgeschlossenen, historisch und gesellschaftlich bedingten Erfahrungsreihe und gleichzeitig das Instrument, mit dem die Mitglie der einer Gemeinschaft die neuen Erfahrungen ergreifen, analysieren, organisieren und beherrschen. In seiner ganzen Komplexität stellt das Hyposem die Einheit der Wissenschaft von der Semantik dar.

4. Die neue Semantik und die Philosophie der Praxis „309. Was ist dein Ziel in der Philosophie? — Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen." Mit diesem so wenig „geistigen" Satz hat Wittgenstein den „trivialen" Charakter in Worte geprägt, der jeder philosophischen Reflexion eigen ist. Die „Philosophischen Untersuchungen" beschränken sich wie jede gute Philosophie darauf, unserem Denken einfach dabei zu helfen, den Dilemmata zu entkommen, in denen es befangen war. Das erste Dilemma, dem man entgeht, besteht in der Wahl zwischen der Auffassung Aristoteles', der Rationalisten, des frühen Wittgenstein, des frühen Croce und des frühen Saussure („die sprachlichen Formen haben ihre Bedeutung, weil sie Dingen, die fur alle gleich sind, entsprechen, oder weil sie in einzigartiger, unauflöslicher und unwiederholbarer Weise ihrem Inhalt entsprechen, oder schließlich weil sie zusammen ein starres System bilden, das ihnen vollständige semantische Identität garantiert") und der individualistischen Auffassung, vertreten von den Sophisten und bekämpft von Aristoteles, vertreten von Sokrates und Calogero („diese sprachlichen Formen haben diese Bedeutung, weil ich ihnen diese Bedeutung verleihe"). Die Garantie fur die Verbindung von Form und Bedeutung im Zeichen liegt allein im Gebrauch, im sprachlichen Verhalten der Individuen, das freilich wirklich semantisches Verhalten nur dann ist, wenn es gesellschaftlich und semantisch integriert ist, d.h. wenn es ein gemeinsames Repertoire von Einheiten benutzt, die in der kollektiv getragenen Kultur verankert sind. Eine so verstandene Sprache setzt offensichtlich nicht die gesamte Kenntnis (scienza) der Fakten und Dinge voraus, wie dies in der aristotelischen Konzeption der Fall ist. Im Gegenteil, sie selbst hilft dem Sprecher einer gegebenen Gemeinschaft durch ihre Elemente bestimmte Gemeinsamkeiten

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zwischen den Dingen zu erfassen und damit den Kern eines kollektiven Wissens zu begründen und zu tradieren. Um eine Sprache benutzen zu können, m u ß man also nicht in „die Schule des Aristoteles" gegangen sein: die Sprache u m f a ß t nicht die Erkenntnis der letzten Dinge, der „ersten Elemente", sie umfaßt und tradiert lediglich ein Wissen, das die wissenschaftliche Forschung wie und wann immer aufnehmen und korrigieren kann. Überdies ist die Sprache im Verständnis Wittgensteins eher immer offene Systematisierung von Formen und Bedeutungen als geschlossenes System. Sie ist das Ensemble der alternativen Möglichkeiten zu einem Satz. Dies freilich nicht in dem Verstände, daß es notwendig alles umfassen müßte. Das Ensemble der alternativen Möglichkeiten zu einem Satz ist lediglich vorhanden als möglicher Bezug sprachlicher Verhaltensweisen oder auch der Zeichenverwendung der Individuen. Dies ist, realistisch betrachtet, eine korrektere Vorstellung davon, wie wir einen Satz konstruieren u n d interpretieren; gleichzeitig entgeht diese Vorstellung den Konsequenzen, die aus dem von Saussure konzipierten perfekten und geschlossenen System folgen. Mit der Auffassung der Sprache als Systematisierung schwindet die Vorstellung vom perfekten Sprechen. Unser Sprechen ist mehr oder weniger genau, je nachdem, ob die Anzahl der verfugbaren Alternativen größer oder kleiner ist, je nachdem, wie das Verhältnis zwischen der Absicht des Sprechers und der Reaktion des Hörers ausfällt. Diese Unscharfe beim Sprechen stellt genau den Normalfall dar. Beschreiben wir die Sprache als offene Systematisierung, dann werden mindestens drei Dinge verständlich: warum zwei Individuen einander verstehen können, obgleich ihre sprachliche Kompetenz nicht exakt dieselbe ist; warum immer ein Minimum an Kommunikation vorhanden ist, selbst mit einem Fremden, der in irgendeiner Weise immer die Verbindung zwischen einem Satz und einer gegebenen Situation herstellt; warum es immer eine noch höhere Ebene der Verständigung gibt, von der aus es möglich ist, sich über Ungenauigkeiten auf tieferen Ebenen Rechenschaft zu geben. Es gibt keine Notwendigkeit mehr, ein System zu konzipieren, das für alle Personen, sozialen Schichten u n d in der Zeit dasselbe bleibt: partielle Unterschiede in der Kenntnis der Alternativen machen — bleiben sie in Grenzen — Kommunikation nicht unmöglich; Kommunikation ist nicht nur durch den Gebrauch tendenziell gleicher sprachlicher Formen, sondern auch durch die Anlage der Sprecher zur Verständigung gewährleistet. Die von Wittgenstein skizzierte Auffassung von der Zeichenverwendung erliegt auch nicht den Einwänden, die gegen die individualistische Auffassung mit Erfolg vorgebracht werden. Du weißt sicher, mein Gesprächspartner, daß du den Sätzen, die du sagst, und den Formen, aus denen deine Sätze bestehen, eine bestimmte Bedeutung zulegst. Aber in dem Maß, in dem du meiner

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Gemeinschaft angehörst und demselben kulturellen u n d sprachlichen „Training" unterworfen bist wie ich, kann ich mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Bedeutung, die du den Sätzen zulegst, die Bedeutung ist, die auch ich ihnen zulege, wenn ich sie höre oder meinerseits verwende. Mein und dein Verhalten (nicht nur das sprachliche) bestätigen fur mich und für dich fortwährend die Hypothese, die ich in Ansatz bringe, wenn ich von dir eine Nachricht erhalte, die du zuvor formuliert hast: wir brauchen uns also nicht in einem unendlichen Regreß exegetischen Fragen nach der Bedeutung unserer Wörter zuzuwenden. Auf den vorangegangenen Seiten kehrten Ausdrücke wie „große Wahrscheinlichkeit", „mehr oder weniger" usw. mit einer Häufigkeit wieder, die bei dem vielleicht Unbehagen aufkommen läßt, der an ein klares Ja oder Nein, an absolute Bejahungen oder Verneinungen gewöhnt ist, wie sie in einem großen Teil der traditionellen philosophischen und sprachphilosophischen Abhandlungen üblich sind. Gegen diese „manichäische Logik des Ja oder N e i n " hat Guido Calogero zahlreiche gute Einwände vorgebracht. Diese Logik wird ausdrücklich auch vom späten Wittgenstein zurückgewiesen (und hier liegt vielleicht der größte Unterschied zwischen Wittgenseins früher und später Phase). An dieser Stelle kann dieses Problem nicht voll ausdiskutiert werden. Man kann ohne weiteres den Standpunkt vertreten, daß es Gebiete gibt, auf denen es tatsächlich nur absolute Gewißheiten oder absolute Zurückweisungen (und auch diese sind Gewißheiten) gibt. Oder man kann den Standpunkt vertreten, daß wir einen „universe of discourse" diesen Typs wenigstens konstruieren können. Aber auf dem Gebiet der semantischen Erfahrung kann man sich vollkommene Kommunikation wie vollkommenes Nichtverstehen lediglich als niemals erreichbare Grenzen denken, zwischen denen unser sprachliches Verhalten sich bewegen muß. Dies entzieht dem semantischen Skeptizismus jede Grundlage. Von den Dieben sagt Chesterton, sie seien die einzigen großen und wahren Verteidiger des Rechts auf Eigentum. Dasselbe kann man von den Skeptikern sagen: wie Black mit dem Blick auf Lewis festgestellt hat, gibt es niemanden, der sicherer sein k ö n n t e und müßte als Lewis, daß seine Wörter den Sinn haben, den sie haben. Wenn Lewis diese Sicherheit nicht gehabt hätte, dann hätte er nicht einmal — so Black — sein Argument der Farbenblindheit vorbringen können, denn man kann ein Argument nur dann vorschlagen, wenn man überzeugt ist, daß die Wörter, die dieses Argument zum Ausdruck bringen, einen Sinn haben. Dasselbe wurde über Blanchot u n d die literarischen Skeptiker gesagt: „der sprachliche Solipsismus zeichnet ein Trugbild der Kommunikation und beweist dann, daß dieses Trugbild unerreichbar ist" (Mounin 1 9 6 3 , 1 8 3 ) . Tatsächlich beruht die ganze Stärke des semantischen Skeptizismus, so seltsam dies auf den ersten 164

