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German Pages 276 Year 2015
MassenMedium Fernsehen
... Masse und Medium 6
Editorial Masse und Medium untersucht Techniken und Macht des Diskurses, seine Funktionseinheiten, Flüchtigkeiten und Möglichkeiten zu seiner Unterbrechung. Damit geht Masse und Medium von einer eigentümlichen Brisanz des Massenund Medienbegriffs aus. Denn keineswegs markieren die Massenmedien ein einheitlich integratives und symmetrisches Konzept, sie sind vielmehr auf eine Differenz verwiesen, mit der das eine im jeweils anderen auf z.T. unberechenbare Weise wiederkehrt: Weder ist die Masse in jeder Hinsicht auf Medien angewiesen noch gelingt es den Medien, die Masse allumfassend zu adressieren. Stattdessen zeigt eine Differenzierung zwischen Massen und Medien, dass es sich dabei um beidseitig fragwürdige Konzepte handelt, die gerade auch in ihrer gegenseitigen Zuwendung problematisch und daher zu problematisieren sind. In dieser Hinsicht wird die im Logo der Reihe vorgenommene Auftrennung des Kompositums zu ihrem Einsatz. Zugleich weist der hier und in Zukunft zur Diskussion gestellte Massen- und Medienbegriff auf die Unmöglichkeit eines (bestimmten) Empfängers, auf eine oszillierende Menge als immer auch konstitutive Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation. Für Masse und Medium steht damit weder ein Programm der Einheit noch eines der Differenz zur Debatte. Dagegen wäre ein Brennpunkt zu fokussieren, in dem beide Felder in merkwürdiger Solidarität längst schon und wiederholt auseinander driften und zusammenwachsen. Somit benennt Masse und Medium Medialität und ›Massivität‹ als Grenzbegriffe des Sozialen und thematisiert darin ebenso jene Punkte, mit denen das Soziale in seiner Fragilität auf dem Spiel steht, indem es sich für politische Re-Artikulationen öffnet. Herausgegeben von Friedrich Balke, Jens Schröter, Gregor Schwering und Urs Stäheli
Autorin dieses Bandes: Christina Bartz wurde mit der vorliegenden Arbeit an der Universität zu Köln promoviert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB/FK »Medien und kulturelle Kommunikation« (Köln). Letzte Veröffentlichungen: Hg. mit Marcus Krause: Spektakel der Normalisierung (2007); Hg. mit Irmela Schneider: Formationen der Mediennutzung. Bd. 1: Medienereignisse (2007).
Bartz, Christina
MassenMedium Fernsehen Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung
... Masse und Medium 6
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ludwig Sievers Stiftung Zugl.: Diss. Univ. Köln, Phil. Fak., 2005
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © www.PhotoCase.de, 2007 Lektorat & Satz: Christina Bartz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-628-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT
Einleitung Teil I Das Fernsehen der frühen Bundesrepublik und seine Entstehung als Massenmedium 1 Der Zauberspiegel der Gesellschaft 2 1961 3 1895 4 Mediale Umperspektivierung 5 Transfers a) massa, masse, mass, foule, crowd, Masse b) Zwischen den Wissenschaften c) Von einem Medium zum anderen 6 Virtuelle Medien und evidente Massen 7 Evidenzstrategien und Plausibilisierungsverfahren 8 Le Bons Medien Teil II Beobachtungsproblem I: Das Verschwinden des Einzelnen in der Masse 1 Menschenschwärze und Unzurechnungsfähigkeit 2 Erklärungsmodelle: Zurechnung auf einen fremden Willen 3 Die Errechnung der Masse 4 Pathologien a) Der normale Wahnsinn b) Hypnose und Suggestion
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17 17 22 28 31 36 36 40 45 50 57 63
71 77 83 87 100 100 105
Teil III Das Zeitalter der Massenmedien I 1 Das Fernsehen als Simulator von Anwesenheit 2 Manipulative Medien und beeinflussbare Massen 3 Steuerung im Zeitalter der Massen a) Mediale Steuerung aus dem Osten b) Mediale Steuerung aus dem Westen
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Teil IV Beobachtungsproblem II: Gesellschaftliche Selbstbeschreibung 1 Die Funktion des Fernsehens: Inklusion 2 Die Funktion der Masse: Exklusion 3 Exklusion von Kommunikation 4 An/Aus
161 165 174 183 189
Teil V Das Zeitalter der Massenmedien II 1 Die Isolation der Masse und die Vergemeinschaftung im Medialen 2 Massen und Eremiten: Weltflucht und flüchtige Welt a) Die Illusion der Masse b) Die Realität des Eremiten 3 Die Außenlenkung des Radar-Typus 4 ›Massenkommunikation‹ Schluss Literatur
197 198 209 214 217 227 241 249 255
EINLEITUNG Helmuth Berking beendet seine Studie Zur historischen Semantik des Massenbegriffs mit dem Befund, dass »heute niemand mehr so über ›Massen‹ [...] spricht wie in den zwanziger Jahren«1 des 20. Jahrhunderts. Dies mag bei einer isolierten Betrachtung der semantischen Entwicklung des Begriffs der Masse zutreffen, vergisst jedoch das Feld der Medienbeschreibungen, in dem der Masse-Begriff nach wie vor eine prominente Rolle inne hat. Mario Gmürs erst vor wenigen Jahren erschienene Medienanalyse Der öffentliche Mensch widmet der Masse und ihrer psychischen Verfasstheit immerhin zwei eigene Kapitel, in denen er an sozialpsychologische Erkenntnisse aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Zeit um 1900 anschließt. Gustave Le Bon schreibt er dabei das bleibende Verdienst zu, »die Eigenschaften der Masse beschrieben zu haben.«2 Auch Hartmut Heuermann zitiert in seiner Arbeit Medien und Mythen ohne einschränkende Erläuterung Le Bons Studie Die Psychologie der Massen von 1895, um kollektive Psychosen in der westlichen Medienkultur zu beschreiben.3 Dieter Prokop weiß ebenfalls um den Zusammenhang von Medien-Macht und Massen-Wirkung.4 Dieses Wissen bestimmt sogar noch die Methoden der privaten Rhetorikseminare: Die Firma Knill+Knill Kommunikationsberatung wirbt auf ihrer Homepage mit dem Slogan Massenmedien – Medien für die Massen und fügt hinzu, dass die Kenntnis über die »wichtigsten Phänomene der Massenpsychologie«5 einen kompetenten Umgang mit Massenmedien garantiere. Die entsprechenden Kenntnisse liefert auch hier Le Bon. Wenn es um Medien geht, ist das sozialpsychologische Konzept der Masse auch heute noch schnell bei der Hand. Die Massenpsychologie scheint einen Wissensvorrat zu liefern, der nicht an Aktualität verliert – und dies gerade in Anbetracht einer medial verfassten Gesellschaft. Nach wie 1 2 3 4 5
Helmuth Berking: »Mythos und Politik. Zur historischen Semantik des Massenbegriffs«, in: Ästhetik und Kommunikation 56 (1984), S. 35-41, hier S. 40. Mario Gmür: Der öffentliche Mensch. Medienstars und Medienopfer, München: dtv 2002, S. 102. Vgl. Hartmut Heuermann: Medien und Mythen. Die Bedeutung regressiver Tendenzen in der westlichen Medienkultur, München: Fink 1994, S. 39f. Vgl. Dieter Prokop: Medien-Macht und Massen-Wirkung. Ein geschichtlicher Überblick, Freiburg i.Br.: Rombach 1995. Marcus Knill: Massenmedien – Medien für die Massen: http://www.rhetorik. ch/-Massen/Massen.html vom 25. Januar 2005. 7
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vor wird im Rahmen von Medienanalysen an das Wissen um die Masse angeschlossen. Das gesellschaftliche Interesse an Medien führt so dazu, dass dieses Wissen aktuell bleibt und nicht nur Objekt eines historischen Interesses ist. Dass man im Rahmen einer Diskussion über Medien auf frühe Massenkonzepte referiert, denen zunächst nicht an der Analyse von Kommunikationsmitteln gelegen ist, wird gewöhnlich übergangen. Schnell und offensichtlich ohne Probleme werden Le Bons Erkenntnisse auf die heutige und sogenannte Mediengesellschaft angewendet. Dies verwundert angesichts der Feststellung Peter Sloterdijks, dass die Beschreibung der Masse bereits »Patina angesetzt [hat], weil sie auf eine Phase der sozialen Modernisierung Bezug nimmt, in der das neue Massensubjekt [...], sich noch aktuell versammeln kann und als anwesende Menge vor sich selbst in Erscheinung tritt [...].«6 Demnach referieren die Medienanalysen auf ein Wissen, das zunächst inkompatibel mit der Idee von Verbreitungsmedien ist, da es anhand der Beobachtung von Massenansammlungen geformt wurde – also einer Gruppierung, die sich durch räumliche Anwesenheit der Beteiligten auszeichnet. Massenmedien organisieren aber, folgt man der Definition der Massenkommunikationsforschung, Kommunikation unter Abwesenden. Die Vorstellung von Fernsehsendungen, die den Einzelnen zu Hause erreichen, ist nur schwer in Einklang zu bringen mit der Idee eines Massenaufstandes, die Sloterdijk als eigentliches Thema der bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts angefertigten Massenstudien benennt. Sloterdijk plädiert daher auch für eine Reformulierung des Massentheorems, um es als adäquates Erklärungsmodell für die aktuelle Gesellschaft zur Verfügung zu halten. Dass diese Inkompatibilität in den Medienbeschreibungen nicht in Erscheinung tritt oder gar störende Effekte hervorruft, hat mehrere Ursachen. Es ist vor allem das geläufige Wort Massenmedium, das es nahe legt, zugleich mit den Medien auch die Masse zu thematisieren. Das Kompositum forciert die Bezugnahme auf Vorstellungen von Masse, wenn es um die Beschreibung von Verbreitungsmedien geht. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass sich diese Selbstverständlichkeit erst etablieren musste und dieses Wort seinen spezifischen historischen Einsatzpunkt hat. In der Bundesrepublik Deutschland wird es seit den 1960er Jahren regelmäßig in verschiedenen Kontexten zur Bezeichnung des Fernsehens und anderer technischer Verbreitungsmedien verwendet. Zu diesem – im Verlauf der Arbeit präzise zu bestimmenden – Zeitpunkt geht das Wort Massenmedium in den allgemeinen Sprachgebrauch ein und fixiert damit den bis heute thematisierten Zusammenhang von Masse und Medium.
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Peter Sloterdijk: Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 15. Sloterdijk nimmt hier auf Elias Canettis Masse und Macht (1960) Bezug. 8
EINLEITUNG
Es ist also ein spezifischer historischer Augenblick, an dem die Kopplung festgeschrieben wird und genau dieser Einschnitt wird im Folgenden von Interesse sein. Da in der Nachkriegszeit vor allem das Fernsehen im Mittelpunkt der Debatten steht, wird diese Kopplung vornehmlich anhand dieses Verbreitungsmediums vollzogen. Ein Ziel der folgenden Analyse wird darin liegen, die diskursive Bewegung aufzuzeigen, mit der Masse und Medium in den 1950er und 60er Jahren kurzgeschlossen werden. Insgesamt ist die vorliegende Diskussion von der Überlegung geleitet, dass sich in den 1950/60er Jahren ein Wissen über den Zusammenhang von Masse und Medium herausbildet, das seitdem in den Debatten persistiert. Der erste Teil dieser Arbeit wird einen knappen Überblick über diesen Zusammenhang bieten und ein Tableau entfalten, das dessen historische und semantische Koordinaten offenlegt. Im Rahmen dieser Überlegung stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage die Kopplung von Masse und Medien in der Nachkriegszeit vor sich geht. Die Kompositumbildung selbst basiert auf der Annahme, dass die Semantik der Masse beschreibungsrelevant für das Fernsehen sei.7 In der Nachkriegszeit scheinen Massenkonzepte ein Wissen bereitzustellen, dass die Funktions- und Wirkungsweise des Fernsehens erklären hilft. Zahlreiche Autoren der Zeit (wie heutige auch noch) verweisen auf dieses Wissen, wenn sie das Fernsehen thematisieren und dies obwohl ihnen das Wort Massenmedium noch nicht zur Verfügung steht. Schon bevor das Kompositum geläufig ist, wird eine Affinität von Masse und Medium festgestellt. Eine These dieser Arbeit ist aus der Beobachtung gespeist, dass es auf der Grundlage dieser Affinität zur Wortbildung Massenmedium kommt, die dann in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeht. Die Rede von Massenmedien ist stärker motiviert, als dies zunächst scheint. Begriff und Begriffsgehalt sind kein bloßes Produkt einer Übersetzungsleistung beziehungsweise eines wissenschaftlichen Begriffstransfers der amerikanischen Massenkommunikationsforschung nach Deutschland. Massenmedium, so lässt sich vorläufig überspitzt formulieren, meint etwas anderes als mass media. Der Grund dafür ist in der semantischen Kluft zu suchen, die mass und Masse trennt.8 Der Arbeit ist daran gelegen, den Grund für die Kopplungswahrscheinlichkeit der beiden Konzepte Masse und Medi7
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Welche Bedeutung der diskursive Zusammenhang von Masse und Fernsehen in den 1950/60er Jahren hat, zeigt sich vor allem anhand der Irritationen der zeitgenössischen Beobachter, die nach Erklärungen suchen. Vgl. z.B. Alphons Silbermann: »Die soziologischen Untersuchungsfelder der Massenkommunikation«, in: Erich Feldmann/Ernst Meier (Hg.), Film und Fernsehen im Spiegel der Wissenschaft. Abhandlungen anläßlich des 10jährigen Bestehens der Deutschen Gesellschaft für Film und Fernsehen, Gütersloh: Bertelsmann 1963, S. 42-75, hier S. 60. Vgl. das Kapitel Transfers. 9
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um in Deutschland herauszuarbeiten und dies für einen Zeitpunkt, zu dem die Kopplung noch nicht selbstverständlich ist. Der Start der Begriffskarriere ist von Interesse, da zu dieser Zeit der Zusammenhang von Masse und Medium ausformuliert wird. Dieses explizite Verfahren weicht dann zunehmend einer stillschweigenden Übereinkunft beziehungsweise der scheinbaren Evidenz des Begriffs, der von sich aus den Zusammenhang der Konzepte versichert. Damit folgt die vorliegende Aufarbeitung der Begriffskarriere der Argumentation von Monika Elsner und Thomas Müller beziehungsweise wendet deren Überlegung zum angewachsenen Fernseher auf die Konzeptualisierung des Fernsehens als Medium der Masse an. Elsner und Müller gehen davon aus, dass heute keine Beschreibung des Realitätscharakters des Fernsehens mehr zu liefern sei, weil keine Möglichkeit einer Wirklichkeitswahrnehmung ohne Fernsehen bestehe. Dies unterscheide die aktuelle Situation von der der 1950er Jahre, in der sich der Umgang mit dem Fernsehen zunehmend habitualisiert habe. In dieser Zeit, so Elsner und Müller, werde die Fernsehwirklichkeit mit einer alltagsweltlichen Realitätswahrnehmung verglichen, die auch ohne Fernsehen auskomme. Aber gerade im Zuge dieses Vergleichs werde das Fernsehen als Vermittler von Realitätseindrücken konzeptualisiert, so dass sich die Vorstellung vom Fernsehen als Medium zur Darstellung der Realität herausbilde. Die 1950er Jahre brächten so eine Vorstellung von Fernsehen hervor, die dem heutigen Beobachter als originäre Eigenschaft des Fernsehens erscheine. Dabei verliere dieser Beobachter aber aus dem Blick, welcher diskursive Aufwand mit der Herausbildung dieses Verständnisses verbunden war.9 Analog lässt sich formulieren, dass sich mit der Habitualisierung des Kompositums Massenmedium kaum noch eine Aussage über das Fernsehen machen lässt, die ohne Referenz auf die Masse wäre. Dieses Wort bildet sich aber in den 1950/60er Jahren anhand des Fernsehens heraus, indem dieses eben unter Zuhilfenahme des Begriffs der Masse beschrieben wird. Zu dieser Zeit setzt eine Textproduktion ein, die nicht nur einen Zusammenhang von Masse und Medium behauptet, sondern das Konzept eines Mediums der Masse etabliert, das bis heute zur Beschreibung von Verbreitungsmedien leitend ist. Entscheidend ist dabei, dass eben nicht mehr davon abgesehen werden kann: Seit den 1960er Jahren scheint es außer Frage zu stehen, dass technische Kommunikationsmittel, die unter dem Label Massenmedien geführt werden, Massen adressieren. Doch diese Selbstverständlichkeit ist ein Produkt des Mediendiskurses der 1950/60er Jahre. Die im Ausdruck Massenmedium mitgeführte Vorstellung einer Adressierung der Masse geht über 9
Vgl. Monika Elsner/Thomas Müller: »Der angewachsene Fernseher«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 19952 (1988), S. 392-414. 10
EINLEITUNG
die schlichte Vorstellung einer hohen Anzahl von Empfängern weit hinaus. Die Idee einer Adressierung der Masse schreibt auch die Funktions- und Wirkungsweise der Kommunikation fest.10 Exemplarisch sei an dieser Stelle nur auf die immer wieder geäußerte Vorstellung verwiesen, die Masse sei beeinflussbar, was zur Annahme einer besonderen Effektivität massenmedialer Stimuli führt. Die in den 1950er Jahren einsetzende Textproduktion zum Fernsehen etabliert also ein spezifisches Konzept von ›Massenkommunikation‹ und dieses Konzept generiert sich aus der Aktualisierung des massentheoretischen Wissensrepertoires in der Fernsehbeobachtung. Wenn also heute Gmür und andere Medienanalysen vorlegen, die auf massentheoretisches und vor allem -psychologisches Wissen bezogen sind, ist dies nicht allein durch das Wort Massenmedium zu begründen. Vor allem referieren die heutigen Medienbeschreibungen damit auf eine Konzeption, die in den 1950/60er Jahren etabliert wird und in aktuellen Vorstellungen von Massenmedien fortbesteht. Die vorliegende Arbeit macht es sich zum Ziel, die Genese dieses Konzepts in der Nachkriegszeit zu rekonstruieren. Sie verfolgt, was für ein Wissen der Massendiskurs der Jahrhundertwende bereitstellt und wie diese massentheoretische Kommunikation in eine medientheoretische Form umgegossen wird. Dabei geht es darum, die Potentiale sichtbar zu machen, die die Masse-Semantik für die Medienbeobachtung bereit hält und wie diese in den 1950/60er Jahren anhand des Anlasses der Verbreitung des Fernsehens aufgerufen werden.11 Im Rahmen dieser Rekonstruktion steht so auch Sloterdijks Befund, die Massentheorie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe Patina angesetzt, zur Diskussion. Die Frage ist also, ob mit den Massentheorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allein Beschreibungen eines temporären Massenphänomens vorliegen, wie Sloterdijk behauptet, oder ob sich auch diese frühen Studien zur Masse als Analysen eines gesellschaftlichen Zustandes geben? Geht man davon aus, dass seit der Zeit um 1900 mit der Massentheorie der Versuch einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung unternommen wird, so eröffnet dies die Basis für eine Steigerung der Kopplungswahrscheinlichkeit von Masse und (Verbreitungs-)Medien. Weil der Begriff der
10 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 202 und ders.: »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation« (1981), in: ders., Aufsätze und Reden. Hrsg. v. Oliver Jahraus, Stuttgart: Reclam 2001, S. 76-93, hier S. 84. 11 Es gilt auch zu fragen, inwiefern die Masse-Semantik latent Medienbeschreibungen mitführt. Die Kopplungsmöglichkeit von Massen und Medien resultiert auch daraus, dass die Massentheorien für ihre eigene Plausibilität Medien – genauer gesagt: funktionsäquivalente Strukturen – bereithalten. Eine Untersuchung der Konzeptualisierung von Medien verspricht daher auch neue Erkenntnisse für das Verständnis der Massentheorie. Vgl. das Kapitel Le Bons Medien. 11
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Masse schon früh zur Benennung der ganzen Gesellschaft dient und nicht nur auf die lokalen Erscheinungen von Menschenaufläufen zielt, stellt er Anschlusspotentiale für die Fernsehbeobachtung bereit.12 Um solche Anschlusspotentiale der Semantik der Masse wird es gehen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist also, den Begriff der Masse zum einen hinsichtlich seiner Leistung als Begriff der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung zu untersuchen. Zum anderen und damit zusammenhängend wird sein Potential zur Konturierung des Fernsehens in den 1950/60er Jahren betrachtet. Dabei ist die Frage leitend, welche Vorstellungen vom Fernsehen in dieser Zeit gebildet werden, wenn sich auf ein Wissen über die Masse bezogen wird. Insofern in diesem Zusammenhang auch das Wort Massenmedium im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert wird, soll im Zuge dessen auch der Frage nachgegangen werden, welche Aussagen gemacht werden, wenn das Fernsehen und andere Medien als Massenmedien bezeichnet werden. Dabei wird die These verfolgt, dass zentrale Aspekte der Medientheorie eine Fortführung der Massentheorie darstellen. Die Massentheorie der Gegenwart lässt sich in einer bestimmten Spielart des Mediendiskurses finden.13 Die Kommunikationsform Massentheorie ist nicht einfach zusammen mit der Angst vor Auflaufmassen und ihren umstürzlerischen Aktivitäten verschwunden. Sie ist nur mit neuen Ängsten, denen vor Medien und ihren Wirkungen, verschmolzen und wird so weitergeführt. Sie besteht auch in der Zeit nach den sichtbaren und stets perhorreszierten Versammlungen von Menschenmengen fort.14 Im Hinblick auf diese These werden exemplarisch massentheoretische Schriften seit der Zeit um 1900 herangezogen, weil sie einen Diskurs speisen, der zentral für das Medienwissen wird. Den genauen Einsatzpunkt markiert Le Bons Studie Die Psychologie der Massen von 1895, da sie den zent-
12 Vgl. das Kapitel Mediale Umperspektivierung. 13 Dafür sprechen auch Anthologien wie Texte zur Medientheorie, die Auszüge aus Le Bons Psychologie der Massen enthalten. Vgl. Gusatve Le Bon: »Psychologie der Massen« (1895), in: Günter Helmes/Werner Köster (Hg.), Texte zur Medientheorie, Stuttgart: Reclam 2002, S. 118f. Und auch das Nachschlagewerk Schlüsselwerke der Kommunikationswissenschaft (hrsg. v. Christina Holtz-Bacha/Arnulf Kutsch, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002) nimmt Bezug auf massentheoretisches Wissen, indem es einen Eintrag zu Le Bons Psychologie der Massen von Erich Lampe enthält. 14 Diese Transformation vollzieht auch Sloterdijk: »Die aktuellen Massen haben im wesentlichen aufgehört, Versammlungs- und Auflaufmassen zu sein; sie sind in ein Regime eingetreten, in dem der Massencharakter nicht mehr im physischen Konvent, sondern in der Teilnahme an Programmen von Massenmedien zum Ausdruck kommt. [...] Aus der Auflaufmasse ist eine programmbezogene Masse geworden – und diese hat sich definitionsgemäß von der physischen Versammlung an einem allgemeinsamen Ort emanzipiert.« P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, S. 16f. 12
EINLEITUNG
ralen Bezugspunkt der massen- und medientheoretischen Auseinandersetzung in der Nachkriegszeit markiert. Sie nimmt darin eine so zentrale Stellung ein, dass sie immer wieder im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen wird. Eine weitere Studie von zentralem Rang ist Scipio Sigheles juristische Massenanalyse von 1891. Dies hat zwei Gründe, die eng miteinander zusammenhängen: Erstens hat Sigheles Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen Le Bons Massenpsychologie informiert. Eine Reihe von Überlegungen, die sich bei Le Bon finden, sind bereits wenige Jahre zuvor von Sighele formuliert worden. Dabei legt aber – zweitens – Sighele einen ausführlichen Argumentationsgang vor, während Le Bon sich auf die Wiederholung der Thesen beschränkt. In verknappter Form und unter Umgehung einer detaillierten Begründung reiht Le Bon massenpsychologische Thesen aneinander, die zum großen Teil an Sigheles Massentheorie orientiert sind.15 Die Lektüre von Sigheles Studie, wie sie im zweiten Teil vorgenommen wird, fördert einige Argumentationsgänge zu Tage, die den Massendiskurs in seiner häufigen Bezugnahme auf Le Bons Text subkutan mitbestimmen, die aber in einer ausschließlichen Betrachtung der Psychologie der Massen nicht deutlich in Erscheinung treten. Auch wenn die Massentheorien des Italiener Sighele und des Franzosen Le Bon den historischen Ausgangspunkt der hier vorliegenden Arbeit bezeichnen, wird ausschließlich die Masse-Semantik des deutschen Sprachraums thematisiert. Das heißt, es werden deutschsprachige Texte oder solche, die in deutscher Übersetzung vorliegen, herangezogen. Für die Nachkriegszeit wird sich zudem allein auf die bundesrepublikanische Debatte bezogen. Dies begründet sich in den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen der Bundesrepublik und der DDR, die entscheidenden Einfluss auf die Möglichkeiten begrifflicher Entwicklung haben.16 Im Folgenden wird also für die erste Hälfte des 20. Jahrhundert die deutschsprachige Masse-Semantik und für die Nachkriegszeit die Masse-Semantik der Bundesrepublik hinsichtlich 15 Vgl. dazu die Einleitung zum Teil II dieser Arbeit. 16 Wie Jens Ruchatz herausarbeitet, wird der Mediendiskurs der DDR von der Unterscheidung sozialistisch/kapitalistisch überlagert. Vgl. Jens Ruchatz: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Mediendiskurse deutsch/deutsch, Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2005, S. 7-18, hier S. 12f. Die Form sozialistisch/kapitalistisch richtet in der DDR die Gesellschaftsbeschreibung aus und verschiebt damit auch die Semantik der Masse. Vgl. Christina Bartz: »Massenwirksamkeit in Ost und West – sozialistisch gesehen«, in: ebd., S. 90-100. Damit muss eine Analyse der Begriffsverwendung in der DDR grundsätzlich auf diese Unterscheidung Bezug nehmen und kann nicht einfach zu einer bundesrepublikanischen Begriffsentwicklung parallel geführt beziehungsweise dieser gegenüber gestellt werden. Die Untersuchung semantischer Vorräte in der DDR erfordert eine eigene Herangehensweise, die nicht deckungsgleich mit der Frage dieser Arbeit ist. 13
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ihrer Relevanz für die Kommunikation über das Leitmedium Fernsehen untersucht. Die Beschreibungen des Fernsehens stehen dabei im Mittelpunkt der Arbeit, weil sich anhand dieser – wie zu zeigen sein wird – das Kompositum Massenmedium herausbildet. Die Ausgangsthese der folgenden Überlegungen ist zunächst, dass die Verwendung des Wortes Massenmedium die semantische Altlast des Begriffs Masse mit sich führt und somit eine begriffsgeschichtliche Untersuchung des Einzelterms zu einer Klärung des Kompositums beiträgt. Eine solche Untersuchung ist vor das Problem gestellt, dass im Masse-Begriff kein einheitliches und konsistentes Wissen kondensiert, sondern die Bedeutungsebene vielschichtig und in sich widersprüchlich ist. Der Begriff Masse ist, wie Robert Michels schreibt, »nicht einheitlich, sondern er ist individuell millionenfach differnziert.«17 Dieses Problem verschärft sich gerade dann, wenn der Begriff nicht nur als Bestandteil eines Spezialistenwissens der Wissenschaft, sondern auch hinsichtlich seiner Verwendung im allgemeinen Sprachgebrauch untersucht wird, wie dies hier mit Bezug auf die Kompositumbildung Massenmedium geschehen soll. Doch schon auf der Ebene der wissenschaftlichen Erörterung entzieht er sich einer klaren Zuordnung, weil er nicht nur einem Wissenschaftsbereich zuzurechnen ist. Psychologen, Juristen, Soziologen, Politologen, Ökonomen und Historiker bemühen sich gleichermaßen um eine Begriffsdefinition, bevor die Masse-Semantik dann auch relevant für die Medienbeschreibung wird. Die Massentheorie ist also keine Theoriebildung einer speziellen Wissenschaft, sondern bietet ein Untersuchungsfeld über deren Grenzen hinaus.18 Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile, wovon der erste den historischen, sprachlichen und methodischen Rahmen festlegt und der Konturierung des Themas dient. Er bietet einen ersten Überblick über die Masse-Semantik und ihre Relevanz für die Fernseh- und Gesellschaftsbeschreibung. Es wird in groben Zügen dargelegt, inwiefern sich der Begriff der Masse als Gesellschaftsbeschreibung entfaltet und zur Medienanalyse hin öffnet. Im gleichen Zuge soll auch das Fernsehen als Anlass der Aktualisierung der MasseSemantik vorgestellt werden. Die Koordinaten, innerhalb derer das Thema vermessen werden soll, werden also in diesem Teil vorgestellt. Der zweite Teil befasst sich mit der Masse als Beobachtungsproblem. Es wird die These verfolgt, dass die Eigenschaftsbeschreibung der Masse Effekt eines Mangels an Sichtbarkeit ist. Anhand Sigheles juristischer Massenana17 Robert Michels: »Begriff und Aufgabe der ›Masse‹«, in: Das Freie Wort 13 (1902), S. 407-412, hier S. 407. 18 Vgl. dazu vor allem die Arbeit von Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München: Fink 2007, für die das Theorem des Interdiskurses von entscheidender Bedeutung hinsichtlich der Untersuchung des Begriffs der Masse ist. 14
EINLEITUNG
lyse lässt sich verfolgen, wie speziell die Vorstellung, in der Masse verliere sich die Individualität einer Person, eines Verlustes der Sichtbarkeit des Einzelnen im Massenauflauf geschuldet ist. Aus der Invisiblisierung des Einzelnen in der großen Menge werden im 19. Jahrhundert Eigenschaftsbeschreibungen der Masse – wie Entpersonalisierung, Konformismus, Willenlosigkeit und Beeinflussbarkeit – gewonnen, die in diesem Teil vorgestellt werden sollen. Dabei gilt es aber zwei Aspekte zu betonen. Zum einen werden diese Charakterisierungen anhand des konkreten Massenauflaufs gewonnen. Dessen ungeachtet werden sie aber in der Folge auch für die Beobachtung der Massengesellschaft genutzt. Dieser Zusammenhang – der Transfer der Eigenschaftsbeschreibung vom Massenauflauf zur Massengesellschaft – wird ebenfalls Thema dieses Teils sein. Zum anderen erhalten die bei Sighele genannten Eigenschaften der Masse einen zentralen Stellenwert im Massendiskurs, weil Le Bon sie im Rahmen seiner massenpsychologischen Gesellschaftsanalyse wiederholt. Sigheles Massencharakterisierung wird zu der Le Bons und darüber populär. Wie diese Charakterisierung in die Medienbeschreibung eingehen, ist Gegenstand des darauf folgenden dritten Teils. Dabei werden zum einen die Eigenschaften der Masse als Zuschauermerkmale wieder aufgerufen. Im Mittelpunkt steht, dass die Masse als beeinflussbar und willenlos erscheint. Mit dieser Behauptung unterstützt die Massentheorie die These von der Wirksamkeit der Massenmedien. Der Annahme ihres persuasiven Charakters und ihrer Möglichkeit, auf das Verhalten der Menschen zu wirken, wird die These von der Masse, die solchen Einflussnahmen hilflos ausgeliefert ist, beiseite gestellt. Zum anderen erscheint das Fernsehen in den 1950/60er Jahren aber auch als eine Möglichkeit, die Eigenschaftsbeschreibungen der Masse mit Evidenz zu versehen. Wenn – wie Sighele und andere behaupten – bestimmte Eigenschaften des Einzelnen in der Masse Effekt der Anwesenheit einer großen Anzahl von Menschen ist, so wird das Fernsehen als Simulator von Anwesenheit zentral, insofern es auch die Wirkungen der lokal versammelten Menschenmenge simulieren kann. Analog zum zweiten Teil befasst sich auch der vierte Teil mit einem Sichtbarkeitsdefizit. Nun geht es darum aufzuzeigen, wie sich im Rahmen der Debatten um die Massengesellschaft zunehmend das Beobachtungsobjekt Masse im Sinne einer lokal und zeitlich gebundenen Einheit verflüchtigt. Im Zuge der Verwendung des Masse-Begriffs zur Gesellschaftsbeschreibung geht die Möglichkeit der Massenbeobachtung verloren. Zur Analyse dieses Zusammenhanges wird sich am Theorem der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, wie Niklas Luhmann und Peter Fuchs es entwerfen, orientiert. Ihre These lautet, dass die Gesellschaft sich selbst nicht zum Beobachtungsobjekt werden kann und daher Hilfskonstruktionen entwickeln muss, um Eigenbeschreibungen anfertigen zu können. Wie der Masse-
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Begriff als auch die Fernsehanalyse im Sinne einer solchen Hilfskonstruktion funktionieren, ist Gegenstand dieses vierten Teils. Dabei wird vor allem auf die damit verbundenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen abgehoben. Zum Abschluss werden die Überlegungen zur gesellschaftlichen Selbstbeschreibung anhand einiger Textbeispiele konkretisiert. Dabei werden vor allem solche Studien herangezogen, die sich gleichermaßen mit der Problematik der Masse wie der Frage der Medien beschäftigen und darüber den Versuch unternehmen, die Gesellschaft zu erfassen. Im Rahmen dessen wird zusätzlich die Frage aufgeworfen, inwiefern die Massentheorie ein Kommunikationsmodell liefert, das sich für die Beschreibung des Fernsehens eignet. Die These lautet, dass die Massentheorie der Masse die Fähigkeit zur Kommunikation abspricht: Anstelle von Kommunikation kenne die Masse nur Reflexe und Wahrnehmung. In der Masse vollziehe sich Kommunikation lediglich als Sinnesleistung. Diese massentheoretische Idee einer Verwechslung von Kommunikation und Wahrnehmung, die in der Masse herrschen soll, korrespondiert mit einer spezifischen Konzeption des Fernsehens, das als Wahrnehmungsmedium anstatt als Kommunikationsmittel entworfen wird. Genau diese Annahme forciert die Anschließbarkeit der Massentheorie an die Fernsehanalyse und begründet, warum die Massentheorien gerade im Zuge der öffentlichen Diskussion um das Fernsehen relevant werden. Hier zeigen sich besonders eindrücklich die Potentiale der Semantik der Masse als Medientheorie, also wie die Massentheorie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Beschreibung von Verbreitungsmedien vorformuliert und sich so ihrer Bedeutung hinsichtlich der Medienbeobachtung sichert. Damit wird im letzten Teil der Arbeit noch einmal deutlich, wieso sich gerade anhand des Fernsehens das Wort Massenmedium entwickelt. Der mit ihm verbundene Diskurs korrespondiert auf einzigartige Weise mit dem der Masse. Die Gelenkstelle ist dabei die Kommunikation, die jeweils als Kommunikation (miß)verstanden wird.
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TEIL I DAS FERNSEHEN DER FRÜHEN BUNDESREPUBLIK UND SEINE ENTSTEHUNG ALS MASSENMEDIUM 1 Der Zauberspiegel der Gesellschaft Am Ausgangspunkt dieser Untersuchung stehen zwei Beobachtungen: Erstens beginnt in den 1960er Jahren in Deutschland die Karriere des Wortes Massenmedium, das bis heute in aller Munde ist. Zweitens wird diese begriffliche Entwicklung auch zeitgenössisch reflektiert. In der Bundesrepublik der 1960er Jahre findet eine Auseinandersetzung über die Wortverwendung statt. Der Wortgebrauch ist nicht selbstverständlich, sondern noch für kritische Kommentare freigegeben. Hinsichtlich der Verwendung des Wortes Massenmedium kommt es zu einer Abwägung möglicher Konsequenzen, die mit der Wortwahl verbunden sind – so im Spiegel anlässlich der Beendigung einer Kolumne zum Thema Fernsehen: »Mehr als fünf Jahre lang ist die Fernseh-Kolumne ›Telemann‹ regelmäßig im Spiegel erschienen. Das hektisch um sich greifende Medium TV sollte in einem ›News Column‹ verfolgt werden. Der Kolumnist – so kündigte der SpiegelHerausgeber den Lesern an – ›schlendert durch die Studios und spricht mit dem Fernsehvolk.‹ […] In mehr als 200 Telemann-Kolumnen hat Morlock dem ›Fernseh-Volk‹ und dessen Publikum [...] die Zweifel eines Individualisten, der nicht widerstandslos zusah, wie das Fernsehen unter dem plakativen Begriff ›Massenmedium‹ Inbegriff der Gesellschaft zu werden droht [vor Augen gehalten]. Ein Riese an literarischer Bildung [...], sieht sich Morlock gefährdet wie ein Dinosaurier des letzten Stammes, wenn Howland und Maegerlein gemeinsamer Nenner menschlichen Zusammenlebens sind. […] Was sich in den kunstvollen Facetten der Artikel des Arztes Morlock spiegelte, war meistens nicht ur ein abendliches Fernsehprogramm, sondern auch der labile Zustand einer Gesellschaft, die den Kritiker als Arzt braucht. […] Nachdem das erste Fernseh-Jahrzehnt überstanden ist – im ganzen doch mit weniger Schaden an Bildung und Geschmack als Skeptiker gefürchtet hatten –, überlässt der Spiegel das Fernsehen der Kulturredaktion. Die Rubrik ›Fernsehen‹ wird im Spiegel ebenso vertreten sein wie ›Presse‹ und ›Film‹. Eines News Columns wird 17
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das Fernsehen zukünftig ebensowenig bedürfen wie diese Medien der Publizität. Morlocks Kolumnen greifen über das Fernsehen hinaus, ihr Stoff ist die ganze Gesellschaft [...].«1
Mit dieser Mitteilung stellt Der Spiegel 1964 seine regelmäßig erscheinende Kolumne Telemann, anfänglich Fernseh-Spiegel genannt, ein. In dieser Artikel-Serie kommentiert der Autor Martin Morlock das Fernsehen, indem er die Äußerungen von Intendanten und Politikern aufgreift und ironisiert. So legt er die ihnen zugrundeliegenden Werte, Annahmen, Vorstellungen und vor allem ihre Widersprüche offen und beobachtet, unter welchen Maßgaben andere beobachten.2 Der kurze, hier in Auszügen zitierte Text zur Einstellung von Morlocks Kolumne gibt ein Resümee seiner Arbeit als Telemann. Dieses Fazit nennt das eigentliche Objekt der Telemann-Texte: Auf dem Bildschirm scheint der Autor nicht einfach ein Fernsehprogramm entdeckt zu haben. Stattdessen erblickt er das Bild der Gesellschaft; hier gibt die Gesellschaft Auskunft über ihren eigenen Zustand – über ihren ›gemeinsamen Nenner menschlichen Zusammenlebens‹. Und darüber hinaus informiert das Fernsehen indirekt über den gesellschaftlichen Gestaltungswillen seiner Macher und Kommentatoren. Indem die Telemann-Kolumne das ›Fernsehvolk‹ befragt, bezieht sie auch deren Sozialutopien und -ängste mit ein. Die Hausmitteilung formuliert offen und deutlich, was die hier vorliegende Untersuchung im Folgenden leiten wird: Das in den 1950er Jahren als Neuheit3 vorgestellte Fernsehen dient als Anlass, um über die Gesellschaft als Ganze zu sprechen. Das Fernsehen ist der Zauberspiegel, in dem die Ge1 2
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Anonymus: »Spiegel-Verlag/Hausmitteilung. Betr.: Telemann«, in: Der Spiegel 1-2 (1964), S. 3. Vgl. zur Person Martin Morlock und seiner Kolumne im Spiegel Knut Hickethier: »›Brüderschaft der entzündeten Augen‹. Eine kleine Geschichte der Fernsehkritik in Deutschland«, in: Werner Faulstich (Hg.), Vom ›Autor‹ zum Nutzer: Handlungsrollen im Fernsehen. Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, München: Fink 1994, S. 119-216, hier S. 145147 u. 157-160; sowie Christina Bartz/Jens Ruchatz (Hg.): Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte. Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock, Bielefeld: transcript 2006. Natürlich ist das Fernsehen in den 1950er Jahre keine technologische Innovation. Lediglich die institutionelle Organisation stellt eine Neuheit dar, insofern sie sich gegenüber nationalsozialistischen Formen absetzt. Vgl. zur Entwicklung des Fernsehens bis 1945 Klaus Winker: Fernsehen unterm Hakenkreuz. Organisation, Programm, Personal, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1994. Vgl. weiterhin den Band von William Uricchio (Hg.): Die Anfänge des Deutschen Fernsehens. Kritische Annäherungen an die Entwicklung bis 1945, Tübingen: Niemeyer 1991. Eine Neuheit ist darüber hinaus auch die öffentlich breit diskutierte Konzeptionalisierung sowie Umsetzung des Fernsehens als Instanz, anhand derer sich eine gesellschaftliche Selbstreflexion vollzieht. 18
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sellschaft sich selbst zu erkennen vermeint: Der Blick auf den Bildschirm scheint demnach das Aussehen der Gesellschaft wiederzugeben. Das Gerät funktioniert dabei wie eine Kristallkugel in der Wahrsagerei, bei der die eigentlich leere Glasoberfläche Bilder und Eindrücke wiedergibt, deren Ursprung nur schwer zu bestimmen sind und zumeist in weiter Ferne liegen. Über diesen Zauberspiegel,4 wie das Fernsehen auch genannt wird, vermittelt sich nun nicht nur ein Bild aus der Ferne, sondern ein Eindruck von der Gesellschaft. Hier kann die Gesellschaft scheinbar erkennen, wie es um sie steht. Mit anderen Worten: Das Fernsehen ist die Adresse, die Auskunft über das zu versprechen gibt, was selbst kommunikativ nicht erreichbar ist.5 Die Verfasstheit des Sozialen, wie sie das Fernsehen widerzuspiegeln scheint, findet im Begriff der Masse einen Namen, der prägend für das Medium Fernsehen wird. Die Kommentatoren bezeichnen das Fernsehen als Massenmedium und enthüllen durch die Übernahmen des sozialpsychologischen Begriffs seinen stets ebenfalls gemeinten Gegenstand. Die Verwendung des Wortes Massenmedium für das Fernsehen stellt aus, dass es um eine Bestandsaufnahme der Gesellschaft geht. Die Gesellschaft als Ganzes – das eigentlich verbriefte Objekt der Soziologie – wird im Gegenstand Fern4
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In diesem Sinne spricht 1919 Max Dessoir vom ›Zauberspiegel‹ (vgl. Max Dessoir: Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung, Stuttgart: Enke 19193, S. 120-123) und verwendet damit ein Wort, das bis in die 1950er Jahren zur Bezeichnung des Fernsehens dient. So tituliert der Chefredakteur der Programmzeitschrift Hörzu, Eduard Rhein, in seinem 1935 erstmalig erschienen und 1954 erneut aufgelegtem Buch Wunder der Wellen, in dem er unter anderem die Fernsehtechnik für Jedermann verständlich erklären möchte, das Fernsehen als Zauberspiegel. Vgl. Eduard Rhein: Wunder der Wellen. Rundfunk und Fernsehen, dargestellt für Jedermann, West-Berlin: Deutscher Verlag 1954, S. 309. Vgl. ebenso zur Verwendung dieses Wortes zur Bezeichnung des Fernsehens Anonymus: »Zäh wie Kleistermasse. Programm«, in: Der Spiegel 7 (1953), S. 32f., hier S. 32; Anonymus: »Zilles bunte Bühne. Sowjetzone«, in: Der Spiegel 16 (1953), S. 30-32, hier S. 30; Anonymus: »Das Lob der Haufrau. Publikumsbefragung«, in: Der Spiegel 19 (1953), S. 30f., hier S. 30; Anonymus: »Zehntausende blieben weg. Fussball«, in: Der Spiegel 12 (1954), S. 35; Jens Daniel: »Chruschtschows Zauberspiegel«, in: Der Spiegel 26 (1957), S. 10; Karl Tetzner/ Gerhard Eckert: Fernsehen ohne Geheimnis, München: Francis-Verlag 1954, z.B. S. 23. Tetzner und Eckert deuten den Bezug zwischen Fernsehen und Wahrsagekunst auch an, denn – so ihr Hinweis – durch den Besitz eines Fernsehgerätes würde man nicht zum ›Seher‹ oder ›Propheten‹. Vgl. ebd., S. 27. Zauberspiegel ist auch der Produktname eines Fernsehgerätes der Firma Grundig. Vgl. http://www.grundig.de/presse.grundig/informationen/history.html vom 27. Mai 2003; sowie eine späte GrundigWerbung im Heft 41 des Spiegel von 1967 (S. 49). Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 866; sowie Peter Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992. Vgl. den Teil IV zum Beobachtungsproblem II: Gesellschaftliche Selbstbeschreibung. 19
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sehen zum Dauerthema. Indem für die Beschreibung des Fernsehens der sozialpsychologische Begriff der Masse Verwendung findet, produzieren die Texte der Zeit nicht einfach Aussagen zu einem technischen Medium, sondern thematisieren gesellschaftliche Fragen. Das Fernsehen wird weniger nach seinen medialen Qualitäten befragt, vielmehr erscheint es als gesellschaftlich brisanter Faktor. Mit der Applikation des Masse-Begriffs auf ein Medium verschiebt sich der Beobachtungsfokus Richtung Gesellschaft. Die Konzeption der in der Gesellschaft relevanten Verbreitungsmedien als Massenmedien beinhaltet auch eine Vorstellung von dieser Gesellschaft: Diese wird explizit als Masse angesprochen. Zu fragen bleibt dann, wie eine so benannte Gesellschaft und ihre Medien im Detail konzipiert sind. Diese Konzeptionen, die bis heute persistieren, werden aber zu einem bestimmten historischen Punkt in das Wort Massenmedium gefasst. Genau dieser Zeitpunkt interessiert hier, da in diesem Augenblick Bedeutungsgehalte im Klartext verfestigt und andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Das Fazit zu Morlocks Tätigkeit als Telemann benennt diesen Zeitpunkt genau. Die Anführungszeichen illustrieren noch eine Distanznahme zu dem Wort, dessen Verwendung also noch nicht selbstverständlich ist. Die Distanzierung gegenüber der Wortverwendung setzt den Terminus einer Beobachtung aus, das heißt seine Bedeutungsgehalte werden einer kritischen Betrachtung unterzogen. Es wird deutlich, dass es Aussagen zum Zustand der Gesellschaft macht. Gleichzeitig beschwört der Artikel schon die drohende Durchsetzung des ›plakativen Begriffs‹, der zum ›Inbegriff der Gesellschaft‹ wird.6 Doch das Wort Massenmedium richtet den Zusammenhang zwischen Fernsehen und Gesellschaft zweifach aus. Es geht einerseits darum, den gesamten Bereich des Sozialen auf dem Umweg der Fernsehbeschreibung zu erfassen. Andererseits wird über den Begriff der Masse und seine gesellschaftsbeschreibende Funktion das Fernsehen konturiert und geformt. Der Begriff ist in diesen Beschreibungen das Medium der Medienbeobachtung im Sinne Michael Gieseckes, dessen Beschreibung von gesellschaftlichen Systemen durch Medien/Techniken den Befund liefert, dass das »erste Wort des zusammengesetzten Ausdrucks [...] jeweils das Medium hervor[hebt], welches nach dem Verständnis des betreffenden sozialen Systems für sein Zustandekommen ursächlich ist.«7 So wie also die Eigenbezeichnung eines 6
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Trotz dieser Kritik am Begriff Massenmedium bleibt die Hausmitteilung einer Semantik der Masse verhaftet, die sich einerseits um eine gesellschaftliche Krisensituatione zentriert, »die den Kritiker als Arzt braucht«, und andererseits eine oppositionelle Position zum Individuum aufruft, das Morlock selber darstellt. Anonymus: Betr.: Telemann, S. 3. Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt/Main: Suhrkamp 19982 (1991), S. 56. 20
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Gesellschaftssystems als Mediengesellschaft sich selbst als von Medien bestimmt sieht, wird die Masse in den Fernsehanalysen als ursächlich für die Form des neuen Mediums angesehen. Die Masse ist der Schlüssel zum Verständnis des Mediums Fernsehen. Seine Funktionsweise leitet sich aus bestehenden Kenntnissen über die Masse ab. Daran schließen sich die Fragen an, was eine solche Beschreibung leistet, welche Anschlüsse sie ermöglicht und welche Aussagen sie wahrscheinlich macht. Und weiterhin: Welche Vorstellungen vom Fernsehen und seinen Zuschauern werden unter Zuhilfenahme dieses Begriffs entwickelt? Was bedeutet es für das Fernsehen, wenn es mit Rekurs auf den Masse-Begriff beobachtet wird? Zunächst heißt das, dass das Fernsehen der Schirm ist, auf dem die gesellschaftliche Situation Kontur gewinnt und so beobachtbar wird, wobei sich invisibilsiert, dass die Semantik der Masse die Situation erst formt. Fernsehen ist demnach der Anlass, um über die Gesellschaft zu sprechen und Massenmedium ist das Wort, das gleichermaßen zur Benennung der Verfasstheit der Gesellschaft und ihres Symptoms – des Fernsehens – gefunden wird. Unter den Medien scheint in der frühen Bundesrepublik speziell das Fernsehen ein solches gesellschaftliches Symptom zu sein, an dem Gesellschaftsbeschreibungen kondensieren. In diesen Beschreibungen wird es aber nicht nur als Anzeichen, sondern zugleich als die Ursache für gesellschaftlichen Wandel gefasst. Es markiert darin das Initialmoment für soziale Veränderungen. In der hier zur Debatte stehenden Zeit dient das Fernsehen als Statusanzeige für die Gesellschaft, obwohl es gleichzeitig die herrschenden Zustände produziert haben soll.8 Doch der Sonderstatus des Fernsehens als Zauberspiegel der Gesellschaft wird ihm in dem eingangs zitierten und 1964 erschienen Artikel zu Telemann nicht nur zu-, sondern auch abgesprochen. Nachdem sich im Anblick des Fernsehens, laut Aussage des Textes, ein Jahrzehnt lang die ›ganze Gesellschaft‹ materialisiert habe, sei das Fernsehen nun – 1964 – gleichbedeutend mit Film und Presse. Der Spiegel reiht das Fernsehen in die Riege der ›herkömmlichen‹ Medien ein und übergibt das Thema damit, wie er selber schreibt, an die Kulturredaktion. Die Feuilletonisten sollen sich nun darum kümmern. Der kurze Artikel zu Telemann markiert insofern einen wichtigen Umschlagpunkt in der publizistischen Beobachtung des Fernsehens: Es wird seines Sonderstatus enthoben. Bis zu diesem Zeitpunkt – daran lässt der Artikel keinen Zweifel – ist das Fernsehen der Brennpunkt der Beschreibung der Gesellschaft. Morlock beschreibt nicht einfach eine Medientechnik, sondern ›der labile Zustand der Gesellschaft‹ ist sein Thema, und das Fernsehen übernimmt dabei die Funktion eines gesellschaftlichen Indikators. Um dies 8
Vgl. exemplarisch in diesel Sinne Edwin B. Parker: »Das Fernsehen und der Prozeß des Wandels in der Kultur«, in: Rundfunk und Fernsehen 3 (1962), S. 256-259, hier S. 256. 21
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zu benennen, hat man den Begriff der Masse für das Medium gefunden und ihn im Kompositum Massenmedium fixiert.
2 1961 Wie das Publikumsorgan Der Spiegel macht auch ein Ordinarius für Philosophie und Soziologie – der lizensiert ist, die Gesellschaft als solche zu beschreiben und zu beurteilen – eine Feststellung bezüglich der Karriere des Wortes Massenmedium. Theodor W. Adorno kritisiert, dass sich das »Wort Massenmedium [...] für die Kulturindustrie [...] eingeschliffen hat [...].«9 Eine Entwicklung, die er nicht begrüße, da dem Theorem der Kulturindustrie nicht an der Beschreibung der Masse gelegen sei. Damit markiert er das Wort – wie in den Äußerungen des Spiegels – gleichermaßen als neu und als allgemein bekannt, er formuliert explizit sowohl die Beobachtung seiner Verbreitung als auch seine gesellschaftliche Aussagekraft. Beide Aussagen indizieren also, dass sich erstens in den 1960er Jahren mit dem Wort Massenmedium eine neue Bezeichnung durchsetzt, die so zuvor nicht bestand. Zweitens stellen beide fest, dass diese Bezeichnung nicht nur das Fernsehen oder eine Vielzahl von Medien meint, sondern zur Beschreibung der Gesellschaft dient. Diese zeitgenössischen Beobachtungen reflektieren eine Entwicklung, die sich wiederum anhand des Spiegels verfolgen lässt. Der Spiegel selbst wird hier exemplarisch als Indiz für die Karriere des Wortes Massenmedium in den 1960er Jahren herangezogen, denn als Publikumszeitschrift ist das Organ Multiplikator von Wissen und Begriffen. Die Sichtung aller Artikel seit seinen Anfängen, die laut der (Volltext-)Indices das Wort Fernsehen enthalten, dient hier exemplarisch als Beleg für die Verbreitung des Wortes, das demnach ab 1961 vermehrt auftritt.10 Auf der Basis dieser Artikel wird auf die Häufigkeit des Vorkommens des Wortes geschlossen. 1961, also der Zeitpunkt des Auftaktes für die Proliferation des Wortes im allgemeinen Sprachgebrauch, ist das Jahr des sogenannten Ersten Fern9
Theodor W. Adorno: »Resümé zur Kulturindustrie« (1963), in: ders., Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen, Ohne Leitbild. Gesammelte Schriften, Bd. 10, 1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 337-345, hier S. 337. Vgl. auch ders.: »›Musik im Fernsehen ist Brimborium‹. SpiegelGespräch mit Theodor W. Adorno, Ordinarius für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt«, in: Der Spiegel 9 (1968), S. 116-124. Hier spricht Adorno regelmäßig vom »sogenannten Massenmedium«. 10 Den Auftakt zu einer vermehrten Nennung des Wortes bildet der Artikel von Martin Morlock: »Gemischtes Doppel. Telemann«, in: Der Spiegel 19 (1961), S. 89. Im Brockhaus findet sich erstmalig 1963 ein Eintrag zu Massenmedien. Vgl. »Massenmedien«, in: Der grosse Brockhaus. Zweiter Ergänzungsband A-Z, Wiesbaden: Brockhaus 196316, S. 430. 22
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sehurteils, in dem das Bundesverfassungsgericht die von Konrad Adenauer gegründete Anstalt Deutschland-Fernsehen GmbH als grundgesetzwidrig zurückweist mit der Begründung, Rundfunk sei Länder- und nicht Bundessache. Im Rahmen dieses Urteils legt das Bundesverfassungsgericht einige gesellschaftliche Funktionen des Fernsehens fest. Dabei fasst es Presse, Film und Rundfunk (also Hörfunk und Fernsehen) als »Massenmedien«11 zusammen und macht das Wort damit aktenkundlich. Im Sinne der lateinischen Spruchweisheit »quod non est in actis non est in mundo« wird Rechtsakten zugesprochen, »Protokolle der Wirklichkeit«12 bereit zu stellen. Insofern beweist das Bundesverfassungsgericht durch seinen Urteilsspruch die Realität einer massenmedial verfassten Gesellschaft. Als oberste judikative Instanz der Bundesrepublik fixiert es die Bezeichnung rechtsgültig und damit als beschreibungsrelevant für Medien. Das publizistisch viel diskutierte und kommentierte Urteil ist die Akte, die das Wort als Wirklichkeitsbeschreibung aufführt, darüber in den Diskurs einspeist und auf Dauer stellt. Von hier aus wird ›Massenmedium‹ nicht nur in das publizistische Feld und darüber in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen, sondern affiziert auch die Wissenschaft. So veröffentlicht Erich Feldmann, der sich in den 1950er und 60er Jahren als Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Film- und Fernsehforschung für die Etablierung dieser Fachrichtung einsetzt, 1962 einige seiner Aufsätze und Vorträge aus der Zeit zwischen 1953-1961 sowie einen eigens für diesen Band verfassten Artikel unter dem Titel Theorie der Massenmedien. Dabei findet sich das den Buchdeckel zierende Wort Massenmedien in den Texten selbst, die eben älteren Datums sind, kaum.13 Es scheint wahrscheinlich, dass Feldmann im nach hinein im Begriff Massenmedium das identifiziert, was er die Jahre zuvor unter Benennung von Einzelmedien beschrieben hat. Seine begriffliche Entdeckung konvergiert zeitlich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dem vermehrten Auftreten des Wortes im Spiegel. Seine Buchpublikation kann als ein weiteres Indiz für die Durchsetzung des Wortes in der Folge des Urteilsspruches gewertet werden. Ab 1961 gehört ›Massenmedium‹ zum Repertoire des allgemeinen Sprachgebrauchs und kursiert seit dieser Zeit zur Benennung einer Anzahl von Einzelmedien. Dabei kann es auch – wie das 11 BverfGE, 12, 205-1 Rundfunkentscheidung, zitiert nach Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 28. Februar 1961 (Fernsehurteil), in: Wolfgang Lehr/ Klaus Berg (Hg.), Rundfunk und Presse in Deutschland. Rechtsgrundlagen der Massenmedien – Texte, Mainz: v. Hase und Koehler 1971, S. 221-256, hier S. 235. Die Zusammenstellung der genannten Medien beruht auf der Nennung des Art. 5 GG. 12 Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt/Main: Fischer 2000, S. 89f. 13 Vgl. Erich Feldmann: Theorie der Massenmedien. Presse – Film – Funk – Fernsehen, München, Basel: Reinhardt 1962. 23
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Beispiel von Feldmanns Textsammlung zeigt – rückwirkend für frühe Beschreibungen eingesetzt werden. Das Erscheinen des Fernsehens im gesellschaftlichen Feld und die damit einhergehende Debatte um seine sozialen Funktionen, die sich auch im Urteil widerspiegeln, markieren dabei den Anlass für die Wortbildung. Zwar bezeichnen das Bundesverfassungsgericht und in der Folge auch Feldmann neben dem Fernsehen ebenso Hörfunk, Film und Presse mit dem neugeschaffenen Wort, aber ein juristischer Streit um einen Fernsehsender ist das konkrete Ereignis zur Urteilsfindung und damit zur Kompositumbildung.14 Das Kompositum ist dabei anschließbar an die Fernsehbeschreibungen der 1950er Jahre, in denen das Medium mit Hilfe des Konzepts der Masse beschrieben wird: Der »Massenempfang«15 beim Fernsehen dient abwechselnd der »Massenunterhaltung«, der »Massenaufklärung und -erziehung«16; es hat als »Massenmittel [...] Massenwirkungen«17 beziehungsweise ihm wird eine »massenpsychologische Wirkung«18 zugesprochen, die bis zur »Massenhypnose«19 reicht; »die Gefährlichkeit der Massenversorgung mit geistigen Gütern«20 via Fernsehen ist unbestritten. Im Kontext dieser Kompositumbildungen finden sich auch Nennungen des Wortes Massenmedium, ohne dass an dieser historischen Stelle von einer Übernahme in den allgemeinen Sprachgebrauch ausgegangen werden kann. Bis 1961 wird das Wort Massenmedium eher selten zur Beschreibung des Fernsehens verwendet.21 Damit 14 Dabei wird das Kompositum aus dem englischen ›mass media‹ gewonnen. Vgl. dazu das Kapitel Transfers. 15 Carl Maria Scherzinger: »Sinn, Wert und Aufgabe des Fernsehens«, in: Rufer und Hörer 7 (1952/53), S. 648-654, hier S. 650. Diese und die folgenden Hervorhebungen jeweils von Verfasserin. 16 Wolfgang von Einsiedel: »Die Welt als Puppenbühne«, in: Merkur 4 (1951), S. 371-379, hier S. 376. 17 Werner Pleister: »Fernsehen heisst: ins Innere sehen«, in: epd/Kirche und Rundfunk 24 (1951), S. 2-4, hier S. 2. 18 Friedrich Bischoff: »Rundfunk und Fernsehen als kulturelle Aufgabe«, in: Rufer und Hörer 8 (1953/54), S. 401-409, hier S. 401. 19 W. von Einsiedel: Die Welt als Puppenbühne, S. 376. 20 Rudolf von Scholtz: »Rundfunk und Fernsehen«, in: Rufer und Hörer 8 (1953/54), S. 97-100, hier S. 99. 21 In der Zeitschrift Der Spiegel findet es sich bis zu diesem Zeitpunkt lediglich vier Mal. Vgl. Anonymus: »Die Faszination des Einfältigen. Frankenfeld«, in: Der Spiegel 36 (1955), S. 28-36, hier S.34; Martin Morlock: »Gruppengram. Telemann«, in: Der Spiegel 48 (1959), S. 81; Wolfgang Hammer: »Briefe. Der Evangelimann«, in: Der Spiegel 45 (1960), S. 8-10, hier S. 9; M. Morlock: Gemischtes Doppel, S. 89. In Fachorganen ist das Wort Massenmedien dagegen schon häufiger anzutreffen. Vgl. W. von Einsiedel: Die Welt als Puppenbühne, S. 374; Walter Hagemann: »Die Zeitung verliert die Meinungsführung«, in: Der Journalist 7 (1957), S. 2-5, hier S. 4; Leo Löwenthal: »Das Problem des Populärkultur«, in: Rundfunk und Fernsehen 1 (1960), S. 21-32, hier S. 21; Gerhard Prager: »›Unterhaltung‹ – ein Unterhalt des Menschen. Versuch einer 24
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handelt es sich also zu dieser Zeit lediglich um eine Kompositumform unter anderen. Die Vielzahl der Wortbildungen mit dem Begriff der Masse zeigt an, welche explikative Funktion hinsichtlich der Erläuterung des Fernsehens dem Begriff der Masse zugesprochen wird. Er scheint Erklärungspotential für das als neu ausgewiesene Medium zu entwickeln und forciert so die Durchsetzung des Kompositums. Die Beschreibungen des Fernsehens der 1950er und 60er Jahre sind von einem Wissen um die Masse bestimmt, beziehungsweise im Wort Massenmedium entfaltet sich eine spezifische Semantik der Masse, die im weiteren Verlauf der Arbeit Thema sein wird. Eine solche Semantikanalyse kann an das Lexikon der Geschichtlichen Grundbegriffe anschließen, in dessen Rahmen – darauf wird noch einzugehen sein – ›Masse‹ als politisch-sozialer Begriff erörtert wird. Solche Begriffe sind, nach einer Definition von Reinhart Koselleck, »Konzentrate vieler Bedeutungsgehalte.«22 Im Begriff manifestieren sich vielfältige Bezüge, die allein in ihm gegeben sind. Diese Bestimmung von ›Begriff‹ über das Merkmal der Mehrdeutigkeit ist hinsichtlich der Kompositumbildung Massenmedium problematisch,23 weil der Terminus zunächst einfach auf eine Vielzahl von Einzelmedien verweist.24 Dabei können den genannten Medien spezifische Funktionen und Gefährdungen, die sich beispielsweise aus deren Materialität oder Nutzung ableiten und die ihnen gemeinsam sind, unterstellt werden. Der schnelle Verweis auf Einzelmedien belegt den Term aber zunächst mit Eindeutigkeit. Eine KrisWesensbestimmung«, in: Rundfunk und Fernsehen 3-4 (1959), S. 233-242, S. 234; sowie Henry R. Cassirer: »Das Menschliche im Fernsehen«, in: Rundfunk und Fernsehen 2 (1958), S. 121-126, hier S. 124. Cassirer zeigt deutlich an, dass das Wort aus dem englischsprachigen Raum kommt, indem er »mass medium« schreibt. Karl Holzamer verwendet den Begriff in den 1950er Jahren für die Bezeichnung des Films, was eine Ausnahme darstellt. Vgl. Karl Holzamer: »Ein Optimum, nicht ein Maximum des Schaubaren. Fernsehen und Film im Vergleich«, in: Rundfunk und Fernsehen 5 (1957), S. 131-135, hier S. 132. 22 Reinhart Koselleck: »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«, in: ders. (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 19-36, hier S. 29. 23 Vgl. zu einer Problematisierung der Kategorie Mehrdeutigkeit den Kommentar zu Geschichtliche Grundbegriffe von Heiner Schulz: »Einige methodische Fragen der Begriffsgeschichte«, in: Hans-Georg Gadamer/Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 17, Bonn: Bouvier 1973, S. 221-231, hier S. 222. 24 Vgl. zum Beispiel den Eintrag »Massenmedien«, in: Der grosse Brockhaus, S. 430 oder »Massenmedien«, in: Elisabeth Noelle-Neumann/Winfried Schulz (Hg.), Das Fischer-Lexikon Publizistik, Frankfurt/Main: Fischer 1971, S. 109156, hier S. 109. Ebenso: Hermann Meyn: Massenmedien in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Spiess 1994, S. 10 und Michael Schenk: »Massenmedien«, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, Bd. 2, Stuttgart: Enke 1986, S. 419-422, hier S. 420. Welche Medien damit erfasst werden unterscheidet sich jedoch in den verschiedenen Artikeln. 25
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tallisation oder Verdichtung von Erfahrungsbezügen, wie es Koselleck für den Begriff fordert, fehlt in dieser einfachen Gleichsetzung. Gleichzeitig wird in den 1960er Jahren regelmäßig der Verdacht geäußert, dass der Terminus Massenmedium nicht in dieser simplen Gleichsetzung mit Einzelmedien aufgeht. Die Identifizierung kann auch als Strategie zur Vermeidung semantischer Kämpfe und Widersprüche gewertet werden. Damit handelt es sich um den Versuch der klaren Zuordnung, wo tatsächlich vielfältige Bezüge herrschen. Die Kommunikationswissenschaftlerin Hertha Sturm, die zeitweise gemeinsam mit Hadley Cantril am Office of Radio Research tätig war, beklagt 1968 in ihrem Versuch einer Begriffsbestimmung die »übliche Praxis, Additionen anstelle von Definitionen zu setzen, [die] sicherlich mit dazu beigetragen [hat], die behauptete Zusammengehörigkeit der ›Drei Großen F‹ – des Films, des Funks und des Fernsehens – fraglos hinzunehmen. [...] Ein Einwand gegen diese Assoziationsfolge leitet sich schon aus der Frage nach den jeweils von Film, Rundfunk und Fernsehen erreichten ›Massen‹ ab [...].«25
Sturm stellt zweierlei fest: Zum einen wird mit dem Wort Massenmedien allgemein eine bestimmte Aufzählung von Einzelmedien bezeichnet und zum anderen wird diese Aufzählung dem Gehalt des Wortes nicht gerecht. Bei ihrem Versuch eine Definition jenseits der Aufzählung zu geben, verweist Sturm auf den Teilbegriff der Masse, den sie mit Anführungszeichen versieht und damit seinen prekären Status anzeigt. Der Eindruck eines Bedeutungsüberschusses gegenüber einer Aufzählung von Medien(techniken) ist somit erklärbar aus dem Teilbegriff. Auf dieser Grundlage formuliert Olov Hartmann dann auch pointiert: »Wichtiger Bestandteil des Begriffs ›Massenmedium‹ ist nicht das Wort ›Medium‹, sondern das Wort ›Masse‹«.26 Im Wort Massenmedium kondensiert durch den Teilbegriff der Masse eine Semantik des Sozialen, die auf die Medienbeschreibung übergreift. Zu fragen ist also zunächst nach den Bedeutungsgehalten des Begriffs der Masse und in einem weiteren Schritt nach dem Beschreibungspotential, das diese Semantik angesichts einer technischen Entwicklung entfaltet. Der Begriff Medium, der – entgegen Hartmanns Äußerung – sicherlich ebenso zu hinterfragen bleibt, stellt sich in diesem Zusammenhang als Ableitung der hier untersuchten Massenkonzepte dar.27 Im Rahmen der Masse25 Hertha Sturm: Masse – Bildung – Kommunikation, Stuttgart: Klett 1968, S. 11. Vgl. ebenso Gerhard Maletzke: »Zur Sozialpsychologie der Massenkommunikation«, in: Rundfunk und Fernsehen 3-4 (1954), S. 305-317, hier S. 306. 26 Olov Hartmann: »Die Massenmedien – Macht und Unterjochung des Menschen«, in: medium 1 (1966), S. 60-71, hier S. 60. 27 Vgl. zur historischen Analyse des Begriffs Medium Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs. Ein Diskurs, Hamburg: Meiner 2002. Habbo 26
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Semantik entwickeln sich auch Vorstellungen von Medien und darüber forciert die Rede von der Masse auch die Konzeption einer Medienrealität. In der Massentheorie mitgeführte Medienvorstellungen helfen vermeintliche Massenphänomene zu erklären. Diese Erklärungen bilden einen Bestandteil der Vielfalt seiner Bedeutungsgehalte und Sachbezüge, die erst im Begriff erfahrbar sind.28 Der hier zur Debatte stehende Begriff der Masse, der hinsichtlich seiner Prägekraft für die Medien- und speziell Fernsehkonzeption erörtert wird, ist auch Gegenstand der Untersuchung der politisch-sozialen Terminologie in Geschichtliche Grundbegriffe. Als politisch-sozialer Begriff geht es um sein Aussagepotential als gültige Gesellschaftsbeschreibung, die eine spezifische Form des Sozialen in Erscheinung bringt. Wie der Artikel zu Volk, Nation, Nationalismus, Masse29 jedoch betont, entwickelt das Wort Masse dieses Potential noch nicht in der sogenannten »Sattelzeit«30 in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In Anlehnung an den Befund des Lexikons zum Begriff der Masse interessiert hier ein historischer Zeitpunkt, an dem alte Bedeutungsgehalte in besonderer Weise reaktiviert werden. Im 20. Jahrhundert rückt im Kompositum Massenmedium – also in der Kopplung des politisch-sozialen Begriffs der Masse an Medienbeschreibungen – die Gesellschaftsbezeichnung Masse an prominente Stelle, das heißt in den Fokus der sozialen Eigenbeobachtung. Das Fernsehen dient dabei als Anlass, seine Beschreibungsrelevanz zu erhöhen, beziehungsweise indem der Masse-Begriff im Kontext einer in den 1950er und 60er Jahren vieldiskutierten Medientechnik aufgerufen wird, kommt es zu einer Beglaubigung seiner gesellschaftsbeschreibenden Funktion. Damit kann der Begriff nicht nur im Diskurs persistieren, sondern darin auch eine zentrale Stellung einnehmen. Er gehört, mit anderen Worten, zu
Knoch und Daniel Morat stellen fest, dass in der Zeit von 1880 bis 1960 die Medienbeobachtung kaum am Begriff Medium ausgerichtet ist und statt dessen die Semantik der Masse dominiert. Vgl. Habbo Knoch/Daniel Morat: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München: Fink 2003, S. 7-33, hier S.21. Wolfgang Joußen zufolge lassen sich die Modelle der Massenkommunikationsforschung nicht ohne ihre Anbindung an das sozialpsychologische Theorem der Masse adäquat verstehen. Vgl. Wolfgang Joußen: Massen und Kommunikation. Zur soziologischen Kritik der Wirkungsforschung, Weinheim: VCH 1990, S. 8. 28 Vgl. R. Koselleck: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 29. 29 Vgl. Reinhart Koselleck u.a.: »Volk, Nation, Nationalismus, Masse«, in: der./Otto Brunner/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S. 141-432. Vgl. dazu das folgende Kapitel. 30 Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in: der./Otto Brunner/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart: Klett-Cotta 1972, S. XIII-XXVII, hier S. XV. 27
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einem latenten, aber immer bereitgehaltenen Begriffsvorrat der gesellschaftlichen Eigenwahrnehmung, der mit Blick auf das Fernsehen aktiviert wird. Die Rede vom Massenmedium aktualisiert den seit dem 19. Jahrhundert gängigen Begriff der Masse.31 Dabei wird an die etablierte Semantik angeschlossen und damit einhergehend einige der im Begriff gegebenen Bedeutungsgehalte betont und hervorgehoben. Sie werden dahingehend funktionalisiert, dass der Begriff eine erläuternde Funktion hinsichtlich des Fernsehens erhält. In Anbetracht der Funktionalisierung der bereitstehenden Bedeutungsgehalte zur Beschreibung eines als neu wahrgenommenen medialen Phänomens erhält der Begriff eine Schlüsselposition in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung.
3 1895 In der von den Geschichtlichen Grundbegriffen untersuchten Sattelzeit gehört der Begriff der Masse, laut Befund des Lexikons, nicht zum politischsozialen Vokabular. Als solches etabliert er sich erst im 19. Jahrhundert im Kontext einer Umwertung des Begriffs Volk. Im Zuge dessen wird der Begriff der Masse im politisch-sozialen Sprachgebrauch integriert: »Die Gründe dafür, daß der Massenbegriff um 1800 noch keine politisch-soziale Qualität zu erreichen vermocht hatte, hängen mit der Geschichte des Volksbegriffs zusammen. ›Volk‹ war seit Jahrhunderten immer auch als Sozialbegriff für die gemeinen Leute, den großen Haufen, die untersten Klassen der Besitzlosen und Nichtgebildeten sowie – besonders pejorativ – für den Pöbel verwandt worden. Erst die ›Nobilitierung‹ des Volksbegriffs ließ diese Lesart als prekär erscheinen. [...] In ebendem Maße nun, in dem der Volksbegriff aufgewertet wurde, verlor er nicht nur seine pejorative Einfärbung, sondern auch seine Tauglichkeit als Sozialbegriff überhaupt. Im politisch-sozialen Sprachgebrauch war damit durch semantische Verschiebung eine Art lexikalischer Leerstelle entstanden – eine Leerstelle, die später mit dem modernen Massenbegriff besetzt werden sollte.«32
Masse ist also um 1800 noch keine Vokabel, die im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Phänomene einlesbar wäre. Stattdessen dient sie in dieser Zeit zur Bezeichnung einer physikalischen Größe, sowie einer Menge von Menschen, die sich temporär an einem Ort zusammenfindet und damit auch konkret wahrnehmbar ist. In diesem Zusammenhang kommt es auch zu Zu31 Vgl. zur Masse im 19. Jahrhundert M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben und Helmut König: Zivilisation und Leidenschaft. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992. 32 R. Koselleck u.a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, S. 336f. 28
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schreibungen, also zur Aufzählung von Eigenschaften, die der Masse zukommen. Diese bleiben aber immer an das konkrete Objekt gebunden, so dass der Begriff zwar nicht eindeutig ist, aber es sich immer um eine »Masse von etwas«33 handelt. Eine gesellschaftsweite Relevanz des Begriffs ist noch nicht gegeben, diese gewinnt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts Kontur: »In die Zeit zwischen 1815 und 1871 fiel schließlich [...] die Ausprägung des Massenbegriffs als eines eigenständigen Begriffs der politisch-sozialen Sprache. Sie vollzog sich in dem umfassenderen Kontext ›der Kenntnisnahme und Diskussion westeuropäischer Sozialverhältnisse in Deutschland‹, war also das Ergebnis eines Blickes über die Grenzen, jenseits derer sich vergleichsweise früh offenbarte, daß die Auflösung der feudalen Gesellschaftsordnung durch Industrialisierung und Revolution eine ›Masse ganz eigener soziologischer Struktur‹ freigesetzt hatte – eine nicht bloß ephemere, sondern eine ›permanente Masse‹, die unabhängig von ihrer konkreten sinnlichen Wahrnehmbarkeit zumindest solange existieren würde wie die soziale Dauerkrise, aus der sie hervorgegangen war.«34
Im 19. Jahrhundert wird der Begriff der Masse damit zunehmend zu einer Vokabel, die zur Deklarierung von sozialen Phänomenen dient, die nicht an ein konkretes Zusammenfinden einer Vielheit von Menschen gebunden sind. Dabei bleibt er weitgehend an die Beobachtung einer gesellschaftlichen Krisensituation gebunden, in der die Masse einen maßgeblichen Faktor darstellt. Als ein solcher Faktor spielt der Masse-Begriff vor allem in der Geschichtswissenschaft eine Rolle, ohne dass jedoch damit eine genaue Klärung des Begriffs beziehungsweise des damit bezeichneten Phänomens verbunden wäre.35 Den Versuch einer solchen Klärung unternimmt neben anderen Gustave Le Bon, der 1895 mit seinem Text Psychologie des foules eine eigenständige psychologische Abhandlung zum Thema vorlegt und damit eine Vielzahl weiterer Analysen zum Thema initiiert.36 Le Bons Ausführungen stehen im Kontext eines Wortgebrauchs, der an einer Gesellschaftsbezeichnung ausgerichtet ist und dessen theoretische Ausformulierung sie vorlegen. Und insofern Le Bon die Gegenwart als »das 33 Ebd., S. 336. Die genauen Eigenschaftsbeschreibungen, die anhand der Beobachtung der akuten Masse gewonnen werden, werden im nächsten Teil zum Beobachtungsproblem I: Das Verschwinden des Einzelnen in der Masse vorgestellt. 34 Ebd., S. 366. 35 Vgl. ebd., S. 368. In der Geschichtswissenschaft spielt der Masse-Begriff zwar eine besonders zentrale Rolle, aber – wie im nächsten Teil zum Beobachtungsproblem I: Das Verschwinden des Einzelnen in der Masse deutlich wird – es ist vor allem die Rechtswissenschaft, die dem Masse-Begriff seine genaue Konturierung gibt. Dort wird er auch am Ende des 19. Jahrhundert noch im Bezug auf konkrete Menschenansammlungen verwendet. 36 Vgl. ebd., S. 415. 29
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Zeitalter der Massen« beschreibt, in der die »Seele der Massen [...] die Schicksale der Völker vor[bereitet]«37, fokussiert er klar eine Gesellschaftsanalyse, die keine kurzzeitigen Phänomene erläutern will. Die Masse erscheint dabei als eine zentrale treibende Kraft gesellschaftlicher Prozesse und wird daher eingehend analysiert: Le Bons Anliegen ist es, die von ihm angenommenen psychischen Kollektivprozesse, die das Massenverhalten bestimmen, zu untersuchen. Er füllt somit in Form seiner psychologischen Analyse das bis dahin bestehende geschichtswissenschaftliche Desiderat und ist an der Installation des Begriffs im wissenschaftlichen Vokabular der Zeit beteiligt. Andererseits schafft Le Bon damit den Auftakt für eine Verbreitung des Begriffs. Die Masse und ihre psychischen Eigenschaften werden im 20. Jahrhundert vielfach zur Erklärung gesellschaftlicher Phänomene herangezogen und dabei markiert Le Bon durchgängig den zentralen Bezugspunkt, da kein massentheoretisches Werk eine gleichermaßen große Popularsierung wie die Psychologie der Massen erfährt: »Keine zwei Jahrzehnte nach Erscheinen der Psychologie 1895 lag das Werk bereits in der 19. französischen Auflage vor (1913) sowie in zahlreichen Übersetzungen [...]. Das Buch wurde zum ›Manifest der neuen Wissenschaft‹ (Moscovici 1986) und begründete, wie ein Kritiker 1920 anmerkte, die ›absolute Herrschaft von Le Bon‹ [...]. Zahllose Abhandlungen über die Bedingungen und Umstände kollektiven Verhaltens bezogen sich in der Folgezeit auf Le Bon, und in der kaum überschaubaren Flut von Arbeiten zur Massenpsychologie hat sich so gut wie alleine sein Name erhalten [...].«38
Le Bons Name funktioniert als ein Zentralsignifikant, der zur Erläuterung des Gemeinten herangezogen wird. Sein Text ist die Bezugsgröße für alle folgenden Äußerungen zum Thema. Er ist, um mit Jürgen Link und Rolf Parr zu sprechen, der »realexistierende ›Vater‹ der ›Massenpsychologie‹«39 und ist aus diskursanalytischer Perspektive als deren ›Diskursivitätsbegrün37 Gustave Le Bon: Psychologie der Massen, Stuttgart: Kröner 1957 (1895), S. 2f. 38 E. Lamp: Gustave Le Bon, S. 259. Geht es um den Nachweis der Popularität von Le Bons Studie ist Serge Moscovici wohl der wichtigste Referent, denn er widmet der Rekonstruktion der Rezeption von Psychologie der Massen besondere Aufmerksamkeit und versucht nachzuweisen, wie nachhaltig deren Erkenntnisse wirkten. Vgl. Serge Moscovici: Das Zeitalter der Massen. Eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie, München, Wien: Hanser 1984, S. 71-93. 39 Jürgen Link/Rolf Parr: »Zu diesem Heft«, in: kultuRRevolution. Themenheft: dynamik der masse – dynamik der diskurse 36 (1998), S. 2. Vgl. zu einer ähnlichen Äußerung ohne diskursanalytischen Hintergrund W. Joußen: Massen und Kommunikation, S. 10. Dabei gilt – wie noch zu zeigen sein wird – Le Bon als von Scipio Sighele beeinflusst. 30
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der‹ zu bezeichnen, denn er stellt die Koordinaten, in denen die Masse in allen folgenden Untersuchungen vermessen wird, bereit.40 So hat sein Name auch in den Texten der 1950er und 1960er Jahre diesen Status einer immer wieder aufgerufenen Bezugsgröße. Zum Teil reicht dabei schon seine einfache Nennung, um weitere Explikationen zum Gemeinten zu umgehen. Der Verweis auf Le Bon dient zum damaligen Zeitpunkt gleichermaßen der eigenen Einordnung in einen wissenschaftlichen Kontext wie der Strategie der begrifflichen Absicherung. Es geht um den Versuch, die Vielheit der mit dem Masse-Begriff verbundenen Implikationen durch die Nennung des Namens Le Bon einzuholen; sein Name scheint semantische Uneindeutigkeiten zum Verschwinden zu bringen.
4 Mediale Umperspektivierung Einerseits wird durch die Bezugnahme auf den Namen Le Bon der Versuch einer Stilllegung semantischer Kämpfe unternommen, andererseits sind damit spezifische Lesarten seines Textes mit dem Effekt einer erneuten Semantisierung des Begriffs der Masse verbunden. Diese Lektüren sprechen Le Bon zwar durchgängig das Verdienst zu, eine zentrale Theorie der Massenpsychologie vorgelegt zu haben, aber hinsichtlich seines gemeinten Untersuchungsobjektes herrscht weniger Einigkeit. Eine Reihe von Interpreten der Psychologie der Massen geht nämlich nicht davon aus, dass Le Bon sich auf ein gesellschaftsweites Phänomen bezogen habe, sondern behaupten, dass seine Massenpsychologie noch auf eine konkret wahrnehmbare, weil versammelte Masse ziele. Damit sei das Objekt seiner Analyse zu stark begrenzt. In Ableitung daraus wird das Projekt formuliert, seine Ergebnisse auf die Gesellschaft als Ganzes zu übertragen. Laut Hendrik de Man beispielsweise hat José Ortega y Gasset dieses Projekt umgesetzt: »Besonders seit der Jahrhundertwende häuften sich die Studien, die auf dem Gedanken beruhten, daß die Massen sich anders verhalten als die einzelnen Menschen, die sie bilden. Besonders Italiener (wie Vilfredo Pareto) nahmen daran teil, daneben auch der Franzose Gustave Le Bon mit seinem damals aufsehenerregenden Buch La Psychologie des Foules und etwas später der Spanier Ortega y Gasset mit seiner ebenfalls viel besprochenen La Rebellion de las Masas. Ursprünglich wurde dabei die Masse vielfach als Menge aufgefaßt, d.h. als physisches Konglomerat einer großen Anzahl von Menschen, wie sie in Versammlungen, bei Straßenaufläufen, Demonstrationen und Aufständen vorkommt. Nach und nach aber entwickelte sich der Begriff einer Masse, die nicht auf physischer Zusammenballung, 40 Vgl. Michel Foucault: »Was ist ein Autor?« (1962), in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt/Main: Fischer 1993, S. 7-31, hier S. 24-28. 31
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sondern auf soziologischer Schicksalsgemeinschaft und auf der Identität der psychologischen Einwirkungen und Reaktionen beruht. Am weitesten dürfte Ortega y Gasset in dieser Richtung gegangen sein, indem er sagte, der Ausdruck Masse bezeichne [...] ein Verhalten, das viel eher dem geläufigen Durchschnittsmenschen entspreche [...].«41
De Man nimmt hier eine Historisierung der Massentheorie vor, die er unter anderem an zwei Namen festmacht: Le Bon und Ortega y Gasset. Dabei stellt er eine semantische Verschiebung fest, bei der der Begriff der Masse zunehmend von der Beschreibung eines temporären Phänomens gelöst wird und zur Bezeichnung eines gesamtgesellschaftlichen Zustandes dient. Die Namen Le Bon und Ortega y Gasset stehen für die je unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs. Letzterer legt nach de Man ein umfassenderes und damit der gesellschaftlichen Realität adäquateres Konzept der Masse als Le Bon vor. Das heißt nicht, dass Le Bons Aussagen keine Validität zugesprochen wird. Lediglich das Objekt seiner Beschreibungen scheint noch nicht der sozialen Wirklichkeit angepasst, da er sich nach de Man allein auf Auflaufmassen beziehe, anstatt seine massenpsychologischen Erkenntnisse für eine allgemeine Gesellschaftsbeschreibung freizugeben, wie dies Ortega y Gasset tue.42 Durch diese Historisierung des Masse-Begriffs und der damit verbundenen Gegenüberstellung von Ortega y Gasset und Le Bon werden zwei Massenkonzepte beziehungsweise zwei Gegenstände der Massentheorie zur Verfügung gehalten: der Massenauflauf und die Massengesellschaft. Diese Unterscheidung scheint ab den 1950er Jahren, in denen de Mans Text publiziert 41 Hendrik de Man: Vermassung und Kulturverfall. Eine Diagnose unserer Zeit, München: Lehnen 1951, S. 45. Mit Bezug auf den Befund des Lexikons der Geschichtlichen Grundbegriffe lässt sich feststellen, dass de Mans Analyse der semantischen Verschiebungen zu spät ansetzt, insofern im Hintergrund von Le Bons Feststellung eines ›Zeitalters der Massen‹ bereits eine Entkopplung des Masse-Begriffs von aktuell versammelten Menschenmengen steht. Zum Zeitpunkt des Erscheinens von Psychologie der Massen herrscht schon eine Begriffsverwendung, die unabhängig von konkreten Menschenmengen ist. Bei diesem Befund geht es nicht darum, de Man eine Fehllektüre der Psychologie des foules vorzuwerfen. Das heißt, es interessiert nicht, dass de Man eine bereits zu Zeiten Le Bons bestehende Begriffsverwendung ignoriert. Statt dessen bleibt zu fragen, welche Leistung diese spezifische Lesart des Textes mit sich führt. Welche Funktion übernimmt diese Perspektive auf Le Bons Analyse im Rahmen der Selbsthistorisierung der Massentheorie in den 1950er Jahren? 42 Siehe für eine gegenteilige Lektüre der Psychologie der Massen Kurt Baschwitz: Der Massenwahn, seine Wirkung und seine Beherrschung, München: Becksche Verlagsbuchhandlung 1923, S. 55: »Dies war gerade das Neue […] an den Ideen von Le Bon, dass er konsequenter […] als jeder andere lehrte: Wir können eine (psychologische) Masse bilden, auch wenn wir nicht beisammen sind.« 32
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wird, von großer Wichtigkeit für die Thematisierung der Massen, weil sie die Beobachtung von Verbreitungsmedien in die Massenanalyse integrierbar macht. Indem die semantische Verschiebung des Masse-Begriffs von der akuten zur dispersen Masse im 20. Jahrhundert datiert wird, können neueren Massenmedien in diesem Prozess eine zentrale Stellung zugesprochen werden. Sie werden so als Ursache für die Veränderung des Phänomens Masse plausibel. Die Unterscheidung der Theorien nach ihrem Objekt der akuten versus der permanten Masse bedeutet zugleich die Differenz der massentheoretischen Schriften nach jenen mit und jenen ohne die Thematisierung von Massenmedien. Auf der Basis dieser Unterscheidung wird davon ausgegangen, dass das Erscheinen von spezifischen Medientechniken eine Neuformulierung des Massentheorems notwendig mache. Es gilt die Masse in Anbetracht von Medien entsprechend zu konzipieren: »Unter Masse ist weit mehr zu verstehen als eine Menge [...]. Da das entscheidende Merkmal ein nicht selbstbestimmtes, sondern reaktives Verhalten ist, gehört jeder Mensch zu einer Masse, sofern er zusammen mit anderen Gegenstand von Einwirkungen ist, die sein Verhalten bestimmen. Das [...] gilt von den Menschen, die etwa durch Presse und Radio in gleicher propagandistischer Richtung bearbeitet werden, auch wenn sie sonst in keinerlei Hinsicht eine soziale Gemeinschaft bilden.«43
Erst Medien lassen demnach Massen als gesellschaftsweites Phänomen entstehen. Ihr Erscheinen im gesellschaftsanalytischen Diskurs forciert über dieses Argumentationsmuster eine Wiederauflage der Entwicklung der Masse-Semantik. In Anbetracht von Medien werden die alten semantischen Kämpfe, die in Le Bons massenpsychologischer Theorie gipfeln, erneut geführt. Die Medienbeobachtungen führen somit zu einer Relektüre bestehender Massentheorien, die diese an den temporären Massenauflauf zurückbinden. Auf dieser Folie erscheinen die Medien als eine Neuartigkeit im Massenprozess und erhalten so eine zentrale Stellung darin. Es kommt in den 1950er Jahren zu Versuchen von Zuschreibungen an den Masse-Begriff, die im 19. Jahrhundert bereits vollzogen sind. Entscheidend an dieser Operation ist erstens, dass diese erneuten Zuschreibungen durch Medienbeobachtungen initiiert sind, und zweitens, dass dem Begriff darüber Validität als politischsoziale Vokabel zuerkannt wird. Während die Auflaufmasse nur schwer als permanent gesamtgesellschaftlich relevante Größe zu konzipieren ist, gilt dies für eine medial generierte Masse nicht. Drittens erhalten Medien im Kontext dieser Argumentation einen zentralen Stellenwert. Ihre gesellschaftliche Relevanz wird so ebenfalls betont.44 43 H. de Man: Vermassung und Kulturverfall, S. 47. 44 Vgl. zur Bedeutung der akuten Masse auch den nächsten Teil der vorliegenden Arbeit. 33
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Viertens markiert die Neuauflage des semantischen Kampfes deutlich, wie in den 1950/60er Jahren eine Historisierung des Massentheorems einsetzt, die eine zeitliche Begrenzung vornimmt. Sie richtet den Blick auf Le Bons Text als Initiator der Theoretisierung der Masse. Durch den Fokus auf die Theoriebildung ist sie auf das Datum des Erscheinens von Psychologie des foules – 1895 – verwiesen und kann nicht auf eine vorhergehende Wortverwendung eingehen, die eben schon Masse als politisch-sozialen Begriff kennt. Über die in der Nachkriegszeit selbst benannte Bezugsgröße soll der historische Einsatzpunkt der hier vorgenommen Untersuchung bestimmt werden. Der 1895 publizierte Text Psychologie des foules, der 1908 in Deutschland als Psychologie der Massen erscheint, markiert die zeitliche Begrenzung der Problemstellung. Einsetzend mit diesem Zeitpunkt soll die Semantik der Masse entfaltet werden, wie sie in die bundesrepublikanischen Texte zum Fernsehen der 1950/60er Jahre eingeht.45 Es geht um solche Bedeutungsgehalte des Masse-Begriffs, die das Fernsehen an die bestehende Semantik anschließbar machen und darüber das neue mediale Phänomen mit spezifischen Eigenschaften versehen. Spezifische Vorstellungen von Masse werden in den 1950er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts im Kontext des Dispositivs Fernsehen wiederentdeckt und darüber der Begriff Massenmedium vorbereitet und konturiert. Mit der Setzung dieses Untersuchungszeitraumes, der sich, wie gesagt, weitgehend aus der Selbstreflexion der Massentheorie generiert, schließt die vorliegende Untersuchung an das von Habbo Knoch und Daniel Morat eingebrachte Konzept der ›massenmedialen Sattelzeit‹ an: »In Anlehnung [an Kosellecks Sattelzeit] sollen […] die ›lange Jahrhundertwende‹ der Medientechnik zwischen 1880 und 1930 und die damit überlappende Intensivierung der Medien- und Kommunikationsbeobachtung bis 1960 als massenmediale Sattelzeit bezeichnet werden. Die westlichen Gesellschaften im 20. Jahrhundert sind nicht ohne ihre massenmediale Fundierung zu denken. Sie haben ein wiederum medial bedingtes Bewußtsein dieser Fundierung entwickelt und sich so als selbstreferentielle Mediengesellschaft konstituiert. Analog zur Sattelzeit um 1800 kommt zwischen 1880 und 1960 die mediale Massengesellschaft zu sich, indem sie theoretische Zugänge aus sich und über sich hervorbringt, die sich auf ihre neue Medialität beziehen. Sie bilden gleichzeitig damit Mechanismen der (medialen) Selbstbeobachtung aus. Diese Verschränkung spiegelt sich auch in den Begriffen der mediengesellschaftlichen Selbstinterpretation, die noch nicht um den abstrakten Plural der ›Medien‹ kreiste, sondern in erster Linie um das kulturkritische Konstrukt der ›Masse‹. Die ›Medien‹ als eigener Gegenstand des populären wie wis45 Eine Ausnahme bilden die Ausführungen zu Scipio Sighele im nächsten Teil der vorliegenden Arbeit, weil er Le Bons Schrift maßgeblich beeinflusst haben soll. 34
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senschaftlichen Diskurses etablierten sich erst am Ende der massenmedialen Sattelzeit und zeigen damit die vollzogene Etablierung des massenmedialen Regimes an. Die Formierung der modernen Mediengesellschaft ist daher nicht allein durch die Etablierung und Fortentwicklung des massenmedialen Ensembles ab 1880 geprägt, sondern auch durch dessen praktische Aneignung und reflexive Beobachtung.«46
Das Ende der massenmedialen Sattelzeit um 1960, so die Autoren weiter, begründet sich in der zu dieser Zeit stattfindenden sozialen Etablierung des Fernsehens, das ein massenmediales Ensemble vervollständigt, das als solches auch thematisiert wird. Knoch und Morat fokussieren damit eine Mediengeschichte, die an der diskursiven Instituierung von Medientechniken interessiert ist. Dabei weisen sie darauf hin, dass (unter anderem durch diese diskursive Aufbereitung) die Medientechniken Kommunikationsverhältnisse strukturieren und zwar dahingehend, dass in der massenmedialen Sattelzeit gesellschaftsweite Zirkulation von Information möglich ist. Das heißt, Massenmedien adressieren die Gesellschaft und diese Adressierungspraxis wird in der Medienbeobachtung reflektiert, so dass darin eine gesellschaftliche Selbstthematisierung erscheint. Es geht also um die Beobachtung von Medien als Massenmedien im Sinne einer gesellschaftlich relevanten Größe. Zwar dauert diese Beobachtungsperspektive auf Medien bis heute fort, aber mit »der Durchsetzung des Fernsehens [...] sind die mit den Massenmedien verbundenen Unsicherheiten und nicht selten angstbesetzten Projektionen lebensweltlich kanalisiert und begrifflich-methodisch gefaßt.«47 Diese begriffliche Fixierung – so die hier vertretene These – indiziert die Vokabel vom Massenmedium, die sich in den 1960er Jahren anhand des Fernsehens herausbildet. Die zentrale Rolle des Begriffs der Masse betonen zwar auch Knoch und Morat, wenn sie diesen Begriff im Kontext mediengesellschaftlicher Selbstbeschreibungen als dominant ansehen. Dessen ungeachtet benennen sie dessen Beschreibungsleistung nicht im Detail, wie es das Projekt dieser Untersuchung ist.
46 H. Knoch/D. Morat: Einleitung, S. 20f. Vgl. zur begriffsgeschichtlichen Bedeutung der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch Paul Nolte: Die Ordnung der deutsche Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München: Beck 2000, S. 20. Auch Nolte hebt im Rahmen seiner Studie zur gesellschaftlichen Selbstbeschreibung den Begriff der Masse gesondert hervor. 47 H. Knoch/D. Morat: Einleitung, S. 10. 35
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5 Transfers a) massa, masse, mass, foule, crowd, Masse Die häufige Nennung Le Bons in den bundesrepublikanischen Texten zum Fernsehen verdeutlicht, dass sich eine politisch-soziale Semantik nicht allein aus dem deutschen Sprachraum erschließen lässt, auch wenn dieser hier den ausschließlichen Untersuchungsgegenstand darstellt.48 Der deutsche Begriff der Masse selbst ist das Ergebnis eines Übersetzungsprozesses: Friedrich Gentz prägt ihn 1793 durch seine einflussreiche Übersetzung von Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France. Darin verwendet er für den englischen Term ›crowd‹ das deutsche Wort ›Masse‹, das selbst wiederum aus dem französischen ›masse‹, wie es sich in ›levée en masse‹ findet, abgeleitet ist.49 Das deutsche ›Masse‹ und das französische ›masse‹ (ital. ›massa‹, span. ›masa‹) leiten sich etymolgisch identisch aus dem Lateinischen ›massa‹ (Teig, Klumpen) her. Auch wenn es schon vor der Französischen Revolution zur Bezeichnung von Menschenmengen verwendet wird, beginnt seine Karriere in dieser Bedeutung in diesem Zeitraum: »Masse selbst wurde in der 2. hälfte des 18. jhs. zu einem modewort [...], dessen bedeutung durch die aktivierung der volksmassen in der revolution noch gesteigert wurde (in dieser politischen bedeutung wurde masse von den anderen europäischen sprachen aus dem französischen entlehnt).«50
Einerseits greift Gentz in seiner Übersetzung auf das französische Modewort zurück, andererseits verwendet der Franzose Le Bon in Psychologie des foules, wie der Titel schon anzeigt, den etymologisch verwandten Begriff nicht. Der originalsprachlich französische Text aktiviert also nicht den etymologisch gleichen Begriff, der sich dann im Titel der deutschen Ausgabe findet und selbst Effekt eines Übersetzungsprozesses aus dem Französischen ist. Der Masse-Begriff erscheint also im deutschsprachigen Raum durch Übersetzungen, die aber eine je unterschiedliche französische Terminologie wiedergeben. Ungeachtet einer möglichen Differenzierung zwischen ›foule‹ und ›masse‹ werden die unterschiedlichen Worte einheitlich ins Deutsche
48 Vgl. R. Koselleck: Einleitung, S. XIV. 49 Vgl. Eckart Pankoke: »Masse, Massen«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt: WBG 1980, Sp. 828-832, hier Sp. 828. 50 »masse«, in: Walther v. Wartburg (Hg.), Französisches Etymologisches Wörterbuch. Eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes, 6. Bd, Basel: Zbinden Druck und Verlags AG 1969, S. 441-454, hier S. 453. Vgl. auch R. Koselleck u.a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, S. 245f. 36
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mit ›Masse‹ übersetzt.51 Im deutschen Sprachraum entwickelt sich eine spezifische Semantik des Begriffs der Masse, die zwar unter anderem durch französische Einflüsse motiviert ist, aber nicht damit deckungsgleich zu sein scheint, insofern der französische Sprachgebrauch eine Differenzierung vornimmt, die im Deutschen ausfällt. Exemplarisch dafür ist, dass die deutschen Theorieangebote zum soziologischen Begriff der Masse auch Erkenntnisse der Physik in ihre Abhandlungen integrieren. Die Befunde zur physikalischen Einheit der Masse werden auf soziologische Fragestellungen übertragen, um dort erklärend zu wirken.52 Solch eine Vorgehensweise legt zwar der Begriff der Masse nahe, insofern sich zwei Wissenschaften – die Physik und die Soziologie – einen Begriff teilen, aber das französische ›foule‹ motiviert diesen Zusammenhang nicht. Aufgrund dieser teilweise eigenständigen Ausdifferenzierung der Wortverwendung gegenüber den sprachlichen Nachbarn kann im Folgenden allein die deutsche Wortverwendung interessieren. Das französische ›foule‹ in Le Bons Titel wird im Englischen mit ›crowd‹ wiedergegeben, so dass der englische Titel dort The Crowd. A Study of the Popular Mind lautet. Die im Deutschen ›Massenpsychologie‹ genannte Fachrichtung heißt dementsprechend im angelsächsischen Sprachraum ›crowd psychology‹ und ist damit etymologisch nicht an die im 20. Jahrhundert entstehenden Begriffe ›mass communication‹ und ›mass media‹53 anschließbar. Diese Wortbildungen sind – wie das Wort schon sagt – von einer Semantik von ›mass‹ geprägt, die zwar einerseits wie im Deutschen den Be51 Manfred Bleher behauptet in seiner Wortfeldstudie Le Bon verwende ›foule‹ synonym mit den ebenfalls gelegentlich benutzten Wörtern ›les masses‹ und ›le Masse‹ und aufgrund dessen könne einheitlich übersetzt werden. Manfred Bleher: Der Mensch als Menge und Masse in der Französischen Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Wortfeldstudie, Tübingen im Selbstdruck 1964, S. 16-120. Victor Hugos Verwendung von ›foule‹ übersetzt Bleher dagegen mit ›Menge‹, wobei unklar bleibt, wie sich seine unterschiedliche Übersetzungspräferenz motiviert. Vgl. ebd., S. 32f. Grundsätzlich sind solche Differenzierung nur am konkreten Textbeispiel beobachtbar. 52 Vgl. als besonders prominentes Beispiel Theodor Geiger: Die Masse und ihre Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen, Darmstadt: WBG 1967 (1926), S. 1f. 53 Laut Wolfgang Hagen ist der Term mass media in den 1950er Jahren in den USA »gerade eben erst gebräuchlich in der werbetreibenden Branche, wo er seinen Ursprung hat.« Wolfgang Hagen: »Globale Gegenwartsvergessenheit. Annäherungen an Harold A. Innis und seine Theorie einer Medien-Raumzeit«, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Raum – Wissen – Macht, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2002, S. 193-213, hier S. 206. Für eine andere Datierung des Aufkommens des Wortes, nämlich in den 1930er Jahren vgl. ders.: »Zur medialen Genealogie der Elektrizität«, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Kommunikation – Medien – Macht, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 133173, hier S. 138. 37
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deutungsgehalt einer gesellschaftlichen Größe mitführt, aber andererseits nicht mit dem deutschen ›Masse‹ konvergiert, insofern im 20. Jahrhundert teilweise andere Kontexte des Begriffs aufgerufen werden. Während, wie gesagt, Le Bon in deutschsprachigen Texten die zentrale Bezugsgröße für die Untersuchung vermeintlicher Massenphänomene ist, erhält er im englischen Sprachraum diesen Status nicht.54 Insbesondere im Kontext der Massenkommunikationsforschung wird der unterschiedliche Status der Massenpsychologie und der crowd psychology offensichtlich. Sowohl deutsche als auch englischsprachige Studien aktuellen Datums thematisieren, historisieren und kritisieren die Integration von Massenkonzepten in ihren Forschungszweig. Dabei stimmen die Eigenschaftsbeschreibungen der Masse zwar weitgehend überein, aber allein die deutschen Darstellungen beziehen sich auf eine massenpsychologische Tradition.55 Die Eigenhistorisierung differiert also, insofern unterschiedliche Traditionslinien eröffnet werden. Diese Differenzen betreffen aber vor allem die Zeit vor der Etablierung der Massenkommunikationsforschung im Wissenschaftssystem des jeweiligen Landes und die in dieser Zeit entwickelten Vorstellungen von Masse, die dann auch für die Erforschung massenmedialer Kommunikation maßgeblich gewesen sind. Die Ausdifferenzierung der Massenkommunikationsforschung zum eigenen Wissenschaftsbereich vollzieht sich in der Bundesrepublik in Form des Importes US-amerikanischer Forschungsergebnisse. Diese werden seit den 1950er Jahren in Deutschland rezipiert, eingeführt und übersetzt. Im Zuge dessen kommt es auch zu einer Übernahme der angloamerikanischen Terminologie in die bundesrepublikanischen Debatten. Damit ist die Entwicklung des Wortes Massenmedium zum populären Term nicht nur von einer innerdeutschen Wortverwendung geprägt, auch eine bundesdeutsche Rezeption der amerikanischen Massenkommunikationsforschung führt das Wort ›Massenkommunikationsmittel‹ und äquivalent ›Massenkommunikations-Medien‹ beziehungsweise ›Massenmedien‹ in die Wissenschaftssprache ein.56 Dabei zeigt sich einerseits, wie unproblematisch die terminologische 54 Symptomatisch dafür ist auch, dass in der begriffsgeschichtlichen Forschung des angelsächsischen Sprachraums ein Rekurs auf Le Bon eben nicht zu finden ist. Vgl. Raymond Williams: Gesellschaftstheorie und Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von ›Kultur‹, München: Rogner & Bernhard 1972, S. 356-365. 55 Vgl. als Beispiel für den Bezug auf die Massentheorie im Rahmen der Historisierung des eigenen Forschungsbereichs Denis McQuail: Mass Communication Theory. An Introduction, London u.a.: Sage Publications 1987 (1983), S. 29-39 und Michael Jäckel: Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 54f. 56 Vgl. zum Beispiel Gerhard Maletzke: »Der Mensch im publizistischen Feld. Abriß einer Psychologie der Massenkommunikation«, in: Rundfunk und Fernsehen 2-3 (1955), S. 118-131, hier S. 118; sowie ders.: »Wesensmerkmale des 38
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Adaption aus der nordamerikanischen Theorie vor sich geht, da die Semantik von ›mass‹ und ›Masse‹ viele Übereinstimmungen aufweist. Andererseits werden im deutschen Sprachraum im Zuge der Übernahme der fremdsprachlichen Terminologie eigene begriffliche Kontexte anschließbar. Damit ist einerseits die US-amerikanische Massenkommunikationsforschung an der Etablierung des Terms in den bundesdeutschen Debatten beteiligt, indem sie in deutsche Forschungskontexte integriert wird. Andererseits geht das deutsche ›Massenmedium‹ nicht einfach im Übersetzungsprozess auf. Das gilt gerade in Anbetracht dessen, dass das Wort Massenmedium sich weniger als Fachterm etabliert, sondern den publizistischen Sprachgebrauch bestimmt. Die Proliferation des Wortes geht weit über das Wissenschaftssystem hinaus und entwickelt dort seine eigenen Bedeutungsgehalte. Dieser Prozess der Integration wissenschaftlicher Ansätze aus den USA in bundesrepublikanische Debatten äußert sich auch in personellen Zusammenhängen. Emigration und Remigration sind einerseits mitbestimmend für den Wissenstransfer in der Nachkriegszeit und indizieren ihn andererseits. Adornos eingangs zitierte Äußerung, der zu folge das »Wort Massenmedium« das der »Kulturindustrie«57 zunehmend ersetze, ist nicht nur als Reflexion einer deutschen Begriffsentwicklung zu verstehen. Mit dem Befund kritisiert er nicht nur das Wort, sondern affirmiert es auch, indem er es in der Debatte erhält, beziehungsweise in sie einführt. Insofern richtet sich seine Kritik auch an die eigenen Texte, die das Wort und seine Verbreitung forcieren. Insbesondere als Remigrant, der in den USA eine Reihe seiner Arbeiten im Rahmen des für die Massenkommunikationsforschung maßgeblichen Office for Radio Research durchführt und in der Bundesrepublik das Institut für Sozialforschung leitet, implementiert er amerikanisches Wissen in deutschen Institutionen. Darüber hinaus gehend speist er es als »Medienstar der Philosophie«58 und Sozialwissenschaft zum Beispiel in Form des SpiegelInterviews auch außerhalb der Forschungskontexte in die Debatten ein.59
Fernsehens in psychologischer Sicht«, in: Rundfunk und Fernsehen 1-2 (1959), S. 86-95, hier S. 86. Vgl. zu einer frühzeitigen Verwendung des Wortes Massenmedium außerhalb der Massenkommunikationsforschung den Artikel von David Manning White: »Der Einfluss der Massenmedien auf das Bildungsniveau. Erfahrungen aus Amerika«, in: epd/Kirche und Fernsehen 25 (1957), S. 1f. Dieser Artikel ist die Übersetzung eines Auszugs aus einem Text, den der Autor in der Zeitschrift The Saturday Review veröffentlicht. Im Rahmen der Übersetzung erscheint hier das Wort Massenmedium im deutschen Text. 57 T.W. Adorno: Resümé zur Kulturindustrie, S. 337. 58 Clemens Albrecht: »Die Massenmedien und die Frankfurter Schule«, in: ders. u.a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/Main, New York: Campus 1999, S. 203246, S. 229. 59 Vgl. vor allem T.W. Adorno: ›Musik im Fernsehen ist Brimborium‹. 39
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Das Wort ›Massenmedium‹ wird in den 1960er Jahren zum festen Bestandteil eines allgemeinen deutschen Sprachgebrauchs. Dabei wird an ein Wissen von Masse angeschlossen. Dieses – um das an dieser Stelle zu rekapitulieren – ist zwar durch fremdsprachliche Importe beeinflusst oder zum Teil sogar mit fremdsprachlichen Wortverwendungen identisch, gleichzeitig jedoch differieren die semantischen Entwicklungen in den verschiedenen Sprachen. Aufgrund dessen wird in der vorliegenden Untersuchung allein die deutsche Semantik betrachtet.60
b) Zwischen den Wissenschaften Das Beispiel des Philosophen und Soziologen Adorno, der sich mit seinen Schriften und Äußerungen nicht nur in die wissenschaftlichen, sondern auch in die öffentlichen Debatten einbringt, verdeutlicht, dass sich eine Semantik nicht aus einem einheitlichen Wissenschaftsbereich speist. Bedeutungen kondensieren – und dies gilt gleichermaßen für den Begriff der Masse wie für das Kompositum Massenmedium – aus einer Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Wissenschaften, wie auch zwischen Wissenschaft und alltagsweltlicher Sprachverwendung. Es kann nicht, wie Hans Ulrich Gumbrecht und Rolf Reichardt im Rahmen ihrer Kritik an Geschichtliche Grundbegriffe feststellen, zwingend davon ausgegangen werden, dass systematische Reflexionen den Ausgangspunkt für die Verbreitung von Begriffen und Konzepten bilden. Solche Systematisierungen können ebenso gut durch alltagsweltliche beziehungsweise -sprachliche Phänomene bedingt sein.61 Um solche Phänomene zu erfassen, legt Gumbrecht eine theoretische und methodische Reformulierung des begriffsgeschichtlichen Ansatzes vor, der unter anderem auf einen veränderten Umgang mit den Quellen zielt, »weil viele [...] [der in Geschichtliche Grundbegriffe] erschienen Artikel der altbewährten Gipfelwanderung verpflichtet bleiben«62 und somit nur einen gruppenspezifischen Ausschnitt des Wissensvorrats beschreiben. Unbeachtet lässt diese ausschließliche Beschreibung des Höhenkamms auch die Wechselbeziehung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. 60 Das heißt nicht, dass nicht auch fremdsprachliche Texte in der Untersuchung herangezogen werden. Diese finden aber hier nur Beachtung, insofern auch von einer deutschen Rezeption ausgegangen werden kann, was sich in der Regel daran ablesen lässt, ob eine Übersetzung des jeweiligen Textes vorliegt. 61 Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: »Für eine phänomenologische Fundierung der sozialhistorischen Begriffsgeschichte«, in: Reinhardt Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart: Klett-Cotta 1978/79, S. 75100. 62 Rolf Reichardt: »Zur Geschichte politisch-sozialer Begriffe in Frankreich zwischen Absolutismus und Restauration. Vorstellung eines Forschungsvorhabens«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (1982), S. 4974, S. hier S. 52. 40
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Der Begriff Masse ist dafür ein signifikantes Beispiel: Eine unsystematische Verwendung des Begriffs geht zum Ende des 19. Jahrhunderts in eine ausformulierte Massenpsychologie über, die ihrerseits alle ›Praxisbereiche‹, alle gesellschaftlichen Gruppen und alle Textformen affiziert.63 Der zunächst in der Alltagssprache gebräuchliche Begriff der Masse changiert zwischen einem populären Sprachgebrauch und dem Versuch seiner wissenschaftlichen Spezifizierung. In Form des Kompositums Massenmedium findet der Begriff dann ab den 1960er Jahren eine bis dahin nicht erreichte Verbreitung und prägt im Besonderen den alltäglichen Sprachgebrauch. Systematisierungsversuche, also die Frage danach, wie Massenmedien und die von ihnen adressierten Massen zu definieren seien, finden sich erst im Angesicht der Problematik der allgemeinen Wortverwendung. Sturms Frage nach einer Begriffsbestimmung motiviert sich, wie sie selber schreibt, aus der Beobachtung einer unsystematischen Verwendung des Wortes Massenmedium. Sie beginnt ihre 1968 erschienene Untersuchung Masse – Kommunikation – Bildung mit der Feststellung: »Für neue Erscheinungen braucht man neue Begriffe. Häufig ist jedoch der Begriff für eine Sache früher vorhanden als eine Übereinstimmung darüber, welche Erscheinungen diesem Begriff zuzuordnen sind.«64 Ihre Arbeit stellt den Versuch solcher Zuordnungen dar, die sie beim Wort Massenmedium vermisst. Sturms wissenschaftliche Aufarbeitung des Desiderats geschieht zu einem Zeitpunkt, zu dem das Wort schon im publizistischen Feld zirkuliert. Die Wortverwendung, so lässt sich daraus folgern, stellt also einerseits kein Problem dar, das heißt, es werden keine Explikationen verlangt, um das Wort zu verwenden. Andererseits steht die Frage nach einer Systematisierung noch an und Definitionen fehlen. Dieser Befund ist einer Quellenanalyse geschuldet, wie Gumbrecht und Reichardt sie für eine historische Semantik fordern. Die These, dass die Worthäufigkeit zu Beginn der 1960er Jahre zunimmt, basiert, wie bereits ausgeführt, vornehmlich auf der Sichtung der Zeitschrift Der Spiegel.65 Sie zeigt exemplarisch die gesellschaftliche Verbreitung und Relevanz des Wortes an und mit Hilfe ihrer Sichtung kann festgestellt werden, ob das Wort zum allgemeinen Wissensvorrat einer Gesellschaft gehört oder – im Abgleich mit Spezialdiskursen – allein das Wis-
63 Vgl. zu einer Rekonstruktion des Massendiskurses vor einer entsprechenden und eigenständigen Theoriebildung vor allem M. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, weil seine Untersuchung sich am Theorem des Interdiskurses ausrichtet. 64 H. Sturm: Masse – Kommunikation – Bildung, S. 11. 65 Die Publikumszeitschrift Der Spiegel wird auch im Folgenden exemplarisch herangezogen, um die Masse-Semantik jenseits der ›altbewährten Gipfelwanderung‹ nachzuvollziehen. 41
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sen einer sozialen Gruppe vorstellt.66 Publikumszeitschriften zeigen nicht nur begrifflichen Wandel an, sondern stehen auch für die allgemeine Zirkulation und Verbreitung von Begriffen jenseits eines Spezialistendiskurses ein. Gerade die Notwendigkeit des kommerziellen Erfolges, der ihr Überleben sichert, beweist die Verbreitung der verwendeten Begrifflichkeiten. Dies gilt mit der Etablierung der Massenpresse seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der fortschreitenden überregionalen Ausrichtung der Presseorgane nach dem Zweiten Weltkrieg um so mehr, da damit auch die gesellschaftsweite Zirkulation von Begriffen einhergeht.67 Durch die überregionale und weitgehend gruppenunspezifische Adressierungspraxis des Spiegels stellt dieser ein (exemplarisches) Presseorgan dar, das die Verbreitung von Begriffen antreibt und somit indiziert. Sein Sprachgebrauch dient als Indikator für die gesellschaftsweite Verwendung von Begrifflichkeiten und dem damit verbundenen Wissen einer Gesellschaft. Diesem Wissen fehlt auf dieser populären Ebene meist eine systematische Aufarbeitung, auch wenn es sich aus Expertendebatten speist. Zwar gibt es auf Expertenebene solche Systematisierungsversuche, aber diese sind für einen allgemeinen Sprachgebrauch nicht unbedingt von Bedeutung. Gleichzeitig – wie das Beispiel Sturm zeigt – können solche Systematisierungsversuche auch in der Folge eines populären Sprachgebrauchs geschehen. Sie stellen also nicht zwingend den Ausgangspunkt der Verbreitung von Wissen dar. In wissenschaftlichen 66 Als serielle Quelle erbringt Der Spiegel spezifische Leistungen, die die be griffs-historische Forschung in der Analyse der Journale des ausgehenden 17. Jahrhunderts sieht: »[K]ontrollierende Vergleiche [...], stellen u.a. durch Datierungen Beziehungen zum jeweiligen historischen Kontext her und haben durch ihre Redaktion oder durch das Zurücktreten des Autors [...] einen [...] kollektiven Charakter [...], zumal die Presse aufgrund eines stillschweigenden ›Lektüreabkommens‹ mit ihren Lesern nur solange ausreichend Abonnenten findet, wie ihre Inhalte einem gesellschaftlichen Bedürfnis entgegenkommen.« R. Reichardt: Zur Geschichte politisch-sozialer Begriffe, S. 54f. Quellen werden somit auch immer nach ihren medialen Qualitäten, wozu unter anderem die öffentliche Wirkung, das heißt Reichweite, Verbreitungsgrad, Adressat und tatsächlicher Rezipient gehören, befragt. Vgl. ders./Hans-Ulrich Gumbrecht/ Thomas Schleich: »Für eine Sozialgeschichte der Französischen Aufklärung«, in: dies. (Hg.), Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich, Teil I: Synthese und Theorie, Trägerschicht, München, Wien: Oldenbourg 1981, S. 3-51, hier S. 18-25. Auch Koselleck fragt nach den Medien der untersuchten Zeit und zwar unter den Theoremen Politisierung und Demokratisierung. Vgl. R. Koselleck: Einleitung, S. XVI u. XVIII. 67 Vgl. Volker Schultz: »Geschichte der Zeitungs- und Zeitschriftenverlage«, in: Joachim-Felix Leonhard u.a. (Hg.), Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien- und Kommunikationsformen, Bd. 1, Berlin, New York: Walter der Gruyter 1999, S. 831-836, hier S. 833-835 und Erich Straßner: »Kommunikative Aufgaben und Leistungen der Zeitungen«, in: ebd., S. 837-851, hier S. 838. Vgl. zu einer solchen Perspektive auch H. Knoch/D. Morat: Einleitung. 42
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Texten wird verbreitetes Wissen gleichermaßen aufgegriffen und systematisiert wie anschließbares Wissen in die Zirkulation eingespeist. Jenseits solcher Expertendebatten geht es um die Thematiken, die gesellschaftliche Brisanz entwickeln. Masse ist dabei ein allgemein akzeptierter Begriff, den eine Gesellschaft für ihren eigenen Zustand findet und Massenmedium ein Wort zur Erklärung dieses Zustandes. So wie Gumbrecht die isolierte Betrachtung des Spezialistenwissens zurückweist, lehnen Dietrich Busse und Wolfgang Teubert die isolierte Untersuchung eines Begriffs ab. Sie legen unter der Bezeichnung ›diskurssemantische Forschung‹ eine weitere theoretische und methodische Modifikation der Geschichtlichen Grundbegriffe vor, die sich nicht am einzelnen Begriffe ausrichtet. »Zugriffsobjekte sind ebensosehr Begriffsnetze [...].«68 Die Diskurssemantik will »die semantischen Voraussetzungen, Implikationen und Möglichkeitsbedingungen erfassen [...], die für einzelne Aussagen charakteristisch sind. Zumindest ein Teil der Intentionen der französischen Diskursanalyse scheint uns auf einen semantischen Phänomenbereich zu zielen, der in der deutschen Linguistik mit dem Begriff der ›Argumentationsanalyse‹ bezeichnet wird.«69
Der Begriff wird somit nicht isoliert betrachtet, sondern kontextualisiert und in seinem Begriffsgefüge erfasst. Damit ist die Bezugsgröße der Untersuchung nicht ein Begriff – sein Vorkommen ist nicht allein bestimmend für die Analyse –, sondern ein Diskurs im Sinne einer Menge von Aussagen, die in einer Beziehung zueinander stehen.70 Eine solche Beziehung ist gegen-
68 Dietrich Busse/Wolfgang Teubert: »Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik«, in: dies./Fritz Hermanns (Hg.), Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 10-28, hier S. 23. 69 Ebd. Vgl. zu einem ähnlichen Konzept Jürgen Links Theorem des ›schweren Signifikanten‹. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen,Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999 (1997), S. 188. 70 Vgl. zur spezifischen und ›forschungspraktischen‹ Definition des Diskurses in der Diskurssemantik D. Busse/W. Teubert: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?, S. 14-16. Insofern hier ein Begriff und seine Relationen zur Untersuchung stehen, wird mit der Verwendung des Terminus keine Diskursanalyse foucaultscher Prägung angestrebt, demnach man von der Analyse des Diskurses zu seinen Begriffen kommt und »die Vielfältigkeit der Äußerungen nicht der Kohärenz der Begriffe« unterwirft. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/Main: Suhrkamp 19957 (1969), S. 91f. Die entscheidende Frage nach den Formationsregeln des Diskurses kann damit auch nur in zweiter Instanz interessieren. Schließlich geht es darum, an welchen spezialisierten 43
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über einer begriffsgeschichtlichen Herangehensweise nicht allein durch das Vorhandensein eines Wortes gegeben. Als Kriterium der Korpuszusammenstellung gelten semantische oder rein inhaltliche71 Beziehungen zu einem Begriff. Über einen begriffsgeschichtlichen Ansatz hinaus geht es um das Auffinden von Diskursmustern, die – wendet man das Gesagte auf die vorliegende Untersuchung an – in einer direkten Suche nach dem Wort Massen(medien) unentdeckt blieben. Vielmehr werden Anschlüsse an bereits existierende Diskurse hergestellt beziehungsweise diese zur Bestimmung von Massen(medien) adaptiert. In der Folge Le Bons als sozialpsychologischer Begriff bestimmt, finden sich schon an der Stelle dieses vermeintlichen Ursprungs Anleihen an medizinische, juristische und politische Diskurse (Hypnose, Verbrechen, Führer). Gleichzeitig öffnet sich der Masse-Begriff schon zu diesem historischen Zeitpunkt für neue Anschlusspotentiale, die ihn in das Feld der Medienbeschreibungen integrierbar machen. Solche Anschlüsse legt die diskurssemantische Analyse offen. Dabei ist entscheidend, dass sich diese Anschlussmöglichkeiten nicht allein über den untersuchten Begriff erschließen, sondern eben in einem anderen Feld ausführlich behandelt werden. Mit der Eröffnung solcher Beziehungsgefüge geht allerdings auch einher, dass Begriffe nicht nur einem spezifischem Diskurssystem zuzuordnen sind. Die medizinischen, juristischen und politischen Verweise, die in der Semantik der Masse aufgehoben sind, lassen Zuordnungen prekär erscheinen. Für die Beobachtung diskursiver Elemente, die nicht einem Spezialdiskurs allein zuzuordnen sind, steht der von Link geprägte Terminus des Interdiskurses, der an Michel Foucaults Diskursbegriff anschließt.72 Die Teilhabe an verschiedenen Diskurssystemen organisiert sich nach Link weitgehend
Diskursen der Begriff der Masse teil hat. Damit soll im übrigen nicht angedeutet werden, dass von der Kohärenz eines Begriffs ausgegangen wird. 71 Das unpräzise Wort ›inhaltlich‹ meint hier die Einheit des Diskurses als Effekt der Beobachtung und darin hergestellter Zusammenhänge. 72 Vgl. »interdiskurs. kleines begriffslexikon«, in: kultuRRevolution. Themenheft: marx 100 jahre – tot? 4 (1983), S. 66. Mit dem Theorem des Interdiskurses von Jürgen Link wird natürlich gegenüber der begriffsgeschichtlichen Herangehensweise ein neuer theoretischer Bezugsrahmen eröffnet. Link (sowie auch Busse und Teubert) unternimmt aber im Gegensatz zu anderen Arbeiten hier den Versuch einer gegenseitigen Integration der beiden Theoriefelder. Vgl. Axel Drews/Ute Gerhard/Jürgen Link: »Moderne Kollektivsymbolik. Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie«, in: IASL 1. Sonderheft (1985), S. 258-375, hier S. 274f. Vgl. zu einer gemeinsamen Thematisierung von Diskursanalyse und Begriffsgeschichte Peter Schlötter: »Sozialgeschichtliches Paradigma und historische Diskursanalyse«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 159-198. 44
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über die Popularisierung von Spezialistenwissen. Dieses wird in eine allgemein zugängliche Form übersetzt, deren Funktion die Gewährleistung von Verständlichkeit ist und dabei mit den diskursiven Reglementierungen in Konflikt gerät, schlicht weil an mehreren Diskursen und damit an mehreren, sich auch widerstreitenden Diskursregeln partizipiert wird.73 Der Interdiskurs markiert einzelne Diskurse als gesellschaftlich besonders relevant und arbeitet zugleich der Differenzierung in Diskurssysteme entgegen, indem er diese reintegriert. Eine solche Unterteilung ist auf der popularisierten Ebene nicht aufrecht zu erhalten, ebenso wenig wie eine kohärente Begriffsdefinition zu ermitteln ist. Diese ist im Feld der Publikumszeitschriften, wie dem Spiegel, nicht zu gewinnen. Dort werden keine genauen Begriffsbestimmungen gefordert, sondern es findet lediglich ein unsystematisierter Wortgebrauch statt, der sich aber an Spezialdiskurse wie den der Sozialpsychologie anlehnt.74 Im Spiegel reflektiert sich ein kulturelles Allgemeinwissen um Massenmedien, das die sozialpsychologische Kategorie der Masse mitprozessiert. Darüber wird dieser Wissensbestand nicht nur popularisiert, sondern er gewinnt an sozialer Gewichtung. Die Semantik der Masse erhält in unsystematisierter Form eine Zentralstellung in Interdiskursen um die Beschreibung von Medien und Gesellschaft. Links Theorem des Interdiskurses leistet aus diskurstheoretischer Perspektive also Ähnliches wie Gumbrechts Reformulierung der historischen Semantik: Es geht darum, neue Ebenen der Beobachtung zuzuführen, um die gesellschaftsweite Verbreitung von Wissen zu reflektieren. Link und Gumbrecht fokussieren Popularisierungsprozesse, da die gesellschaftliche Gewichtung von Wissen sich auf dieser alltagsweltlichen Ebene zeigt. Diese Ebene zeichnet sich, folgt man Link wie Gumbrecht, durch mangelnde Systematisierung aus.
c) Von einem Medium zum anderen Die bisherigen Ausführungen haben einen zentralen Bereich, aus dem sich das Wissen um Massen und Massenmedien speist, noch unerwähnt gelassen – nämlich die Medienanalyse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ohne Zweifel ist der Begriff der Masse ehemals ebenso beschreibungsrelevant für Film und Hörfunk gewesen. Im Zuge der zunehmenden Verbreitung dieser beiden Medien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgt ihre Kom-
73 Jürgen Link: »noch einmal: diskurs. interdiskurs. macht«, in: kultuRRevolution. Themenheft: die macht des diskurses? 11 (1986), S. 4-7, hier S. 5f. 74 Dabei ist die Unterscheidung zwischen Spezialdiskurs und popularisierter Ebene insofern problematisch, als sich auch Experten und Wissenschaftler an der Popularisierung von Wissen beteiligen. Vgl. dazu S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen, S. 94. 45
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mentierung ebenfalls unter Rückgriff auf eine Semantik der Masse. Auch in dieser Zeit scheint mit dem Begriff ein Wissen zur Verfügung zu stehen, dem Erklärungspotential hinsichtlich der Funktions- und Wirkungsweise von Film und Hörfunk zugesprochen wird. Hugo Münsterberg als besonders prominentes Beispiel sieht im Film die Möglichkeit, die »Sehnsucht der Masse« zu befriedigen und »den Massen Unterhaltung und Vergnügen zu liefern.«75 Die Medienbeobachtung richtet sich also häufig am MasseBegriff aus und darüber wird deutlich, welche Affinität zwischen der Massen- und der Medienbeschreibung herrscht. Die anhand von Hörfunk und Film angefertigten Medienanalysen werden in den 1950er Jahren auf das Fernsehen übertragen und das so gewonnene Wissen in Form der Fernsehbeschreibungen erneut aufgerufen. Die Medientechnologie Fernsehen und der damit verbundene Diskurs markieren also den Höhepunkt einer Entwicklung, die Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzt und 1961 in der Formulierung des Wortes Massenmedium mündet. Bei diesem Prozess handelt es sich aber nicht um eine fortlaufende Akkumulation von Medientechnologien, die mit Bezug auf die Masse-Semantik erfasst werden. Das heißt, mit dem Fernsehen wird nicht einfach ein weiteres Medium unter die Massen- und Medienbeschreibung subsumiert. Stattdessen wird das im Kontext von Hörfunk und Film gewonnene Wissen in ein spezifisches Fernsehkonzept integriert und dabei reformuliert. Verschiedene Medien provozieren eine je spezifische Anwendung des Wissens um die Masse. Zugleich kommt es im Zuge dieser Reformulierung auch zu einer Neukonzeptualisierung der bestehenden Medien Hörfunk und Film. So liegt die Fernsehbeschreibung häufig in Form eines Medienvergleichs vor, der zu einer Neukonturierung des älteren Mediums führt.76 Beispielhaft lässt sich dies am Medienvergleich Fernsehen-Film verdeutlichen, der in den 1950/ 60er Jahren häufig anhand der unterschiedlichen Rezeptionsmodi durchgeführt wird. Der Film, so die Grundthese, richte sich an eine versammelte Zuschauermasse, wohingegen das Fernsehen den Einzelnen allein oder im Kreis seiner Familie adressiere.77 Die Konzeption des Kinosaals als Ort der 75 Hugo Münsterberg: »Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie« (1916), in: ders.: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie. Hrsg. v. Jörg Schweinitz, Wien: Synema 1996, S. 29-103, hier S. 34 u. 37. 76 Vgl. zur Generierung von Wissen über Medien aus dem Medienvergleich Jürgen Fohrmann: »Der Unterschied der Medien«, in: Transkriptionen 1 (2003), S. 2-7, hier S. 3. 77 Vgl. zum Beispiel K. Tetzner/G. Eckert: Fernsehen ohne Geheimnisse, S. 3840. Vgl. zur Gegenüberstellung von Film und Hörfunk unter anderem hinsichtlich des Begriffs Masse Hans Bredow: »Rundfunk und Schaubühne«, in: Schlesische Funkstunde 15 (1927), S. 1f., hier S. 1. Vgl. allgemein als Beispiel für die Thematisierung der Masse im Rahmen der Hörfunk-Debatte die Zeitschrift Funk, so zum Beispiel die Artikel von Arno Schirokauer: »Ethos des Hörspiels«, in: Funk 50 (1926), S. 433f., hier S. 433 und Lothar Band: »›Hörbilder‹ 46
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Massenansammlung entsteht aber erst aus Perspektive der Epoche des Fernsehens. In den 1910/20er Jahren wird der Begriff der Masse für die Konzeptualisierung des Films gerade insofern relevant, als mit ihm ein gesellschaftliches Phänomen verbunden wird. Horst Duenschmann beispielsweise sieht 1912 im Film kein Medium, dass eine versammelte Zuschauermasse anspreche, sondern vermassend auf die Gesellschaft wirke. In seiner Beobachtung des Zusammenhangs von Masse und Film ist die gemeinsame Rezeption im Zuschauerraum ohne Bedeutung.78 Die Vorstellung einer im Kinosaal anwesenden Masse bildet sich also erst rückwirkend in der Nachkriegszeit im Vergleich von Kino und Fernsehen. Erst dann tritt die Beobachtung in den Vordergrund, dass sich im Kino eine Masse versammele. In diesem hier beispielhaft angeführten Transfer zeigt sich, wie anhand des Fernsehens der Zusammenhang von Film und Masse neu eingerichtet wird und so Erkenntnisse der 1910/20er Jahre nicht einfach reproduziert, sondern neu fokussiert werden. Die Fernsehbeschreibungen sind zwar von einem filmischen Wissen affiziert, aber im Zuge dessen wird das Ensemble der medialen Eigenschaften unter den beiden Medien neu aufgeteilt. Diese komplexen Wechselwirkungen der Beschreibungen können aus textökonomischen Gründen hier nicht beleuchtet werden, sie würden ein eigenes Untersuchungsfeld ausmachen.79 Die Arbeit verfolgt ausschließlich den Zusammenhang zwischen einem massentheoretischen Wissen und der Fernsehbeobachtung in den 1950/60er Jahren und zwar weil sich zu diesem Zeitpunkt der Begriff des Massenmediums formiert und damit der Höhepunkt der Entwicklung erreicht ist.80 aus dem Leben. Das aktuelle Ereignis vor dem Mikrophon – Der fehlende Rundfunkreporter«, in: Funk 24 (1927), S. 185f., hier S. 185. Und Arnold Zweig (»Ästhetik des Rundfunks«, in: Funk 51 (1927), 423f., hier 423) äußert sich ablehnend gegenüber der Beobachtung des Hörfunks mit Blick auf pejorative Vorstellungen von der Masse. 78 Vgl. Horst Duenschmann: »Kinematograph und Psychologie der Volksmenge. Eine sozialpsychologische Studie«, in: Konservative Monatsschrift 9 (1912), S. 920-930. Siehe bezüglich einer ähnlichen Argumentation hinsichtlich des Zusammenhanges von Masse und Film Rudolf Arnheim: »Das Kino und die Masse« (1949), in: montage/av 9 (2000), S. 47-54, S. 50: »[D]ie Träume des Dienstmädchens […] werden nur vom Kino befriedigt. Nachdem es zur Industrie geworden ist und dasselbe Produkt Millionen von Verbrauchern zur Verfügung stellt, bringt das Kino, wie alle Industrien, eine starke Nivellierung hervor.« 79 Vgl. zu einem Vergleich der Hörfunk- und Fernsehdebatten Clas Dammann: Stimme aus dem Äther – Fenster zur Welt. Die Anfänge von Radio und Fernsehen in Deutschland, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005. Vgl. zur Massentheorie in der frühen ›Medientheorie‹ Albert Kümmel/Petra Löffler: »Nachwort«, in: dies. (Hg.), Medientheorie 1888-1933, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 537-559, hier S. 539-544 u. 548. 80 Vgl. hierbei im Besonderen das Kapitel ›Massenkommunikation‹. 47
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Dieser Höhepunkt geht mit einer gegenläufigen Bewegung der Filmund Hörfunkbeschreibung einher, denn zunehmend verliert sich die Konturierung dieser Medien mit Bezugnahme auf die Masse-Semantik. Hörfunk und Film werden in den 1950er Jahren in immer geringem Umfang im publizistischen Feld als Medien der Masse wahrgenommen. Nach und nach geschieht ihre Beschreibung in der Nachkriegszeit unabhängig vom Aspekt der Masse. Der Masse-Begriff findet sich 1959 im Spiegel lediglich einmal im Kontext der beiden Medien und zwar als Inhaltsangabe eines ScienceFiction-Hörspiels: »So spielt [...] das [...] Hörspiel [...] in einer utopischen Diktatur, die sich zur Beeinflussung der Massen der auf das Unterbewußtsein gezielten Werbung bedient.« Die »politischen Parolen«, so der Text weiter, werden »raffiniert in die Fernsehprogramme eingeblendet [...].«81 Das heißt, auch in diesem Fall geht es eigentlich um eine Kommentierung des Fernsehens, dieses Mal im Rahmen des Inhalts eines Hörfunk-Stückes. Der Begriff der Masse erscheint hier lediglich im Zusammenhang mit dem Hörfunk, da das rezensierte Hörspiel sich mit dem Fernsehen auseinander setzt. Damit beobachtet auch das Medium Hörfunk das Medium Fernsehen unter der Maßgabe Masse. Somit ist die ehemals häufig aufgerufene Semantik der Masse in den 1950er Jahren der Fernsehbeschreibung vorbehalten. Doch in diesen Fernsehbeschreibungen der 1950er Jahre scheint anfänglich die eigene und aktuelle Medienwirklichkeit aus dem Blick zu geraten. Die frühzeitigen Explikationen zum Fernsehen mit Rekurs auf Massenvorstellungen können zunächst lediglich eine Vision transportieren, deren Referent noch fehlt.82 Die Idee des Intendanten Werner Pleister aus dem Jahr 1951, es handele sich beim Fernsehen um ein »Massenmittel«83, steht in keinem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu diesem frühen Zeitpunkt der Fernsehentwicklung: In diesem Jahr wird noch nicht einmal ein regelmäßiges und öffentliches Programm gesendet. Ein Massenmedium ohne Zuschauermassen also, dessen Versuchssendungen allein einem 81 Anonymus: »Verbrechen im Weltraum. Science Fiction«, in: Der Spiegel 47 (1959), S. 91f., hier S. 92. Aus arbeitsökonomischen Gründen konnte keine gleichermaßen genaue Studie der Worthäufigkeit von Massenmedium im Kontext der Thematisierung von anderen Einzelmedien vorgenommen werden. Exemplarisch wurde dies anhand der Einzelmedien Film und Hörfunk (im Spiegel-Index Rundfunk genannt) und deren diskursiver Bearbeitung im Spiegel 1959 vorgenommen. Das Jahr 1959 wurde gewählt, um die mögliche Gegenthese, dass das Wort Massenmedium sich bereits vor 1961 anhand anderer Medien etabliert und von dort aus auf das Fernsehen übertragen wird, auszuschließen. Demnach müsste es sich 1959 in Artikeln zu Film oder Hörfunk finden. 82 Die Quellenlage zur Mediennutzung in den 1950er Jahren ist ungenügend, wie Michael Meyen: Hauptsache Unterhaltung: Mediennutzung und Medienbewertung in Deutschland in den 50er Jahren, Münster: LIT 2001, S. 161-181 herausarbeitet. 83 W. Pleister: Fernsehen heißt: ins Innere sehen, S. 2. 48
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ausgesuchten Kreis von Technikern und designierten Programmverantwortlichen zugänglich sind.84 Als Bezugspunkt kann zu Beginn der 1950er Jahre allein eine Beobachtung der US-amerikanischen Medienentwicklung ausgemacht werden, die die Basis sowohl für die Verwendung des Begriffs als auch für die Prognosen kommender deutscher Zuschauermassen darstellt. Der Blick Richtung Westen liefert dabei ein Bild der eigenen gesellschaftlichen (Medien-)Zukunft, die zu diesem Zeitpunkt in Form ihrer Beschreibungen festgelegt wird.85 Die bundesrepublikanische Medien- und Gesellschaftsanalyse der 1950er Jahre generiert sich auch aus der Beobachtung anderer Gesellschafts- und Mediensysteme. Die Masse erscheint auf diesem Wege auch unabhängig von der Zuschauerzahl als ein Phänomen des Mediums Fernsehen. Die zahllosen Masse-Komposita enthüllen die frühzeitig herrschende Vorstellung eines Massenmediums. Die Beschreibungen des Fernsehens sind in einer Vielzahl von Texten in der frühen Nachkriegszeit vom Einzel- oder Teilbegriff Masse geprägt und kulminieren in der Etablierung des Wortes Massenmedium im allgemeinen Sprachgebrauch.86 Zusammengefasst: Durch die Verwendung des seit dem späten 19. Jahrhundert in der Sozialpsychologie entwickelten Begriffs, der in der Regel der Benennung einer Gesellschaftsform dient, wird diskursiv ein Zusammenhang von Gesellschaft und Medien etabliert. Zum einen erscheint das Fernsehen in diesem Kontext als Statusanzeige des gesellschaftlichen Zustands. Zum anderen wird dieser Zustand als ein Medieneffekt beschrieben. Die die Untersuchung leitende Frage lautet also, welche Gesellschafts- und Medienbeschreibung im Wort Massenmedium kondensiert.
84 Damit entspricht die Fernseh-Situation der 1950er Jahre der der Schriftkultur um 1800, in der sich Vorstellungen von gesellschaftsweiten Effekten durch Lesen entwickeln, die die soziale Realität weit übersteigen, insofern aufgrund mangelnder Lesekompetenz und weiterer Faktoren lediglich ein geringer Anteil der deutschen Bevölkerung Zugang zu Druckerzeugnissen hatte. Vgl. zur Diskursivierung der Ängste um 1800 Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink 2003 (1999), S. 398-405; Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 335-338; Dominik von König: »Lesesucht und Lesewut«, in: Herbert G. Göpfert (Hg.), Buch und Leser. Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens 1976, Hamburg: Hauswedell 1977, S. 89-124. Vgl. auch Horst Wenzel: »Vom Anfang und vom Ende der Gutenberg-Galaxis«, in: Lutz Musner/Gotthrart Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien: WUV 2002, S. 339-355, hier S. 351 85 Vgl. W. von Einsiedel: Die Welt als Puppenbühne, S. 374. Vgl. auch Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 62. 86 Vgl. das Kapitel 1961. 49
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Diese Frage stellt sich in zwei Richtungen: Zum einen welches Beschreibungspotential eine bestehende Semantik der Masse für Medienbeobachtungen entfaltet, zum anderen inwiefern Masse überhaupt in Abhängigkeit von Medien gedacht wird. Einerseits sind also die Medienbeschreibungen der 1950er und 60er Jahre dahingehend zu untersuchen, wie sie an das Theorem der Masse anschließen. Andererseits ist die Masse-Semantik hinsichtlich ihrer impliziten Annahmen über Medienaktivitäten zu befragen. Beide Größen – Masse und Medium – sind wechselseitig aufeinander verwiesen und stabilisieren sich gegenseitig, indem sie explikativ füreinander sind. Der Masse-Begriff ist eine Erläuterungsvokabel im Kontext von Medienbeobachtungen und Medien verhelfen dem soziologischen Konstrukt Masse zu Evidenz.
6 Virtuelle Medien und evidente Massen Die Frage nach den Bedeutungsgehalten der Masse-Semantik, welche als Medienanalyse umformuliert fortbestehen, lässt sich auch mit Hilfe der Medium/Form-Unterscheidung, wie Niklas Luhmann sie entwirft, perspektivieren. Eine Orientiertierung an dieser Unterscheidung bedeutet, dass Masse und Medium zwei Formen eines Mediums sind.87 Die Formbildungen sind jeweils Beschreibungsmodi, die in der Zeit variieren können, während die Medienseite stabil ist. Das mediale Substrat bleibt erhalten und die Formen sind veränderlich. Es findet also ein Shift in der Formbildung statt oder – um Luhmanns Beschreibung der Medium/Form-Unterscheidung aufzugreifen – es kommt zu immer neuen strikten Kopplungen. Dem Medium als lose Konsistenz von Elementen steht die feste Verbindung der Form gegenüber, die immer neu emergiert, denn »Kopplung ist ein Begriff, der Zeit impliziert. Man müßte von Koppeln und Entkoppeln sprechen – von einer nur momentanen Integration, die Form gibt, sich aber wieder auflösen läßt. Das Medium wird gebunden – und wieder freigegeben. [...] Im Hinblick auf dies laufende Binden und Lösen des Mediums kann man auch sagen, daß das Medium im System ›zirkuliere‹.«88
87 Die Referenz auf Luhmanns Medium/Form-Unterscheidung bedeutet die Verwendung zweier Medienbegriffe im vorliegenden Zusammenhang: Einmal geht es um einen Medien-Begriff im Rahmen der Medium/Form-Differenz und einmal um einen Medien-Begriff, wie er als Beobachtungsgröße im Kontext der Medienbeschreibung der 1950/60er Jahre vorliegt. Letztere ist die Formbildung des Mediums in der Medium/Form-Unterscheidung. 88 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 199. Vgl. auch ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 19982 (1997), S. 171. 50
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Und zwar als Formbildung. Der Faktor Zeit ist dabei entscheidend, insofern er eine Varianz der fixen Verbindungen bedeutet. Eine sukzessive Formwandlung im Medium findet statt. Dies bedeutet auch, dass die Formbildungen nur »akzidentell« sind, denn »keine von ihnen drückt das ›Wesen‹ des Mediums aus.«89 Formen produzieren also Eigenschaften, die dem Medium nur zufällig zukommen. Gleichzeitig ist das Medium allein als Formbildung sichtbar und nur als solche beobachtbar. Es selber bleibt unsichtbar und stellt – in den Worten des Systemtheoretikers Peter Fuchs – eine »Hintergrundaktivität«90 dar, die sich allein durch die Formbildungen zeigt. Die Formbildungen stellen im vorliegenden Fall die Beschreibungen der Masse und die der Medien dar, die jeweils verschiedenartige Aktualisierungen eines Mediums beziehungsweise einer spezifischen Semantik sind, die nur in Form der jeweiligen Beschreibungen zur Anschauung kommt und zu beobachten ist. Diese Beschreibungen geben der im Hintergrund tätigen Semantik eine Form. Anders gesagt: Eine Semantik, die als Massentheorie eine strikte Kopplung eingeht, erhält mit der Beobachtung von Medien ein neues Kopplungsgefüge, das sich der Elemente des gleichen Mediums wie der Massenbeschreibung bedient.91 Sinn ist das »Supermedium«92, das heißt das nicht überschreitbare oder hintergehbare Medium der (Sinn)systeme Bewusstsein und Gesellschaft, die sich darin realisieren. Seine Unterscheidung aktuell/potentiell stellt die Grundlage allen Operierens und Beobachtens dar und »hält ›andeutungsweise‹ die ganze Welt zugänglich [...].«93 In Form der realisierten Möglichkeiten ist ein Horizont beziehungsweise ein Reich des Möglichen gegebenen. Welt meint dabei einen Möglichkeitshorizont, der allein in seinen Aktualisierungen, also als spezifische Form, gegeben ist. Das Aktualisieren heißt zwar immer die Realisation eines Spezifischen, aber zugleich wird die Anschließbarkeit an weitere Möglichkeiten eröffnet und erhalten, die als Verweisungsüberschuss darin enthalten sind. In der Aktualisierung werden also nicht nur andere Möglichkeiten ausgeschlossen, sondern diese erscheinen gleichzeitig erst darin und laufen im Hintergrund mit. Kommunikation re-
89 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 169. 90 Peter Fuchs: »Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?«, in: ders./Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 15-39, hier S. 23. 91 Vgl. N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 172. 92 Der Begriff ›Supermedium‹ wurde von Dirk Baecker geprägt. Vgl. P. Fuchs: Der Mensch – das Medium der Gesellschaft, S. 26. 93 Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993 (1980), S. 35; vgl. ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 44 u. 58; sowie ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 19945 (1984), S. 97 u. 110. 51
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produziert somit neue Möglichkeiten und schafft Anschlussfähigkeit für neue Operationen.94 Eine solche Definition von Sinn macht den Übergang von einer Massenzu einer Medientheorie erklärbar. Definiert als Möglichkeitsrepertoire, das in je verschiedenen Aktualisierungen vorliegt, verhilft das Luhmannsche Konzept des Sinns zu Einsichten in die Umstellung von Masse auf Medien. Aktualisierungen in Form der Beschreibung von Masse halten gerade die Möglichkeit des Redens über Medien bereit. Indem ein spezifisches Theorem der Masse realisiert wird, entwickelt sich das Potential einer Idee von Verbreitungsmedien; anders gesagt, Medientheorie ist als Möglichkeitshintergrund Bestandteil der Diskursivierungen von Masse. Die über die Masse produzierten Aussagen verfügen über medientheoretisch verwendbare Elemente und diese Elemente sind konstitutiv für das, was als Medientheorie erscheint. Die gegebenen massentheoretischen Realisationen halten Anschlusspotentiale bereit, deren Aufgreifen die Entwicklung einer (eigens identifizierbaren) Medientheorie ›anstößt‹. Die Aktualisierung in Form der Massentheorie führt zur Virtualisierung der Idee von medientechnischen Apparaten, die als Möglichkeit in den massentheoretischen Äußerungen mit reproduziert wird und ebenfalls zur Aktualisierung kommen kann, beziehungsweise – so die hier vertretene These – in Form des Wortes Massenmedium auch kommt. Das Wort Massenmedium dient also als Indiz dafür, dass medientheoretisches Gedankengut an Überlegungen zum vermeintlichen Phänomen der Masse anschließt. Indem mit der Bezeichnung Massenmedium die Adressierbarkeit der sogenannten Masse durch technische Apparaturen impliziert wird, wird offensichtlich, dass die Vorstellungen von Medien auf massentheoretische Überlegungen Bezug nehmen. Die Theoretisierung von Masse enthält als Verweisungsüberschuss die Beschreibung von Medientechniken, die in einer Folgeoperation realisiert wird.95 Dabei sind die Medienbeschreibungen allein virtuell gegeben, bis sie eigens zur Realisation kommen, das heißt sie stehen potentiell als mögliche Anschlussoperation bereit. So entstehen – beschrieben als Medium/Form-Unterscheidung – neue feste Kopplungen, die als Medientheorie anschreibbar sind. Diese neuen Kopplungen sind Formbildungen aus dem medialen Substrat, das in Form der Massentheorie vorliegt. Aus der Massentheorie wird also Medienwissen generiert. Die Masse-Semantik stellt jenes mediale Substrat bereit, aus dem die Medienbeobachtung emergiert. Die Massen- und Medientheorie sind al-
94 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 100f.; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 48-50 u. 199; ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, S. 18. 95 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 55. 52
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so zwei Formbildungen eines Mediums beziehungsweise – in anderen Worten – einer diskursiven Formation. Jedoch sind die Elemente der Massenbeschreibungen, die in einer Folgeoperation in ein medientheoretisches Wissen überführt werden, auch und zunächst einmal Bestandteil der Massentheorien. Wissen um Medien beruht zu einem weiten Teil auf Wissen um Massenprozesse, aus dem es gewonnen wird, weil es bereits in Form von Massentheorien vorliegt. Die Anschließbarkeit des Mediendiskurses an Überlegungen zur Masse ergibt sich daraus, dass die Sozialpsychologie der Masse die Medientätigkeiten in ihre Konzepte integriert. Medien kommen darin in vielfältiger Weise seit Le Bon vor und übernehmen eine konstituierende Funktion. Massentheoretische Überlegungen sind auf Medienbeschreibungen angewiesen, die dann in späteren Operationen als Medientheorie erscheinen. In Form der Massenkonzepte treten sie zwar nicht als Medienbeobachtungen auf und sind als solche nur virtuell gegeben, aber sie sind im Rahmen der Massentheorie tragend. Die Vorstellungen von Masse sind immer schon verwiesen auf eine Idee von Medientätigkeit, die im Anschluss als eigenes Beobachtungsobjekt in Erscheinung tritt. Die massentheoretischen Texte sind zwar nicht an einer Beobachtung von Medientechniken ausgerichtet, aber das, was in der Folge unter dem Begriff des Massenmediums subsumiert wird, ist dennoch argumentativer Bestandteil davon. Um den Masse-Begriff zu klären, werden Vorstellungen von Medien formuliert, beziehungsweise mit dem Wort Massenmedium sind Konzepte angesprochen, die in einer Masse-Semantik vorliegen und darin konstitutiv sind. Die Konzeption von Medien geschieht also auf der Basis einer Masse-Semantik, aber umgekehrt ist diese Semantik schon auf rudimentäre Ideen von Medien verwiesen. Masse-Semantik produziert Medien-Semantik und dies, da sie sie selber schon formuliert. Was dann in der Folge als (Massen)medien anschreibbar ist, ist auf der Grundlage von Überlegungen zur Masse formuliert. Vorstellungen von Massenmedien entwickeln sich also nicht einfach anhand eines Objektes, das von Ingenieuren an die Gesellschaft geliefert wird, sondern wird aus soziologischen Theoremen gewonnen. Im Rahmen der Masse-Semantik entwickeln sich Ideen, die zu einer (wenn auch zum Teil vagen) Definition von Massenmedien führen.96 Wie diese Umstellung von Massen- auf Medientheorie funktioniert, ist mit Luhmanns Konzeption von Semantik genauer zu fassen. Semantik nach Luhmann meint eine Menge von Formen, die die implizierte Fülle des Sinns regelt.97 Es geht also um die Reduktion von Komplexität durch Strukturen: 96 Unabhängig von einer systemtheoretischen oder begriffsgeschichtlichen Herangehensweise ist dies auch die Ausgangsüberlegung von W. Joußens: Massen und Kommunikation, S. 8. 97 Luhmann spricht von »Sinnverarbeitungsregeln«. N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, S. 19. 53
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Wie gesagt, existiert Sinn nur in Form seiner Aktualisierungen, womit ein Möglichkeitshorizont geschaffen wird, der zur erneuten Realisation beziehungsweise Selektion zwingt. Semantik übernimmt dabei die Funktion, die Selektionsmöglichkeiten einzuschränken, weshalb Fuchs von Semantik auch als Gesamtheit von Limitativen spricht. Der Term des Limitativ hebt die kommunikationslimitierende Funktion von semantischen Beständen hervor. Er besagt, dass sich eben einige Kommunikationen leichter realisieren lassen beziehungsweise genauer gesagt, dass gewisse Operationen eher anschlussfähig sind als andere. Damit einher geht die Steigerung der Erwartbarkeit bestimmter Selektionen.98 Dabei bietet die Semantik Konstanz gegenüber den punktuellen Realisationen einzelner Kommunikationen, sie ist also auf Dauer gestellt. Gleichzeitig ist sie wiederum nur in diesen einzelnen Kommunikationen gegeben. Doch auch wenn Semantik eine dauerhafte (bewahrenswerte) Form des Mediums Sinn darstellt, »bleibt freie Kapazität des medialen Substrats zu immer neuen Kopplungen erhalten.«99 Neue Formbildungen, wie oben beschrieben, bleiben also auch in dieser eingeschränkten Weise anwählbar, das heißt, Semantiken sind veränderlich. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert aber weniger das Konzept der Semantik im allgemeinen, als vielmehr eine spezifische Form davon, die Luhmann ›gepflegte Semantik‹ oder ›Ideenevolution‹ nennt und vor allem in einer vertexteten Version gegeben ist. Während die Semantik als allgemeine Sinnverarbeitungsregel alle sprachlichen Äußerungen miterfasst, geht es bei der gepflegten Semantik um jenen Ausschnitt, der durch Archivfunktionen gehegt wird, um dann zum stabilen Ausgangspunkt der von Luhmann häufig anzitierten Ideenevolution zu werden.100 Dabei markiert die Schrift den entscheidenden Faktor zur Ausprägung der Semantik und der Archivierung der ›Ideen‹.101 Schrift garantiert ebenso Formen dauerhaft zu fixieren, wie es 98
Vgl. P. Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 86-88; N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, S. 21-24 u. 35; sowie ders.: Soziale Systeme, S. 382 u. 386. Hierbei steht Luhmanns Begriff der ›Autopoiesis‹, dessen Erläuterung in diesem Zusammenhang aber ausgespart bleibt, im Hintergrund. 99 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 200; vgl. auch ebd, S. 539. 100 Vgl. ebd., S. 18f. 101 Vgl. ebd., S. 540. An den Begriff der gepflegten Semantik knüpft Luhmann auch eine Kritik an der begriffsgeschichtlichen Forschung, die der Gumbrechts ähnlich ist, insofern beide sich mit der Auswahl des zu untersuchenden Korpus’ auseinandersetzen. Beide weisen auf den Ausschluss alltagssprachlicher Kommunikation aus den Untersuchungen der Begriffsgeschichte hin und formulieren das Problem, dass solche »Hochformen der Semantik« immer nur einen Ausschnitt reflektieren, dessen »Rückbeziehbarkeiten in den Alltag des gesellschaftlichen Lebens« mit bedacht werden muss. N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, S. 20. Bei Gumbrecht führt dies zu einem konkreten Arbeitsprogramm, das diesen Ausschluss ver54
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Varianz neu einführt, indem man unter anderem »im Gedruckten latente Potentialitäten entdecken und aktualisieren«102 kann. Die dauerhafte Aktualisierung oder genauer: Re-Aktualisierbarkeit eines Textes bietet gerade (durch verschiedene Kontexte) einen immer neuen Möglichkeitshorizont, womit erneut beschrieben ist, wie sich Medienvorstellungen in Massentheorien realisieren oder einschreiben können. Eine Textform bietet die Freiheit einer Vielzahl von Lektürepotentialen in der Zeit. Medienbeobachtungen können so im Akt der Interpretation erkannt werden – beziehungsweise ebenso ignoriert werden.103 Beispielhaft ist hierfür die eben vorgestellte Le Bon-Lektüre von de Man, der die Möglichkeit vergisst, dass es sich bei der Psychologie der Massen um eine Gesellschaftsanalyse handelt. Beispielhaft dafür ist auch die Ignoranz in der Nachkriegszeit gegenüber den rassentheoretischen Explikationen, die sich in Le Bons Massenpsychologie finden.104 Eine Form dieses Lektüreverfahrens heißt im Wissenschaftssystem Kommentar. Jürgen Fohrmann beschreibt mit Hilfe der Diskurstheorie nach Foucault das Verhältnis von Kommentar und kommentiertem Text in der Literaturwissenschaft. »Es handelt sich«, nach Fohrmann, beim Kommentar »um den allgemeinen Vorgang der Bedeutungszuweisung [...].«105 Es geht also zunächst einmal darum, den Ausgangstext mit gewissen Zurechnungen zu versehen. Das heißt in den Worten Luhmanns, Potentiale des Textes in Form des Kommentars zu manifestieren, zu aktualisieren. Das heißt auch, das Aktualisierte aus dem Bereich des Möglichen zu heben und so in die
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mindern helfen soll, indem der Textkorpus gegenüber den Geschichtlichen Grundbegriffen erweitert wird und zwar genau hinsichtlich solcher Texte, die zwar nicht gleichermaßen auf Dauer gestellt sind, wie die Texte des ›Höhenkamms‹, aber dafür stärkere Verbreitung finden. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 544; vgl. ebd., S. 258 u. 545. Mit dem Begriff des Textes ist eine komplexe Kategorie eingeführt, die entsprechend umfangreich reflektiert und theoretisiert wurde, was hier nicht Thema sein kann. Im vorliegenden Zusammenhang ist entscheidend, dass die Textform eine relative Stabilität in die Kommunikation einführt, das heißt, der Text ist stabil gegenüber den alltäglichen beziehungsweise mündlichen Sprechakten. Dennoch ist auch er Verschiebungen in der Zeit ausgesetzt. Jede Lektüre, also Kommunikation über den Text, produziert Varianz. Gleichzeitig aktualisiert die Lektüre den Text, das heißt, er ist als Kommunikation nur in der Lektüre existent. Vgl. dazu auch Wolfgang Ludwig Schneiders Luhmann-Lektüre und seinen Abgleich des hermeneutischen Verfahrens mit der Systemtheorie. Wolfgang Ludwig Schneider: »Objektive Hermeneutik als Forschungsmethode der Systemtheorie«, in: Soziale Systeme 1 (1995), S. 129-152, hier S. 134f. Vgl. z.B. das Kapitel Die Rasse bei G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 62f. Vgl. auch das Kapitel Le Bons Medien in dieser Arbeit. Jürgen Fohrmann: »Der Kommentar als diskursive Einheit der Wissenschaft«, in: ders./Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 244-257, hier S. 247. 55
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Kommunikation einzuführen. Der Kommentar ist die Anschlussoperation, die Lektürepotentiale festschreibt. Jedoch ist das Kommentierte nicht ohne den Kommentar beziehungsweise ohne die Zurechnungen zugänglich, also nicht Teil der Kommunikation. Latentes wird hier aktualisiert (und nicht einfach Verborgenes offengelegt). Was im Kommentar als dem Ausgangstext zugehörig ausgewiesen wird, ist insofern Effekt des Kommentars, als es erst durch ihn aufgerufen wird. Damit, so schreibt Fohrmann mit Bezug auf die Literaturwissenschaft, »stehen Kommentare nicht hinter, sondern vor den literarischen Texten; es gibt dann keinen schon feststehenden poetischen Gegenstandsbereich, den es ex post zu gliedern, zu erklären, zu vermitteln gilt, sondern in der Arbeit der Kommentare wird das zu bearbeitende Objekt zugleich erzeugt. Nicht die literarischen Texte, sondern die anderen Kommentare des Wissenschaftssystems und damit eine wechselnde Matrix je eigentümlicher Verfahren organisieren die Produktion jedes neuen Kommentars. Insofern liegt der Kommentar vor den literarischen Texten. Denn das, was er einzuholen vorgibt, jedoch durch seine Bearbeitung erst kommunikabel macht, ist nie das ›eigentliche‹ poetische Produkt [...], sondern eine bestimmte Kombination diskursiver Zuschreibungen, die das poetische Produkt in seinem wissenschaftlichen So-Sein erst begründet.«106
Fohrmann weist aus diskurstheoretischer Sicht darauf hin, dass die Interpretation ihren Gegenstand erst im eigenen Vollzug schafft. Dabei kommt es zu neuen Anschlüssen, spezifischen Aktualisierungen, sowie ehemals Aktualisiertes in den Bereich der Latenz verschoben wird. Solcher Variationsreichtum in der Lektüre tritt als wissenschaftliches Verfahren der Hermeneutik auf. Verschiedene Leser aktivieren verschiedene Kontexte und heben auf je unterschiedliche Details ab. Dieser Prozess der Aktualisierung geschieht aber nicht nur im Kontext von Hochkultur und Wissenschaft. Ein solches Verfahren setzt auch auf einer eher popularisierten (und weniger reflektierten) Ebene an. Ein Wissen um Masse, wie es in diversen, nicht wissenschaftlichen Texten Verbreitung findet, wird dann ebenfalls durch Hervorhebung verschiedener Elemente je neu geformt. Einige besonders anschlussfähige Details persistieren und andere geraten in Vergessenheit, jedoch ohne es eigens als Interpretationsverfahren auszustellen. Jenseits von Verfahren der Hermeneutik kommt es zu Ausschlüssen und Aktualisierungen.