Blick erscheinen mag, auf dem uneingeschränkten Vertrauen in die semantische Wirksamkeit der sprachlichen Formen: Aristoteles, Wittgenstein und Croce in ihrer ersten Phase, und Saussure versuchten Konzepte der Kommunikation zu finden, die erklären sollten, wie die sprachlichen Formen eine bestimmte Bedeutung vollkommen übermitteln, und wurden gerade so die besten Verbündeten des semantischen Skeptizismus. Sie nährten und förderten nämlich den Glauben, daß Kommunikation, wird sie nicht in Perfektion verwirklicht, überhaupt nicht verwirklicht wird. Kommunikation findet für sie wie für die Skeptiker statt oder nicht statt, ein Satz wird entweder vollkommen verstanden oder aber vollkommen nicht verstanden. Der Mensch rettet sich vor dem Strudel der Inkommunikabilität nur, wenn er die glückliche Insel der vollkommenen Verständigung erreicht. Kierkegaard hat recht: diese Insel kann nur Gott sein. Aber in der menschlichen Welt gibt es zwischen striktem J a oder Nein, zwischen vollkommener Verständigung und vollkommenem Nichtverstehen eine Bandbreite unendlich vieler Möglichkeiten partieller Verständigung, in der wir uns in Wirklichkeit bewegen. — Schließlich können bei Menschen sehr verschiedener Sprachen gemeinsame biologische, kosmologische „Universalien" vorhanden sein (Mounin 1963, 213—223), die doch ein Minimum an Kontakt und Verstehen durch den Gebrauch sprachlicher Zeichen möglich machen. Und endlich kennt der gewitzigste Philologe und Exeget, der glaubt, sämtliche möglichen Lesarten seines hundertmal gelesenen Textes ausgeschöpft zu haben, jenen unvorhergesehenen „Schwindel" (Pagliaro sprach von „Zusammenschrecken", Spitzer von einem unvorhergesehenen „click"), der ihn bei der Entdeckung einer genaueren und reicheren Interpretation eines Satzes ergreift. Die endgültige Lösung, auf die Wittgenstein in den „Philosophischen Untersuchungen" hinzuarbeiten scheint, ist diese: im sprachlichen Verhalten gibt es immer ein Mehr oder ein Weniger an Erfolg; die gesellschaftliche Gemeinsamkeit und die Systematisierung der sprachlichen Verwendungen (usi linguistici) bewahren uns zwar vor dem absoluten Nullpunkt der Inkommunikabilität, sie fuhren aber auch nicht zu vollkommener Kommunikation, die in unerreichbarer Ferne bleibt. Es sei daran erinnert, daß andere Forscher auf anderen Wegen zu derselben Folgerung gelangt sind. „Wenn ich, Mallarmé zitierend, sage: ,La chair est triste, hélas! et j'ai lu tous les livres', kann mein Zuhörer diese Aussage in verschiedener Weise erfassen: a.) A u f dem Funktionsniveau minimaler sozialer Kommunikation. (Der Hörer, ein begabtes Kind im 5. Schuljahr, versteht Vokabular und Syntax des Satzes. Mit großer Wahrscheinlichkeit fragt es sich, warum man vom Fleisch sagen kann, es sei traurig, und ob jemand tatsächlich sagen kann, daß er alle Bücher gelesen habe.) b.) Auf dem Funktionsniveau des

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.elaborierten' Denkens, das dem ersten sehr nahe steht. (Der Hörer, ein durchschnittlicher Schüler im 8. Schuljahr, versteht, daß Ja chair est triste' ein Urteil des Dichters über das Leben und die Vergnügungen des Fleisches sind, das dem Geist entgegengesetzt ist; er versteht auch, daß ,j'ai lu tous les livres' ein übertreibender Ausdruck ist.) c.) Auf dem Funktionsniveau des Gefühlsausdrucks. Der Hörer, ein begabter Schüler der gymnasialen Oberstufe, weiß etwas über das Leben Mallarmés, kennt seine Ideen, insbesondere seine Vergötterung des Buchs. Er kennt auch die biblischen, religiösen, philosophischen, moralischen Konnotationen, die das Wort,chair' im Französischen hat. Er erfaßt so auch den Stellenwert des zweiten Halbverses und versteht die ganze Fülle der Verzweiflung eines Dichters, der — zusammengefaßt — sagt: das Fleisch ist traurig, und der Geist ist es auch, d.) Auf dem Funktionsniveau sprachlicher Ästhetik. Derselbe begabte Schüler erfaßt vielleicht in mehr oder minder analytischer Weise die Gediegenheit des Verses, sein Gleichgewicht in der Antithese, seine lautliche Komposition, die Schwere, die man ihm trotz der Liquiden in der Diktion aufgrund der beiden einzigen wohlplazierten stimmlosen Verschlußlauten (triste, tous) verleihen kann, vielleicht auch weil von elf Wörtern des Verses zehn einsilbig sind. Selbstverständlich können sich diese Niveaus außerhalb der Analyse vermischen, u n d zwar beim selben Sprecher und mit sehr verschiedener Gewichtung: das Kind im 5. Schuljahr kann die Tonlage des Verses zum Teil erfassen wegen der .affektiven Denotation' der Ausdrücke Rielas' u n d ,triste'; es kann intuitiv für Rhythmus und Artikulation sensibel sein, die es unbewußt die Last der Verzweiflung dieses Verses spüren lassen k ö n n e n . Bei derselben Aussage kann jede Funktion der Sprache die Kommunikation auf Niveaus etablieren, die sowohl von der Aussage selbst als auch von der Erfahrung eines jeden Hörers abhängen." (Mounin 1963, 178f.). Dieselben Erwägungen gelten von S t a n d p u n k t der Formulierung einer sprachlichen Botschaft aus: „Ganz allgemein kann man sagen, daß das, was ein sprachliches System uri semantischen Wert des Zeichens fixieren kann, verglichen mit unseren kognitiven Möglichkeiten und den unzähligen und unterschiedlichsten Momenten unseres affektiven Lebens unglaublich begrenzt ist. Sicher können die Allgemeinheit des Zeichens und die unendliche Kombinationsmöglichkeit der Zeichen verb in düngen, in denen die Bedeutung genauer bestimmt wird, für den eine überaus große Hilfe darstellen, der sich ihrer zu bedienen weiß; aber trotz all diesem ist die Wirklichkeit als ganze wesentlich nicht mitteilbar (è incommunicabile). Deshalb ist das sprachliche Zeichen nur ein Verweis, eine Anspielung ... Ruhig betrachtet erweist sich das Zeichen letztendlich als Notbehelf, ein so sinnreicher, wie immer man will, aber immer als N o t b e h e l f . " (Pagliaro 1952, 310).

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Ια der Konzeption Wittgensteins, die mit der des späten Croce und des späten Saussure übereinstimmt und in der unabhängig voneinander Wege zeitgenössischer linguistischer Forschungen sich zusammenfinden, wird die Sprache wahrhaft „ein Schiff auf dem Meer", um ein Bild Saussures zu gebrauchen. Nicht mehr in Universalien verankert, nicht mehr im ruhigen Hafen der göttlichen Kommunikation der Idiome, nicht mehr im System abgesichert gegen Havarien — die Sprache ist so ein Boot, das jederzeit Schiffbruch erleiden, aber jederzeit auch glücklich den Hafen erreichen kann. Man sollte die Tatsache nicht übergehen, daß diese Konzeption vom Sprechen und von der Sprache auf eine neue Konzeption des Menschen verweist, oder besser gesagt: mit ihr zusammentrifft. Cassirer ist sich dessen bewußt, die „Untersuchungen" Wittgensteins handeln davon. Der Mensch steht bei einer solchen Auffassung von der Sprache nicht mehr in einer sicheren und festen Beziehung zu den logischen und realen Universalien, da er selbst genau in dem Augenblick, in dem er seine Rede und seine Worte bildet, „Begriffe" und „Dinge" bildet; in der Rede weht nicht mehr der große Geist der Kunst als wunderbare und notwendige Kategorie a priori, sondern die Kunstwerke werden in und mit der Rede gebildet; hier gibt es keine sicheren Gleise mehr, auf denen das Individuum ruhig von den Prämissen zu den richtigen Folgerungen gelangt dank der zusammenstimmenden Rationalität des Systems. Keine Logik, keine Kunst, kein Gott, kein rationales System steuern das Schiff auf dem Meer, sondern einzig der Mensch. Der Mensch allein ist für seine Rede verantwortlich, deren Formen und Werte er allein formt, aufrecht erhält u n d verändert. Seine Rede ist eine seiner Möglichkeiten, in die Welt einzugreifen, indem er in kollektiver Weise die Erfahrung, die er von der Welt hat, in Entsprechung der an bekannte Formen gebundenen Werte organisiert: Formen und Werte, die er selbst hervorgebracht hat, und deren Einheit er allein in Übereinstimmung mit seinesgleichen und mit sich selbst gewährleisten kann und gewährleistet. Die semantische Erfahrung hat ihren Grund also in der Möglichkeit des Menschen zum Handeln. Wir sind nicht zu dieser neuen Konzeption gelangt, weil wir äußerlich akademische Moden oder philosophische oder politische Tendenzen aneinandergereiht haben, sondern weil wir den inneren Zusammenhängen und Entwicklungen ihrer Begriffe nachgegangen sind; sie stimmt, wie gesagt, mit der Entwicklung der philosophischen Lehren überein, die von Marx zum Historismus und zum Pragmatismus des 20. Jhs. führen und die unter dem und für den Primat der Praxis entworfen wurden.