106 Ebd., S. 248. 56
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7 Evidenzstrategien und Plausibilisierungsverfahren So produzieren Semantikverschiebungen neue Lektüreformen eines dauerhaft fixierten Textes. Das heißt, wenn einmal von Masse auf Medium (im Sinne von Verbreitungsmedien) übergegangen wurde, können die im weitesten Sinne soziologischen Texte, die sich primär dem Thema Masse zuwenden, unter der Perspektive Medium neu eingelesen werden. Gleichzeitig sind diese Verschiebungen selber das Resultat der Aktualisierungen der Semantik, wie sie sich in Texten findet. Einzelne Texte stellen also Formbildungen der Semantik dar und wirken in ihrer Aktualisierung auf diese Semantik. Luhmann selber argumentiert anders, indem er auf die Anschließbarkeit von Formen abhebt: Demnach wird Latentes entdeckt, »wenn [...] Situationen einen instrumentellen Gebrauch solcher Innovationen nahelegen.«107 Das heißt, Verschiebungen sind nicht, wie bei Fuchs, der ›Hintergrundaktivität‹ des Mediums geschuldet, sondern der operativen Anschließbarkeit des Textes. Die Textauslegung geschieht in Anpassung an die Sozialstruktur. Diese gibt vor, welche semantischen Potentiale in Erscheinung treten, beziehungsweise die Bildung fester semantischer Kopplungen geschieht mit Bezug auf die sozialstrukturelle Ebene. Hier setzt eine Kritik Urs Stähelis an Luhmanns Semantikkonzeption ein. Sie bezieht sich auf Luhmanns Theoretisierung des Verhältnisses von Semantik und Gesellschaftsstruktur, das Stäheli als asymmetrisch beschreibt, denn Luhmann halte »an der begriffsgeschichtlichen Fragestellung fest, die Semantik als Verarbeitungsform sozialstruktureller Veränderungen analysiert.«108 Zwar seien mit Gesellschaftsstruktur und Semantik »nicht zwei ontologisch zu unterscheidende Sphären«109 bezeichnet, aber die Semantik erschöpfe sich dessen ungeachtet in einer Dokumentation der sozialstrukturellen Ebene. Eine semantische Eigenständigkeit gegenüber den Strukturen des Systems ist so nur sehr begrenzt denkbar. Die Problematik des Verhältnisses von Sozialstruktur und Semantik ergibt sich nach Stäheli vor allem aus Luhmanns Plausibilitäts- und Evidenzkonzept, denn »Evidenz wird aus dem Ausdruckswert von semantischen Formen gewonnen und nicht durch die innere Struktur und Organisation von Semantik.«110 Evidenz nach Luhmann markiert den ›Ausschluss von Alternativen‹ und Plausibilität ist gegeben, wenn weitere Begründungen ausfallen
107 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 544. 108 Urs Stäheli: »Die Nachträglichkeit der Semantik. Zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik«, in: Soziale Systeme 2 (1998), S. 315-339, hier S. 319. 109 Ebd., S. 318. 110 Ebd., S. 320. 57
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können, da eine Idee ›unmittelbar einleuchtet‹, weil sie einen ›Realitätsindex‹ vermittelt. Über solche Kriterien kann Semantik als ›adäquat‹ gegenüber der Gesellschaftsstruktur beschrieben werden und wird ihr damit nachgeordnet, sie ist ihr linear nachträglich.111 Semantik wird mit Vorstellungen von Beschreibungsrelevanz versehen, das heißt grundsätzlich in Bezug auf soziale Strukturen beschrieben. Dies gilt auch für solche begrifflichen Entwicklungen, die Luhmann als ›preadaptive advance‹ benennt. Damit ist zwar eine unabhängige Begriffsentwicklung gemeint, aber diese nimmt gesellschaftsstrukturelle Vorgänge nur vorweg, so dass sich Adäquanz im nach hinein einstellt.112 Stäehlis Kritik an dem Modell zeigt, dass es »letztlich der Figur der Anpassung verpflichtet [bleibt], für die noch ungedeckte semantische Formen nur deshalb von Interesse sind, weil sie in Zukunft an die Gesellschaftsstruktur angepaßt sein werden.«113 Auch das Konzept des preadaptive advance beschränkt Begriffe auf ihre dokumentarische Funktion und besagt, dass die Masse-Semantik in den 1950er Jahren deshalb aufgerufen würde, weil sie beschreibungsadäquat für gesellschaftliche Prozesse und mediale Strukturen sei, wie sie sich anhand des Fernsehens zeigten. Das Wort Massenmedium fände Verwendung, weil es Aussagen über die Sozialstruktur produzierte. Stäheli stellt einer solchen Idee von Beschreibungsadäquanz ein Alternativkonzept entgegen, das eben auch die Semantik als konstituierenden Faktor der sozialstrukturellen Operationen versteht. Während sich nach Luhmann Semantik in einem Nachträglichkeitsverhältnis zur Gesellschaftsstruktur befindet, da sie diese nur im nach hinein verarbeitet, geht Stäheli von einer ›Konstitutiven Nachträglichkeit‹ aus. Dieser psychoanalytisch geprägte Term etabliert ein Semantikmodell, das Begriffe wieder als geschichtliche Faktoren begreifen kann, denn »Kommunikation konstituiert sich rückwirkend über ihre Beobachtung als ein Herantragen einer Beobachtungsunterscheidung an eine Operation. Die Operation ist nur ›postobservativ‹ feststellbar; ihr ›Geschehen-sein‹ wird im Nachhinein als Ursprung erzeugt.«114
Was als Operation zu beobachten ist, wird somit erst in der Beobachtung performativ hergestellt. Medienbeobachtungen können so als Effekt von Semantik ausgewiesen werden. Dass Medien als Beobachtungsobjekt in Erscheinung treten, ist ei111 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 548f. und U. Stäheli: Die Nachträglichkeit der Semantik, S. 321. 112 Vgl. U. Stäheli: Die Nachträglichkeit der Semantik, S. 320. 113 Ebd., S. 320. 114 Ebd., S. 329. 58
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ner spezifischen Semantik geschuldet, die als Möglichkeitshorizont die Rede über Medien bereithält. Und was an das Beobachtungsobjekt Medien herangetragen wird, ist ein Wissen, das massentheoretisch informiert, ja grundiert ist. Die Massentheorie formuliert eine Semantik, die in der Folge als Medienbeobachtung ausgeflaggt werden kann. Vorstellungen, wie sie sich in der Rede von der Masse finden, sind semantische Artefakte, die neue Beobachtungen ermöglichen. Insofern Sinn nur als Aktualisierung gegeben ist, ist das mit dem Begriff Massenmedium beschriebene und fixierte Fernsehen als bereits aktualisierte Masse-Semantik vorstellig. Was also als Massenmedien erscheint, ist eine Beobachtungsleistung, die durch die Masse-Semantik ermöglicht wird. Sie produziert das Objekt einer Beobachtung, die Medientheorie heißt. Die Formbildung der Medien (wie sie sich auf sozialstruktureller Ebene zeigen) ist damit durch massentheoretische Überlegungen geprägt. Und weiterhin: Dass das Fernsehen in den 1950er Jahren als Objekt der Beobachtung im gesellschaftlichen Feld erscheint, ist einer bereits geprägten und formulierten Semantik geschuldet, die entsprechende Strukturen zur Anschließbarkeit des Fernsehens an den Diskurs bereitstellt. Potentielle Medienbeobachtungen liegen in Form der Masse-Semantik vor und produzieren so die Möglichkeit über das Fernsehen zu sprechen. Massenkonzepte stellen die Basis, um das neue Beobachtungsobjekt auf dem Monitor der gesellschaftlichen Wahrnehmung erscheinen zu lassen. Dass das Fernsehen ein Effekt der Beobachtungsleistung ist, manifestiert sich in dem beschleunigten Auftauchen der Medienkritik am Fernsehen. Das Medium ist bereits vor seiner Verbreitung einem kultur- und massenkritischem Vorwurf ausgesetzt. Es tritt zu einem Zeitpunkt als Angstobjekt auf, an dem dies nur in Form eines Zukunftsszenarios möglich ist. Dabei werden Beobachtungen anhand eines in der Bundesrepublik kaum vorhandenen Objekts vorgenommen. Die Zuschauermassen existieren in vertexteter Form bereits vor der Ausstrahlung eines regelmäßigen Programms. Stähelis Konzeption einer Autonomisierung der Ebene der Begriffe führt zu der Notwendigkeit der Reformulierung der Kategorien Evidenz und Plausibilität, die nun nicht mehr als ›Realitätsindex‹ definiert werden können.115 Die mit den Kategorien verbundene Unmittelbarkeit des Einsehens in die Angemessenheit von Begrifflichkeiten kann im Rahmen der Konstitutiven Nachträglichkeit nicht, wie bei Luhmann, durch ein Außen der Semantik evoziert werden. Ein solches Außen, darauf macht Stäehli aufmerksam, ist selber ein semantischer Effekt. Dies zeigt sich gerade im Rahmen der Verwendung des Begriffs der Masse in den 1950/60er Jahren. Der Begriff führt eine vermeintliche Klarheit mit sich, seine Beschreibungsrelevanz scheint evident 115 Vgl. zu den Strategien der Evidenz auch die Bände von Michael Cuntz u.a. (Hg.): Die Listen der Evidenz, Köln: DuMont 2006 und Rolf F. Nohr (Hg.): Evidenz – ›… das sieht man doch‹, Münster: Lit-Verlag 2004. 59
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und weitere Erklärungen seiner Bedeutungsgehalte werden als überflüssig erklärt. Gerade aufgrund dieser Klarheit bedarf die Untersuchung des Masse-Begriffs eines Plausibilitäts- beziehungsweise Evidenzkonzeptes, das solche semantischen Eigenheiten klärt. Stäheli schlägt den Rückgriff auf die rhetorische Strategie der evidentia vor, »mit denen ein Redner seine Zuhörer in die Position des Augenzeugens versetzt.«116 Der Realitätsindex wird hier zu einem textimmanenten Verfahren, anstatt sich in Bezug auf die Gesellschaftsstruktur herzustellen. Dieses Verfahren ist auch bei Le Bon zu erkennen, der seine Massenbestimmung konkretisiert, indem er von den ›Geschworenen‹, den ›Wählermassen‹ und der ›Parlamentsversammlung‹ spricht, obwohl er eigentlich das »Zeitalter der Massen«117 ausruft, das heißt eine nicht mehr anschaulich zu machende Gesellschaftsbezeichnung wählt. Die Tätigkeit von Geschworenen und Abgeordneten erscheinen aber als direktes Beobachtungsobjekt zugänglich und somit als ›real‹. Ein späteres und vor allem besonders prägnantes Beispiel aus der Reihe der massentheoretischen Texte, die den Leser rhetorisch als Augenzeugen anrufen, ist Walter Ehrensteins 1952 veröffentlichter Text Dämon Masse. Die Verwendung der Rhetorik ist darin besonders offensichtlich, da der Leser direkt als Beobachter der Masse angesprochen wird und dies an prominenter Stelle, nämlich in den einleitenden Sätzen des Textes: »Seit dem Erscheinen des Buches von Le Bon vor einem halben Jahrhundert ist kein anderer Zeitabschnitt für das Sammeln von Beobachtungstatsachen zur Psychologie der Massen so günstig gewesen wie die letzten 12 Jahre der europäischen Geschichte vor 1945. Die Ereignisse dieser Jahre sind so außergewöhnlich und unvergleichbar, die Tragödie des Massenwahns, die sich in dieser Zeit abgespielt hat, war so unerwartet und unbegreiflich, daß viele, die sie miterlebt haben, doch noch besondere Anstrengungen machen müssen, um sich ganz darüber klar zu werden, daß alles, was geschah, was sie selbst hörten und sahen, nicht ein böser Traum, sondern unerbittliche Wirklichkeit war.«118
Die Zeit des nationalsozialistischen Regimes wird bei Ehrenstein als unhinterfragbarer Beleg für die Richtigkeit der Massenpsychologie angeführt. Der Leser, der diese Jahre ›miterlebt‹ hat, wird als Augenzeuge der ›Realität‹ des ›Massenwahns‹ angesprochen. Ehrensteins gesamter Text ist dann dem Pro-
116 U. Stäheli: Die Nachträglichkeit der Semantik, S. 337. 117 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 2; vgl. ebd., S. 138-181. Vgl. zu einem ähnlichen Befund W. Joußen: Massen und Kommunikation, S. 11. Vgl. dazu das Kapitel Mediale Umperspektivierung. 118 Walter Ehrenstein: Dämon Masse, Frankfurt/Main: Kramer 1952, S. 9. Hervorhebungen von Verfasserin. 60
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jekt verpflichtet, Aussagen der Massenpsychologie mit Hilfe von Beobachtungen aus der Zeit des Nationalsozialismus zu belegen und mit neuer Aktualität zu versehen. Nicht allein Ehrenstein sieht im Ende der Weimarer Republik den Beweis für die Gültigkeit der massenpsychologischen Überlegungen. Die nationalsozialistische Vergangenheit bietet dabei den Autoren der frühen Bundesrepublik nicht nur die Möglichkeit, Einsichten in die Massenaktivitäten zu gewinnen. Umgekehrt erhofft man sich von der Massenpsychologie auch eine Erklärung und Begründung für die politischen Ereignisse der Zeit. Die Sozialpsychologie kann demnach das Hitlerregime erklären und vice versa werden mit Hilfe des Nationalsozialismus die massenpsychologischen Aussagen bewiesen. Die Häufigkeit des Wortgebrauchs von Masse in den 1950er Jahren ist somit auch in diesem Kontext zu situieren. Ehrenstein setzt zwar vollkommen auf die Plausibilisierungsleistung der Geschehnisse vor 1945, aber er versieht seine Argumentation noch mit einer zusätzlichen Absicherung. Er wirkt einer möglichen Zurückweisung des Argumentes von der Evidenzwerdung der Massenpsychologie durch den Nationalsozialismus entgegen: Sollte der Leser sich nämlich dieser Evidenz widersetzen, so ist dies der Weigerung, die Realität des Geschehenen anzuerkennen, geschuldet. Damit wird die Möglichkeit eines anderen Blicks auf die vergangenen Ereignisse durch deren Beschreibung als traumatisch negiert. Demnach liegen die Tatsachen klar vor Augen und nur ihre Verleugnung durch das Trauma, das nicht Sehen lassen will, führt zu anderen Ergebnissen als der Ansicht eines Massenhandelns. Jeder Negierung von Ehrensteins Aussagen wird so die Autorität genommen, denn sie ist einer mangelnden Erkenntnisfähigkeit geschuldet.119 Der Text sichert sich also mehrfach gegen die Möglichkeit einer Zurückweisung seiner Aussagen und greift damit auf gängige Verfahren zurück, für die er hier exemplarisch steht: Der affirmative Leser wird als Augenzeuge eingesetzt und die verneinende Lektüre als pathologisch disqualifiziert. Ehrensteins Text geht aber noch weiter und nutzt ein zusätzliches Verfahren zur eigenen Plausibilisierung, auf das Luhmann aufmerksam macht: »Man zitiert und erweckt dadurch den Eindruck, daß bereits andere für Plau-
119 Speziell die Darstellung solcher Verblendungszusammenhänge führt dazu, dass die Augenzeugenschaft nicht als Leistung des Lesers deklariert wird, sondern eine Eigenschaft des Autors ist. Der Textrezipient zeichnet sich durch Fehlsicht aus, das heißt, er kann die offensichtlich gegebenen Tatsachen nicht einsehen, und daher muss die Darstellung der Tatsachen durch den Text diese Sicht beheben. Vgl. zu einer ähnlichen Argumentation Herbert Bergner: Im Zeitalter der Massen. Vom Umgang mit Massenmedien. Unterrichtshilfe zur politischen Bildung in der Hauptschuloberstufe, Stuttgart: Klett 1967, S. 21. 61
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sibilität gesorgt haben.«120 Die Bezugnahme insbesondere auf Le Bons Psychologie der Masse ist, wie bereits gesagt, in den 1950er Jahren eine verbreitete Methode, sich jeglicher weiterer Anstrengung zu enthalten, das Konzept der Masse mit Plausibilität zu versehen. Eventuelle Unsicherheiten bezüglich seiner Relevanz hinsichtlich der Beschreibung von ›Realität‹ und seiner Bedeutungsgehalte werden durch die Nennung des Namens Le Bon zurückgewiesen.121 Auffällig ist dieses Verfahren in Clemens Münsters Text Mengen, Massen, Kollektive: Nachdem Münster über viele Seiten ohne eine Quellenangabe eine Wiederholung der massentheoretischen Ideen Le Bons vorlegt, verweist er – scheinbar kontingent – bezüglich der These, »daß die Masse in Bildern, nicht in Begriffen denkt«122, doch auf den Urheber dieses Gedankens. Es scheint, dass erst unwahrscheinliche oder dem Beobachter gänzlich entzogene Phänomene einer zusätzlichen Plausibilisierung durch den Verweis auf eine Autorität der Massentheorie, wie Le Bon sie darstellt, bedürfen. Darüber erhält auch dieser Gedanke die nötige Plausibilität, ohne dass zusätzliche Argumentationsarbeit zu leisten wäre. Der Name Le Bon wird also offensichtlich eingesetzt, wenn die grundsätzliche Plausibilität, die Münster seinen Äußerungen unterstellt, nicht gegeben zu sein scheint. Dann funktioniert der Name als Plausibilisierungsverfahren. Trotz solcher Verfahren sind Plausiblität und Evidenz nur schwer herzustellen, gerade wenn es aufgrund einer langen Begriffstradition zu »Sinnanreicherungen [kommt], die den Begriff schließlich undefinierbar machen.«123 Der Begriff wird inkonsistent und unscharf. Luhmann argumentiert hinsichtlich der Sinnanreicherung sehr stark über das von Stäheli kritisierte Anpassungsmodell der Semantik, denn Inkonsistenz stellt sich gegenüber der Sozialstruktur her. Semantik ist dann nicht als angemessene Beschreibung von Operationen identifizierbar. Inkonsistenz kann aber ebenso als Problem der semantischen Ebene beschrieben werden. Sinnanreicherungen führen dann zu sich widersprechenden Bedeutungsgehalten, wie sie sich auch im Begriff der Masse finden. Helmuth Berking konstatiert dann auch, dass der MasseBegriff eine ›Leerstelle der Alltagssprache‹ markiert, der ›okkasionell‹ ein-
120 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 549. Darüber hinaus sind natürlich eine Vielzahl von Strategien der Plausiblisierung denkbar, die im Rahmen von Luhmanns Semantikkonzeption nicht erwähnt werden. Als Beispiel sei hier nur der Rückgriff auf die ›harte‹ Naturwissenschaft, speziell die Physik, zur Erläuterung des Masse-Begriffs und der Begründung der soziologischen Methoden erwähnt. 121 Vgl. das Kapitel Mediale Umperspektivierung. 122 Clemens Münster: Mengen, Massen, Kollektive, München: Kösel 1952, S. 62. 123 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 551. 62
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gesetzt wird, um diverse Phänomene zu beschreiben, deren Gemeinsamkeit nicht zu erkennen ist. Bedeutungen werden dabei je nach Bedarf generiert.124
8 Le Bons Medien Von Inkonsistenzen und Widersprüchlichkeiten ist auch Le Bons Massenpsychologie geprägt. Der Grund dafür liegt jedoch nicht allein daran, dass Le Bons Werk von ›mittelmäßiger Qualität‹ sei, wie Serge Moscovici feststellt. Er schreibt über seine Bücher: »Die meisten sind von einem Tag auf den anderen geschrieben […]. Um eine breites Publikum zu fesseln, muß man das Problem in zwei Worten formulieren, in zwei Worten diskutieren und in zwei Worten lösen können. Das heißt, man muß alle Risiken eingehen, einschließlich dessen, oberflächlich zu sein. […] Seine Überlegungen sind zu einseitig, seine Beobachtungen zu dürftig. Das Ganze entbehrt der Tiefe.«125
Inkonsistenzen sind aber weniger das Resultat dieser mangelhaften Qualität der Le Bonschen Untersuchung, als der Effekt einer Lektüre, die die MasseSemantik zunehmend mit der Idee von Medien konfrontiert. Das heißt, weil der Text auf der Folie einer jüngeren medientechnischen Entwicklung eingelesen wird, entwickelt sich ein Plausibilitätsverlust. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Inkonsistenzen des Le Bonschen Textes einer Lektüre auf der Grundlage eines Wissens über Medientechniken geschuldet sind. Wie gesagt, Le Bon ist in den 1950/60er Jahren ein wichtiger Bezugspunkt der Diskussion um Gesellschaft und Medien. Jedoch wird unter der Wahrnehmung von Medienapparaturen sein Text einer neuen Betrachtung unterzogen: Aus der Sicht eines medientechnisch informierten Lesers erscheint eine Kluft zwischen Le Bons Anspruch, ein ganzes Zeitalter zu beschreiben und seinen Ausführungen, die über weite Teile an lokalen Menschenansammlungen ausgerichtet sind. Die Existenz von Techniken, denen das Potential enormer Verbreitung zugesprochen wird, macht die Idee raumzeitlich verstreuter Massen ohne solche Mittel uneinsichtig. Ein Leser, der um das Fernsehen weiß, kann nur in der Medientechnik die Möglichkeit erblicken, die gesamte Gesellschaft zu erreichen. Ihm erscheint es dagegen uneinsichtig, wie dies ohne Massenmedien geschehen sollte. Dies führt auch dazu, dass sich mit der Entwicklung eines ausformulierten Wissens um Medien genau das Potential der Massentheorien, das in den 124 Vgl. Helmuth Berking: Masse und Geist: Studien zur Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin: Wissenschaftlicher Autoren-Verlag 1984, S. 66. 125 S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen, S. 94. 63
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Medienbeschreibungen aktualisiert wird, invisibilisiert. Die Elemente, an die im Rahmen von Medienkonzepten angeschlossen wird, werden angesichts von Ideen anderer und häufig potenterer Formen der Anrufung der Masse ausgeblendet. Die nun folgende Betrachtung der Le Bon-Rezeption soll also auch zeigen, wie man dem Text in der Nachkriegszeit bestimmte Erkenntnisse abspricht. Anhand eines Beispiels wird vorgeführt, wie bestimmte Elemente in der Lektüre übergangen (und andere Thesen hervorgehoben) werden. Von der Verschiebung in die Latenz sind solche Elemente betroffen, an die das Fernsehen anschließen und die es ersetzten kann. Im Zitatenschatz der 1950er Jahre erscheinen gerade die Textstellen nicht mehr, in denen Le Bon von der Beeinflussung der gesamten Gesellschaft spricht. Stattdessen wird – wie beispielsweise in de Mans Ausführungen – Le Bons Text als Dokumentation von Realversammlungen gelesen. Die Äußerungen der 1950er Jahre erscheinen den Zeitgenossen damit auch nicht als Revival eines alten Gedankenguts, sondern als neue theoretische Erkenntnisse. Medienbeobachtungen sind zwar massentheoretisch vorformuliert, aber dieser Zusammenhang wird uneinsichtig, wenn die Medienbeobachtung als eigener Wissensbestand entwickelt ist. Angesichts von Medientechniken wird die Medientätigkeit selbst als Mangel im Text anwählbar: Sie bildet eine Lücke im Text, die erst retrospektiv eingeführt wird. Anstatt der Konturierung eines gesamtgesellschaftlichen Zustands, wie er sich in der Rede vom ›Zeitalter der Massen‹ ausdrückt und wie ihn der Text zu beschreiben vorgibt, kann dann nur noch die Beobachtung einzelner und lokaler Menschenansammlungen darin entdeckt werden. Es erscheint dem Leser der 1950/60er Jahre dann wenig plausibel, wenn Le Bon darauf verweist, dass die räumliche Gleichzeitigkeit der Vielen nicht zwingend notwendig sei, um eine Masse entstehen zu lassen: »Das Schwinden der bewußten Persönlichkeit und die Orientierung der Gefühle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung, die ersten Vorstöße der Masse auf dem Weg, sich zu organisieren, erfordert nicht immer die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer einzelner an einem einzigen Ort. Tausende von getrennten einzelnen können im gegebenen Augenblick unter dem Einfluß gewisser heftiger Gemütsbewegungen, etwa eines großen nationalen Ereignisses, die Kennzeichen einer psychologischen Masse annehmen.«126
Masse bezeichnet hier ganz offensichtlich keine Ansammlung, sondern ein sozialpsychologisches Moment, das von sichtbaren Menschenmengen unabhängig ist und auf diesem Wege die Verfasstheit der Gesamtgesellschaft benennen kann. Laut Psychologie der Massen ist es möglich, dass »ein ganzes Volk ohne sichtbare Zusammenscharung unter dem Druck gewisser Einflüs126 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 11. 64
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se zur Masse werden«127 kann. Eine Konkretisierung der Formel von den ›gewissen Einflüssen‹ bleibt der Text dann aber über weite Teile schuldig und forciert entsprechend deren Vergessen. Entscheidend ist aber, dass sogar die Notwendigkeit zum Vergessen eines bestimmten Begründungszusammenhanges besteht, da andernfalls der Gesamttext in den 1950er Jahren vom Vergessen betroffen wäre. Der Leser der Nachkriegszeit, der an Le Bons Aussagen anschließen will, muss übergehen, dass für Le Bon die Rasse ein zentraler Einflussfaktor ist. Die diffuse Bezeichnung der ›gewissen Einflüsse‹ ist unter anderem in das Theorem der Rasse übersetzbar, denn als »ein Antrieb ersten Ranges ist die Rasse zu betrachten [...].«128 Sie ist entscheidend für die Ideen, Glaubenslehren, Gefühle und Interessen jedes Einzelnen beziehungsweise die Rasse besteht in Form dieser Gefühle und Ideen. Die Rasse bildet nach Le Bon eine ideell begründete soziale Einheit, deren Spezifik sich aus einer gemeinschaftlichen Charakterbildung, auch »Nationalcharakter«129 oder »Rassenseele«130 genannt, ergibt. Diese Rassenseele ist Effekt der Vererbung – genauer der Wirkungen der Vorfahren und der Überlieferungen in der Gesellschaft.131 Diese Art der Vererbung ist formgebend für den in einer Nation herrschenden Charakter, wohingegen Umwelteinflüsse eine geringe Bedeutung für die Charakterbildung haben.132 Die ererbte Rassenseele beziehungsweise der Nationalcharakter ist ausschlaggebend für die »Auffassung von der Welt und des Lebens [...]«133, die der Einzelne hat, und damit die eigentlich Ursache für das Verhalten des Menschen. Sie ist, so Le Bon, »der mächtigste Faktor [...], der die Macht hat, die menschlichen Handlungen zu bestimmen. Ihre Wirkung zeigt sich auch in den Eigenschaften der Masse.«134 Die Ideen und Gefühle werden primär von 127 Ebd.. 128 Ebd., S. 62. Die Rassentheorie ist kein marginales Element in Le Bons Psychologie der Massen, sondern wird umfangreich dargestellt. Moscovici weist sogar in seinem 1984 erschienen Buch Das Zeitalter der Massen kurz darauf hin, dass Le Bons »Name auf die [...] Liste der Vorläufer des Rassismus in Europa gehört.« S. Moscovivi: Das Zeitalter der Massen, S. 75. Dies macht das Vergessen dieses Theorems in den 1950er Jahren um so bemerkenswerter. 129 Gustave Le Bon: Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung, Leipzig: Hirzel 1922 (1894), S. 7. Vgl. weiterhin ebd., S. 10-12; ders.: Psychologie der Massen, S. 62-67. 130 G. Le Bon: Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung, S. 10. 131 Vgl. G. Le Bon: Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung, S. 10 u. 139; sowie ders.: Psychologie der Massen, S. 63f. 132 Vgl. G. Le Bon: Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung, S. 10f. u. 17f. 133 Ebd., S. 25. 134 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 135. Freud bietet hier ein Alternativkonzept. Er erklärt die Schaffung einer Einheit aus dem Universalprinzip Li65
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der in einer Gesellschaft herrschenden Rassenseele gesteuert. Sie bedeutet eine gesellschaftsweite Verbreitung eines bestimmten Ideenguts und eines Habitus’. Insofern jeder Angehörige einer Nation mit der gleichen Rassenseele ausgestattet ist, empfinden alle identisch und folgen den gleichen Glaubenslehren. Es besteht also eine Übereinstimmung der Einstellungen innerhalb einer Nation und damit auch innerhalb einer Masse, da diese Einstellungen durch die Rasse verbreitet werden. Die Rasse erscheint so als Verbreitungsmedium und besetzt die gleiche Systemstelle, wie das Konzept der Massenmedien in der Medienbeobachtung. Die Rasse formt nach Le Bon die Einstellungen und den Habitus des Einzelnen, genau so wie es später von den Massenmedien angenommen wird. Als ein solches Medium ist die Rasse zwar nicht ausschließlich in der Masse aktiv, aber sie entfaltet ihre Wirkung auch dort.135 Das Steuerelement, auf das Le Bon selbst verweist, um eine ganze Nation von bestimmten Ideen und Vorstellungen zu affizieren, ist die Rasse. Sie kann, nach Le Bon, die Trennung der Einzelnen überwinden und seine Vorstellungen – auch innerhalb der Masse – formen. Fragt man also nach einer Konkretisierung der gewissen Einflüsse, von denen Le Bon spricht, so ist die Rasse ein zentraler Faktor, wenn auch nicht der einzige. Die psychologischen Eigenschaften der Masse seien selten allein durch die Rassenseele hervorgerufen.136 Geht man von einer zunehmenden Unwahrscheinlichkeit von Le Bons Thesen in den 1950er Jahren aus, so ist dies auch einem Ignorieren des Rassentheorems geschuldet. Dieses ist natürlich selbst obskur und reine Spekulation; zugleich erscheint es im vorherrschenden Diskurs um 1900 aber evibido. Die Libido stellt nach Freud eine Grundtatsache des menschlichen Seelenlebens und der zwischenmenschlichen Sympathie dar. Darüber bindet sie die Menschen zusammen und bildet eine Erklärungsmöglichkeit für Kollektivprozesse. Freud, der seine Massentheorie bekanntlich mit einer affirmativen Le Bon-Lektüre beginnt, steht so ein Konzept zur Verfügung, um die Rasse, die bei Le Bon grundlegend für den Zusammenschluss ist, zu ersetzen. Freud entwickelt dieses Prinzip jedoch nicht in Abgrenzung zum Theorem der Rasse, sondern leitet es aus seiner Auseinandersetzung mit der Hypnose ab. Dessen ungeachtet kann es als Alternativkonzept zur Rasse bei Le Bon verstanden werden. Dies deutet auch Moscovici an. Vgl. S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen, S. 283-286 u. 306-315. Vgl. zur Bedeutung der Hypnose im Rahmen der Massenpsychologie den folgenden Teil in dieser Arbeit. 135 Einen grundlegend anderen Zusammenhang zwischen Rasse und Masse bei Le Bon sieht W. Joußen: Massen und Kommunikation, S. 12 gegeben. 136 Es sei denn, es handelt sich um eine ›primitive Rasse‹. Le Bon unterteilt die verschiedenen Rassen in vier Grundtypen. Die primitiven Rassen beschreibt Le Bon ganz in Entsprechung zur Masse als leichtgläubig. Ihnen mangele es ebenso wie der Masse an vernünftigem Denken, Beobachtungsgabe, Voraussicht und einem eigenen Willen. Vgl. G. Le Bon: Psychologische Grundgesetze in der Völkerentwicklung, S. 22. 66
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dent. In der Nachkriegszeit wird die Rasse dann als Motor und ›Übertragungsmechanismus‹ der Massenbildung wegen der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus aus der Lektüre ausgeschlossen und durch die Idee der Medientätigkeit ersetzt. Die Medientätigkeit wird aber analog zur Rasse bei Le Bon konzeptualisiert. Einerseits will man an die Ergebnisse des Textes anschließen und den Begriff im Diskurs halten, andererseits werden nur Teile daraus aktualisiert. Durch diese Ausblendung entsteht eine mediale Lücke im Text, die ihn zunächst als inkonsistent erscheinen lässt und die dann durch das Fernsehen geschlossen werden kann. Während die Masse bei Le Bon unter anderem durch ihre Rassenmerkmale über die Distanz verbunden war, wird diese Funktion in den 1950er Jahren dem Fernsehen zugesprochen. Wird die Idee der Rasse einmal aus der Argumentation ausgeschlossen, so erscheinen die von Le Bon genannten Verfahren weniger potent als die von Sturm bezeichneten drei großen F – Film, Funk und Fernsehen.137 Das Aufkommen neuer Medien produziert eine Lesart der Psychologie der Massen, die allein die raum-zeitlich verbundenen und ebenfalls beschriebenen Massen im Text aufruft. So formuliert es zum Beispiel 1955 Günther Anders in seinem Text Die Welt als Phantom und Matrize, der, laut Untertitel, Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen vorlegen will. Seine Lektüre im Rahmen einer Medienbeschreibung vergisst Le Bons Projekt einer Gesellschaftsbeschreibung und erkennt im Le Bonschen Begriff der Masse allein das Konzept einer raum-zeitlich synchronisierten Menschenmenge. Die Betrachtung von Hörfunk und Fernsehen machen die Massenbildung jenseits einer zeitgleichen Ansammlung an einem Ort uneinsichtig. Durch Hörfunk und Fernsehen, so Anders, ist »zur Herstellung des [...] Massenmenschen die effektive Vermassung in Form der Massenversammlung nicht mehr erforderlich [...]. Le Bons Beobachtungen über die den Menschen verändernde Massensituationen sind altertümlich geworden, da die Entprägung der Individualität und die Einebnung der Rationalität bereits zu Hause erledigt werden.«138
Anders gerät die Durchdringung der gesamten Gesellschaft mit dem ›Massenphänomen‹ erst angesichts solcher Medien in den Blick, unabhängig von ihnen erscheint sie bei ihm undenkbar, obwohl Le Bons Einleitung diese 137 Vgl. H. Sturm: Masse – Bildung – Kommunikation, S. 11. 138 Günther Anders: »Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen«, in: ders.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck 19947 (1956), S. 97-211, hier S. 103f. Vgl. ausführlich zu Die Welt als Phantom und Matrize das Kapitel Massen und Eremiten: Weltflucht und flüchtige Welt. 67
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Allpräsenz der Masse formuliert hat. In Anders Argumentation und damit vor dem Hintergrund der Medienentwicklung bedarf es des Hörfunks und des Fernsehens, um Masse als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen zu deklarieren. Medien machen nun die 1950 Jahre alte Aussage plausibel. Das gesellschaftstheoretische Konzept der Masse wird also im Kontext der Einführung von Medientechniken, die auf gesellschaftliche Verbreitung hin diskutiert werden, aufgerufen und dabei wird der Begriff der Masse erhalten und zudem auf neue Art einsichtig. Im gleichen Zuge werden die Argumente, die den Text ehemals mit Evidenz versehen haben, übergangen. ›Masse‹ erklärt also nicht nur ›Medien‹, sondern auch umgekehrt: ›Medien‹ erklären ›Masse‹, ihr Konzept verändert das Theorem der Masse, indem es die Masse argumentativ neu erschafft. Dass Anders gleichzeitig problemlos an die Psychologie der Massen anschließen kann, liegt wiederum daran, dass Le Bons Text solche Anschlusspotentiale bereit hält, indem er eben schon Entsprechungen zu später entdeckten Medientätigkeiten formuliert und sei es nur in der Leerformel von den ›gewissen Einflüssen‹. Latent sind, wie gesagt, die Beschreibungen schon gegeben. Dass das, was als Medientechnik identifiziert wird, diese Erläuterungsfunktion leisten kann, ist darin begründbar, dass eben genau ihre Beobachtung schon in frühen Massenbeschreibungen angelegt ist. Als vermeintlich harte Technik ist dann benennbar, was zuvor im Rahmen der Massentheorie als Konstrukt wie das der ›gewissen Einflüsse‹ auszuweisen war. Die im Rahmen der Masse-Semantik entwickelten Potentialitäten zur Formbildung einer Medienbeschreibung übernehmen also genau die Funktionen, die später durch Medien erfüllt werden. Diverse technische Medien, die auf die synchrone Erreichbarkeit aller angelegt sind, können hier ein- und ansetzen. Mit ihnen wird die Generierung der Masse erklärbar und die Leerformel von den ›gewissen Einflüssen‹, die ein ganzes Volk betreffen, erneut füllbar. Die Masse kann so als gesellschaftliches Phänomen beschrieben werden. Das Erscheinen von Medientechniken auf den Monitoren der gesellschaftlichen Beobachtung führt zur vermeintlich unmittelbaren Einsicht in die Sozialbeziehungen, die mit dem Masse-Begriff erfasst werden sollen. Die ›Realität‹ und vermeintliche Faktizität der Medientechniken macht die alten Argumentationen ansichtig. Technik gibt vor, in einer Apparatur zum Vorschein zu bringen, was in der Masse-Semantik lediglich als Idee formuliert vorliegt. Medien sorgen also für eine Plausibilisierung, die ohne ihr Erscheinen nicht notwendig wäre. Denn Inplausibilität bei Le Bon stellt sich erst ein, wenn ein wesentlich stärkerer Grund für die Gesellschaftsbezeichnung Masse gefunden ist. Evidenzmangel ist damit nur einer Lektüre auf der Grundlage der Identifikation von Massenmedien geschuldet. Ohne die Idee von Medienapparaturen, die die gesamte Gesellschaft kommunikativ erreichen können, träten diese nicht
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als Fehlen im Text auf. In diesem Sinne können verschiedene technische Medien funktionalisiert werden und die Argumentation im Bereich des Wahrscheinlichen halten, weshalb massentheoretische Überlegungen zunehmend mit Medienbeobachtungen angereichert werden.
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T E I L II DAS
B E O B A C H T U N G S P R O B L E M I: VERSCHWINDEN DES EINZELNEN IN
DER
MASSE
In den bisherigen Ausführungen wurde bereits mehrfach auf die Problematik eingegangen, dass sich innerhalb der Massentheorie das Beobachtungsobjekt verschiebt. Geht es zunächst darum, Aussagen über eine versammelte Masse zu machen, versucht man später die Masse als gesamtgesellschaftliches Phänomen zu erfassen. Gerhard Maletzke konstatiert aufgrund dessen, dass »bei Le Bon und noch lange Zeit danach der Begriff ›Masse‹ recht wahllos und einigermaßen verworren benutzt wurde und von großen Menschenmengen in actu bis zu Koperationen einerseits und bis zur gesamten Bevölkerung industrialisierter Länder andererseits reicht [...].«1 Die Massentheorie bezieht sich also sowohl auf die akute Masse als auch auf die Massengesellschaft. Die zeitliche Verortung dieses Wechsels des Beobachtungsgegenstandes wird jedoch unterschiedlich markiert. Dabei hat es den Anschein, dass sie vielfach – wenn auch nicht grundsätzlich – von argumentativen Strategien bestimmt ist, anstatt dass der Aspekt der historischen Genauigkeit eine Rolle spielt. Sloterdijk zum Beispiel datiert mit Elias Canettis Rede von der Menschenschwärze den Wechsel in den 1950/60er Jahren: »Alles schwarz von Menschen – diese Redefigur gehört zu dem Zeitalter der Auflaufmassen, oder […] der Versammlungs- und der Präsenzmassen, deren Charakteristikum darin besteht, daß große Zahlen von Menschen […] sich selbst als eine versammlungsfähige Größe erleben, indem sie an einem Ort, der sie alle faßt, zusammenströmen […]. Es ist Canettis Verdienst, dieses Stadium der Modernisierung theoretisch fixiert zu haben […].«
Doch – so fährt Sloterdijk fort – die »aktuellen Massen haben im wesentlichen aufgehört, Versammlungs- und Auflaufmassen zu sein; sie sind in eine Regime eingetreten, in dem der Massencharak-
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Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik, Hamburg: Hans-Bredow-Institut 1963, S. 24. 71
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ter nicht mehr im physischen Konvent, sondern in der Teilnahme an Programmen von Massenmedien zum Ausdruck kommt.«2
Aufgrund dessen werde in den 1950/60er Jahren auch Canettis Analyse zunehmend durch David Riesmans Beschreibung der Lonely Crowd abgelöst, die die neue Massenform adäquater erfassen könne. Die beiden Autoren, die ihre Texte in dieser Zeit publizieren, sind demnach exemplarisch für eine Doppelperspektivierung im Massenverständnis der Nachkriegszeit. Dieser Datierung steht zum einen de Mans Hinweis gegenüber, der in Ortega y Gassets Aufstand der Massen den zentralen Umschlag in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand sieht und der im letzten Teil Thema war. Zum anderen wurde auch schon das Ergebnis der begriffsgeschichtlichen Forschung genannt, die bereits für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts feststellt, dass mit dem Begriff der Masse kein Massenauflauf, sondern eine Gesellschaftsbeschreibung bezeichnet wird. Als Beispiel kann hier – auch darauf wurde bereits hingewiesen – Le Bons Psychologie der Massen von 1895 dienen, weil sich darin weniger eine Beobachtung einer akuten als einer verstreuten Masse manifestiert. Anders verhält es sich jedoch mit Scipio Sigheles Massenanalyse Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen, die nur wenige Jahre vor Le Bons Arbeit erscheint. Sighele betont nämlich mehrfach, dass es ihm um eine »Menschenmenge« geht, bei der »die Einheit der Zeit und des Ortes« gegeben ist.3 Diesen Hinweis wiederholt er in einem offenen Brief an Gabriele Tarde, der eine 1893 publizierte Replik auf einen von Tarde verfassten Artikel darstellt und der deutschen Ausgabe von Psychologie des Auflaufs von 1897 angehängt ist: »Meine [Sigheles] Bemerkung gilt übrigens [...] nicht für den Menschen, wie er relativ weit verstreut in der Gesellschaft lebt, sondern für die plötzlich entstandenen
2
3
P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, S. 15f. Vgl. entsprechend bei Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt/Main: Fischer 1997 (1960), S. 14f. Robert Menasse deutet im Gegensatz zu Sloterdijk das Fehlen einer Thematisierung von Massenmedien als eine Auffälligkeit in Canettis Massenanalyse. Menasse fragt, warum Canetti die zeitgenössische Medienwelt ignoriere. Vgl. Robert Menasse: »News von Masse und Macht« (1995), in: ders.: Überbau und Underground, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 187-193, hier S. 189. Andere Interpreten von Canettis Massentheorie beantworten diese Frage mit dem Hinweis auf Canettis ahistorisch Perspektive, die eine Bezugnahme auf gegenwärtige Medienentwicklung wie der gesellschaftsweiten Durchsetzung des Fernsehens untersage. Vgl. Petra Kuhnau: Masse und Macht in der Geschichte. Zur Konzeption anthropologischer Konstanten in Elias Canettis Werk ›Masse und Macht‹, Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 103. Scipio Sighele: Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen, Dresden, Leipzig: Reissner 1897 (1891), S. 51. Vgl. zu identischen und ähnlichen Formulierungen ebd., S. 69 u. 100. 72
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Vereinigungen vieler Personen. Ich spreche von den akuten Stadien menschlicher Vereinigung, vom Auflauf, von der Volksmenge, von der Sekte, nicht von dem alltäglichen gesellschaftlichen Zusammenleben.«4
Sighele ist also ausschließlich an der Untersuchung der Versammlungsmasse und zwar gemäß des Titels seiner Studie in ihrer kriminellen Form interessiert. Dabei zeigt jedoch seine Betonung des Gemeinten deutlich, wie zum Ende des 19. Jahrhunderts die Massenbeobachtung zwischen der verstreuten und der Auflaufmasse oszilliert. Gerade Sigheles Abwehrhaltung gegen die Möglichkeit, seinen Text als Beschreibung des ›gesellschaftlichen Zusammenlebens‹ zu lesen, verweist darauf, dass genau diese Lektüre vorgenommen wird. Sigheles Betonung, dass es ihm ausschließlich um die Untersuchung von Menschenaufläufen gehe, hebt hervor, dass für seine Zeitgenossen diese Lesart nahe liegt. Offensichtlich bedarf es solcher Hinweise als Steuerung einer korrekten Lektüre, da andernfalls darin eine Gesellschaftsbeschreibung erkannt wird. Wenige Jahre später dann will Le Bon mit dem ›Zeitalter der Massen‹ genau das beschreiben, was Sighele für seinen Text noch ablehnt – nämlich die Gesellschaft. So wie also Sloterdijk die beiden Ansätze von Canetti und Riesman unterscheidet, lassen sich analog, aber zeitverschoben Le Bons und Sigheles Erläuterung der Masse gegenüberstellen. Dass dieser Umschlag im Verständnis dessen, was mit Masse gemeint ist, je neu datiert wird und werden kann, beziehungsweise dass sich für jede Zeit Beispiele für diesen Umschlag finden, hat mehrere Gründe, wovon einige im vorhergehenden Teil schon genannt wurden. Im Mittelpunkt einer Datierung des Bedeutungswechsels nach 1900 steht dabei das Medienargument. Ein weiterer Grund wird im Folgenden anhand von Sigheles Massentheorie vorgestellt: Die beiden Beschreibungsebenen – die konkrete und die verstreute Masse – greifen hinsichtlich einiger Aspekte stark ineinander. Trotz des unterschiedlichen Objekts der Beobachtung bleiben nämlich spezifische Eigenschaftszuschreibungen an die Masse identisch. Genauer gesagt: Anhand der akuten Masse – wie Sighele sie beobachtet – werden Beschreibungen angefertigt, die dann auf den neuen Untersuchungsgegenstand, die vermasste Gesellschaft, übertragen werden. Die Problematik der Entpersonalisierung beziehungsweise Entindividualisierung, wie die der Willenlosigkeit beispielsweise gelten als beschreibungsrelevant für den Massenauflauf, wie für die Masse im Sinne einer Gesellschaftsbeschreibung. Dass hier zwei vollkommen unterschiedliche Gegenstände zur Debatte stehen, scheint nicht zu stören, wenn die Rede vom willenlosen und entpersonalisierten Einzelnen in der Masse geht.
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Ebd., S. 202f. 73
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Aufgrund dessen kann Le Bon auch, wie vielfach behauptet wird, Sigheles Befunde zum Massenauflauf für seine Gesellschaftsanalyse nutzbar machen. Folgt man Paul Reiwald sind die maßgeblichen Ergebnisse der Massentheorie auf Sighele zurückzuführen: »Sigheles Buch über die ›verbrecherische Masse‹ ist es gewesen, das der Massenpsychologie die Richtung gegeben und eine ganze Reihe wichtiger Gedanken und Beobachtungen gebracht hat, auf die man in der Folge in dieser oder jener Form zurückgekommen ist. Indessen ist S[ighele] durch Le Bon beiseite geschoben worden [...]. Er selbst hat sich bitter darüber beklagt und das Buch Le Bons, das ihn nicht zitiert, als geschickte Restauration seiner Gedanken bezeichnet. In der Tat findet sich Wesentliches schon bei ihm.«5
Le Bons berühmte Massentheorie beruht demgemäß unter anderem auf Thesen Sigheles. Er ist der Popularisierer einer Massenpsychologie, die Sighele mit Blick auf die Auflaufmasse auf den Weg gebracht hat. Beobachtungen, die Sighele anhand der akuten Masse gewinnt, werden in Le Bons Werk zur Gesellschaftsbeschreibung transformiert.6 Die Eigenschaften der Entpersonalisierung und Willenlosigkeit zeigen sich demnach für den Beobachter zunächst an der Präsenzmasse, bevor sie für die Thematisierung der Gesellschaft zur Verfügung stehen. Genauer: Es bedarf des anwesenden Massenauflaufs, um überhaupt entsprechende Beobachtungen zu generieren, denn die Gesellschaft als Ganze stellt kein mögliches Beobachtungsobjekt dar.7 Im Folgenden wird daher die These vertreten, dass die genannten Massencharakteristika anhand der Massengesellschaft überhaupt nicht einsehbar sind, sondern sich vor allem aus der Untersuchung der akuten Masse ergeben. Die akute Masse ist das Objekt, an dem die Erkenntnisse gewonnen werden, die für die Ansammlung wie für die Gesell5
6
7
Paul Reiwald: Vom Geist der Massen. Handbuch der Massenpsychologie, Zürich: Pan-Verlag 19483, S. 117f. Vgl. im gleichen Sinne Hans Kurella: »Vorwort des Herausgebers« (1897), in: Scipio Sighele: Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen, Dresden, Leipzig: Reissner 1897 (1891), S. IX-XI, hier S. XI und Wilhelm Vleugels: »Der Begriff der Masse. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Massentheorie«, in: Jahrbuch für Soziologie 2 (1926), S. 176-201, hier S. 181f. Im Folgenden wird – wie gesagt – Sigheles Argumentation vorgestellt. Dabei wird im allgemeinen davon ausgegangen, dass sich Entsprechendes auch in Le Bons Werk findet, ohne dass dies jeweils im Einzelnen nachgewiesen wird. Dies geschieht dann im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Anschließbarkeit der entsprechenden Thesen an Überlegungen zum Fernsehen, denn dabei bezieht man sich – wie bereits erläutert – maßgeblich auf Le Bons Äußerungen. Vgl. dazu den Teil zum Beobachtungsproblem II: Gesellschaftliche Selbstbeschreibung. 74
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schaft als Ganzes gelten sollen. Aufgrund dessen ist es aber nicht möglich, einfach auf die Beobachtung der Massengesellschaft umzuschalten, sondern es müssen immer beide Massenformen diskursiv präsent gehalten werden, damit die Thesen zur Masse Plausibilität erhalten. Ohne einen Rekurs auf die konkrete Masse – und sei es zur Abgrenzung – bleiben die Überlegungen zur Massengesellschaft uneinsichtig. Die Untersuchung der Massengesellschaft braucht die Massenansammlung, weil sie selbst kein mögliches Beobachtungsobjekt ist. So gehört die Referenz auf die konkrete Masse zu einer der zentralen Evidenzstrategien, wenn es um Befunde zur dispersen Masse geht. Im konkreten Objekt der Masse wird anschaulich, was die abstrakte Größe der Massengesellschaft nicht plausibilisieren kann. Die massentheoretisch inspirierte Gesellschaftsanalyse ist also auf die Befunde über die konkrete Masse verwiesen, um sich plausibel zu halten. Doch auch diese Befunde zur konkreten Masse sind von einer spezifischen Problematik betroffen, die im Folgenden Thema sein wird. Die Untersuchungsergebnisse von Sighele und anderen zum Massenauflauf – so die hier verfolgte These – sind Effekt eines Beobachtbarkeitsdefizits. Im Zuge der Erfassung der Masse verschwindet der Einzelne darin. Dieser Schwund ist aber einer beobachtungstechnischen Problematik geschuldet und stellt weniger eine Eigenschaft der Masse dar. Als ein solches Massencharakteristikum wird sie aber in der argumentativen Folge behandelt. Das heißt zusammengefasst: Eine Vielzahl der Eigenschaften, die der Masse zugeschrieben werden, sind aus der Beobachtung von lokalen und zeitlich begrenzten Menschenansammlungen gewonnen – also aus der ›Menschenschwärze‹ wie Canetti 1960 in Masse und Macht solche Massenaufläufe nennt. In dieser Menschenschwärze tritt das Individuum zurück und zwar – das ist zentral für die vorliegende Argumentation – für den Beobachter. Diesem bietet sich das Bild einer einheitlich agierenden Menge, weil er das Individuum nicht als Akteur isolieren kann. In der Massentheorie wird dieses Zurücktreten des Einzelnen aber nicht als Sichtbarkeitsdefizit verhandelt, sondern als genuine Eigenschaft der Masse beschrieben. Der Einzelne in der Masse handelt demnach gleichgerichtet beziehungsweise entindividualisiert und willenlos. Die folgenden Überlegungen sind also von der These geleitet, dass sich im Masse-Begriff ein Beobachtungsproblem manifestiert, das die spezifische Charakterisierung der Masse aussteuert. Die mangelnde Sichtbarkeit des Einzelnen in der Masse produziert dessen Eigenschaftsbeschreibung. Das Sichtbarkeitsdefizit hat verschiedene Ausprägungen, wovon die erste mit besagter Menschenschwärze besonders anschaulich benannt ist, denn sie betont metaphorisch die visuelle Undurchdringlichkeit der Masse – dass sich im einheitlichen Schwarz nichts hervorhebt. Die Auseinandersetzung mit dieser Menschenschwärze wird bei Sighele entsprechend des Titels von
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einer juristischen Fragestellung gerahmt, die die Möglichkeit einer Strafrechtsverfolgung behandelt. Gerade die Thematik der Strafrechtsverfolgung führt dazu, dass die Invisibilisierung des Individuums explizit ausformuliert wird. Daher steht Sigheles Massenanalyse auch im Mittelpunkt der nun folgenden Kapitel. Anhand Sigheles juristischer Problemstellung lässt sich zeigen, dass spezielle Eigenschaftsbeschreibungen der Masse lediglich aus deren Konturlosigkeit resultieren. Gleichzeitig ist es gerade dieser juristische Rahmen, der die Masse zu einem Gegenstand der Psychologie macht. Wie Peter Friedrich in seiner Studie zum Zusammenhang von Masse und Recht hervorhebt, beruft sich Sighele auf die rechtspositivistische Prämisse, die besagt, »daß nicht die juridische Definition des Verbrechens, sondern die psychophysische Realität des Verbrechers Ausgangspunkt von Schuld und Strafe sind [...].«8 Indem die Masse also zum Objekt einer Debatte um strafrechtliches Vorgehen wird, wird sie auch zum Gegenstand einer psychologisierenden Beobachtung, wie sie um die Jahrhundertwende in den Bereich des Rechts Einzug hält. Die psychophysische Betrachtung des Verbrechers wird von Sighele auf die Masse als Verbrecher übertragen. Friedrich sieht dann auch, wie Reiwald, Sigheles Studie als »Grundlagenwerk der Massenpsychologie [...].«9 Sein Werk bringt eine Massenpsychologie hervor, die in der Folgezeit – wenn auch mit dem Namen Le Bon verbunden – die Mehrzahl der Theorien und Überlegungen zur Masse beeinflussen. Wie diese Massenpsychologie auf der Basis von Hypnose-Konzepten eine leicht beeinflussbare Masse konzipiert, wird Thema des Kapitels zur Hypnose und Suggestion sein. Das Unsichtbarwerden des Einzelnen in der Masse ist aber noch einer weiteren als der juristischen Rahmung geschuldet. Sighele aktualisiert im Zuge seiner Untersuchung der Masse auch ein statistisches Wissen, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es vom Einzelnen, Individuellen und Besonderen absieht. Wie dieses Wissen in eine Massencharakterisierung überführt wird, ist Gegenstand des Kapitels Die Errechnung der Masse.
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Peter Friedrich: »Masse und Recht. Zur Geschichte strafrechtlicher Verantwortlichkeit bei Massendelikten«, in: Michael Niehaus/Hans-Walter SchmidtHannisa (Hg.), Unzurechnungsfähigkeiten: Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Lang 1998, S. 1756, hier S. 41. Ebd., S. 40. Identisch bewertet Wilhelm Vleugels Sigheles Arbeit. Vgl. Wilhelm Vleugels: Die Masse. Ein Beitrag zur Lehre von den sozialen Gebilden, München, Leipzig: Duncker & Humblot 1930, S. 28. 76
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1 Menschenschwärze und Unzurechnungsfähigkeit Sigheles Ausgangspunkt sind Strafrechtsfälle, in denen eine große Anzahl von Menschen als Angeklagte auftreten. Seine Frage ist, wie diese Verbrecher strafrechtlich zu be- und verurteilen sind. Somit kombiniert sich schon im Erkenntnisinteresse die Idee einer großen Anzahl von Menschen mit der der moralischen Verwerflichkeit. Sigheles Beobachtung fokussiert aufgrund seiner Ausgangsfrage, wie eine solche Menge zu bestrafen sei, allein die Masse, insofern sie kriminell und unmoralisch ist. Große Menschenmengen, die keine kriminelle Handlung ausführen, können ihn aufgrund seiner Fragestellung nicht interessieren. Die Masse wird zum Objekt seiner Betrachtung, insofern sie Abweichungen produziert und so zum Gegenstand juristischer Kommunikation wird. Seine Ausgangsfrage lautet wie gesagt: Welche »strafrechtliche[ ] Verantwortlichkeit« liegt vor, »wenn die Thäter [...] eine sehr große Zahl sind, die unbestimmt ist und sich jeder genauen Abgrenzung entzieht, kurz, wenn das Verbrechen das Werk einer Masse ist.«10 Sigheles Ziel ist also zunächst ausschließlich die Erörterung eines juristischen Problems. Seine Frage setzt genau dort an, wo das Individuum als Urheber einer Tat aufgrund der Vielzahl der Täter nicht mehr erkennbar ist. Ihn interessieren keine Verbrechen, bei denen eine individuelle Zurechenbarkeit gegeben ist, gleichgültig wie viele Personen daran beteiligt sind. Solange eine Organisation oder eine »vorhergehende Übereinkunft«11 im Hintergrund des Verbrechens steht, handelt es sich für Sighele nicht um ein Massenverbrechen. Der Verlust der individuellen Zurechnungsfähigkeit wird vorausgesetzt und bildet die Ausgangsüberlegung, die seine Untersuchung einleitet. Insofern es ihm aber um das Problem der Unmöglichkeit der Zurechnung eines Verbrechens auf eine Person geht, ist der Verlust der Beobachtung des Einzelnen der Massenpsychologie aufgrund ihrer juristischen Gründungsakte maßgeblich eingeschrieben.12 Es geht also, kurz gesagt, um die juristische Frage der Zurechnungsfähigkeit, welche die Grundvoraussetzung für eine strafrechtliche Behandlung eines Verbrechens ist. »Die juristische Lehre von der Zurechnung erklärt, wer für das, was er tut, zur Rechenschaft gezogen werden kann.«13 Genau diese Frage – die Zurechnung eines Verbrechens auf eine Person – ist aber
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S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 30. Ebd., S. 28. Vgl. auch ebd., S. 191. Vgl. P. Friedrich: Masse und Recht, S. 40. Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Unzurechnungsfähigkeiten: Diskursivierung unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Lang 1998, S. 7-13, hier S. 7. 77
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beim Massenverbrechen nicht gegeben. Eine Verantwortlichkeit ist nicht auszumachen, da zu viele Personen an der Tat beteiligt sind, als dass sie noch einem Urheber zugerechnet werden könnte. Friedrich stellt in seiner Studie über den juristischen Diskurs zum Massenverbrechen fest: »Eine reflexive Supplementierung des Zurechnungsvorganges durch einen Dritten scheitert [...] bereits an der wahrnehmungsphysiologischen Begrenzung der Apprehensionsfähigkeit des Beobachters. [...] Die Strafverfolgung müßte demnach eigentlich entfallen, weil die Massenaktion ein auf das Maß individueller Tatführung zugeschnittenes Strafrecht in der Regel schon von den materiellen Gegebenheiten her überfordert.«14
Die Unzurechnungsfähigkeit beim Massenverbrechen ist also zunächst ein Problem, das durch die Anzahl der Akteure verursacht wird. Dieses Problem führt über zu einer Beobachtungsproblematik.15 Die möglichen verantwortlichen Personen entziehen sich der Beobachtbarkeit aufgrund der unbegrenzten Gestalt der Masse. Die Masse ist formlos beziehungsweise – um eine immer wieder bemühte Beschreibung aufzurufen – »amorph«.16 Weil sie amorph ist, bleibt die Möglichkeit der Wahrnehmung des Einzelnen darin aus. Aufgrund dieser Unmöglichkeit der Wahrnehmung kann für die Menge nicht geklärt werden, wer von den Vielen eine bestimmte Tat ausgelöst, angestiftet oder verübt hat. Die von Sighele gestellte Frage »Wer ist nun aber in einer Menge als verantwortlich zu betrachten?«17 lässt sich nicht beantworten.
14 P. Friedrich: Masse und Recht, S. 20. Vgl. zur gleichen These Herbert Jäger: Individuelle Zurechnung kollektiven Verhaltens. Zur strafrechtlich-kriminologischen Bedeutung der Gruppendynamik, Frankfurt/Main: Metzner 1985, S. 14. Vgl. zur Erläuterung des Problems der Unzurechnungsfähigkeit insbesondere bei Sighele ebd., S. 16f. 15 Vgl. in diesem Sinne auch Walter Benjamin: »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter der Hochkapitalismus«, in: ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Bd. I, 2. Hrsg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991 (1974), S. 509-690, hier S. 549f. 16 Am berühmtesten in diesem Zusammenhang ist Werner Sombarts Äußerung: »Man nennt Masse die zusammenhanglosen, amorphen Bevölkerungshaufen [...], die, aller Gliederung bar [...] eine tote Menge von lauter Einsen bilden.« Werner Sombart: Der proletarische Sozialismus, Jena: Fischer 1924, S. 99. Vgl. zur Beschreibung der amorphen Masse auch Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden: Brockhaus 1946, S. 11; C. Münster: Mengen, Massen, Kollektive, S. 54; Hanscarl Leuner: »Über den Wandel der psychischen Massenphänomene«, in: Wilhelm Bitter (Hg.), Massenwahn in Geschichte und Gegenwart. Ein Tagungsbericht, Stuttgart: Klett 1965, S. 99-110, hier S. 102; W. Vleugels: Der Begriff der Masse, S. 193. 17 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 155. 78
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Dieser Tatbestand hat weitreichende Folgen, denn als Kriterium für die Zurechnungsfähigkeit »gilt seit dem Aufkommen des neuzeitlichen Naturrechts die freie Verfügung des Subjekts über seinen Willen. Wer diese Bedingung nicht erfüllt und, abweichend von der Norm, in seinen Handlungen unfrei ist, wird als unzurechnungsfähig bezeichnet. Für Kant ist er nicht einmal mehr Person.«18 Die Idee der Zurechnungsfähigkeit verweist also auf die Vorstellung einer willentlich handelnden Person und Unzurechnungsfähigkeit ist gegeben, wenn eine Tat nicht auf den Willen einer Person zurückgeführt werden kann. Der Wille des Einzelnen gilt im Falle der Unzurechnungsfähigkeit nicht als die Ursache für eine Tat. Mit anderen Worten: Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit bedeutet die Problematisierung des Willens als Ursache für ein Verbrechen. Dieser Zusammenhang wird im Rahmen der juristischen Erörterung des Massenverbrechens explizit erörtert. Neben Sighele betont auch Johannes Nagler in seiner Studie Das Verbrechen der Menge, dass für das Strafgesetzbuch »das Verbrechen als die Persönlichkeitsleistung in Reinkultur«19 gilt. Das heißt, gerade durch das Verbrechen lässt sich der Status als Person und die freie Verfügungsgewalt über den eigenen Willen erkennen, denn Zurechnungsfähigkeit bedeutet eine Handlung auf einen freien Willen zurückzuführen.20 Damit dient aber gerade die Ausnahme und das extreme Verhalten, für das das Verbrechen steht, eine Normalität zu bestimmen, wie sie mit dem freien Willen und der Persönlichkeit des Individuums gedacht wird.21 Insofern sich aber die Zurechnungsfähigkeit bei der Masse nicht herstellen lässt, ist auch das Walten eines Willens darin prekär. Die Unzurechnungsfähigkeit ist bei Massenverbrechen wegen der großen Zahl der Täter und ihrer damit einhergehenden amorphen Gestalt gegeben und dies bedeutet: Da zu viele Personen an dem Verbrechen beteiligt sind, kann ein einzelner Wille nicht mehr als Ursache ausgemacht werden. Man muss, so Friedrich, »von der Unzurechnungsfähigkeit der Massenvergehen sprechen. Die Masse ist delikts- und strafunfähig, weil sie keine natürliche Person ist, sondern ein ephemerer Körper, flüchtig und vielköpfig. Wie soll man sich den notwendigen Willensakt, der den verbrecherischen Erfolg herbeiführt, für eine Masse vorstellen? Wie kann man den flüssigen Massenkörper ergreifen, wie verhören, wie bestrafen?«22
18 M. Niehaus/H.-W. Schmidt-Hannisa: Einleitung, S. 7. 19 Johannes Nagler: »Das Verbrechen der Menge«, in: Der Gerichtssaal XCV (1927), S. 157-218, hier S. 158. Vgl. auch S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 35-39 u. 155-159. 20 Vgl. P. Friedrich: Masse und Recht, S. 17-19. 21 Vgl. ebd., S. 39. 22 Ebd., S. 19. 79
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Eine Bestrafung kann nur einsetzen, wenn die Möglichkeit der Zurechnung einer Tat auf einen Willen als deren Ursache gegeben ist. Diese Ursache entfällt aber in der Masse: In der Masse ist der der Tat zugrunde liegende Wille nicht erkennbar. Die Unzurechnungsfähigkeit der Masse wird so von einem quantitativen zu einem qualitativen Problem: Zunächst besteht sie allein insofern, als nicht eine oder einige Personen als Urheber eines Verbrechens zu bestimmen sind. Damit fällt aber ein bestimmendes Moment jeder juristischen Beurteilung einer Tat weg – nämlich die Zurechnung einer Tat auf einen Willen. Der Verlust des Willens wird darüber zur Eigenschaftsbeschreibung der Masse. Der juristische Rahmen der Behandlung des Themas legt also die Willenlosigkeit der Masse fest, die in der Folge als einer ihrer bestimmenden Merkmale hervorgehoben wird. Im Rahmen der juristischen Erörterung des Massenhandelns entfällt also das Moment des Willens, aber die Tat selber bleibt als Gegenstand der Rechtssprechung erhalten. Es liegt eine Handlung vor, die eine juristische Beurteilung herausfordert und eine Bestrafung notwendig macht, auch wenn ein entscheidendes Moment für einen Rechtsspruch fehlt. »Massen produzieren Mannigfaltigkeiten, in denen die Kausalität zwischen intellektueller Urheberschaft und ihrer erfolgreichen Manifestation in der Tat oft unlesbar bleiben muß.«23 Daraus resultiert ein weiteres Beschreibungsmerkmal: Insofern der Effekt vorliegt, die Tat also ausgeführt wurde, scheint die Masse trotz ihrer Willenlosigkeit zielgerichtet zu handeln. In der Masse, so Sighele, »sehen wir inmitten der ungeheuren Vielfältigkeit ihrer Bewegungen eine Einheitlichkeit des Ziels und des Handelns [...].«24 Alle Menschen in der Masse scheinen also einem gemeinsamen Ziel entgegen zu streben, auch wenn ein dahinter stehender Wille fehlt. Die gemeinsam verübte Tat, die die Masse zum Gegenstand juristischer Debatten macht, führt zu der Schlussfolgerung, dass das Handeln der Masse auf ein identisches Ziel gerichtet ist. Die ›Gleichgerichtetheit‹ der Masse wird zu einem ihrer Bestimmungsmerkmale. Dabei wird die Idee der Gleichgerichtetheit in der Folge Sigheles nicht nur auf das Handeln, sondern auch auf das Denken und die Emotionen der Masse angewandt. So ist für den Juristen Nagler die Masse »geeint durch gemeinsames Denken und Streben«25 und für Le Bon sind in der Masse »die Gefühle und Gedanken aller einzelnen [...] nach derselben Richtung orientiert.«26 Ähnlich formuliert Sigmund Freud 1921, dass die Einzelnen der Masse »etwas miteinander gemein haben, ein gemeinsames Interesse an einem Objekt, eine gleichartige Gefühlsrichtung in einer gewissen Situation
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Ebd., S. 20. S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 44. J. Nagler: Das Verbrechen der Menge, S. 193. G. Le Bon: Psychologie der Masse, S. 10. 80
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[...].«27 Wilhelm Vleugels sieht in dieser ›gleichartigen Richtung‹ sogar das wichtigste Bestimmungsmerkmal der Masse. Für ihn ist die Masse ein Gebilde, das sich aus »in gleicher Richtung orientierte[n] Menschen«28 zusammensetzt. Die Formulierungen, die um 1900 gefunden werden, sind also auch in den 1920er Jahren des 20. Jahrhunderts präsent und werden darüber hinaus auch in den 1950/60er Jahren wiederholt und verbreitet. Sie finden dann sogar Eingang in die Lehrpläne von Hauptschulen. Dort lernen die Schüler – gemäß einer Unterrichtshilfe für Lehrer, die den Titel Im Zeitalter der Massen trägt –, dass die Masse sich durch »die Gemeinsamkeit eines Zieles«29 auszeichne. Diese Geeintheit im Ziel führt wieder direkt zurück zu Sigheles Bestimmung, wonach sich im gemeinsam verübten Verbrechen zeigt, dass die Masse eine ›Einheitlichkeit des Ziels und des Handelns‹ aufweise. Die Unterrichtshilfe mit dem Untertitel Vom Umgang mit Massenmedien macht vor allem deutlich, in welchen Kontext in den 1950/60er Jahren die Idee der gleichgerichteten Masse gehört: Es seien die Massenmedien, die das Denken, Fühlen und Handeln der vermeintlichen Masse in eine Richtung lenken. Dabei bereitet die Unterrichtshilfe durch die Formulierung simpler Formeln und durch das Heranziehen anschaulicher Beispiele ein Wissen für die Vermittlung an Schulen auf, das sich auch im Rahmen komplexer Analysen des Fernsehens und anderer Verbreitungsmedien findet. Auch in Adornos Auseinandersetzung mit dem Fernsehen wird – entsprechend seines Konzepts der Kulturindustrie und im Kontext einer differenzierten Betrachtung des Mediums – die medial stimulierte Ausrichtung der Masse beschrieben. Anstatt von Denken, Fühlen und Handeln schreibt er über die »Bedürfnisse« der Menschen, die durch das Fernsehen in eine einheitliche Richtung gesteuert werden: »Immerhin darf ein Medium, das ungezählte Millionen erreicht und das zumal bei Jugendlichen und Kindern oft jedes andere Interesse übertäubt, als eine Art Stimme 27 Sigmund Freud: »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921), in: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. XIII. Hrsg. v. Anna Freud u.a. Frankfurt/Main: Fischer 1999, S. 71-161, hier S. 90. Für Freud ist dies die Bedingung, um überhaupt von einer psychologischen Masse anstatt von einer zufälligen Zusammenkunft zu sprechen. 28 W. Vleugels: Die Masse, S. 36. Vleugels kommt zu dieser Definition, nachdem er eine Reihe von Massentheorien analysiert und dies als die allen gemeinsame Beschreibungsgröße herausgearbeitet hat. Er beruft sich auf diese Definition auch, da sie, so Vleugels, gleichermaßen auf die wirksame und die latente Masse anzuwenden sei, denn die Verbundenheit der latenten Masse stelle sich »durch die Gemeinsamkeit bestimmter dauernder Interessen« her. Ebd., S. 37. 29 H. Bergner: Im Zeitalter der Massen, S. 29. Es handelt sich um eine Unterrichtshilfe für Hauptschullehrer, die diese im Rahmen der politischen Bildung einsetzen sollen. 81
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des objektiven Geistes gelten, auch wenn dieser nicht mehr unwillkürlich aus dem gesellschaftlichen Kräftespiel resultiert, sondern industriell geplant wird.«30
Eine Fernsehindustrie gebe die Bedürfnisse und das Denken für die Masse vor, die sich aufgrund dessen einheitlich und uniform verhalte. Dabei entsprächen diese Bedürfnisse nicht ›eigentlich‹ denen der Masse, sondern seien nur Replikate des ›Willens der Kontrolleure‹, die das System beherrschten.31 Das Objekt des gemeinsamen Strebens wird dann auf eine so geringe Materialität reduziert – »Chesterfield« ist die »Zigarette der Nation«32 –, dass alles, die gesamte Nation, zur Masse wird, so die analoge Diskussion zum Massenmedium Radio. Jeder durch Massenmedien beworbene Konsumartikel reicht aufgrund der Durchschlagkraft der Medien, die jede »Empfehlung« in einen »Befehl«33 verwandeln, hin, um eine Masse gemäß ihrer verbreiteten Definition über das gemeinsame Streben entstehen zu lassen. Der Masse werde also ein fremder Wille introjiziert, der dann in Gestalt der Bedürfnisse der Masse erscheine. Im Rahmen dessen bleibe eine Willensbildung der Masse aus und so gibt Adorno auch keine Antwort auf die Frage, was die ›eigentlichen‹ Bedürfnisse der Masse seien. In seiner Analyse bleibt ungeklärt, welche Interessen durch das Fernsehen ›übertäubt‹ werden und wie das Resultat des ›gesellschaftlichen Kräftespiels‹ aussehen könnte. Auf diese Weise realisiert sich in der Argumentation Adornos vollständig das Bild einer zielgerichteten, wenn gleich auch willenlosen Masse, wie es die Massenpsychologie formuliert. Auch Adornos Masse mangelt es an einem eigenen Willen und an eigenen Bedürfnissen. Dessen ungeachtet komme es zu Willensäußerungen der Masse, diese seien eben nur fremdbestimmt. Doch bevor sich dieser Zusammenhang aus Massenmedien und Willensbildung etabliert, stellt der juristische Diskurs zunächst noch andere Erklärungsmuster zur Verfügung, die im Folgenden knapp erörtert werden sollen, bevor anschließend die bisher verfolgte These von der Inivisiblisierung des Einzelnen in der Masse anhand der Integration statistischen Wissens in die Massentheorie weiterverfolgt wird.
30 Vgl. Theodor W. Adorno: »Prolog vor dem Fernsehen« (1952/53), in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft. Eingriffe, Stichworte, Anhang. Gesammelte Schriften, Bd. 10, 2. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 507-517, hier S. 513. 31 Vgl. ebd., S. 514. Vgl. In diesel Zusammenhang auch die Kapitel Pathologien und Steuerung im Zeitalter der Massen. 32 Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente« (1947), in: Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Gesammelte Schriften, Bd. 3. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 7-294, hier S. 182. 33 Ebd., S. 183. Vgl. zur Vorstellung, ein fremder Willen werde mittels Befehl introjiziert, das folgende und das letzte Kapitel des vorliegenden Teils. 82
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2 Erklärungsmodelle: Zurechnung auf einen fremden Willen Der juristische Diskurs um Unzurechnungsfähigkeit hält ein festgelegtes Set an medizinischen, psychiatrischen und psychologischen Diagnosen bereit, die Unzurechnungsfähigkeit – wenn auch bis dato nur für Einzelverbrecher – begründen. Krankheit und Irresein, so formuliert es die Rechtssprechung mit Bezug auf Mediziner und Psychologen, führen dazu, dass eine Person die Verfügungsgewalt über ihren Willen verliert und so die Tat unter das Unzurechnungsfähigkeitsparadigma fällt.34 Der juristische Rahmen, innerhalb dessen die Masse zum Gegenstand der Erörterung wird, konturiert diese also nicht nur als straffällig sowie gleichgerichtet und willenlos, sondern darüber hinaus auch als pathologisch. Es handelt sich um »Irre, Söhne Irrer, Trunksüchtiger«, die sich im Zustand von »Wildheit und Tollheit«35 befinden. Man findet in der Masse »ein wirkliches Delirieren« und eine »Geistesstörung«.36 Zum Repertoire der Ursachen für Unzurechnungsfähigkeit gehören auch und vor allem die Suggestion und Hypnose, die auch von Sighele aufgerufen werden.37 Hypnose und Suggestion erhalten im Kontext der Frage nach der Unzurechnungsfähigkeit eine besondere Relevanz, da sie einen Zustand des Individuums beschreiben, in dem gerade die Persönlichkeit und der Wille ausgesetzt seien38 und zwar durch die Einwirkung eines fremden Willens: »Im Akt der Hypnose«, so fasst Stefan Andriopoulos es in seiner Arbeit zum medizinischen und juristischen Diskurs um Besessene Körper zusammen, »›verschwindet‹ die Persönlichkeit des Hypnotisierten, während sich sein ›Körper‹ in einzelne Organe auflöst, die sich seiner Kontrolle entziehen.«39 34 35 36 37
Vgl. M. Niehaus/H.-W. Schmidt-Hannisa: Einleitung, S. 7f. S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 129f. Ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 55-69 u. 166-179. Vgl. zur Hypnose bei G. Le Bon: Psychologie der Massen, z.B. S. 17. 38 Siehe dazu Albert Moll: Der Hypnotismus, Berlin: Fischer’s medicinische Buchhandlung 1890, S. 284: »Danach will das Gesetz durch Anwendung dieses Begriffs [der Willenlosigkeit] gerade Personen schützen, die vermöge ihres geistigen Zustandes das strafrechtliche Unterscheidungsvermögen für die [...] Handlung nicht besitzen. Hierunter würden mit grosser Leichtigkeit Personen zu subsumiren sein, die sich in hypnotischem Zustand befinden. Die Willenlosigkeit [...] bezieht sich wesentlich auf einen psychischen Zustand.« 39 Stefan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose. Körperschaft und die Erfindung des Kinos, München: Fink 2000, S. 34. Vgl. auch ders.: »Die Unzurechnungsfähigkeit somnambuler Medien. Der ›Roman‹ und das ›Schauspiel‹ des ›hypnotischen Verbrechens‹ 1885-1900«, in: Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hg.), Unzurechnungsfähigkeiten: Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Lang 1998, S. 133-154; sowie Martin Stingelin: »Hypnotische Experimente zwischen Hyste83
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Die so verlorene Kontrolle wird durch den Hypnotiseur übernommen. Sein Wille herrscht über den hypnotisierten Körper. Diese Idee einer Fremdherrschaft über einen Körper initiiert, so Andriopoulos, zahlreiche juristische Studien, die sich »mit der Zurechnung eines ›hypnotischen Verbrechens‹ beschäftigen« und den Hypnotisierten als »unzurechnungsfähig«40 betrachten. An seiner statt ist es nun der Hypnotiseur, dem das Verbrechen zugerechnet wird, so dass bei der Hypnose keine eigentliche Unzurechnungsfähigkeit vorliegt. Es ist der Wille des Hypnotiseurs, der als Ursache für das Verbrechen gilt. Der Hypnotisierte ist dagegen das willenlose »Werkzeug«41, dessen sich der Hypnotiseur bedient. Auf diese Weise wird die Unzurechnungsfähigkeit wieder in eine Zurechnungsmöglichkeit überführt. Es wird ein anderer Wille als der des Täters ausgemacht und stattdessen eine mittelbare Täterschaft durch den Hypnotiseur angenommen. Dieses Verfahren wendet Sighele auch für die Masse rie und Paranoia«, in: Torsten Hahn/Jutta Person/Nicolas Pethes (Hg.), Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910, Frankfurt/Main, New York: Campus 2002, S. 255-292, hier S. 274-277. 40 S. Andriopoulos: Besessene Körper, S. 39. Vgl. dazu auch die Arbeit von Ludwig Mayer, für den sich die Frage der Zurechnung eines Verbrechens scheinbar gar nicht mehr stellt, da er den Hypnotiseur von vorneherein als Verbrecher tituliert. Dabei entwirft er ein besonders extremes Bild vom Einfluss des verbrecherischen Hypnotiseurs auf den Hypnotisierten, da er davon ausgeht, dass es dem Hypnotiseur möglich sei, dem Hypnotisierten nicht nur den Befehl zur Ausführung einer verbrecherischen Tat zu geben, sondern zusätzlich auch eine entsprechende Aussage im Falle eines Verhörs durch die Polizei zu vermitteln: »Die täterische Aussagenbeeinflussung kann soweit getrieben werden, daß sich ausgesprochene Falschaussagen ergeben. Der Verbrecher kann ja suggerieren, was er nur will. Der Hypnotisierte führt kritiklos die ihm aufgetragenen Handlungen aus und gibt also auch die Aussage entsprechend den in diesem Zusammenhang erhaltenen Suggestion wieder [...]« Ludwig Mayer: Das Verbrechen in Hypnose und seine Aufklärungsmethoden, München, Berlin: Lehmann 1937, S. 69. Trotz dieser enormen Wirkungsweise, die er der Hypnose zuspricht, und trotz der Annahme, die Hypnose könne zur Verbrechensausführung dienen, veröffentlicht Mayer im gleichen Jahr ein Buch zur praktischen Anleitung zur Hypnose. Das Buch dient dem Erlernen der Hypnose und damit der Aneignung eines Verfahrens, das nach Mayer in hervorragender Weise für die Verbrechensausübung geeignet sei. Vgl. ders.: Die Technik der Hypnose. Praktische Anleitung für Ärzte und Studierende, München, Berlin: Lehmanns Verlag 1937. 41 Vgl. zur Metapher des Werkzeugs L. Mayer: Das Verbrechen in Hypnose, S. 22 u. 49; sowie S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 87 und Albert Freiherr von Schrenck-Notzing: »Die gerichtlich medicinische Bedeutung der Suggestion. Vortrag gehalten gelegentlich des 2ten internationalen Congresses für experimentellen und therapeutischen Hypnotismus in Paris (August 1900)«, in: Archiv für Kriminal-Anthropologie und Kriminalistik 5 (1900), S. 1-31, hier S. 12. 84
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an und bringt damit eine Massenbeschreibung auf den Weg, die im Anschluss permanent wiederholt wird und sich durchgehend in allen Massentheorien findet, auch wenn dabei nicht explizit auf einen juristischen Kontext referiert wird. So wie der medizinische Diskurs um Hypnose mit der mittelbaren Täterschaft die Zurechnung eines Verbrechens ermöglicht, so liefert auch der politische Diskurs ein Konzept, mit dem die Zurechnung eines Massenverbrechens gelingen soll. Indem innerhalb der Masse eine Führerpersönlichkeit ausgemacht wird, kann die Tat wieder auf eine einzelne Person und deren Willen zurückgeführt werden. Der Führer gilt als Inhaber eines Willens, den er der Masse eingebe, damit sie die vom Führer gewollte Handlung ausführe. Für die juristische Fragestellung der Zurechnungsmöglichkeit bedeutet dies: Kann ein Führer innerhalb der Masse ausgemacht werden, so ist dieser – folgt man Sighele – zu bestrafen, da es sein Wille ist, der zur Ausführung gekommen ist.42 Im Rahmen der Rechtssprechung ist das Führerprinzip also eine Möglichkeit, um einen Rechtsspruch trotz der Unzurechnungsfähigkeit der Masse herbeizuführen. Das Walten einer Führerpersönlichkeit in der Masse bedeutet, wie gesagt, die willenlose Masse im Kontext eines juristischen Diskurses wieder mit einem Willen auszustatten – sei dieser auch von außen vorgegeben. Diese Idee des Führers gewinnt eine solche Relevanz, dass einige Studien zur Masse nach 1900 ihre Beschreibung auf den Zusammenhang von Führer und Masse ausrichten. Insbesondere die politische Theorie der Masse befasst sich mit diesem Thema.43 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Robert Michels Studie Zur Soziologie des Parteienwesens, in deren Mittelpunkt
42 Vgl. S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 32. 43 Die Frage der Führung gehört zu einer der zentralen Themen der politischen Theorie und dies nicht nur im Rahmen massentheoretischer Überlegungen. Dieser Komplex – der Zusammenhang von Massen- und politischer Theorie mit Rekurs auf den Führer – kann aber an dieser Stelle nicht erörtert werden, da damit ein neues und weitreichendes Untersuchungsfeld eröffnet wäre. So hängt die Systemstelle Führung, laut Luhmann, mit der Ausdifferenzierung des Systems Politik zusammen: »Zum Verständnis der beginnenden Ausdifferenzierung ist es wichtig, Zentralisierung (Fokussierung auf einen Führer, einen Häuptling etc.) als eine besondere Variable zu sehen, von der die Sichtbarkeit der politischen Funktion abhängt. Sie ermöglicht eine Beschleunigung der Kommunikation und damit einen strategisch wichtigen Zeitgewinn im Verhältnis zu diffuser Kommunikation, die sich erst organisieren muß.« Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 71. Folgt man Luhmann, so besteht eine zentrale Funktion der Führerfigur in ihrer Sichtbarkeit. Dies ist auch ihre Funktion im Rahmen der Massentheorie. Die Systemstelle Führer dient dazu, ein Beobachtungsproblem zu lösen – nämlich innerhalb der Vielzahl der Beteiligten bei einem Massenverbrechen eine individuelle Zurechnungsmöglichkeit herzustellen. 85
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das Verhältnis von Führer und Masse steht.44 Aber nicht nur die politische Theorie untersucht die Masse im Hinblick auf die Rolle des Führers. Die gesamte massentheoretische Literatur ist in mehr oder weniger ausgeprägter Weise mit diesem Thema beschäftigt. Die Ideen von Führer und Hypnose45 dienen jeweils dazu, Sigheles zu Beginn des Kapitels zitierte Frage »Wer ist nun aber in einer Menge als verantwortlich zu betrachten?«46 zu beantworten. Dabei soll entweder eine einzelne (Führer)person oder ein (Hypnose)verfahren die Masse der Verantwortlichkeit entheben, indem sie deren Unzurechnungsfähigkeit erklären. Beide Prinzipien sind zentrale Erklärungsgrößen im Rahmen der massentheoretischen Überlegungen seit der Jahrhundertwende und werden auch dann aufgerufen, wenn es nicht um eine juristische Erörterung der Masse geht. Die juristische Behandlung der Masse verliert sich im 20. Jahrhundert zunehmend als expliziter Referenzrahmen der Massentheorie, wie Herbert Jäger in seiner Untersuchung zur Individuellen Zurechnung kollektiven Verhaltens betont. Er erläutert, wie sich die Bedeutung der Masse als Gegenstand des Rechts und der Kriminologie zunehmend verliert. Laut Jäger liegt dies darin begründet, dass die Masse zum Objekt einer »kulturkritischen Psychologie« geworden ist, die nicht an »aktivierten Menschenmengen«, sondern am »Massenzeitalter« interessiert ist. Dabei wird sie »zu einem ›nahezu ubiquitären Phänomen‹.«47 Er formuliert damit eine These, wie sie auch in die vorliegende Arbeit Eingang gefunden hat, und wonach sich die Beschreibung der Masse immer weniger an der Auflaufmenge orientiert. Stattdessen wird die Masse zum Bestandteil einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Als solche kann die Masse aber nicht von kriminalistischem Interesse sein, da dieses sich auf eine konkrete Tat bezieht. Die veränderte Definition der Masse als ubiquitäres Phänomen führt also dazu, dass ihre Beobachtung immer seltener vom Rechtssystem geleistet wird.48 44 Laut Helmuth Berking trägt Michels »entscheidend zur Verbreitung der Massenpsychologie bei.« H. Berking: Masse und Geist, S. 70. Michels vertritt die These, dass die Demokratie der Oligarchie entgegenstrebe, da die Masse zur unmittelbaren Führung unfähig sei und daher der Führung in Form einer Parteienorganisation bedürfe. Der Führer, der eigentlich der Masse zu dienen hat, wird mit Hilfe der Partei zu deren Beherrscher. Vgl. Robert Michels: Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie. Untersuchung über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig: Kröner 1925, S. 503-508. 45 Auf beide Aspekte wird auch noch einmal im letzten Kapitel des vorliegenden Teils eingegangen. 46 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 155. 47 H. Jäger: Individuelle Zurechnung kollektiven Verhaltens, S. 13. 48 Vgl. ebd., S. 13. So besteht auch ein entscheidender Unterschied zwischen Le Bons und Sigheles Arbeit, dass für Le Bon die Kriminalität nicht mehr ein bestimmendes Charakteristikum der Masse ist. Le Bon thematisiert zwar, dass die 86
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Dabei übergeht Jäger aber, dass die Beschreibungen des Rechtssystems gerade das Objekt der Kulturkritik formieren. Gerade die juristische Massenanalyse legt ein Objekt vor, das sich in hervorragender Weise zur kulturkritischen Betrachtung der Gesellschaft eignet. Das Recht informiert also die gesellschaftliche Selbstbeschreibung.49 Spezifische Eigenschaften der Masse, die im Rahmen einer juristischen Erörterung erarbeitet werden, liegen in der Folge als Gesellschaftsanalyse vor. Hypnose und Führer werden in die Massentheorie integriert, indem die Masse zum Gegenstand der Rechtssprechung wird. Das Repertoire der Erklärung der juristischen Frage der Unzurechnungsfähigkeit wird auf die Masse übertragen und so zum Standardthema der Massentheorie. Sie sollen jeweils erklären helfen, welchem Willen die Masse untersteht und zwar in Anbetracht des Fehlens eines eigenen Willens in ihr. Neben diesen beiden Themen wird zunehmend ein weiteres Moment zur Erläuterung dieser Frage eingeführt: die ›Massenmedien‹. Auch ihr Wirken erscheint als eine Erklärungsmöglichkeit für die Unzurechnungsfähigkeit der Masse. Doch bevor auf diesen Zusammenhang eingegangen wird, soll zunächst noch ein weiterer Aspekt beleuchtet werden, der in Sigheles Massenuntersuchung angelegt ist und der die Eigenschaftsbeschreibung der Masse als willenlos und entindividualisiert stiftet: die Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie sie mit dem Namen Quételet verbunden ist und wie sie sich im Rahmen von soziologischen Studien findet. Quételets Ziel ist die statistische Erfassung der Gesellschaft und damit steht eigentlich nicht mehr wie bei der bisherigen Auseinandersetzung mit dem Massenverbrechen der Massenauflauf im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dessen ungeachtet ruft Sighele den Kontext der statistischen Berechnung im Rahmen seiner Analyse des Massenverbrechens auf.
3 Die Errechnung der Masse Quételet ist einer der offensivsten Vertreter der sogenannten ›Physik der Gesellschaft‹. Das Anliegen dieser Physik der Gesellschaft ist es, eine wissenschaftliche Analyse des Sozialen zu liefern, die methodisch analog zu den
Masse zur Kriminalität neige, jedoch sei dies nicht zwingend. Vgl. G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 41-44. 49 Die hohe Wertigkeit rechtsförmiger Kommunikation in der Gesellschaft katalysiert die Übernahme dieser Formen in die gesellschaftliche Selbstbeschreibung. Vgl. zur »Prominenz des Rechtssystems« und der »Angewiesenheit der Gesellschaft« auf seine Kommunikationen Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995 (1993), S. 586. 87
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Naturwissenschaften vorgeht und sich darüber legitimiert.50 Dies bedeutet die Annahme von identifizierbaren Elementarteilchen und Strukturelementen sowie die Erforschung grundsätzlicher Bewegungsgesetze und Prinzipien.51 So versucht Quételet nachzuweisen, dass sich auch die Lehre von der Gesellschaft auf empirisches Material zu beziehen und daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten hat, wodurch sie nicht mehr den »spekulativen Wissenschaften«52 zuzuordnen ist. Sein Verdienst liegt im Zuge dessen vor allem in einer Popularisierung des statistischen Wissens. Dabei bezieht sich Quételet auf das Konzept der »Wahrscheinlichkeitsrechnung«53, dessen Grundlage der Durchschnittsmensch beziehungsweise der ›mittlere Mensch‹54 ist. Der mittlere Mensch ist das Produkt der Vermessung einer Vielzahl von Einzelnen und der Verrechnung der daraus gewonnenen Daten. Die Verrechnung geschieht auf der Grundlage der Annahme einer Normalverteilung, die besagt, dass die Vielzahl der Messergebnisse trotz ihrer Heterogenität einer Regelmäßigkeit folgen, insofern Extremwerte gegenüber mittleren Werten selten sind. Das heißt, die Werte verteilen sich um ein Zentrum herum und die Häufigkeit eines Wertes nimmt mit wachsender Distanz zum Zentrum ab. Je größer die Abweichung eines Wertes vom Zentrum ist, desto seltener tritt dieser Wert auf, so dass die Werte um das Zentrum herum quantitativ dominieren. Diese Dominanz – so besagt es das Gesetz der großen Zahl – wächst mit der Anzahl der Messergebnisse. Je größer die Menge der Messungen, desto geringer ist die Anzahl der vom Zentrum stark abweichenden Ergebnisse im Verhältnis zu der Häufigkeit der mittleren Werte. Die Extremwerte verlieren mit Zunahme der Einzeldaten an Bedeutung, weil die Mehrzahl der Ergebnisse um das Zentrum kulminiert.55 »Auf diese Art«, so Quételet
50 Vgl. Theodore M. Porter: The Rise of Statistical Thinking 1820-1900, Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1986, S. 10, 46 u. 55. 51 Vgl. Eckart Pankoke: Sociale Bewegung – Sociale Frage – Sociale Politik. Grundfragen der deutschen ›Socialwissenschaft‹ im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Klett 1970, S. 111f. 52 Adolphe Quételet: Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, oder Versuch einer Physik der Gesellschaft, Stuttgart: E. Schweizerbart’s Verlagshandlung 1838 (1835), S. 2. Vgl. dazu Ian Hacking: »How Should We Do the History of Statistics?«, in: Graham Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Hg.), The Foucault effect: studies in governmentality: with two lectures by and an interview with Michel Foucault, Chicago: Universtity of Chicago Press 1991, S. 181-195, hier S. 181f. 53 A. Quételet: Ueber den Menschen, S. 9. 54 Vgl. ebd., S. 558. 55 Vgl. T.M. Porter: The Rise of Statistical Thinking, S. 52; sowie Felix Keller: Archäologie der Meinungsforschung. Mathematik und die Erzählbarkeit des Politischen, Konstanz: UVK 2001, S. 332. 88
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»würden die Erscheinungen der geistigen Natur, sobald man sie im Grossen betrachtet, gewissermassen an die physischen Erscheinungen sich anreihen, und wir würden dahin gelangen, in dergleichen Untersuchungen das als leitenden Grundsatz voranzustellen, dass die individuellen Besonderheiten in körperlicher und geistiger Beziehung um so viel mehr sich verwischen und die allgemeinen Bedingungen, auf denen der Fortbestand und die Erhaltung der Gesellschaft beruht, vorherrschen lassen, je grösser die Zahl der zum Gegenstand der Beobachtung gewählten Individuen ist.«56
Diese dem Ergebnis zugrunde liegende Annahme tilgt gleichzeitig die Möglichkeit der Beobachtung gesellschaftlicher Heterogenität. Anstatt auf Differenzen oder Variation innerhalb einer Gesellschaft wird der Blick auf darin bestehende Gemeinsamkeiten gelenkt.57 Das Gemeinsame tritt deutlich hervor und wird sichtbar, wohingegen das Einzelne und Besondere in das Feld des Unsichtbaren verschoben wird. Im Fokus der Beobachtung steht allein die quantitativ dominierende Größe, während Besonderheiten und Einzelfälle aus der Beobachtung ausgeschlossen werden. Solche Besonderheiten verlieren sich, da sie aufgrund ihrer quantitativen Geringfügigkeit nicht von Interesse sind, weil sie zu keinerlei Aussagen über generelle Tendenzen der Gesellschaft führen. Allein dem, was in großer Häufigkeit auftritt und damit der Mehrzahl der Menschen in einer Gesellschaft gemeinsam ist, wird Relevanz zugesprochen. Diese Vorgehensweise zur Bestimmung des mittleren Menschen ist nach Quételet »eine nothwendige Vorbedingung für jede andere auf die Physik der menschlichen Gesellschaft sich beziehende Untersuchung«58 und wird verfolgt, um soziale Gesetzmäßigkeiten zu enthüllen. Die Heterogenität, die sich in der Vielzahl der Einzelerscheinungen zeigt, stellt sich dem Betrachter als Chaos dar. Diesem Chaos setzt Quételet den mittleren Menschen entgegen, der einen generellen Typus zeigt, der in einer Gesellschaft herrschend ist. Es ist dieser Typus, anhand dessen sich die Gesetzmäßigkeiten zeigen sollen. Der mittlere Mensch dient dazu, Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu stiften.59 Die diesem Erkenntnisinteresse zugrunde liegende Basisannahme ist der Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Demnach ist der mittlere Mensch der Effekt von Wirkungen, deren Ursachen über die Zahlenwerte zu erschließen sind.
56 57 58 59
A. Quételet: Ueber den Menschen, S. 8. Vgl. T.M. Porter: The Rise of Statistical Thinking, S. 25. A. Quételet: Ueber den Menschen, S. 559. Vgl. Gerd Gigerenzer u.a.: Das Reich des Zufalls. Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten, Häufigkeiten und Unschärfen, Heidelberg, Berlin: Spektrum 1999 (1989), S. 59. 89
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»Wir haben soeben gesehen, dass der Mensch nicht allein in Beziehung auf seine körperlichen Fähigkeiten, sondern selbst in Bezug auf seine Handlungen unter dem Einflusse von Ursachen steht, die grösstentheils etwas Regelmässiges und Periodisches haben und eben so regelmässige und periodische Wirkungen nach sich ziehen. Durch fortgesetzte Forschungen kann man diese Ursachen und die Art, wie sie wirken, oder die Gesetze, deren Grundlage sie bilden, ausfindig machen; aber, wie schon bemerkt, muss man zu dem Ende die Massen studiren, um aus den Beobachtungen alles Zufällige oder Individuelle zu entfernen.«60
Das Herauspräparieren des mittleren Menschen führt also zu der Möglichkeit einer Kopplung von Ursache und Wirkung. Das heißt, es soll bestimmen helfen, welche Effekte durch welche Ursachen hervorgebracht sind. Quételets Erkenntnisinteresse richtet sich auf ein gesellschaftliches Kausalitätsgefüge. Sein Ziel ist die »Ableitung zugrunde liegender Ursachen aus den zahlenmäßigen Befunden.«61 Eine solche Kausalität offenbart sich demnach nicht am Einzelnen, sondern am Durchschnittsmenschen. Allein anhand des letzteren lässt sich nach Quételet feststellen, welche Gesetzmäßigkeiten für den Menschen in einer Gesellschaft bestimmend sind. Die Suche nach den Gesetzmäßigkeiten, wie sie sich aus der Untersuchung der großen Zahl ergeben, bedeutet das Erkennen einer gesellschaftlichen Ordnung, die ihrer eigenen inneren Dynamik folgt beziehungsweise sich einer unaufhaltsamen Mechanik gleich realisiert. Der Einzelne erscheint dabei als Erbringer eines statistischen Solls, das er erfüllt, da »eine geheimnisvolle Schicksalhaftigkeit, eine dem Bewußtsein unbekannte Kraft«62 dies motiviert. Die gesellschaftliche Ordnung und die darin herrschende Dynamik sind Einflussfaktoren, die ein spezifisches menschliches Verhalten hervorbringen und zwar in der Häufigkeit, die für eine Gesellschaft typisch ist. Das Verhalten ist der Ausdruck einer ›probabilistischen Neigung‹.63 Indem Quételet mit Hilfe des Durchschnittsmenschen gesellschaftliche Zusammenhänge erforscht, erhält er ein geordnetes Gefüge, in dem generelle Effekte und generelle Ursachen herrschen. Die Gesellschaft stellt sich nicht als ein Konglomerat von Individuen mit je persönlichen Schicksalen dar. Stattdessen gibt es allgemeingültige Wirkungen, die aus ebenso allgemeingültigen Ursachen hervorgehen. Dieses Theorem der Kausalität leitet über zu der Idee von »den Einflüssen, denen der Mensch unterworfen ist.«64 60 61 62 63 64
A. Quételet: Ueber den Menschen, S. 9. G. Gigerenzer u.a.: Das Reich des Zufalls, S. 60. Ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 64. A. Quételet: Ueber den Menschen, S. 11. Die maßgebliche Gesetzmäßigkeit heißt Kausalität, also der Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Dies besagt, dass eine Ursache die immer gleiche Wirkung zeitigt beziehungsweise identische Wirkungen auf identische Ursachen zurückzuführen sind. Dieses 90
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Menschliches Verhalten kann so auf identifizierbare Einflüsse zurückgeführt werden. Spezifische in einer Gesellschaft gegebene Bedingungen führen zu einem bestimmten Verhalten beim Menschen. Im Zuge dieser Erforschung der sozialen Gesetzmäßigkeiten geht das Individuum aber zunehmend verloren, weil es einerseits nur noch als Durchschnittsmensch präsent ist und andererseits den sozialen Gesetzen unterworfen ist. Der Durchschnittsmensch ist antiindividuell, da er zum einen nur als große Zahl auftritt. Seiner Individualität entkleidet ist er zum anderen, insofern in ihm nur noch das Allgemeine zum Ausdruck kommt. Alles, was davon abweicht oder sich als Einzelfall zeigt, wird als Unordnung, die der Beobachtung der Gesetzmäßigkeiten entgegen steht, negiert.65 Es handelt sich nicht um den Ausdruck menschlichen Willens, sondern um unverständliche oder zufällige66 Details, die für die in einer Gesellschaft bestimmenden Gesetze unerheblich sind: Theorem leitet, wie gesagt, über zu der Idee von ›den Einflüssen, denen der Mensch unterworfen ist.‹ Das heißt menschliches Verhalten kann auf identifizierbare Einflüsse zurückgeführt werden, es wird messbar, kalkulierbar und in Experimenten einsetzbar. Damit steht ein Erklärungskonzept für eine Vielzahl soziologischer Problemfelder bereit. Dieses Erklärungskonzept schafft eine Anordnung von Leerstellen, die beliebig besetzbar sind und im 20. Jahrhundert vornehmlich vom Dispositiv Massenmedium ausgefüllt werden, was zu der einfachen Gleichung führt: Medien wirken auf Rezipienten. Beobachtungen an der Gesellschaft insgesamt können dann auf die immer gleiche Ursache, die ›Medien‹, zurückgeführt werden. Als Massenmedium ist den einzelnen Medien eine Erreichbarkeit der Vielen, das heißt die Betroffenheit der Masse durch das Medium, schon begrifflich eingeschrieben, so dass ein gesellschaftliches Phänomen ohne Schwierigkeiten auf die eine Ursache zurückzuführen ist. Schließlich hat, laut der von der Wissenschaft aufgestellten Gesetzmäßigkeit, die gleiche Wirkung die gleiche Ursache und damit ist ein ›Massenmedium‹ als Ursache prädestiniert, schlicht weil es jeden Einzelnen in der Gesellschaft zu erreichen vorgibt, so dass alles, was in großer Zahl auftritt, darauf zurückrechenbar ist. In einem gegenseitigen Verstärkerkreislauf werden die Ideen von massenwirksamen Medien und von unter Einfluss stehenden Menschen wechselseitig bestätigt. Indem man die eine immer passende Ursache gefunden hat, wird das Prinzip Ursache-Wirkung affirmiert und gleichzeitig werden über dieses Prinzip Medien- und Gesellschaftskonzepte miteinander verbunden. Das eine tritt jeweils den Beweis für das andere an. Auf diesem Wege wird weniger originäres Medienwissen produziert als das bestehende Erklärungsmodell bestätigt. Die Beobachtung von Medien erfolgt im Rahmen des Modells und Medien werden darüber beschreibbar. Vgl. dazu das Kapitel Die Funktion des Fernsehens: Inklusion. 65 Vgl. G. Gigerenzer u.a.: Das Reich des Zufalls, S. 63; F. Keller: Archäologie der Meinungsforschung, S. 333. 66 Was der Perspektive des aufgeklärten Historikers entspricht, der Zufall als noch nicht verstandene Kausalität interpretiert. Vgl. Reinhart Koselleck: »Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung« (1968), in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 91
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»Vor allem müssen wir vom einzelnen Menschen abstrahiren, wir dürfen ihn nur als einen Bruchteil der ganzen Gattung betrachten. Indem wir ihn seiner Individualität entkleiden, beseitigen wir Alles, was zufällig ist; und die individuellen Besonderheiten, die wenig oder gar keinen Einfluss auf die Masse haben, verschwinden von selbst und lassen uns zu allgemeinen Ergebnissen gelangen.«67
Die allgemeinen Ergebnisse dienen, wie gesagt, der Offenlegung von Gesetzmäßigkeiten. Ziel ist die Erkenntnis einer Dynamik, die die Gesellschaft bestimmt und damit auch das Handeln des Einzelnen festlegt. Individuelles Verhalten ist lediglich der Effekt der gesellschaftlichen Dynamik, wie sie sich in den Gesetzmäßigkeiten und Relationierungen der Zahlenwerte widerspiegelt. Die Erklärung der Gesellschaft aus den Gesetzmäßigkeiten, wie sie aus der Betrachtung des Durchschnittsmenschen gewonnen werden, heißt aber erneut eine Negierung von Individualität, denn die Gesetzmäßigkeiten und das Prinzip der Kausalität eliminieren den menschlichen Willen als Generator von Zuständen und Handlungen. Dieser wird aus der Beobachtung ausgeschlossen.68 Es sind äußere Einflüsse, die ein Verhalten hervorbringen; der menschliche Wille ist nicht entscheidend für eine Handlung. Wäre dem nicht so, so verlören die Gesetze ihre Gültigkeit: »Wenn der modifizirende Einfluss der Menschen sich unmittelbar auf die ganze Gesellschaft erstrecken würde, so würde die Vorherbestimmung unmöglich werden, und vergebens würde man in der Vergangenheit Lehren für die Zukunft suchen.«69
19952, S. 158-175. Zufällig und unverständlich sind insofern synonym, als davon ausgegangen wird, dass zufällige Ereignisse lediglich aufgrund unzureichender Erkenntnismittel zufällig, also ohne einsehbare Ursache, erscheinen. Mit der Weiterentwicklung von Methoden werden, so die Hoffnung, aber auch solche Ereignisse als gesetzmäßig erkannt. Vgl. T.M. Porter: The Rise of Statistical Thinking, S. 100-105. Vgl. auch Ivo Schneider: »Der Begriff des Wahrscheinlichen. Seine Quantifizierung und seine Einbettung in ein naturwissenschaftliches Weltbild«, in: ders. (Hg.), Die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie von den Anfängen bis 1933. Einführungen und Texte, Darmstadt: WBG 1988, S. 47-51, hier S. 49. 67 A. Quételet: Ueber den Menschen, S. 3. 68 Vgl. G. Gigerenzer u.a.: Das Reich des Zufalls, S. 63-65. Vgl. auch Heinz Maus: »Zur Vorgeschichte der empirischen Sozialforschung« (1967), in: René König (Hg.), Geschichte und Grundprobleme der empirischen Sozialforschung. Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. I, Stuttgart: Enke 19733, S. 21-56, hier S. 31: Laut Maus machen bereits Quételets Zeitgenossen darauf aufmerksam, dass mit Quételets Methode der Wille aus der Beobachtung ausgeschlossen wird. 69 A. Quételet: Ueber den Menschen, S. 8f. Quételet leugnet den Willen nicht als Einflussgröße, aber dessen ungeachtet ist er unerheblich für die Ermittlung der herrschenden Gesetze. Darüber hinaus entzieht er sich der Beobachtbarkeit. Vgl. G. Gigerenzer u.a.: Das Reich des Zufalls, S. 65. 92
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Quételet entwickelt mit dem Durchschnittsmenschen eine Methode, mit deren Hilfe sich die Gesellschaft als Ordnung darstellt, und aus dieser Ordnung sollen sich die sozialen Gesetze ableiten lassen. Er stellt damit aber nicht nur ein Instrumentarium zur Untersuchung des Sozialen vor, sondern legt auch – und das ist hier zentral – schon ihre kommenden Befunde fest, denn der Durchschnitt beruht auf der Untersuchung der Vielen beziehungsweise der großen Zahl, sofern sich darin das immer Gleiche zeigt, das ohne spezifizierende Qualität bleibt. Er fordert die Absehung vom Einzelnen, der seiner Individualität enthoben, seiner willentlichen Entscheidung entkleidet, ohne spezifizierende Eigenschaft und als bloßes Untersuchungsobjekt in den Blick der Sozialwissenschaft geraten soll. Mit dieser Beobachtungsform erscheint dann – kaum verwunderlich – ›die Masse‹ auf den Monitoren der Gesellschaftstheoretiker. Sie beschreiben mit dem Begriff der Masse, was sie zuvor methodisch mit dem Begriff des Durchschnitts konstruiert haben, nämlich eine große Zahl Einzelner, die offensichtlich willenlos und gleichgerichtet handeln. Ihr Verhalten ist nicht bestimmt durch einen vorhergehenden Entscheidungsprozess, sondern durch die sozialen Gesetze und die darin wirkenden Einflüsse. Die Gründungsakten der Sozialwissenschaft legen die Entdeckung der Masse nahe, die dann wiederum über die Beschreibung des Durchschnitts erklärbar ist – so bei de Man, der in der Masse »bloße statistische Einheiten, die sich in Zahlen auflösen« sieht. »Die Masse«, so de Man, »ist Quantität ohne Qualität.«70 Auch Wilhelm Röpke hebt die »Einebnung, Unselbständigkeit, Herdenhaftigkeit und banale Durchschnittlichkeit des Denkens« der Masse hervor. Beim »Vorgang der Vermassung« handele es sich, so Röpke weiter, um einen Prozess »geistig-moralischer Entpersonalisierung, den Ortega y Gasset mit seinem bahnbrechenden Buche über den Aufstand der Massen in erster Linie im Auge gehabt hatte.«71 Und auch de Man orientiert sich an José Ortega y Gassets Massenanalyse, die die Masse in Differenz zur Elite entwirft: 70 H. de Man: Vermassung und Kulturverfall, S. 46. 71 Wilhelm Röpke: »Die Massengesellschaft und ihre Probleme«, in: Albert Hunold (Hg.), Masse und Demokratie, Erlenbach, Zürich: Rentsch 1957, S. 13-38, hier S. 19f. Der Band, dem der Text entnommen ist, findet gewöhnlich wenig Aufmerksamkeit in der Rekonstruktion des Massendiskurses der Nachkriegszeit. Diese verdient er aber zweifelsohne, wirft man einen Blick auf die Beiträger. Als solche firmieren neben Röpke unter anderem Friedrich A. Hayek und Alexander Rüstow, also jene Protagonisten einer spezifischen Form der – wie Foucault dies genannt hat – sich formierenden Biopolitik, die sich im Zuge des Liberalismus der Nachkriegszeit herausbildet. Foucaults Studie zur Geburt der Biopolitik entwickelt aufbauend auf dem Begriff der Sozialpolitik (vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. II. Die Geburt der Bioploitik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 266) beziehungsweise Gesellschaftspolitik (vgl. ebd., S. 207) die Grundlage für ein Verständnis der im Band abgedruckten Texte. Wenn diese auch selbst nicht besprochen werden, ist so 93
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»Die Gesellschaft ist immer eine dynamische Einheit zweier Faktoren, der Eliten und der Massen. Die Eliten sind Individuen [...] von spezieller Qualifikation; die Masse ist die Gesamtheit der nicht besonders Qualifizierten. [...] Masse ist der Durchschnittsmensch [...]; der Mensch, insofern er sich nicht von anderen Menschen abhebt, sondern einen generellen Typus in sich wiederholt.«72
Ortega y Gasset gibt hier eine Definition der Masse, die auf Quételets Durchschnittsmenschen referiert.73 Nicht nur, dass Ortega y Gasset die Masse als Durchschnittsmenschen bezeichnet, darüber hinaus besteht sie aus jenen Menschen, denen jegliche Besonderheit abgeht. In der Masse findet sich nach Ortega y Gasset kein Merkmal, das auf Außergewöhnlichkeit schließen lässt. In ihr ist allein das allen Gemeinsame und das sich Wiederholende vertreten. Elemente, die sich davon unterscheiden, gehören nicht zu ihr und werden als Nicht-Masse ausgeschlossen. Die Masse ist eine Gruppe, innerhalb derer keine Differenzen bestehen. Indem Ortega y Gasset Masse und Durchschnitt aber gleichsetzt, formuliert er als Befund einer Sozialbeobachtung, was Quételet als ihr methodisch korrekt formatiertes Objekt vorstellt. Die Suche nach dem Durchschnitt bedeutet bei Quételet die Absehung von Besonderheiten. Diese gilt es aus der Beobachtung zu tilgen, um an die Stelle von Heterogenität und Varianz das Prinzip der Gleichheit und Wiederholung zu setzen. Er sucht den Durchschnitt, um Gesetzmäßigkeiten formulieren zu können und generelle Ten-
das spezifische ›gouvernementale‹ Umfeld rekonstruiert, in das sich Texte wie Alexander Rüstows Vitalpolitik gegen Vermassung (in: Albert Hunold (Hg.), Masse und Demokratie, Erlenbach, Zürich: Rentsch 1957, S. 215-238) einfügen. Masse und Biopolitik sind in der Gesellschaft der Nachkriegszeit untrennbar miteinander verbunden. 72 José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 19648 (1930), S. 8f. Vgl. zur Beschreibung der Masse mit dem Begriff des Durchschnitts auch Wilhelm Kapp: »Die Tendenz zur Masse in unserer Zeit«, in: Zeitungswissenschaft 4 (1932), S. 224-232, hier S. 229f.; ders.: »Wissenschaft und öffentliche Meinung«, in: Zeitungswissenschaft 5-6 (1928), S. 66-69, hier S. 67. Eine ähnliche Definition der Masse legt R. Michels: Begriff und Aufgabe der ›Masse‹, S. 408 u. 410 vor. Michels setzt sich aber, wie die Anführungszeichen schon andeuten, mit dieser Definition kritisch auseinander und fragt, wodurch sie motiviert ist. Auch der Jurist Nagler wendet sich gegen die Definition der Masse als Durchschnitt. Vgl. J. Nagler: Das Verbrechen der Menge, S. 160. 73 Dass es sich dabei nicht nur um eine zufällige Gleichheit der Worte handelt, machen Adorno und Horkheimer deutlich, die in der Masse die »Heroisierung des Durchschnittlichen« sehen. T.W. Adorno/M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 179. Des Weiteren formulieren sie: »Im Zeitalter der Statistik sind die Massen [...] zu stumpfsinnig, um vom Gesetz der großen Zahl auch nur abzuschweifen. Die Ideologie versteckt sich in der Wahrscheinlichkeitsrechnung.« Ebd., S. 167. 94
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denzen zu enthüllen. Im Rahmen der Massentheorie wird diese Methode zum eigentlichen soziologischen Befund, denn die Masse ist ein Konglomerat von Einzelnen, deren Besonderheiten im homogenen Ganzen untergehen. Varianz wird in ihr nicht mehr sichtbar, selbst wenn die Einzelnen sich außerhalb der Masse unterscheiden. Mit anderen Worten: Quételet eliminiert die Besonderheiten aus seiner Beobachtung, um eine Ordnung zu erhalten, anhand derer grundlegende Tendenzen sichtbar werden sollen. Ortega y Gasset dagegen sieht nicht von den Besonderheiten ab, sondern rechnet sie einer eigenen Gruppe, der Elite, zu. Er erhält so eine Ordnung anderer Art – nämlich die Differenz Masse/Elite. Wenige Jahrzehnte vor Ortega y Gasset beschreibt Sighele ebenfalls die Masse in Anlehnung an Quételets mittleren Menschen und formuliert dabei als Sozialbefund, was Quételet als Durchschnittstyp konzipiert hat, um soziale Gesetze zu enthüllen. Auch Sigheles Erklärung erfolgt im Sinne von Quételets Durchschnittsmenschen, in dem sich die Besonderheiten der Einzelindividuen aufheben. Sighele übernimmt zur Bestimmung der Masse sogar die mathematische Grundlage zur Ermittlung des mittleren Menschen – ein Prinzip, das in der Folge in der Massentheorie unter dem Namen »Subtraktionstheorie«74 aufgegriffen wird. Diese Theorie besagt, in den Worten Sigheles, »dass die Kräfte zusammenwirkender Menschen sich nicht summieren, sondern einander eliminieren.«75 Und er führt aus: Wenn »man zwanzig oder dreissig Menschen wie Goethe, Kant, Helmholtz, Shakespeare, Newton und andere zusammenbrächte und die praktischen Fragen des Augenblicks ihrem Urteil und ihrer Abstimmung unterwürfe, so würden [...] ihre Beschlüsse [...] sich in nichts von denen einer beliebigen anderen Versammlung unterscheiden.«76 74 F. Schneersohn: »Zur Grundlegung einer Völker- und Massenpsychopathologie«, in: Ethos 1 (1925), S. 81-120, hier S. 314. 75 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 17. 76 Ebd., S. 18. An anderer Stelle formuliert er, »dass in einer Menge sich die guten Eigenschaften der Einzelnen nicht summieren, sondern dass sie einander paralysieren. Sie verdrängen einander zunächst infolge einer natürlichen, ich möchte fast sagen, arithmetischen Notwendigkeit. Wie das Mittel vieler Zahlen sich von den höchsten Zahlen weit entfernen muss, so kann ein Aggregat von Menschen in dem, was es thut, nicht die höchsten Eigenschaften widerspiegeln, die einige in ihm enthaltene Elemente besitzen; es wird nur die mittleren Eigenschaften widerspiegeln, welche sich in allen oder wenigstens in den meisten der vereinigten Individuen finden.« Ebd., S. 80. Weitgehend identisch formuliert Walter Moede: Experimentelle Massenpsychologie. Beiträge zur Experimentalpsychologie der Gruppe, Leipzig: Hirzel 1920, S. 124. Vgl. auch ebd., S. 6-10. Hier nimmt Moede auf Quételet und Sighele Bezug. Kripal Singh Sodhi greift 1953 auf Moedes Erkenntnis zurück um nachzuweisen, dass »bei der Beurteilung eines Sachverhalts in der Gruppensituation die mittleren Bereiche der Urteilsarten bevorzugt werden [...].« Kripal Singh Sodhi: Urteilsbildung im sozialen Kraftfeld. Experimentelle Untersuchungen zur Grundlegung der Sozial95
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Im Hintergrund steht die Annahme, dass ihre Genialität, die sie über den Durchschnitt erhebt, in Entsprechung zu Quételes Errechnung des mittleren Menschen, allein als Einzelfall auftritt, jedoch verschwindet, sobald man sie in großer Zahl betrachtet. Sighele geht davon aus, dass es neben den Besonderheiten des Einzelnen auch eine allen Menschen einer Gesellschaft gemeinsame Anlage gibt, die gegenüber dem herausragenden Verstand der Einzelnen quantitativ dominiert: »Man könnte sagen, dass alle normalen Menschen gewisse Eigenschaften besitzen, die ihnen dieselbe, gemeinsame Bedeutung gäben, – sie sollen x heissen, eine Bedeutung, zu welcher bei Menschen höheren Ranges etwas weiteres, bei jedem Individuum Verschiedenes hinzukäme, das b, c, d etc., [sic!] heissen soll. Dann ergäbe sich, dass [...] 20 x vorkämen, aber nur je ein b, c, d etc. […].«77 psychologie, Göttingen: Verlag für Psychologie, Hogrefe 1953, S. 13. Vgl. zur Bezugnahme auf Moede ebd., S. 12. Sigheles These wird also im Rahmen der Massen- und Sozialpsychologie durchgehend bis in die 1950er Jahre Gültigkeit zugesprochen. Das heißt jedoch nicht, dass ihr nicht auch widersprochen wird. So wendet sich Le Bon gegen dieses ›mathematische‹ Prinzip zur Bestimmung der Masse. Nach Le Bon ist die Masse nicht bloß »ein Durchschnitt«. G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 16. Moede schreibt wiederum in der Ausgabe von 1932 das Vorwort zu Psychologie der Massen. Vgl. Walter Moede: »Zur Einführung«, in: Gustave Le Bon: Psychologie des Massen, Leipzig: Kröner 1932, S. V-IX. 77 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 18f. Neben dem arithmetischen Erklärungsmoment entwickelt Sighele ein psychisches Schichtenmodell, demzufolge es eine niedere Urschicht gibt, die alle Menschen besitzen, da sie einen ›anthropologischen Faktor‹ beschreibt. Vgl. ebd., S. 78. Dieser wird von weiteren kulturell geformten Schichten überlagert. »In solchen Augenblicken, wo die brutalsten und wildesten Leidenschaften angefacht werden, sehen wir plötzlich die Hüllen der Kultur fallen und den Wilden wieder erscheinen; dem gegenüber kommt man dann fast zwangsmässig zu der [...] Hypothese, dass der ursprüngliche Mord-Instinkt des Urmenschen in solchen Scenen eine atavistische Auferstehung feiert. Sicher sind die Verbrechen der Menge auf solche schlummernden grausamen Tendenzen zurückzuführen; die ›Stratifikation des Charakters‹ [...] ist mehr als eine blosse Metapher, und es ist deshalb ganz richtig, wenn man annimmt, dass die untersten Schichten des Charakters plötzlich an die Oberfläche drängen, wenn ein organischer Sturm unsere Seele bis in ihren Tiefen aufrührt.« Ebd., S. 118f. Die Psyche des Menschen besteht nach Sighele aus verschiedenen Komponenten, einer primitiven und unzivilisierten sowie einer durch Kultur und Erziehung hervorgebrachten Schicht. Letztere bedarf, wie gesagt, eines aktiven Generierungsprozesses, während die primitive Schicht einen ›gemeinen Erbteil‹ der Menschen darstellt. Das heißt, die primitiven Eigenschaften stammen aus einer unzivilisierten Vergangenheit der Menschheit und sind daher allen gemein. Dagegen sind die anderen Teile durch Erziehung hervorgebracht und damit nicht allen Personen gegeben; sie sind allein ›privilegierten Individuen‹ vorbehalten und damit eben nicht Bestandteil der Masse. Diese Überlegungen werden dann bei Le Bon zum Bestandteil seiner Rassenthesen, wie sie im Kapitel Le Bons Medien vorgestellt wurden. Im Rahmen des 96
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Während also die Besonderheiten gar nicht in Erscheinung treten, da sie nur als Einzelfälle bestehen, bleibt das allen Gemeinsame als bestimmendes Element erhalten. Was dann vorliegt, ist der Durchschnittsmensch, wie Quételet ihn entworfen hat. Die Eigenschaften, die allen gemein sind, treten in der Masse in Erscheinung, wohingegen sich alles, was einzeln auftritt, darin verliert. Wie in der Normalverteilung ist allein die quantitative Größe – 20 x – erkennbar. Jedoch besteht ein entscheidender Unterschied zwischen der Errechnung des Durchschnitts- und des Massenmenschen. Quételets Durchschnitt ist eine abstrakte Größe, bei der von den Besonderheiten des Einzelnen abgesehen wird, um Einsicht in die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu erlangen. Dem gegenüber gilt das Verschwinden des Einzelfalles und der Besonderheiten bei der Masse als eine Gegebenheit und bildet keine beobachtungstechnische Voraussetzung. Sighele formuliert als Ergebnis (und nicht wie Quételet als Methode) seiner Untersuchung, dass sich in der Masse das verliert, was die Individuen voneinander unterscheidet. Quételets Methode zur Errechnung des Durchschnittsmenschen wird also bei Sighele zur Beschreibung der Masse. Sighele referiert dabei auf das mathematische Prinzip, wie Quételet es vorgestellt hat, beziehungsweise sieht in der Masse eine »arithmetische[ ] Notwendigkeit«78 gegeben. So erklärt Sighele die Masse über ein arithmetisches Prinzip, das zuvor zur Konstruktion des Durchschnittsmenschen beziehungsweise des mittleren Menschen benötigt wurde, aus dem sich die Gesetzmäßigkeiten ableiten sollten. Dabei war für Quételet entscheidend, dass sich das Chaos, als welches sich die Gesellschaft für den Beobachter darstellt, durch den Durchschnittsmenschen in eine Ordnung transformiert wird. Innerhalb dieser Ordnung, so wurde bereits ausgeführt, sind dann die gesellschaftlichen Prozesse erkennbar. Analog formuliert Sighele: »Es handelt sich bei ihr [der Masse] nicht um ein geordnetes Bewusstsein eines gemeinsamen Ziels, es ist also nicht möglich, [...] dass sie wirklich einen KollektivWillen hätte [...], und trotzdem sehen wir inmitten der ungeheuren Vielfältigkeit ihrer Bewegungen eine Einheitlichkeit des Ziels und des Handelns und hören aus dem disharmonischen Durcheinander ihrer tausend Stimmen einen vorherrschenden Klang sich abheben; schon die Sammelbezeichnung Masse deutet an, dass die einzelnen Persönlichkeiten, die an ihr teilnehmen, sich zu einer Persönlichkeit zusammendrängen und verschmelzen; man kommt also notwendigerweise dazu, in
Mediendiskurses erscheinen sie dann als Infantilisierungsvorwurf gegen die Massen wieder auf. Vgl. z.B. Carl Kamps: »Fernsehen – eine Gefahr?«, in: Rufer und Hörer 7 (1952/53), S. 242-247, hier S. 245. 78 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 80. 97
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der Masse die Wirkung eines Etwas anzuerkennen – wenn man es auch nicht erklären kann – das die Rolle eines gemeinsamen Denkens spielt.«79
Sighele stellt fest, dass die Masse von einer unerklärlichen Kraft bestimmt sei; ihre Handlungen seien Effekt von etwas Unbestimmbaren. Dieses ›Etwas‹ liege zwar in der Masse selber begründet, könne aber – so führt Sighele weiter aus – »nicht Anspruch auf den Rang einer wirklich geistigen Potenz erheben« und wird im Anschluss von Sighele als »›die Seele der Masse‹«80 bezeichnet. Diese diffuse Seele der Masse überführe das ›disharmonische Durcheinander‹ in eine Einheitlichkeit und Ordnung: Die Masse bringe ›einen vorherrschenden Klang‹ hervor. Diese Prinzip »Massenseele« wird dann bei Le Bon zur Überschrift eines eigenen Oberkapitels und somit an prominente Stelle gerückt.81 Die Massenseele, auch wenn sie unerklärlich ist, hat demnach folgende Eigenschaften: Sie ist Bestandteil der Masse und wirkt darin. Ihre Wirkung ist wahrnehmbar durch eine in der Masse herrschende Einheitlichkeit der Handlungen, die trotz der darin eigentlich bestehenden Disharmonie erkennbar ist. Durch diese Einheitlichkeit erscheint die chaotische Ansammlung von Menschen in einem gewissen Sinne als Ordnung. Es stellt sich eine der Masse innewohnende eigene Dynamik ein, durch welche das Massenverhalten bestimmt ist. Die Handlungen der Masse und des Einzelnen darin folgen weder einem bewussten Antrieb, noch gehen sie aus einer willentlichen Entscheidung hervor. Stattdessen gibt es ein übergeordnetes Prinzip zur Generierung des einheitlichen Verhaltens in der Masse. Dieses übergeordnete Prinzip, das Sighele und Le Bon als Seele der Masse bezeichnen, funktioniert analog zu Quételets Gesetzmäßigkeiten, die ebenfalls das Verhalten des Menschen in der Gesellschaft bestimmen. Denn das soziale Gesetz gleicht einer Mechanik, die sich unaufhaltsam realisiert, ungeachtet willentlicher Entscheidungen oder Intervenierungsversuchen des Menschen. Es handelt sich ebenfalls um ein übergeordnetes Prinzip, »eine dem Bewußtsein unbekannte Kraft«, die wie »eine geheimnisvolle Schicksalhaftigkeit«82 das Verhalten des Einzelnen bestimmt. Die Beschreibungen der Masse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts richten sich an Quételets Explikationen zum mittleren Menschen aus, der diesen aber als eine Methode zur Untersuchung von gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten vorstellt.83 Die so erkannten Regeln dienen der Erklärung mensch79 80 81 82 83
Ebd., S. 44. Ebd., S. 44. Vgl. G. Le Bon: Psychologie der Masse, S. 10. G. Gigerenzer u.a.: Das Reich des Zufalls, S. 62. Vgl. zur Aktualität von Quételets Thesen um die Jahrhundertwende auch Hugo Münsterberg: »Ueber Aufgaben und Methode der Psychologie«, in: Schriften der Gesellschaft für Psychologische Forschung 1 (1891), S. 91-272, hier S. 98
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licher Eigenschaften und Handlungen, weil sie dafür maßgeblich sind. Die Massentheorie greift verschiedene Aspekte, die Quételets Methode eingeschrieben sind, auf und formuliert sie als Ergebnis ihrer Sozialbeobachtung. Der mittlere Mensch dient in der Massentheorie nicht mehr als Grundlage zur Erforschung sozialer Gesetze, sondern der Definition der Masse. Dabei ist (1.) entscheidend, dass er – der Durchschnitts- beziehungsweise Massenmensch – durch Häufigkeit definiert ist. Es handelt sich um Eigenschaften und Verhaltensweisen, die in großer Quantität vorhanden sind. Damit geht es (2.) um Merkmale, die sich durch Gleichförmigkeit auszeichnen. Im Durchschnitts- wie im Massemenschen wird das betont, was allen gemeinsam ist und nicht als Einzelfall auftritt. (3.) Der mittlere Mensch bedeutet eine Abstraktion vom menschlichen Willen, insofern dieser die Erkenntnis über die sozialen Gesetze verhindert. Die Absenz von willentlichen Entscheidungen wird dann in der Massentheorie zum Bestandteil der Definition der Masse. An die Stelle der willentliche Entscheidungen des Einzelnen tritt (4.) die Idee eines übergeordneten Prinzips. Dieses ist die Ursache für ein bestimmtes menschliches Verhalten. Bei der Erforschung der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten steht im Hintergrund die Idee des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, also dass bestimmte gesellschaftliche Bedingungen ein bestimmtes Merkmal oder Verhalten verursachen. Quételet fragt nach »den Einflüssen, denen der Mensch unterworfen ist«84 und die er nur erkennen kann, wenn er vom Willen abstrahiert. Es ist (5.) die Kombination von der Abstraktion des Willens und der Idee von Einflüssen, die menschliches Verhalten bestimmen, die in der Massentheorie verwertet wird und die die Vorstellung eines willenlosen und außengeleiteten Massenwesens forciert. So herrsche in der Masse kein Wille, sondern das übergeordnete Prinzip der Massenseele, das wiederum zum Effekt habe, dass die Masse für äußerliche Reize empfänglich sei, dass – in den Worten Sigheles – »ein Signal, ein Ruf, ein Schrei [...] eine ganze Volksmenge fast unbewusst hinreisst [...]«.85 Ähnlich formuliert Le Bon: »Die Masse ist der Spielball aller äußeren Reize [...]. Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen.«86 Das heißt, die Vorstellung von äußeren Einflüssen, denen der Mensch unterworfen ist, leitet über zur Idee der äußeren Reize, die der Mensch in der Masse empfängt. Während aber Quételet die Einflüsse nur in Absehung des 204f. Münsterberg greift hier auf Quételets statistische Verfahren zurück und erläutert ihre Relevanz für die Forschung der Psychologie. Dabei macht er ganz im Sinne des bisher Gesagten darauf aufmerksam, dass Quételets Verfahren den menschlichen Willen als Ursache von Handlungen eliminieren. Anstatt dass Handlungen auf den Willen zurückgeführt würden, unterständen diese Gesetzmäßigkeiten. 84 A. Quételet: Ueber den Menschen, S. 11. 85 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 45. 86 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 22. 99
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Willens meint erkennen zu können, ist die behauptete Willenlosigkeit der Masse die Ursache dafür, dass die äußeren Einflüsse ihre Wirkung entfalten. Oder: Aufgrund der Wirkungsweise der äußeren Reize lässt sich darauf schließen, dass die Masse ohne eigenen Willen handelt. Von hier aus – von der außengeleiteten und damit beeinflussbaren Masse – ist es nur noch ein kleiner argumentatorischer Schritt zur Beeinflussung durch Massenmedien, also zu der Konzeptualisierung eines Gefüges aus den beiden komplementären Elementen Masse und Medien, die im folgenden Teil der Arbeit Thema sein wird.
4 Pathologien a) Der normale Wahnsinn Paul Reiwald publiziert 1948 unter dem Titel Vom Geist der Massen einen umfassenden Überblick über das bis dato bestehende massentheoretische Wissen und entwickelt in dem Kapitel Das Denken in Gesetz und Zahl den Gedanken, dass die Suche nach Häufig- und Gesetzmäßigkeiten grundsätzlich das Individuum ausblenden muss. Entsprechend der gerade geäußerten These geht Reiwald davon aus, dass Theorien, denen an der Entdeckung von grundlegenden gesellschaftlichen Gesetzen gelegen ist, in massentheoretischen Überlegungen münden, da sie – eben aufgrund ihrer Suche nach generellen Tendenzen – vom Individuum absehen. Theorien, die auf die Formulierung von allgemein gültigen Gesetzen zielen, müssen vom Besonderen, Einzelnen beziehungsweise Individuellen abstrahieren und stattdessen die Wiederholung fokussieren, um darin Regelmäßigkeiten erkennen zu können. Insofern handelt es sich dann aber um Massentheorien, da die Masse sich gerade dadurch auszeichnet, dass darin das Individuum nicht in Erscheinung tritt. Reiwald formuliert, dass das »Denken in Gesetzen [...] streng antiindividuell ist.«87 Und er führt aus: »Kaum war im Zeitalter der Renaissance, das, was wir heute als Individuum bezeichnen, geboren, die menschliche Persönlichkeit mit ihrer Prägung und Ausbildung besonderer Eigenart, so brachte die historische Dialektik den Gegenstoß. [...] Die Naturwissenschaft hatte bei der Entbindung der Individualität wichtige Geburtshelferdienste geleistet. Jetzt bereitete sich gerade in ihr ein Prozeß vor, der die kaum gewonnene Individualität aufs schwerste gefährden sollte. Die Natur soll nach Gesetzen, nach konstanten, sich wiederholenden Verhältnissen begriffen werden. [...]
87 P. Reiwald: Vom Geist der Massen, S. 20. 100
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Der Entdeckung der Naturgesetze folgte die Entdeckung wirtschaftlicher und sozialer Gesetze, und schließlich setzten die Versuche ein, nach der Außenwelt auch die Innenwelt der Herrschaft des Gesetzes zu unterwerfen. Selbst vor dem Persönlichsten, Nuanciertesten, Flüchtigsten, vor dem Traum machte dieses Denken in Gesetzen nicht halt [...].«88
Reiwald fährt wenig später fort: Es ist »die Psychologie, die die allgemeinen Gesetze aufsucht, die das Individuum in einem Zustand betrachtet, wo gerade das Individuelle sich verliert [...].«89 Selbst die Psychologie, deren Erkenntnisinteresse sich auf das Seelenleben des Einzelnen richte, verfehle die Betrachtung des Individuums, da sie in ihm nur das Produkt der Aktualisierung von fixen Gesetzen erkenne und nicht eine einmalige – eben individuelle – Existenz. Dies gelte auch, wenn es um die Erklärung von Abweichungen gehe. Laut Reiwald wird selbst die Abweichung unter die Gesetzmäßigkeit gezwängt, wie er anhand der Psychoanalyse erläutert: Auch die »psychisch gestörte Persönlichkeit« werde aus »typische[n] Stationen und Stadien wie de[m] Oedipuskomplex«90 erklärt. So tauche selbst in der Verschiedenheit das immer Gleiche auf, was Reiwald zu dem Schluss führt: »Das Zurückführen sehr besonderer individueller Zustände auf das allen gemeinsame Triebleben in der Psychoanalyse ist selbst schon ein Teil der Massenpsychologie.«91 Allgemeiner formuliert heißt das, dass die wissenschaftliche Konzeptualisierung des Individuums und der Gesellschaft in Form von Gesetzmäßigkeiten diese automatisch zur Wissenschaft von der Masse machen.92 Reiwald zeigt auf, wie die Suche der Wissenschaft nach Regelmäßigkeiten auch in der Ausnahme immer in der Betrachtung der Masse mündet, da die Regelmäßigkeit vom Individuellen abstrahiert. Reiwalds Befund lautet also, dass auch Wissenschaftsbereiche, denen an der Erklärung von 88 89 90 91 92
Ebd., S. 19. Ebd., S. 20f. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Dabei unterscheidet Reiwald die Psychologie und die Soziologie insofern, als die Psychologie gerade das Allgemeine und Nichtindividuelle untersucht, wohingegen die Soziologie zumindest zwischen der Verschiedenartigkeit der Massen differenziert und damit die Besonderheit einer Masse im Gegensatz zu einer anderen untersucht. Vgl. P. Reiwald: Vom Geist der Massen, S. 22. Des Weiteren erörtert Reiwald, wie aus der Idee der Gesetzmäßigkeit und dem statistischen Denken für den Einzelnen der Verlust des Gefühls der Individualität resultiere. Das »Individuum, das sich von allen Seiten unter strengen, unentrinnbaren Bedingungen fühlt« (ebd., S. 24), entwickelt keine Empfindung von Einzigartigkeit, sondern fühlt sich im ständigen »Zustand der Vermassung« (ebd., S. 27). Die Psychologie wird so zum wichtigen Generator der gesellschaftlichen Situation der Vermassung. 101
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Devianzen und Pathologien gelegen ist, der Massentheorie zuzuordnen sind. Damit sind auch Erscheinungen, die nicht in großer Zahl auftreten, Gegenstand von massentheoretischen Überlegungen, da sie das deviante Individuum nicht als Einzelfall betrachten. Auch die Abweichung ist Effekt der Wirkung der Gesetze. Diese Überlegung hebt auf den in der Massentheorie immer wieder geäußerten Gedanken ab, dass das »Individuum [...] in der Masse unter[geht].«93 Reiwald fokussiert so die Oppositionsbildung von Masse und Individuum, denn das Individuum ist eine Erscheinung, die in der Masse fehlt. Das Individuum markiert das Gegenüber der Masse, da es allein als der Einzelfall gilt, während die Masse über die große Menge definiert ist. Masse bedeutet die Existenz des Gleichen in großer Zahl.94 Die ›gestörte Persönlichkeit‹ dient ihm im Rahmen dieser Oppositionsbildung als ein besonderer Fall, insofern sie sich gerade über ihr seltenes Auftreten beziehungsweise als Abweichung bestimmt. Die Störung gilt als Seltenheit, das heißt als etwas, das sich nicht sich in geringer Quantität zeigt, und eben die Ausnahme markiert. Damit scheint sie dem Erscheinungsbild der Masse zu widersprechen. Insofern sie aber auch Gesetzmäßigkeiten folgt, ist die Störung eine Art normale Abnormität. Die Abweichung folgt gesetzmäßigen Kausalitäten und hat demnach einen Normalverlauf. Damit ist sie nach Reiwald ein Untersuchungsobjekt der Massentheorie. Reiwalds Argumentation anhand der ›gestörten Persönlichkeit‹, die auf die Gegenüberstellung von Masse und Individuum abhebt, fokussiert jedoch ausschließlich das massentheoretische Bestimmungsmoment der großen Zahl und der Regelmäßigkeit, und übergeht einen weiteren Aspekt, der der Masse gemeinhin zugeschrieben wird: Die Masse wird selbst als Abweichung konzipiert. Die Idee der Masse vereint in sich das Paradox einer Art durchschnittlicher Devianz. Massentheorien geben sich als Analysen von 93 P. Reiwald: Vom Geist der Massen, S. 16. Vgl. auch ebd., S. 18. 94 Vgl. für die Gegenüberstellung von Masse und Individuum insbesondere Michael Oakeshott: »Die Masse in der Repräsentativen Demokratie«, in: Albert Hunold Erlenbach (Hg.), Masse und Demokratie, Zürich, Stuttgart: Rentsch 1957, S. 189-214. Oakeshotts Text beschreibt die Masse vor allem in Abgrenzung zum Individuum. Gleichzeitig wendet er sich gegen die Überlegung, die Masse sei durch ihre Zahl bestimmt: »Der ›Massenmensch‹ ist nicht durch seine Zahl, sondern durch seine Seelenverfassung gekennzeichnet [...].« Ebd, S. 201. Diese Wendung gegen die Überlegung, die Masse sei durch die Anzahl der Beteiligten definiert, wird häufig geäußert. Vgl. zum Beispiel T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 13-25; S. Freud: Massenpsychologie und IchAnalyse, S. 100. Die Argumentation gegen die Definition der Masse durch die große Zahl steht meist im Rahmen der Überlegung, dass man von einer psychologischen Masse sprechen müsse. Genauer: Die Masse ist ein psychischer Zustand des Einzelnen und damit eben nicht durch die Anzahl der MasseEinzelnen bestimmt. 102
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Abweichungen und zwar insofern sie in großer Zahl auftreten beziehungsweise sich am Durchschnittsmenschen zeigen. In der Massentheorie wird die Devianz zum Normalzustand erklärt. Die Massentheorie stellt sich selbst die Aufgabe zu erklären, warum ein großer Teil der Gesellschaft nicht einem angenommenen Mittelwert entspricht, wie also eine Abweichung zum Durchschnitt werden kann.95 Um eine Masse handelt es sich, wenn Extremwerte gehäuft auftreten. Dies wird deutlich, wenn Schneersohn seinen Artikel mit Massenpsychopathologie überschreibt. Es geht ihm um krankhafte Zustände, die nicht als Einzelfall auftreten, sondern eben ›massenhaft‹.96 Ähnlich ruft Kurt Baschwitz im Titel seiner Studie zur Masse das Wort Massenwahn auf und wendet so die Diagnose einer gestörten Persönlichkeit auf die große Menge an. Das Wort verweist auf eine geistige Störung bei vielen Menschen, also auf eine Abnormität der Vielen. Baschwitz hebt auf dieses Moment ab und erläutert das Wort Massenwahn hinsichtlich seines Oszillierens zwischen der Benennung eines Normal- und eines Ausnahmezustandes: »Denn gebraucht man Worte, wie Ansteckung, Seuche und ähnliche Bezeichnungen aus dem Umkreise des Krankheitsbegriffes, so meint man damit Zustände, die ein ungewöhnliches Abweichen vom ordnungsgemäßen körperlichen und geistigen Befinden der Lebewesen darstellen, meint man Störungen, die doch einmal wieder dem Zustand der Regelmäßigkeit, der Gesundheit Platz machen müssen, meint man also etwas Vorübergehendes, Ausnahmen. […] Der Massenwahn ist keine Krankheit, sondern ist ein dauernder Regelzustand, mit dem fort und fort zu rechnen ist. Denn er ist eine Eigenschaft, die regelmäßig und ständig den Wünschen und Glauben von Menschenvielheiten anhaftet. Der Wortbestandteil ›Wahn‹ drückt dabei die Tatsache aus, daß die Massen in ihrem gemeinsamen Denken Schlüsse zu ziehen vermögen, die dem überlegenen Einzelkopf keineswegs richtig, gerecht oder glaubhaft erscheinen. Massenwahn herrscht unter geistig gesunden Menschen.«97 95
96 97
Ein Problem, dem schon Quételet begegnet, insofern sich seine Verdatungsprojekte unter anderem auf abweichendes Verhalten wie Kriminalität beziehen. Solche Verhaltensmerkmale gehen aber einfach in seinen Durchschnittsmenschen ein und bilden eines seiner Attribute. Vgl. T.M. Porter: The Rise of Statistical Thinking, S. 53. Vgl. F. Schneersohn: Zur Grundlegung einer Völker- und Massenpsychopathologie, S. 81. K. Baschwitz: Der Massenwahn, S. 39. Vgl. zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Baschwitz’ Text Wilhelm Kapp: »Der Massenwahn«, in: Zeitungswissenschaft 1 (1933), S. 1-12. Die Idee, dass die Masse von einem Wahn befallen sei, wird kontinuierlich geäußert (auch von W. Ehrenstein: Dämon Masse, S. 9). So gibt Paul Michael Lützeler unter einem ähnlichen Titel – nämlich Massenwahntheorie – Texte, die Hermann Broch in der Zeit 103
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Baschwitz lehnt die Idee der Krankheit für die Beschreibung der Masse ab, da dies das Moment einer Ausnahme und Abweichung impliziert. Aber eine Ausnahmesituation liegt nach Baschwitz beim Massenwahn nicht vor, da er permanent ist. In der Masse ist der Wahnzustand die andauernde Regel. Es handelt sich gleichsam um einen auf Dauer gestellten Ausnahmezustand, denn das Aussetzen des intellektuellen Vermögens markiert in der Masse die Normalität. Baschwitz beschreibt den Wahnsinn in der Masse als ›normal‹ und zwar insofern er die Regel ist. In der Masse wird die Abweichung zur Regel, denn der Wahn gehört in ihr zum ›gewöhnlichen‹ und ›ordnungsgemäßen Befinden‹. Dabei sind von dieser normalen Abweichung wiederum ›geistig gesunde Menschen‹ betroffen, die nach der Beschreibung Baschwitz’ aber absonderlich denken. Ebenso wie Baschwitz geht es Sighele um die Untersuchung von Devianzen und »Extremen«98, genauer um die Erklärung von Massenverbrechen. Diese sind unter anderem durch einen wahnhaften Zustand der Masse verursacht. Wie bereits erläutert, definiert Sighele die Masse über ein mathematisches Prinzip, demnach Besonderheiten und Einzelfälle irrelevant werden. Allein was allen gemeinsam ist, kommt in der Masse zur Geltung. Dieses Prinzip dient ihm dazu herauszufinden, wieso die Masse zur Kriminalität neigt. Um diese verbrecherische Masse genauer zu fassen, bedient er sich eines medizinischen Vokabulars, beziehungsweise sieht in den kriminellen Handlungen den Ausdruck von krankhaften Zuständen, so dass »ihr [der Teil der Masse] richtiger Platz in den Tobabteilungen einer Irrenanstalt [ist]. Thatsächlich handelt es sich [...] nicht um das ›moralische Irresein‹ des geborenen Verbrechers, welches die intellektuellen Fähigkeiten intakt lässt, sondern um wirkliches Delirieren, welches die Thäter solcher Scheusslichkeiten völlig verändert [...].«99
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zwischen 1939 und 1948 zu einem entsprechenden Forschungsprojekt verfasst hat, heraus. Vgl. Hermann Broch: »Massenwahntheorie« (1939-1946), in: ders.: Massenwahntheorie. Kommentierte Werkausgabe, Bd. 12. Beiträge zu einer Psychologie der Politik. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 101-563. Weiterhin richtet 1964 die Stuttgarter Gemeinschaft ›Arzt und Seelsorger‹ einen Kongress unter dem Titel Massenwahn in Geschichte und Gegenwart aus. Vgl. Wilhelm Bitter (Hg.): Massenwahn in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart: Klett 1965. Vgl. zum Massenwahn auch Theodor W. Adorno: »Meinung Wahn Gesellschaft« (1961), in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe, Stichworte, Anhang. Gesammelte Schriften, Bd. 10, 2. Hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 573-594, hier S. 574. Massenwahn ist also ein viel und kontinuierlich diskutiertes Thema im 20. Jahrhundert. S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 200. Ebd., S. 135f. Vgl. auch ebd., S. 57, 129 und 141. 104
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Sighele geht von einer »partiellen geistigen Störung«100 aus, die dazu führt, dass der Mensch in der Masse zum Verbrecher wird. Die kriminellen Handlungen der Masse sind somit das Resultat einer kranken Befindlichkeit beziehungsweise in den Worten Reiwalds einer ›Persönlichkeitsstörung‹. Diese Störung beziehungsweise Devianz zeigt sich in der Masse an allen Beteiligten.