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IX. Möglichkeit einer Semantik als historischer Wissenschaft

Wie wir gesehen haben, ist der Beweis, daß wir kommunizieren, daß unsere Wörter eine Bedeutung haben, daß es ein Bewußtsein geben kann von dem, was ist (und folglich auch von der Kommunikation und der Bedeutung), nicht möglich. Ebenso unmöglich ist es, zu beweisen, daß wir leben u n d daß die Welt existiert. Jeder Beweis dieser Art wäre, mit Aristoteles zu sprechen, „ungehörig", da er gezwungen wäre, eben die Möglichkeit der Kommunikation zu nutzen (anders gäbe es den Beweis nicht), die Möglichkeit, daß die Wörter Bedeutung haben (anders hätte er keinen Sinn) und daß wir über ein Wissen verfügen (anders könnte er sich nicht entwickeln): er könnte darüber hinaus nur geführt werden, wenn lebendige Wesen u n d die Welt existieren. Mit anderen Worten, jeder Beweis dieser Art ist nur dann möglich, wenn er das voraussetzt, was er doch erst zeigen will. Was nun unseren Gegenstand betrifft, so können wir nicht zeigen, sondern nur voraussetzen und als Voraussetzung akzeptieren, daß es die Möglichkeit semantischer Erfahrung u n d die Möglichkeit ihrer Erkenntnis gibt. Diese beiden Möglichkeiten stellen die beiden Postulate einer Wissenschaft vom Zeichengebrauch dar. Wir können sie nicht zeigen, aber wir können uns auf sie beziehen als Wahrheitsbedingungen von Aussagen dieser Wissenschaft. Jede Aussage, die implizit oder explizit die Ableitung der Negation einer der beiden oder beider Möglichkeiten zuläßt, ist eine falsche Aussage. Wir müssen sie korrigieren. Wenn wir es für angezeigt halten, dies nicht zu tun, bedeutet das, daß wir nicht länger eine dieser beiden oder beide Voraussetzungen akzeptieren. Dies bedeutet, daß wir zugleich negieren, daß unsere Worte eine Bedeutung haben u n d daß wir die Möglichkeit haben, das, was wir in Erfahrungen bringen, zu verstehen. Damit räumen wir zugleich den anderen das Recht ein, uns als Personen zu bezeichnen, deren Wörter keinen Sinn haben oder als Personen mit beschränkter Intelligenz. Wenn unsere Einstellung kohärent wäre, dürften und könnten diese beiden Urteile uns nicht beleidigen, wir vermöchten sie noch nicht einmal zu verstehen. Wenn es den Skeptiker ärgert, daß er sich unvernünftig und töricht nennen hört, dann ist dies ein Zeichen dafür, daß er nicht länger Skeptiker ist, daß er schon das eine oder andere oder beide Postulate akzeptiert hat, die er doch zu negieren behauptet.

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Auf den beiden Postulaten der Möglichkeit der semantischen Erfahrung und der Möglichkeit der Erkenntnis aller unserer Erfahrungen kann man eine Bedeutungstheorie aufbauen. Unter Zuhilfenahme dessen, was wir oben gesagt haben (153ff.), können wir die Bedeutung definieren als das Identifizieren einer Situation mit Hilfe eines Zeichens (Satzes). Die weiteren Bestimmungen dieser Identifizierung sind vielfaltig: mit einem Zeichen können wir überzeugen, erklären, erzählen, beleidigen, uns zu erinnern versuchen, einen Bericht abfassen, bejahen, verneinen, bitten usw. Es k ö n n t e eine der Aufgaben einer theoretischen Semantik sein, die möglichen Gebrauchsweisen der Zeichen zu untersuchen und zu klassifizieren. Wie wir bereits anmerkten (155ff.), sind verschiedene Möglichkeiten der Identifizierung von Situationen mit Hilfe von Zeichen denkbar. Man kann sich einen Zeichengebrauch vorstellen, der sich möglichst genau an die unermeßliche Vielfalt von Situationen hält u n d der mit äußerstem Respekt vor der Unzahl von möglichen subjektiven Reaktionen der Sprecher verwirklicht wird. Solch ein Zeichengebrauch brächte Zeichen hervor, die nur ein einziges Mal im Verlauf der Geschichte auftauchen und darüber hinaus nicht mehr brauchbar wären. Wie wir sahen, erreicht dieser „croceanisch" zu nennende Zeichengebrauch jedoch nicht das Ziel der Kommunikation, da er zu seiner Verwirklichung die Möglichkeit voraussetzt, daß sich zwischen den Sprechenden vermittelt über die Zeichen etwas Gemeinsames bildet, etwas das im croceanischen Zeichengebrauch sich unmöglich bilden kann ( 7 7 - 8 6 ) . Man kann sich sodann einen Zeichengebrauch vorstellen, der versucht, die Gemeinsamkeit zwischen den Sprechern derselben Gemeinschaft soweit als möglich zu sichern, und es ihnen so einfach wie möglich macht, mit Hilfe von Zeichen Situationen zu identifizieren. Ein Zeichengebrauch dieser Art würde sich in der Produktion eines einzigen Zeichens erschöpfen, das für alle Sprecher und für alle Situationen immer das gleiche wäre (155). Dieser Zeichengebrauch „à la Ionesco" wäre ebenfalls zum Zweck der Kommunikation unbrauchbar, da es Kommunikation nur gibt, wenn es die Möglichkeit der Differenzierung verschiedener Situationen mit verschiedenen Zeichen gibt. Wir sahen, daß die Notwendigkeiten, die die Basis sowohl für den Zeichengebrauch à la Ionesco als auch für den à la Croce bilden, in Wirklichkeit beide Bestandteile unseres Zeichengebrauchs sind, der sich in der Balance zwischen entgegengesetzten Erfordernissen verwirklicht: die Tendenz zum Ausdruck und zur Differenzierung u n d die Tendenz zur Sparsamkeit u n d zur Angleichungund Integration sowohl auf Seiten der Sprechenden als auch auf Seiten der Zeichen. Die Folge ist, daß in jeder sprachlichen Tradition die Zahl der Zeichen unbegrenzt ist, diese unbegrenzten Zeichen jedoch mit einer begrenzten

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Anzahl von subsemantischen Einheiten, den Wörtern, gebildet werden, die wir mit dem terminus technicus „ H y p o s e m " bezeichnen können. Die Hyposeme, die sich, wie wir gesehen haben, bis auf einige Ausnahmen („Feuer"!, „ G u t ! " ) immer innerhalb eines Satzes miteinander verbinden, tragen dazu bei, eine Situation zu identifizieren, unter der Bedingung, daß der Satz in dem Zusammenhang gesehen wird, in dem er gemacht wurde, verbunden mit dem dicens (118ff.). Von sich aus spielt das Hyposem nur auf ungefähre Art auf einen Ausschnitt der Erfahrung an, es ist ein „Hilfsmittel" (Pagliaro), dessen Funktion verbunden ist mit derjenigen anderer Hyposeme, die mit ihm den Platz tauschen können und die mit ihm in einem möglichen Gebrauchszusammenhang angeordnet sind (153). Es ist darüber hinaus verbunden mit Tätigkeiten und Verhaltensweisen, die im Umkreis einer gegebenen historischen Gemeinschaft den Erfahrungsausschnitt abstecken, auf den das Hyposem anspielt (15 lf.). Es ist schon fast überflüssig, hinzuzufügen, daß die Identität eines Zeichens und eines Hyposems von nichts anderem garantiert wird, als von der Gemeinschaft, die sie als solche gebraucht (123ff.). Die Faktoren, die beim Bestimmen der Identität eines Wortes eine Rolle spielen, sind also vielgestaltig. Spezieller Kontext und Klassen von Kontexten, in denen es vorkommt; Bezugnahme auf einen oder mehrere Erfahrungsausschnitte und mögliche Kombinationen oder Vereinigungen dieser Bezugn a h m e n ; die Möglichkeit, daß ein Wort im Zusammenhang einer oder mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen zu einem terminus technicus wird; Wörter, die mit ihm allgemein und in bestimmten Situationen gleichwertig sind; ethnographische, soziologische und kulturelle Bestimmung des Erfahrungsausschnitts, auf den das Wort anspielt. Beim Gebrauch eines einzelnen Wortes sind alle diese Faktoren in verschiedenen Ausmaßen im Spiel, und dies gilt auch fur die Interpretation des Hörers, obwohl sich die Anwendung und die Interpretation eines Zeichens auf unterschiedlichen Ebenen abspielen, die sich dadurch unterscheiden, daß sie die Beziehung, die zwischen dem Zeichen u n d der sprachlichen und außersprachlichen Wirklichkeit, in die es eingebaut ist, besteht, mehr oder weniger nutzen (164f.). Semantische Forschung kann nicht von all diesem absehen: ihre Aufgabe besteht darin, auf reflektierte u n d an den Fakten überprüfbare Art das zu rekonstruieren, was in Wirklichkeit unreflektiert abläuft. Das Ziel solcher Rekonstruktionen kann sehr unterschiedlich sein. Sie können einem Wissenschaftler dienen, einem Soziologen, einem Psychologen oder einem Beichtvater. Die Semantik m u ß ihre Nützlichkeit im Umgang mit den Tatsachen beweisen. Worauf es hier ankommt, ist zu betonen, daß Semantik möglich ist und daß man ihre Forschungsziele schon mit ausreichender Klarheit sieht.