b) Hypnose und Suggestion Das medizinische Vokabular spielt bei Sighele aber noch in einer weiteren Variante eine Rolle. Um das Handeln der verbrecherischen Masse zu erklären, bezieht er sich – darauf wurde bereits hingewiesen – auf ein Wissen um Hypnose und Suggestion, das um 1900 in der Rechtssprechung vielfach thematisiert wird. Hypnose gilt als eine Erklärung für Verbrechen, die im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit verübt werden. So besteht auch für Sighele die Möglichkeit, dass eine »von Natur empfängliche Person unter den Einfluss eines Irren gerät [...] und sich die Wahnvorstellungen des Suggerierenden aneignet.«101 Hypnose und Suggestion beschreiben dabei einen Komplex, der sich um den Bereich Willen, das heißt Willensmangel und Walten eines Fremdwillens, sowie um die damit verbundenen Felder Beeinflussbarkeit und Einflussnahme dreht. Schließlich gilt die Annahme, dass der Willensmangel die entsprechende Person empfänglich für Einwirkungen macht, Willensmangel und Beeinflussbarkeit also in direktem Zusammenhang stehen. Das Hypnosekonzept dient zum einen der Erläuterung, wie ein Fremdwille das Handeln eines Menschen steuern kann. Der Hypnotiseur gibt dabei in Form bestimmter Techniken seine Handlungsanweisungen dem Hypnotisierten ein. Zum anderen geht es bei diesem Komplex aber darum zu erklären, wie sich überhaupt eine Steuerbarkeit beziehungsweise Beeinflussbarkeit herstellt, worauf also eine Willensschwäche zurückzuführen ist. Die Willensschwäche ist nämlich die Voraussetzung dafür, dass die beeinflusste Person sich für die Eingaben rezeptiv zeigt. Die Willensschwäche des Einzelnen wie der Masse ist dabei gleichermaßen als eine grundlegende wie als eine durch Einflussnahme hervorgebrachte Eigenschaft konzipiert. Der Wille wird durch bestimmte Verfahren geschwächt, aber die Wirksamkeit dieser Techniken kann einer schon vorhandenen Willensschwäche geschuldet sein. Es ist dann ununterscheidbar, ob Willensschwäche als Charaktereigenschaft der Masse (beziehungsweise des Einzelnen) auftritt oder Effekt der Anwendung eines spezifischen Verfahrens ist. Hypnose und Suggestion wirken also aufgrund eines bestehenden Mangels an Willensstärke und sind zugleich Verfahren 100 Ebd., S. 194. 101 Ebd., S. 62. 105
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(also auch Ursache) zur Schwächung des Willens sowie zur Eingabe eines Fremdwillens.102 Auf diesen Zusammenhang – wenn auch ohne Hinweis auf die Masse – macht auch der Mediziner Albert Freiherr von Schrenck-Notzing, der zum Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem durch seine Hypnoseforschung bekannt wird, aufmerksam. Er geht entsprechend der gängigen Meinung der Jahrhundertwende davon aus, dass ein Mensch unter Hypnose den Willen des Hypnotiseurs ausführt. Er weist jedoch zugleich darauf hin, »dass die Wirksamkeit der Suggestion ihre Grenze besitzt, dass die Hypnotisirten mitunter den Eingebungen heftigen Widerstand entgegensetzen. Denn die Wirksamkeit der Suggestion hängt in hervorragender Weise ab von dem Grade der individuellen Empfänglichkeit. So wird in der Regel eine Suggestion zu Heilzwecken gern und ohne Widerstreben vom Patienten angenommen; sie ist dem Patienten sympathisch und wird verstärkt durch den Trieb gesund zu werden. Ganz anders liegt der Fall bei Eingebungen unsympathischer oder unmoralischer Art. Die durch die ganze Erziehung eingepflanzten, während vieler Jahre gepflegten ethischen Gegenvorstellungen der normalen Individualität lassen sich nicht durch einen psychischen Shok [sic!], durch eine unmoralische Vorspiegelung entwurzeln. Und ihre Wirksamkeit ist auch in dem hypnotischen Zustand durchaus nicht gelähmt. Daher wird nothwendig ein Kampf entstehen müssen, dessen Entscheidung abhängt von der Stärke der widerstrebenden Elemente im Vergleich zu der psychischen Gewalt der unmoralischen Vorspiegelung. Bei Beantwortung dieser wichtigen Frage sind folgende [...] Punkte in Betracht zu ziehen:
102 Die Konzepte Hypnose und Suggestion sind kaum klar zu trennen, wie auch Ernst Seelig in seinem Eintrag zur Suggestion feststellt, dem zufolge »die Ausdrücke ›Hypnose‹ und ›Suggestion‹ vielfach als gleichbedeutend verwendet« werden. Ernst Seelig: Schuld/Lüge/Sexualität. Festausgabe ausgewählter Schriften zum 60. Geburtstag des Verfassers, Stuttgart: Enke 1955, S. 109. Ähnlich formuliert Mayer, dass eine »scharfe Trennung zwischen der suggestiven Beeinflussung und der eigentlichen Hypnose [...] nicht durchführbar« ist. L. Mayer: Das Verbrechen in Hypnose, S. 20. Im Folgenden wird daher ebenfalls keine eindeutige Trennung vorgenommen. Mayer erläutert jedoch beim Versuch einer Differenzierung: »Als Hypnose wird der Zustand gesteigerter Suggestibilität bezeichnet, der über den Weg auto- oder fremdsuggestiver Vorstellungen entsteht [...].« Ebd, S. 21. Diese Definition liegt sicher der Mehrzahl der Untersuchungen zur Hypnose und Suggestion zu Grunde. Sie zeigt jedoch an, wie beide Konzepte aufeinander verwiesen sind und dass sich ein eigenartiges Wechselverhältnis zwischen beiden einstellt. Demnach bedarf es einer Suggestion, um Suggestibilität im Zustand der Hypnose hervorzubringen. Die Suggestion, die den Hypnotisierten suggestibel macht, bedarf für ihre Wirksamkeit aber der Suggestibilität des zu Hypnotisierenden. 106
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1. Die normale Individualität des Beeinflussten, seine Anlagen und Erziehung, seine Suggestibilität überhaupt; sein sittliches Niveau im Allgemeinen und seine moralische Widerstandsfähigkeit. 2. Die Stärke und Dauerhaftigkeit der unmoralischen Eingebung; eine etwa vorausgegangene suggestive Dressur, Abschwächung bestimmter hemmend wirkender psychischer Thätigkeiten (z.B. durch mehrfache frühere Hypnotisirung).«103
Laut Schrenck-Notzing bedarf die Hypnose also der Beteiligung des Hypnotisierten. Sein Wille und sein moralisches Empfinden können nicht einfach durch den Akt der Hypnose ›ausgeschaltet‹ werden. Nur unter bestimmten Bedingungen entfaltet die Hypnose ihre Wirksamkeit und eine Eingebung durch den Hypnotisieur führt auch zu einer entsprechenden Handlung beim Hypnotisierten. Der Erfolg der Hypnose hängt entweder von der Sympathie gegenüber dem Zweck der Hypnose oder von der Suggestibilität beziehungsweise Empfänglichkeit des Hypnotisierten ab. Die Suggestibilität kann sich nach Schrenck-Notzing zweifach herstellen: Zum einen kann sie eine Veranlagung des Einzelnen darstellen. Er bringt dann keine ›Widerstandsfähigkeit‹ mit, die es ihm ermöglichen würde, dem durch den Hypnotiseur gegebenen Befehl zu widerstehen. Der Hypnotisierte führt demnach die Eingebungen des Hypnotiseurs aus, da er willensschwach ist, das heißt da, in den Worten Schrenck-Notzings, seine ›Stärke der widerstrebenden Elemente im Vergleich zu der psychischen Gewalt der unmoralischen Vorspiegelung‹ zu gering ist. Es mangelt den Hypnotisierten an eigenem Willen. Zum anderen kann die Suggestibilität durch Verfahren herbeigeführt beziehungsweise gesteigert werden. Dauerhaftigkeit und Wiederholung der Hypnose mindern die Widerstandsfähigkeit gegen unsympathische Eingebungen.104 Dieses Moment der Wiederholung zur Herbeiführung von Suggestibilität und gehört im Rahmen der Massentheorie zu den ›Überzeugungsmitteln‹, die ein Führer gemäß Le Bon anzuwenden hat. Le Bon 103 A. Freiherr von Schrenck-Notzing: Die gerichtlich-medicinische Bedeutung der Suggestion, S. 10. Vgl. zur Suggestibilität durch wiederholte Hypnose und zur verbrecherischen Veranlagung des Hypnotisierten auch A. Moll: Der Hypnotismus, S. 286. Mayer ist demgegenüber der Überzeugung, dass der Hypnotisierte auch »Vorstellungen zwangsmäßig aktualisiert, die im grobem Widerspruch zu dem bisherigen Wesen der Persönlichkeit stehen.« L. Mayer: Das Verbrechen in Hypnose, S. 13. 104 Vgl. zu einer identischen These unter dem Schlagwort der Gewöhnung L. Mayer: Das Verbrechen in Hypnose, S. 28 und Albert Moll: »Der Rapport in der Hypnose. Untersuchungen über den thierischen Magnetismus«, in: Schriften der Gesellschaft für Psychologische Forschungen 1 (1891), S. 273514, hier S. 315. Der Text Molls referiert Versuche zur Hypnose, die er unter anderem in Zusammenarbeit mit Max Dessoir durchgeführt hat, der 1888 eine Bibliographie zum Hypnotismus vorlegt. 107
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ruft im Kapitel Die Wirkungsmittel der Führer explizit den Hypnoseprozess als Referenzrahmen auf.105 Das Verhältnis von Führer und Masse entspricht dem von Hypnotiseur und Hypnotisiertem. Entsprechend beschreibt er, dass der Führer der Masse eine bestimmte Handlung eingibt, die diese dann ausführt. Dies kann nach Le Bon aber nur gelingen, wenn »die Masse schon durch gewisse Umstände vorbereitet [...]«106 und dadurch für die Eingebungen des Führers empfänglich ist. Um das Handeln der Masse befehligen zu können, muss der Führer – so stellt Le Bon ganz in Entsprechung zu Schrenck-Notzings Ausführungen zur Hypnose fest – sie zuvor in einen dafür notwendigen Zustand der Rezeptivität versetzen. Dies erreicht er unter anderem durch stete Wiederholung seiner Behauptungen. So wird die Masse durch die Wiederholung in einen Zustand gebracht, in dem sie die Anweisungen des Führers ausführt, ebenso wie ein mehrmaliger Hypnoseprozess eine Verfasstheit herbeiführt, in der Befehle ungeachtet ihres (unmoralischen) Inhalts ausgeführt werden.107 Die Massenbeschreibung referiert also auf einen medizinischen Diskurs um Hypnose und Suggestion, der auch juristische Debatten informiert. Das entsprechende Wissen wird im Rahmen der Massentheorie aktualisiert, das heißt, die Ergebnisse zur Hypnotisierbarkeit von Einzelpersonen werden auf die große Menge übertragen. Dabei sind vier Aspekte hervorzuheben. Erstens: Dieser Komplex erhält in der Nachkriegszeit – im Besondere unter Rückgriff auf Le Bons Anleitung für die Führerfigur – erhöhte Relevanz. Es entwickelt sich ein gesteigertes Interesse für Analysen der Interaktion zwischen Masse und Führer. Die nationalsozialistische Vergangenheit und der Erfolg Hitlers bieten einen Anlass für die Aktualisierung massentheoretischer Erkenntnisse.108 Dabei ist es das Wissen um die Führerperson 105 Vgl. G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 98. 106 Ebd., S. 103. Dem Stand der Hypnose-Forschung entsprechend betont Le Bon die besondere Willenstärke, durch die sich der Führer auszeichnet. 107 Vgl. zur Methode der Wiederholung G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 104. Georg Stieler referiert Le Bon ganz in diesem Sinne: »Durch Hypnose werde ein Mensch in einen solchen Zustand versetzt, daß er seines Persönlichkeitsbewußtseins beraubt und ganz unter den Einfluß des Hypnotiseurs gebracht werde. [...]« Georg Stieler: Person und Masse. Untersuchungen zur Grundlegungen einer Massenpsychologie, Leipzig: Meiner 1929, S. 98. An anderer Stelle beschreibt er dann noch einmal diesen Zusammenhang, ohne jedoch das Wort der Hypnose zu verwenden oder auf Le Bon Bezug zu nehmen: »Um die Demagogenkünste voll wirksam zu machen, bedarf es eines vorbereiteten Bodens.« Erst wenn die Masse sich in einem bestimmten »Zustand« befindet, kann ihr das »Ziel« vermittelt werden. Ebd., S. 146. Die Metapher des vorbereiteten Bodens gehört zum Repertoire der Hypnosebeschreibungen. Vgl. Alfred Brauchle: Hypnose und Autosuggestion, Stuttgart: Reclam 1949 (1929), S. 35. 108 Vgl. H. Jäger: Individuelle Zurechnung kollektiven Verhaltens, S. 12. Vgl. zu einer Untersuchung hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der national108
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und ihre Funktionsweise, das die Massentheorie mit Bezug auf die Hypnoseforschung bereitstellt und an das in der Nachkriegszeit angeschlossen werden kann, um die Erscheinung Hitler verständlich zu machen. Mit Rückgriff auf das massentheoretische Wissen und dessen Fokussierung der Führerfigur ist es gerade die Person Hitler, die Kontur gewinnt. Dabei wird – entsprechend des Theorems der willensschwachen Masse und des Waltens eines Fremdwillens darin – seine zur Schau gestellte »Willensstärke« und »Willenskraft«109 betont. Bei der Willensstärke handele es sich aber nicht nur um ein inszenatorisches Moment, sondern auch um eine Eigenschaft, die Hitlers Charakter zugeschrieben wird und bis hin zur »Willenswut« geht, die Hitler zu einem »Willensfanatiker«110 macht. Ganz im Sinne der Überlegungen zur Hypnose ist es die Stärke der Willensausübung auf der einen Seite, die eine Willensschwächung, eine »›Beeinträchtigung der Willensfreiheit‹«111 auf der anderen Seite bedeutet. Einer so intensiven Ausübung des Willens hat die Masse kaum etwas entgegenzusetzen. Dieser Charakterisierung Hitlers steht dann eine Beschreibung der Masse gegenüber, die den durch Hitler angewandten Mitteln hilflos ausgeliefert ist. Es wird ein Bild gezeichnet, in dem der Führer – sofern er nur die richtigen Mittel anwendet – freie Verfügungsgewalt über die Masse besitzt. Hitler erscheint in diesem Bild als ein Techniker, der die »Maschine«112 Masse bedient. Die Masse ist, so Le Bon, ein »Automat«113, in den der Füh-
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sozialistischen Vergangenheit in den 1950er Jahren Waltraud Wende: »Einen Nullpunkt hat es nie gegeben. Schriftsteller zwischen Neuanfang und Restauration – oder: Kontinuitäten bildungsbürgerlicher Deutungsmuster in der unmittelbaren Nachkriegsära«, in: Georg Bollenbeck/Gerhard Kaiser (Hg.), Die janusköpfigen 50er Jahre. Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik III, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 17-29, im Besonderen S. 22f. Hildegard von Kotze/Helmut Krausnick: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), ›Es spricht der Führer‹. 7 exemplarische Hitler-Reden, Gütersloh: Mohn 1966, S. 7-70, hier S. 39 u. 60. Beide Worte sind im Text durch Kursivierung hervorgehoben. Ebd., S. 27. Ebd., S. 33. W. Ehrenstein: Dämon Masse, S. 71. Auch de Man vergleicht die Masse mit einer Maschine (H. de Man: Vermassung und Kulturverfall, S. 133) und Hagemann formuliert 1951 ohne Nennung des Namens Hitler: »Skrupellose Führer bedienen sich zahlreicher erprobter Praktiken und Techniken, um die Gefolgschaft der Menge zu gewinnen.« Walter Hagemann: Vom Mythos der Masse. Ein Beitrag zur Psychologie der Öffentlichkeit, Heidelberg: Vowinckel 1951, S. 62. G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 19. Freud übernimmt diese Beschreibung von Le Bon. Vgl. S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 81. Die Metapher des Automaten gehört zu den Beschreibungen aus dem Bereich der Hypnose. Vgl. S. Andriopoulos: Besessene Körper, S. 34; sowie M. Stingelin: Hypnotische Experimente, S. 276; Vgl. als Beleg aus der Zeit um 109
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rer seine Ziele eingibt, damit sie zur Ausführung kommen. Es ist also gerade die Konturierung der Führerperson, die zum Effekt hat, dass als ihr Gegenüber eine Masse erscheint, die sich als willfähriges Werkzeug auszeichnet. Im Zuge dieser Argumentation wird Hitler zugesprochen, die Massenpsychologie und hierbei insbesondere Le Bons Erkenntnisse perfekt umgesetzt zu haben. Die These in den 1950/60er Jahren lautet, Le Bon liefere das Wissen, um die Mechanismen, die durch Hitler zur Anwendung kamen, zu erkennen.114 Dies ist auch der Grundgedanke von Hildegard von Kotze und Helmut Krausnick, die 7 exemplarische Hitler-Reden herausgeben und mit einer Einleitung versehen, worin sie der psychologischen Masse ein eigenes Kapitel widmen. Das Kapitel liefert ein knappes Referat von Le Bons Psychologie der Massen, um dann die Analogien zum Vorgehen Hitlers herauszuarbeiten.115 Alfred Stein versucht sogar nachzuweisen, dass Hitler mit dem Inhalt von Le Bons Werk vertraut war, indem er Mein Kampf mit Psychologie der Massen gegenliest. Er kommt zu dem Schluss: »Le Bon hatte ihm [Hitler] die Grundprinzipien der Massenbeeinflussung an die Hand gegeben.«116 Demnach sei es Le Bon, der Hitler das Wissen geliefert habe, das zu seiner Machtergreifung geführt habe. In Anbetracht des allgemein anerkannten Erfolgs von Hitlers Massenbeeinflussung dient Hitler damit auch als Beleg für die Richtigkeit der Le Bonschen Thesen, da er sie nach Stein konsequent umgesetzt habe. Hitler wird zum Beweislieferant für die massenpsychologische Theorie Le Bons.117 Indem Hitler als kompetenter Umsetzer der Le Bonschen Massenpsychologie dargestellt wird, erhält er eine Systemstelle, die die Massentheorie
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1900 A. Freiherr von Schrenck-Notzing: Die gerichtlich medicinische Bedeutung der Suggestion, S. 3. Laut Othmar Plöckinger, gehört in »Untersuchungen zur Rhetorik Hitlers oder zu Mein Kampf [...] der Verweis auf Le Bon zum Standard.« Othmar Plöckinger: »Rhetorik, Propaganda und Masse in Hitlers Mein Kampf«, in: Josef Kopperschmidt (Hg.), Hitler, der Redner, München: Fink 2003, S. 115-141, hier S. 133. Vgl. H.von Kotze/H. Krausnick: »Einleitung«, S. 31-37. Ähnlich, jedoch ohne ausführliche Begründung argumentiert Karl-August Götz: »Probleme der Masse«, in: Rufer und Hörer 5 (1950/51), S. 149-155, hier S. 154. Alfred Stein: »Adolf Hitler und Gustave Le Bon. Der Meister der Massenbewegung und sein Lehrer«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 6 (1955), S. 362-368, hier S. 366. Gemäß Ehrenstein stellt Hitler sogar das Experiment zur Verfügung, dass bis dahin als Beleg für das theoretische Wissen der Massenpsychologie fehlte: »Die von Hitler in seiner Propaganda angewandten Methoden stimmen mit den Lehren der Massenpsychologie durchaus überein. Ihr Erfolg im Hitlerschen Experiment hat ihre Richtigkeit erneut bewiesen.« W. Ehrenstein: Dämon Masse, S. 48. Die Massenpsychologie wird demnach durch Hitler und sein Regime plausibilisiert, wie auch der Nationalsozialismus mit der Massenpsychologie erklärbar ist. 110
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bereithält. Dabei wird auf ihn angewandt, was die Massentheorie als Wissen über den Führer bereitstellt. Das massenpsychologische Wissen über den Führer dient einerseits als Folie zur Analyse der Rolle Hitlers in der Zeit zwischen 1933-1945. Andererseits wird behauptet, Hitler habe sich selbst mit der massenpsychologisch konturierten Führerrolle identifiziert, was wiederum als Beleg dafür dienen soll, dass das Erscheinen Hitlers durch massentheoretisches Wissen zu erklären sei. Zweitens: Die Verfahren zur Steigerung der Suggestibiltät, die für den Einzelnen gelten sollen, scheinen – glaubt man Sighele, Le Bon und anderen – auch für die Masse valide sein. Jedoch unterscheidet sich die Massenhypnose vom hypnotisierten Einzelnen dadurch, dass die Menge als grundsätzlich suggestibel gilt und zwar aufgrund des »Einfluss[es] der Zahl«.118 Denn es »ist ein sichergestelltes psychologisches Gesetz, dass eine Gemütsbewegung um so stärker ist, je mehr Individuen gleichzeitig am selben Ort sie erfahren.«119 Aufgrund dessen »nimmt der kleinste Vorfall die größte Bedeutung an […]«120 Die Art des Vorfalls ist damit nicht entscheidend für die Heftigkeit der Massenreaktion, sondern die Anzahl der Anwesenden ist ausschlaggebend für die Intensität des Verhaltens der Masse. Die Menge an Menschen führt also zu deren gesteigerter Erregbarkeit, die sie sensibel für irgendwelche Eingebungen macht. Das heißt, die große Zahl ersetzt das Verfahren der Wiederholung, mit dem eine erhöhte Suggestibilität geschaffen werden kann, indem es eine Art Rückkopplungseffekt produziert, in dem sich die Suggestion gleichsam verstärkt. Drittens: Indem der Masse in einem ersten Schritt die Unzurechnungsfähigkeit und eine damit einhergehende Willenlosigkeit diagnostiziert werden und in einem nächsten Schritt diese Willenlosigkeit mit Hilfe von Suggestion und Hypnose erklärt wird, entsteht das Bild einer grundsätzlich beeinflussbaren Masse. Ihr mangelnder Wille macht sie im Kontext einer medizinisch-psychologischen Auseinandersetzung mit der Hypnose zu einem hypersuggestiblen Objekt. Dem Umkehrschluss wird ebenfalls Validität zugesprochen: Das permanente Wirken von Suggestionen auf die Masse produziert ihre Willenlosigkeit und Suggestibilität. Doch gleichgültig, welcher Kausalzusammenhang konkret aktualisiert wird, grundsätzlich gilt, dass die Masse leicht beeinflussbar ist, so dass jeder Anlass auch zu einer Wirkung führt. Die Masse wird mit der Eigenschaft der Suggestibilität und Rezeptivität ausgestattet, die im Diskurs um Hypnose eine maßgebliche Größe darstellt. Diese Charakterisierung der Masse wird dann in der Folge zu einem der zentralen Argumente in der Debatte um Massenmedien. Gerade im Element der Beeinflussbarkeit zeigt sich, wie sich die Semantik der Masse in 118 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 105. 119 Ebd., S. 100. Vgl. auch ebd., S. 116f. 120 Ebd., S. 104. 111
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der Auseinandersetzung mit Massenmedien manifestiert. Die Idee der leicht zu beeinflussenden Masse, die sich im Kontext einer diskursübergreifenden Massentheorie des 19. Jahrhunderts entwickelt, wird zum festen Wissenbestand im Kontext der Beschäftigung mit Medien. So konstatiert der USamerikanische Soziologe Charles Wright Mills in Zuge seiner Überlegungen zur Massengesellschaft, dass »die Öffentlichkeit nur noch ein Kollektiv von Einzelpersonen [ist], die der Beinflussung durch Massenkommunikationsmittel ausgesetzt und gegenüber ihren Suggestionen und Manipulationen völlig hilflos sind.«121 Dem Versuch der Einflussnahme hat der Einzelne nichts entgegenzusetzen – schon gar nicht einen eigenen Willen, so dass die Massenmedien ihre volle Wirkung entfalten können. Im Hintergrund dieser Vorstellung der einflussreichen Massenmedien steht die Vorstellung von Willenlosigkeit, wie sie in Form der Massentheorie ausformuliert wird. Der explizite Bezug zur Massentheorie ist dabei häufig gar nicht nötig. Das Wort Massenmedium stiftet die Evidenz. Viertens: Dass sich Massenmedien in diesen Komplex, der sich um den Zusammenhang von Masse und Hypnose bildet, so gut einfügen, hat einen weiteren Grund, der ebenfalls mit den Verfahren zur Steigerung der Suggestibilität zusammenhängt. Die Suggestibilität ist – wie gesagt – das Resultat der Anwendung von Verfahren, die eben der Schaffung eines empfänglichen Zustandes dienen beziehungsweise die eigenen Willensäußerungen der Masse schwächen. Jedoch sind diese Verfahren nicht das eigentlich Zentrale an der Hypnose. Nach Schrenck-Notzing besteht »das wesentlichste Moment aller specifisch hypnotischen Erscheinungen in dem Rapportverhältnis, in der Abhängigkeitsbeziehung […]. In dem Moment, wo die suggerierte Idee kritiklos durch das Gehirn des Percipienten angenommen wird, in dem er den Eigenwillen […] für bestimmte Akte verliert, beginnt der hypnotische Zustand.«122
Schrenck-Notzing definiert demnach Hypnose als einen bestimmten Zustand, der sich dadurch auszeichnet, dass an Stelle eines eigenen Willens ein Fremdwille realisiert wird. Damit tritt das Moment des Verfahrens zur Hervorbringung der Hypnose in der Beschreibung zurück zu Gunsten einer De121 Charles Wright Mills: Die amerikanische Elite. Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten, Hamburg: Holsten 1962, S. 343f. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Mills Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990 (1962), S. 358f. 122 Albert Freiherr von Schrenck-Notzing: »Die Bedeutung narcotischer Mittel für den Hypnotismus mit besonderer Berücksichtigung des indischen Hanfes«, in: Schriften der Gesellschaft für Psychologische Forschung 1 (1891), S. 1-73, hier S. 6. 112
DAS VERSCHWINDEN DES EINZELNEN
finition, die allein auf die psychische ›Erscheinung‹ abhebt. Das Verfahren ist für die Definition der Hypnose vergleichsweise unerheblich. Es ist gleichgültig, wodurch die hypnotische Erscheinung verursacht wird. Allein das Abhängigkeitsverhältnis ist entscheidend, um von einer Hypnose sprechen zu können. So betont Schrenck-Notzing diese Bestimmung auch in einem Text, der den Zusammenhang von Hypnose und Narkotika untersucht und der Frage nachgeht, ob auch Rausch- und Beruhigungsmittel zur Hervorbringung von hypnotischen Zuständen geeignet seien. Das heißt ein spezifisches, eigens nur in diesem Zusammenhang anzuwendendes Verfahren ist nicht zwingend notwendig zur Erzielung der Hypnose. Auf diese Weise entsteht eine Leerstelle für die Herbeiführung einer Hypnose, die Schrenck-Notzing gemäß des Titels seiner Arbeit mit ›Narkotika‹ besetzt, die aber auch durch jedes andere Mittel oder Verfahren zu füllen ist. Die Ursache für das Abhängigkeitsverhältnis kann in jedem beliebigen Faktor identifiziert werden. Und es ist Schrenck-Notzing selbst, der diese Leerstelle erneut besetzt, wenn er von der »suggestive[n] Gewalt der Presse«123 berichtet: »Man braucht [...] nicht hysterisch zu sein oder ein Phantasielügner, um Suggerierungen im wachen Zustande, wie sie z.B. durch Lectüre oder Unterhaltung geboten werden, zum Opfer zu fallen. [...] Unwillkürlich infiltrieren sich gelesene Meinungen und Urtheile unserem Denken [...].«124
Es muss kaum betont werden, dass damit eine neue Dimension in der Auseinandersetzung mit Hypnose und Suggestion erreicht ist.125 Mit der Annah123 A. Freiherr von Schrenck-Notzing: Die gerichtlich-medicinische Bedeutung der Suggestion, S. 15. Die Leerstelle wird ebenso mit der Rolle des Führers besetzt. Vgl. dazu zum Beispiel von Berthold Stokvis/Manfred Pflanz: Suggestion in ihrer relativen zeitbedingten Begrifflichkeit, medizinisch und sozial-psychologisch betrachtet, Stuttgart: Hyppokrates 1961, S. 98. Andriopoulos arbeitet heraus, wie das Kino als Ursache für hypnotische Erscheinungen konzipiert wird. Vgl. S. Andriopoulos: Besessene Körper, S. 99-123. 124 A. Freiherr von Schrenck-Notzing: Die gerichtlich-medicinische Bedeutung der Suggestion, S. 17f. 125 Eine neue Dimension stellt diese Überlegung auch dar, weil bereits im 18. Jahrhundert der Zusammenhang von Hypnose – damals als magnetischer Schlaf bezeichnet – und Medien formuliert wurde. Jedoch sah man darin nicht Möglichkeit einer Steuerung des Handelns, sondern allein die Problematik der Zerstreuung: »Darf man sich also über das Glück der Mittelmäßigkeit und Leerheit in ästhetischen Dingen [...] verwundern? […] Der Last des Denkens sind sie [gemeint sind die sich mit Literatur Unterhaltenden] entledigt und die losgespannte Natur darf sich im seligen Genuß des Nichts auf dem weiten Polster der Platitüde pflegen. In dem Tempel Thaliens [...] thront die geliebte Göttin, empfängt in ihrem Schoß den stumpfsinnigen Gelehrten und den erschöpften Geschäftsmann und wiegt den Geist in einen magneti113
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me, ein Verbreitungsmedium wirke suggestiv, erreicht ein einzelner Suggestionsvorgang viele Menschen. Eine Masse kann auf diesem Wege dem Willen eines Einzelnen unterworfen werden und so gehört die Suggestion durch die Presse nach Schrenck-Notzing auch zu den Massenerscheinungen.126 So wie eine juristische Debatte über Massenverbrechen die Konzepte Masse und Hypnose aneinander koppelt, verbindet eine medizinische Forschung zu Hypnoseursachen die Idee der Verbreitungsmedien und die der Hypnose beziehungsweise Suggestion, die wiederum – wie gesagt – im Zusammenhang mit der Erläuterung der Masse steht. Auf diesem Wege – über die Hypnose und Suggestion – werden Masse und Medien kurzgeschlossen: Medien wirken suggestiv auf Massen. Im Hintergrund dieser Kurzformel steht die komplexe und bisher dargestellte Diskussion, die von dem Schlagwort der Masse über Verbrechen, (Un)Zurechnungsfähigkeit, Wille und Fremdwille, Hypnose und Suggestion zu dem der Presse führt. Dieser Diskussionsgang generiert eine Reihe von Merkmalsbeschreibungen der Masse, von denen ihre Willenlosigkeit und vor allem ihre Rezeptivität hervorzuheben sind. Diese gehören dann auch zum festen Beschreibungsrepertoire der Massenmedien und ihrer Zuschauer: »Reklame, Werbung, Propaganda – das ist für viele wie ein vielköpfiges Ungeheuer, eine Zaubermacht, der sich der arme Verbraucher gar nicht entziehen kann: Er verfällt den schreienden Plakaten, den lockenden Slogans und tut, was er eigentlich
schen Schlaf, indem sie die erstarrten Sinne wärmt und die Einbildungskraft in einer süßen Bewegung schaukelt.« Friedrich Schiller: »Über naive und sentimentalische Dichtung« (1795), in: Schillers Theoretische Schriften. Friedrich Schiller Werk und Briefe in 12 Bde, Bd. 8. Hrsg. v. Rolf-Peter Janz, Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 706-810, hier S. 793. Vgl. auch Manfred Schneider: »Kollekten des Geistes. Die Zerstreuung im Visier der Kulturkritik«, in: Neue Rundschau 2 (1999), S. 44-55. Diese Thematik der Zerstreuung, die Schiller hier bechreibt, wird im Rahmen des Mediendiskurses mit Verweis auf Schiller wieder aufgenommen: »Es besteht die Gefahr, dass ›Wallenstein‹ in die Wohnküche des abgespannten, ermüdeten Menschen kommt, der da mit Hausschuhen und Strickweste bekleidet sitzt, seine Bratkartoffeln und sein Bier konsumiert. Die Gefahr, daß das Kunstwerk die Menschen in einer nicht adäquaten äußeren und seelischen Situation trifft […] ist groß.« Heinz Kerneck: »Beziehungen zwischen Kultur, Massenmedien und Gesellschaft«, in: Rundfunk und Fernsehen 3 (1962), S. 225-231, hier S. 228. 126 Vgl. A. Freiherr von Schrenck-Notzing: Die gerichtlich-medicinische Bedeutung der Suggestion, S. 12. Schrenck-Notzing verbindet die Erörterung der Massensuggestion sofort mit der Frage der Zurechnungsfähigkeit der Masse, die er als nicht gegeben ansieht. Vgl. zur Thematisierung der Presse auch S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 54 u. S. 114; sowie G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 105. 114
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gar nicht will; er kauft, was er nicht braucht und gibt mehr Geld aus, als er verantworten kann.«127
Die Auseinandersetzung mit Massenmedien ist in den 1950/60er Jahren an die These von der willenlosen und daher leicht manipulierbaren Masse gebunden. Es zeigt sich deutlich, wie die Diskussion um Hypnose und Suggestion sowie die damit einhergehende Willenlosigkeit alle gesellschaftlichen Bereiche affiziert und nicht nur ein Thema spezieller Wissenschaftsgebiete ist. Wie Andriopoulos erläutert, beschäftigen sich um 1900 nicht nur die Mediziner und Juristen, sondern auch die Literaten und Journalisten mit den Themen Hypnose und im Speziellen mit der Problematik des hypnotischen Verbrechen.128 Es handelt sich um Gegenstände einer öffentlichen Debatte, die bis in die 1950/60er Jahren hinein fortgeführt wird. In dieser Zeit wird das Wissen um Hypnose und Suggestion sowohl in Publikumszeitschriften als auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen reproduziert. Diese Fortführung der Thematik der Hypnose und Suggestion zeigt sich in den 1950/60er Jahren auf mehreren Ebenen. Zum einen kommt es zu einer wissenschaftlichen Erörterung der Hypnose und Suggestion. Im Rahmen dessen wird – wie um die Jahrhundertwende – gleichermaßen das Hypnoseverbrechen wie die Massensuggestion verhandelt. Auch die Frage nach den Massenverbrechen als Problematik des hypnotischen Verbrechens bleibt Thema. Der Jurist Ernst Seelig ruft 1955 in einem 12-seitigen Eintrag zu Suggestion den gesamten eben angesprochenen Komplex auf, der sich um die Hypnose bildet und die Problemfelder Masse, Verbrechen, Zurechnungsfähigkeit, Wille und Verbreitungsmedien umfasst.129 Neben solcher wissenschaftlichen Erörterung beschäftigen sich auch die öffentliche Berichterstattung und populärwissenschaftliche Darstellungen mit der Hypnose. 1955 wird das Thema Gegenstand eines Spiegel-Artikels,
127 H. Bergner: Im Zeitalter der Massen, S. 49. Hervorhebung von Verfasserin. Vgl. in diesem Zusammenhang auch im Besonderen Anonymus: »›Der Bildschirm als Autorität‹. Aus einem Vortrag von Dr. Franz Dülk (SDR): ›Werden wir fernsehgesteuert?‹«, in: epd/Kirche und Fernsehen 7 (1965), S. 1f., hier S. 2. Der Text ruft das gesamte Beschreibungrepertoire aus dem Zusammenhang von Hypnose und willenloser Masse auf, um daraus eine Fernsehkonzeption sowie eine Anleitung für den korrekten Umgang mit Massenmedien zu entwickeln. 128 Vgl. S. Andriopoulos: Besessene Körper, S. 39-49. Andriopoulos geht es vor allem um die Frage, wie sich Medizin und Literatur gegenseitig informieren. 129 Vgl. E. Seelig: Schuld/Lüge/Sexualität, S. 108-116. Vgl. auch B. Stokvis/M. Pflanz: Suggestion in ihrer relativen zeitbedingten Begrifflichkeit, S. 86-105, worin sie der Suggestion und Massenwirkung ein eigenes Kapitel widmen. Vgl. ebd., S. 96-101. 115
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der mit dem Hinweis auf eine kommende »Hypnose-Modewelle«130 schließt. Als Auslöser dafür, dass »die Hypnose plötzlich überall [...] diskutiert wird«, sieht Der Spiegel eine umfangreiche Untersuchung der British Medical Association, die die Hypnose vom Verdacht der »Scharlatanerie«131 befreien will. Die Berichterstattung des Spiegels über diese Studie und zahlreiche weitere wissenschaftliche Erörterungen zur Hypnose enthält – verknappt auf zwei Seiten – den gesamten Wissensbestand, den die medizinische und juristische Debatte seit der Jahrhundertwende zusammengetragen hat. Der Eindruck, dass dieser Wissensbestand nicht allein als Kenntnisse von Spezialisten und Experten besteht, vermittelt Der Spiegel nicht nur durch seine Berichterstattung von der Hypnose-Modewelle. Es ist gerade die Kürze des Artikels in Anbetracht der Menge der aufgerufenen Informationen, die verdeutlicht, dass der Leser der Publikumszeitschrift bereits über ein Verständnis des Hypnoseprozesses verfügt. Offensichtlich kann Der Spiegel sich auf bereits bestehende Kenntnisse beim Leser berufen und aufgrund dessen seine Ausführungen so knapp halten.132 Der Artikel ist also ein Indiz dafür, dass die Hypnose zum Allgemeinwissen der bundesrepublikanischen Gesellschaft gehört – was auch angesichts der Verbreitung zum Beispiel der Mabuse-Romane und -Filme wenig verwundert. Damit verbundene Erkenntnisse stehen also für argumentative Verwendungen in allen gesellschaftlichen Bereichen zur Verfügung.
130 Anonymus: »Der Gesundheitsdienst zahlt. Hypnose«, in: Der Spiegel 25 (1955), S. 38f., hier S. 39. 131 Ebd., S. 38. 132 Der Spiegel bezieht sich bereits in einem früheren Artikel auf das Wissen um Hypnose. Vgl. Anonymus: Nickerchen am Fernsehsender. Mr. Cassons großer Triumph«, in: Der Spiegel 4 (1947) S. 27. Dieser Artikel, der sich mit dem Thema Hypnose durch Fernsehen beschäftigt, ist die erste Berichterstattung des Spiegels zum Fernsehen. Das heißt, in seinem ersten Artikel über das Fernsehen und noch vor der Ausstrahlung eines regelmäßigen Programms im Deutschland der Nachkriegszeit konzipiert das Magazin das Fernsehen als Verbreitungsmedium für Hypnoseerscheinungen. 116
DAS
T E I L III ZEITALTER DER MASSENMEDIEN I
Anhand Sigheles juristischer Studie hat sich im letzten Teil gezeigt, welche massentheoretischen Eigenschaftsbeschreibungen sich im Zuge der Analyse von Auflaufmassen bilden. Maßgeblich bei dieser Analyse – so die leitende These des letzten Teils – ist die Problematik eines Sichtbarkeitsdefizits, welches die Merkmalsbeschreibungen provoziert. Aufgrund des Verschwindens des Einzelnen in der Masse werden dieser spezifische Eigenschaften zugeschrieben, die aber nicht als Effekt des Sichtbarkeitsmangels, sondern als genuine Charakteristika der Masse verstanden werden. Sigheles Untersuchung referiert dabei nicht allein auf ein juristisches Wissen, sondern integriert auch ein politisches und medizinisch-psychologisches Vokabular sowie soziologische Methoden. Zugleich wirkt die juristische Massenbeschreibung wieder auf diese Diskursfelder zurück und informiert die Massentheorien der Politik, Soziologie und vor allem der Psychologie sowie kulturkritische Debatten. Diese nutzen die Ergebnisse, die anhand von akuten Massenversammlungen gewonnen werden, auch in der Folgezeit und auch angesichts eines neu zu fassenden Beschreibungsobjekts, der Massengesellschaft, die sich gerade nicht mehr als konkrete Erscheinung manifestiert, sondern eine abstrakte Größe darstellt. Es werden jedoch in der Analyse – wie bereits ausgeführt wurde – in der Regel beide Massenformen aktualisiert, damit die Eigenschaftsbeschreibungen plausibel bleiben. Die Referenz auf die akute Menschenansammlung stattet die Beobachtungen erst mit Plausiblität aus. Ohne diese Referenz bleiben die Argumentationen uneinsichtig. Diesen Plausibilisierungszusammenhang aus konkreter und disperser Masse bricht das Fernsehen jedoch auf, weil es als ein Medium konzipiert wird, dessen Leistung in der Simulation von Anwesenheit besteht. In den 1950/60er Jahren wird es als große Errungenschaft des Fernsehen gefeiert, dass es dem Einzelnen eine simultane Partizipation an entfernten Ereignissen ermögliche. So formuliert bereits NWDR-Intendant Werner Pleister in seiner Ansprache an den Zuschauer anlässlich des Fernsehstarts 1952, dass der Zuschauer aufgefordert sei via Fernsehen, »dabei zu sein mit Auge und Ohr, wenn wir Ihnen das große Ge-
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schehen der Welt […] in ihre Wohnung bringen.«1 ›Dabei-sein‹ ist die Formulierung, die immer wieder bemüht wird, um zu zeigen, welche Potentiale das Fernsehen beinhaltet. Diese Idee des Dabei-seins, die Vorstellung, dass der Zuschauer sich bei einem Ereignis anwesend wähnt, obwohl er zu Hause vor dem Fernsehschirm sitzt, forciert die Anschließbarkeit des Medien- an den Massendiskurs. Die Beobachtungen, die angesichts der akuten Masse gewonnen werden, erhalten Plausibiltät, weil eine mediale Erreichbarkeit der Masse und ihr televisueller Zusammenschluss angenommen wird. Geht man beispielsweise davon aus, dass die eigene Willenskraft im Massenverband geschwächt wird, so lässt sich dies nun auch medial verursachen, weil der Einzelne meint, am Ort der Versammlung zu sein. Im Folgenden soll nun das Fernsehen als Schaltstelle zwischen konkreter und verstreuter Masse vorgestellt werden. Inwiefern erscheint die Masse gleichsam auf dem Wege des Bildschirms doch wieder beisammen und (un) mittelbar gegeben? Des weiteren geht es darum, die Verbindungslinien zwischen der Massen- und der Fernsehbeobachtung anhand der einzelnen, bisher vorgestellten Eigenschaftsbeschreibungen deutlich zu machen. In welcher Form erscheinen die Eigenschaften der Masse in den 1950/60er Jahren als eine massenmediale Problematik? Wie werden Eigenschaften der versammelten Masse als Fernsehbeschreibungen aktualisiert? In welcher Form tauchen die Massenbeobachtungen in den Analysen zum Fernsehen wieder auf und welche Funktion übernehmen sie darin? In gleicher Weise sind die Funktionen, die spezifische Fernsehkonzeptionen für die Massenprozesse erhalten, von Bedeutung. Im ersten Kapitel wird es im Zuge dieser Fragen darum gehen, wie die gerade genannte Beschreibungsgröße der medialen Anwesenheit die Unterscheidung von versammelter und disperser Masse aufhebt und wie aufgrund dessen sich die Massen- und Medienkonzepte gegenseitig einrichten. Im darauf folgenden Kapitel wird die Annahme von der willenlosen Masse und wie sie sich in die Fernsehkonzeption einschreibt zum Thema. Es geht einerseits um die Frage, inwiefern die Behauptung, der Zuschauermasse mangele es an einem eigenständigen Willen, die Idee von den mächtigen Massenmedien hervorbringt, deren Wirksamkeit sicher scheint. Die Vorstellung, dass massenmediale Stimuli Effekte beim Zuschauer verursachen, basiert nicht allein auf einer Beobachtung von Massenmedien, sondern ebenfalls auf der These vom empfänglichen ›Rezipienten‹. Das Begriffspaar aus manipulativen Medien und beeinflussbaren Mas-
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Werner Pleister: »›Das geheimnssvolle Fenster in die Welt ist geöffnet›«, in: Fernseh-Information 1 (1953), S. 7. Laut Harald Wenzel kommt die These von der Massengesellschaft erst in den 1950er Jahren auf, weil sich in dieser Zeit die Echtzeitmassenmedien durchgesetzt haben. Vgl. Harald Wenzel: Die Abenteuer der Kommunikation. Echtzeitmassenmedien und der Handlungsraum der Moderne, Weilerswist: Velbrück 2001, S. 33. 118
DAS ZEITALTER DER MASSENMEDIEN I
sen plausibilisiert sich gegenseitig. Andererseits wird gezeigt, wie das Fernsehen in den 1950/60er Jahren als ein Verfahren zur Produktion eines Zuschauers, der äußeren Einflüssen ohne Widerständigkeit ausgesetzt ist, entworfen wird. Diese Fragen sind nicht unabhängig von dem zeitgenössischen Kontext zu beantworten, der Gegenstand der darauf folgenden Kapitel sein soll. Die Situation des Kalten Krieges geht in die Diskussion um Masse und Medien ein und strukturiert sie maßgeblich. So forciert sie zum einen einen Rückgriff auf die Masse-Semantik und sorgt zum anderen für deren Evidenz. Damit scheinen die Idee der willenlosen und somit (medial) beeinflussbaren Masse sowie die Annahme der Wirkungskraft der Medien sofort einsichtig. Im Zuge der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Ost-WestKonflikt wird sich im Besonderen auf die Thesen Le Bons bezogen. Im letzten Teil der Arbeit wurde bereits erläutert, dass Le Bon im hohen Maße die Überlegungen Sigheles wiederholt, ohne jedoch dessen ausführlichen Argumentationsgang zu reproduzieren. Stattdessen liefert Le Bon eine Aneinanderreihung von (unbegründeten) Thesen; aber gerade dieser Stil macht die Popularität seines Werkes, die sich auch in den Debatten der 1950/60er Jahren zeigt, aus. Aufgrund dessen wendet sich das Kapitel Steuerung der Masse Le Bons Psychologie der Massen zu und beginnen mit Anmerkungen zu seiner Massentheorie. Auch wenn Le Bon sehr stark an Sigheles Thesen anschließt, sind einige Ergänzungen zu den bisherigen Ausführungen anzubringen, weil Le Bon – dies wurde schon häufiger in dieser Arbeit erläutert – die disperse anstatt die akute Masse zum Thema hat. Genauer: Sein Thema ist die Massengesellschaft, auch wenn beide Massentypen (gemäß der im ersten Teil genannten Plausibilisierungsthese) in seinem Werk vertreten sind. Gerhard Maletzke konstatiert aufgrund dessen, dass »bei Le Bon und noch lange Zeit danach der Begriff ›Masse‹ recht wahllos und einigermaßen verworren benutzt wurde und von großen Menschenmengen in actu bis zu Koperationen einerseits und bis zur gesamten Bevölkerung industrialisierter Länder andererseits reicht [...].«2 Doch auch im Rahmen der Thematik der verstreuten Masse geht es um deren Willenlosigkeit und der daraus resultierenden Beeinflussbarkeit. Willensmangel und Rezeptivität werden – so wird im Folgenden gezeigt – bei Le Bon zum Thema eines politischen Steuerungswissens. Als ein solches politisches Steuerungswissen werden sie dann auch in den 1950/60er Jahren relevant, auch wenn einige Elemente entfallen. Es wird also in dem entsprechenden Kapitel um eine Analyse der neuerlichen Konjunktur der genannten Masseneigenschaften im (publizistischen) Medien- und Politikdiskurs gehen.
2
G. Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation, S. 24. 119
MASSENMEDIUM FERNSEHEN
1 Das Fernsehen als Simulator von Anwesenheit 1966 bewirbt die Firma Blaupunkt ihr aktuelles Fernsehmodell mit dem Slogan »Mit Blaupunkt bei der Fußballweltmeisterschaft«.3 Sie formuliert damit in werbetechnisch verdichteter Version eine bestimmende Komponente des Mediendiskurses der Nachkriegszeit: Mit dem Fernsehen erhalte der Einzelne die Möglichkeit, an Ereignissen wie der Fußballweltmeisterschaft teilzunehmen. Teilnahme heißt dabei vor allem die Möglichkeit, die Trennung des Zuschauers vom Ort des Geschehnisses ignorieren zu können, denn Blaupunkt verspricht, mit dem beworbenen Modell fühle man sich wie im »Brennpunkt des Geschehens« und dies obgleich man sich im eigenen Heim befinde. Eine Partizipation am Sportereignis wird also möglich und diese soll sich nicht von der unterscheiden, wie man sie im Stadion erlebt. Entscheidend ist dabei, dass nicht nur einfach davon ausgegangen wird, dass das Fernsehen das Stadionerlebnis vermittelt, sondern dass es die Stadionsituation dem Einzelnen ›unmittelbar‹ zugänglich machen kann. Das Fernsehen wird in den 1950/60er Jahren im Besonderen unter der Maßgabe der Unmittelbarkeit beobachtet – so zum Beispiel von Heinz Schwitzke, dem Redakteur der Zeitschrift Kirche und Rundfunk: Die Zuschauer »werden der Wirklichkeit oder wenigstens einem Ausschnitt der Wirklichkeit fast unmittelbar gegenübergestellt.«4 Und im Fachorgan medium formuliert Gerhard D. Wiebe: »Die verschiedenen Medien unterscheiden sich in der Ähnlichkeit ihrer Mitteilungen mit der unmittelbaren Erfahrung. Das Fernsehen kann Vorfälle mit […] Genauigkeit darstellen […]. Damit nähert sich die Erfahrung des Zuschauers der unmittelbaren Konfrontation.«5 Die Fernseheindrücke ähneln demnach der direkten Erfahrung und sind für den Zuschauer kaum davon zu unterscheiden. Es stellt sich der Eindruck unmittelbarer Teilhabe ein, weil die technische Vermittlung beim Fernsehen ausgeblendet wird. Als Spezifikum des Fernsehens gilt dessen Leistung, die eigene Me3 4 5
Entnommen dem Spiegel 19 (1966), S. 77. Heinz Schwitzke: »Aktualität im Fernsehen«, in: Rundfunk und Fernsehen 4 (1953), S. 12-21, hier S. 14. Gerhardt D. Wiebe: »Gesellschaftliche Auswirkungen von Fernsehen und Rundfunk«, in: medium 2 (1966), S. 125-141, hier S. 141. Wie der Titel schon anzeigt geht es Wiebe um einen Medienvergleich. Dabei kommt Wiebe zu dem Ergebnis, dass das Fernsehen der unmittelbaren Erfahrung am meisten ähnele. Diese Fernsehbeschreibung bindet er zurück an die Eigenschaften der Masse und die Problematik von Massenunruhen. Vgl. weiterhin Hans Gottschalk: »Grundsätzliche Überlegungen zum Fernsehspiel« (1956), in: Konrad Dussel/Edgar Lersch (Hg.), Quellen zur Programmgeschichte des deutschen Hörfunks und Fernsehens, Zürich, Göttingen: Muster-Schmidt Verlag 1999, S. 397-403, hier S. 400f.; Heinz Huber: »Wirkungen des Fernsehens«, in: Rundfunk und Fernsehen 3 (1958), S. 284-286, hier S. 286. 120
DAS ZEITALTER DER MASSENMEDIEN I
dialität unsichtbar zu machen. »Das Vergessen des technischen Filters hatte den Effekt, sich über die Grenzen einer körperlich-sensuellen Ortsgebundenheit hinweg an einem Ereignis beteiligt fühlen zu können.«6 Die räumliche Trennung, die zwischen den Zuschauer und ein entferntes Geschehen tritt, wird in den Beschreibungen übergangen und in die Vorstellung einer kognitiven Anwesenheit übersetzt. Körperlich bleibt der Zuschauer zwar dem Ereignis abwesend, aber seine Wahrnehmung soll der einer körperlichen Präsenz entsprechen. Die räumliche Distanz zwischen Zuschauer und Ereignis wird in der Nachkriegszeit dann auch nur insofern zum Thema, als sie bei der Fernsehübertragung nicht spürbar scheint. Im Zuge der Konzeption des Fernsehens als Simulator von Anwesenheit werden für dessen Beschreibung all jene Erfahrungsformen relevant, »die zuvor nur in physischem Kontakt und gebunden an den selben physischen Ort der Interaktion erlebbar gewesen«7 sind. Insofern das Fernsehen also als Möglichkeit einer unmittelbaren Teilhabe gilt, wird davon ausgegangen, dass sich bei dessen Rezeption Verhaltensweisen aktualisieren, die gemeinhin auf die Anwesenheit anderer Personen zurückgeführt werden. Besonders eindrücklich wird diese Überlegung im Kontext des bekannten Theorems von der parasozialen Interaktion, das Donald Horton und R. Richard Wohl 1956 entwickeln. Es besagt, dass es im Rahmen von Massenkommunikation zu einer Handlungsform komme, die der Interaktion sehr ähnlich sei. Obgleich Massenmedien ausschließlich eine einseitige Kommunikation zuließen und Kommunikation technisch vermittelt über Entfernung organisierten, komme es beim Rezipienten zu dem Eindruck, es handele sich um eine face-to-face-Kommunikation. Diese evoziere unter anderem ein Empfinden von persönlicher Bekanntheit und Intimität mit den Personen auf dem Bildschirm. Aufgrund dessen würde auch das Verhalten des Rezipienten an diesen Empfindungen ausgerichtet.8 6 7
8
M. Elsner/T. Müller: Der angewachsene Fernseher, S. 399. Ebd., S. 406. Vgl. zum Aspekt der Teilhabe und Partizipation sowie zur Beschreibung des Dabei-seins zum Beispiel die Studien von C. Dammann: Stimme aus dem Äther – Fenster zur Welt, S. 62-88; Knut Hickethier: »Zwischen Einschalten und Ausschalten. Fernsehgeschichte als Geschichte des Zuschauens«, in: Werner Faulstich (Hg.), Vom ›Autor‹ zum Nutzer: Handlungsrollen im Fernsehen. Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, München: Fink 1994, S. 235-306, hier 249f.; und vor allem: Monika Elsner/Thomas Müller/Peter M. Spangenberg: »Zur Entstehungsgeschichte des Dispositivs Fernsehen in der Bundesrepublik Deutschland der fünfziger Jahre«, in: Knut Hickethier (Hg.), Institution, Technik und Programm. Rahmenaspekte der Programmgeschichte des Fernsehens. Geschichte des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, München: Fink 1995, S. 31-66, hier S. 5361. Vgl. Donald Horton/R. Richard Wohl: »Mass communication and para-social interaction. Observation on intimicy at a distance«, in: Psychiatry 19 (1956), S. 121
MASSENMEDIUM FERNSEHEN
Wenn das Fernsehen Anwesenheit simulieren beziehungsweise dem Zuschauer Eindrücke gleich der direkten Erfahrung vermitteln kann, sind auch die Masseneigenschaften, deren Existenz zuvor nur in der konkreten Menschenansammlung begründbar waren, in die Fernsehkonzeption integrierbar. Durch das Fernsehen erhalten sie einen neuen argumentativen Zusammenhang. Diese Eigenschaften bilden dann auch in den 1950/60er Jahren einen Bestandteil der Fernsehanalyse; sie werden mit dem Fernsehen in einem Feld situiert, das sie mit neuer Plausibilität versieht. Trotz des Entzugs ihrer Argumentationsbasis, der konkreten Menschenansammlung, können alle mit der Masse verbundenen Merkmale ohne argumentativen Notstand aufrechterhalten werden, da das Fernsehen die entstandene Lücke perfekt füllt: Es schließt die Masseneinzelnen miteinander kurz. Dabei geht es zum einen darum, dass alle Zuschauer über das Fernsehen adressierbar scheinen.9 Die Stimulierung der Masse – also beispielsweise die Anwendung von Verfahren zur Steigerung ihrer Suggestibilität, wie sie im vorhergehenden Teil der Arbeit beschrieben wurden – scheint nun auf dem Wege des Fernsehens möglich. Der Einzelne vor dem Bildschirm reagiert demnach wie der Einzelne in der Masse. Zum anderen scheint es plausibel, dass der Einzelne am Fernsehapparat ähnlich wie im Massenverband reagiert, weil er über das Fernsehen mit den anderen der Masse im Kontakt steht. Genauer: Die Debatten der 1950/60er Jahre entwerfen ein Fernsehen, das den von Sighele benannten und im vorhergehenden Teil dieser Arbeit vorgestellten »Einfluss der grossen Zahl«10 hervorrufen kann. Die Annahme vom Einfluss der großen Zahl besagt, dass die Erregbarkeit und die Empfänglichkeit der Masse für äußere Einflüsse mit der Anzahl der Anwesenden steigt. Die Anzahl der Anwesenden ist ausschlaggebend für die Suggestibilität des Einzelnen in der Masse, so dass auch bei geringen Vorfällen eine heftige Reaktion zu erwarten ist. Genau diese Idee zur Masse entwickelt 1952 auch Clemens Münster, der Fernsehbeauftragte und zukünftige Fernsehdirektor des Bayerischen Rundfunks, in seiner Studie Mengen, Massen, Kollektive: »Fast nie ist der Aufwand des erregenden Moments mit der ausgelösten Wirkung zu vergleichen, so wenig wie ein Tritt oder ein Ruf mit der ausgelösten Lawine.«11 Münster behauptet somit ein Kausalitätsverhältnis zwischen einem gegebenen Reiz und der Reaktion der Masse, wobei aber dieses Verhältnis nicht durch Proportionalität bestimmt ist.12 Seine Erklärung für diesen Zusammenhang äh215-229. Siehe auch unter: http://members.tripod.com/~fandom101/para1.html vom 02. März 2005. 9 Vgl. dazu den nächsten Teil dieser Arbeit. 10 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 105. 11 C. Münster: Mengen, Massen, Kollektive, S. 57. 12 Dabei gehört die Proportionalität zu einer der Grundannahme des Wirkungsschemas, wie es sich in der Kommunikationswissenschaft findet. Vgl. Klaus 122
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nelt Sigheles Erläuterung der Masse, denn für Münster liegt der Grund dafür in einem »Resonanzphänomen«, wonach »innerhalb der Masse [...] oft infolge einer Art ›Rückkopplung‹ eine Steigerung des Massenzustandes eintritt – nicht selten bis zum katastrophalen Ausbruch; so ruft der Beifall im Publikum selbst wieder Beifall hervor.«13 In einer Art Kettenreaktion führt ein Anlass dazu, dass die Masse eine Reaktion hervorbringt, die dadurch verstärkt wird, dass sie in den Einzelnen einen Effekt erzielt, der wiederum als Reiz für die anderen der Masse wirkt. Der Einzelne in der Masse nimmt also nicht nur den ursprünglich gegebenen Anlass wahr, sondern zusätzlich die Reaktion der anderen. Infolge dessen kommt es zu einer Summierung vieler Reize, die eine proportional entsprechende Wirkung auslösen. Als Beispiel für die »Massenresonanz« dient Münster das Hörspiel The Invasion from Mars, das 1938 »eine allgemeine Panik ausgelöst hatte.«14 Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie der Einfluss der großen Zahl beziehungsweise die Massenresonanz als Effekt von Massenmedien verhandelt wird. Diese Kopplung von Massenmedien und Massenresonanz erscheint auf den ersten Blick abwegig, da für die Resonanz eine Vielzahl von Personen anwesend sein müssen. Allein wenn die Wahrnehmung der anderen Beteiligten gegeben ist, kann es zum Rückkopplungseffekt kommen. Das heißt, erst die Ansicht des Effektes in der Masse produziert beim Einzelnen den Eindruck eines intensiven Reizes und genau diese Ansicht fällt bei der medialen Vermittlung aus. Und so erläutert auch Münster sein Beispiel dahin gehend, dass die Zuhörer in Panik gerieten, weil sie – mit Blick aus dem Fenster – die Reaktion anderer Menschen auf das Gehörte meinten zu beobachten. Die Panik ist damit kein direkter Effekt des Hörspiels, sondern das Resultat der Beobachtung der Umgebung. Solchen Erläuterungen zum Trotz wird der Einfluss der großen Zahl als Medienphänomen ausgegeben. Münster sieht die Massenresonanz durch ein Hörspiel verursacht, auch wenn dafür zusätzlich die Anwesenheit Anderer Bedingung ist. Das von Münster geschilderte Resonanzphänomen bedarf also der Wahrnehmung anderer Personen, die entsprechend reagieren und so eine Reizakkumulation produzieren. Diese Wahrnehmung scheint nun aber das Merten: »Wirkungen von Kommunikation«, in: ders./Siegfried J. Schmidt/ Siegfried Weischenberg (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 290-328, hier S. 295f. Jedoch realisiert sich die Proportionalität durch die Annahme einer Reizakkumulation wieder. 13 C. Münster: Mengen, Massen, Kollektive, S. 57. Siehe zu S. Sigheles: Psychologie des Auflaufs, S. 103: »[S]o entstehen aus den psychologischen Ein- und Rückwirkungen verschiedener Affekte aufeinander neue und furchtbare Erregungen [...].« Vgl. zur Verwendung des Begriffs Resonanz zur Erläuterung der Massenprozesse auch J. Nagler: Das Verbrechen der Menge, S. 161. Nagler verwendet auch den Vergleich der Masse mit einer Lawine. Vgl. ebd., S. 164. 14 C. Münster: Mengen, Massen, Kollektive, S. 58. 123
MASSENMEDIUM FERNSEHEN
Fernsehen liefern zu können – so legt es zumindest die Berichterstattung zum Fernsehen im Rahmen der Spiegel-Kolumne Telemann nahe. Der Autor Morlock berichtet anlässlich des Kennedy-Besuches in Deutschland: »Auf der Fahrt zum Flugplatz Wahn nach Köln war’s ein vergleichsweise geringer Jubel. Vor dem Kölner Rathaus war’s schon ein großer Jubel. Vor dem Frankfurter Römer war’s ein noch größerer Jubel, und in Berlin war’s ein gewaltiger Jubel. Das machte: Die Kölner hatten die Wahner, die Frankfurter die Wahner und die Kölner und die Berliner die Wahner, die Kölner und die Frankfurter Fähnchen schwingen sehen. Durch die Röhre. Und wenn in Berlin auch der politische genius loci eine Rolle spielte, so bleibt doch als Novum, daß eine via Television in Jubelstimmung versetzte Bürgerschaft die andere zu befeuern mag.«15
Durch das Fernsehen wird der Massenjubel allen ansichtig und diese Ansicht bewirkt beim Einzelnen wiederum ein entsprechendes Jubilieren. Das Fernsehen hat demnach die Möglichkeit, dem Einzelnen die Reaktion anderer zu vermitteln und so die Massenresonanz auszulösen. Es imitiert gleichsam den Einfluss der großen Zahl durch die visuelle Wiedergabe der Masse und evoziert so das entsprechende Phänomen. Der Anlass ist dabei unerheblich: Nicht Kennedy, so Morlock, ›befeuert die Bürgerschaft‹, sondern der Jubel der anderen, den der Zuschauer mit Hilfe des Fernsehens beobachten kann und der bei ihm eine identische Reaktion auslöst. Je intensiver dabei der beobachtete Jubel ist, desto stärker setzt er sich fort: ›in Berlin war’s ein gewaltiger Jubel‹. Doch damit sind die Möglichkeiten, die das Fernsehen für die Schaffung einer Massenresonanz bietet, noch nicht ausgeschöpft, wie ein anderer Artikel von Morlock nahe legt. Folgt man Morlock, so bringt das Fernsehen die Massenresonanz nicht nur dadurch hervor, dass es dem Zuschauer die Masse vor Augen führt. Darüber hinaus kommt es sogar zur Inszenierung der Masse, um auf diesem Wege das Phänomen der Resonanz herbeizuführen. Morlock berichtet 1960 von der heute kaum noch Staunen erregenden Gegebenheit, dass die Produzenten von Unterhaltungssendungen das Lachen des
15 Martin Morlock: »Jubilate. Telemann«, in: Der Spiegel 27 (1963), S. 65. Siehe zu einer ähnlichen Beschreibung anlässlich eines Besuches der britischen Königin F[riedrich] W[ilhelm] H[ymnen]: »Bewährung bei der Direkt-Übertragung«, in: epd/Kirche und Fernsehen 21 (1965), S. 1f., hier S. 1: »Was wäre dieser Besuch ohne die Fernsehübertragung gewesen? Beifall und Zuneigung der Deutschen steigerten sich sichtbar von Tag zu Tag, stimuliert durch die Fernsehbilder. Alle vorhergehenden Sendungen entzündeten den Jubel, den das Publikum dann, wenn die Königin tatsächlich durch die Straßen seiner Stadt fuhr, aufbrachte, teils von der Gegenwart einer Majestät fasziniert, teils aber auch von der magischen Wirkung des Fernsehens. Und schließlich wollte man sich vom Jubel der Menge in der vorigen Stadt nicht lumpen lassen.« 124
DAS ZEITALTER DER MASSENMEDIEN I
Publikums synthetisch generierten, um so beim Rezipienten vor dem Empfangsgerät ein identisches Verhalten auszulösen: »Der Zuschauer am Bildschirm soll, während das Magnetband synthetische Begeisterung absondert, lauthals eigener Lachlust frönen können [...].«16 Demnach gehen die Produzenten davon aus, dass der Zuschauer eher zum Lachen angeregt wird, wenn er eine entsprechende Gemütsäußerung bei anderen vernimmt. Diese Wahrnehmung der Mitmenschen fehlt aber zunächst beim Fernsehen, was als ›unbestreitbarer Notstand‹ gilt: »Das Fernsehen hat [...] kein Publikum, es hat nur Zuschauer. Was da täglich aus Millionen Bildröhren vorquillt, wird einzeln, allenfalls grüppchenweise konsumiert.«17 Aber für einige Gemütsbewegungen »braucht der Einzelmensch die Masse [...].«18 Das Lachen des Zuschauers ist demnach nicht durch die Eigenschaft der Darbietung hervorgerufen. Stattdessen ist das Lachen Effekt der Beobachtung des Lachens anderer. Morlocks Beschreibungen zeigen, wie die Annahme von der Massenresonanz zum Inszenierungsbestandteil von Fernsehsendungen wird. Dabei wird der ›Notstand‹ des Fernsehens überwunden. Die Einzelrezeption beim Fernsehen wird für die Wahrnehmung des Zuschauers getilgt, indem ein Eindruck von Kollektivempfang erzeugt wird. Auf diese Weise wird Münsters Argumentation plausibel. Der Rezipient bedarf zwar der Beobachtung anderer, damit es zum Resonanzeffekt kommt, aber diese Wahrnehmung wird ihm ebenfalls medial gegeben. Münster steht dieser Möglichkeit kritisch gegenüber, weil auf diese Weise eine Massenverhalten, das grundsätzlich abzulehnen sei, erzeugt würde. 16 Martin Morlock: »Viel Freund. Telemann«, in: Der Spiegel 32 (1960), S. 56. Vgl. auch Vance Packard: Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in Jedermann, Düsseldorf: Econ 1958 (1957), S. 244. Hier kündigt sich auch das Theorem der Nachahmung an, das gleichermaßen für den Masse-Begriff wie für die Beobachtung des Fernsehens maßgeblich ist und das einer gesonderten Untersuchung bedürfte. Es geht um eine scheinbar spontane Reaktion, die aber tatsächlich durch Übernahme der Verhaltensweise und Vorstellungen anderer hervorgerufen wird. Vgl. Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003 (1890), S. 101f. Insofern es sich um ein basales soziales Verhalten handelt, kommt es zum wiederholten Auftreten gleicher Handlungen und Ideen. Es entwickelt sich eine »kollektive Erinnerung oder Gewohnheit.« Ebd., S. 99. Diese Überlegung wird in den 1950/60er Jahren zum Medienwissen. Mit dem Fernsehen wird eine Möglichkeit entdeckt, Verhaltensweisen für die gesamte Gesellschaft vorzugeben. Es herrscht die schlichte These, dass dargestellte und durch das Fernsehen verbreitete Handlungen vom Zuschauer nachgeahmt würden. Diese Überlegung wird im Besonderen bezüglich des sogenannten und viel diskutierten Nachahmungsverbrechens geäußert. Vgl. exemplarisch Anonymus: »Wenn der Flieder blüht. Kindermorde«, in: Der Spiegel 27 (1962), S. 47-51. 17 M. Morlock: Viel Freund, S. 56. 18 Ebd., S. 56. 125
MASSENMEDIUM FERNSEHEN
Doch das Potential des Fernsehens, dem Zuschauer eine Ansicht der Mitmenschen zu liefern, wird in den 1950er Jahren auch als spezifische – positiv bewertete – Leistung des Mediums ausgegeben. Laut Walter Hagemann liegt die Besonderheit des Fernsehens gerade darin, die Personen vor Ort samt ihres Verhaltens dem Fernsehzuschauer ansichtig zu machen: »Während der Leser und Rundfunkhörer nur noch psychologisch einem gedachten Öffentlichkeits-›Kreis‹ angehört, kehrt der Fernsehhörer gewissermaßen wieder in einen solchen räumlich wahrnehmbaren Kreis zurück. So ist es etwa bei der Übertragung einer Versammlung oder einer Theateraufführung, wo der Fernsehhörer gleichsam im Parkett und zwar an einem sichtbegünstigten Platz sitzt und den Ereignissen aus der Nahsicht der Fernsehkameras mit Augen und Ohren folgen und sogar das Verhalten der körperlich versammelten Empfänger wahrnehmen kann.«19
Der Raum des Geschehnisses erweitere sich gleichsam in das Wohnzimmer, in dem der Fernsehrezipient sitze und an den Reaktionen des Publikums vor Ort partizipieren könne. Der Zuschauer am Empfangsgerät gehöre dem Personenkreis der Menschen vor Ort an, da er, wie diese, die Geschehnisse rezipiere und das heißt auch die anderen Personen beobachten könne. Der Unterschied zwischen dem Publikum, das körperlich präsent sei, und den Zuschauern am Fernsehgerät werde aufgrund der Identität der Rezeptionsformen aufgehoben. Die körperliche Abwesenheit und die räumliche Trennung vom Ereignis seien unerheblich für die Wahrnehmung des Zuschauers, da die Fernsehkameras stellvertretend ›mit Auge und Ohr folgen‹. Das Fernsehen simuliere also wahrnehmungstechnisch eine Präsenz, die zum Effekt habe, dass das Verhalten des Fernsehzuschauers dem anwesenden Publikum gleiche. Die Gegenüberstellung von An- und Abwesenheit ist demnach keine Unterscheidung, die für die Beobachtung des Fernsehens leitend sein kann.20 19 W. Hagemann: Vom Mythos der Masse, S. 267. Vgl. zum Resonanzeffekt bei Hagemann auch ders.: Fernhören und Fernsehen. Eine Einführung in das Rundfunkwesen. Heidelberg: Vowinckel 1954, S. 196. Wie das Zitat verdeutlich stehen die Begriffe Masse und Öffentlichkeit in einem engen Verhältnis, das einer eigenen Betrachtung bedarf. Vgl. Karen Kenkel: »Majorité und Masse als bedrohliche Phänomene«, in: dies./Russel A. Berman/Arthur Sturm: Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Begriffs, Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 66-72. 20 Hans Gabler argumentiert gegenläufig und zwar indem er den Kollektivempfang – also das Fernsehen in einer großen Gruppe – ablehnt. Für ihn bedeutet die Wahrnehmung der Mitmenschen die Gefahr, den Resonanzeffekt auszulösen. Diese Gefahr besteht auch beim Kollektivempfang von Fernsehsendungen, bei dem der Zuschauer »die Reaktion bei seinen Mitzuschauern [hört] und [...] sich in vielen Fällen sehr bald durch das Kollektiv und dessen Reaktion infizieren lassen [wird]!« Hans Gabler: »Fernsehen im Einzel- und Kollektivemp126
DAS ZEITALTER DER MASSENMEDIEN I
Diese Leistung des Fernsehens wird in den 1950er Jahren immer wieder hervorgehoben. Dabei bedeutet die Vorstellung der Verlängerung des Zuschauerraumes in das Wohnzimmer des Fernsehrezipienten aber nicht nur, dass er die Reaktionen der Zuschauer vor Ort miterleben kann. Dies markiert vielmehr den Höhepunkt der Realisierung einer umfassenderen Idee vom Fernsehen, die sich in der Formel vom Dabei-sein – mit Auge und Ohr – ausdrückt. In solchen Beschreibungen wird »die Differenz zwischen sehen und fernsehen«21 zugunsten der Idee eines direkten Miterlebens vernichtet. Dass der Fernsehzuschauer dabei auch die anderen Zuschauer sieht, macht diesen Eindruck vollkommen. Elsner und Müller erläutern, mit welchem inszenatorischen Aufwand in den 1950er Jahren der Versuch unternommen wird, dem Zuschauer den Eindruck einer medialen Teilhabe zu vermitteln, also dem Zuschauer zu suggerieren, dass es keinen qualitativen Unterschied zwischen einer körperlichen und medialen Partizipation gebe. Das medial vermittelte Geschehen soll durch spezifische Inszenierungsmomente den Status einer gegenwärtigen Realität erhalten. Ein Bestandteil dieser Inszenierung der Leistung des Fernsehens ist die Vermittlung eines Eindrucks des Saalpublikums an den Fernsehzuschauer. Anhand der Sendung 1:0 für Sie mit Peter Frankenfeld zeigen Elsner und Müller auf, wie die Empfindung der Teilhabe beim Zuschauer durch die Schaffung eines ›Resonanzbodens‹ generiert wird: Das »physisch anwesende Saalpublikum[ ] erzeugte die ›Live-Atmosphäre‹ und Lebendigkeit des Spiels, unter deren Wirkung sich auch der Fernsehzuschauer – im Anschluß an (frühere) Erfahrungen körperlicher Partizipation – ›präsent‹ fühlen konnte.«22 Wie in Morlocks und Hagemanns Beschreibungen geht es bei Frankenfeld darum, dem Fernsehzuschauer die Fiktion einer Kopräsenz anderer Menschen zu bieten. Diese Wahrnehmung – der Eindruck inmitten des Saalpublikums zu sitzen – soll zu dem Effekt führen, dass der Fernsehzuschauer die mediale Vermittlung vergisst und sich körperlich anwesend meint. Auf diese Weise realisiert sich dann die Spezifik des Fernsehens – das Dabei-sein – trotz körperlicher Abwesenheit. Diese Idee der medialen Teilhabe plausibilisiert die der Massenresonanz, sowie auch umgekehrt die Massenresonanz die mediale Teilhabe einsichtig fang«, in: Rundfunk und Fernsehen 2 (1956), S. 148-154, hier S. 151. Aufgrund dessen votiert er für den Einzelempfang, wodurch diese Problematik überwunden werden könne. Für Gabler liegt der Vorteil des Fernsehens, sofern es sich um Einzelempfang handelt, darin, dass eben die Ansicht der Mitmenschen ausgeschlossen wird und so der Resonanzeffekt nicht statt finden kann. Dabei geht er aber nicht, wie Hagemann, davon aus, dass das Fernsehen selber einen Eindruck der Mitmenschen vermitteln kann. 21 M. Elsner/T. Müller: Der angewachsene Fernseher, S. 395. 22 Ebd., S. 410. Frankenfeld wird selber wieder als Massenphänomen vorgestellt. Vgl. Anonymus: Die Faszination des Einfältigen, S. 29f. 127
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macht. Einerseits dient der Resonanzeffekt als Generator des Eindrucks des Dabei-seins. Frankenfelds Sendung nutzt das Moment der Resonanz, um den Fernsehzuschauer in die Sendung zu involvieren und so die mediale Vermittlung auszublenden. Und Hagemann verwendet die Idee der Resonanz als Argument, um seinem Leser die Idee der Teilhabe zu veranschaulichen. Nach Hagemann rezipiert der Fernsehzuschauer gleich dem Zuschauer vor Ort gerade wegen der ›Wahrnehmung der körperlich versammelten Empfänger‹. Andererseits wird auch die Vorstellung einer Massenresonanz mit Hilfe des Fernsehens plausibel. Insofern das Fernsehen eine Möglichkeit darstellen soll, die körperliche Abwesenheit auszublenden und eine Wahrnehmung der Reaktion anderer auf ein Ereignis zu bieten, persistiert die Massenresonanz, auch wenn keine Anwesenheit einer Masse gegeben ist. Indem das Fernsehen als eine Technik zur Simulation körperlicher Teilhabe erscheint, wird die versammelte Masse als Beschreibungsgrundlage für den Massenzustand hinfällig. Der Zuschauer im eigenen Heim partizipiert gleich einem Anwesenden und wird darüber wieder Teil der Masse. Der Einfluss der großen Zahl, wie Sighele es nennt, besteht in Form einer medialen Teilhabe, die aber nicht als solche wahrgenommen wird, sondern als Unmittelbarkeit erscheint. Insofern ist es gerade die Qualität des Fernsehens, den Eindruck einer körperlichen Präsenz zu vermitteln, die das Verhalten der Masse plausibel macht, auch wenn es um Verhaltensbeschreibungen geht, die nur in einer anwesenden Masse zustande kommen können. Da angenommen wird, das Fernsehen inszeniere eine Präsenz aus der Ferne, wird die Unterscheidung An- und Abwesenheit zur Beobachtung des Fernsehens unbrauchbar. Auf dieser Basis ist es unerheblich, ob eine Massenbeschreibung auf eine Massenansammlung oder eine zerstreute Masse referiert. Die Beschreibung der Auflaufmasse behält ihre Gültigkeit, weil das Fernsehen als Möglichkeit des Dabei-seins erscheint. Über eine gegenseitige Plausiblisierung hinaus scheint die Idee der Massenresonanz ein Wissen zur Verfügung zu stellen, das eine spezifische Fernsehbeschreibung generiert. Die Massenresonanz dient nicht allein als Beleg für die angenommene mediale Teilhabe, sondern sie forciert eine Vorstellung davon, wie diese mediale Teilhabe aussieht. Das heißt die bestehenden Kenntnisse über Massenprozesse konturieren das Wissen um die vermittelte körperliche Partizipation an einem Geschehen. Mit dem Resonanzphänomen liegt eine Idee davon vor, wie sich der Einzelne in einer großen Menge verhält. Indem das Fernsehen als Möglichkeit der Partizipation an einer solchen Menge gesehen wird, gehören auch diese Verhaltensbeobachtungen zu dessen Beschreibungen. Mit dieser Beobachtung und ihren Implikationen wird geradewegs auch das Wissen über die Massen in ein Wissen über das Fernsehen transformiert.
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Thesenhaft zugespitzt lässt sich also sagen, dass die Massentheorie Konzepte aufbietet, die sich schnell – nämlich dann, wenn der Bedarf angesichts des neuen Phänomens Fernsehen akut wird – in die Form einer Medienbeschreibung umgießen lassen. So wird die Medientheorie aber gleichzeitig zur Verlängerung der Massentheorie. Dabei ist es die Idee der Unmittelbarkeit, die für die Beobachtung des Fernsehens maßgeblich ist, die die Basis für die Adaptierbarkeit der Massentheoreme bietet. Indem das Fernsehen als Möglichkeit des Vergessens körperlicher Absenz konzipiert wird, erhält die Massentheorie in den 1950/60er Jahren in Form der Fernsehbeschreibung eine neue Aktualität.
2 Manipulative Medien und beeinflussbare Massen Der Grund für die Aktualität der Massentheorie in den 1950/60er Jahren ist aber vor allem darin zu suchen, dass das gesamte Ensemble der Masseneigenschaften im Zuge der Fernsehdebatte erneut thematisiert wird. Der gesamte Komplex aus Entindividualisierung sowie Willenlosigkeit, Gleichgerichtetheit und Beeinflussbarkeit wird in der Nachkriegszeit aufgerufen, um das Fernsehen und seine Zuschauer zu vermessen. Die Ideen, die sich im Kontext der juristischen und psychologischen Beschäftigung mit der Masse bilden, werden zu Argumenten der These von den mächtigen, das heißt wirksamen Massenmedien. Diese These ist zwar gerade in den 1950/60er Jahre in der Kommunikationswissenschaft nicht prominent, sie gehört aber zum festen Wissensbestand anderer gesellschaftlicher Bereiche.23 Dass dabei zum Teil explizit an Massenbeschreibungen angeschlossen wird, beziehungsweise massentheoretisch vorformulierte Argumentationszusammenhänge reproduziert werden, zeigt eine Arbeit zu den Psychologischen Grundlagen der Werbung aus dem Jahr 1957. Der Autor der Studie, der Werbepsychologe Ludwig Freiherr von Holzschuher, geht davon aus, dass man auf den Medienrezipienten »direkt Einfluß nehmen« könne, auch wenn dies nicht bedeute, dass man die Möglichkeit habe, massenmedial »Befehle 23 Vgl. zum kommunikationswissenschaftlichen Paradigma der schwachen Medienwirkung in den 1950/60er Jahren Angela Schnorr: »Das geheimnisvolle Publikum, die Transformation der Medien und die künftige Publikums- und Wirkungsforschung«, in: dies. (Hg.), Publikums- und Wirkungsforschung. Ein Reader, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, S. 3-27, hier S. 6; Frank Esser/Hans-Bernd Brosius: »Auf der Suche nach dem Stimulus-Response-Modell. Ein kritischer Beitrag zur Geschichtsschreibung der Medienwirkungsforschung«, in: ebd., S. 55-70, hier S. 59f.; Isabell Otto: »Massenmedien wirken. Zur Aporie einer Evidenzlist«, in: dies. u.a. (Hg.), Die Listen der Evidenz, Köln: DuMont 2006, S. 221-238, hier S. 221. 129
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zu erteilen [...].«24 Holzschuher bezieht sich bei dieser Aussage explizit auf den Wissensbestand der Hypnoseforschung, wie er zum Beispiel von Schrenck-Notzing formuliert wird und wie er in die Massentheorie Eingang findet. Das Konzept der Massenhypnose stellt ein Modell zur Verfügung, um den Erfolg von Werbung zu erklären. Dies zeigt sich, wenn Holzschuher im Anschluss an die Darstellung eines Hypnoseexperiments schreibt, dass für »die Werbung [...] im Prinzip das gleiche«25 gelte. Der Konsument vollziehe – so lässt sich die Darstellung zusammenfassen – einen fremden Willen. Den Grund für diesen Vollzug bietet Holschuher die Massenpsychologie. Nach Holzschuher ist »in jedem von uns [...] der ›Massenmensch‹ latent« enthalten, weil jede Psyche mit einem Anteil Primitivperson ausgestattet ist und in »jedem von uns vertritt die Primitivperson die Tendenz der Masse.«26 Der primitivpersonale Anteil markiert – wie das Wort nahe legt – das primitive und unzivilisierte Element der Psyche beziehungsweise die »Urtriebe«27 oder das »Erbgut«28 des Menschen. Es stellt somit das allen Menschen Gemeinsame dar und bedingt so eine Gleichförmigkeit.29 Die 24 Ludwig Freiherr von Holzschuher: Psychologische Grundlagen der Werbung, Essen: Verlag W. Girardet 1969 (1957), S. 56. Es heißt aber auch an anderer Stelle, der Rezipient ›gehorche‹ gegebenen Kaufbefehlen. 25 Ebd., S. 56. 26 Ebd., S. 361f. Das Konzept der Primitivperson schließt an eine massentheoretische Überlegung an, die in den bisherigen Ausführungen nicht im Detail dargestellt wurde. Die Massenstudien seit Sighele basieren auf der Annahme einer »Stratifikation des Charakters«. S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 118. In der untersten Schicht manifestiere sich der primitive ›Urmensch‹, der sich durch Gewalttätigkeit auszeichne und nicht durch Kultur und Zivilisation überformt sei. In der Masse breche nun gleichsam dieser Urmensch hervor und verdränge die zivilisierten Schichten. In Le Bons Ausführungen schließen diese Überlegungen direkt an sein Rassenkonzept und dessen unterste, nämliche primitiv genannte Rasse an. Entscheidend dabei ist, dass dieser primitive Anteil als anthropologisch konstanter Faktor vorgestellt wird und insofern ein permanentes Krisenmoment der Gesellschaft bezeichnet, weil es immer als Möglichkeit besteht und unter bestimmten Umständen, die die Massentheorie eben beschreibt, manifest wird. Wie gesagt: Fast alle Massentheoretiker gehen vom Schichtenmodell aus. Holzschuher bezieht sich auf C.G. Jung, ohne jedoch genaue Angaben zur Quelle zu machen. Vgl. L. von Holzschuher: Psychologische Grundlagen der Werbung, S. 383. Vgl. als mögliche Quelle, in der es um die Theoretisierung der Masse geht C.G. Jung: Psychologische Betrachtungen. Eine Auslese von Schriften. Hrsg. v. Jolan Jacobi, Zürich: Rascher 1945, S. 179196. 27 L. von Holzschuher: Psychologische Grundlagen der Werbung, S. 365. 28 Ebd., S. 383. 29 Vgl. L. von Holzschuher: Psychologische Grundlagen der Werbung, S. 365. Das Thema der Gleichförmigkeit der Masse und wie es in die Medienbeschreibung eingeht wird im folgenden Teil Thema sein, weil es direkt mit der Frage der Inklusion zusammenhängt. 130
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Primitivperson ist allen gegeben, weshalb der Einzelne ›latent ein Massenmensch‹ ist. Das Massendasein wird akut, wenn die Primitivperson das Individuum dominiert und es so ein ›pr-Typus, das heißt ein primitiv-regierter Typus‹30 wird. Der pr-Typus zeichnet sich durch eine »Entkräftung des Ichzentrums« aus, wodurch es zur »vorübergehenden Auflösung des Selbst« kommt. Und Holzschuher führt aus: »Das Individuum wird dann zum reinen ›Masseteilchen‹, das nur noch auf außerpersönliche, massenseelische Einflüsse und Einwirkungen reagiert. Der Betroffene weiß dabei nicht mehr, was er tut und warum er sich so ungewöhnlich verhält.« Die Dominanz der Primitivperson bedingt also das Massendasein des Einzelnen und bedeutet, dass der Mensch externen Einflussnahmen unterworfen ist, da eine interne Willensbildung aussetzt. Der Verlust des Ichzentrums führt zu einem Mangel an »Selbstständigkeit« und steigert damit die Möglichkeit einer Beeinflussung von Außen. Ist dieser Zusammenhang gegeben, handelt es sich um eine Masse. Der Werbepsychologe Holzschuher stellt zwei Ursachen für den prTypus fest: Zum einen tritt die Primitivperson »bei räumlich eng versammelten Massen in Erscheinung«, wie sie »etwa beim Käuferdrang im Ausverkauf, wo schließlich völlig sinnlos gekauft wird«31, besteht. Zum anderen handelt es sich bei Mediennutzern um pr-Typen.32 Das heißt Verbreitungsbeziehungsweise Massenmedien bringen Massen hervor, denn sie initiieren den gerade beschriebenen Komplex: Sie entkräften die Ichperson und damit die Fähigkeit zum selbsttätigen Denken und Handeln mit dem Effekt, dass eine Einflussnahme auf die betreffende Person gelingt. Da der Werbepsychologe eine solche Einflussnahme wünscht, schließt er seine Darstellung des Massenmenschen mit dem Hinweis, dass es »auf der Hand [liegt], daß für die Wirtschaftswerbung [...] in erster Linie diese latenten Massen von Interesse sind.«33 Es geht darum, die latente Masse auf dem Wege der massenmedialen Werbung anzusprechen, um sie so in eine aus dem pr-Typus bestehende ›akute Masse‹34 zu überführen. Dabei zielt die Werbung nach Holzschuher insbesondere auf die Primitivperson, denn zum einen entwickelt die Primitivperson gegen den in der Reklame enthaltenen ›Kaufbefehl‹ keine Widerständigkeit. Zum anderen wird so erreicht, dass dieser Anteil der Psyche dominiert. Auf diesem Wege löst »jede Werbung zugleich Massen-
30 Vgl. L. von Holzschuher: Psychologische Grundlagen der Werbung, S. 363. Die folgenden Zitate ebd. 31 Ebd. An dieser Stelle verweist von Holzschuher auf Le Bon. 32 Vgl. ebd., S. 363. Bei dem Beispiel bezieht sich von Holzschuher auf Münster. 33 Ebd., S. 364. 34 Akute Masse bezeichnet dabei keinen Massenauflauf, sondern eine bestimmte psychische Verfasstheit des Einzelnen. Die Verwendung des Begriffs zeigt jedoch, wie sich auch das Vokabular am Massenauflauf orientiert. 131
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wirkungen aus«35, denn sie produziert den Massenmenschen durch die Steigerung des primitivpersonalen Anteils der Psyche. Holzschuhers Ausführungen zu Primitivperson und Masse bieten ein Beispiel dafür, wie der Zusammenhang von willenloser Masse und Massenmedien in den 1950/60er Jahren gedacht wird. Massenmedien gelten dabei als eine mögliche und besonders potente Ursache für das Herbeiführen einer rezeptiven Haltung, wie sie für die Masse definitorisch ist. Aufgrund der Wirkung der Massenmedien – so der Argumentationslauf – verringert sich die Widerstandsfähigkeit des Einzelnen gegenüber den suggestiven Eingebungen der Werbung. Eine in ihrer Willensleistung geschwächte Person ist den massenmedialen Stimuli hilflos ausgeliefert. Massenmedien entfalten aufgrund dessen ihre Wirkung besonders erfolgreich. Damit korrespondiert die Idee der mächtigen Massenmedien mit der Vorstellung vom willensschwachen und daher beeinflussbaren Rezipienten. Argumentativ sind beide Elemente – rezeptiver Konsument und manipulierende Massenmedien – aufeinander bezogen und stützen sich wechselseitig, denn die manipulative Macht der Medien basiert auf der geringen Widerstandskraft der Rezipienten. Das heißt zusammengefasst: Eine massenpsychologische Konzeption stellt die Grundlage für die These, dass Massenmedien die Beeinflussbarkeit und Empfänglichkeit für ihre eigenen Inhalte schaffen. Es besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen der willenlosen und steuerbaren Masse und Massenmedien, da letztere eine entsprechende Disposition bei der Masse produzieren. In den 1950/60er Jahren wird diese These, dass Massenmedien eine rezeptive Disposition des Rezipienten hervorbringen, auch und gerade für das Fernsehen formuliert. Das Fernsehen versetzt, so der Tenor der 1950/60er Jahre, den Zuschauer in einen Modus, in dem er keine Widerständigkeit gegen äußere Einflüsse aufbringt. Das ›Einschalten‹ des Empfangsgerätes bedingt scheinbar ein ›Ausschalten‹ der Fähigkeit zum selbsttätigen Denken und Wollen beim Zuschauer. Besonders pointiert formuliert Wolfgang von Einsiedel diese Idee, indem er den Verlust einer »geistige[n] Sammlung beim Beschauer« beklagt. Das Fernsehen »schlägt seinen Blick buchstäblich ›im Handumdrehen‹ in Bann. Aber es hindert diesen Blick gleichzeitig sich nach innen zu kehren.«36 Mit dem Blick auf den Bildschirm verliere der Rezipient die Wahrnehmung für sein eigenes Denken und Wollen.37 Zugleich aber kann er den Blick nicht abwenden. Das Fernsehgerät übt eine »magi-
35 L. von Holzschuher: Psychologische Grundlagen der Werbung, S. 361. 36 W. von Einsiedel: Die Welt als Puppenbühne, S. 378. 37 Theodor W. Adorno radikalisiert diese Überlegung noch, indem er davon ausgeht, dass sogar die »Bedürfnisse« der Menschen durch das Fernsehen gesteuert seien. T.W. Adorno: Prolog vor dem Fernsehen, S. 513. Vgl. dazu auch das Kapitel Menschenschwärze und Unzurechnungsfähigkeit. 132
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sche Anziehungskraft«38 aus, der sich der Rezipient nicht widersetzen kann, oder in der Formulierung Bergners: Es übt eine »Zaubermacht« aus, der sich der Zuschauer »nicht entziehen kann«.39 Die Rede vom ›Bann des Fernsehens‹ und seiner ›magischen Anziehungskraft‹ gehören zu den Formeln, die in der Nachkriegszeit gefunden werden, um die mangelnde Widerstandskraft des Zuschauers gegenüber dem Fernsehen zu benennen. Dieser habe dem Fernsehen keinen ausreichend starken Willen entgegenzusetzen.40 Die fehlende Widerstandskraft gegen die vom Fernsehen ausgeübte Anziehung wird in zwei Argumentationen eingebunden: Zum einen sei das Fernsehen die Ursache für die Willensschwäche des Einzelnen. Es schlage den Menschen in einer solchen Heftigkeit in seinen Bann, dass seine Willensbildung aussetze. Zum anderen lautet die Überlegung, dass die Anziehungskraft des Fernsehens aus einer bestehenden Disposition des Rezipienten zur Willensschwäche resultiere. Eben weil der Einzelne keine ausreichende Widerstandskraft gegen den Einfluss des Fernsehens entwickele, könne dieses seinen Bann ausüben. So kann man es 1959 in einem Artikel über minderjährige Zuschauer von Gewaltsendungen in der Fachzeitschrift epd/Kirche und Fernsehen nachlesen: »Es gibt im WDR-Bereich mehr als eine Millionen Fernsehgeräte. Jeden Werktagabend dürften 800 000 bis 850 000 Geräte eingeschaltet sein und zwischen 19 und 20 Uhr schauen auch noch die Kinder zu, so daß man für diese Zeit mit mindestens 2,5 Millionen Zuschauern im WDR-Bereich rechnen darf. Diese Menschen sitzen am Familientisch. [...] Der Tagesplan ist etwas in Unordnung geraten, weil das Regionalprogramm ›Hier und Heute‹ nun schon um 18.45 Uhr beginnt [...]. Viele vernünftige Leute sind nun zwar schon dazu übergegangen, um 19.30 Uhr das Abendessen zu beginnen und das Fernsehgerät solange abzuschalten, aber mit der Vernunft der Zuschauer zu kalkulieren, ist sehr fragwürdig. Vernunft ist stets bei wen’gen nur gewesen. Die Menge erliegt dem Bann des Bildschirms und löst sich auch dann nicht, wenn es angebracht wäre.« 38 Anonymus: »Ruhe vor dem Schirm. Jugendliche«, in: Der Spiegel 8 (1967), S. 106f., hier S. 106. Der Artikel bezieht sich zwar auf eine Studie von Fritz Stückrath und Georg Schottmayer (Fernsehen und Großstadtjugend, Braunschweig: Westermann 1967), aber er enthält auch die These von der durch das Fernsehen produzierten Trägheit beziehungsweise »Bequemlichkeit« des Zuschauers, die auch von Einsiedel äußert und die an Ortega y Gasset anschließt. Vgl. J. Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, S. 46f. Dem Massenmenschen mangele es an Spannung und Energie, so Ortega y Gasset. 39 H. Bergner: Im Zeitalter der Massen, S. 49. 40 Dabei klingen noch einmal Schrenck-Notzings Ausführungen zur Hypnose an. Laut Schrenck-Notzing besteht eine Art Kampf zwischen den Beeinflussungsversuchen und dem Willen des Hypnotisierten. Sind die hypnotischen Eingebungen sehr intensiv, besteht auch für das willensstarke Individuum nicht die Möglichkeit, sich der Eingebung zu widersetzen. Vgl. das Kapitel Pathologien. 133
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Und nachdem der Autor die Situation der Kinder vor dem Gerät beschrieben und sich über die im Fernsehen dargestellten »grauenvollen Mordgeschichten« empört hat, fährt er fort: »Der Einwand, daß das Fernsehgerät ja ausgeschaltet werden könne, wenn die Sendung den Eltern nicht behagt, ist völlig unrealistisch. Abgesehen davon, daß die Eltern nicht immer anwesend sind, wenn die Kinder zuschauen, bedarf das Ausschalten eines psychischen Kräfteaufwands, dessen die Mehrzahl der Zuschauer einfach nicht fähig ist. Auch dürfen wir dem pädagogischen Sinn der Eltern nicht zuviel Entscheidungsfähigkeit zumuten. Dem ›Konsumzwang‹, also der suggestiven Nötigung, die vom bewegten Bild ausgeht, kann sich der DurchschnittsZeitgenosse nicht leicht entziehen.«41
Zwar geht es in dem Artikel um den Schutz von Kindern vor Gewaltdarstellungen im Fernsehen, aber aus dem Plädoyer für ein kindergerechtes Programm wird ein Vorwurf an die Eltern. Diese seien nämlich selbst nicht fähig, sich dem Fernsehen zu entziehen und könnten daher auch ihre Kinder nicht vor einem schädlichen Programminhalt schützen. Aufgrund dessen gelte es, ein Programm anzubieten, das keine schädliche Wirkung auf die Kinder ausübe.42 Dieser Vorwurf an die Eltern wird dann als eine Inkompetenz der ›Menge‹ und des ›Durchschnitts-Zeitgenossen‹ ausgegeben. Im Unterschied zu Holzschuher heißt es hier aber, dass diese Inkompetenz nicht durch das Fernsehen verursacht sei, sondern eine von vorneherein gegebene Eigenschaft des Zuschauers bilde. Das Fernsehen wirkt also nicht in dem Sinne, dass es die benötigten Fähigkeiten mindert, sondern die mindere Qualität der Zuschauereigenschaften bedingt, dass das Fernsehen einen Bann ausübt. Das Problem ist also nicht das Fernsehen, sondern der unfähige Zuschauer, der dem Fernsehen nichts entgegensetzt. In diesem Sinne argumentiert auch Erwin Wickert in seinem 1953 publizierten Aufsatz Wie gefährlich ist das Fernsehen?. Nach Wickert ergibt sich seine Gefährlichkeit allein aus der Inkompetenz des Zuschauers. Er beginnt zur Beantwortung seiner titelgebenden Frage mit einer Auseinandersetzung mit der kulturkritischen Klage über die »Dämonie der Technik«.43 Dabei vergleicht er die Technologie der Atombombe und des Hörfunks und kommt 41 Anonymus: »Die Morde am Familientisch. Die düstere Kehrseite des Werbefernsehen im Westen«, in: epd/Kirche und Fernsehen 9 (1959), S. 1. 42 Vgl. zur daran anschließenden Diskussion über die Schutzbedürftigkeit des Zuschauers und gerade des Kindes Irmela Schneider: »Das beschirmte Kind. Zur Diskursgeschichte Kind und Fernsehen«, in: dies./Christina Bartz/Isabell Otto (Hg.), Medienkultur der 70er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 3, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 217-230. 43 Erwin Wickert: »Wie gefährlich ist das Fernsehen?«, in: Rundfunk und Fernsehen 2 (1953), S. 28-34, hier S. 29. 134
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zu dem Schluss, dass »man sich vor dem Rundfunk durch das Drehen eines Knopfes schützen« könne, was »bei der Atombombe [...] nicht ganz so einfach sei.«44 Demnach sind auch die »Gefährdungen«, die vom Fernsehen ausgehen, »in uns selbst begründet [...].«45 Dabei sieht er als Grundlage dieser Gefährdungen die »Vermassung« der Menschen. Als Massenmensch sei es dem Einzelnen nach Wickert nicht gegeben, sich ›durch das Drehen eines Knopfes‹ zu schützen. Der Massenmensch könne das Fernsehgerät nicht abschalten. Dabei geht Wickert aber nicht davon aus, dass das Fernsehen diese Unfähigkeit zum Abschalten fördere, sondern glaubt, dass dem ›charakterstarken‹ Menschen die Möglichkeit zur »freien Entscheidung«46 gegeben sei. Sein Artikel richtet sich also gerade gegen die Annahme, durch das Fernsehen ginge diese Möglichkeit verloren. Wickert formuliert eine Argumentation gegen »die Befürchtung, das Fernsehen werde im Menschen die Fähigkeit zum Denken [...] mindern«47 und dadurch die Entscheidungskompetenz des Zuschauers aussetzen. Stattdessen markiert die Annahme einer mangelnden Entscheidungskompetenz des Massenmenschen den Ausgangspunkt seiner Überlegung. Weil dem Einzelnen der Masse Charakterstärke fehle, wende er sich überhaupt dem Fernsehen zu. Die Anziehungskraft des Fernsehens begründet sich so allein in der charakterlichen Disposition des Zuschauers. Die Grundlage für Wickerts Überlegungen bildet ein massentheoretisch informiertes Wissen, auf das er zurückgreift, um das Fernsehen zu beschreiben. Seine Argumentation basiert auf einer Unterscheidung, deren eine Seite die Masse markiert. In ihr herrscht weder »Charakterstärke«48 noch die Möglichkeit zur ›freien Entscheidung‹. Diese Eigenschaftsbeschreibung der Masse stellt die Basis für den Befund der Fernsehwirkung. Die Masse erliegt hier dem Fernsehen, weil ihr bestimmte Fähigkeiten mangeln. Die Charakterbeschreibung der Masse bedarf dabei offensichtlich keiner Herleitung mehr, sondern scheint auch so plausibel. Die Frage nach der Ursache für die Masseneigenschaften stellt sich bei Wickert gar nicht mehr; sie entfällt. Anstatt also nach der Ursache für die Vermassung zu fragen, ist die Masse die Ursache dafür, dass das Fernsehen eine ›Gefährdung‹ darstellt. So produziert die Masseneigenschaft der mangelnden Entscheidungsfähigkeit den problematischen Status des Fernsehens. Dem gegenüber steht die These, gegen die sich Wickert wendet und die lautet, dass das Fernsehen Charakterstärke und Entscheidungsfreiheit mindere und damit die Vermassung forciere. Beide Argumentationen referieren also auf die gleichen Elemente – Mas44 45 46 47 48
Ebd., S. 29. Ebd., S. 31. Ebd., S. 30. Ebd., S. 32. Ebd., S. 31. 135
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se, Unfähigkeit, Fernsehen –, doch die Argumentationsfolge ändert sich. Es werden unterschiedliche Kausalitätsketten aufgestellt. Einmal erklärt das Fernsehen die Masse und einmal die Masse das Fernsehen. Das Ergebnis bleibt dann aber ungeachtet dessen, von welcher Kausalitätsfolge ausgegangen wird, identisch: Der Zuschauermasse fehlt es an Kompetenzen, wie Willens- und Charakterstärke, psychischer Kraft, Entscheidungs- und Widerstandsfähigkeit, Vernunft, Denkvermögen, Persönlichkeit und dadurch kann sich der Rezipient dem Fernsehen nicht entziehen. Zwar ist in den 1950/60er Jahren keine Einheitlichkeit der Argumentation festzustellen, es herrscht aber eine heftige Diskussion um die ›magische Anziehungskraft‹ des Fernsehens. Diese Diskussion ist durchweg massentheoretisch informiert. Es bleibt außer Frage, dass Fernsehen und Masse zwei aufeinender bezogene Größen sind, auch wenn die Entscheidung darüber, wie ihre Beziehung zu denken ist, ausbleibt. Dabei ist es wohl diese Unentschiedenheit, die dazu führt, dass der Komplex Masse und Fernsehen immer wieder neu zur Diskussion gestellt und damit auch immer wieder aktualisiert wird. Im Hintergrund der Diskussion steht ein Wissen über die Masse, das anhand des Anlasses Fernsehen neu aufgerufen wird. Dabei schließt die Debatte um das Fernsehen einerseits an ein Wissen um die Masse an, indem das Ereignis Fernsehen durch das bestehende Konzept der Masse eine Erklärung erhält. Andererseits wird das Konzept der Masse neu konturiert. Dies geschieht dadurch, dass in der Massenanalyse eine neue Ursache für den Willensverlust erscheint und die Ursachensuche für den Willensverlust der Masse gehört, wie bereits ausführlich dargestellt wurde, zu einem maßgeblichen Bestandteil der Massenanalyse, wie sie durch ihre juristische Gründungsakte festgelegt ist. Die juristische Fragestellung der Zurechnungsmöglichkeit produziert das Theorem der Masse und macht die Willenlosigkeit der Masse aktenkundig. Es ist dann die Feststellung, die Masse unterliege einem hypnotischem Prozess oder dem Willen einer Führerperson, die das Wissen über die mangelnde Willensstärke der Masse hervorbringt. Dem gegenüber steht im 20. Jahrhundert immer weniger in Frage, dass die Masse keinen Willen aufweist. Ihre Eigenschaft der fehlenden Willenskraft ist Konsens und steht nicht zur Debatte. Insofern bringt die Ursachenforschung der Nachkriegszeit kein neues Wissen über die Charakteristika der Masse hervor, sondern hilft lediglich erklären, wie es zu bestimmten Eigenschaften kommt.
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3 Steuerung im Zeitalter der Massen Die Beeinflussbarkeit der Masse, wie sie bisher Thema gewesen ist, findet sich durchgängig in massentheoretischen Studien. Als Beleg dient dabei immer wieder die Studie Le Bons, der sich dieser Problematik intensiv, wenn auch nicht systematisch gewidmet hat. »Noch heute«, schreibt Theodor Geiger 1925, »hat unbegreiflicherweise Le Bon’s ›Psychologie des foules‹ klassischen Ruf; ihre Halbweisheiten spuken in nahezu allen soziologische Arbeiten, die sich mit dem Massenproblem beschäftigen.«49 Le Bon legt dabei weniger eine Analyse der Masse vor. Sein Ziel ist viel mehr einen Handlungsspielraum im Umgang mit der Masse vorzugeben. Es geht ihm um eine Anleitung für die Handhabung der Masse. Le Bon sieht in der Masse nämlich einen neuen und vor allem inkompetenten Machthaber. Das Aufkommen der Masse bedeute eine Veränderung der Machtkonstellationen, denn von nun an gelte die »Macht der Masse [...].«50 Sie beherrsche das politische Geschehen der Zukunft, weshalb man in eine neue historische Periode eingetreten sei, die sich durch ein neues Machtgefüge auszeichne: »Vor kaum einem Jahrhundert bestanden die Haupttriebkräfte der Ereignisse in der überlieferten Politik der Staaten und dem Wettstreit der Fürsten. Die Meinung der Massen galt in den meisten Fällen gar nichts. Heute gelten die politischen Überlieferungen, die persönlichen Bestrebungen der Herrscher und deren Wettstreit nur noch wenig. Die Stimme des Volkes hat das Übergewicht erlangt. Sie schreibt den Königen ihr Verhalten vor. In der Seele der Massen, nicht in den Fürstenberatungen bereiten sich die Schicksale der Völker vor.«51
Le Bon sieht also die alten Herrscher abtreten und dafür die Herrschaft der Massen aufkommen. Mit ihr erscheine ein neuer Akteur auf der politischen Bühne, der die bisherigen Staatslenker ablöse. Somit werde das ehemalige Objekt von Herrschaft zu dessen Subjekt, das nun seine Macht auf die Staatsmänner ausübe. Diese unterwürfen sich in Zukunft dem Willen der Masse.
49 T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. VII. Auch Moscovici macht – wie bereits in Kapitel Le Bons Medien gesagt – darauf aufmerksam, dass Le Bons Studie weniger durch Systematik als durch Populismus überzeugt. Unter anderem aufgrund dieser mangelnden Darlegung seiner Argumentation wurde im letzten Teil auch Sigheles Massenanalyse in den Mittelpunkt gestellt. Im Folgenden wird nun Le Bons Werk und seine Inspiration des Wissens über die Masse in den 1950/60er Jahren Thema sein. 50 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 3. 51 Ebd., S. 2f. 137
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Dabei, so Le Bons Argumentation, agiere der neue Machtinhaber auf vollkommen andere Weise als die Herrscher der Vergangenheit. Die Könige und Fürsten seien als Einzelpersonen aufgetreten und somit sei ein ›persönliches Bestreben‹ in ihrem Handeln identifizierbar. Dem gegenüber würde das Handeln der Masse »völlig unverständlich bleiben.«52 Sie sei zu »vernünftiger Überlegung«53, wie sie in der ›Fürstenberatung‹54 ihren Ausdruck fände, nicht fähig. Und an die Stelle des ›Wettstreits der Herrscher‹, wie er ehemals bestanden habe, trete das Faktum, dass die Masse »sich aller Auseinandersetzung entzieht.«55 Es geht also nicht allein um die Feststellung eines Wechsels der Machthaber. Der Machtwechsel impliziert auch eine neue Politik, die sich vollkommen anders gestalte, als die bis dato bekannte. Diese Neugestaltung begründe sich in der Andersartigkeit des neuen Machthabers gegenüber den Fürsten und Monarchen. Der neue Souverän im Staat handele nicht entsprechend der bestehenden politischen Regeln und implementiere ein neues, häufig undurchschaubares Regelwerk, das es zu kennen gelte. Politisches Handeln sei allein unter den veränderten Maßgaben möglich, weshalb diese zu analysieren seien. Diese Analyse stelle die Grundlage für eine Nutzanwendung der Befunde. Insofern liefert Die Psychologie der Massen nicht nur eine Gesellschafts- und Herrschaftsbeschreibung, sondern damit verbunden auch eine Handlungsdirektive, die die Basis für die Möglichkeit eines politischen Agierens in der Zukunft sein soll. Zweck der Schrift ist es eine Handlungsanleitung für den Politiker zu bieten, denn: »Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nicht etwa beherrschen – das ist zu schwierig geworden –, aber wenigstens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden will.«56 Die Massenpsychologie wird also mit dem Ziel formuliert, ein Wissen für den Politiker bereit zu stellen. Sie beansprucht, in den Worten Dominik Schrages, » Elemente zur Formulierung neuartiger, den neuen Zeitumständen angemessener politischer Strategien und Handlungsweisen aufzudecken.«57 Die Er52 Ebd., S. 8. 53 Ebd., S. 4. 54 Die Abgrenzung der Massenhandlungen von Handlungen, die das Resultat einer Beratung sind, gehört zu den zentralen Beschreibungsmaßgaben der Masse. Die Masse zeichnet sich gerade dadurch aus, dass ihren Handlungen keine Beratung vorweg geht, sondern sie der Ausdruck von Spontanität sind. Die Masse agiert nicht aufgrund eines Vorsatzes oder eines gemeinsamen Entschlusses. Diese Eigenschaftsbeschreibung resultiert genau aus ihrer Gegenüberstellung mit der beratenden Gemeinschaft. Vgl. P. Friedrich: Masse und Recht, S. 2232. 55 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 4. 56 Ebd., S. 7. 57 Dominik Schrage: Psychotechnik und Radiophonie. Subjektkonstruktionen in artifiziellen Wirklichkeiten 1918-1932, München: Fink 2001, S. 60. 138
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kenntnisse über die Masse seien also dahingehend zu funktionalisieren, dass sie das politische Handeln des Einzelnen bestimmen. Es geht darum, ihm ein der politischen Situation adäquates Agieren zu ermöglichen. Insofern markiert die Politik das Zentrum der Le Bonschen Analyse, auch wenn es sich um eine Psychologie der Massen handelt. Von diesem Zentrum ausgehend wird eine Argumentation verfolgt, die bei der politischen Frage nach Macht und Herrschaft ansetzt, dann zu einer Gesellschaftsanalyse übergeht und von dort aus in einer psychologischen Untersuchung mündet. Letztere liefert das Wissen für die politischen Handlungsstrategien. Entscheidend an diesem Argumentationszusammenhang ist, dass die Masse allein deswegen interessiert, weil sie als politischer Akteur relevant scheint. Das heißt, die Masse und ihre Psyche werden zum Untersuchungsobjekt aufgrund ihres angenommen Stellenwerts im politischen Geschehen. Ohne diesen Stellenwert verlöre die Analyse ihre Relevanz. Die neuen Erkenntnisse sollen gleichermaßen klären, woraus die Herrschaft der Masse resultiert, wie sie auch die Frage beantworten sollen, welcher Umgang mit dem neuen Herrscher opportun sei. So sieht es zumindest Serge Moscovici, der in seiner Rekonstruktion der Massenpsychologie unter dem Kapiteltitel Was tun, wenn die Massen da sind? folgende Differenzierung vorschlägt: »Wenn wir die Ursache aufdecken, antworten wir auf ein ›Warum?‹. Aber wenn wir eine Lösung vorschlagen, antworten wir auf die Frage ›Was tun?‹. Diese Frage ist von größerer Tragweite als die erste. [...] Die Massenpsychologie ist ins Leben gerufen worden, um auf beide Fragen zugleich eine Antwort zu geben. Zunächst verkündet sie ihre Absicht, das Warum der Massengesellschaft zu erklären. Dies aber will sie, um den herrschenden Klassen sagen zu können, was zu tun ist angesichts dieser Massen, die das politische Spiel auf den Kopf stellen – ein Spiel, aus dem sie in absehbarer Zeit nicht mehr aussteigen werden.«58
Mit Hilfe der Psychologie soll nun die Frage, Was tun, wenn die Massen da sind?, beantwortet werden. Durch die Analyse der »Massenseele«59 werde das Handeln der Masse einsichtig und kalkulierbar. Diese Einsicht bilde die Basis für die Möglichkeit eines adäquaten politischen Agierens in Anbetracht des neuen Machthabers Masse. Insofern wird die Psychologie zu einer Hilfswissenschaft der Politik, da es die psychologischen Kenntnisse über die Masse sind, die die Handlungsdirektiven formulieren helfen sollen. »Die Massenpsychologie«, so fasst es Moscovici zusammen, ist »die Wissen-
58 S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen, S. 45f. 59 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 8. 139
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schaft einer neuen Politik.«60 Mit Bezug auf diese Aussage wird Le Bon für Moscovici auch zum »Machiavelli der Massengesellschaft«.61 Le Bon glaube, so Moscovici, »das Werk seines berühmten Vorgängers auf anderer Grundlage neu schaffen zu müssen.«62 Dabei darf nicht übersehen werden, wer nach Le Bon der neue Fürst und damit Gestalter des Gemeinwesens ist: die Masse. Es handelt sich bei beiden Werken um eine Beschreibung der Eigenschaften des Herrschers. Während Machiavellis Überlegungen sich darauf richten, welche Eigenschaften der Fürst für eine effektive Herrschaft besitzen müsse, untersucht Le Bon den Charakter des aktuellen Herrschers Masse. Es geht Le Bon darum, die »Charaktereigentümlichkeiten«63 der Masse zu beschreiben, ihre Ursachen zu bestimmen und zu klären, welche Handlungen sie motivieren. Zwar hat die Masse nach Le Bon einen grundsätzlich anderen Charakter als der Einzelne, dessen ungeachtet lässt sich ihr Charakter analog zum Einzelnen analysieren. Gleich dem Einzelnen hat die Masse scheinbar bestimmte Eigenschaften, die zu spezifischen Handlungen führen und die sich aus bestimmten seelischen Ursachen ergeben.64 So ist es auch eine Wissenschaft, die gerade die psychische Verfasstheit des Individuums untersucht, die zur Beobachtung der ›Massenseele‹ herangezogen wird. Die Begrifflichkeit der Psychologie, die gemeinhin der Beschreibung des Einzelnen dient, wird auf die Gesamtheit Masse appliziert.65 60 S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen, S. 46. Die Massenpsychologie soll eine Chance eröffnen – nämlich jenen Zustand zu beheben, den Foucault in die Formulierung gebracht hat, dass im »politischen Denken und in der politischen Analyse [...] der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt« sei. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 19958 (1976), S. 110. Während also allgemein behauptet wird, dass mit der Französischen Revolution die Masse das neue Subjekt der Politik geworden sei, persistiert im Politischen die Position des Königs. Die Massenpsychologie wurde historisch als Chance begriffen, neue Beschreibungen zu finden und dies ist sicherlich ihre Leistung. 61 S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen, S. 79. Friedrich Meinecke spricht dagegen vom Massenmachiavellismus und meint damit, dass der Machiavellismus zu einer massenhaften Erscheinung wird. Vgl. F. Meinecke: Die deutsche Katastrophe, S. 79. 62 S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen, S. 83. Mit diesem Hinweis legt Moscovici eine Spur für das Verständnis von Le Bons Schrift, der er jedoch nicht weiter nach geht, obgleich sie eine spezifische und interessante Lektüre offen legt. 63 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 16. 64 Vgl. zur Gegenüberstellung der zwei Formen des Souveräns und des Verlustes der Zurechenbarkeit, wenn der Monarch als Person entfällt Friedrich Balke: »Restating Sovereignty«, in: Cornelia Epping-Jäger/Torsten Hahn/Erhard Schüttpelz (Hg.), Freund, Feind & Verrat. Das politische Feld der Medien, Köln: DuMont 2004, S. 13-37, hier S. 14f. 65 Vgl. Manfred Franke: Der Begriff der Masse in der Sozialwissenschaft. Darstellung eines Phänomens und seine Bedeutung in der Kulturkritik des 20. 140
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Le Bon legt eine psychologische Analyse der Massenseele vor. Dabei ist entscheidend, dass die Masse nicht als eine Vielzahl Einzelner erscheint, sondern als einheitliche Massenseele gefasst wird. Die Masse ist also zugleich als gesellschaftsweites Phänomen und als einheitliches Ganzes konzipiert. Auf der Basis des Letzteren wird das individualpsychologische Vokabular auf die Einheit Massenseele anwendbar. Das heißt, weil die Masse nicht aus Vielen besteht, sondern eine gemeinsame Seele besitzt, ist sie unter den gleichen Maßgaben wie das Individuum zu beobachten. So entsteht gleichsam eine ›Psychoanalyse‹ des Regenten im Zeitalter der Massen. Es ist die seelische Verfassung des Herrschers Masse, die hier zur Debatte steht und die der Erklärung von dessen Handlungen dienen soll. Insofern unterscheidet sich die von Le Bon propagierte neue Politik nicht von der alten, die als Wettstreit der einzelnen Fürsten bestand. Schließlich führt Le Bon die Herrschaft wieder auf eine Einheit zurück, die dem in einer Person identifizierbaren Souverän gleicht. Das Konzept der Masse vereint so in sich die Ubiquität eines gesellschaftlichen Phänomens und die Vorstellung einer seelischen Einheit, die unter der Maßgabe von Handlungsmotivationen beobachtet werden kann. An die Massenpsychologie wird die Aufgabe gestellt zu erklären, wieso die Masse handelt, wie sie handelt. Dabei steht am Ausgangspunkt die Beobachtung, dass die Handlungen der Masse unverständlich wirken. Alles, was sie tue, scheine mit einem Rätsel behaftet, weil es vernünftigen Überlegungen widerspreche.66 Die Rätselhaftigkeit der Massenhandlungen betrifft gleichermaßen ihre potentielle Gewalttätigkeit, wie ihre Gleichgerichtetheit. Der Wankelmut ihrer Äußerungen sei ebenso befremdlich, wie deren Überschwänglichkeit. Gleichgültig, was die Masse mache, es sei auf Anhieb nicht einsichtig, wieso sie es tue. Die Masse zeichnet sich demnach durch »Unberechenbarkeit«67 aus. Insofern scheinen die Handlungen der Masse eiJahrhunderts, Diss. Masch. Mainz 1985, S. 91f.; D. Schrage: Psychotechnik und Radiophonie, S. 59. Machiavellis Der Fürst wird ebenfalls häufig als politische Psychologie beschrieben. Vgl. Philipp Rippel: »Nachwort«, in: Niccolò Machiavelli: Il Principe – Der Fürst (1532). Italienisch/Deutsch. Hrsg. v. Phillipp Rippel, Stuttgart: Reclam 1986, S. 225-249, hier S. 229 u. 247. 66 Vgl. G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 8. 67 Ebd., S. 19. Sehr ähnlich argumentiert Hermann Broch, der 1939 einen Finanzierungsantrag bei der Rockefeller Foundation für ein Forschungsprojekt zum ›Studium von Massenwahnerscheinungen‹ stellt: »Jedermann weiß um den Wahnsinn, unter dem das Weltgeschehen dieser Zeit vor sich geht, jedermann weiß, daß er selber, sei es als aktives, sei es als passives Opfer, an solchem Wahnsinn mitbeteiligt ist, jedermann weiß also um die Übermacht der ihn umgebenden Gefährdung, doch niemand weiß dieselbe zu lokalisieren, niemand weiß, aus welcher Richtung sie kommt. [...] Die Gefährdung des Menschen durch massenmäßig orientierte Geistesverwirrung ist ein offenes Geheimnis und eben hierdurch ein offenes Problem.« Hermann Broch: »Vorschlag zur 141
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ne vollkommen kontingente Größe im gesellschaftlichen und politischen Zusammenleben darzustellen. Diese Zufälligkeit wird mit der Massenpsychologie in ein Schema der kausalen Verstehbarbeit überführt. Indem die psychologische Herangehensweise in der Massenseele die Ursachen für die Eigenschaften und Handlungen der Masse erkennt, gelten diese als notwendiger Effekt in einem Kausalitätsgefüge. So werde, nach Le Bon, das »Auftreten besonderer Charaktereigentümlichkeiten der Masse [...] durch verschiedene Ursachen bestimmt.«68 Diese Ursachen für die spezifischen Erscheinungsformen der Masse lägen in ihrer Psyche begründet. Sie bringe die Charakteristika und Handlungen der Masse hervor. Damit folgt auch die Masse Gesetzmäßigkeiten.69 Auf diese Weise wird selbst ihr Wankelmut in eine Regelmäßigkeit übersetzt. Die Kontingenz wird zu Gunsten von Kausalitätsgesetzen aufgehoben. Die »wichtigste Ursache«, die die besonderen Eigenschaften und Verhaltensweisen der Masse hervorruft, ist nach Le Bon ihre »Beeinflußbarkeit«.70 Mit »Leichtigkeit« lasse sie sich »von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verführen [...].«71 Sie handelt dann ›wie ein Hypnotisierter‹.72 Die Idee der Beeinflussbarkeit besagt eine besondere Empfänglichkeit für äußere Reize und Eingebungen. Das Verhalten der
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Gründung eines Forschungsinstitutes für politische Psychologie und zum Studium von Massenwahnerscheinungen« (1939), in: ders.: Massenwahntheorie. Kommentierte Werkausgabe, Bd. 12. Beiträge zu einer Psychologie der Politik. Hrsg. v. Michael Lützeler, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 11-42, hier S. 11. Broch stellt also gleichermaßen wie Le Bon fest, dass die Masse einerseits das politische und gesellschaftliche Geschehen beherrsche, dass sie aber andererseits ein Rätsel darstelle. Die so etablierte Kombination aus Relevanz des Untersuchungsobjekts und des Mangels an Erkenntnissen darüber soll die Grundlage für eine zukünftige Erforschung der Masse stellen. Le Bons Argumentation findet sich also auch bei Broch. Weiterhin im Gleichschritt mit Le Bon votiert Broch für eine Massenpsychologie, die mit dem Zweck besetzt wird, ein politisches Handlungswissen anzustoßen. Auch bei Broch geht es um die Frage nach Lösungsstrategien zur Abwendung der gesellschaftlichen und politischen Krise, wie sie die Masse darstelle. Er wendet sich jedoch gegen Le Bon, insofern er nicht von einer Massenseele ausgeht. Brochs Erkenntnisinteresse richtet sich allein auf das Individuum und das Einzel-Ich, sowie sein Verhalten in der Masse. Vgl. Wolfgang Rothe: »Einleitung des Herausgebers«, in: Hermann Broch: Massenpsychologie. Schriften aus dem Nachlass. Hrsg. v. Wolfgang Rothe, Zürich: Rhein-Verlag 1959, S. 7-34, hier S. 10 u. 17f. G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 16. Vgl. ebd., S. 13. Ebd., S. 17. Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Beschreibungsmerkmale der Masse, die in diesem Zusammenhang nennenswert wären – so zum Beispiel ihre Triebhaftigkeit und Irrationalität. G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 19. Vgl. ebd. 142
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Masse sei demnach das Resultat einer Reizgebung, auf die die Masse reagiere. Aufgrund der besonderen Beeinflussbarkeit der Masse bedinge der Stimulus grundsätzlich die relationierte Wirkung, denn Beeinflussbarkeit meint die »Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflössten Ideen.«73 Eine intervenierende Variabel zwischen Suggestion und Ausführung, zwischen Reiz und Reaktion wird somit ausgeschlossen. Die eingeflößte Idee werde umgehend in eine Handlung übersetzt und keiner weiteren vernünftigen Überlegungen unterzogen, wodurch der Stimulus-Response-Zusammenhang aufgebrochen wäre. Statt dessen »handelt der einzelne [der Masse] nach zufälligen Reizen. Die Masse ist der Spielball aller äußeren Reize, deren unaufhörlichen Wechsel sie widerspiegelt. Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen. Der alleinstehende einzelne kann ja denselben Reizen unterliegen wie die Masse, da ihm aber sein Gehirn die unangenehmen Folgen des Nachgebens zeigt, so gehorcht er ihnen nicht. Physiologisch läßt es sich so erklären, daß der alleinstehende einzelne die Fähigkeit zur Beherrschung seiner Empfindungen hat, die Masse aber nicht dazu imstande ist.«74
Das zentrale Theorem der Beeinflussbarkeit verdeutlicht, wie die Unberechenbarkeit der Masse durch die Massenpsychologie in eine Berechenbarkeit transformiert wird. Das Rätsel ihrer wechselnden Verhaltensweisen wird auf ein Spezifikum der Massenseele zurück geführt und so zur Realisierung einer Gesetzmäßigkeit.75 Weil sie die Eigenschaft habe, auf zufällige, äußere Reize zu reagieren, sei sie in ihrem Verhalten so wechselhaft wie die Anzahl der sie umgebenden Stimuli. Die Kontingenz und Zufälligkeit der Handlungen der Masse erscheinen im Zuge dessen als eine Regelmäßigkeit – allerdings als eine Regelmäßigkeit, die durch Zufälle und unerkannte Ursachen ausgelöst wird. Aufbauend auf diese Erkenntnisse der seelischen Gesetze werde die Möglichkeit eröffnet, Steuerungsmaßnahmen zu ergreifen. Mit anderen Worten: Sind die Gesetze, denen die Massenseele folgt, bekannt, so kann man steuernd intervenieren. So liegt es in Anbetracht der Beeinflussbarkeit der Masse und der sich daraus ergebenden unverzüglichen Reaktion auf Reize nahe, Stimuli zu generieren, die gewünschte Reaktionen provozieren. Auf der Grundlage dieser Vorstellung scheint es gerade so, als könne jede gewünschte Handlung der Masse hervorgebracht werden, sofern ein entsprechender Reiz gegeben wird. Die festgestellten Gesetzmäßigkeiten sind also dahin gehend nutzbar zu machen, dass man sich ihrer bedient, um präferierte Verhaltensweisen zu stimulieren. Insbesondere die Konzeption der leicht 73 Ebd. 74 Ebd., S. 22. 75 Vgl. dazu auch den Hinweis auf Reiwald im Kapitel Pathologien. 143
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handhabbaren Beeinflussung eröffnet die Basis für die Idee eines Steuerungswissens, das in Form der Massenpsychologie vorliegt.76 Doch genau das Element der Massenseele – ihre Beeinflussbarkeit –, das ihre Steuerung ermöglichen soll, ist auch dafür verantwortlich, dass die Steuerungsmaßnahmen immer scheitern. Wenn jeder ›zufällige Reiz‹ das Handeln der Masse bestimmt und jede Einflussnahme erfolgreich ist, die ›Masse also die Sklavin der empfangenen Anregungen‹ ist, heißt das auch: Sie ist die Sklavin aller Reize. Eine Kontrolle aller Reize, die die Masse umgeben, wird so unmöglich. Der Zufall bleibt das bestimmende Element: »Da die Reize, die auf eine Masse wirken, sehr wechseln und die Massen ihnen immer gehorchen, so sind sie natürlich äußerst wandelbar. Daher sehen wir sie auch in demselben Augenblick von der blutigsten Grausamkeit zum unbedingtesten Heldentum oder Edelmut übergehen. [...] Nichts ist also bei den Massen vorbedacht. Sie können unter dem Einfluß von Augenblicksreizen die ganze Folge der entgegengesetzten Gefühle durchlaufen. Sie gleichen den Blättern, die der Sturm aufwirbelt, nach allen Richtungen verstreut und wieder fallen läßt. [...] Die Veränderlichkeit macht sie schwer regierbar. [...] Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich begehren, so wollen sie sie doch nicht für lange Zeit. Sie sind ebenso unfähig zu ausdauerndem Wollen wie zum Denken.«77
Insofern gehört die Kontingenz der Handlungen der Masse zu den Gesetzen, die die Massenpsychologie herausarbeitet. Und insofern ist ihre Steuerbarkeit und damit verbunden ihre Regierbarkeit ein nur schwer realisierbares Unterfangen. Der Staatsmann, der sich der massenpsychologischen Erkenntnisse bediene, werde die Masse führen können, jedoch nur unvollkommen und vorübergehend. Unter Anwendung der Gesetze der Massenpsychologie könne der Politiker »sehr hoch und sehr schnell steigen, aber stets [...] mit der Gewißheit, eines Tages hinuntergestürzt zu werden.«78 Die Massenpsychologie stellt somit vor allem eines fest: Das Steuerungswissen, das sie bereit stellt, muss unvollkommen bleiben. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie die Masse zu steuern sei in Anbetracht der Feststellung, dass sie grundsätzlich unlenkbar sei. Die Beschreibung der Masse oszilliert so zwischen 76 Dies wird gerade dann deutlich, wenn man sich mit der Propagandaforschung befasst, wie dies Thymian Bussemer: Propaganda. Konzepte und Theorien, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005 tut. Ein zentrales Konzept, das im Rahmen der Auseinandersetzung mit Propaganda verwertet wird, ist nämlich die Masse. 77 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 22f. 78 Ebd., S. 24. Vgl. im gleichen Sinne zur Idee der Unlenkbarkeit der Masse auch J. Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, S. 47 und C. Münster: Mengen, Massen, Kollektive, S. 72. 144
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der Feststellung ihrer Beeinflussbarkeit und der Erkenntnis ihrer Abhängigkeit vom Zufall. An diese Überlegungen wird in der Mitte des 20. Jahrhunderts angeschlossen und dabei eröffnen sich neue Perspektiven (und einige verschwinden). Der Aspekt der Kontingenz wird übergangen und allein das Steuerungskonzept fokussiert. Die Masse wird zunehmend als Objekt einer Steuerung entworfen, was weitreichende Folgen für das Massenkonzept hat, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Zugleich wird die Beeinflussbarkeit der Masse nicht mehr, wie bei Le Bon, positiv eingelesen. Für Le Bon stellt die Erkenntnis der Massenpsychologie und damit die Feststellung der Beeinflussbarkeit der Masse ein ›Hilfsmittel für den Staatsmann‹ dar, indem er daraus entsprechende Steuerungsmöglichkeiten ableitet. Zwar persistiert – gerade mit Blick auf das nationalsozialistische Deutschland – die These von der Steuerungsmöglichkeit der Massen, aber die Massenlenkung erscheint als eine grundsätzlich negative Erscheinung. Ihr haftet nicht mehr die Vorstellung einer Krisenbewältigung an, sondern die Kontrolle der Masse in Form ihrer Beeinflussung ist selbst ein Moment der Krise, die die Masse hervorruft. Die Steuerung forciert die Krise und treibt die Situation in die Katastrophe. Diese Überlegung bedeutet eine Abkehr von Le Bons Überlegungen. Er hat die Herrschaft der Masse angekündigt und darin eine politische und gesellschaftliche Verfallserscheinung entdeckt, der durch eine Einflussnahme auf die Masse entgegen zu treten sei. In den 1950/60er Jahren wird dagegen die These vertreten, dass die Massenlenkung die Krise verstärke. Massenlenkung führe geradezu zum Massenproblem. So beschäftigt sich der Psychotherapeut Hanscarl Leuner 1964 auf einer Tagung zum Thema Massenwahn mit den psychischen Massenphänomenen. In seinem Vortrag geht er auch auf Le Bon und dessen These von der Beeinflussbarkeit der Masse ein. Wie Le Bon formuliert er, dass »die Kollektivpsyche [...] zur unverzüglichen Verwirklichung der suggerierten Ideen«79 tendiere, und verweist so auf die leichte Stimulierbarkeit der Masse. Nachdem er weitere massenpsychologische Studien – wie die von Freud und C.G. Jung – herangezogen hat, kommt er zu dem Schluss, dass es mit der »Anwendung der Erkenntnisse [...] gelingt [...], selbst differenzierte Individuen und Menschen mit hohem Bildungsniveau in einer bisher nicht geahnten Weise psychologisch zu stimulieren und zu lenken.«80 Leuner bezieht sich hier vor allem auf Freud. Dabei sieht er allerdings Freud als veraltet an, weil dieser auf die Position des Führers abhebe. Die Massenbeeinflussung bedarf aber nach Leuner keines Führers mehr, unter anderem weil Massenmedien 79 H. Leuner: Über den Wandel der psychischen Massenphänomene, S. 102. Vgl. zur entsprechenden Formulierung bei G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 19. 80 H. Leuner: Über den Wandel der psychischen Massenphänomene, S. 108. 145
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an dessen Stelle getreten seien.81 Dies ist entscheidend in Anbetracht dessen, dass Leuner zum einen – wie das Zitat zeigt – die Massenpsychologie als ein anwendungsbezogenes Steuerungswissen versteht, mit dem menschliches Verhalten kontrolliert werden könne. Zum anderen deutet sich hier die Radikalisierung von Le Bons Position an. ›In bisher nicht geahnter Weise‹ könne auf die Masse Einfluss genommen werden. Die Vorstellung eines möglichen Scheiterns der Beeinflussung, wie sie Le Bon formuliert, wird somit zurück gewiesen. Die Masse als kontingente und von Zufällen regierte Einheit wird zu Gunsten eines Konzepts der vollkommenen Steuerung negiert. Leuner fährt in seiner Betonung des Moments der erfolgreichen Steuerung fort: »Es ist fast ein erlernbares Handwerk [...], um Menschenmassen in der jeweils gewünschten Form und Richtung zu beeinflussen.«82 Der Anwendung dieses Handwerks steht Leuner kritisch gegenüber. Zwar kann die »Massenbeeinflussung [...] auf der einen Seite segensreich sein [...]. Andererseits scheint auch hier die Vergewaltigung des Menschen, die Enthumanisierung, zu drohen, wie sie in den [...] Wunschträumen der Massenmanipulatoren sichtbar werden. [...] Die Frage, wie solche Einflüsse zu begrenzen wären, erhebt sich an dieser Stelle besonders dringlich.«83
Leuner folgt also weitgehend Le Bons Argumentation: Die Masse gilt als grundsätzlich beeinflussbar. Diese Erkenntnis wird dahingehend gewendet, Techniken der Massenbeeinflussung zu entwickeln, um bestimmte Handlungsweisen der Masse zu stimulieren. Diese Techniken sind aber entgegen Le Bons Überlegungen grundsätzlich kritisch zu betrachten und bieten kein Moment der gesellschaftlichen Erneuerung, weil sie mit dem Effekt der ›Enthumanisierung‹ kontaminiert sind. Gleichgültig mit welcher Intention sie zur Anwendung kommen, wirken sie fatal. Der Massenbeeinflussung werden also per se negative Effekte zugeschrieben. Sie produziere eine Krise und diene nicht ihrer Bewältigung. Zugleich ist sie das Symptom des Massenproblems, denn der Erfolg der Steuerung basiere auf der Eigenschaft der Masse, sich lenken zu lassen. Insofern indiziere eine gelungene Beeinflussung, dass die Gesellschaft vermasst sei. Erst im Zustand der Vermassung funktioniere die Steuerung. Ohne die entsprechenden Eigenschaften ist die »Massensteuerung [...] durchaus
81 Vgl. ebd. 82 Ebd., S. 109. Vgl. im gleichen Sinne C. Münster: Mengen, Massen, Kollektive, S. 42-44. 83 H. Leuner: Über den Wandel der psychischen Massenphänomene, S. 109. 146
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begrenzt«, wie Leuner anmerkt.84 Die Argumentation hat sich also gegenüber Le Bon dahingehend geändert, dass das effektive steuernde Intervenieren in die Massengesellschaft deren Problem anzeigt. Erfolgreiche Steuerung ist nicht nur als Effekt von Steuerungsmaßnahmen zu verstehen, sondern indiziert auch die Existenz der Masse und ihre Empfänglichkeit dafür. Die Empfänglichkeit der Masse wird als Krisensymptom verstanden und die Massenpsychologie wird als kulturelles, schriftlich niedergelegtes Zeugnis der gesellschaftlichen Krise aufgefasst. Ihr Potential beziehungsweise ihre Stoßrichtung hin zur Krisenbewältigung wird übergangen. Es wird also in den 1950/60er Jahren an Le Bons Thesen angeschlossen, diese erfahren aber eine Modifizierung. Hervorzuheben ist dabei das Aussetzen der Vorstellung einer misslingenden Steuerung, die nach Le Bon aufgrund des kontingenten Verhaltens der Masse mitgedacht werden müsse. Stattdessen wird das Moment der erfolgreichen Massenlenkung betont, dem Le Bon skeptisch gegenüber steht. Zugleich erhält die erfolgreiche Steuerung in den 1950/60er Jahren nicht mehr die Bedeutung einer Lösungsstrategie, da sie allein als Symptom und Verstärkung der Krise erscheint. Die Massenpsychologie kann dementsprechend auch kein Hilfsmittel des Staatsmannes mehr darstellen. Während Le Bon seinen Text also im Sinne einer politischen und gesellschaftlichen Krisenbewältigung verstanden haben will, wird die Studie in der Nachkriegszeit allein als Befund dieser Krise gelesen. Diese Krise radikalisiert sich sogar, weil die Lösungsstrategien der Psychologie der Massen selbst als Bestandteil der Krise ausgelegt werden. Doch die Modifikationen von Le Bons Überlegungen in den 1950/60er Jahren sind noch weitreichender. Die Fokussierung der Steuerungsmöglichkeit bedeutet nämlich implizit eine Ablehnung der These von der Herrschaft der Masse. In der Nachkriegszeit geht man zwar weiterhin davon aus, dass die Masse alle gesellschaftlichen Bereiche dominiere, aber daraus wird nicht ihre Herrschaft abgeleitet. Die Masse gibt ihren Status als Herrscher durch ihre angenommene Steuerbarkeit gleichsam ab. Sie erscheint nun selbst als beherrscht. Der von Le Bon konstatierte Machtwechsel wird so wieder umgekehrt und die Masse wird erneut zum Objekt von Machtausübung. Der Kampf um gesellschaftliche Hegemonie wird wieder zwischen Eliten ausgetragen, die die Masse manipulierten. Mit diesem erneuten Statuswechsel vom Herrscher zum Beherrschten – vom Subjekt im einfachen zum subjectum im machttheoretisch interessanten Sinne85 – geht auch einher, dass die Masse zunehmend als ›gefährdet‹ beschrieben wird. Ihr Erscheinen gilt zwar auch in den 1950/60er Jahren als gesellschaftliches Krisensymptom, aber diese Krise könne eben unter Anwendung massenpsychologischen Wissens gesteigert werden. Damit wird 84 Ebd. 85 Vgl. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 78. 147
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die Frage relevant, wie die Masse vor Einflüssen zu schützen sei.86 Dies bedeutet eine Abwandlung von Le Bons Frage, welchen Schutz es vor den Einflüssen der Massenherrschaft gebe. Das meint jedoch nicht, dass sich in den 1950/60er Jahren eine Position der Sorge um die Masse entwickelt. Sie ist auch weiterhin ein verachtetes Objekt. Doch diese Verachtung wird angereichert durch die Befürchtung ihrer Gefährdung, weil sie aufgrund ihrer enormen Beeinflussbarkeit den Steuerungsmaßnahmen hilflos ausgesetzt sei. Die Masse stellt ebenso eine Bedrohung der Gesellschaft dar, wie sie selbst gefährdet ist. Im Hintergrund dieser Konstruktion steht zum einen die Überlegung, dass die Masse eine bestimmende Größe der gegenwärtigen Gesellschaft markiere. Ihre gesellschaftliche Relevanz mache ihren Schutz vor diversen Einflussversuchen notwendig, damit in Form der Masse nicht die gesamte Gesellschaft kontrolliert werde. Zum anderen baut die These von der bedrohten Masse auf dem Argument auf, dass sie nicht nur eine gegebene gesellschaftliche Tatsache sei – dies ist der Ausgangspunkt von Le Bons Analyse –, sondern durch Steuerung mit hervorgebracht beziehungsweise auf Dauer gestellt werde. Massenbeeinflussung basiert nicht nur auf den Eigenschaften der Masse, sondern generiert sie auch. Die Beschreibungen der Masse bleiben unentschieden hinsichtlich der Frage, ob die Masse Effekt einer Steuerungsmaßnahme sei oder ob die Steuerungsmaßnahmen nur greifen, weil die Gesellschaft im Zustand der Vermassung bestehe.
a) Mediale Steuerung aus dem Osten Dem innerdeutschen Antagonismus von Ost und West kommt hinsichtlich des Konzepts einer medialen Steuerung der Masse eine zentrale Rolle zu. In Anlehnung an Torsten Hahns Formulierung vom ›Feind‹ als Beschleuniger des Mediendiskurses lässt sich auch von einer Beschleunigung des Massendiskurses in Anbetracht des Feindes DDR sprechen. Hahn rekonstruiert die bundesrepublikanische Mediendebatte der 1950er Jahre hinsichtlich ihrer Beobachtung des DDR-Fernsehens und zeigt auf, wie der Kalte Krieg auf die Fernsehbeschreibung übergreift. Die Debatte ist von einer Feind- und Kriegsrhetorik geprägt, in der der Deutsche Fernsehfunk der DDR als eine mediale Invasion aus dem Osten verhandelt wird.87 Es geht, so ist in der 86 Vgl. H. Leuner: Über den Wandel der psychischen Massenphänomene, S. 109. 87 Vgl. Torsten Hahn: »›Aetherkrieg‹. Der Feind als Beschleuniger des Mediendiskurses«, in: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 77-91, hier S. 83-85. Vgl. auch Isabell Otto/Jens Ruchatz: »Heilmittel gegen Äthergift. Konzepte der Medienwirkung«, in: Jens Ruchatz (Hg.), Mediendiskurse deutsch/deutsch, Weimar: VDG 2005, S. 159191. 148
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bundesrepublikanischen Berichterstattung über die Fernsehanstalt der DDR nachzulesen, um einen »Kampf um das deutsche Fernsehen«88 und es [d]roht ein deutscher Aetherkrieg.89 Die »sowjetzonalen Machthaber« hätten sich, berichtet das Fachorgan Fernseh-Informationen, »das politische Fernziel gesetzt [...], auf Kanal 10 zum Westen vorzudringen.«90 In Anbetracht eines solchen Verdachts erscheint das Errichten von Sendeanlagen als ein fernsehtechnisches Hochrüsten der DDR: »In der Altmark ist ein 180 m hoher Fernsehturm im Bau, dessen Sendungen das Gebiet von Hamburg bis Hannover erreichen sollen.«91 Die geäußerten Befürchtungen angesichts der ›sowjetzonalen‹ Sendeanlagen gehen noch weiter: »Sogar bis ins Ruhrgebiet falle das ostzonale Programm ein.«92 In Form der Berichterstattung über den weitreichenden Strahlungsbereich ostdeutscher Sendeanlagen wird ein »Kommunikationskrieg«93 ausgerufen, in dem die Bundesrepublik als Einfallsgebiet fremder Mächte aus dem Osten entworfen wird. Deren sendestarken Anlagen dienten einem propagandistischen Zweck, dessen Adressat die bundesdeutsche Bevölkerung sei. Sie solle mit Hilfe von Fernsehsendungen infiltriert und ideologisch manipuliert werden. Das Programm des DFF ziele also auf eine Beeinflussung der Zuschauer in der Bundesrepublik. So gäbe es dann auch keinen Programmblock, wie das Meinungsforschungsinstitut Infratest nach einem Artikel des Spiegels feststellt, »der nicht in mehr oder weniger massiver, offener oder versteckter Form eine subtile oder auch stärkere Beeinflussung zugunsten der kommunistischen Ideologie und ihrer Thesen zur aktuellen Politik enthält.«94 Unter der Prämisse dieses Sendungsbewusstseins der DDR Richtung Westen kommt es zu einer genauen Beobachtung von deren Fernsehentwicklung. Sendeanlagen sind dabei gleichermaßen relevant wie Programminhalte.
88 Opticus: »Der Kampf des deutschen Fernsehens hat begonnen«, in: FernsehInformationen 21-22 (1956), S. 462-464, hier S. 462. 89 Anonymus: »Droht ein deutscher Aetherkrieg?«, in: epd/Kirche und Fernsehen 11 (1950), S. 4. 90 Opticus: Der Kampf des deutschen Fernsehens hat begonnen, S. 462. 91 Anonymus: »›Initiative dort – Phlegma hier‹. Einbruch des DDR-Fernsehens in die Bundesrepublik«, in: epd/Kirche und Fernsehen 8 (1957), S. 1f., hier S. 1. 92 Anonymus: »Die Wirkung des Fernsehens über die Zonengrenze. Über drei Viertel der Fernsehteilnehmer in der Zone können das Programm des Deutschen Fernsehens empfangen«, in: Fernseh-Informationen 22 (1961), S. 484f., hier S. 485. Vgl. zu einer ähnlichen Äußerung Anonymus: »Kommt unser zweites Programm aus dem Osten?. Tatsachen widerlegen tendenziöse Behauptungen«, in: Fernseh-Informationen 19 (1958), S. 427. 93 K. Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 95. 94 Anonymus: »Im Westen gefragt. DDR-Programme«, in: Der Spiegel 23 (1959), S. 74f., hier S. 75. 149
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Von dieser Beobachtung des Ostfernsehens wird dann auf die Beobachtung des Westzuschauers umgeschaltet. Die Annahme einer medialen Invasion aus dem Osten führt über zu der Frage nach den Möglichkeiten zu deren Abwehr. Im Kontext dieser Frage wird auch das Objekt der Invasion, der bundesdeutsche Fernsehzuschauer, relevant. Mit der Idee des Versuchs der Einflussnahme durch die sowjetzonalen Machthaber korrespondiert eine Zuschauerbeschreibung, die auf die mögliche Wirkung der Beeinflussung abhebt. Dabei ist es die Größe der angenommenen Gefahr – ausgedrückt in der Kriegsrhetorik und der Intensität der fernsehtechnischen Bemühungen der DDR –, die die Zuschauerbeschreibung aussteuert. Die Berichterstattung beschwört eine Gefahr von solcher Größe herauf, dass der Zuschauer – so lässt sich in Anlehnung an die Kriegsrhetorik formulieren – nur noch auf verlorenem Posten stehen kann. In Anbetracht einer solchen medientechnischen Invasion bleibt keine Hoffnung auf eine mögliche, dem Nutzer eigene Immunität. Und so steht den Beschreibungen des sowjetzonalen Fernsehens die Vorstellung eines bundesdeutschen Zuschauers zur Seite, der auf die Einflussversuche aus der DDR anspricht. Dies sollen zumindest Infratest-Studien beweisen, die das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen in Auftrag gibt und über die Der Spiegel berichtet. Demnach hat etwa »ein Drittel der bundesdeutschen Fernsehteilnehmer, die sich gelegentlich oder regelmäßig die Sendungen des DDR-Fernsehfunks ansehen, [...] über das ostzonale Programm ein positives Urteil. Die [...] Befürworter der Ostprogramme [müssten] ›in ihrer unkritischen Reaktionsweise als ein Feld für Infiltrationsbemühungen der Kommunisten‹ betrachtet werden.«95
›Infiltrationsbemühungen‹ auf der einen Seite und ›unkritische Reaktionsweise‹ auf der anderen – dies ist das komplette Szenario des Kriegsschauplatzes Fernsehen. Anstatt sich den ideologischen Sendungen aus der DDR zu verweigern, äußerten sich die Zuschauer in der Bundesrepublik sogar ›positiv‹ darüber. Den propagandistischen Zielen der DDR stehe eine dafür zum Teil empfängliche Westbevölkerung gegenüber, so der Pauschalbefund der Infratest-Studie. Die Beeinflussungsversuche korrespondieren so mit einer beeinflussbaren Zuschauerschaft, die sich offen für ostzonale Propaganda gebe. Eine Abwehr gegen die mediale Invasion kann demnach nicht auf dem Fernsehzuschauer aufbauen.96
95 Ebd., S. 74. 96 Laut Hahn baut die Abwehr auch nicht auf den Zuschauer auf, sondern bietet ihm mit dem ZDF ein weiteres Programmangebot, das ihn gleichsam von den Sendungen des DFF ›ablenken‹ soll. Vgl. T. Hahn: ›Aetherkrieg‹, S. 86f. 150
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Im Gegenteil: Die Gefahr wächst sogar in Anbetracht der Beobachtung eines solchen Rezipienten, der offensichtlich keine eigenen Ressourcen besitzt, um sich den Infiltrationsbemühungen zu entziehen. Erst dieses Zuschauerkonzept komplettiert das entworfene Kriegsszenario und macht die Gefahr im Angesicht des Feindes vollkommen. Die Gefahr besteht erst durch die Annahme von der Beeinflussbarkeit des Zuschauers. Was wäre das medientechnische Aufrüsten der DDR in den westdeutschen Debatten mehr, als ein belangloses Unterfangen oder ein technologisches Wetteifern im Antagonismus des Kalten Krieges, wenn nicht davon ausgegangen würde, dass es ein erreichbares Ziel gäbe. So sind die beiden Größen der Diskussion in einem Kreislauf des positiven Feedbacks kurzgeschlossen, was die Aufgeregtheit des Mediendiskurses stetig voranschreiten lässt. Die Argumentation funktioniert, weil sie sich ständig selber verstärkt, indem sie die beiden Komponenten aufeinander abstimmt. Es ist einerseits die Empfänglichkeit des Zuschauers für den medialen Stimulus, die die Beobachtung eines solchen Elements allererst bedingt. Die Konstruktion des Zuschauers ruft das hervor, was ihn bedrohen soll und kann, sowie die daran anschließende Beobachtung des Stimulus wiederum zur Verschärfung eines gesteuerten Zuschauers führt. Die Effektivität des Stimulus resultiert aus der Beobachtung der angenommenen Beeinflussbarkeit des vorausgesetzten Adressaten. Ohne einen entsprechenden Zuschauer bleibt der Stimulus dagegen als solcher unerkannt. Andererseits initiiert der Einflussversuch – die Entdeckung des Stimulus – die Beobachtung der Beeinflussbarkeit des Zuschauers. Dort, wo Einflussnahme vermutet wird, wird auch ein Effekt des Einflusses beobachtet.97 Wie diese Argumentation immer auf sich selber aufbaut, wird gerade dann deutlich, wenn sie scheinbar unterbrochen wird – das heißt, wenn von einer Reaktionsbereitschaft des Zuschauers nicht mehr ausgegangen werden kann, weil die Befunde dies widerlegen. Infratest ist wenige Jahre nach der gerade erwähnten Studie erneut gefragt um festzustellen, wie westdeutsche Zuschauer auf ostdeutsche Sendungen reagieren. Die Zuschauerbefragung zeigt zwar wiederum, dass in der Bundesrepublik das DFF-Programm empfangen wird. Dennoch scheint die mediale Invasion ineffektiv und der Feind abgewehrt. Die Ergebnisse sind zunächst ermutigend, weil politische Inhalte abgelehnt würden: 97 Dies entspricht einer Kritik, die Klaus Merten am Stimulus-Response-Modell der Massenkommunikationsforschung und der darin implizierten Kausalität äußert. Die Relationierung von Ursache und Wirkung bleibt immer prekär, da aus der Beobachtung des einen die Beobachtung des anderen resultiere. Reiz und Reaktion werden aufeinander bezogen beobachtet. Dabei bleibt die Beobachtung immer auf den angenommenen Wirkungszusammenhang eingeschränkt und kann nicht über diesen hinaus gehen. Vgl. K. Merten: Wirkungen von Kommunikation, S. 300. 151
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»›infratest‹ errechnete, dass etwa 80000 westdeutsche Geräte regelmässig auf Zonen-Fernsehsender eingeschaltet werden, wobei das Zonen-Fernsehen fast ausschliesslich als Kontrastprogramm vor allem für Filme und Unterhaltungssendungen gewählt wird. [...] Bemerkenswert ist, dass 50% der befragten westdeutschen Fernsehteilnehmer, die bisher regelmäßig zonale Sendungen sahen, die politischen Sendungen entschieden ablehnten.«98
Die erwähnten Zahlen scheinen auf den ersten Blick darauf schließen zu lassen, dass ein großer Teil der Rezipienten im Westen durch die Infiltrationsbemühungen nicht affiziert werden. Er wende sich keinen politischen Programminhalten zu und entziehe sich so der ideologischen Manipulation. Der Argumentationszusammenhang aus responsiblem Empfänger und sendungsbewusstem Stimulusgeber ist also aufgebrochen und die Bemühungen der DDR laufen ins Leere. Damit könnte das Thema abgeschlossen sein: Der Einfall des Ostens in die Bundesrepublik misslingt, weil der Zuschauer ihm trotzt. Dieser Abschluss wird aber nicht zugelassen und das Modell einfach erneut behauptet – nun aber unter verschärften Bedingungen. Der Bericht über die Infratest-Ergebnisse fährt im Anschluss an das oben Zitierte fort: »›infratest‹ weist jedoch auf die Gefahren solcher Sendungen hin, in denen unpolitische Themen und Motive ›unterschwellig‹ mit politisch-ideologischen und propagandistischen Gehalten durchsetzt werden, was nicht in jedem westdeutschen Fernsehzimmer sogleich als Politik begriffen werde.«99
In Anbetracht der möglichen Ablehnung der Argumentation vom Zusammenhang aus Sendung und Empfang wird wieder auf die ›Gefahr hingewiesen‹, die sich aber durch ihre Unsichtbarkeit radikalisiert hat. Nur weil ›politisch-ideologische und propagandistische Gehalte‹ nicht offensichtlich seien, bedeute dies nicht, dass sie nicht wirkten. Und dass sie wirken, dafür sorgt wiederum der Zuschauer, der eben nicht ›begreife‹. Sein Unvermögen zur Einsicht stellt den Zusammenhang wieder her, weil er sich aufgrund dessen den ›unterschwellig‹ ideologischen Programminhalten zuwende. Sein Unvermögen führe dazu, dass die Infiltration der DDR funktioniere, weil sie auf dieser Grundlage einen Einstellungswandel beim Zuschauer hervorrufen könne und dies ohne dass er es merke. Er sei nicht nur einfach beeinflussbar, sondern darüber hinaus auch noch unsensibel für seine Beeinflussung, was seine Beeinflussbarkeit noch steigere. Jede Andeutung, dass der Zusammenhang aus Beeinflussung und Beeinflussbarkeit nicht gegeben sei, motiviert also eine um so vehementere Be98 Anonymus: Die Wirkungen des Fernsehens über die Zonengrenze, S. 6. 99 Ebd. 152
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hauptung des Zusammenhangs durch die Radikalisierung beider Komponenten. Die Brisanz des Beeinflussungsversuches wächst, indem er in das Feld des Unsichtbaren verschoben wird, und die Beeinflussbarkeit wird angereichert durch das Moment der mangelnden Einsicht. Dabei ist es gerade die Annahme einer Gefahr, die hier plausiblisierend wirkt, denn eine Ablehnung der Argumentation wird so als fatal ausgewiesen. Das Heraufbeschwören des Ernstfalls produziert, so Hahn, eine permanente »[m]edientechnische Alarmbereitschaft [...] in der frühen Bundesrepublik«100 und diese beschleunigt und intensiviert, wie Hahns Titel anzeigt, den Mediendiskurs. Immer, wenn sich eine Abwehr der medialen Invasion ankündigt, erscheint die Gefahr um so größer. Dies gelingt durch eine angenommene Steigerung der Infiltrationsbemühungen und durch die Herabsetzung des Eigenschutzes des Zuschauers. So werden Sender und Empfänger argumentativ um so stärker aneinander ausgerichtet. Im Zuge dessen wird der Feind DDR auch zum Beschleuniger des Massendiskurses, denn die Masse gibt ein Konzept vor, das hier greift. Die Rede von der Masse impliziert den mangelnden Eigenschutz des Zuschauers, weil die Masse – so weiß man seit Le Bon – per se beeinflussbar ist. Treffen die propagandistischen Ziele der DDR auf die Masse, so ist deren Effektivität garantiert, weil die Masse ›die Sklavin der empfangenen Anregungen ist‹. Das Massenkonzept bietet also ein Wissen, das den angenommen Zusammenhang aus der sowjetzonalen ideologischen Manipulation und dem westdeutschen Zuschauer als deren Ziel kurzschließt. Die Einordnung des Masse-Begriffs in das mediale Kriegsszenario gibt ihm allerdings eine bestimmte Richtung. Zum einen entfällt auch im Kontext der Beobachtung des sowjetzonalen Zugriffs auf die Masse das Moment der Kontingenz: Der massenmedialen Lenkung westdeutscher Zuschauer wird Effektivität unterstellt. Der Aspekt der Kontingenz des Massenverhaltens muss in der Beschreibung ausfallen, weil und damit die Größe der Gefahr fortbesteht. Wie bereits ausgeführt, forciert die Idee des Medienkrieges und die Beobachtung des fernsehtechnischen Aufrüstens der DDR das Bild eines feindlichen Vordringens des Antagonisten in den Westen und damit die Intensität einer Kriegsgefahr. Zufälle haben in diesem Gefahrenszenario keinen Platz. Zum anderen geht es nun aber um eine zwischenstaatliche Steuerung. Die Massenbeeinflussung ist Bestandteil eines Antagonismus zweier Staatssysteme, in dem ein Zugriff auf die Masse über Staats- beziehungsweise Zonengrenzen hinaus verhandelt wird. Die Vorstellung eines Beeinflussungsversuches wird im Szenario des Kalten Krieges entworfen, in dem er von außerhalb der eigenen Staatsgrenzen kommt. Im Zuge der Kriegsrhetorik und der Idee der Massenbeherrschung durch fremde Invasoren wird das 100 T. Hahn: ›Aetherkrieg‹, S. 83. 153
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Moment der Gefährdung der Masse und ihre Schutzbedürftigkeit betont. Die Frage nach dem Schutz der Masse vor fremden Einflüssen erhält Priorität, wenn der Einflussversuch aus dem Außen des eigenen Hoheitsgebiets zu kommen scheint. Der Antagonismus Ost-West bringt eine Masse hervor, die unter Schutz gestellt wird, obwohl sie nach wie vor als gesellschaftlich problematische Größe gilt. Die Notwendigkeit ihres Schutzes ist Effekt ihrer Beschreibung im Rahmen der Kriegssituation. Die Masse wird gleichsam selbst zum umkämpften Gut der Antagonisten und ihre erfolgreiche Beeinflussung durch den Gegner wird als Niederlage empfunden. Sie bedeutet eine Niederlage auf dem Kampfplatz der Ideologien, auf dem ausgetragen wird, wer die Meinung der Masse beherrscht. Und die Waffe in diesem Krieg heißt Fernsehen; eine Waffe, die »jede Stelle im Territorium des Feindes erreichen konnte und durch subtile (oder was man sich darunter vorstellte) Propaganda diesem den Rückhalt der Bevölkerung entziehen sollte.«101 Diese Niederlage scheint schon sicher, wenn es um die Masse geht, für die »›die Gefahr einer ideologischen Unterwanderung‹«102 bestehe. Ihre Eigenschaften setze sie im besonderen Maße der massenmedialen Bedrohung aus dem Osten aus, weil sie nur all zu leicht darauf anspreche. Sie nehme die propagandistischen Inhalte ohne Gegenwehr an, beziehungsweise sei zu einer Gegenwehr aufgrund ihrer ›unkritischen Reaktionsweise‹ nicht fähig. Sie entbehre der Fähigkeit zur Selbsthilfe103, weshalb ihr geholfen werden müsse. Die Beeinflussbarkeit der Masse macht sie zum Schutzobjekt in der kriegerischen Auseinandersetzung. Soll diese nicht in einer Niederlage enden, gilt es die Masse vor der Indoktrination zu bewahren. Dass gerade die Masse die problematische Größe in diesem medialen Gefüge darstellt, macht Margret Boveri deutlich, die den Verrat im XX. Jahrhundert, der für sie zu einer »Massenerscheinung«104 geworden ist, untersucht:
101 Torsten Hahn: »›Im Kampf um die Meinung in der Welt‹. Der Fernseh-Krieg und die Selbstbeobachtung der Massenmedien«, in: ders./Christina Bartz/ Irmela Schneider (Hg.), Medienkultur der 60er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 2, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 51-70, hier S. 53. 102 Anonymus: Im Westen gefragt, S. 75. 103 Dabei handelt es sich um eine Kapitelüberschrift von Margret Boveri: Verrat als Epidemie. Amerika. Der Verrat im XX. Jahrhundert, Bd. 4, Reinbek bei Hamburg: Rowohl 1960, S. 259. 104 Ebd., S. 257. Der Begriff der Masse durchzieht den gesamten Text und ist darin allgegenwärtig. Vgl. zur genaueren Erläuterung ebd., S. 18-22 und dies.: Zwischen den Ideologien. Zentrum Europa. Der Verrat im XX. Jahrhundert, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 19592 (1957), S. 12-15. 154
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»Träger des Verrats war früher der Einzelne. Heute ist der Einzelne nicht ausgeschaltet, aber neben, gegen, hinter ihm steht die Gruppe: fünfte Kolonne, ferngelenkte Zellengemeinschaft oder Untergrundbewegung. Die amerikanische Zeitaschrift Time sprach 1946 von den Millionen in der Welt, deren Ziel es geworden sei, die Institutionen, unter denen sie leben, zu verraten. ›Im 20. Jahrhundert‹, hieß es da, ›wurde der Verrat zu einem Beruf, dessen moderne Form speziell im Verrat der Ideen besteht.‹«105
Millionenfach folgten die Menschen nicht mehr den Überzeugungen, die für das eigene Gemeinwesen maßgeblich seien, und brächen so mit der Gesellschaft, in der sie leben. Sie stürzten das eigene Staatswesen, indem sie diesem keine Loyalität entgegenbrächten. Im Hintergrund dieses neuen massenhaften Verrats sieht Boveri unter anderem das Wirken einer ideologischen Unterwanderung durch kommunistische Staaten, die auf die gesamte westliche Gesellschaft zielt und unter Anwendung einer Vielzahl von Mitteln vor sich geht. Doch auch Boveri beschränkt sich nicht auf die Beobachtung der Praktiken des Feindes, sondern sie versucht ebenso die eigene gesellschaftliche Verfassung und damit das Ziel der angenommenen propagandistischen Bemühungen zu analysieren. Diese Vorgehensweise legt schon der Titel ihrer Studie nahe, indem mit dem Begriff des Verrats der Feind im Innern der eigenen Gesellschaft fokussiert wird. Und der Untertitel des vierten Bandes – Verrat als Epidemie – nennt dann auch schon den Befund. Der Verrat findet statt und zwar massenhaft. Die Massenhaftigkeit des Verrats liegt in der Eigenschaft der Masse selber begründet, die sich mit ›unglaublicher Leichtigkeit verführen lässt‹.106
b) Mediale Steuerung aus dem Westen Der proklamierte Kommunikationskrieg zwischen Ost und West und das damit verbundene Schreckensbild eines medialen Zugriffs auf die bundesdeutsche Bevölkerung bedeutet eine Intensivierung des Massen- und Mediendiskurses über das Moment der Beeinflussung und Steuerung. Dabei richtet sich ein Modell der erfolgreichen massenmedialen Lenkung ein, das gleichzeitig auch für die innerstaatliche und gerade kapitalistische Medienkommunikation entwickelt wird. Massenbeeinflussung via Massenmedien stellt in den bundesrepublikanischen Debatten nicht nur eine Bedrohung aus dem Osten dar, sondern wird auch als Gefahr der eigenen Medientätigkeit verhandelt. Hier sind es unter anderem industrielle Kräfte, die sich der 105 Margret Boveri: Für und gegen die Nation. Das sichtbare Geschehen. Der Verrat im XX. Jahrhundert, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 19615 (1956), S. 8. 106 Vgl. M. Boveri: Verrat als Epidemie, S. 258. 155
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Verbreitungsmedien bemächtigten, um durch sie Einfluss auf die Masse zu gewinnen.107 Diese Vorstellung bestimmt aber die westdeutschen Debatten nicht im gleichen Maße, wie die gerade beschriebenen Befürchtungen gegenüber dem Programm des DFF. Es handelt sich eher um einen Import aus den USA, wo sich ein privatwirtschaftlich finanziertes Mediensystem herausgebildet hat, für das die Beobachtung der Nutzung von Massenmedien zu Werbezwecken zentral ist. Dort geht es um eine konsumorientierte Beeinflussung, die das Kaufverhalten der Rezipienten kontrollieren soll. Für das bundesdeutsche und das heißt öffentlich-rechtliche System ist diese Beobachtungsmaßgabe zunächst nicht von gleicher Relevanz – insbesondere in Anbetracht des dringender scheinenden Problems der medialen Beeinflussung durch den direkten Nachbarn im Osten. Der Kalte Krieg verdrängt jedoch das Thema Werbung und die damit einhergehende Befürchtung der Beeinflussung des Zuschauers nicht vollkommen von der Agenda der bundesrepublikanischen Fernsehdebatte. Dabei ist die Debatte zum einen durch amerikanische Studien zum Thema angestoßen. Zum anderen drängt die 1956 gegründete Studiengesellschaft für Funkund Fernsehwerbung in Form von publizistischer Tätigkeit auf die Einführung eines werbefinanzierten Programms, was mit der Ratifizierung des ZDF-Staatsvertrages 1961 zum Erfolg führt. Dem ZDF wird die Ausstrahlung von 20 Minuten Werbung täglich zugestanden.108
107 Vgl. Torsten Hahn: »Z wie Zombie oder V wie Verräter? Manchurian Candidate – Sleeper – Subliminal Man: Mind Control und Literatur«, in: ders./Cornelia Epping-Jäger/Erhard Schüttpelz (Hg.), Freund, Feind & Verrat. Das politische Feld der Medien, Köln: DuMont 2004, S. 118-137, hier S. 123. 108 Vgl. K. Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, S. 117f. Die Beobachtung massenmedialer Beeinflussung durch Institutionen im eigenen Land wird nur zögerlich zum Thema. Mit der Intensivierung der Fernsehwerbung, inklusive der Wahlwerbung, nimmt dessen Verbreitung aber zu. Seinen letztendlichen Durchbruch erfährt es weiterhin durch Entwicklungen im politischen Bereich und zwar im Zuge der Studentendemonstrationen von 1968. Das Jahr 1968 markiert den Auftakt für eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit der Berichterstattung über die Studentenproteste unter dem Schlagwort »Manipulation«. Siehe exemplarisch Hans Schuster: »Informationsmedien im Kreuzfeuer«, in: Merkur 11 (1968), S. 969-983, hier S. 969. In Anbetracht der zentralen Stellung des Springer-Verlages in dieser Auseinandersetzung fokussiert diese Debatte primär das Pressewesen. Die Springer-Presse richtet sich jedoch gegen das »von der Linken ›unterwanderte[ ]‹ Fernsehmonopol« (ebd., S. 970), so dass die Thematik nicht auf die Presse beschränkt bleibt. In dieser Debatte markiert die Frage nach Manipulation aber lediglich einen Bestandteil einer umfassenderen Problematisierung der Bedeutung der Massenmedien im eigenen politischen System: »Der Kampf um und gegen die Massenmedien kann als Symptom eines wachsen156
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Aber auch ohne solche klar identifizierbaren Werbeblöcke herrscht permanent der Verdacht von konsumstimulierender Beeinflussung und zwar in Form von Schleich-Werbung.109 In der Schleichwerbung wird dabei die gleiche Problematik entdeckt, die auch für die Unterhaltungssendungen des DDR-Fernsehens gilt. Gerade weil sie »unauffällig« sei, wirke sie, ohne dass der Zuschauer dessen gewahr würde. So wie der Zuschauer nicht bemerke, dass er mit dem Unterhaltungsprogramm des DFF zum Ziel politischer Propaganda werde, könne er die Einblendung eines Markennamens nicht als Werbung identifizieren. Obwohl also in beiden Fällen von einem ›unterschwelligen‹ Wirken ausgegangen wird, erhält das Thema »Untergrundwerbung« nicht die gleiche Brisanz wie die Annahme einer versteckten ideologischen Botschaft aus dem Osten. Wohl stellt man zwar angesichts der verborgenen Kaufbotschaft fest, welche »suggestive Wirkung das neue Medium Fernsehen auf die Zuschauermassen hat«, was man »leicht an den Nebenwirkungen einiger erprobter Sendungen ablesen« könne. Der Technik der versteckten Werbung wird also Erfolg und Effektivität unterstellt. Zugleich aber erscheint der Zuschauer nicht gleichermaßen hilflos, wie beim Schauen der Unterhaltungssendungen des DFF, denn »der Zuschauer stutzt«, wenn Markennamen eingeblendet werden, »weil er nur zu oft fühlt, daß hinter der Ein-Schiebung eine Absicht stand ...« Offensichtlich geht man hier von einer größeren Sensibilität des Zuschauers aus. Dem Zuschauer wird zugestanden, die Intention hinter der Einblendung eines Markennamen zu erkennen, während ihm der propagandistische Zweck des DFF entgehen soll. Es wird ein – wenn auch rudimentäres – Verständnis beim Rezipienten für das Geschaute angenommen. Die Argumentation von der massenmedialen Beeinflussung wird also für die Schleichwerbung nicht einer solchen Eindeutigkeit entgegen getrieben, wie dies im Rahmen der Beobachtung des sowjetzonalen Fernsehens und des westdeutschen Zuschauers der Fall ist.110 Eine solche Eindeutigkeit besteht nicht, weil die Reaktionsbereitschaft des Rezipienten nicht mit gleicher Vehemenz behauptet wird. Dessen ungeachtet herrscht aber auch bezüglich der Werbethematik die Überlegung einer Einflussnahme, vor der der Zuschauer zu schützen sei. Auch hier wird ein Gegenüber von Beeinflussungsversuchen und beeinden Mißtrauens gegen die parlamentarische Demokratie gesehen werden.« Ebd., S. 970. 109 Anonymus: »Die Ein-Schiebung. Schleich-Werbung«, in: Der Spiegel 20 (1955), S. 42-45. Die folgenden Zitate ebd., S. 43. 110 Vgl. Martin Morlock: »Unterschiebung. Fernseh-Spiegel«, in: Der Spiegel 10 (1959), S. 65; Martin Morlock: »Mit Anstand. Fernseh-Spiegel«, in: Der Spiegel 37 (1959), S. 75; Martin Morlock: »Mit Gobläng. Telemann«, in: Der Spiegel 30 (1960), S. 59; Anonymus: »Kicker und Konsum. Schleichwerbung«, in: Der Spiegel 8 (1968), S. 73. 157
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flussbarem Zuschauer ausgehandelt. Das Moment der Beeinflussbarkeit des Zuschauers wird im Kontext der Auseinandersetzung mit der Werbung – nicht nur mit der Sonderform der Schleichwerbung – gerade durch die Bezugnahme auf den Masse-Begriff aufgerufen, wie das oben angeführte Zitat von der ›suggestiven Wirkung des Fernsehens auf die Zuschauermasse‹ verdeutlicht. Die Beschreibung des Zuschauers als Masse impliziert, dass eine grundsätzliche Beeinflussbarkeit des Zuschauers möglich sei. Dass hier im besonderen Maße an Massenkonzepte angeschlossen wird, liegt darin begründet, dass der Werbeindustrie unterstellt wird, sie würde sich auf massenpsychologisches Wissen beziehen. So geht der USAmerikaner Vance Packard, der mit seiner verbreiteten Studie Die geheimen Verführer die in der Werbung angewandten Techniken zu beschreiben versucht, davon aus, dass die Produktion von Werbung auf der Grundlage der Erkenntnisse der Massenpsychologie geschehe: »Die Anwendung der Massenpsychologie auf Werbefeldzügen ist zur Grundlage einer Multimillionen-Dollar-Industrie geworden. Die gewerbsmäßigen Propagandisten haben sich bei ihrem Tasten nach wirksameren Mitteln, uns ihre Waren zu verkaufen – mögen es Erzeugnisse, Ideen, Handlungen, Kandidaten, Ziele oder geistige Einstellungen sein – darauf gestürzt.«111
Über die von der Massenpsychologie vorgegebenen Verfahren bestehe die Möglichkeit, den Zuschauer zu lenken beziehungsweise »Kontrolle«112 über ihn zu erhalten. Auf die Massenpsychologie stoßen die Werbefachleute, die auf der Suche »nach den ›Drückern‹, das heißt, dem Knopf, auf den man drücken muß, um eine Handlung auszulösen.«113 sind. Packard geht davon aus, dass die Suche erfolgreich war und der ›Knopf‹ gefunden wurde. Er identifiziert in der Werbeindustrie die Umsetzung eines perfekten Lenkungsmechanismus, der unter anderem mit Hilfe der massenpsychologischen Kenntnisse entwickelt wird. Seine gesamte Untersuchung dient der Beschreibung dieses ›Knopfes‹ der vollkommenen Massenkontrolle. Auf über 300 Seiten führt er aus, welches ungeheuere Steuerungswissen akkumuliert und mit welchem Aufwand dessen Umsetzung verfolgt wird. In diesem so entworfenen Szenario eines funktionierenden Manipulationsapparates bleibt die Vorstellung einer misslingenden Steuerung außen vor. Die Möglichkeit misslingender Steuerung wird bei Packard aber weniger aufgrund der Annahme einer allzu leicht beeinflussbaren Masse ausgeschlos111 V. Packard: Die geheimen Verführer, S. 10. Packard formuliert aus einer anderen Perspektive – nämlich die des Kritikers – ähnliche Überlegungen wie Holzschuher. 112 V. Packard: Die geheimen Verführer, S. 39. 113 Ebd., S. 35. 158
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sen, sondern vielmehr auf der Basis der Beobachtung der Werbemaßnahmen. Packard beschreibt weniger den Rezipienten der werbetechnischen und massenmedialen Beeinflussung – das macht er auch – als deren Generator. Er untersucht die Methoden der Werbetreibenden und zeigt auf, mit welcher Vehemenz sie eine Beeinflussung versuchen. Es ist diese von Packard entdeckte Totalisierung der Anstrengung, die den Erfolg der Beeinflussung bedingt, weil ein Widerstand gegen ein solches Aufgebot an Techniken kaum möglich scheint. Er zielt also nicht auf eine Denunzierung der Masse, sondern die Entlarvung der Werbetreibenden. Seine angestrebte Enthüllung der Werbetechniken lässt diese gerade als mächtig und wirkungsvoll erscheinen. Die Manipulatoren des Konsums wendeten immer verfeinertere und extreme Techniken an, um das Kaufverhalten des Rezipienten zu steuern. Es scheint jedoch gleichzeitig, dass das Ziel ihrer Beeinflussung nicht so leicht zu erreichen ist, während im Zuge der Beobachtung der sowjetzonalen Propaganda davon ausgegangen wird, dass der westdeutsche Zuschauer ohne Probleme zu beeinflussen sei. Die Verschärfung des Problems wird so bei der Werbung auf der Seite der Manipulatoren entdeckt. Dies zeigt sich anhand eines Kommentars zu bundesrepublikanischen Wahlwerbesendungen im Fachorgan epd/Kirche und Fernsehen. Der Artikel mit dem Titel Abschreckend und lehrreich: Die Wahlsendungen. Je ›fernsehgemäße‹, desto bedenklicher‹ [sic!] ist eindeutig durch Packards Studie informiert. Er untersucht wie Packard die ›Mittel der Verführung‹, die »an das Unbewußte« gerichtet seien, und die »TV-WerbeTaktik« mit ihren »psychologischen Möglichkeiten« für die »MassenBeeinflussung«.114 Auch hier wird wieder das Problem der »unterschwelligen« Botschaft angesprochen: Die Werbesendungen der Parteien tarnten sich als Information, obgleich sie nur vom »Überredungseifer«115 zeugten. Trotz der Tarnung und des Überredungseifers bliebe der Effekt jedoch ungewiss und es bliebe fraglich, ob der Zuschauer sich lenken lässt. Aller »werbepsychologisch so perfekt gesteuerter Aufwand wird ins Blaue hinein aufgeboten, denn niemand weiß, ob eine nennenswerte Anzahl von Wählern sich durch solche Sendungen überhaupt dazu bestimmen läßt, diese oder jene Partei zu wählen.«116 Dass die Wahlsendungen also so bedenklich seien – wie der Titel anzeigt –, liege an dem werbetechnischen Aufwand und nicht am Zuschauer, der eben der Manipulation nicht zwingend aufsitze. Der Zuschauer ist hier also nicht gleichermaßen hilflos, wie angesichts der propa114 F[riedrich] W[ilhelm] H[ymnen]: »Abschreckend und lehrreich: Die Wahlsendungen. Je ›fernsehgemäßer‹, desto bedenklicher‹«, in: epd/Kirche und Fernsehen 34 (1965), S. 1. Der Artikel fasst die Wahlsendungen als eine Hybridbildung aus »Markenartikel-Werbung« und politischer »Propaganda« auf. 115 F.W. H[ymnen]: Abschreckend und lehrreich, S. 1. 116 Ebd. 159
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gandistischen Versuche der DDR. Trotzdem wird auch hier ein Schutz des Zuschauers angestrebt. Dieser Schutz wird aber vor allem in Anbetracht der angewandten Mittel notwendig, die einen Eigenschutz des Zuschauers immer unwahrscheinlicher machen.117 Dabei identifiziert der Artikel das eigentliche Moment der Problematik im Fernsehen: Je›fernsehgemäßer‹, desto bedenklicher‹. Ein Vergleich mit dem Hörfunk zeige, dass dieser nicht zu den gleichen Mechanismen neige. Packard dagegen beschränkt seine Analyse nicht auf das eine Medium, sondern erkennt überall den Versuch der Massenbeeinflussung. Gleichgültig welches Medium fokussiert wird, Massenbeeinflussung sei ein Problem der Massenmedien. Diese stellten ein potentes Mittel für die Manipulatoren bereit. Mit ihrer Hilfe werde die Massenlenkung versucht. Ist in den 1950/60er Jahren von Massenlenkung die Rede, so wird auch die Funktionalisierung der Massenmedien dabei thematisiert. Massenmedien werden unter dem Verdacht der Massensteuerung beobachtet. Massenlenkung und -medien scheinen so immer aufeinander verwiesen.