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Man kann schließlich noch hinzufügen, daß sich die Semantik auch der Konstruktion von Zeichenmodellen bedienen kann, in denen der Zeichengebrauch als Zeichenproduktion verstanden wird, die wiederum Kombination einer endlichen Zahl von Hyposemen ist. 1 Modelle dieser Art sind für verschiedene Zwecke brauchbar, so wie die Vorstellungen vom „festen Körper", von der „gleichförmigen und geradlinigen Bewegung" oder vom „homogenen G a s " brauchbar sind. Sie schöpfen jedoch nicht die sprachliche Wirklichkeit aus, ebenso wie die physikalischen Modelle die physikalische Realität nicht ausschöpfen. Und ebenso, wie es äußerst gefährlich ist, die physikalische Wirklichkeit mit ihrem Modell zu verwechseln, wenn man etwa ein Glas als festen Körper behandelt oder das A u t o , das uns begegnet, als Punkt, der sich gradlinig und gleichförmig bewegt, so müssen wir uns davor hüten, die abstrakten semantischen Modelle, die wir konstruieren, mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Ihre Nützlichkeit bemißt sich an der Erweiterung unserer Kenntnisse über die tatsächliche sprachliche Wirklichkeit. Ihre Vereinfachungen nützen nur insofern, als sie uns erlauben, die sprachliche Wirklichkeit in ihrer Komplexität schärfer wahrzunehmen. Und in seiner komplexen Wirklichkeit äußert sich der Zeichengebrauch in der Produktion von Zeichen, die von Hyposemen gebildet werden, die wiederum nicht ein geschlossenes u n d kohärentes System darstellen, sondern jeweils mit einer mehr oder weniger alten und komplexen Bedeutungsgeschichte beladen sind. Die Semantik ist da angesiedelt, w o sich die objektive geschichtliche Komplexität der Wirklichkeit trifft mit der geschichtlichen Komplexität der Wissenschaften, die jene Wirklichkeit reflektieren. Sie studiert nicht abstrakt eine künstliche Wirklichkeit, sondern ist eine historische Wissenschaft, die sich auch selbst zum Gegenstand hat. Sie gehört zu den historischen Wissenschaften, weil sie ein Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung des Wissens ist und sich in engem Zusammenhang mit dem Entstehen, dem zeitweiligen Verschwinden und dem danach umso kraftvolleren Wiederauftreten der historischen Vernunft entwickelt hat. Und sie gehört zu den historischen Wissenschaften, weil die Verkettung der wechselseitigen Bedingungen, die den Zeichengebrauch mit der geschichtlichen Entwicklung der einzelnen menschlichen Gemeinschaften verbindet, es mit sich bringt, daß die Semantik Ergebnis und Bedingung der Geschichtlichkeit zum Gegenstand hat. 2

1

2

Hierfür verweise ich auf meine Arbeit: Modeiii semiologici: l'arbitrarietà semantica, In: Lingua e Stile 1 (1966) 3 7 - 6 1 , wieder abgedruckt in: Senso e significato, Studi di semantica teorica e storica, Bari 1970. Einen entscheidenden Beitrag zur analytischen Verbindung der Begriffe ,Sinn' und ,Bedeutung' mit dem Begriff,soziale Beziehungen' hat Prieto (1964) geleistet.

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Anstelle eines Nachworts Zum gegenwärtigen Stand der Semantik'"

Wie Sie wissen, gab es während der 60er Jahre eine tiefe Kluft zwischen verschiedenen sprachwissenschaftlichen Positionen, vor allem zwischen S y n t a k t i k e m und Semantikern — eine Kluft, die unüberbrückbar schien. Hier unter Romanisten, wo es immer eine erkleckliche Zahl von Personen gab, die sich der Logik des unversöhnlichen Entweder-Oder verweigerten, von Yakov Malkiel bis Eugenio Coseriu, fallt es leicht zu sagen, daß dieser Gegensatz bald der Vergangenheit angehört. Ich persönlich habe Äußerungen wie die von R o b e r t Hall jr. nie akzeptiert — und ich glaube, man darf sie auch nicht akzeptieren —, der jeden vernichtete, der bei der Analyse von Sprache auf mathematische Mittel, auf Graphen und Bäume zuriickgriff, ihn als Schaumschläger, als wissenschaftlichen Stümper qualifizierte; auf der anderen Seite m u ß ich ebenso freimütig sagen, daß ich jene Haltung für die Syntax- und Semantikforschung abträglich halte - ich weiß nicht, ob ich sie tödlich oder faschistisch nennen soll —, nach der eine wissenschaftliche Wahrheit, eine wissenschaftliche These sich erst mit dem Tod ihrer Gegner durchsetzt. Ein Zitat aus der Forscherautobiographie von Max Planck, das durch das allzu erfolgreiche Buch von Kuhn, in dem sich diese dramatischen Worte wiederfinden, popularisiert wurde, mußte dazu herhalten, die Achtlosigkeit zu verdecken, mit der viele Transformationalisten, Generativisten und Strukturalisten die Kritiken und selbst die Möglichkeit von Anregungen und Diskussionen aus und mit der älteren Generation übergangen haben. Diese Gegensätzlichkeit hat wahrscheinlich keinen Sinn mehr. Ich will versuchen, Ihnen einen Aufriß dieser Thematik zu geben, indem ich eine zentrale Frage der Brauchbarkeit von Darstellungsweisen und theoretischen Konstruktion logisch-mathematischer Herkunft für die Untersuchung von Bedeutung u n d Syntax, von der Inhaltsebene natürlicher Sprachen diskutiere. *

Vortrag, gehalten auf der Vollversammlung des XIV. Internationalen Kongresses für Romanische Philologie (1974), in: AA. VV., XIV Congresso internazionale di linguistica e filologia romanza. Atti, vol. I, Napoli, S. 1 0 4 - 1 1 6 . In diesem Vortrag faßt de Mauro die Hauptgedanken des vorstehenden Buches zusammen und macht klar, in welchen Forschungskontext er sie gestellt sehen möchte.

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Bekannt ist der große Impuls, der seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts von den semantischen Forschungen der Logiker ausgegangen ist. Die logische Untersuchung der Semantik hatte bereits begonnen, bevor die Semantik ihren Namen erhielt und bevor dieser Name in den 20er Jahren unter den polnischen und mitteleuropäischen Logikern Verbreitung fand. Diese Forschungen von Seiten der Logiker wurden im allgemeinen von den Linguisten mit Mißtrauen betrachtet, und, wie dies häufig der Fall ist, haben sich Mißtrauen und Ablehnung manchmal in eine stürmische und wirre Leidenschaft verwandelt. Die Logik war fiir die Linguisten verbotenes Terrain, die Fremde, die man haßt und liebt. Ich glaube, daß diese Haltung nichts mehr hergibt und daß sie grundsätzlich verfehlt ist (ganz gleich, ob sie weiterbesteht oder nicht). Diese Haltung ist weitgehend verantwortlich fiir den unversöhnlichen Gegensatz, der die Linguistik in den 60er Jahren bestimmte und von dem ich oben sprach. Diesen Eindruck, daß die starren Fronten sich auflösen, habe ich in vielen Diskussionen auf diesem Kongreß gewonnen, und es scheint mir, daß man an der Möglichkeit einer Gemeinsamkeit arbeitet, die zwar noch nicht die Lösungen, wohl aber die Terminologie und die Fragestellungen betrifft. Da ist z.B. der Beitrag des Kollegen Rohrer, der die hier interessierende Frage anschneidet und sie ganz anders entwickelt, als ich dies tun würde, und der dennoch sehr gut zeigt, daß eine Klimaveränderung spürbar ist: man kann jetzt gelassen und ernstlich darüber diskutieren, wie welche logischen Mittel bei der Sprachuntersuchung angewandt werden können. Denn darüber muß man sich, glaube ich, völlig im klaren sein: logische Mittel können, dies steht außer Zweifel, bei der Untersuchung von Sprache angewendet werden und sind auch angewandt worden. Bar Hillel, Harris, Chomsky, Gross haben hinreichend gezeigt, daß man Begriffe mathematischer Herkunft gebrauchen kann, Begriffe wie M o n o i d , r e w r i t i n g - r u l e , Rekursivität (im gebräuchlichen Sinn, wie er mehr den Chomskyanern geläufig ist, und im mathematischen Sinn, wie ihn Chomsky und die Mathematiker kennen), G e n e r i e r u n g , T r a n s f o r m a t i o n — brauchbare Begriffe, um das, was wir von den wechselseitigen Beziehungen zwischen den Sprachzeichen vom Gesichtspunkt ihres Inhalts aus wissen, in ein System zu bringen. Ross, das Ehepaar Lakoff, in Italien Parisi, Antinucci und die hier zahlreich vertretenen Kollegen aus Padua haben die Brauchbarkeit der Darstellung mithilfe mehrstelliger Prädikate gezeigt, wie sie meines Wissens von Reichenbach eingeführt wurden. Nicht zu leugnen ist außerdem die Bedeutung, die die alte platonischaristotelische Unterscheidung von y évoξ und eiöof und jene andere machtvolle theoretische Konstruktion, die Klassenlogik, auf die Darstellung der Beziehungen zwischen den Bedeutungen von Zeichen oder von Monemen 173

haben, wie dies mit sehr unterschiedlichen Intentionen auf der einen Seite Katz und Fodor, auf der anderen vor allem und vor allen Louis Hjelmslev und die vielen Forscher, die im ganzen romanischen Sprachraum sein Werk auf hohem Niveau fortsetzen, von Prieto bis zu Coseriu, gezeigt haben, wenn auch mit beachtlichen Unterschieden, versteht sich. Z.B. ist es ziemlich offensichtlich, wenigstens für mich, daß Coseriu ein sehr klares Bewußtsein davon hat, daß jedwede Darstellung der Bedeutung und allgemeiner der Sprache als einer Gesamtheit von unveränderlichen und gänzlich kalkulierbaren Merkmalen immer und notwendigerweise nur eine Approximation ans Reale sein kann (ans Reale nicht nur der p a r o l e , sondern auch das der l a n g u e ) . Das Problem besteht also nicht darin - ich spare hier all das aus, was andere, mehr komplexe und differenzierte logische und nichtlogische Konstrukte für die Linguistik bedeuten können — das Problem besteht also nicht darin zu klären, ob überhaupt ein logisches Instrumentarium angewendet werden soll, sondern welches und unter welchen Bedingungen dies geschehen kann. Übrigens gelangt man zu derselben Schlußfolgerung, wenn man das Problem von der Warte logischer Untersuchungen aus betrachtet. Auch von dort aus scheint mir die Unterscheidung zwischen „logischen" und „nichtlogischen" Linguisten sinnlos: solch eine Kennzeichnung ist, wie ich zu zeigen hoffe, ohne Wert. Kann man die Inhaltsanalyse sprachlicher Zeichen — das haben sich im Verlauf der Geschichte ihrer Wissenschaft die Logiker mehrfach gefragt — auf logische Formeln reduzieren oder nicht? Es gibt Logiker, die diese Frage mehr oder weniger bestimmt bejahen, und solche, die die Frage verneinen. Es gibt eine respektable Tradition, die von der Stoa bis Port-Royal reicht, von dort bis zu Husserl und Chomsky, jedenfalls was die Syntax betrifft (denn offensichtlich ist Chomsky bei semantischen Fragen erklärter Boomfieldianer; das sei all denen in Erinnerung gerufen, die glaubten, Bloomfield ein für alle Mal erledigt zu haben), und geht von da aus bis zu den Logikern des M.I.T., wie z.B. Montague oder Davidson, denen zufolge die einzig ernsthafte, genaue Behandlung semantischer Fragen eine logische ist, sei es eine der Syllogistik, der Aussagenlogik, der Prädikatenlogik oder gar — als letzter, vielleicht vorletzter Schrei — der intensionalen Logik. Eine respektable Tradition also. Aber hören Sie bitte die Namen der anderen Traditionsreihe, die es im Bereich logischer Untersuchungen gibt. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß es eine Reihe ausgezeichneter Namen ist, die mit Aristoteles beginnt, weitergeht mit Leibniz, der die moderne Logik schuf, und im 20. Jahrhundert die Namen dreier Wissenschaftler enthält, die jeder schon gehört hat, auch wenn er mit logischen Untersuchungen nichts zu tun hat: Carnap, Tarski, Ajdukiewicz. Dies sind alles Logiker, die mit Argumenten der Logik die 174

Möglichkeit bestritten haben, die semantischen u n d syntaktischen Gegebenheiten natürlicher Sprachen erschöpfend zu behandeln. Anscheinend ist das Problem kein ganz einfaches. Erlauben Sie mir zwei weitere Hinweise: den einen auf einen Logiker, der derzeit viel von sich reden macht und den wir alle sehr bewundern, Lewis jr., und den anderen auf einen der größten mathematischen Logiker, Ingenieur, Philosophen und Sprachtheoretiker, ich meine Ludwig Wittgenstein. Bei beiden handelt es sich insofern um bemerkenswerte Fälle, als sie ihre Auffassungen geändert haben, von Befürwortern der „Logikthese", die alle semantischen und syntaktischen Analysen fur reduzierbar auf logische Formeln hielt, zu Vertreten entschieden kritischer, nicht auf diesem Exaktheitsanspruch bestehender Positionen wurden, und, wie Wittgenstein, sogar zur offenen Negation der zuvor vertretenen These kamen. Man sieht: wenn Genies wie Leibniz oder Carnap bezweifelt haben, daß man eine Sprache und ihre Zeichen auf logische Formeln reduzieren könne, und wenn andererseits so angesehene Logiker wie Montague, die mit Sicherheit diese Aussagen studiert haben, jenen Zweifel für unberechtigt hielten und sich um den Nachweis bemühten, daß Ausschnitte natürlicher Sprachen analog zu formalen Operationen behandelt werden können, dann ist dies ein Zeichen dafür, daß die Epoche des unversöhnlichen Entweder-Oder zuende ist, ein Zeichen dafür, daß man sich nicht länger der Autorität der Logik anvertrauen kann, weil sich hier die Autoritäten widersprechen. Man kann sich nicht länger mit Einteilungen beruhigen: auf der einen Seite die Guten, die das logische Instrumentarium anwenden oder eben nicht, auf der anderen Seite die Bösen, die es nicht oder eben doch benutzen. Ich will damit sagen, wenn Sie gestatten, daß ich es verkürzt ausdrücke, daß wir angesichts von Untersuchungen, die es mit Zeichen und Symbolen zu tun haben, nicht von vornherein sagen können, was „ g u t " ist oder „schlecht", sondern uns in Ruhe fragen müssen, wie angemessen die Argumente sind, wie solide sie verknüpft sind, wie evident die Voraussetzungen sind, wie hoch der Realitätsgehalt ist, den sie implizieren oder explizit machen. Hoffen wir, daß die erwähnte starre Haltung der Vergangenheit angehört und der Strenge der Kritik weicht: Kritik freilich im Sinne Kants, verstanden als Explikation und Prüfung von Bedingungen und Grenzen der Brauchbarkeit einer Theorie. Wenn wir uns diesen Gesichtspunkt zu eigen machen, müssen wir uns nun fragen, wie es um die Brauchbarkeit von Konzeptionen steht, die logischen Formeln, Klassifikationen und Kalkülen jeden Wert absprechen wollten. Meines Wissens gab es im 20. Jahrhundert vor allem zwei große systematische Versuche, eine Bedeutungstheorie auszuarbeiten, in der jede 175

Bezugnahme auf abstrakte Aspekte u n d also a fortiori auf logisch-mathematische Aspekte ausgeschlossen werden sollte. Herkunft, Bedeutung und Anwendung beider Konzeptionen sind verschieden; gemeinsam sind ihnen j e d o c h einige Aspekte ihrer logischen Grundstruktur. Die erste wurde aus der Wissenschaftstradition der Vereinigten Staaten heraus von Bloomfield ausgearbeitet und von Skinner weiterentwickelt: die Theorie der Bedeutung als „mediated response" in einer bestimmten konkreten Situation. Die zweite wurde von Croce aus der Tradition des italienischen Neoidealismus u n d der Ästhetik entwickelt: die Theorie der Bedeutung als ebenfalls punktuelle Beziehung zwischen Ausdruck und Intuition in der dichterischen Sprache. Für Croce ist der Ausdruck — ein poetischer Ausdruck wohlgemerkt — unwiederholbar: „ridenti e fuggitivi" sind die Augen von Silvia in diesem Abschnitt und nur in diesem Abschnitt des Buches von Leopardi. Für Bloomfield hingegen ist Wiederholung möglich, d.h. es gibt eine gewisse Regelmäßigkeit dank gehäufter Assoziationen zwischen einem bestimmten Stimulus und einer bestimmten Response. Bloomfield und Croce erfassen meines Erachtens, und dies ist zu diskutieren, etwas Richtiges an der semantischen Funktion der Zeichen. Zweifellos gilt für einen Teil der Zeichen, daß Signifikant und Signifikat durch Gewohnheit u n d Assoziation miteinander verbunden sind, und zweifellos gilt für alle Zeichen, daß man sie sozusagen extra moenia gebrauchen kann, jenseits jeder vorgegebenen semantischen Begrenzung. Ich will damit sagen, daß es in der Semantik eine innere, objektiv gegebene „bloomfieldsche" Komponente gibt, ebenso wie es eine objektiv gegebene „croceanische" Komponente gibt, die ich einem alten Vorschlag von mir folgend „semantische Kreativität" nennen möchte. Man kann meiner Meinung nach zwei Einwände gegen Croce und Bloomfield vorbringen. Der erste ist nicht etwa, daß sie nichts gesehen hätten, sondern im Gegenteil, daß sie etwas Bestimmtes zu sehr im Auge hatten, etwas, das unzweifelhaft einen Bestandteil der Sprache darstellt, von ihnen jedoch zum alleinigen und ausschließlichen Merkmal verabsolutiert wurde, freilich jeweils in unterschiedlichem Maße. Der zweite Einwand erfordert etwas mehr, will sagen er verlangt, daß man sich auf eine allgemeine Systemtheorie bezieht, deren wir meines Erachtens für die Bereiche der Semantik und Syntax dringend bedürfen. Unsere Semantik und unsere Syntax haben sich weithin so entwickelt, daß bestimmte Grundideen sehr mechanisch variiert, ja o f t nur einfach kopiert wurden. Nur wenige (Chomsky und Prieto gehören dazu) waren sich der Notwendigkeit bewußt, daß man gewisse Probleme von Grund auf durchdenken müsse, die nicht nur mit der Sprachanalyse, sondern mit der Analyse