117 Beispielhaft ist hier die Idee der Unterbewusstseinswerbung. Sie wird als ein Technik vorgestellt, »gegen die sich die Menschen ebensowenig wehren können wie in Orwells Roman ›1984‹ gegen die Kontrolle des ›Großen Bruders‹.« Anonymus: »Appell ans Unterbewußtsein. Fernsehen«, in: Der Spiegel 14 (1958), S. 61-63, hier S. 61. In einem anderen Artikel wird jedoch darauf hingewiesen, dass »die Wirksamkeit der Methode umstritten« sei. Anonymus: »PS ins Gehirn. USA«, in: Der Spiegel 45 (1966), S. 164. In diesem Artikel wird auch auf Packard verwiesen, der »das Gehirn-Waschmittel vollends in Mißkredit« gebracht habe. Ebd. Vgl. zur Unterbewusstseinswerbung V. Packard: Die geheimen Verführer, S. 58f. 160
T E I L IV B E O B A C H T U N G S P R O B L E M II: GESELLSCHAFTLICHE SELBSTBESCHREIBUNG In den bisherigen Ausführungen wurde immer wieder thematisiert, wie die Massentheorie ihren Fokus verschiebt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts steht zunehmend die Massengesellschaft im Zentrum der Beobachtung. Das Theorem der Masse dient spätestens seit Le Bons Massenpsychologie der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Masse ist einer der zentralen Begriffe, anhand derer die Beobachtung des Ganzen der Gesellschaft gelingen soll. Mit der Benennung der Gesellschaft als Masse ist eine bestimmte Erkenntnis über diese verbunden: Gesellschaftliche Selbstbeschreibung findet in der Masse-Semantik ihren Ausdruck. Der Begriff der Selbstbeschreibung meint das Problem, wie eine Gesellschaft die Beobachtung ihrer selbst organisiert, auf welche Weise sie Beschreibungen über ihre Verfasstheit anfertigt, beziehungsweise wie sie Aussagen über sich produziert und dies angesichts der Grundannahme, »daß keine Gesellschaft sich selbst mit ihren eigenen Operationen erreichen kann. Die Gesellschaft hat keine Adresse.«1 Dass die Gesellschaft nicht adressierbar ist, meint zweierlei: Zum einen kann die Gesellschaft nicht mit sich kommunizieren, sie ist sich selbst kein möglicher Adressat, das heißt, die Kommunikation kann sich nicht an die Gesellschaft richten. Zum anderen kann sie nur unter zu Hilfenahme einer imaginären Einheitskonstruktion über sich selbst Aussagen produzieren.2 Will die Gesellschaft sich selbst zum Erkenntnisobjekt werden, so kann sie dies nur unter Verwendung von Hilfskonstruktionen. Zu fragen ist dann, wie die Gesellschaft Erkenntnisse über sich selbst gewinnt. Das Problem der Adresse thematisiert also, wie mit und wie über die Gesellschaft gesprochen wird. Damit verbunden ist auch immer die Frage danach, wer sich als Sprecher einsetzt, also nach dem vermeintlichen Subjekt der Kommunikation. Im Folgenden soll es nun genau um diese Adressierungsproblematik und die damit verbundenen Hilfskonstruktionen gehen. Sowohl die die Fernseh- als auch die Massenanalyse bieten hier Lösungsstrategien. Dabei ist es gerade die Kombination aus Masse und Medi1 2
N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 866. Vgl. dazu auch den Begriff der Nation bei N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1047-1055. 161
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um, die hier greift. Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung der 1950/60er Jahre richtet sich gleichermaßen an der Beobachtung des Fernsehens wie der Masse aus. Beide Elemente verstärken sich so gegenseitig. Zunächst wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie das Fernsehen eine Adressierungsmöglichkeit schafft. Es produziert dabei nicht nur die Möglichkeit anhand des Begriffs der Masse über die Gesellschaft zu kommunizieren. Darüber hinaus bringt der Diskurs über das Fernsehen auch die Hoffnung hervor, die Gesellschaft kommunikativ erreichen zu können. Das Fernsehen erscheint als Möglichkeit, das Problem der Adressierung in beiderlei Hinsicht zu lösen. Mit seiner Hilfe, so die Erwartung, kann mit und über die Gesellschaft gesprochen werden. Dabei – so wird sich zeigen – sind beide Ebenen miteinander verbunden, denn dadurch, dass die Gesellschaft durch das Fernsehen erreichbar scheint, wird das neue Medium zum ausgezeichneten Objekt, um Aussagen über die Gesellschaft zu produzieren. Man geht in den 1950/60er Jahren von einer kommunikativen Totalinklusion durch das Fernsehen aus und meint infolgedessen, dass sich anhand des Fernsehens die Gesellschaft beobachten lässt. Insofern die gesamte Gesellschaft als vom Fernsehen betroffen angesehen wird, erhofft man sich von der Beobachtung des Fernsehens einen soziologischen Erkenntnisgewinn. Die Idee ist dann die, dass eine Beobachtung des Fernsehens ausreicht, um Wissen über die Gesellschaft zu gewinnen, da ja alle in dessen Einflussbereich stehen. Die hier geäußerte These ist also, dass das Fernsehen das spezifische Objekt ist, anhand dessen in den 1950/60er Jahren eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung versucht wird. Es ist der Anlass, an dem gesellschaftliche Selbstbeschreibung kondensiert und zur Artikulation kommt. Beobachtungen des Fernsehens werden zu Aussagen über die Gesamtgesellschaft erhoben. Einblicke in das als neu ausgewiesene Medium erscheinen als beschreibungsrelevant für den gesamten Bereich des Sozialen.3 Dabei interessiert dann weniger das Medium im Sinne seiner technischen Seite als die Funktion, darin einen Kommunikationsanlass zu bieten, um Aussagen über den Gesellschaftszustand zu produzieren. Das Fernsehen bedeutet die Möglichkeit, den Status der Gesellschaft zu untersuchen und Masse ist der Begriff, der für die Bezeichnung der gesellschaftlichen Verfasstheit verwendet wird. Im weiteren geht es also zunächst um die Etablierung des Zusammenhanges von Fernsehen und Gesellschaft, bevor die spezifische Strukturierung, die die Semantik der Masse in diesen Komplex einführt, betrachtet wird. Massen- und Fernsehdiskurs bilden dabei eine Einheit, die die gesell3
Vgl. zu dieser These auch das Kapitel Der Zauberspiegel der Gesellschaft. Dort wurde erläutert, inwiefern das Fernsehen in den 1950/60er Jahren als Symptom gesellschaftlicher Veränderung verstanden wird. 162
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schaftliche Selbstbeschreibung der frühen Bundesrepublik organisiert. Während Fernsehen das Objekt ist, anhand dessen sich die Gesellschaft beobachtet, ist Masse der Begriff, der für sie gefunden wird. Vor einer Erörterung des Komplexes Gesellschaft – Fernsehen – Masse steht die Klärung des Theorems der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung: Wie bereits angedeutet, leidet die gesellschaftliche Zustandsbeschreibung an der Nicht-Adressierbarkeit der Gesellschaft, das heißt an ihrer Unerreichbarkeit. Wie Luhmann anmerkt, entlehnt er die Formulierung von der Gesellschaft, die sich selbst unzugänglich ist, Peter Fuchs’ Titel Die Erreichbarkeit der Gesellschaft und seiner These von der Unmöglichkeit einer konkurrenzfreien gesellschaftlichen Selbstthematisierung.4 Begründet ist dieser Mangel, laut Fuchs, vor allem in der Sozialstruktur der funktionalen Ausdifferenzierung. Zum einen lässt sich eine so organisierte Gesellschaft nicht als Einheit anschreiben, so dass Beobachtungen sich nur auf Teilsysteme beziehen, die aber nicht auf die Gesamtgesellschaft übertragbar sind. Anstatt des Beobachtungsobjektes Gesellschaft lassen sich nur Ausschnitte identifizieren. Zum anderen bleibt jede Beobachtung immer perspektivisch, da sie lediglich die Reflexion eines Funktionssystems prozessiert, aber eben nicht die der Totalität der Gesellschaft, die nicht einlösbar ist. In Folge dessen ist die Beschreibung meist inkompatibel mit anderen Beschreibungen und so letztlich kontingent. Auf diese Weise kann nicht die gesamte Gesellschaft mit der Beschreibung erfasst werden und jeder Anspruch darauf kann durch andere Beobachtungen mit gleicher Gültigkeit zurückgewiesen werden.5 Es fehlt ein Objekt der Beobachtung ebenso wie eine Position, von der aus die Gesellschaft konkurrenzlos beschrieben werden könnte, denn die »funktional-differenzierte Gesellschaft operiert ohne Spitze und Zentrum.«6 Das Äquivalent einer solchen Spitze, wie sie Bestandteil der stratifizierten Gesellschaft ist, gilt es auszumachen, um die Gesellschaft einwandfrei beschreiben zu können. Beides – Subjekt und Objekt – muss im Diskurs erst geschaffen werden. Gesellschaftliche Selbstbeschreibung meint demnach die Bewältigung eines Beobachtungsproblems, das sich aus dem Mangel eines Objektes wie Subjektes der Beobachtung zusammensetzt. Laut Luhmanns Formulierung ist mit »dem Begriff der imaginären Konstruktion = Selbstbeschreibung [...] eine Position geschaffen, auf die man übersetzen kann, wenn man auf das Kognitionsschema Subjekt/Objekt ver-
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Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 866. Vgl. P. Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 67-75. Damit ist nur einer aus einer Vielzahl von gesellschaftsstrukturellen Gründen genannt, die zur Unmöglichkeit einer konkurrenzfreien Beschreibung führen. Sozialstrukturelle Aspekte sollen hier aber nur am Rande interessieren, da die Arbeit sich auf Beschreibungsprobleme konzentriert. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 803. 163
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zichtet.«7 Die Unterscheidung Subjekt/Objekt ist nicht erklärungsrelevant für Kognition, die ohne Zugriff auf eine externe und objektiv gegebene Wirklichkeit operiert. Diese kann nur in Form einer internen Unterscheidung prozessiert werden, welche eine Leistung des Akts der Beobachtung ist. Auf diese Weise operiert auch das System Gesellschaft, das als Gesamtheit der Kommunikation definiert ist. Damit gehört jede Beschreibung, die von der Gesellschaft angefertigt wird, zum System der Gesellschaft, denn sie ist Kommunikation. Die Struktur der Beobachtung kennt damit kein Außen, das als exklusive Position im Beobachtungsprozess bereitsteht. Stattdessen müssen solche Strukturen in der Beobachtung geschaffen werden. Die Absonderung eines Außen ist dabei notwendige Voraussetzung des Beobachtungsprozesses, denn ohne Außen fehlt die andere Seite, die benötigt wird, um Form zu sein und damit Beobachtbarkeit zu ermöglichen.8 Dass mit dem Theorem der Selbstbeschreibung, wie Luhmann sagt, eine Position bezeichnet ist, die das Kognitionsschema ersetzt, heißt aber nicht, dass die Unterscheidung Subjekt/Objekt nicht als semantische Ressource für eine Beschreibung der Gesellschaft bereit steht. Die Subjekt/ObjektDifferenz gehört nicht zur Kognition, wie Luhmann sie theoretisiert, sondern zur Semantik der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung.9 Beides ist Bestandteil beziehungsweise Effekt des Diskurses und der Begriff der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung meint genau die Herausbildung einer solchen Struktur, die dann Beobachtungen koordiniert. »Es kann dann nicht mehr um die in irgendeiner Hinsicht einzig richtige Selbstbeschreibungsoperation in der Gesellschaft gehen, sondern nur noch um die Konditionen sozialstruktureller Art [...], unter denen bestimmte exklusiv gesetzt werden. Es kommt dann nicht mehr auf die Wahrheit irgendeiner Selbstbeschreibung an, sondern auf die Bedingungen ihrer sozialen [...] Gültigkeit. Gesellschaftsweite Gültigkeit heißt: Konkurrenzlosigkeit, und daraus folgt sofort: daß die Stelle, an denen solche Beschreibungen angefertigt werden, ausgezeichnete Stellen sein müssen.«10
Der Mangel einer Beobachtungshoheit wird kompensiert, indem der Diskurs sich entsprechend einrichtet und die Selbstbeschreibung auch immer Positionen der Beschreibung mitprozessiert. Fuchs selber verweist hierbei auf die von ihm sogenannten ›Einheitsformeln‹11, mit denen die Gesellschaft sich 7 8
Ebd., S. 867. Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 144. 9 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 867-880. 10 P. Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 64f. 11 Vgl. ebd., S. 14, sowie S. 89-100. 164
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selbst zu erfassen versucht und anhand derer sie Eigenbeobachtungen zu leisten erhofft. Sowohl das Fernsehen als auch der Begriff der Masse lassen sich hier einsetzen. Die ›Masse‹ stellt eine solche Einheitsformel bereit und konditioniert, wie noch zu zeigen sein wird, eine bestimmte Beobachtungsstruktur. Das Fernsehen bietet zwar nicht auf Anhieb eine solche Einheitsformel – diese muss erst als Einheit der potentiellen Adressaten eingerichtet werden – aber als vermeintlich klares Objekt vermittelt es den Eindruck von Beobachtbarkeit. Diese kann sich hier inszenieren. So gibt sich die Gesellschaft mit dem Fernsehen ein Objekt, an dem sie Einblicke in ihre eigenen Zusammenhänge zu gewinnen versucht. Zusammengefasst: Die Gesellschaft als Ganze entzieht sich zwar der Beobachtbarkeit, aber das Fernsehen und die Masse können als Strategien aufgefasst werden, dieses Defizit zu kompensieren.
1 Die Funktion des Fernsehens: Inklusion Die Frage ist nun, wie das Fernsehen als eine ausgezeichnete und gültige Stelle der Gesellschaftsbeschreibung identifiziert wird. Im Rahmen der These von der Kontingenz gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen und Eigennomenklaturen, die jeweils gegenüber anderen Erläuterungsversuchen keine exklusive Definitionsmacht beanspruchen können, erscheint auch der Zugriff auf die Gesellschaft auf dem Umweg über das Fernsehen als kontingent. Seine spezifische Konzeption in den 1950er Jahren produziert aber einige Evidenzen, die es als herausragendes Objekt für solche Beschreibungsversuche des sozialen Felds prädestinieren. Das Fernsehen – und im übrigen zuvor auch andere Verbreitungsmedien – werden mit der Idee einer technischen Erreichbarkeit der Gesellschaft ausgestattet. Es herrscht die Vorstellung, das Fernsehen biete die Möglichkeit, die Gesellschaft zu adressieren, das heißt mit ihr zu kommunizieren. Es entwickelt sich die Vorstellung, es handele sich um eine Technik, die sich »an alle«12 richte. Über das Fernse-
12 K. Holzamer: Ein Optimum, S. 133. Ein identisches Potential entdeckt man zuvor bereits in anderen Verbreitungsmedien. Duenschmanns Ängste, die deutsche Nation werde Opfer französischer oder amerikanischer Filmeinflüsse, deutet auf die Idee einer kommunikativen Erreichbarkeit der Gesellschaft hin. Die gleiche Idee liegt Münsterbergs filmästhetischem Projekt zugrunde. Vgl. das Kapitel Transfers. Hans Bredow führt im gleichen Jahrzehnt (1919) die Übertragung von Musik und Wortbeiträgen über einen Röhrensender mit der Möglichkeit eines ›Rundfunks an alle‹ ein. Ähnlich definiert Rudolf Arnheim den Hörfunk, denn er erweist sich, »seinem technischen Charakter nach, sofort als eine an alle gerichtete Darbietung [...].« Rudolf Arnheim: »Rundfunk als Hörkunst« (1936), in: ders.: Rundfunk als Hörkunst, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 7-178, hier S. 149. Die seit Bredow gern benutze Formel ›an alle‹ be165
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hen kann die Gesellschaft angesprochen werden – so kündigt es auch der Fernsehintendant des NWDR, Werner Pleister, in seiner Eröffnungsrede zum Start des regelmäßigen Programms 1952 an: »Im Strahlungsbereich unserer Sender wohnen über 10 Millionen Menschen. Wir denken, daß die Geräte bauende Industrie für die große Möglichkeit gut vorbereitet ist und durch die Herstellung guter und preiswerter Empfänger möglichst viele von Ihnen in die Lage versetzt, uns zuzuschauen, dabei zu sein mit Auge und Ohr, wenn wir Ihnen das Geschehen der Welt [...] in Ihre Wohnung bringen.«13
Auch wenn die Kostenfrage für den einzelnen Zuschauer und die Sendereichweite der gesellschaftsweiten Teilnahme am Fernsehen noch entgegen stehen, ist das Ziel klar formuliert: möglichst alle sollen angesprochen werden, beziehungsweise sie werden in der Zukunft angesprochen. Die hier formulierte Utopie von den vielen Millionen Zuschauern – die man dann in den 1960er Jahren als erfüllt sieht14 – lässt das Fernsehen als gesellschaftlichen Faktor erscheinen. Es herrscht die Vorstellung, das Fernsehen könne die Gesellschaft als Ganzes synchron adressieren. Was Pleister hier als Projekt formuliert, wird bald als Tatsache präsentiert. Die soziale Reichweite des Fernsehens wird diskursiv inszeniert. Beispielhaft hierfür ist die Berichterstattung über die regelmäßig stattfindenden Sportübertragungen, die die integrative Funktion des Fernsehen ansichtig machen sollen. Der Sport als sogenannte Massenveranstaltung versieht die gesellschaftliche Affizierung durch das Medium mit Plausibilität, indem sich mit zunehmender Verbreitung des Fernsehens die Sportstätten leeren.15 Die ehemaligen Stadionbesucher sind demnach zu Fernsehzuschauern geworden. Der Argumentationszusammenhang lautet, dass das Fernsehen die Ursache für den Mangel an Zuschauern auf der Tribune sei und deren Besetzung ließe sich eindeutig anhand der verkauften Eintrittskarten ablesen. Der leere Spielfeldrand verweist direkt auf die erreichten Empfänger in den Wohnungen (beziehungsweise Gaststätten), denn diese besuchten ehemals die Stadien. Die Menge der Sportbegeisterten, deren Ansammlungen in der Vergangenheit in den Sportstätten zu beobachten war, hat sich – so die herrschende Argumentation – vor die Fernsehgeräte im eigenen Heim zurückgezogen. Was in den Stadien fehlt, wird an den Empfangsgeräten vermutet. Sportübertragungen gelten als ›Straßenfeger‹ und in den 1960er Jahren titelt zeichnet deutlich, dass dem Hörfunk die Funktion zugesprochen wird, die Gesellschaft adressierbar zu machen. 13 W. Pleister: Das geheimnisvolle Fenster in die Welt geöffnet, S. 7. 14 Vgl. dazu zum Beispiel Anonymus: »Betr.: Fernsehen. Spiegel-Verlag/Hausmitteilung«, in: Der Spiegel 49 (1968), S. 5. 15 Auch hier wird also – wie in der Massentheorie – als Referenzrahmen eine lokale und zeitlich begrenzte Menschenansammlung gewählt. 166
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Der Spiegel bezüglich einer solchen Sendung mit »Volk ans Gerät«16 und zeigt so an, dass die ganze Nation angesprochen ist. Im Titel klingt die totale ›massenkommunikative‹ Mobilmachung an. Gleichzeitig wird auf den Bildschirmen in den Wohnungen jedem einzelnen an- und damit einsichtig, dass im Stadion die Zuschauer fehlen. Das Diktum vom Volk, das sich vor den Empfangsgeräten versammelt, markiert die Idee, dass das Fernsehen als Möglichkeit der Totalinklusion erscheint. Beschreibungen, wie die anlässlich der Sportübertragungen angefertigten, produzieren die Vorstellung, das Fernsehen beinhalte das Potential, die gesamte Gesellschaft zu adressieren. Diese Idee einer Totalinklusion durch das Fernsehen bietet dann die Basis, um gesellschaftliche Selbstbeschreibungen an diesem Objekt zu proben. Das heißt, erst eine bestimmte allinkludierende Adressierungsökonomie, die im Fernsehen entdeckt wird, prädestiniert das neue Beobachtungsobjekt als Attraktor von Gesellschaftsbeschreibungen. Durch die Inklusionsthese erscheint das Fernsehen im Rahmen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung relevant. Da vermeintlich alle am Fernsehen teilnehmen, bedeutet die Beobachtung des Fernsehens die Möglichkeit, über die Gesellschaft zu sprechen. So organisiert das Fernsehen die Adressierung der Gesellschaft im doppelten Sinne: Via Fernsehen kann mit und über die Gesellschaft gesprochen werden. Letzteres manifestiert sich dann in der Rede von den Massen(medien), wie im Folgenden zu sehen sein wird. Geht man von dieser Überlegung der gesellschaftlichen Adressierung durch Medien aus, so bietet das Fernsehen sogar ein besonders leicht handhabbares Objekt für die Beobachtung der Gesellschaft. Schließlich reicht es so aus, ›das Fernsehen‹ zu beschreiben, um Aussagen über die Gesellschaft zu gewinnen. Die Argumentation lautet dann, die Gesellschaft sei vom Fernsehen affiziert und damit wird das Fernsehen zur Ursache von gesellschaftli16 Anonymus: »Volk ans Gerät. Fernsehen«, in: Der Spiegel 44 (1964), S. 61f. Die gesellschaftliche Affizierung durch die Sportübertragung wird im Spiegel anhand von Anekdoten plausibilisiert. Angesichts eines HSV-Spiels wird berichtet, wie in einzelnen Betrieben verschiedener Sparten und in unterschiedlichen Bundesländern die Produktion eingestellt wird, damit die Angestellten die Ausstrahlung verfolgen können. Vgl. Anonymus: »Uwes Bein. Volksfest«, in: Der Spiegel 20 (1961), S. 17f., hier S. 17. Der Spiegel-Artikel zur FußballWeltmeisterschaft 1966 geht ähnlich vor. Hier werden Lore Lorentz’ Sehgewohnheiten hervorgehoben, um zu verdeutlichen, dass auch Frauen – gemeinhin als sportdesinteressiert eingeschätzt – teilnehmen und von dem Ereignis nicht ausgeschlossen sind. Die Konsequenz: »Für den Ersatzkrieg [...] auf Englands Rasen [...] machten die Deutschen total mobil. Gegen 19:30 Uhr [...] erstarben am letzten Dienstag Deutschlands Großstädte. Gleich einem biologischen Kampfstoff verödete der Fernsehbazillus Frankfurt, Berlin, Düsseldorf und Hamburg zu Steinwüsten.« Anonymus: »Willie ruft. Fernseh-Fussball«, in: Der Spiegel 30 (1966), S. 25f., hier S. 25. Exemplarisch für die Vorstellung einer Erreichbarkeit aller durch das Fernsehen ist gemeinhin die Krönung Elisabeths II. 167
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chen Phänomenen. Die Betrachtung des Auslösers oder der Ursache führt erkenntnistechnisch zur Wirkung, dem gesellschaftlichen Zustand. Jeder weitere Versuch eines Blicks auf die Gesellschaft kann nach dieser Argumentation ausfallen, da Wissen über die Verfasstheit des Sozialen durch die Betrachtung des Fernsehens vorliegt. Das Fernsehen sorgt so für Komplexitätsreduktion im Feld gesellschaftlicher Selbstbeschreibung.17 Ein Blick auf den ›Zauberspiegel‹ reicht aus, um Wissen über die Gesellschaft zu gewinnen und damit ist auch ihre Unerreichbarkeit scheinbar zu überwinden. Wie komplexe Argumentationen im Zuge der Medienbeobachtung ausfallen, zeigt Michael Schenk anhand der frühen US-amerikanischen Massenkommunikationsforschung. Komplexitätsreduktion leistet hier das Stimulus-Response-Modell, also eine psychologische Variante der UrsacheWirkungsformel. Das Modell geht zunächst davon aus, »dass sorgfältig gestaltete Stimuli jedes Individuum der Gesellschaft über die Massenmedien auf die gleiche Weise erreichen, jedes Gesellschaftsmitglied die Stimuli in der gleichen Art wahrnimmt und als Ergebnis eine bei allen Individuen identische Reaktion erzielt wird.«18
Auf der Basis dieses einfachen Ursache-Wirkungsschemas wird davon ausgegangen, dass Aussagen über die Ursache auch Aussagen über die Wirkung implizieren. Eine Beobachtung der Wirkung, das heißt, der Reaktion des oder der Rezipienten, kann so ausbleiben. Schließlich weiß der Beobachter der Ursache auch über die Wirkung Bescheid, diese leitet sich eindeutig aus dem Stimulus ab. Auf dieser Grundlage, so Schenk, bleibt bis zum Ende der 1950er Jahre »die Untersuchung der Effekte des Inhalts auf das Publikum [...] unterentwickelt.«19 Die Erforschung des Rezipienten wird mit Verweis auf das Modell vernachlässigt. Schenk zeigt so auf, wie die Implementierung des Ursache-Wirkungsschemas in die Medienbeschreibung die Beobachtung dahingehend organisiert, dass einige Felder aus dem Blick geraten. Die direkte Beobachtung der durch das Fernsehen vermeintlich Vergesellschafteten ist so überflüssig. Allein die Verbreitungsmedien und ihre Inhalte wer-
17 Insofern könnte man vom Fernsehen auch als Quasi-Objekt sprechen, denn es »bietet sich in ausgesuchter, auffälliger Form [...] der Wahrnehmung dar« und »hebt hervor, daß [...] andere Möglichkeiten ausgeschlossen, also Kontingenz auf Notwendigkeit reduziert wird.« Das Quasi-Objekt ist eine »Kommunikationsvermeidungskommunikation« und wird somit »nicht als Kommunikation vollzogen [...].« In der Wahrnehmung des Quasi-Objekts Fernsehens realisiert sich also gleichsam die gesamte Argumentation, die so ausfallen kann. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 235f. 18 Michael Schenk: Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr 20022 (1987), S. 24. 19 Ebd., S. 25. 168
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den zum Untersuchungsobjekt. Eine Komplexitätsreduktion wird erreicht, indem von der Medienbeobachtung auf die Wirkungen beim Rezipienten geschlossen und so die Untersuchung des Empfängers umgangen wird. Das von der Massenkommunikationsforschung verwendete Verfahren zur Komplexitätsreduktion findet sich auch im bundesrepublikanischen Mediendiskurs der 1950/60er Jahre. Die Debatten um das Fernsehen beinhalten Aussagen über die Gesellschaft. Selbst der bloße Inhalt einer Sendung kann zum Anlass genommen werden, um gesellschaftliche Probleme aufzuwerfen: Personen wie »Howland und Maegerlein [sind] gemeinsamer Nenner menschlichen Zusammenlebens«20 – so fasst es Der Spiegel zusammen. Die Äußerungen zum Fernsehen versuchen sich im gleichen Zuge an einer Zustandsbeschreibung des Sozialen. Dieser Zusammenhang ist zu rechtfertigen auf der Grundlage, dass die Inhalte die Einstellung des Zuschauers direkt beeinflussen und das Fernsehen die gesamte Gesellschaft kommunikativ erreicht.21 Ein Standardthema in diesem Zusammenhang sind dann auch Mutmaßungen über Medienwirkungen, die teilweise ganz im Sinne des StimulusResponse-Modells ausfallen – auch ohne das Schema explizit zu benennen. Auch in der frühen Bundesrepublik herrscht die Vorstellung, ein vom Fernsehen verbreiteter Stimulus führe zu Reaktionen beim Zuschauer, die sich eindeutig aus dem Stimulus ergäben. Und vom Inhalt einer Sendung kommt man über deren angenommene Effekte direkt zu gesamtgesellschaftlich relevanten Erkenntnissen, denn darüber hinaus nimmt man ja an, dass das Fernsehen eine Vielzahl von Personen erreiche. Das Fernsehen wird als Multiplikator der vermuteten Effekte angesehen und damit werden seine Inhalte ein per se soziales Ereignis. Indem man über den Inhalt und der damit verbundenen Wirkungsweise des Fernsehens spricht, kann man im gleichen Zuge Aussagen über die Gesellschaft produzieren. Die der technischen Apparatur zugeschriebene Reichweite behauptet die Möglichkeit, die Gesellschaft mit ihr zu erfassen. Eine solche Konzeption des Fernsehens macht es zum ausgezeichneten Objekt, um über die Gesellschaft sprechen zu können, denn die Zuschauerschaft erscheint weitgehend mit der Gesellschaft identisch. Aussagen über das Medium prozessieren also auch gesellschaftliche Selbstbeschreibungen. Der Argumentationszusammenhang führt vom Sendungsinhalt direkt zum gesellschaftlichen Problem. Beispielhaft ist hier die Auseinanderset-
20 Anonymus: Betr.: Telemann, S. 3. Vgl. auch das Kapitel Der Zauberspiegel der Gesellschaft. 21 Die Begründung lässt sich natürlich auch umkehren: Es ist der Normalgeschmack und das darin abgebildete niedrige Niveau, das die Figuren auf den Bildschirm ruft. Eine Überlegung, die E. Kurt Fischer (»Vom Massengeschmack«, in: Rufer und Hörer 7 (1952/53), S. 509-512) vorstellt, aber ablehnt. 169
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zung um die Ausstrahlung einer Fernsehproduktion des Stückes Lysistrata. Diese 1960/61 debattierte Produktion kommentiert Der Spiegel kritisch, indem er darauf hinweist, mit welcher Ängstlichkeit die Verantwortlichen der Sendeanstalten den Inhalt begutachten. Diese Ängstlichkeit resultiert aus der Annahme, dass der »von anzüglicher Thematik«22 bestimmte LysistrataStoff zu einer moralisch-sittlichen Fehlorientierung des Zuschauers führe.23 Die Frivolität, die die bundesdeutschen Intendanten in der Sendung erkennen, produziert demnach entsprechende Effekte beim Rezipienten, weswegen einige Sendeanstalten die Ausstrahlung unterbinden. Doch nicht nur eine moralische, auch eine politische Fehlgesinnung fürchten die Intendanten durch die Fernsehproduktion beim Zuschauer auszulösen. Dabei wird, wie gesagt, allein auf der Basis des Sendungsinhalts argumentiert und daraus auf die Wirkung geschlossen. Dieses Vorgehen kritisiert Martin Morlock in seiner Spiegel-Kolumne Telemann indirekt, indem er sich selbst als Zuschauer der Lysistrata-Sendung beobachtet. Er beschreibt also nicht den Sendungsinhalt, sondern seine eigene Reaktion darauf und stellt fest: »keine Sinnesregungen« und »keine politischen Fehl-Affektionen«.24 Unter dem Pseudonym Telemann untersucht der Autor im satirischen Selbstversuch den Zuschauer und kann keinen direkten Zusammenhang zwischen Stimulus und Response entdecken. Schenk macht nicht nur darauf aufmerksam, dass die Massenkommunikationsforschung unter Rückgriff auf das Stimulus-Response-Modell die Untersuchung des Rezipienten vernachlässigt. Er zeigt weiterhin auf, dass mit zunehmender Verunsicherung des Modells das soziologische Konzept der Masse aufgerufen wird. Spezifische Charakterisierungen der Masse sind kompatibel mit dem Reiz-Reaktions-Schema und stabilisieren es auf diese Weise. So kommt, laut Schenk, der Massentheorie eine entscheidende Rolle bei der Plausiblisierung des eindeutigen Zusammenhanges von Reiz und Reaktion zu:
22 Anonymus: »Ehestreik gegen Atomtod. Lysistrata«, in: Der Spiegel 51 (1960), S. 83f., hier S. 83. 23 So »bekundete WDR-Fernseh-Direktor Dr. Lange: ›Mit meiner Frau zusammen würde ich den Fernsehfilm nicht sehen wollen. [...].‹« Anonymus: Ehestreik gegen Atomtod, S. 84. Und »der bayrische Fernseh-Chef und FernsehKoordinator Dr. Clemens Münster [stellt fest]: ›Das sittliche Empfinden der Zuschauer wird verletzt [...].‹« Anonymus: »Na sowas. Kortner«, in: Der Spiegel 5 (1961), S. 50-61, hier S. 50. Vgl. zur Lysistrata-Diskussion auch Torsten Hahn: »Die Zeit nach Sendeschluss. Der Verdacht als Medium mitternächtlichen TV-Konsums«, in: Claudia Gerhards (Hg.), Fernsehskandale, Konstanz: UVK 2005, S. 117-128. 24 Martin Morlock: »Münster aus Stein. Telemann«, in: Der Spiegel 5 (1961), S. 52. 170
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»Da die gleichförmige Reaktion der Individuen auf die Stimuli noch durch soziale Faktoren beeinflusst hätte werden können, musste die Stimulus-Response-Theorie noch durch eine entsprechende soziologische Theorie abgestützt werden, die einen eventuellen Einfluss der ›sozialen Ordnung‹ auszuschalten vermochte. Die Theorie, die sich dazu anbot, war die Theorie der Massengesellschaft.«25
Im Hintergrund steht hierbei das Problem, wie die gleichförmige Reaktion auf einen Reiz behauptet werden kann. Das Modell der Massenkommunikationsforschung besagt, dass ein Stimulus die immer gleiche Reaktion bei verschiedenen Individuen auslöst. Jedoch führt diese Ausgangsüberlegung zu der Frage, warum Individuen nicht auch auf andere als massenmedial vermittelte Reize reagieren sollten. Damit kann nicht von einem Stimulus automatisch auf die Reaktion geschlossen werden, denn dafür müssten alle beeinflussenden Variablen bekannt sein. Alle gesellschaftlichen Faktoren, mit denen ein Individuum in Berührung kommt, müssten erfasst werden, um präzise Aussagen über die Einstellung und das Verhalten entwickeln zu können. Spätestens Paul Lazarsfeld widerlegt in seiner 1940 durchgeführten People’s Choice Study die Grundannahme des Reiz-Reaktions-Schemas, indem er eben keinen automatischen Zusammenhang zwischen Stimulus und Response erkennt. In seiner Theorie des Two-Step-Flow of Communication geht er davon aus, dass die Meinungsbildung des Individuums nicht ausschließlich aufgrund von massenmedial verbreiteten Reizen geschieht, sondern sich im Kontakt mit dem sogenannten opinion leader vollzieht. Die von Lazarsfeld eingeführte intervenierende Variabel bricht den StimulusResponse-Zusammenhang insofern auf, als multiple Stimuli angenommen werden. Die Vermehrung der Zahl der beeinflussenden Reize problematisiert die erkenntnistechnische Ableitung des Effekts aus der Ursache.26 Das heißt auch: Mediale Inhalte sind nicht auch automatisch soziale Ereignisse. Die Theorie der Masse schließt diesen Zusammenhang wieder, weil sie die immer gleiche Reaktion auf einen gegebenen Reiz behauptet. Die Lösung des Problems bietet das Theorem der Masse, das eben eine gleichförmige Reaktion der Masseneinzelnen impliziert. Der Begriff der Masse, so formuliert es auch Michael Jäckel in seiner Auseinandersetzung mit den massentheoretischen Implikationen der Massenkommunikationsforschung, soll »veranschaulichen, dass sich eine Vielzahl von Menschen […] durch ähnliche Verhaltensweisen auszeichnet.«27 Das Handeln der Masse wird als 25 M. Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 25f. 26 Vgl. ebd., S. 320-322. Vgl. Paul F. Lazarsfeld/Bernard Berelson/Hazal Gaudet: The People’s Choice. How the Voter Makes up his Mind in a Presidential Campaign, New York, London: Columbia University Press 19683 (1944), S. 150157. Vgl. dazu auch I. Otto: Massenmedien wirken. 27 M. Jäckel: Medienwirkungen, S. 57. Der Aspekt der Gleichförmigkeit der Reaktion wird hier betont, weil seiner argumentativen Herleitung in der bisherigen 171
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gleichgerichtet konzipiert und aufgrund dessen kann auch von einer einheitlichen Reaktion auf die massenmedialen Stimuli ausgegangen werden. Dabei gelten die massenmedialen Stimuli als besonders dominant. Diese Überlegung stützt die Vorstellung von der identischen Reaktion auf einen von den Massenmedien ausgegeben Stimulus. Geht man also davon aus, dass ›Masse‹ eine zutreffende Bezeichnung für die Gesellschaft ist, so ist daraus zu schließen, dass alle Gesellschaftsmitglieder gleichartig auf einen gegebenen Reiz reagieren. In der Masse herrsche Eintönigkeit und Uniformität, so die Annahme. Die Gleichförmigkeit der Reaktion, die das Stimulus-Response-Modell behauptet, wird also durch das Theorem der Masse untermauert. Die Massenkonzeption bietet eine spezifische Theoretisierung des Masseneinzelnen, die das Modell belegt. Schenk weist so die Bedeutung der Massenkonzeption in medientheoretischen Überlegungen nach. Der Begriff der Masse bedeutet einen Evidenzschub für das Modell der Massenkommunikationsforschung. Das Medienmodell persistiert durch den Rückgriff auf die Massentheorien.28 Ähnliches lässt sich auch für die frühe Bundesrepublik formulieren. Der von Schenk beschriebene Argumentationszusammenhang findet sich hier ebenso, auch wenn das Stimulus-Response-Modell meist nicht explizit aufgerufen wird. Genauso wie in der US-amerikanischen Massenkommunikationsforschung bedeutet in Deutschland die Konzeptualisierung der Masse einen Plausibilisierungsschub für die Vorstellungen, die vom gerade sich verbreitenden Fernsehen entwickelt werden. Die massentheoretischen Überlegungen stehen bereit, plausible Ideen von Medien hervorzubringen. ÄhnArbeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es sind jedoch weitere Aspekte der Massentheorie, die maßgeblich für ihre stabilisierende Funktion hinsichtlich des Reiz-Reaktions-Schemas sind. Diese Aspekte in der Beschreibung der Masse kommen jedoch erst mit der Theorie der Massengesellschaft auf und sind noch nicht für die Versammlungsmasse relevant. So geht die Theorie der Masse davon aus, dass in der Massengesellschaft die persönlichen Sozialkontakte abnehmen und somit die Massenmedien als alleinige Reizgeber fungieren. Sie schließt also den Zusammenhang wieder, indem die von Lazarsfeld eingeführte intervenierende Variable des Meinungsführers exkludiert wird. Die face-to-face-Kommunikation besteht nach der Theorie der Massengesellschaft nicht gleichberechtigt neben den Kommunikationsakten der Massenmedien. Die angenommene Isolation des Individuums in der Massengesellschaft führt zu der Konsequenz, dass fast ausschließlich Massenmedien die Reaktion beziehungsweise Einstellung bestimmen. Dabei besteht ein gegenseitiges Kausalverhältnis zwischen der Wirkung der Massenmedien und der Vermassung der Gesellschaft. Die Massenmedien wirken isolierend auf die Individuen und die Isolation, das heißt Vermassung, führt wiederum dazu, dass die Individuen sich den Massenmedien zuwenden. Vgl. für die Darstellung dieses Zusammenhanges von Isolation und kommunikativer Erreichbarkeit auch H. de Man: Vermassung und Kulturverfall, S. 50. 28 Vgl. M. Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 26-31. 172
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lich wie in der Massenkommunikationsforschung geht es im Mediendiskurs der frühen Bundesrepublik darum, dass der Begriff der Masse argumentativ sicherstellt, dass ein Zugriff auf den Rezipienten möglich ist. In der Fernsehbeschreibung realisieren sich so das massentheoretische Wissen: Aussagen zur Masse werden als Fernsehanalyse aufgerufen. Mit anderen Worten: Der Begriff der Masse führt dazu, dass man ohne argumentativen Notstand annehmen kann, die Fernsehsendungen stimulierten eine spezifische Reaktion bei den Zuschauern, die so als Einheit konfiguriert werden. Er führt dazu, dass die Intendanten der Sendeanstalten vor der vermeintlichen Frivolität und der politischen Bedenklichkeit des LysistrataStückes warnen, da sie damit entsprechende Effekte beim Zuschauer verbinden.29 Diese schnelle Umrechnung von der Ursache auf die Wirkung kann der Begriff der Masse gerade deshalb sicherstellen, da in ihm die Idee einer identischen Reaktion aller impliziert ist: In der Masse, so die Annahme, fällt die erzielte Wirkung immer identisch aus. Damit inszeniert der Begriff der Masse – und das ist entscheidend –, dass die Gesellschaft kommunikativ erreichbar ist. Indem der Begriff an das Fernsehen und auch an andere technischen Medien herangetragen wird, werden diese diskursiv mit der Leistungsfähigkeit ausgestattet, Kommunikationen an die Gesellschaft zu richten. Die Massenkonzeption leistet dies auf doppelte Art. Zum einen spricht sie dem Fernsehen Wirksamkeit zu, denn wird die Zuschauerschaft als Masse konzeptualisiert, so bedeutet dies, dass intendierte Effekte auch erzielbar sind. Im Umkehrschluss heißt dies auch, dass ›falsche‹ Stimuli, wie frivole Inhalte, zu vermeiden sind, da sie den Zuschauer sittlich fehlleiten. Im Hintergrund steht hier nicht nur die Idee einer gleichförmigen Reaktion aller Massenpartikel, sondern auch die seit Le Bon geäußerte These, die Masse sei besonders leicht beeinflussbar: »Als einer der allgemeinen Charakterzüge [der Masse] bezeichneten wir die übermäßige Beeinflußbarkeit [...]; woraus sich die blitzschnelle Gerichtetheit der Gefühle in einem bestimmten Sinne erklärt.«30 Die Masse wird also als besonders empfänglich für Reize und damit als leicht stimulierbar gedacht. Die 29 Im Rahmen dieser Argumentation spielt auch die Vorstellung einer spezifischen Mediendifferenz Fernsehen/Theater eine Rolle. Es wird nämlich angenommen, dass der Besucher im Theater »durch den Kauf einer Eintrittskarte seine willentliche Entscheidung für die Rezeption des Gezeigten« zum Ausdruck bringt. Der Fernsehzuschauer scheint dagegen nicht »zu einer gleichermaßen willentlichen Entscheidung fähig« zu sein. Das Einschalten des Gerätes wird eher als eine Art von Automatismus aufgefasst. Christina Bartz: »›Spiegel‹ und Zauberspiegel. Zur Beobachtung und Konstruktion des Fernsehens in der frühen Bundesrepublik«, in: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 156-175, hier S. 172 30 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 25. Vgl. zur Gleichgerichtetheit das Kapitel Menschenschwärze und Unzurechnungsfähigkeit. 173
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Ideen von Beeinflussbarkeit und Gleichgerichtetheit sind die Basis dafür, dass angenommen werden kann, dass der Rezipient auch erreicht wird. So formuliert Wright Mills 60 Jahre nach Le Bon, dass die Gesellschaft »zu einer abstrakten Summe von Einzelpersonen [wird], die ihre Eindrücke nur von den Massenkommunikationsmitteln empfangen; […] die vorherrschenden Kommunikationsmittel sind derart organisiert, daß es dem Einzelnen schwerfällt oder sogar unmöglich ist, unmittelbar und wirksam zu widersprechen […].«31
In solchen Überlegungen manifestiert sich das gesamte Wissen über die Verhaltensweisen der Masse, die den ›äußeren Einflüssen‹ unterworfen ist und jedem Reiz ohne Möglichkeit zum Widerstand folgt. Das Fernsehen gilt dabei einziger relevanter Reizgeber. So vervollständigen die massentheoretischen Thesen von der gleichförmigen Reaktion und der leichten Beeinflussbrakeit der Masse die Idee der Erreichbarkeit der Gesellschaft durch Massenmedien. Es geht nicht allein darum, dass via Fernsehen eine möglichst große Anzahl von Personen angesprochen wird, sondern ebenso wichtig ist, dass diese Adressierung auch erfolgreich ist, dass die Kommunikation nicht abgelehnt werden kann. Der Zusammenhang aus massenmedialer Adressierung und Erreichbarkeit wird aber gerade über die Masse-Semantik gestiftet, denn sie scheint zu garantieren, dass die televisuelle Totalinklusion auch gelingt. Genau hinsichtlich der Frage der erfolgreichen Adressierung durch das Fernsehen ist die MasseSemantik entscheidend.
2 Die Funktion der Masse: Exklusion Während es bisher darum ging, wie die Rede von der Masse und ihrer Medien die Vorstellung steuert, mit der Gesellschaft kommunizieren zu können, geht der nun folgende Teil der Frage nach, wie mit Hilfe des Masse-Begriffs über die Gesellschaft gesprochen wird. Welche Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung realisiert der semantische Komplex der Masse? Wie ist die Imagination konstruiert, die mit der Massentheorie bezeichnet ist? Mit anderen Worten: Wie organisiert sich das Wissen, das anhand des Begriffs gewonnen wird? In einem zweiten Schritt soll es darum gehen, wie das Fernsehen sich in diesen Diskurs einschreibt, ihn damit sichert und fortführt. Wie ausgeführt wurde, muss die Gesellschaft Hilfskonstruktionen entwickeln, um sich selbst zum Erkenntnisobjekt zu werden, denn das Theorem der kommunikativen Unerreichbarkeit der Gesellschaft zielt auf die Problematik, dass sie sich selbst nicht als Ganzes erfassen kann, beziehungsweise 31 C. W. Mills: Die amerikanische Elite, S. 342. 174
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ihre Beobachtung nicht möglich ist. Die Frage ist dann, wie die MasseSemantik diese Erkenntnis skotomisiert, denn die Semantik scheint Auskunft über die Gesellschaft zu versprechen. Hier wird Wissen über ihren Zustand vermutet, obwohl sie in ihrer Gesamtheit dem Wissen unzugänglich ist. Dabei zeichnet sich der Begriff der Masse vor allem dadurch aus, dass er eine ausgezeichnete Beobachtungsposition vorgibt, von der aus die als Masse bezeichnete Gesellschaft konkurrenzlos beschrieben werden kann. Die Semantik der Masse beinhaltet Konstruktionen, die eine exklusive Position zur Gesellschaftsbeschreibung sowie ein Erkenntnisobjekt liefern. Spezifische Strukturbestimmungen des Fernsehens kommen hier die Semantik flankierend hinzu, denn das Fernsehen schafft – in paradoxer Form – die disperse Einheit der vor dem Bildschirm Versammelten, die dann als Masse apostrophiert wird. Sie ist dann das Objekt, das zur Beobachtung freigegeben wird. Insofern dieses Objekt, wie gerade beschrieben, von einer gesellschaftlichen Totalinklusion bestimmt ist, handelt es sich bei den Beobachtungsoperationen um gesellschaftliche Selbstbeschreibungen. Die sich selbst unerreichbare Gesellschaft reduziert ihre Komplexität durch den Regulierungsmechanismus Fernsehen. Die Totalinklusion ist aber auch von Mechanismen der Exklusion betroffen, die in der Masse-Semantik prozessiert und mit Hilfe des Fernsehens inszeniert werden. Genau diese Exklusionen sind bestimmend für die Organisation der Beobachtung, also dafür, wie und auch von wem beschrieben wird. Die vom Fernsehen erzeugten Exklusionen geschehen durch eine rhetorische Abwendung vom Empfangsgerät, wie im folgenden Teil der Arbeit anhand einer Lektüre von Günther Anders’ Die Welt als Phantom und Matrize ausgeführt wird.32 Die Massenbeschreibung hält dabei eine ihr außerhalb stehende Position bereit, von der aus eine Beschreibung der Gesellschaft angefertigt werden kann. Das Prinzip ist, dass zwar die gesamte Gesellschaft mit dem Titel Masse versehen, aber dabei die Selbstverortung umgangen wird. Die dabei tätigen Exklusionsmechanismen arbeiten in beide Richtungen: Indem die Position des Beschreibenden aus der Gesellschaftsbeschreibung ausgeschlossen wird, wird die Gesellschaft von Kommunikation exkludiert. Sie ist lediglich deren Objekt. Den Exklusionsmechanismus der Massentheorie hat Peter R. Hofstätter 1957 genau herausgearbeitet. Seine Studie Gruppendynamik leitet er mit einer Anmerkung ein, die er Die Tröstungen Le Bons überschreibt. Darin geht er der Frage nach, wieso der Begriff der Masse im Kontext soziologischer Problemstellungen so erfolgreich ist, obwohl er zur Wirklichkeitsbeschreibung nicht tauge. Laut Hofstätter ist die Masse keine Realität, sondern bloß eine rhetorische Selbstversicherung, was sich auch in dem von ihm gewähl32 Vgl. das Kapitel Massen und Eremiten: Weltflucht und flüchtige Welt. 175
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ten Kapiteltitel von den ›Tröstungen‹ andeutet: Die Rede von der Masse produziert keine Aussagen über die Gesellschaft, so Hofstätter, sondern lediglich über die Autoren und Leser der Massentheorie, die darin eine Beruhigung für sich selber finden. Und diese Tröstung beziehungsweise der Gewinn besteht darin, dass man allein durch die Verachtung der Masse seine eigene Exklusivposition durchsetzen kann.33 Das wichtigste Prinzip der Masse-Semantik ist die eigene Distanznahme zum Massendasein der anderen. Diesen Zusammenhang arbeitet Hofstätter im Rahmen seiner eigenen Gesellschaftsanalyse detailliert heraus: »Will man einer Abhandlung über gesellschaftliche Fragen begeisterte Zustimmung und weite Verbreitung sichern, dann hat man sich schon seit geraumer Zeit nur an ein höchst einfaches und im Grunde völlig paradoxes Rezept zu halten: Es gilt bloß der ›Masse‹ alle nur irgend erdenklichen üblen Eigenschaften und Neigungen zuzuschreiben. Da werden Fabelwesen erfunden, die – so heißt es – mit oder aus dem Rückenmark heraus in Bildern, und nicht in Begriffen, denken [...]. Vergewaltigt zu werden, von Führern, Reklamechefs, Propagandisten und Scharlatanen, – so scheint es –, ist das Hauptanliegen ›der Masse‹ [...]. Auf diese Weise läßt sich noch des längeren fortfahren – ein- bis zweihundert Seiten lang –, wobei der geistvolle und um das Wohl der Menschheit so löblich besorgte Autor freilich nicht vergessen darf, die Auflösung der Kultur im Chaos der ›Vermassung‹ nachdrücklich zu betonen. Nach der kurzen Feststellung, daß ich entschlossen bin, mich dieses Rezepts – es sei in gerechter Anerkennung der Verdienste seines Urhebers das Le Bon-Rezept genannt – nicht zu bedienen, gilt es zunächst die Gründe ausfindig zu machen, warum die Verleumdung der Menschen in der Gruppe soviel Anklang findet. Es wäre offenbar für keinen der nach Millionen zählenden Leser Ortega y Gassets oder Le Bons verlockend, sich als Teil der Masse zu empfinden und damit für sich selbst deren Gewöhnlichkeit und Geistlosigkeit zu reservieren. [...] Anders steht es schon darum, wenn man sich im gesunden Abscheu vor der Erbärmlichkeit der Masse des Umstandes versichern könnte, selbst gewiß nicht zu dieser zu gehören. Es bedarf dazu eigentlich nur des Lobes, das man den Entlarvern der Masse spendet. Nunmehr ragt der einsichtige Leser [...] weit heraus; er ist im eigenen Urteil beinah schon ein ›Großer‹, höchstwahrscheinlich ein Angehöriger der Elite. [...]
33 In diesem Sinne liest Lutz Musner Peter Sloterdijks Verachtung der Massen. Laut Musner »artikuliert sich darin eine soziale Distinktionssehnsucht«, in der die Intellektuellen eher eine »Selbstthematisierung« vorlegen. Lutz Musner: »Die Intellektuellen und die Massenphobie«, in: sinn-haft 11 (2001), S. 2f.: http://sinn-haft.action.at/nr_11/nr11_musner_intellektuelle_massenphobie.html vom 04. Januar 2005. 176
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[...] Das Scheusal muß uns nah sein und doch fern. Wir dürfen nicht in den Verdacht der Gemeinschaft mit dem Unhold geraten, und es muß doch so scheinen, als läge es nur an uns, daß wir dieser Gefahr entgehen. Die Größe der Gefahr wird damit zum Maßstab der Besonderheit, die ihr zu trotzen vermag. [...] [E]s gilt ein bedrohliches Zerrbild zu schaffen, das ein Zerrbild sein muß, da man ja sonst der eigenen Andersartigkeit niemals hinlänglich gewiss sein könnte. Gleichzeitig darf dieses Bild aber nur bis zu einer bestimmten Grenze des Plausiblen verzerren [...].«34
Das von Hofstätter sogenannte Le Bon-Rezept – das zugleich noch einmal darauf verweist, welche zentrale Stellung Le Bon in den 1950er Jahren für die Massentheorie zugesprochen wird – entfaltet seine Wirksamkeit allein hinsichtlich des Subjekts der Rede. Allein der Autor und seine affirmativen Leser können, so Hofstätter, in der Massentheorie klar bestimmt und identifiziert werden. Die sogenannte Masse bleibt dagegen aufgrund ihrer diffusen Beschreibungen und ihrer vermeintlich unvorstellbar schrecklichen Eigenschaften unbestimmt.35 Die Redeführer setzen darauf, durch die eigene Distanznahme zur Masse eine spezifische Position zu besetzen. Es geht darum, die eigene Position in der Rede zu exkludieren und – darauf hebt Hofstätter ab – dies geschieht primär dadurch, dass man die anderen als Masse deklariert. Hofstätter beschreibt also einen Aussonderungsprozess, von dem zunächst einmal nicht die Masse, sondern die Massenkritiker betroffen sind. Wenn der Begriff der Masse aufgerufen wird, dann um zwei Sphären zu 34 Peter R. Hofstätter: Gruppendynamik. Die Kritik der Massenpsychologie, Hamburg: Rowohlt 1957, S. 7f. 35 Hofstätters Überlegung lautet, die Masse sei zu diffus beschrieben, um sie als Beobachtungsobjekt zu deklarieren. Systemtheoretisch lässt sich auch formulieren, ihr fehlt es an Form und daher an Beobachtbarkeit. Die Lösung des Beobachtungsproblem wird im Umschalten vom Masse- auf den Gruppenbegriff erhofft. Die begrenzte Quantität der Gruppe ermöglicht deren Verlegung ins ›Laboratorium‹. Hofstätter versucht Wissen über die Gesellschaft durch die experimentelle Untersuchung der Gruppe und ihrer Dynamik zu gewinnen. Anhand der im Rahmen von Experimentalanordnungen isolierten Gruppen zeige sich das Verhalten von Menschen im sozialen Raum. Die Gesellschaftsbeschreibung ist insofern auch Ziel seiner Untersuchungen, denn indem Individualverhalten im begrenzten sozialen Kontext experimentell hervorgerufen wird, kann auf die Gesamtgesellschaft geschlossen werden. Dabei kann Hofstätter durchaus zu identischen Ergebnissen wie die Massentheorie kommen, nur, so seine Behauptung, seien diese nun experimentell bewiesen. Hofstätters Wunsch ist also der nach Sichtbarkeit und Evidenz, die sich im Labor herstellen sollen. Aber auch seine Aussagen sind Versuche der Eliminierung der Unerreichbarkeit der Gesellschaft. Auch ihm ist an validen Aussagen über die Gesellschaft gelegen. Dabei ruft auch er – wie andere Massentheoretiker – die aktuelle Menschenmenge auf, die sich in seinen Ausführungen im Labor anstatt auf der Straße manifestieren soll. 177
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schaffen, von der die eine sich herausnimmt, die andere zu beobachten. Und die Inanspruchnahme dieser Position geschieht schlicht auf der Grundlage der Identifizierung der Masse: »Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um eine säkularisierte Absolution: Ich bin nicht Masse, weil ich die Massenhaftigkeit der anderen durchschaue.«36 Darin klingt an, dass es um die diskursive Produktion eines Beobachtungsdispositivs geht. Indem der Massentheoretiker beobachtet, sondert er sich als beobachtendes Subjekt von der Masse ab. Seine Fähigkeit zur Beobachtung, mit der er sich selber auszeichnet, enthebt ihn des Massendaseins. Schlicht weil er meint die Masse zu erkennen, gehört er nicht zu ihr und legitimiert sich als ihr Examinator. Seine vorgebliche Erkenntnis belegt sowohl seinen Intellekt als auch, dass er der Masse nicht zugehört, und beides befähigt ihn zu ihrer Untersuchung. Der Akt des Erkennens, der sich allein in der Verachtung manifestiert, realisiert zugleich die Kompetenz des Beobachters und dessen Distanz zur Masse. Das Untersuchungsobjekt ist im übrigen dadurch gekennzeichnet, dass es eben nicht der Beobachtung fähig ist, da die Masse ja vom ›Rückenmark‹ geleitet ist und der Begriffe entbehrt. Hofstätter pointiert diesen Mangel noch einmal, indem er Le Bon zitiert: »›Das Beobachtungsvermögen und der kritische Geist eines jeden schwindet [in der Masse] sofort.‹«37 So scheidet der Masse-Begriff zwei Bereiche: Der eine ist von Dumpfsinn und Blindheit bestimmt und der andere durch Klarund Einsicht gekennzeichnet. Jedoch – und das ist das besondere der MasseSemantik – erscheint die Sphäre der Erkennenden ex negativo. Sie wird implizit in den massentheoretischen Schriften exkludiert. Durch die Bestimmung der Masse als zur Einsicht unfähig scheidet der Einsichtige aus. Und als einsichtig wird bestimmt, wer das Massendasein der anderen durchschaut. Gleichzeitig ist es die einmal implementierte Distanz zur Masse, die die Kompetenz der Nicht-Masse bestätigt, denn die negativen Bestimmungen der einen Seite bedeuten die positive Besetzung der anderen. Und so schaffen die Massenächter sich selbst als ihr außenstehend und ihr überlegen.38 36 P. Hofstätter: Gruppendynamik, S. 10. 37 Ebd., S. 9. 38 Vgl. zu einer ähnlichen Aussage B. Stokvis/M. Pflanz: Suggestion in ihrer relativen zeitbedingten Begrifflichkeit, S. 93f.; sowie P. Reiwald: Vom Geist der Massen, S. 26. Eine analoge Überlegung entwickelt W. Phillips Davidson in den 80er Jahre im Rahmen der Massenkommunikationsforschung für die Wirkung von Verbreitungsmedien. Laut Davidsons These des Third-Person-Effect in Communication meinen Mediennutzer gemeinhin, dass sie selber nicht von persuasiven Einflüssen der Kommunikation betroffen sind, jedoch gehen sie gleichermaßen davon aus, dass sich die Einflüsse auf das Verhalten anderer auswirkt. Der eigenen Person wird im Kommunikationsakt eine gesonderte, eine ›Experten‹-Position zuerkannt, die mit der Fähigkeit zur Beobachtung ausgestattet ist. Alle anderen Adressaten von Verbreitungsmedien fehlt diese Fä178
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So kommt es zu einer Gegenüberstellung, die eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung ermöglicht, da sie Beobachtungspositionen schafft. Das Außen der Masse, das die Semantik mitprozessiert, ist der Ort des Beobachtungssubjekts, während die Masse die Einheit der Gesellschaft markiert, die zur Beobachtung freigegeben wird. Die Massentheorie legt so die Positionen fest, die der Organisation der Beobachtungsstruktur dienen und konstitutiv für die Möglichkeit des Beobachtens ist. Es geht um die Ausdifferenzierung von Beobachtungssubjekt und -objekt und damit verbunden um die Bedingungen, unter denen beobachtet wird. Die Subjekt/Objekt-Unterscheidung steht, laut Luhmann, allein als Beobachtungsleistung bereit, das heißt sie ist eine von einem Beobachter eingeführte Unterscheidung, die das Beobachten leitet und bestimmt. Sie stellt nicht nur die Struktur, mit der die Gesellschaft sich selbst beschreibt, bereit, sondern ist auch selbst Effekt der Selbstbeschreibung. Sie wird also erst in der Beschreibung performativ hervorgebracht. Die gesellschaftsbeschreibenden Texte legen die Unterscheidung in Beobachter und Beobachtete fest und prozessieren ihre Beschreibungen gleichzeitig auf dieser Grundlage. Die Masse ist somit ein Effekt ihrer Theorie, die sie zu ihrem Objekt macht. Um als ein solches Objekt zu entstehen, muss die Masse Form gewinnen, was in den Beschreibungen geschieht, die genau ein Außen – nämlich das Subjekt – abtrennen. Ohne die eingeführte Unterscheidung entsteht keine Form, die beobachtbar wäre. Die andere Seite der Unterscheidung ist in der Massentheorie das Subjekt der Beobachtung, das zweifach hervorgebracht wird: Zum einen als Unterschiedenes und zum anderen durch die Inszenierung seiner Beobachterkompetenz, die wiederum auch nur als Unterschied zur Inkompetenz der Masse entsteht. Gesellschaftliche Selbstbeschreibung meint genau die Herausbildung einer solchen (imaginären) Struktur, die den Beobachtungsprozess konditioniert und so die Möglichkeit schafft, über die Gesellschaft zu kommunizieren. Darin wird festgelegt, was von wem (wie beziehungsweise mit welchen Unterscheidungen) beobachtet wird. Diese Konditionierungen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen sind allein diskursiver Natur, denn – wie bereits ausgeführt wurde – jede Beobachtung der Welt kann nur in der Welt angefertigt werden, beziehungsweise jede Beschreibung der gesellschaftlichen Kommunikation ist Kommunikation. Denn auch »Selbstbeschreibungen sind [...] Beobachtungen [...]: eine Beobachtung bezeichnet etwas, indem sie es unterscheidet. Sie produziert mit dem, was sie bezeichnet, zugleich einen unmarkierten Bereich, der nicht intentional oder thematisch erfaßt (bezeichnet) aber als Welt-im-übrigen vorausgesetzt ist. Und sie sondert die Opera-
higkeit. Vgl. W. Phillips Davidson: »The Third-Person-Effect in Communication«, in: Public Opinion Quaterly 47 (1983), S. 1-15. 179
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tion der Beobachtung (und damit: den Beobachter) ab von dem, was beobachtet wird.«39
Will man hier unter Rückgriff auf das Schema der Gesellschaftsbeschreibung, das die Semantik der Masse vorgibt, Zuordnungen vornehmen, so bedeutet dies, dass das System als Massengesellschaft bezeichnet wird. Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung kann auf den Begriff der Masse verweisen und bezeichnet damit die gesellschaftliche Einheit. Die Unterscheidungen, die so aufgerufen werden, sind vielfältig und setzen Folgeunterscheidungen in Gang, so zum Beispiel die gerade dargestellte Differenz blind/ sehend, die – so wird sich noch zeigen – vor allem für Anders’ Überlegungen zentral ist. Wie Hofstätter ausführt, reicht aber schon die Differenz Masse/Nicht-Masse, wobei die eine Seite unbestimmt bleibt. Sie zeichnet sich lediglich dadurch aus, dass sie in der Beobachtung als Nicht-Masse erscheint, also unbezeichnet ist. Die Gesellschaft wird als Masse beschrieben und von der ›Welt-im-übrigen‹ – der Nicht-Masse – abgegrenzt. Die Massensoziologie, deren Gesellschaftsbeschreibung mit der Differenz Masse/Nicht-Masse arbeitet, lässt mit der Nicht-Masse einen Teil des Systems als Umwelt unbestimmt. Diese Umweltseite ist aber die Position, von der aus die Beschreibung angefertigt wird, das heißt das selbsternannte Subjekt der Operation. Luhmann führt zum Theorem der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung weiter aus: »Ein laufendes Beobachten an Hand der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz kondensiert die entsprechenden Referenzen und verdichtet sie zur Unterscheidung von System und Umwelt. Das ermöglicht eine Selbstbeobachtung neuen Stils, nämlich die Zurechnung von Themen auf das System selbst im Unterschied zu seiner Umwelt. Das System reflektiert seine eigene Einheit als Bezugspunkt für Beobachtungen [...]. Und dann empfiehlt es sich, Texte anzufertigen, die eine Vielzahl solcher immer nur ereignishafter und situationsgebundener Selbstbeobachtungen koordinieren. In einfachster Form gibt das System sich einen Namen, eine rigide, invariante Bezeichnung, die eben wegen dieser Rigidität wiederholt und in unvorhersehbar verschiedenen Situationen verwendet werden kann. Auf solche Eigennamen können sich dann Kontrastierungen stützen, die das eigene System einem anderen entgegensetzen, um es im Kontrast zu identifizieren – so Griechen und Barbaren, [...] Zivilisierte und Wilde. Das erlaubt [...] eine allmähliche Auffüllung der Kontraste mit Strukturbeschreibungen [...] und damit eine inhaltliche An-
39 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 882. Vgl. auch ders.: Einführung in die Systemtheorie. Hrsg. v. Dirk Baecker, Heidelberg: Carl-Auer 2002, S. 150f. 180
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reicherung der Texte, mit denen das System sich selbst bezeichnet. Solche Texte, inclusive Namen, wollen wir Selbstbeschreibungen nennen.«40
Das System operiert also anhand der Unterscheidung System/Umwelt, in der Zurechnungen vorgenommen werden. Im Regelfall, der sich im Begriff der Masse allerdings nicht vollständig realisiert41 – referiert es dabei auf eine Einheitsformel, mit der es sich selbst benennt und gegenüber einer systeminternen Umwelt abgrenzt. Disperate Einzelbeobachtungen können anhand der Unterscheidung ausgerichtet beziehungsweise zugeordnet werden und im Zuge dessen kommt es zu einer näheren Bestimmung der beiden Seiten der Unterscheidung, das heißt es wird festgelegt, wie Zurechnungen im einzelnen zu erfolgen haben. Hierfür steht in der Systemtheorie der Begriff der ›Programmierung‹ bereit: Die Zwei-Seiten-Form wird mit einer Semantik versehen, die die Zurechnungen auf die beiden Seiten vorgibt. Das Programm beinhaltet »Kriterien, die festlegen, unter welchen Bedingungen die Zuteilung des positiven bzw. negativen Wertes richtig erfolgt. [...] Sie hängen sich wie ein riesiger semantischer Apparat an die jeweiligen Codes; und während die Codes Einfachheit und Invarianz erreichen, wird ihr Programmbereich [...] mit Komplexität und Veränderlichkeit aufgeladen.«42
Es geht also um die Konditionierung von Zuteilungen. Der Beobachter kann – um bei Luhmanns Beispiel zu bleiben – anhand der semantischen Zuschreibungen beziehungsweise der Programmierung entscheiden, wer zu den Barbaren gehört. Ebenso soll es dem Rezipienten der Massentheorie möglich sein, anhand von in den Texten festgelegten Kriterien einen Menschen der Masse zu identifizieren. Wer den Barbaren zuzurechnen ist, wird von der ›Kommunikationsgemeinschaft‹43 der Griechen festgelegt und die Definition von Wilden geschieht aus der Perspektive der Einheit der selbsternannten Zivilisierten. Sie markieren die Einheit des Systems sowie dessen Eigenbezeichnung und sie kontrollieren die Programme, die die Zuteilungen auf System (Griechen, Zi40 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 880. Vgl. auch P. Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 174-177. Luhmann macht in dem Zitat auf die Situationsgebundenheit der Selbstbeobachtung aufmerksam. Dieser Hinweis ist gerade für die Analyse der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung der 1950/60er Jahre wichtig. Das Fernsehen wird in dieser Zeit als Neuheit behandelt und dient insofern auch als aktueller Anlass, um Selbstbeobachtungen vorzulegen. 41 Vgl. das nächste Kapitel. 42 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 362. 43 Vgl. P. Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 181. 181
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vilisierte) und Umwelt (Barbaren, Wilde) regeln. Die Systemseite definiert ihre Einheit, gibt ihr einen Namen und stattet sich über die Beschreibung beziehungsweise Programmierung mit Definitionshoheit aus, von der das Gegenüber ausgenommen ist. Ihm wird diese Möglichkeit abgesprochen. Barbaren und Wilde, so Luhmann, sind »Ausgrenzungsbegriffe«44 und das heißt sie exkludieren die Bezeichneten von Kommunikation und damit von gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Die Einfügung der Unterscheidung System/Umwelt bedeutet also die Differenzierung in Kommunikation/NichtKommunikation. Denn, so Rudolf Stichweh, es »ist bezeichnend, daß sie [die Gesellschaften] den Mitgliedern anderer Gesellschaftssysteme oft die Fähigkeit zur Kommunikation absprechen, sie also als Barbaren behandeln, oder für sie Namen erfinden, die implizieren, daß es sich bei ihnen nicht um Menschen handelt.«45 Die Verortung auf der Umweltseite des Systems bedeutet den Ausschluss von Kommunikation, beziehungsweise der Ausschluss von Kommunikation heißt die Positionierung auf der Umweltseite des Systems. Dies bedeutet auch eine Asymmetrierung46, denn der Kommunikationsausschluss wird nicht einfach ›willkürlich‹ vollzogen, sondern ›legitimiert‹. Es wird – unter anderem im Begriff des Barbaren – eine Semantik bereitgestellt, die den Ausschluss regelt. Es wird also ein superiorer und ein inferiorer Wert bestimmt. Mit anderen Worten, die eine Seite wird gegenüber der anderen als minderwertig vorgestellt, wobei in der Regel die Systemumwelt den niederen Wert darstellt. Die von Griechen oder Zivilisierten angefertigten Beschreibungen definieren deren Außen nach unten hin weg. Dieser Prozess geschieht über die semantische Aufladung der Unterscheidung – eben zum Beispiel über die Zuordnungen von klarsichtig und blind oder sprachmächtig und begriffslos. Es wird eine Eigenbezeichnung für das System gewählt, dabei dessen Umwelt abgesondert und im gleichen Zuge abgewertet. Die Asymmetrierung, so stellt auch Dirk Baecker klar, geschieht performativ, das heißt die »Unterschiede beschreiben nicht nur, sie richten die Welt entsprechend ein und sie signalisieren die Bereitschaft, diese Einteilung [...]
44 N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 954. 45 Rudolf Stichweh: »Zur Genese der Weltgesellschaft. Innovationen und Mechanismen« (1998), in: ders.: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 245-267, hier S. 248. 46 Auch Koselleck erläutert im Rahmen seines Konzepts der historischen Semantik die politisch-sozialen Begriffe hinsichtlich ihrer Asymmetrierungsfunktion. Vgl. Reinhart Koselleck: »Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe« (1975), in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 19952 (1989), S. 211-259. Vgl. zu dem damit einhergehenden Distinktionsgewinn auch den Soziologen Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 199911 (1979), z.B. S. 105. 182
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auch immer durchzuhalten.«47 Die asymmetrische Teilung ist Effekt der Beschreibung, die die Positionen einrichtet und deren Besetzung regelt.
3 Exklusion von Kommunikation Die von Luhmann und auch die von Baecker im Verlauf seines Textes angeführten Beispiele legen jedoch nahe, dass die Eigenbezeichnung auf der superioren Seite zu verorten ist; die Umwelt wird dagegen mit dem inferioren Wert belegt. Die Gesellschaft erkennt sich selbst als zivilisiert und die Bezeichnung Wilde markiert die Umwelt.48 Ähnlich geht Fuchs vor, der die gesellschaftliche Selbstbeschreibung anhand des Begriffs der Gemeinschaft vorführt. Alle Exempel führen vor, dass die eigene Einheit gerade durch »Positivität«49 zu besetzen ist. Die Umwelt ist demgegenüber minderwertig. Der Masse-Begriff dreht jedoch diese Zuordnungen um: Geht die Rede von der Massengesellschaft, so ist die Gesellschaft als Ganze einer negativen Bewertung ausgesetzt. Im Begriff der Masse wird der Gesellschaft diagnostiziert, dass sie in ihrer Gesamtheit der Kommunikation nicht fähig sei, denn sie denkt gemäß Le Bon nicht in Begriffen und wird vom Rückenmark geleitet.50 Um dies auszudrücken, wird auch auf die Semantik des Barbaren zurückgegriffen. Diese Semantik ist nun aber im Rahmen der von Luhmann angeführten Unterscheidungen – also in Abgrenzung zu den Eigenbezeichnungen wie Griechen und Zivilisierte – Bestandteil der Semantik Alteuropas ist. Der Bezug auf Alteuropa verweist auf Exklusionen, die auf der gesellschaftsstrukturellen Ebene über eine territoriale Zentrum/Peripherie-Differenzierung beziehungsweise über eine Stratifizierung geregelt werden. Die vormoderne Semantik steht in einem Zusammenhang mit einer entsprechenden Gesellschaftsstruktur von Zentrum/Peripherie und Oben/Unten. Die moderne Gesellschaft, deren Gesellschaftsstruktur von funktionaler Differenzierung ge47 Dirk Baecker: Wozu Kultur?, Berlin: Kadmos 2000, S. 28. 48 Vgl. z.N. ebd., S. 12f.; R. Stichweh: Zur Genese der Weltgesellschaft, S. 248. 49 P. Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 199. Die Idee der Gemeinschaft steht in einem eigenartigen Verhältnis zum Begriff der Masse. Die Konzepte können durchaus als binäre Opposition beschrieben werden, denn ›Masse‹ bezeichnet einen Verfallszustand der Gesellschaft, während sich im Begriff der Gemeinschaft ein »Verschmelzen der betroffenen Bewußtseine zu einem Ineinander der Seelen und Herzen, zur gleichsam nackten Bewegung von Ichs und Dus« (ebd.) ausdrückt. Diese Idee der Verschmelzung, die den positiven Aspekt der Gemeinschaft ausmachen soll, ist aber der Konzeptualisierung der Masse sehr ähnlich. Das heißt die Semantiken referieren zwar auf fast identische Ideen. Trotzdem erscheinen die Zuordnung evident. 50 Vgl. zu genauen Ausführungen dieses Arguments von der vermeintlichen Unfähigkeit der Masse zur Kommunikation das Kapitel ›Massenkommunikation‹. 183
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prägt ist, steuert dagegen tendenziell eine Totalinklusion an: Jedem muss der Zugang zu jedem Funktionssystem offen stehen. Ein Außen der Gesellschaft wird insofern nicht gedacht und Exklusionen sind ausgeschlossen. Dies bedeutet aber nicht, dass die alteuropäische Semantik nicht persisitiert. Sie ist auch im Rahmen moderner Gesellschaftsstrukturen zugänglich.51 Somit kann auch hier auf Semantiken Bezug genommen werden, die eher eine Stratifizierung oder territoriale Differenzierung reflektieren, und so kann die Kategorie des Barbaren auch in der modernen Gesellschaft ganz unproblematisch aufgerufen werden. Der Barbar steht auch einer modernen Semantik zur Verfügung. Das Wort wird »zur Äußerung von Mißfallen benutzt und um dem eigenen Mißfallen den Anschein von Objektivität zu geben.«52 Barbar ist sogar einer der zentralen Erklärungskategorien der Masse, denn – so weiß beispielsweise Le Bon – die »rohen Massen« können »recht gut als Barbaren gekennzeichnet werden [...].«53 »Der Barbar«, so eröffnet Manfred Schneider seine Studie mit gleichlautendem Titel, »ist eine Figur aus der Reserve unseres symbolischen Repertoires. Sein Name steht im Register elementarer Begriffe wie Wahrheit, Natur, Liebe, Gott, Mensch, Frau. Wir benötigen diesen Barbaren nicht unablässig, sondern nur in Krisensituationen: Krieg, Revolutionen, wirtschaftliche Not, kulturelle Umbrüche, Endzeitstimmungen.«54
Damit ist nicht nur gesagt, dass der Begriff des Barbars grundlegender Bestandteil des modernen Vokabulars ist, sondern auch in welchem Kontext er aufgerufen wird: Der Barbar ist Bestandteil eines Krisendiskurses und dient der Anzeige der Dekadenz der Gesellschaft. 51 Vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 618-634. An dieser Stelle ist auch noch einmal ein Hinweis auf Stähelis Kritik an der problematischen Konzeption des Zusammenhanges von Gesellschaftsstruktur und Semantik in der Systemtheorie wichtig. Laut Stäheli müsse das Anpassungsmodell, das Luhmann für die Semantik entwerfe, überdacht werden, da sich Semantik nicht einfach in Abhängigkeit von Gesellschaftsstruktur entwickele. Vgl. das Kapitel Evidenzstrategien und Plausibilisierungsverfahren. 52 N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, S. 138. Nach Luhmann ist der Begriff verzichtbar und die entsprechende Unterscheidung Inklusion/Exklusion ist zur Beschreibung der Gesellschaft adäquater. 53 G. Le Bon: Die Psychologie der Massen, S. 5. Vgl. auch J. Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, S. 63. Im Hintergrund solcher Umschreibungen der Masse als barbarisch steht die Vorstellung einer Stratifikation des Charakters, die bereits angedeutet wurde. 54 Manfred Schneider: Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München, Wien: Hanser 1997, S. 9. Schneider geht sogar so weit zu behaupten, »der Barbar ist eine Figur, die eigens für endzeitliche Lagen ausgebildet ist.« Ebd., S. 10. 184
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Genau diese spezielle Semantik, die um die Idee einer gesellschaftlichen Verfallsgeschichte kreist, wird in der systemtheoretischen Analyse der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung häufig übergangen. Die von Luhmann, Baecker und Stichweh angeführte Unterscheidung Griechen/Barbaren funktioniert nach einer Logik, die das eigene Gesellschaftssystem und dessen Bezeichnung mit dem überlegenen Wert versieht. Die Exklusionen und Abwertungen betreffen das Außen. Die als minderwertig angesehene Umwelt wird vom System abgesondert und von der Kommunikation ausgeschlossen. Fuchs stellt zwar fest, dass es »kaum [gelingt] [...] Beschreibungen der Gesellschaft in der Gesellschaft anzufertigen, die durch Positivität überzeugen,«55 aber er untersucht dann genau jene Begriffe, die dies camouflieren. Die Narration vom Verfall der Gesellschaft, wie Schneider sie ebenfalls anhand des Begriffs des Barbaren nachvollzieht, kann diese klaren Zuordnungen nicht bedienen. Zwar finden sich auch hier Asymmetrierungen und Exklusionen, aber diese sind anders geregelt, wenn die Grundannahme herrscht, dass die Gesellschaft ihrem Untergang entgegenstrebe. Dann bezeichnet nämlich das Barbarentum die Systemseite, die so nicht mit Positivität zu besetzen ist. Barbaren sind nicht mehr einfach die anderen, insofern damit ein anderes Gesellschaftssystem gemeint ist, sondern das eigene System ist barbarisch. Es ist der inferiore ›Ort‹. Im Rahmen der Rede vom gesellschaftlichen Verfall und von der Krise des Sozialen heißt Aussonderung Überlegenheit – eben der Ausschluss vom degradierten Gesellschaftssystem. Die Anfertigung einer Verfallsgeschichte, wie sie auch die Massentheorie darstellt, unternimmt den Versuch einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, also Aussagen über den Zustand des eigenen Sozialsystems zu produzieren. Auch sie konzipiert eine gesellschaftliche Einheit als Referenzpunkt für die Beobachtungen der Gesellschaft. Diese Einheit, deren Name Masse ist, wird aber als dekadent und inferior gegenüber der Umwelt gedacht. Die Asymmetrierung der Gesellschaftsbeschreibung wird also umgekehrt und das System negativ bestimmt.56 Aufgrund dessen kommt es zu ei55 P. Fuchs: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, S. 198. 56 Die negative Bestimmung des System motiviert dann auch eine Gesellschaftsbeschreibung, die sich am Code der Medizin – gesund/krank – orientiert. Gesellschaftlicher Verfall wird als Krankheit ›diagnostiziert‹ und wirft die Frage der ›Heilungsmöglichkeit‹ auf. Die Gesellschaft wird so der Beobachtung der Medizin ausgesetzt, deren Besonderheit im Gegensatz zu anderen Codierungen darin liegt, dass der nicht präferierte Wert Reflexionen beziehungsweise kommunikativ Anschlussmöglichkeiten eröffnet. Vgl. Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung, Bd. 5. Konstruktivistische Perspektive, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 192. Der medizinische Code legt also fest, dass über die Seite der Krankheit kommuniziert wird. Darüber hinaus ist der Code der Medizin »ideologischen Kontroversen« entzogen und es kommt »in bezug auf den Wert von Gesundheit kaum zu Meinungsverschiedenheiten.« Dieser Wert genießt, so Luhmann, »in jeder Situation den Vorrang vor jedem anderen.« Niklas 185
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ner Distanzierungsbewegung des Beschreibenden, der sich nun im Außen identifiziert. Die gesellschaftliche Selbstbeschreibung der Massensoziologie referiert auf eine Einheit, von der die Autoren sich selbst ausnehmen. Ihre Unterscheidungen sind zwar ebenfalls die bereits ausgeführten von Subjekt/Objekt, System/Umwelt, positiv/negativ und Kommunikation/NichtKommunikation, aber darin werden andere Zuordnungen prozessiert. Die Programmierungen der Unterscheidung System/Umwelt sind gegenüber den Einheitsformeln, die zum Beispiel Fuchs untersucht, konfus. Heißt die gesellschaftliche Einheitsformel Masse, dann zeichnen sich die dem System zugerechneten Eigenschaften eben nicht durch die von Fuchs angeführte Positivität, sondern durch ihre Negativität aus. Die Massentheorie bedeutet eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung, die sich auf den inferioren Wert bezieht. Im Gegenzug positioniert sich der Beobachter im positiv besetzten Außen. Die Eigenbezeichnung des Beobachters bleibt aus, allein das System wird benannt und inferior gegenüber seinem Außen gesetzt, denn – so Hofstätter – der Beobachter darf ›nicht in den Verdacht der Gemeinschaft mit dem Unhold geraten‹. Und dieser Unhold ist die Gesellschaft, die der Vermassung und damit dem Untergang entgegenstrebt. Die Gesellschaftsbeschreibung, wie sie sich im Begriff der Masse findet, gibt somit vor, aus der Umwelt des Systems angefertigt zu werden. Das heißt Fremd- und Selbstreferenz sind entsprechend Baeckers Ausführungen nicht eindeutig zu trennen, denn das System gibt sich einen Namen, der sowohl als Eigen- wie als Fremdbeschreibung konstruiert ist. Es geht zwar beim Masse-Begriff um die Beobachtung des eigenen Gesellschaftssystems – als solche wird er auch ausgewiesen – aber ebenso geht es um eine Distanzierung von dieser Gesellschaft – man gehört der Masse nicht an. Trotz solcher Distanznahmen handelt es sich beim Begriff der Masse um den Versuch der Erfassung eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses, denn er drückt einen sozialen Inklusionssog aus (und das heißt, er dient der semantischen Bewältigung der funktional-differenzierten Gesellschaft). Im ›Zeitalter der Massen‹ kann das Massendasein jeden treffen – bis auf die Beobachter der Masse. Diese schließen sich diskursiv aus dem beschriebenen Gesellschaftssystem aus, exkludieren sich. Damit ist mit dem Begriff der Masse eine Doppelbewegung beschrieben. Einerseits geht es dabei um eine Totalinklusion, andererseits enthält er immer schon Exklusionen. Letztere bieten überhaupt die Möglichkeit zur Beobachtung. Die behauptete Allinklusion der modernen Gesellschaft gibt nämLuhmann: »Anspruchsinflation im Krankheitssystem. Eine Stellungnahme aus gesellschaftstheoretischer Sicht«, in: Phillip Herder-Dorneich/Alexander Schuller (Hg.), Die Anspruchsspirale. Schicksal oder Systemdefekt, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1983, S. 28-49, hier S. 42. Eine Ablehnung des Wertes ist ausgeschlossen. 186
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lich zunächst kein Beobachtungsobjekt frei, da ohne Unterscheidung keine Form gewonnen werden kann, die beobachtbar wäre. Es bedarf also für Beobachtung der Exklusion, eben eines Außen, das unterschieden werden kann.57 Insofern bedeutet die Selbstexkludierung eine wichtige Voraussetzung zur Beschreibung der Gesellschaft. Das Beobachtungsobjekt Gesellschaft kristallisiert sich genau auf der Basis seiner Unterscheidung in Inklusion/Exklusion heraus, beziehungsweise tritt dadurch als beobachtbare Einheit hervor.58 Innerhalb des unterschiedenen beziehungsweise bezeichneten Systems kann dann von Allinklusion gesprochen werden; mit Masse wird die Vorstellung eines Inklusionssogs ausgedrückt. Es geht darum, eine allgemeine Betroffenheit vom Phänomen der Vermassung zu konstatieren. Die Beobachtungen, die zum Fernsehen angestellt werden, fügen sich hier ein, denn die Rede vom Massenmedium impliziert die Erreichbarkeit aller. Das als Massenmedium benannte Fernsehen evoziert die Vorstellung, die gesamte Gesellschaft könne als Adressat erscheinen, und deshalb dient es als gelungener Anlass, um über die Gesellschaft zu sprechen. Die vor dem Bildschirm versammelte Gesellschaft wird als Masse angesprochen, was die Erreichbarkeit noch einmal unterstreicht, da die Masse zum einen eine hohe Quantität benennt und zum anderen als leicht beeinflussbar und gleichförmig gilt. Sie garantiert erfolgreiche Adressierung, von der dann einige ausgenommen sind – eben jene, die die Masse beschreiben und dies im übrigen durch die Abkehr vom Fernsehgerät inszenieren. Der eigene Ausschluss von der Adressierung der Fernsehinhalte soll den Anspruch legitimieren, die Massen- beziehungsweise Fernsehgesellschaft von außen beobachten zu können. Aus dieser Sphäre heraus sollen die Gesellschaftsbeschreibungen angefertigt werden. Die Selbstexkludierung aus der Gesellschaft bedeutet aber gleichzeitig die Garantie, zu jenem relevanten Stratum zu gehören, dessen Aussagen von Gewicht sind. Parallel zur überkommenen Beobachtungsweise einer stratifizierten Gesellschaft wird wiederum eine Spitze in der Gesellschaft behauptet, deren Beobachtungen sich lohnen sollen, im Gegensatz zum massenmedial verbreiteten Geschwätz. Damit bedeutet der Ausschluss aus dem bezeichneten System die Inklusion bezüglich der Kommunikation, denn die gesellschaftliche Selbstbeschreibung ist die Kommunikation über den Status der Gesellschaft. Die Exklusion aus der Masse bringt die Teilnahme an Kommunikation mit sich und umgekehrt führt die Integration zur Exklusion von Kommunikation. Die Beschreibung der Gesellschaft als Masse bedeutet 57 Dieses Problem erörtert Luhmann auch anhand des Konzeptes der Öffentlichkeit, das ebenfalls auf Allinklusion zielt. Vgl. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 284f. 58 Vgl. N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, S. 144. 187
MASSENMEDIUM FERNSEHEN
den Ausschluss von Kommunikation, denn die aus dem System Ausgeschiedenen sind diskursiv mit Kommunikationshoheit ausgestattet. Die Gesellschaft als Masse erscheint dann gerade nicht als Adressat von Kommunikation, sondern lediglich als ihr Objekt, denn – das ist zentral – ihr wird die Fähigkeit zur sinnhaften und relevanten Kommunikation abgesprochen. Die Kommunikationshoheit und damit auch die Hoheit der (Selbst-)Beobachtung der Gesellschaft liegen in deren systeminternen Außen. Die Benennung der Einheit als Masse führt dazu, dass die Einheit eben keine Kommunikationsgemeinschaft beschreibt. Die Semantik der Masse beschreibt diese als zur Kommunikation unfähig und schließt sie damit von Gesellschaftsbeschreibung aus. Die Exklusion vom System bedeutet also die Inklusion beziehungsweise den Zugang zu Kommunikation und das heißt zur Möglichkeit von Gesellschaftsbeschreibung. Die Untersuchung der Verwendung des Begriffs der Masse zur Benennung des Fernsehpublikums hat demgegenüber gezeigt, dass Masse gerade eine spezifische Teilnahme an Kommunikation meint.59 Bestimmte der Masse zugeschriebene Eigenschaften lassen diese als ideale Adressaten einer Sonderform von Kommunikation erscheinen, da in ihr kein Fehlempfang angenommen wird. Eine an die Masse gerichtete Kommunikation verfehlt ihren Adressaten aufgrund deren Empfänglichkeit nicht – so die Annahme. Der Begriff der Masse impliziert für die bezeichnete Einheit somit sowohl die Teilnahme an Kommunikation als auch einen Ausschluss davon. Einerseits wird darin eine Adressierungspraktik zum Ausdruck gebracht, die erfolgreiche Mitteilung garantieren soll, andererseits wird die Kommunikationsunfähigkeit der Masse konstatiert. Kommunikationszugang und -ausschluss realisieren sich im Masse-Begriff gleichzeitig. Daraus lässt sich die These ableiten, dass eine Unterscheidung in die Gesamtheit der Kommunikation eingeführt wird und dabei die eine Seite als ›Massenkommunikation‹ zu bezeichnen ist. Die Massentheorie referiert dabei jedoch kaum auf einen elaborierten Begriff der Kommunikation. Vielmehr werden Beschreibungen angefertigt, die die »Übertragung« in der ›Massenseele‹ als minderwertige Kommunikation erscheinen lassen. An die Stelle menschlicher Kommunikation treten Vorstellungen von Hypnose und Suggestion. Anstatt eigenständiger Individuen trifft man in der Masse auf ›willenlose Automaten‹, die miteinander verschaltet sind.60 Es erscheint sofort evident, dass eine solche ›Kommunikationsform‹ nicht für die Reflexion gesellschaftlicher Zustände taugt. Ein so operierender Zusammenschluss kann nicht an Kommunikation über Gesellschaft teilneh59 Nur das Kommunikation, so wird sich im Kapitel ›Massenkommunikation‹ zeigen, nicht Kommunikation meint. 60 Vgl. G. Le Bon: Psychologie der Masse, S. 10-19. Vgl. dazu ausführlich das Kapitel Hypnose und Suggestion. 188
GESELLSCHAFTLICHE SELBSTBESCHREIBUNG
men, er muss davon ausgeschlossen werden. Dieser Ausschluss bedeutet die Exklusion von gesellschaftsbeschreibender Kommunikation, aber nicht von der Einheit der Gesellschaft, denn diese ist ja die Masse. Die Massentheorie beschreibt die Gesamtheit der Gesellschaft und exkludiert dabei die Beschreibungssubjekte, die damit Zugang zur einzig wahren und gültigen Gesellschaftsdiagnose erhalten.