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von Systemen von Klassen und Relationen überhaupt, d.h. mit Problemen der Metamathematik zusammenhängen. Nun, von diesem äußerst abstrakten Standpunkt aus glauben wir sagen zu können, daß für einen Sprachbenutzer, der nicht Gott der Allmächtige ist, sondern nur zu einer endlichen Zahl von gedanklichen Operationen fähig ist, die Identifikation einer Einheit nur über die Zuordnung dieser Einheit zu einer Klasse möglich ist, da die konkrete Totalität der Merkmale, die diese Einheit konstituieren, unausschöpfbar ist. Man muß also eine Einheit einer Klasse zuordnen und sie als Realisierung eines Typus betrachten, der aus einer endlichen Zahl der für die Identifikation der Einheit erforderlicher Merkmale besteht, Merkmale, die einem willkürlich begrenzten Repertoire entnommen sind. Was heißt dies und was folgt daraus? Daraus folgt zumindest zweierlei. Zum einen, daß jedes Klassifikationssystem keineswegs willkürlich ist sowohl hinsichtlich des Materials, auf das es angewendet wird, als auch hinsichtlich dessen, der er gebraucht, insofern er biologische Voraussetzungen aufweist, die eine bestimmte Auswahl einer anderen vorziehen oder zumindest vorziehen können. Zum anderen — und dies interessiert hier mehr —, daß niemand zwei Einheiten in Beziehung zueinandersetzen kann, wenn nicht vorgängig zwei Klassen in Beziehung zueinander gebracht sind. Dies hat eine bedeutende Konsequenz: der homo loquens Croces, der sich der außerordentlichen Einheit von Intuition und Expression in einem gegebenen Augenblick erfreut, hat entweder von sich selbst kein Bewußtsein und wir keins von ihm, oder er muß abstrakte Schemata anwenden, Typen im Pierce'schen Sinne, wovon die identifizierten Einheiten, die einmalige Intuition und die einmalige Expression doch nur Wiederholungen darstellen. Und genau dasselbe auf experimentellem Gebiet für die Assoziationstheorien: in jedem Reifestadium jedes Wahrnehmungsapparates sind Assoziationen zwischen zwei Einheiten immer zugleich notwendig Aktualisierung der Fähigkeit, zwei verschiedene Klassen und zwei verschiedene abstraktive Systeme miteinander zu verbinden. Die experimentellen Untersuchungen von Jean Piaget und von Vygotski, Lurija und Leontiev erreichen hier, auf dem Gebiet empirischer Überpiüfung, die theoretischen Reflexionen von Saussure und die philosophischen Wittgensteins. Den Begriff des abstrakten Systems zurückweisen heißt — dies hat Chomsky trefflich in seinem wichtigen Aufsatz über die formalen Eigenschaften der Grammatik gesagt — nicht nur den Saussureschen Begriff der langue, sondern jede Möglichkeit wissenschaftlicher Theorie überhaupt zurückweisen. Chomsky und vor ihm Saussure haben aus diesen Überlegungen heraus die Notwendigkeit oder zumindest die wissenschaftliche Zweckmäßigkeit der Hypothese abgeleitet, daß Sprechen im allgemeinen und die Bedeutungsstruktur im 177

besonderen von innerer Regelhaftigkeit und Systemhaftigkeit sind. Wenn die Beziehung zwischen zwei Einheiten (Sinn und Laut) die Beziehung zwischen zwei Klassifikationssystemen voraussetzt - so hat Saussure in einem bestimmten Zusammenhang 1894 argumentiert —, dann bedeutet dies, daß das Referieren eines Wortes auf eine Sache zwar arbiträr, aber vor allem systematisch ist, weil es eine regelhafte Kombination von arbiträren kleinsten Elementen darstellt. Analog dazu hat Chomsky festgestellt, daß, wenn die Assoziationshypothese nicht gilt, wenn die Verbindung einer Situation mit einem Satz nicht über die konkrete Beziehung zwischen Stimulus und Response erfolgt, sondern über die semantische (und phonologische) Interpretation von Sätzen, die aus der regelhaften Projektion von Tiefenstrukturen auf die Oberflächenstruktur bestehen - daß dann die Sätze und ihre Generierung auf die Anwendung einer begrenzten Zahl von Regeln und auf eine geschlossene Liste von lexikalischen Strukturen zurückgeführt werden können. Die Existenz von arbiträren Elementen und von Klassen, von Elementen, die das Explizite impliziert und die Existenz einer Systematizität von Werten des Expliziten gemäß implizierten Elementen, kurzum die Existenz einer algebraischen Komponente in Sätzen scheint auch uns unzweifelhaft. Ist aber wirklich jeder Satz, ist alles Sprechen auf einen Kalkül, auf Algebra reduzierbar? Diese Frage haben Saussure (wie schon Svedelius) und fünfzig Jahre später Chomsky ignoriert und haben sich so der Hypothese von einer einheitlichen, alles umfassenden Systematizität der sprachlichen Bedeutung genähert. Saussure ist nicht so weit gekommen, aber Chomsky ist so weit gegangen, und dabei haben ihn weder die europäischen Strukturalisten, deren erklärter Gegner er ist, noch die Vertreter der Generativen Semantik gehindert. Diese Gleichsetzung könnte verletzend erscheinen; sie ist es nicht und will es nicht sein, und sie ist in keiner Weise willkürlich: Chomskyscher Syntaktizismus, strukturelle Semantik von Hjelmslev oder von Greimas, die Noologie von Prieto, die semantizistischen Untersuchungen von Lakoff, Ross und Co., sie alle haben von einem sehr abstrakten Blickpunkt aus betrachtet dieselbe logische Form. D.h. sie sind trotz unterschiedlichster Herkunft Ausfüllung, Realisationsweisen desselben Konzepts vom Inhalt (und nicht nur vom Inhalt) der Sprache, dem ein kombinatorischer Kalkül unterstellt wird, der, ausgehend von einer endlichen Zahl von Elementen, unendlich verschiedene Formen hervorbringt. Von unserem äußerst abstrakten Blickpunkt aus wiegt es wenig, ob es sich um Kombinationen von unmittelbaren Konstituenten in Sätzen oder von Semen in Sememen, von Sememen in Satzbedeutungen, von Aktanten in Bedeutungen, von Merkmalen im Noema, von Elementen der Tiefenstruktur in den Verkettungen der Tiefenstruktur oder von Verkettungen der 178

Tiefenstruktur in Verkettungen der Oberfläche handelt. Der entscheidende Punkt, die Diskussion, zu der ich den Anstoß geben möchte, ist, ob sich die Logik der Kombinatorik u n d der Rekursivität auf das Universum der sprachlichen Erscheinungen adäquat anwenden läßt oder nicht, und wenn ja, in welchen Grenzen. Prieto u n d — mit den bereits genannten Einschränkungen, soweit es die rein systematische Darstellung, das Modell der Darstellung von Sprache betrifft — auch Coseriu, Greimas, Hjelmslev, Saumian (auch hier wenigstens fiir die Sprache als theoretisches Konstrukt), Chomsky, Lakoff, Parisi stimmen darin überein, daß die Untersuchung des sprachlichen Inhalts mithilfe des logischen Kalküls durchfuhrbar ist und auf den logischen Kalkül zurückgeführt werden kann. Ich versuche, mich kurz zu fassen. Was ich sagen möchte, ist, zusammengefaßt, daß es eine Reihe von Eigenschaften sprachlicher Zeichen gibt, die mit der Hypothese der völligen Systematizität der Bedeutung und der F o r m der Zeichen selbst unvereinbar scheinen. Leider ist es einfacher, von Kalkül, Generierung, syntaktischer Generierung, semantischer Generierung zu reden als zu wissen, worüber man eigentlich redet. Ich bitte diejenigen um Entschuldigung — und ich beginne mit Eugenio Coseriu —, die dies sehr wohl wissen; ich bitte auch um Entschuldigung, wenn ich mir in Erinnerung zu bringen erlaube, daß — daran hat auch eine Autorität wie Jakobson erinnert — man in Husserls „Logischen Untersuchungen" nachsehen muß, wenn man Aussagen über die notwendigen Bedingungen jeder sprachlichen Systemhaftigkeit finden will. In den „Logischen Untersuchungen" hatte Husserl den Begriff der syntaktischen Verknüpfungsform eingeführt, von dem dann Ajdukiewicz und andere Logiker als auch Linguisten reichlich Gebrauch machten, bei denen er aber unter dem Namen der „Wohlgeformtheit" geläufiger ist. Hier handelt es sich um einen Grundbegriff eines jeden Kalküls: wenn die Kombinationen keine innere Charakterisierung der syntaktischen Verknüpfungsform haben, d.h. der wiedererkennbaren Konstanten für die Kombinationsmöglicheit der Elemente einer Kombination für den Aufbau der Kombination selbst, dann kann es für solche Kombinationen keinen Kalkül geben. Dies gilt für einen Satz wie für eine Gesamtheit von Semen im Semem, genauso wie für die Zahlen, die in arabischen Ziffern notiert sind: man kann sehr schnell den Wert einer Folge von Ziffern, aufgefaßt als natürliche Zahl, berechnen, insofern diese Folge eine syntaktische Verknüpfungsform des Systems der arabischen Bezifferung darstellt; in diesem System indiziert — wenn es ein Dezimalsystem ist — die erste Ziffer von rechts gelesen stets das Produkt des Wertes dieser Ziffer selbst mit dem Wert der Potenz 10°, die zweite Ziffer mit der Potenz 10 1 , die dritte Ziffer von rechts mit der Potenz 10 2 usw. Die Stabilität u n d Regularität der Struktur des Ganzen ist die Grundlage, auf der ein Kalkül aufgebaut werden kann. 179

Für Ajdukiewicz sind die Zeichen einer Sprache, d.h. die Schemata der Identifikation und der Produktion eines konkreten Ausdrucks, nicht auf Kombinationen mit syntaktischer Verknüpfungsform zurückführbar. Ajdukiewicz nennt nur einige wenige Eigenschaften sprachlicher Zeichen, die sich durchgängiger Systemhaftigkeit nicht fügen: es fehlen sichere Abgrenzungskriterien für die einzelnen Elemente, es fehlen — um das Beispiel der Ziffern aufzugreifen — sichere Kriterien, die es erlauben, eine Ziffer von einer anderen, eine Verbindung von Ziffern von einer anderen Verbindung abzugrenzen. Antoine Culioli und andere (z.B. Halliday) haben jüngst gezeigt, daß man eben diesen Mangel an Kriterien noch an den einfachsten Kombinationen feststellen kann, an NP + VP, die die Generativen Transformationsgrammatiken füllen. Es fehlt weiterhin an Kriterien zur Bestimmung der Vollständigkeit oder Unvollständigkeit eines Zeichens, bedenkt man die enorme Strukturvielfalt, in der Zeichen auftreten können, und die Möglichkeit der Entstrukturierung von Zeichen, worauf wir noch zu sprechen kommen. Endlich sind nach Ajdukiewicz auch Zeichen mit unbestimmter Bedeutung möglich. Obgleich Ajdukiewicz den ersten Versuch unternommen hatte, die syntaktische Struktur mithilfe eines Kalküls zu erfassen, brachte er angesichts der genannten Gründe als Kavalier alter Schule ehrlich und klar zum Ausdruck, daß dieser Kalkül lediglich ein Modell nur einer Seite der Zeichen — oder besser: nur einer Seite des Funktionierens von Zeichen einer Sprache darstellt, und daß dieser Kalkül keinerlei Anspruch erhebt, ein allgemeines Modell der Sprache zu sein oder gar ihr Funktionieren zu beschreiben. Ich glaube, man könnte dieser Aufzählung von Ajdukiewicz noch viele andere Eigenschaften sprachlicher Zeichen hinzufügen, die der Hypothese von der vollständigen Systemhaftigkeit der Zeichen im allgemeinen und ihrer semantisch-syntaktischen Seite im besonderen widersprechen. Das erste Argument ist eines ad homimem: ich möchte nur an die Existenz vollständiger Sätze erinnern, die nicht prädikativ sind (auch in Sprachen wie der unseren, für deren größten Teil die Unterscheidung von Verb und Nomen sinnvoll ist). Leider verschweigt man dies oft in unseren Grammatiken, in denen eher von der Sprache der Grammatiker und Linguisten als von der wirklichen Sprache die Rede ist. Warum ist dies ein Argument ad hominem? Weil nirgends geschrieben ist und keinerlei Notwendigkeit besteht, daß die Hypothese von der syntaktischen oder semantischen Systemhaftigkeit in dem Vorurteil verankert sein muß, daß jedes Zeichen auf einer bestimmten Ebene auf ein Nomen und eine Prädikation zurückführbar ist. Dieses Vorurteil ist port-royalistisch, nicht aristotelisch (Aristoteles war gegen ein derart grobschlächtiges Denken gefeit). Wir müssen also die Möglichkeit eines Kalküls ins Auge fassen, der nicht so albern ist und der nicht vermittels einer als fundamental angesehenen re180

writing-rule dazu verdonnert ist zu zeigen, daß alle Sätze einer Sprache und nur die Sätze einer Sprache aus einer Nominalphrase und einer Verbalphrase bestehen. Andere Typen von Kalkülen sind denkbar. Wer aber glaubt, dies sei der einzig mögliche Kalkül, den müssen wir erinnern an Seite 2 von Manzonis ,4 promessi sposi", an Firmenzeichen, an Passagen bei Thomas Mann, Zeitungsartikel, Zeitungstitel, Gedichte von Pavese und Montale und natürlich an das alltägliche Sprechen, an gewöhnliche Sätze ohne Verb und Prädikat: „zuerst die Frauen, dann die Kinder" ist ein Beispiel. Es gibt noch weitere Eigenschaften, die ich nicht ad hominem erläutern will. Ich nenne sie einfach, nicht weil ich glaube, daß sie nicht ebenso offensichtlich oder ebenso sicher seien, sondern weil ich zum Schluß k o m m e n muß. Anders als jeder Kalkül enthalten sprachliche Operationen, Sätze, die Möglichkeit, trotz formaler Fehler zum gewünschten Ziel zu k o m m e n ; m.a.W.: der Status sprachlicher Fehler ist nicht zu vergleichen mit dem Status arithmetischer oder logischer Fehler. Wenn die Sprache eine Arithmetik wäre, wäre sie eine, in der 3 + 8 12 oder 9 ergeben kann, aber man verstünde sehr wohl, daß es in Wirklichkeit 11 macht — kurzum, es wäre eine sehr merkwürdige Arithmetik. Dies ist möglich dank der enormen Redundanz sprachlicher Systeme. Wir wußten, was diese Redundanz ist und wozu sie dient, als wir uns nicht zu schade waren, die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu bemühen. Aber dann hat man uns erklärt, daß das nicht gehe, daß die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung sehr empirisch sei, und also haben wir sie nicht angewandt. In Wahrheit aber zeichnet jene Eigenschaft das sprachliche System vor jedem anderen Kommunikationscode aus: die Redundanz nämlich, die die Generativisten, die alles erklären wollen und ihren eigenen Aussagen zufolge alles erklären, eben nicht erklären können, sondern wie schlichte Empiristen einfach konstatieren müssen. Die Redundanz leistet das: sie erlaubt uns, beim Sprechen Fehler zu machen und doch verstanden zu werden. Eine andere Eigenschaft der Sprachen ist die correptio, ein wohlgemerkt grundlegender Bestandteil der Sprache, nicht bloß auf die Performanz beschränkt, wie das (m.E. sehr zu unrecht) Hockett behauptet hat, der Autor eines so schönen Buches wie „The State of A r t " . Wie gesagt, die correptio ist kein Merkmal der Performanz, sondern gehört zur Programmstruktur sprachlicher Zeichen. Racine, Cicero, Poesie und Prosa, wir alle programmieren u n d konstruieren beim Sprechen Zeichen, die als Bedeutung ihre eigene Korrektur enthalten können. Das ist, als würde man in der Arithmetik Operationen vom T y p 8 - 3 = 2 = 5 oder 3 + 8 = 2 = 1 1 zulassen, denn wenn wir sagen „ihr, ich meine du hast recht" oder „ihr, ich meine: du hast recht" führen wir genau diesen T y p von Operationen aus. 181

Wir wünschen uns, daß in den künftigen Auflagen der besten linguistischen Handbücher — z.B. denen von Robins und Lyons — die Interjektion, dieser so völlig vergessene Redeteil, wieder behandelt wird. Lyons behandelt alles, Robins, sofern das möglich ist, noch mehr als alles, aber keiner behandelt die Interjektion. Wie k o m m t das? Das liegt daran, daß die Inteijektionen sich in vielen Sprachen einer Strukturierung selbst auf phonologischer Ebene entziehen, und keine diskrete und diskontinuierliche Semantik aufweisen. Bekanntlich zeichnet sich die Sprache vor anderen nichtsprachlichen Codes dadurch aus, daß ihre Zeichen Namen ihrer selbst sein können und jedes Zeichen von sich selbst sprechen kann. Dies ist der metasprachliche Gebrauch des Zeichens, wie die Logiker sagen, ein Gebrauch, der in der Sprache normal, im Kalkül dagegen nicht normal ist. „delenda Carthago" kann dank der Möglichkeit der Autonymie zwei sehr verschiedene Dinge bedeuten: gestern hat Várvaro, als er die neue Zeitschrift „Medioevo R o m a n z o " vorstellte, den Satz „Wir müssen Várvaro eliminieren." ausgesprochen. Er wollte wohl sagen: „Wir müssen den Namen ,Várvaro' aus einer bestimmten Zeile der Zeitschrift eliminieren u n d ihn eine Zeile tiefer setzen."; aber wer wagt zu sagen, was er sagen wollte? Ein weiterer bedeutender Aspekt ist die Reflexivität, die wiederum zweierlei zur Folge hat. Zum ersten die .Häufigkeitsfunktion', die Paul Ziff entdeckte (d.h. zu theoretischen Ehren erhoben hat, was wir aber erst würdigen k o n n t e n , nachdem wir zehn Jahre später Chomsky gelesen hatten); die Häufigkeitsfunktion spielt eine Rolle, wenn man der Vorstellung von der syntaktischen Verknüpfung zum mindesten auf syntagmatischer Ebene entgegentreten will. Wie Sie wissen führt man in Generativen Grammatiken Reihen ungeordneter Symbole, in der Regel Wörter, auf, um zu erklären, was unter nicht wohlgeformten Zeichen zu verstehen sei. Man sagt z.B. „Das folgende ist ein typischer nicht-wohlgeformter Satz: Champagner Jakobson gern sehr mag Professor." Ziff zufolge kann auch eine Sequenz dieser Art sehr wohl eine geordnete Sequenz sein, wenn man die Häufigkeitsfunktion zugrunde legt, die man in der Wortliste des wohlgeformten Satzes „Professor Jakobson mag Champagner sehr gern" findet. Dies ist ein wohlgeformtes Zeichen, man kann jedoch seine Elemente in verschiedener Weise auflisten. Die zweite Funktion ergibt sich daraus, daß man in einer Sprache jedes Zeichen dieser Sprache zu ihrem Gegenstand machen kann (d.h. daß die Sprache sich reflexiv zu sich selbst verhalten kann. D.Ü.), und hat zur Folge, daß man gegen jede denkbare semantische Restriktionsregel verstoßen kann. Wir können Restriktionsregeln aufstellen, wie man das in den 60er Jahren getan hat, denen zufolge bestimmte Verben nur belebte oder unbelebte Komplemente haben dürfen. Es gibt einige, die sich über längere Zeit hin mit

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dem Erfinden solcher Regeln vergnügt haben. Man kann dann festsetzen, daß auf der Basis solcher Regeln z.B. der Satz: „Die Felsen haben Diabetes" semantisch nicht wohlgeformt ist. Jedoch muß man die Existenz von Sätzen wie „Felsen haben keinen Diabetes" oder „Dieser verrückte Jürgen sagt, Felsen hätten Diabetes" zulassen. Ich verstehe diese Sätze, wenn ich sie auseinandernehme und dann die Propositionen betrachte, auf der einen Seite Jürgen ist verrückt und Jürgen sagt etwas, auf der anderen Seite Felsen haben Diabetes. Durch das Tor der Metasprache kann demnach alles eintreten, ohne jede Restriktion. Schließlich möchte ich an die Antanaklasis erinnern, d.h. an die Möglichkeit, aus einem Wort zwei widersprüchliche Bedeutungen abzuleiten. Aus einem hier im Verlauf des Kongresses gehörten Dialog ergab sich, daß der Satz „Meine Frau arbeitet" zweierlei bedeuten kann: meine Frau arbeitet nicht und meine Frau arbeitet. Das wird klar, wenn man den Kontext hinzunimmt. Einmal könnte ich sagen wollen: „Meine Frau arbeitet und ist deshalb nie zu Hause", in einem anderen Kontext: „Meine Frau arbeitet, daher ist sie immer im Haus." Es gibt zwei Bedeutungen von „Arbeit" (Arbeit allgemein, Tätigkeit und Arbeit im Büro, in der Fabrik, außer Haus), die in verschiedenen Kontexten zueinander in Widerspruch geraten können. Quintilian brachte als Beispiel für Antanaklasis das vom Sohn, der den Tod des Vaters „erwartet". Was heißt das? Daß er darauf wartet, ihn herbeisehnt, oder daß er ihn nicht wünscht? Die Antanaklasis ist nicht als solche interessant oder wegen der netten Spielereien, die man mit ihr treiben kann, sondern weil sie Gelegenheit zu einer unzählbaren Menge von Sätzen gibt, die — unabhängig vom Kontext betrachtet — widersprüchlich sind oder besser: selbstwidersprechend. „Io ho fuso una campana" kann ganz etwas verschiedenes und entgegengesetztes bedeuten, ( . f o n d e r e " hat sowohl die Bedeutung „gießen" (in eine Form bringen) als auch „schmelzen" (die Form auflösen), der Beispielsatz bedeutet also je nach Kontext „Ich habe eine Glocke gegossen" bzw. „Ich habe eine Glocke geschmolzen".) Noch ein letzter Punkt sei erwähnt, der Neologismus, das, was die Logiker Kreativität genannt haben. Coseriu hat sich auf diesem Kongress gegen Chomskys Gebrauch des Begriffs Kreativität gewandt; meines Erachtens soll jeder frei sein im Gebrauch seiner Worte, in diesem Punkt stimme ich mit Coseriu nicht überein. Wenn Chomsky die Kombinierbarkeit von Konstituenten in Sätzen Kreativität nennen will, steht es ihm frei, das zu tun. Was aber verblüfft, ist, daß die wenigen Logiktexte, die durch seine Arbeiten provoziert wurden und die er ausgiebig zitiert, den Begriff Kreativität ganz anders fassen. Patrick Suppes, Post und Davis nennen genau solche Systeme kreativ, die 183

keine Systeme sind, insofern ihr Inventar von Basiselementen nicht abgeschlossen ist, sondern offen. Kreativ heißen diejenigen Systeme, in die bestandig eine neue Zahl, eine neue Einheit, ein neues Sem, Semem, Episem, Hypersem, oder wie immer man will, eingeführt werden kann. So gesehen sind sprachliche Zeichen kreativ. Viele europäische Kinobesucher haben durch Woody Allens Film „Der Schläfer" das Wort „Klonierung" kennengelernt. Klonierung war ein relativer Neologismus in dem Sinne, daß der Begriff für viele von uns neu war, ob aber ein Neologismus als relativ oder absolut anzusehen ist, macht für unser sprachtheoretisches Problem keinen Unterschied. Das Wort „klonen", das Woody Allen vorführt, ist wohl ein absoluter Neologismus gewesen. Wir verstanden aber schon, was die Wörter „Klonierung" und „klonen" heißen aufgrund der Handbewegungen von Woody Allen, wir verstanden, daß sie etwas mit der Zellkernverdoppelung zu tun hatten, auch ohne daß wir ein Lexikon befragten. Wieso verstanden wir das? Was heißt das: ein System ist kreativ? Daß man nichts daran versteht? Nein, im Gegenteil, man versteht es. Aber weder nur aufgrund vorher gelernter assoziativer Verbindungen, noch allein aufgrund von Kalkülen, von berechenbaren Kombinationen gegebener Einheiten, sondern indem man sich auf die nicht berechenbaren Resourcen der Erfindungskraft stützt. Wenn der Inhalt eines Zeichens nach Art eines Kalküls konstruiert wäre, dann könnten wir uns zwei Erscheinungen nicht erklären, die beide gleichermaßen bedeutsam für eine angemessene Sprachtheorie sind und zudem gängige sprachliche Erfahrung, den Neologismus und das wechselseitige, reziproke Verstehen bei unterschiedlicher Kenntnis der konstitutiven Elemente. Das bedeutet, daß ein Kalkül von Relationen nicht mehr ist als einer der Faktoren für die Organisation und Funktion eines Zeichens. Einer wahrgenommenen Aussage eine Bedeutung zuordnen oder eine Aussage machen, um Bedeutungen zu übermitteln, das sind Operationen, bei denen nicht nur die kalkulierenden, programmierenden und mathematisch analysierenden Fähigkeiten unseres Gehirns eine Rolle spielen, sondern auch die Fähigkeit, Bekanntes zu wiederholen und, quasi auf der entgegengesetzten Skala unserer Fähigkeiten, die Fähigkeit zu erfinden, zu erraten, die Gegenstände, in diesem Fall die sprachlichen Zeichen, zu verändern, um uns auf irgendeine Weise aus der Klemme zu ziehen wie Kolumbus mit dem Ei oder Hans im Glück im Grimmschen Märchen. Ohne diese Fähigkeiten wären die Millionen Arbeiter aus den Mittelmeerländern und aus Afrika, die über den industrialisierten Teil Europas verstreut wurden, auf ihre bloße Arbeitsfunktion reduziert. Wenn es ihnen gelingt, sich verständlich zu machen und zu verstehen, dann geschieht dies weitgehend dank der Fähigkeit zu habitueller Wiederholung 184

der Beziehungen zwischen Klassen von Sprachlauten und Klassen von Bedeutungen (wie wir sie aus dem sprachtheoretischen Bezugsrahmen Bloomfields kennen) und dank der Fähigkeit zur produktiven Beherrschung der Erweiterbarkeit von Wortbedeutungen (wie wir sie aus der Theorie Croces oder vielleicht besser aus der Vygotskis kennen).

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