4 An/Aus Mit Hofstätter wurde ausgeführt, wie sich die Exklusion organisiert, das heißt wie ein Außen der Masse konstruiert wird, das es zu besetzen gilt, indem die eigene Beobachtungskompetenz inszeniert wird. Die zum Fernsehen entstehende Textproduktion funktioniert weitgehend äquivalent.61 Entsprechend der von Hofstätter beschriebenen Massentheorie entwerfen die Kritiker des Fernsehens ein Beobachtungsdispositv: Die Einheit des Beobachtungsobjekts stellt sich dabei über das Fernsehen her. Es handelt sich um die Gesamtheit der Zuschauerschaft, die aufgrund der allinklusiven Adressierung des Fernsehens mit der Gesellschaft gleich gesetzt wird.62 Sie ist das Referenzobjekt einer Gesellschaftsbeschreibung, von der sich der Beobachter exkludiert und darüber seine eigene Beobachtungskompetenz ausstellt. Die Mechanismen der Masse-Semantik und der Medienbeschreibungen sind dabei soweit identisch, dass Hofstätters Überschrift Die Tröstungen Le Bons sich in Die Tröstungen des Fernsehens übersetzen ließen. Sein Text, der die Rhetorik der Massentheorie offen legt, kann mit dem Wort Fernsehzuschauer reformuliert werden und er begänne dann: ›Will man einer Abhandlung über gesellschaftliche Fragen begeisterte Zustimmung und weite Verbreitung sichern, dann hat man sich nur an ein höchst einfaches Rezept zu halten: Es gilt bloß dem Fernsehzuschauer alle nur irgend erdenklichen üblen Eigenschaften und Neigungen zuzuschreiben. ...‹. Anstatt von einem Le Bon-Rezept, wie Hofstätter, lässt sich nun vom Fernseh-Rezept sprechen. Dieses Fernseh-Rezept manifestiert sich in Beschreibungen des Mediums, die es mit gewissen Eigenschaften ausstatten und so die Basis stellen, um eine der Massentheorie gleich funktionierende Gesellschaftsbeschreibung anhand des Fernsehens anzustellen. Einer der zentralen Punkte ist da61 Darüber hinaus bietet das Fernsehen einen Anlass, die Masse situationsabhängig zu thematisieren. 62 Vgl. dazu das Kapitel Die Funktion des Fernsehens: Inklusion. Im Folgenden kommt es vermehrt zu Rückbezügen auf vorhergehende Kapitel. Viele Thesen und Aussagen werden aufgegriffen und in einem neuen Kontext beleuchtet beziehungsweise unter neuen Gesichtspunkten betrachtet, ohne dass jedes Mal ein Verweis auf das entsprechende Referenzkapitel erfolgt. 189
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bei aber, dass die Fernsehzuschauer als Masse benannt werden und die Bezeichnung Massenmedium für das Fernsehen verwendet wird. Aufgrund dessen kann die Diskursmechanik des Fernsehens und die der MasseSemantik nicht trennscharf auseinander gehalten werden. Da der Begriff der Masse eine so entscheidende Kategorie zur Beschreibung des Mediums ist, aktualisiert sich in den Aussagen zum Fernsehen auch die Beobachtungsstruktur der Massentheorie. Anders gesagt: Die äquivalente Funktionsweise der Medien- und Massenbeobachtungen sind einer Reaktualisierung der Masse-Semantik in den Fernsehbeschreibungen geschuldet. Die bestehenden Aussagen zur Masse werden auf die Fernsehbeobachtung übertragen, das gesamte Vokabular der Massenanalyse steht als Möglichkeitsrepertoire zur Konzeptualisierung des Fernsehens und seines Publikums zur Verfügung. Dieses Eingehen der Masse-Semantik in die Fernsehkonzepte produziert die benannte Äquivalenz von Massen- und Medienbeschreibung. Was ehemals über die Masse gesagt wurde, erscheint jetzt als beschreibungsrelevant für die Zuschauer. Das Unterscheidungsgefüge der Massentheorie aus positiv/negativ, Exklusion/Inklusion, Kommunikation/Nicht-Kommunikation, Subjekt/Objekt und Nicht-Masse/Masse wird in die Medienanalyse integriert. Entsprechend der Massentheorie erscheint zunächst ein Objekt der Beobachtung in den Beschreibungen, das die Menge der potentiellen Adressaten des Fernsehens ist. Diese Menge wird damit an die Semantik der Masse angeschlossen. Dadurch ist diese Menge konturiert und bestimmt, denn die Masse-Semantik ist nun ausschlaggebend für die Beschreibungen der Fernsehzuschauer. Massenkonzepte stellen also das Basisvokabular zur Konturierung des neuen Beobachtungsobjektes Fernsehrezipient bereit, schließlich ist auch dieses Objekt nun als Konstruktion zu haben. Massentheorien gehen also direkt in die Texte zum Fernsehen ein, um dort Beschreibungsprobleme zu umgehen. Auf der anderen Seite organisiert das Fernsehen die Massenbeschreibung neu, das heißt das Fernsehen fügt sich in den bestehenden Massendiskurs ein, indem es das Konzept der Masse mit Plausibilität versieht. Diese Evidenz resultiert daraus, dass das Fernsehen als ein Distributionssystem erkannt wird, das mit identischen Inhalten und auf identische Weise alle Mitglieder der Gesellschaft ansprechen kann. Diese identische Verbreitungsform, so die Argumentation der Kritiker, soll zur Folge haben, dass auch die Reaktion gleichförmig ausfällt. Das heißt da alle den gleichen Einflüssen ausgesetzt sind, werden sie zu Gleichen gemacht und das heißt zur Masse: »Massenmenschen produziert man«, so formuliert es Günther Anders, »dadurch, daß man sie Massenware konsumieren läßt; was zugleich bedeutet, daß sich der Konsument der Massenware durch seinen Konsum zum Mitarbeiter bei der
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Produktion des Massenmenschen (bzw. zum Mitarbeiter bei der Umformung seiner selbst in einen Massenmenschen) macht. [...] Und zwar überall dort, wo der Konsum stattfindet: vor jedem Rundfunkgerät; vor jedem Fernsehapparat.«63
Anders’ Massenware ist das standardisierte Produkt, das aufgrund seiner Gleichförmigkeit auch zur Gleichförmigkeit seiner Konsumenten führt, die damit als Masse, also selber als standardisiertes Produkt, entstehen. Alle – obwohl räumlich getrennt – bekommen das Gleiche auf ihren Bildschirmen zu sehen und diese Gleichförmigkeit bewirkt die Vereinheitlichung des Rezipienten. Da alle mit dem Gleichen angesteuert werden, werden sie als homogene Masse zusammengefasst, in der keine Differenzen auszumachen sind und diese Differenzlosigkeit64 ist ein bestimmendes Merkmal der Masse, denn »die Masse ist die Gesamtheit der nicht besonders Qualifizierten [...]; der Mensch, insofern er sich nicht von anderen abhebt, sondern einen generellen Typus in sich wiederholt.«65 Hier wird die Möglichkeit gesehen,
63 G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 103. Vgl. zur These der Gleichförmigkeit und Gleichgerichtetheit der Masse das Kapitel Menschenschwärze und Unzurechnungsfähigkeit. 64 Diese Differenzlosigkeit wird unabhängig von der Identität des empfangenen Inhalts behauptet und auch mit zunehmender Programmvielfalt und Ausdifferenzierung des Mediensystems angenommen. Solche Entwicklungen führen schlicht zu der Aussage, es sei eh alles das gleiche, was gesendet würde, oder es sei das Medium, das vereinheitliche, und nicht der Inhalt. So argumentiert nicht nur G. Anders, sondern auch viele andere wie beispielsweise Rainer Patzlaff, der 30 Jahre nach Anders sogar alle visuellen Medien als gleichwirkend beschreibt: »So verschieden die Geräte sind, alle haben denselben Effekt [...].« Einer der beschriebenen Effekte ist die Erzeugung des »Massen-Ich«, das »roboterhaft vom Kathodenstrahl dirigiert« wird. Rainer Patzlaff: Bildschirmtechnik und Bewußtseinsmanipulation, Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 1985, S. 67. Jede Hoffnung, durch ein entsprechend gestaltetes Programm wünschenswerte Wirkungen zu erzielen, das heißt insbesondere Bildung zu ermöglichen, ist in Patzlaffs wie Anders Argumentation ausgeschlossen. Patzlaff weißt dabei allerdings bedenklich paranoide Züge auf. Aber gerade dadurch beschreibt er besonders prägnant eine Mechanik, von der auch andere Autoren der Zeit ausgehen. Vgl. Torsten Hahn: »›Kenneth, what ist the frequency?‹ Manipulation, Simulation und Kontrolle durch ›unsichtbare Drähte‹«, in: Irmela Schneider/Christina Bartz/IsabellOtto (Hg.), Medienkultur der 70er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 3, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 79-89, hier S. 84. 65 J. Ortega y Gasset: Aufstand der Masse, S. 9. Vgl. dazu auch das Kapitel Die Funktion des Fernsehens: Inklusion. In dem Kapitel geht es allerdings vor allem darum, wie der Begriff der Masse die Annahme forciert, dass der einheitliche Empfang auch funktioniere, da die Masse eben einheitlich reagiere. Die gleichförmige Reaktion in der Masse garantiert die Medieneffekte. An dieser Stelle geht es dagegen darum, dass durch den gleichen Empfang die Einheitlichkeit, die die Masse auszeichnen soll, erzielt wird. Die Argumentation funk191
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die Menge als Masse zu organisieren und so die Evidenz ihrer Existenz auch ohne ansichtige Menschenansammlung zu plausibilisieren. Es geht also um die Eliminierung des Beschreibungsproblems der Massentheorie, das sich aus dem Objekt ergibt, das ein gesellschaftsweites Phänomen sein soll, anstatt eine bestimmbare Zusammenkunft. Das Fernsehen führt diese Verstreuten zu einer Einheit der vor dem Bildschirm Versammelten zusammen. Mit dem Fernsehen meint man eine Objekt gefunden zu haben, die die Masse – wenn auch zurückgezogen in den eigenen vier Wänden – beobachtungstechnisch erneut ansteuerbar macht. Sie ist auch dort erreichbar und damit als Einheit wieder hergestellt. Die Einheit des Referenzobjektes der Massentheorie stellt sich also über das Fernsehen her, indem es als Pauschalursache für Vermassung angesehen wird. Und da das Massendasein als eine Wirkung des Fernsehens ausgestellt wird, kann nun auch ›das Fernsehen‹ Auskunft über die Masse beziehungsweise die Gesellschaft geben. Ein Blick auf das Gerät reicht aus, um sich eine Vorstellung von der Masse zu machen, denn was dort geschieht, hat – so die Argumentation – als Effekt die Masse. Zudem erscheint mit einer solchen Argumentation die Benennung der Fernsehteilnehmer als Masse begründet, denn im Empfang wird das Individuum zum Masseeinzelnen, also jedem anderen Fernsehkonsumenten gleich. Damit ist die Kopplung von Masse und Medium legitimiert, was zu einer ungehinderten Fortschreibung der Massentheorie in der Medienbeobachtung führt. Ihre Inklusions- und Exklusionsmechanismen werden nun anhand des Fernsehzuschauers ausagiert. Was für die Masse gilt, gilt demnach jetzt für die Zuschauerschaft, da sie ja die Masse ist. Dabei wird über die Bezeichnung Fernseh-Zuschauer eindeutig markiert, wer zur Masse gehört, was die Inklusions- und Exklusionsmechanismen der Massentheorie reproduzieren hilft. Schließlich reicht die Hinwendung zum Empfangsgerät aus, um zum Objekt der Massentheorie zu werden. Zuschauen führt zur Inklusion auf Seiten des Beobachtungsobjekts, während die Abwendung einen Distanzgewinn zur Masse bedeutet. Die Unterscheidung An/Aus – geregelt über einen Schalter am Empfangsgerät – entscheidet, wer zur Masse gehört und wer eben nicht. ›Abschalten‹ heißt die Devise, um – mit Hofstätter formuliert – ›nicht in den Verdacht der Gemeinschaft mit dem Unhold zu geraten‹. Während Hofstätter aber meint, es bräuchte ›ein- bis zweihundert Seiten‹ Beschreibungen der ›Erbärmlichkeit der Masse‹, um sich im sicheren Abstand zu ihr zu wähnen, so bedarf es mit dem Fernsehen nur der Betätigung eines Schalters und schon kann man sich ›des Umstandes versichern, selbst gewiß nicht zu dieser zu gehören‹.66 Dieser von Hofstätter tioniert also in beide Richtungen: Fernsehkonsum führt zur Vermassung und die Eigenschaften der Masse steigern die Effektivität des Fernsehens. 66 Natürlich bedarf es einer ebenso umfangreichen Textproduktion, um das Abschalten des Gerätes mit einer solchen Bedeutung zu belegen. Dass diese be192
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beschriebene Distanzierungsmechanismus ist darauf angewiesen, dass er die eigene Kompetenz zum Widerstand gegen das eigene Massendasein ausstellt, indem es scheint, als könne man ihm leicht verfallen. Die Möglichkeit, zur Masse zur gehören, muss ›nah‹ und ›gefährlich‹ wirken und so wird die ›Größe der Gefahr zum Maßstab der Besonderheit, die ihr zu trotzen vermag.‹ Und so wird das Abschalten des Gerätes als Herausforderung an den Einzelnen inszeniert, um darüber die Minderwertigkeit des Zuschauers zu illustrieren und einen Autoritätsgewinn des Beobachters zu erlangen: »Der Einwand, daß das Fernsehgerät ja ausgeschaltet werden könne, wenn die Sendung [...] nicht behage, ist völlig unrealistisch. [...] [D]as Ausschalten [bedarf] eines psychischen Kräfteaufwands, dessen die Mehrzahl der Zuschauer einfach nicht fähig ist.«67 Der (doch eigentlich einfache) Akt des Ausschaltens wird als Kompetenz diskursiviert, während die Tätigkeit des Fernsehens problematisch bleibt und als Indikator für Inkompetenz fungiert. Es wird äquivalent zu den Aussagen der Massentheorie ein superiorer und ein inferiorer Wert geschieden. Die minderwertige Seite entspricht auch ohne Referenz auf den Masse-Begriff dessen Konzeption. Ihr ist ein Mangel eingeschrieben, der sich in der Unfähigkeit zum Abschalten manifestieren soll und die geringen psychischen Kräfte betrifft, die darin zum Ausdruck kommen. In Entsprechung zu Hofstätter und seiner Formulierung von der Masse, die scheinbar von ›Reclamechefs und Propagandisten vergewaltigt werden will‹, warnt eine anonyme Veröffentlichung in epd/Kirche und Fernsehen davor, dass der Zuschauer sich auch dem »Reclamefernsehen« zuwendet, da er nicht vom Empfang ablassen kann. Statt Autonomie ist die Rede von Zwang, Willenlosigkeit und Unfähigkeit zur rationalen Entscheidung. Der Rezipient wird zu einem willenlosen Individuum degradiert, das reitgestellt wird und wie zentral die Kategorie des Abschaltens ist, zeigt ein Telemann-Text. Darin macht sich Morlock genau darüber lustig, dass die Intendanten der Sendeanstalten dem Zuschauer regelmäßig das Abschalten empfählen, indem sie darauf aufmerksam machten, »daß das Wichtigste an einem Fernsehempfänger der Knopf zum Abschalten sei.« Martin Morlock: »Der Neunzigprozenter. Telemann«, in: Der Spiegel 1-2 (1960), S. 75. Vgl. weiterhin zur Thematisierung des Abschaltens K. Tetzner/G. Eckert: Fernsehen ohne Geheimnisse, S. 16-20; Martin Morlock: »Verhimmelung. Telemann«, in: Der Spiegel 18 (1960), S. 88; Dietrich Martins: »Ein deutscher Fernsehbrief aus Amerika«, in: Rufer und Hörer 6 (1951-52), S. 664-669, hier S. 668. Selbst in einem Leserbrief in der Programmzeitschrift Hörzu wird das Abschalten zum Thema: »Ich bin zwar erst 16 Jahre, aber ich weiß, wo am Fernsehen der Knopf zum Abschalten ist. Wenn ich so jede Woche die Leserbriefe anschaue, habe ich den Eindruck, daß viele diesen Knopf nicht kennen.« Ernst Michael: »Abschalten. Leserbrief«, in: Hörzu 14 (1965), S. 50: www.zuschauerpost.de/zupo/docs60/1965b.htm#knopf vom 01. Februar 2005. Die fernsehkritische Textproduktion bietet also durch den Verweis auf das Abschalten eine Anweisung zur Möglichkeit der Abgrenzung. 67 Anonymus: Die Morde am Familientisch, S. 1. Die folgenden Zitate ebd. 193
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den Einflüssen des Mediums hilflos ausgeliefert ist, da ihm das Abschalten unmöglich ist. Damit ist sichergestellt, dass das Fernsehen auf den Einzelnen wirkt und ihn erreicht, denn es wird ohne Unterbrechung empfangen. Da dies für die »Menge« der Zuschauer gilt, erreicht das Fernsehen die Gesamtheit der Gesellschaft. Die Ausführungen zum Abschalten beginnen mit einer Nennung von Zuschauer- und Gerätezahlen und behaupten so die soziale Reichweite des Phänomens beziehungsweise dessen gesellschaftliche Relevanz. Der gesamte soziale Bereich erscheint durch das Fernsehen affiziert. Die Gesellschaft erscheint durch das Fernsehen adressierbar, da zum einen viele daran teilhaben und zum anderen die Teilnehmer auch wirklich zusehen. Schließlich heißt es, sie könnten gar nicht anders. Diesem Inklusionsmechanismus des Fernsehens steht eine Exklusion derer gegenüber, die die Fähigkeit zum Abschalten besitzen, also noch im Vollbesitz ihrer ›psychischen Kräfte‹ sind. Durch die Beschreibung eines Mangels der Fernsehzuschauer erscheint als dessen Gegenteil ein kompetentes Individuum, das sich seiner durch den schlichten Akt des Abschaltens versichert. Es hat die dafür nötige Leistung erbracht, den Schalter zu betätigen, und markiert so seine Distanz gegenüber den Willenlosen, die »im Bann des Bildschirms« stehen. Dieses Individuum ist aber nie Gegenstand der Beschreibung, sondern ergibt sich immer nur ex negativo. Wie in den Texten der Massentheorie führt die Exklusion auf der einen Seite zur Inklusion auf der anderen und so bedeutet Abschalten – die Nichtzugehörigkeit zum Publikum – auch einen Zugang zur Kommunikation über die Gesellschaft beziehungsweise umgekehrt: Fernsehen heißt Exklusion von gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Dazu kann ein so konzipierter Zuschauer nicht fähig sein, schließlich ist er willenlos, unfrei, gebannt und ohne Entscheidungsfreiheit, denn die »Menge [...] löst sich auch dann nicht, wenn es angebracht wäre.« Zudem lebt er mit dem Fernsehen, von dem er sich ja nicht abwenden kann, in einem »Illusionsbereich«, das heißt er hat durch das Fernsehen nicht einmal Einblick in die Realität. Beobachtungskompetenz kann er so nicht beanspruchen. Diese fällt jenen zu, die sich nicht im Banne des Fernsehens sehen, und sich von dessen Illusionen meinen lösen zu können. Sie schicken sich an, die andere Seite zu beobachten und vermeintlich valide Aussagen über sie zu produzieren, wie die von der Unfähigkeit zum Abschalten. Sie besetzen diskursiv ein Außen der Zuschauerschaft und darüber den Ort, von dem aus gesellschaftliche Selbstbeschreibungen angefertigt werden. Dabei bleibt diese Seite der blinde Fleck der Beobachtung, denn in den Beschreibungen erscheint nur das gesellschaftliche Feld, das in den Zuschauern ansichtig zu sein scheint. Über die Unterscheidung An/Aus werden also eine Reihe von Folgeunterscheidungen programmiert, die die gesellschaftliche Selbstbeschreibung anhand des Fernsehens organisieren. Das Fernsehen setzt damit eine identi-
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sche Diskursmechanik in Gang, wie die Masse-Semantik. Dabei werden bei der Masse wie bei dem Medium identische Codierungen und Programmierungen bemüht, beziehungsweise die Fernsehbeschreibungen schließen direkt an die Massentheorie an. Der entscheidende Punkt ist aber, dass solche Beschreibungen nicht einfach ein Bild der Gesellschaft entwerfen, das sich anhand des Fernsehen zeigen soll. Sie reproduzieren auch ihren eigenen Möglichkeitsgrund mit, denn sie schaffen ihre eigenen Beobachtungsbedingungen in den Beschreibungen.
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DAS
TEIL V Z E I T A L T E R D E R M A S S E N M E D I E N II
Im letzten Teil der Arbeit wurde die Beobachtungsstruktur der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung thematisiert, also die grundsätzliche Problematik, dass die Beschreibung der Gesamtgesellschaft ohne anschauliches Objekt auskommen muss. Diese Thematik wird im Folgenden anhand der Lektüre einiger konkreter Gesellschaftsbeobachtungen der Nachkriegszeit fortgeführt. Sie dienen als Beispiele um aufzuzeigen, wie die im letzten Teil vorgestellten Zusammenhänge in den 1950/60er Jahren im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Komplexen Masse und Medien manifest werden. In diesen Lektüren zeigt sich auch noch einmal, wie anlässlich der Betrachtung des Fernsehens die unterschiedlichen Eigenschaftsbeschreibungen der Masse reproduziert werden. Zum einen wird Günther Anders Die Welt als Phantom und Matrize vorgestellt. Der Text realisiert im besonderen Maße die im letzten Teil vorgestellte Behauptung einer Beobachtungsautorität. Diese stellt sich bei Anders gleichermaßen über die Semantik der Masse wie über die Analyse von Medien her. Beide Komplexe führen eine Unterscheidung in die Wahrnehmung ein, die einmal als klarsichtig und einmal als kontaminiert entworfen wird. Anschließend geht es um die Studie Die einsame Masse von David Riesman, Reuel Denney und Nathan Glazer. Sie hebt sich stark von Anders Massendarstellung ab, weil ihr weitgehend ein pejorativer Grundton fehlt. Die Massen- und Medienanalyse US-amerikanischer Prägung ist anders strukturiert als die europäische Massentheorie. Dies betrifft im Besonderen die Funktionsstelle der ›Massenkommunikationsmittel‹. Die Betrachtung der Massenkommunikationsmittel in Die einsame Masse bietet eine hervorragende Folie für die Konturierung des Kommunikationsmodells, wie es die Massentheorie implizit entwirft und wie es vor allem von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer aufgegriffen wird. Ihre Analyse der ›Kulturindustrie‹ steht im Mittelpunkt des vierten Kapitels. Dabei ist jedoch hervorzuheben, dass ihr Konzept der Kulturindustrie nicht einfach in die Begriffe Masse und Medium übersetzt werden kann. Dessen ungeachtet stellen sie die Idee einer kulturindustriellen Kommunikationform vor, die sich kaum von dem unterscheidet, was die Massentheorie als Kommunikation der Masse beschreibt. Diese ›Massenkommunikation‹ zeichnet sich zum
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einen gerade dadurch aus, dass sie – entsprechend der Thesen des letzten Teils dieser Arbeit – nicht eigentlich als Kommunikation bezeichnet werden kann. Zum anderen erscheint das Fernsehen als die perfekte Umsetzung dieser (Nicht-)Kommunikation. Den Auftakt der folgenden Lektüren bildet jedoch zunächst die Betrachtung von Theodor Geigers Die Masse und ihre Aktion, obwohl der Text bereits in den 1920er Jahren erscheint. Er wird 1926 erstmals publiziert und 1967 erneut veröffentlicht. Obwohl die Studie außerhalb des hier gesetzten zeitlichen Rahmens der 1950/60er Jahre liegt, ist sie aus verschiedenen Gründen von Interesse: Zunächst einmal handelt es sich um eine soziologische Herangehensweise an die Massenfrage und damit gehört die Gesellschaft und ihre Beobachtung, wie sie im letzten Teil der Arbeit vorgestellt wurde, zu ihrem fachspezifischen Gegenstand. Die Soziologie ist der universitäre Ort der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung und kann daher hier nicht übergangen werden, wenn es um entsprechende Fragestellungen geht. Geigers Massentheorie wird dabei exemplarisch für die intensive gesellschaftswissenschaftliche Diskussion über die Masse in den 1920er Jahren betrachtet. Diesen exemplarischen Charakter erhalten Geigers Überlegungen unter anderem insofern, als er sich wie viele seiner Fachkollegen auch mit mit den Möglichkeiten, den soziologischen Gegenstand Masse zu beobachten beziehungsweise zu erfassen, auseinandersetzt. Die Beobachtungsproblematik, wie sie die vorliegende Arbeit beschäftigt, wird in Geigers Untersuchung reflektiert. Geigers Studie ist zudem hier von Interesse, weil er seine Theoretisierung der Massen und die Frage nach ihrer Erfassbarkeit in den 1950er Jahren fortsetzt. In dieser Fortführung seiner Arbeit hebt er auf ein Beschreibungselement ab, das besondere Relevanz für die Fernsehanalyse erhält: die Isolation und Anonymität des Einzelnen in der Massengesellschaft. Die Thematik wird in den 1950/60er Jahre aufgegriffen, um das Fernsehen und die damit verbundene Rezeptionssituation zu konturieren.
1 Die Isolation der Masse und die Vergemeinschaftung im Medialen An den Anfang seiner Betrachtung über die Masse stellt Geiger den Befund einer verwirrenden Wortverwendung und die Frage, worin dieser wahllose Gebrauch des Begriffs Masse begründet sei. Zentral ist für ihn dabei eine mangelnde Differenzierung hinsichtlich der Sozialgebilde, die unter dem Begriff der Masse gefasst werden. Der Begriff diene der Bezeichnung sehr unterschiedlicher sozialer Sachverhalte.1 Geigers Anliegen ist es, dem ge1
T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 5. Katharina Rutschky merkt an, dass »Geigers Schrift über die ›Masse und ihre Aktion‹ (1926) […] wegen des Über198
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genüber eine klare begriffliche Differenzierung vorzunehmen. Als Grundlage für die begriffliche Differenzierung dient ihm die Beobachtung, dass die wissenschaftlichen Aussagen zur Masse ihren gemeinsamen Nenner stets in einem anschaulichen Objekt – der Massenaktion – finden. Diese Massenaktion sei aber lediglich das Beobachtungsobjekt, an dem sich die Masseneigenschaften konkret anschaulich zeigen, ohne dass sie aber die Masse selber ausmachten. Die Masse als Konglomerat von Eigenschaften bestehe auch ›par distance‹, sei dann aber nicht mehr konkret und somit auch nicht als Beobachtungsobjekt tauglich. Anders gesagt: Die Masse wird nach Geiger nur in ihrer ›aktuellen‹ Aktion sichtbar, weshalb die Massenaktion die Grundlage der Massenbeschreibung darstelle, obgleich die Masse auch ohne solche Äußerungen ›latent‹ existent sei.2 Die Masse besteht also unabhängig von einer konkreten Aktion, kommt aber nur darin zur Anschauung.3 Geiger hebt hier auf ein Beobachtungsproblem ab: Die latente Masse entziehe sich der Beobachtbarkeit und schaffe so ein erkenntnistechnisches Desiderat, das durch die konkrete Masse gefüllt wird. Anhand letzterer sollen die Erkenntnisse über die Masse gewonnen werden, obgleich es sich lediglich um eine
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gewichts grüblerischer Differenzierungen an einem geträumten Gegenstand heute kaum noch verständlich« sei. Katharina Rutschky: »Kommt massenhaft! Zum neuen Glück der großen Zahl«, in: Merkur 9-10 (1989), S. 872-882, hier S. 873. Dieser Befund trifft sicher zu, ist aber darin begründet, dass Geiger gerade versucht, die heterogenen und konfusen Bestimmungen der Masse zu systematisieren. Dabei bietet er einen – wenn auch selber unübersichtlichen – Überblick über die zeitgenössische Massentheorie, die eben von Konfusion gekennzeichnet ist. Rutschkys Kritik an Geiger betrifft insofern den Begriff der Masse selber. Vgl. zur Gegenüberstellung der ›Masse par distance‹ und der ›aktuellen Masse‹ T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 77. Vgl. zur Gegenüberstellung von ›Latenz und Aktualität‹ ebd., S. 122. Vgl. T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 78-87 u. 121f. Mit dieser Feststellung richtet sich Geiger im %esonderen gegen Le Bons massentheoretische Überlegungen. Zwar thematisiert Geiger eine Vielzahl von Untersuchungen zur Masse, aber Die Psychologie der Massen von Le Bon ist sein zentraler Referenztext. Dabei stellt Geiger fest, dass auch Le Bon beide Formen der Masse kenne, sie aber nicht hinreichend unterscheide. Vgl. ebd., S. 87. Er formuliert damit einen Befund, den auch die vorliegende Arbeit leitet: Es werden zumeist beide Sozialgebilde – die latente und aktuelle Masse – zugleich thematisiert. Vgl. vor allem das Kapitel Mediale Umperspektivierung. Dessen ungeachtet bestehen einige Differenzen gegenüber Geigers Thesen. Diese Unterschiede ergeben sich schon allein aus der unterschiedlichen Herangehensweise. Im Rahmen der Untersuchung der Masse-Semantik wird hier die These vertreten, dass die Charakterisierung der Massengesellschaft Effekt der Beobachtung des Massenauflaufs ist. Ohne dieses Referenzobjekt bleibt die Rede von der Massengesellschaft leer. Der Soziologe Geiger sieht dagegen in der Massenaktion lediglich das falsche Objekt, um Erkenntnisse über die latente Masse zu erhalten. Die Massenaktion ist nach Geiger ein Hinweis auf die Existenz der permanent vorhandenen Masse. 199
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Art Hilfskonstruktion handele. Das so gewonnene Wissen werde dann auf das eigentliche Untersuchungsobjekt – die latente Masse – angewendet. Es herrsche also eine Verwechslung des Anschauungsobjektes, das die aktuelle Masse ist, mit dem Sachverhalt, den Geiger als die eigentliche – latent genannte – Masse ansieht und dies führt zu der eingangs festgestellten begrifflichen Konfusion, was eine Reihe von Fehlurteilen über die Masse zur Folge habe. Aus dieser Differenzierung in die Masse par distance, die von gewisser Dauer ist, und der Masse der Aktion, die sich kurzzeitig an einem bestimmten Ort aktualisiert, ergeben sich einige Konsequenzen in der Beschreibung beziehungsweise Beschreibbarkeit der Masse. Im Besonderen bedeutet dies, dass die Eigenschaften des Massenindividuums nicht das Resultat des aktuellen Massenerlebnisses ist. Wenn die Masse ein allgemeiner sozialer Zustand ist, der sich kurzzeitig in einer Aktion zeigt, so kann die ›Massenpsyche‹ kein Effekt des Massenauflaufs sein, wie vielfach angenommen.4 Geiger folgert ein umgekehrtes Kausalitätsverhältnis: Nicht die Versammlung einer Menge führt zur Entwicklung einer Massenpsyche, sondern die Grundhaltung des Masseneinzelnen führt zur Massenaktion. Die Massenaktion ist Effekt eines bereits gegebenen Massendaseins des Einzelnen in der Gesellschaft. Somit wirkt nicht die Massenansammlung vermassend auf den Menschen, sondern der Massenmensch gibt der Ansammlung ihre spezifische Massenform.5 Damit wendet sich Geiger gegen die Annahme, dass mit steigender Anzahl der beteiligten Personen auch die Wahrscheinlichkeit für den Einzelnen und die Menge zunimmt, die Eigenschaften der Masse anzunehmen.6 Da aber die Massenaktion nur der Ausdruck der Masse par distance ist, bleibt die Anzahl unerheblich. Dies gilt allerdings nicht für die Masse par distance, die eine große Anzahl aufweisen muss, um als Masse gelten zu können.7 Die Massenaktion gleicht in dieser Konzeption einem ›Entladungsvorgang‹: Die Masse ist Inhaberin einer Kraft, die im Zuge ihrer Zusammenkunft in einer ›Explosion‹ freigegeben wird.8 Was sich in der Massenaktion
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Vgl. T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 34. Vgl. ebd., S. 82f. Vgl. ebenso W. Vleugels: Die Masse, S. 77; ders.: Der Begriff der Masse, S. 176f.; G. Stieler: Person und Masse, S. 94. Vgl. T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 84f. Vgl. ebd., S. 40, 58 u. 102. Die Bezugnahme auf das Vokabular der Physik findet sich regelmäßig im Rahmen von Massentheorien. Dies liegt schon alleine nahe, weil sich die Massentheorie mit der Physik den Begriff Masse teilt. Hervorzuheben ist diese Bezugnahme aber bei Canetti, der – so Petra Kuhnau den physikalischen Darstellungsmodus wählt, um psychologische Beschreibungen im Sinne Freuds zu umgehen. Vgl. P. Kuhnau: Masse und Macht in der Geschichte, S. 85. Vgl. auch Peter Friedrich: Die Rebellion im Textsystem. Die 200
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spontan entlädt, ist die Kraft der Negation. Nach Geiger sehen sich die Menschen einem gesellschaftlichen Ausschluss unterworfen, der die Haltung einer Verneinung der Gesellschaft produziert.9 Die Masse ist die ›Vielheit der Ausgeschlossenen‹, die aufgrund ihrer Exklusion die Gesellschaft ablehnen; »ihr Geist ist der Geist der Gemeinschaft im Nein.«10 Allein in diesem Nein gegenüber der Gesellschaft treffen sich, laut Geiger, die Einzelnen der Masse, die ansonsten eine heterogene Vielheit bilden. Eigentlich fehlt der Masse »jegliche erkennbare Gliederung, [...] jede bewußte Organisation«11 und sie ist dennoch zu einem einheitlichen Ganzen verbunden.12 Sie ist die homogenisierte Vielheit eines heterogenen Komplexes, der ungegliedert, unzählbar und formlos ist. Mit dieser Definition stellt die Masse par distance ein Theorieangebot dar, das gerade hinsichtlich der Masse als gesamtgesellschaftliches Phänomen von Interesse ist, denn Geiger versucht eine Beschreibung der Masse jenseits ihres konkreten Erscheinens.13 Die konkrete Erscheinung der Masse ist lediglich ein Effekt eines grundsätzlichen Massendaseins. Die Eigenschaften der Masse ergeben sich nicht aus der Zusammenkunft. Damit wird gegenüber anderen Massentheorien ein neues Kausalverhältnis behauptet. Indem Geiger aber den vorhergehenden Massenstudien vorwirft, sich an den aktuellen Massenerscheinungen und damit am falschen Beobachtungsobjekt ausgerichtet zu haben, ruft er ein Untersuchungsobjekt auf die Agenda der sozialwissenschaftlichen Beobachtung, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es nicht in Erscheinung tritt. Er sucht die Masse jenseits ihrer konkreten Aktion und konzipiert so eine Masse, die potentiell alle Bereiche der Gesellschaft durchsetzt und affiziert. Die aktuelle Zusammenkunft ist dabei eine mögliche Form, aber nicht Bedingung der Masse. Mit dieser Entkopplung von Versammlung und Massenexistenz ist eine Gelenkstelle für die Thematisierung von Verbreitungsmedien eingerichtet.
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13
Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis ›Masse und Macht‹, München: Fink 1999, S. 227. Vgl. T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 40f. Eine identische Argumentation findet sich bei Sighele. T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 74. Vgl. in gleicher Weise H. de Man: Vermassung und Kulturverfall, S. 43. T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 139. Dies verweist auf das immer wieder geäußerte Moment der Gleichgerichtetheit der Masse, wie es im Kapitel Menschenschwärze und Unzurechnungsfähigkeit Thema war. Vgl. dazu auch Gerhard Colm: »Die Masse. Ein Beitrag zur Systematik der Gruppen«, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 52 (1924), S. 680-691. Für seine Erörterung bedarf auch Geiger – wie die meisten Massentheoretiker – des Massenauflaufs. Er dient ihm als Abgrenzungsobjekt und als Effekt der latenten Masse. 201
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Die Ubiquität des von ihm beschriebenen Massenphänomens markiert die gesamte Gesellschaft als potentiell von Massenerscheinungen betroffen. Latent – oder in Geigers Worten auch »unterirdisch«14 – besteht das Massenphänomen fort, auch wenn ›oberirdisch‹ kein Anlass zur Vermutung besteht, dass die Gesellschaft dem Massendasein entgegenstrebt. Die Masse wird somit zum invisiblen Bestandteil des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens. Dies meint zugleich, dass der Verdacht ihrer Existenz auf Dauer gestellt wird. Permanent und überall kann die Masse vermutet werden, ohne dass dazu ein konkreter Anlass besteht. Insofern formuliert die Soziologie ein Theorem, das sich zur Aufnahme in das Repertoire der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung anbietet. Im Anschluss an die soziologische Annahme einer latenten Masse kann die Beobachtung der gesamten Gesellschaft darüber organisiert werden. Der Begriff der Latenz, der sich auch in Wilhelm Vleugels’ Massenbeschreibung findet, drückt besonders prägnant die Idee einer unsichtbaren Masse aus, von deren Existenz aber auszugehen ist. Vleugels grenzt die latente Masse gegen die ›wirksame Masse‹ ab, die weitgehend Geigers ›aktueller Masse‹ entspricht. Eine ähnliche Differenzierung der Masse führt Leopold von Wiese ein, indem er zwischen ›abstrakter und konkreter Masse‹ unterscheidet. Wie bei Geiger wird in der begrifflichen Differenzierung das konkrete Anschauungsobjekt des Massenauflaufes von einer allgemeineren und nicht in Erscheinung tretenden Masse getrennt.15 Die Konzeption einer »diffusen Masse«16, die nicht lokalisierbar ist, stellt also eine Tendenz der Soziologie der Masse der 1920er Jahre dar. Geiger steht somit im vorliegenden Zusammenhang exemplarisch für diese Perspektivierung der Masse, die sich in der deutschen Soziologie der Zeit durchsetzt. Der so gewonnene Masse-Begriff ist aber von der grundsätzlichen Beobachtungsproblematik der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung betroffen. Eine Beschreibung der Gesellschaft und somit auch die Beschreibung der latenten Masse leiden an der Ubiquität ihres Objektes, die es eben unbeobachtbar macht. Mit der Differenzierung ist aber nicht nur die Seite der latenten und das heißt der Beobachtung entzogenen Masse gewonnen – also nicht
14 T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 100. 15 Vgl. W. Vleugels: Die Masse. Leopold von Wiese: System der allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen, Berlin: Duncker & Humblot 19553 (1924), S. 384-425. 16 Laut Jachen Curdin Nett verwendet Geiger im Anschluss an eine Auseinandersetzung mit von Wiese anstatt ›latente Masse‹ den Ausdruck ›diffuse Masse‹. Vgl. Jachen Curdin Nett: »Über die Aktualität der Geigerschen Ansätze zu Masse und Revolution«, in: ders./Urs Fazis Nett (Hg.), Gesellschaftstheorie und Normentheorie. Symposium zum Gedenken an Theodor Geiger 9.11.189116.6.1952, Basel: Social Strategies Publ. Co-operative Soc. 1993, S. 267-283, hier S. 273 202
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nur das Feld der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung –, sondern auch das konkrete Objekt der Anschauung. Diese konkrete und stets als speziell verstandene Masse erhält darüber ihre gesellschaftstheoretische Relevanz. Die aktuelle Masse wird geradezu zum Garanten des unbeobachtbaren Objekts, denn, wenn sie aktuell ist, muss sie zuvor als Möglichkeit bestehen. Diese Möglichkeit ist aber nur über ihre Aktualität erkennbar und bleibt invisibel. Mit der Invisibilisierung der Masse geht auch der Verlust ihres Profils einher. Was als Masse zu gelten hat und welche Personen tatsächlich der Masse in ihrer Latenz angehören, bleibt ungeklärt und diffus.17 Zugleich jedoch deutet Geiger eine Eigenschaftsbeschreibung der latenten Masse an. Er versucht, trotz seines eigenen Befundes der Unsichtbarkeit seines Objektes, ihr auf die Spur zu kommen und identifiziert den Massenmenschen über eine Empfindung der Isolation: »Je stärker im Individuum soziale Dauerbindungen wirksam sind, desto weniger wird es fähig und geneigt sein, seine Dauerbindungen vorübergehend im Massenakt zu vergessen. [...] Es leuchtet ein, daß die Vermassungsbereitschaft des einzelnen Menschen um so größer ist, je mehr er an sich ›entwurzelt‹, d.h. proletarisiert, ist. Denn, da das Massen-Erlebnis ja nichts andres ist als der vorübergehende inner-seelische Vollzug eines voluntativ vollständigen Sich-außer-der-Gesellschaft-Stellens, so muß diesem kollektiven Akt der geringste Widerstand geboten sein in der Psyche desjenigen, der auch seiner Dauerhaltung nach schon gewissermaßen ›mit einem Bein außerhalb der bestehenden Gesellschaft steht‹; sei es nun aus welchen Gründen immer er in solcher Weise ›entwurzelt‹ sei – ob aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage und der durch sie bedingten Ressentiments oder wegen anderer in seiner Psyche oder in seinem Milieu gegebener Tatbestände.«18
Geiger versteht die Masse demnach als ein Exklusionsproblem, von dem allerdings nicht eine Minderheit, sondern das ›Proletariat‹ betroffen ist. Es handelt sich um den gesellschaftlichen Ausschluss der Vielen. Eine Vielzahl von Einzelnen wendet sich gegen die Gesellschaft, weil die Gesellschaft sich gegen sie gewendet zu haben scheint. Einer mangelhaften gesellschaftlichen Integration folgt demnach die Selbstexklusion, die sich darin vollzieht, dass der Einzelne in der Masse aufgeht und damit seine ›Dauerbindungen‹ negiert. Die Vorstellung der Aufgabe von Dauerbindungen zugunsten einer Einbindung in die Masse, wie Geiger sie zu Beginn des Zitats äußert, bedeutet eine spezifische Variante der Exklusionsthese. Die Abkehr von der Gesellschaft hat demnach seine Ursache nicht allein in ökonomischen oder milieu17 Vgl. M. Franke: Der Begriff der Masse in der Sozialwissenschaft, S. 80f. 18 T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 94. 203
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bedingten Umständen, sondern in einem Mangel an sozialen Bindungen. Mit dem steigenden Verlust von Sozialbindungen und dem damit einhergehenden Mangel des Gefühls der sozialen Zugehörigkeit dominiert die Vermassungstendenz. Die Zuschreibung auf eine soziale Schicht entfällt damit. Teil der Masse par distance zu sein, bedeutet somit eine geringe soziale Integration. Genau dieser Aspekt, der sich hier nur andeutet, wird für Geigers spätere Arbeiten zentral. In der Nachkriegszeit erscheinen eine Reihe von Geigers Arbeiten zum Thema ›Massengesellschaft‹, in denen er sich mit der Problematik der Isolation auseinandersetzt. Im Rahmen der späteren Arbeiten Geigers treten Verschiebungen in der Massenkonzeption gegenüber Die Masse und ihre Aktion auf. Zunächst verliert sich der Ausdruck ›latente Masse‹ zugunsten der Rede von der ›Massengesellschaft‹. Damit verbunden wird die Beschreibung der Masse von einigen Aspekten befreit. Es entfällt die Beschreibung einer Selbstexklusion, die sich in der Ablehnung der Gesellschaft äußert. Stattdessen wird das Moment der Isolation zentral. Diese Verschiebungen sind Geigers Beobachtung geschuldet, dass die Masse zunehmend als eine gesamtgesellschaftliche Erscheinung angesehen wird, statt dass in ihr ein partielles Phänomen der Gesellschaft erblickt würde. Die in den 1920er Jahren festgestellte Begriffsverwirrung scheint sich nach Geiger also in der Nachkriegszeit aufgeklärt zu haben und allein die latente Masse ist noch beschreibungsrelevant. Geigers spätere Texte, die die Masse thematisieren und vielfach erst nach seinem Tod 1952 veröffentlicht werden, reflektieren also die Idee, mit Hilfe des Begriffs der Masse eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung anzufertigen. »An dieser gesellschaftlichen Daseinsform [der Massengesellschaft] wird gemeinhin kritisiert, daß sie unanschaulich, anonym und abstrakt sei. [....] [D]er Mensch fühle sich in ihrer sachlich-kühlen Atmosphäre heimatlos, insbesondere aber werde durch die Unpersönlichkeit und Anonymität der Beziehungen, die Reduzierung der Person zum Molekül in einer gleichförmigen Riesenmasse das Bewußtsein sozialer Verantwortlichkeit abgestumpft. [...] Nach einer herzbewegenden Schilderung dieser kalten, unpersönlichen, anonymen und atomisierten Beziehungen wird nämlich regelmäßig unterstellt, daß dies der Stil zeitgenössischen sozialen Lebens überhaupt sei. Es wird behauptet, daß wir ein Massendasein führen. Die gedankenlos vergröberte Gegenüberstellung der mittelalterlichen lebenden Gemeinschaft und der neuzeitlichen atomisierten Massengesellschaft weckt den Anschein als sei die sogenannte Massenstruktur schlechthin an die Stelle jener älteren Verhältnisse persönlicher Nähe getreten.«19 19 Theodor Geiger: »Die Legende von der Massengesellschaft«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XXXIX (1950/51), S. 305-323, hier S. 308f. Der Text wird erneut abgedruckt in Theodor Geiger: Arbeiten zur Soziologie. Me204
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Geiger referiert hier eine Sozialbeobachtung, die in der Masse die Grundform der Gesellschaft entdeckt und der er kritisch gegenüber steht. Geigers Kritik beruht jedoch nicht auf der Annahme, bei der Masse handele es sich lediglich um eine begrenzte, wenn auch gesellschaftsweit verstreute Gruppe innerhalb der Gesamtgesellschaft. Stattdessen merkt er an, dass jedes einzelne Gesellschaftsmitglied partiell ein Massendasein führe. Die Problematik der Masse betrifft jeden, so Geigers These. Im Allgemeinen hat jeder Mensch an einer Vielzahl von sozialen Zusammenschlüssen teil und unterhält eine Reihe von Sozialkontakten. Allerdings gibt es Augenblicke im Leben des Einzelnen, in denen Anonymität und Isolation und damit das Massendasein herrsche. Dieses Dasein ist aber nur von begrenzter Dauer. Die Masse und ihre unbegrenzte Ausdehnung werden jetzt zu einer zeitlich beschränkten Erscheinung im Leben des Einzelnen. »Nur in einer begrenzten Anzahl von Fällen tragen auch die [...] aktuellen Kontaktsituationen das Gepräge der Anonymität und Atomisierung, in den meisten anderen kommt der Einzelne in Berührung mit ihm bekannten Personen, zu denen er durch regelmäßige und häufige Kontaktwiederholung in einer Dauerbeziehung steht.«20
Indem Geiger die Quantität und Qualität der Sozialkontakte und damit die Intensität der sozialen Integration in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Legende von der Massengesellschaft stellt, greift er einen Aspekt auf, den er in seiner Massentheorie von 1926 nur knapp andeutet. Eine Vielzahl anderer Beschreibungsvariablen lässt er dagegen vollkommen fallen. Begründet ist dies, wie bereits erläutert, darin, dass er sich mit der Massengesellschaft als Theorem der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung auseinandersetzt. Wie in Die Masse und ihre Aktion bezieht Geiger sich auf einen herrschenden Diskussionsstand, den er aufnimmt, um die darin geäußerten Thesen zu überprüfen. Ziel seines Textes ist also die Klärung der Frage, inwiefern die zeitgenössische Gesellschaft mit dem Begriff der Masse zu erthoden – Moderne Großgesellschaft – Rechtssoziologie – Ideologiekritik. Neuwied am Rhein, Berlin-Spandau: Luchterhand 1962, S. 171-185. Der Band enthält auch einen Text, der sich mit sozialer Isolation auseinandersetzt. Im Rahmen dessen beschreibt Geiger auch eine Form der Selbstexklusion als Folge der gesellschaftlichen Exklusion und damit einen Prozess, wie er ihn in Die Masse und ihre Aktion für die Masse beschreibt. Vgl. Theodor Geiger: »Formen der Vereinsamung«, in: ebd., S. 260-292, hier S. 268f. 20 T. Geiger: Die Legende von der Massengesellschaft, S. 314. Geiger formuliert dies auf der Grundlage eines Selbstversuches, bei dem er seine eigen Sozialkontakte beobachtet. Der Versuch ist ausführlich wiedergegeben in Theodor Geiger: Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, München: Szczesny 19642 (1959), S. 75-111. Die Beschreibung des Selbstversuches endet mit der Frage: »Wo bleibt das anonyme Massendasein?«. Ebd., S. 105. 205
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fassen sei.21 Damit gibt er auch ein Zeugnis vom Stellenwert des MasseBegriffs im Rahmen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung. Isolation meint dabei einen Mangel an Sozialkontakten beziehungsweise eine Steigerung von Kontakten, die nicht auf einer persönlichen Beziehung beruhen. Das soziale Umfeld des Einzelnen ist bestimmt von Personen, die ihm nicht bekannt sind. Soziale Isolation bedeutet somit auch nicht das Ausbleiben menschlichen Zusammenlebens, sondern eine spezifische Form davon, die durch Anonymität gekennzeichnet ist. Diese Idee der Isolation als anonymes Sozialgeschehen wird prägend für die Konzeption von Hörfunk und Fernsehen. Deren telemedialen Eigenschaften führten dazu, dass die Rezipienten untereinander getrennt und der Kontakt zwischen Empfänger und Sender durch Anonymität gekennzeichnet sei. Beide Aspekte sind für von Wiese spezifisch für den Hörfunk.22 So handele es sich bei den Hörern um eine Masse ohne inneren Konnex: »Beim Rundfunk haben wir die Eigenart, daß ein Massenkontakt seine Auswirkungen nicht auf die versammelte Menge entfaltet, sondern auf die Solitären, die Einsamen im stärksten Maße. Die Isolierten werden erreicht. Die Hauptwirkung des Rundfunks findet gerade bei den Einsamen, Abgesonderten statt [...].«23
Zu diesem Mangel an Kontakt zwischen den Hörern kommt die mindere Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung, die der Hörfunk schafft. Der Hörer baue durch die gegebene Distanz keine Beziehung zum Sprecher auf. Die »Übertragungsform« bedinge eine »Schwäche der Tiefenwirkung des Kontaktes [...]. Es handelt sich hier um Kontakte, die nicht sogleich zu Beziehungen anschwellen, bei denen das soziale Positive und das, was letztlich von Wichtigkeit ist, die große Dauerwirkung verhältnismäßig selten sein
21 Vgl. zu einem ähnlichen Vorgehen mit einem ähnlichen Befund Herbert Blumer: »Über das Konzept der Massengesellschaft«, in: Alphons Silbermann (Hg.), Militanter Humanismus. Von den Aufgaben der modernen Soziologie, Frankfurt/Main: Fischer 1966, S. 19-35. 22 Dabei sind diese Aspekte letztlich schon für die Schrift bestimmend, die sie allersdings nicht synchron, sondern zeitlich zerdehnt realisiert. Das diese Übereinstimmung zwischen Schrift und Hörfunk beziehungsweise später Fernsehen kaum in den Blick gerät, liegt wohl darin begründet, dass Hörfunk und Fernsehen leicht als Wahrnehmung anstatt als Kommunikation aufgefasst werden. Vgl. dazu das Kapitel ›Massenkommunikation‹. 23 Leopold von Wiese: »Die Auswirkungen des Rundfunks auf die soziologische Struktur unserer Zeit« (1930), in: Hans Bredow (Hg.), Aus meinem Archiv. Probleme des Rundfunks, Heidelberg: Vowinckel 1950, S. 98-111, hier S. 101. Vgl. dazu auch C. Dammann: Stimme aus dem Äther – Fenster zur Welt, S. 39f. Laut Dammann stellt sich die Problematik der Isolation vor allem aus der Perspektive der Produktionsseite her, die bei der Adressierung der vielen Getrennten das Feedback vermisst. 206
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muß.«24 Mangelhafte und mangelnde Sozialkontakte seien also das Spezifikum des Hörfunks und dies sei das Resultat seiner telemedialen Eigenschaften. Es handele sich um eine »Technik, durch die die trennenden Fernen von Zeit und Raum vermindert, teilweise sogar nahezu ganz aufgehoben werden [...].«25 Der Hörfunk bringe die Menschen zusammen, aber diese Zusammenkunft gestalte sich nicht neu im Vergleich zu der Beziehung zwischen Anwesenden. Es ist eine Zusammenkunft unter Isolierten, die sich einander fremd sind. Von Wieses Thesen zum Hörfunk werden später für das Fernsehen erneut formuliert. Der Einzelempfang wird ebenso hervorgehoben, wie die Unpersönlichkeit der Beziehung des Zuschauers zum Dargebotenen. »Man darf«, so schreibt 1956 Maletzke, »die persönliche Begegnung zwischen Zuschauer und dem Menschen auf dem Bildschirm nicht überschätzen.«26 Maletzke formuliert also für das Fernsehen, was von Wiese als Eigenschaft des Hörfunks bestimmt hat: eine mangelnde Tiefenwirkung des medial vermittelten Sozialkontaktes. Doch Maletzke schließt sofort nach seiner Feststellung, dass man die medienvermittelte Begegnung nicht überbewerten dürfe, an: »Freilich auch nicht unterschätzen. Doch ist zunächst eine klarere Fassung dessen notwendig, was hier mit ›persönlicher Begegnung‹ gemeint ist. Es geht dabei nicht um das Kennenlernen, das Vertrautwerden, das anonyme und fast immer einseitige Bekanntschaftsverhältnis, das sich beim Fernsehzuschauer ausprägt, wenn er öfter demselben Menschen auf dem Bildschirm begegnet [...]. Wer wollte hier die unvergleichliche Bedeutung des Fernsehens leugnen! Es ist sehr wohl in der Lage, mit Menschen vertraut zu machen, ohne daß der Zuschauer je ein Wort mit ihnen wechselte. In unserem Zusammenhang ist jedoch mit ›persönlicher Begegnung‹ etwas anderes gemeint: Der unmittelbare Kontakt zwischen den Kommunikationspartnern, das Erleben der Begegnung mit dem Anderen, der Gedankenaustausch, die Wechselseitigkeit.«27
24 L. von Wiese: Auswirkungen des Rundfunks auf die soziologische Struktur, S. 102. Trotz dieser Problematiken entwirft von Wiese ein positives Bild des Hörfunks. Er schaffe nicht nur Isolation, sondern diene auch zu deren Überwindung, denn schließlich führt er zu der Möglichkeit von ›Fernkontakt‹, die ohne ihn nicht gegeben sei. Vgl. ebd., S. 98-100 u. 111. 25 L. von Wiese: Auswirkungen des Rundfunks auf die soziologische Struktur, S. 98. 26 Gerhard Maletzke: »Irrtümer in der Fernsehproduktion«, in: Rundfunk und Fernsehen 1 (1956), S. 31-38, hier S. 32. Vgl. zur Isolation des Einzelnen ebd., S. 31. 27 Ebd., S. 32. 207
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Die Sozialbeziehung entbehrt also bei der telemedialen Kommunikation des Fernsehens gewisser Aspekte der persönlichen Beziehung. Aber trotz dieses Mangels bleibt die Begegnung intensiv und enthält den Aspekt der Vertrautheit – sie erscheint nicht entpersönlicht. Eine soziale Nähe ist durchaus auch beim Fernsehen gegeben, wenn auch in veränderter Form. Das Fernsehen kann gleichermaßen die persönliche Beziehung imitieren. Anonymität und Bekanntheit stehen so nebeneinander. Die Befürchtung einer Isolation des Zuschauers und damit einhergehend die Angst vor seiner Vermassung kommt so aber nicht auf. Wenn die Massengesellschaft, wie Geiger schreibt, durch anonyme Sozialbeziehungen gekennzeichnet ist, das Fernsehen aber persönliche Nähe schafft, gehört es, so lässt sich schlussfolgern, nicht zu den Phänomenen der Massengesellschaft. Dem Argument der Vermassung wird Das Menschliche im Fernsehen – so ein Titel von Henry R. Cassirer – entgegengehalten. Der Zuschauer erlebe, so Cassirer, trotz der räumlichen Distanz den vom Fernsehen gezeigten Menschen nah, wodurch sich dessen »persönliche menschliche Wärme und Intensität« mitteile. Dieser baue »eine lebendige Verbindung mit den Menschen auf der anderen Seite, dem so fernen und so nahen Zuschauer«28 auf. Die Betonung der Vertrautheit und menschlichen Nähe, die der Zuschauer am Bildschirm erlebe, weist das Argument der Verbreitung von Anonymität und Isolation durch Medien zurück. Das Fernsehen ist insofern gerade nicht Massenmedium, weil es eben die in der Masse herrschende Isolation und Anonymität aufhebt und den Menschen einen unmittelbaren sozialen Kontakt bietet. Diese Idee der sozialen Kontakte mittels Fernsehen überschreibt genau die These, das Fernsehen isoliere den Menschen, weil es die Rezipienten, sowie Sender und Empfänger voneinander trenne. In dieser Trennung scheint das Moment der Isolation und damit der Masse auf. Aber mit der Beschreibung der medial vermittelten Nähe wird das Argument von der Vermassung durch Fernsehen zurückgewiesen. Genau in Form dieser Zurückweisung der Vermassung steuert der Massendiskurs aber die Fernsehbeschreibung aus. Die These der Anonymität und Isolation, die in der Masse herrschten, wird auf das Fernsehen appliziert, das eben Kommunikation unter einander unbekannten und räumlich getrennten Personen schaffe. In Form dieser Überlegung schreiben sich die Begriffe 28 H.R. Cassirer: Das Menschliche im Fernsehen, S. 123. Eine ähnliche Argumentation entwickelt sich auch bezüglich des Hörfunks. Auch in der Hörfunkdebatte der 1920/30er Jahre wird darauf hingewiesen, dass die Distanz beim Hörfunk überwunden werden könne, indem dieser gerade das Menschliche nahe bringe. Die Isolation des Hörers wird so beim Hörfunk aufgehoben. Siehe exemplarisch Alfred John: »Der Hörer und seine Sinne«, in: Funk 29 (1926), S. 225f., hier S. 226, der besonders pointiert formuliert: »Dann wird auch das Gefühl der Vereinzelung weichen [...].« 208
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Anonymität, Isolation und die daraus resultierende Masse in die Fernsehdebatte ein und motivieren eine Beobachtung des Fernsehens, die genau diese Sachverhalte fokussiert. Dies bedeutet aber weniger, dass der Diskurs von der These der Isolation bestimmt ist, sondern dass deren Gegenteil mit um so größerer Vehemenz geäußert wird. Es entwickelt sich eine Konzeption des Fernsehens, die der Vermassungs- und Isolationsthese entgegentritt. Geigers Überlegung, dass die Abnahme der persönlichen Sozialkontakte zu einer Vermassung führe, wird hier in eine positive Eigenschaftsbeschreibung des Fernsehens transformiert. Das Fernsehen ermögliche gerade die Zunahme und Intensivierung von sozialen Beziehungen. Medienoptimismus und -pessimismus zeigen sich als die zwei Seiten der Münze Massengesellschaft, die in Versuchen, die Gesellschaft auf einen Begriff zu bringen, ausgespielt wird.
2 Massen und Eremiten: Weltflucht und flüchtige Welt Einerseits wird – wie gerade vorgestellt – in den 1950/60er Jahren eine Fernsehkonzeption präsentiert, die auf die Möglichkeit der Simulation sozialer Nahkontakte abhebt. Dem Fernsehen kommt demnach die Funktion zu, die in der Massengesellschaft existierende zwischenmenschliche Entfremdung zu kompensieren. Andererseits wird diese Simulationsmöglichkeit beziehungsweise Kompensationsfunktion auch kritisch gesehen – so in Günther Anders’ Text Die Welt als Phantom und Matrize29, um den es im Folgenden gehen wird. Wie zu zeigen sein wird, produzieren Massenmedien gemäß Anders gerade die soziale Isolation. Die Thematik der sozialen Isolation steht bei Anders in engem Zusammenhang mit der Behauptung der Beobachtungsautorität des Autorsubjekts, wie sie im letzten Teil der Arbeit vorgestellt wurde. Der Text stellt diesbezüglich eine besonders radikale Variante dar. Die Schrift prozessiert in ihren 29 Im Folgenden wird sich auf die im Rahmen des ersten Bandes von Die Antiquiertheit des Menschen veröffentlichte Version, die 1956 erstmals erscheint, bezogen. Der Text ist mit weitgehend identischem Wortlaut, aber in einer kürzeren Fassung bereits ein Jahr zuvor in der Zeitschrift Merkur publiziert. Vgl. Günther Anders: »Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen. Teil 1«, in: Merkur 5 (1955), S. 401-416 und ders.: »Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen. Teil 2«, in: Merkur 5 (1955), S. 533-549. Im Merkur erscheint auch 1961 ein Text von Anders, der seine Thesen aus Die Welt als Phantom und Matrize noch einmal ausführt und in dem der Begriff der Masse eine zentrale Rolle spielt. Vgl. Günther Anders: »Maschinelle Infantilisierung. Thesen für ein Rundfunkgespräch über Massenmedien«, in: Merkur 7 (1961), S. 627-635. 209
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Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen ein Beobachtungsreglement, das die eigene Beschreibungskompetenz inszeniert und so die eigene Autorität hinsichtlich der Gesellschaftsbeschreibung performativ hervorbringt. Insbesondere das Problem der Kontingenz von Beschreibungen und Beschreibungspositionen scheint in Anders’ Betrachtungen eliminiert und Alternativbeobachtungen werden außer Kraft gesetzt. Wie zu zeigen sein wird, geschieht dies durch die Einführung der Unterscheidung Realität/Illusion beziehungsweise Phantom und Matrize, die das gesamte Beobachtungsgefüge organisiert. Mit dieser Unterscheidung wird sowohl die Medienperzeption erklärt, wie auch die Gesellschaft als Ganzes mit Hilfe dieser Differenz beobachtet wird. Dies kann gelingen, weil wiederum die gesamte Gesellschaft – adressiert als Masse – vom Fernsehen affiziert scheint. Die Fehlwahrnehmung der Realität wird als gesellschaftliches Phänomen deklariert und zwar weil dem Fernsehen eine allinkludierende Adressierungsökonomie unterstellt wird. Der Text versucht also eine Zustandsbeschreibung der Gesellschaft. Seine Beobachtung richtet sich dabei einerseits an Medien – genauer Hörfunk und Fernsehen30 – und andererseits an der Masse aus. Für Anders aktualisieren Medien Massen, jedoch, wie er klarstellt, handelt es sich nicht um Masse im Sinne einer »Massenversammlung«31, stattdessen spricht er vom »Typ 30 Dabei dominiert eindeutig das Fernsehen, seltener werden Beobachtungen zum Hörfunk angestellt. Vgl. zum Beispiel G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 104-107. Die Gewichtung des Fernsehens in Anders’ Argumentation kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Sekundärliteratur zu Anders Werk häufig ausschließlich auf das Fernsehen abhebt und seine Ausführungen zum Hörfunk weitgehend übergeht beziehungsweise randständig behandelt. So Thomas Bormann: Die Medienkritik von Günther Anders, Hamburg: Selbstverlag 1994; Klaus Albrecht Schröder: »Zur Genese von Günther Anders’ Medienkritik«, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.), Günther Anders kontrovers, München: Beck 1992, S. 124-134; Wolfgang Müller-Funk: »Bilderwelten. Überlegungen zu einer Metakritik der Kulturkritik«, in: ebd., S. 153-172; Konrad Paul Liessmann: Günther Anders zur Einführung, Hamburg: Junius 1988, S. 51-69; Wolfgang Kramer: Technokratie als Entmaterialisierung der Welt. Zur Aktualität der Philosophien von Günther Anders und Jean Baudrillard, Münster u.a.: Waxmann 1998. Vielleicht ist diese etwas einseitige Lektüre von Anders’ Medienkritik auch darin begründet, dass sich das Fernsehen zum Leitmedium entwickelt hat, während der Hörfunk dem gegenüber in den gesellschaftlichen Hintergrund tritt. So ist zumindest der letzte Titel zu lesen, dem es schließlich um die ›Aktualität‹ von Anders’ Beschreibungen geht. Da in der vorliegenden Arbeit vor allem das Fernsehen und seine Konfiguration als Massenmedium in den 1950er Jahren von Interesse ist, werden im Folgenden ebenfalls Anders’ Beobachtungen zum Fernsehen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. 31 G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 103f. Eine zentrale Umschreibung für den Menschen der Masse ist bei Anders die Formulierung »die Schmids und die Smith, die Müllers und die Millers«. Ebd., S. 102. Damit ver210
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des Massen-Eremiten«32 – dieser sei der Massenmensch der Gegenwart. Zur Erläuterung bedient Anders sich zweier Namen, die als Verweiselement auf die überholte Form der präsentischen Masse dienen: Le Bon und Hitler. »Le Bons Beobachtungen« und die »Massenregie im Stile Hitlers«33 sind die Kurzformeln für die Masse, wie sie sich als Ansammlung einer großen Anzahl von Menschen manifestiert und die Anders als überholt ansieht. Die Funktion der Namen besteht aber nicht nur in der Negierung der damit assoziierten Beschreibungen, sondern ebenso in deren Affirmation. Zwar heißt es bei Anders, Le Bons und Hitlers »Massensituationen sind altertümlich«34, da sie sich ausschließlich in der räumlichen Präsenz vieler Personen aktualisierten, jedoch wird Le Bons Charakterisierung der Masse übernommen. Die Eigenschaften der Masse finden sich auch dann, wenn sich keine große Anzahl von Menschen räumlich versammelt. Die Masse zeichnet sich durch eine »Entprägung der Individualität«35 aus, gleichgültig ob es dabei um Menschen in einer Versammlung oder im Familienkreis geht. Der Mensch der Masse ist sich fremd, das zeigen sowohl Le Bons Analyse als auch Hitlers Vorgehen.36
32
33 34 35 36
weist er auf das Moment der Durchschnittlichkeit, das in der Masse zum Vorschein kommen soll. Vgl. das Kapitel Die Errechnung der Masse. G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 102. Thomas Bormann sieht in der Referenz auf einen ›traditionellen‹ Begriff und dessen gleichzeitiger Ablehnung ein immer wiederkehrendes Element in Anders’ Arbeiten. Vgl. T. Bormann: Die Medienkritik von Günther Anders, S. 19; vgl. auch Helmut Hildebrandt: Weltzustand Technik. Ein Vergleich der Technikphilosophie von Günther Anders und Martin Heidegger, Berlin: Metropol 1990, S. 22. Während Bormann Anders’ Abkehr von den traditionellen Begrifflichkeiten betont, geht es hier darum nachzuweisen, dass durch die Verwendung der Begriffe auch immer auf sie aufgebaut wird. Die Verwendung aktualisiert Wissen, an das der Leser sofort anschließen kann. G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 104. Ebd. Ebd. Die Namen Le Bon und Hitler dienen dabei einerseits als Strategie der Argumentationsökonomie, denn beide ersparen langwierige Erläuterungen zum Gemeinten. Andererseits bedeuten sie einen Plausibilisierungsschub hinsichtlich der Charakterisierung der Masse. Während ›Le Bon‹ für die wissenschaftliche Plausibilisierung sorgt, dient der Signifikant Hitler als Verweis auf einen sichtbaren Beleg, also etwas, das dem Leser sofort vor Augen tritt und dessen Offensichtlichkeit er sich nicht verschließen kann. Vgl. dazu das Kapitel Evidenzstrategien und Plausibilisierungsverfahren. Auf der Basis dieser vermeintlichen Sichtbarkeit der Masse und ihrer Eigenschaften wird zu dem Verdacht übergegangen, dass dieses Phänomen auch dann auftritt, wenn die Offensichtlichkeit nicht gegeben ist. Le Bon und Hitler dienen dabei weniger als Initialmoment des Verdachts denn als Beweis für dessen Richtigkeit. Die Evidenz der Masse und der damit verbundenen Charakteristika, die über die Namen eingeführt werden, sind die Basis für die Behauptung, dieser Menschentypus sei auch dann existent, wenn man ihn nicht ›sehe‹. 211
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Den Massenmenschen, wie Le Bon ihn beobachtet und Hitler ihn schafft, gibt es nach Anders’ Theorie auch weiterhin, aber sein Erscheinungsbild hat sich gewandelt. Der gegenwärtige Massenmensch tritt in Form der Vereinzelung und Isolation auf, denn »in Millionen von Exemplaren sitzen sie nun, jeder vom anderen abgeschnitten, dennoch jeder dem anderen gleich, einsiedlerisch im Gehäuse [...].«37 Anders behält in dieser Beschreibung sowohl die Masseneigenschaft der großen Zahl als auch die der Einheitlichkeit beziehungsweise Gleichheit bei. Entsprechend Le Bon geht es um das gleichförmige Handeln einer Menge.38 Zusätzlich referiert er aber auf eine weitere Komponente, von der er meint, sie so nicht bei Le Bon zu finden: die Isolation. Diese soll genau die entscheidende Differenz zu den Beschreibungen Le Bons und den nationalsozialistischen Massen ausmachen und ist, laut Anders, hauptsächlich durch Hörfunk und Fernsehen verursacht. Diese beiden Medien werden dem Menschen ins Haus geliefert, weshalb dieser nicht mehr sein ›Gehäuse‹ verlasse und auch innerhalb der Familie keine Sozialkontakte mehr aufnehme.39 Mit dem Moment der Isolation, das Anders insbesondere im Begriff des ›Massen-Eremiten‹ aufruft, schließt er an eine zunehmend dominante Beschreibung der Masse an, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde.40 Auch und vor allem die US-amerikanische Massenkommunikationsforschung reichert ihre Modelle mit einem Theorem der Masse an, das diese als voneinander isolierte Einzelne beschreibt. Herbert Blumer beispielsweise formuliert besonders prägnant als Definitionsmerkmal der Masse: »the members of the mass [...] are usually physically seperated from one another [...].«41 Im Hintergrund solcher Beschreibungen steht häufig, wie auch bei Anders, die Beobachtung des Einsatzes von Hörfunk und Fernsehen, auch wenn Medien nicht die ausschließlich genannte Ursache für die Vereinzelung sind. Im Rahmen solcher Gesellschaftsbeschreibungen wird die problematische Funktion von Hörfunk und Fernsehen dahin gehend beschrieben, dass sie die Menschen einheitlich adressierten und sie damit zu Gleichen, also zur Masse, gemacht würden. Zugleich komme es aufgrund dieser Medien zu einer Kontaktabnahme zwischen den Menschen, da die Adressierung nicht kollektiv erfolge. Ursache für die isolierten Massenpartikel sind demnach Verbreitungsmedien. Die Beobachtung gesellschaftlich verbreiteter Isolation ist zur 37 38 39 40 41
G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 102. Vgl. G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 10. Vgl. G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 104-109. Vgl. auch H. König: Zivilisation und Leidenschaft, S. 260. Herbert Blumer: »The Crowd, the Public, and the Mass«, in: Wilbur Schramm (Hg.), The Process and Effects of Mass Communication, Urbana: University of Illinois Press 1954, S. 363-379, hier S. 370. Wie der Titel schon anzeigt, unterscheidet Blumer zwischen ›mass‹ and ›crowd‹. Vgl. dazu das Kapitel Transfers. 212
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Zeit von Anders’ Die Welt als Phantom und Matrize ein fest installiertes Beschreibungsgefüge im Zuge der Kurzschließung von Medien und Massen. Anders’ Beschreibung lehnt sich also einerseits an Beobachtungen anderer Medien- und Gesellschaftsanalysen an, jedoch stellt andererseits sein dazu verwendetes Vokabular ein Spezifikum seiner Ausführungen dar. Die von ihm eingeführte Kopula des ›Massen-Eremiten‹, der ›einsiedlerisch‹ lebe, führt zu einem zweiten Kontext von Anders’ Analyse, denn der Begriff des Eremiten verweist auf ein Moment, das der Gesellschaft gegensätzlich zu sein scheint, weil es auf soziale Exklusion setzt. Es handelt sich um das Aufrufen eines »scheinbar asozialen Phänomens«,42 insofern die Figur des Eremiten gerade auf ein Leben außerhalb der Gesellschaft verweist. Der Eremit ist der Weltflüchtige, der der Gesellschaft den Rücken zukehrt, um in Einsamkeit und in Abstand zu dieser zu leben. Der Massen-Eremit hat demnach nicht mehr an sozialen Zusammenschlüssen teil, sondern steht außerhalb ihrer. Anders definiert die vor den Empfangsgeräten sitzende Masse als »nicht mehr ›in der Welt‹ [...].«43 Sie nimmt an dieser nicht teil, sondern ist von ihr ausgeschlossen. Die folgende Lektüre von Anders Die Welt als Phantom und Matrize ist am Begriff des Eremiten ausgerichtet. Zunächst steht dabei eine Analyse des Konzepts des Eremitentums an, wie Anders es in der Masse aktualisiert sieht und durch Medienaktivität verursacht meint. Dabei wird die Frage behandelt, wie das ›nicht mehr in der Welt‹-Sein der Masse bei Anders zu denken ist. Im Rahmen dessen zeigt sich, dass Anders eine Differenz in zwei WeltTypen etabliert, die mit zwei Formen der Wahrnehmung korrespondieren: eine konkret erfahrbare Wirklichkeit und ein medial produziertes und wahrgenommenes Surrogat dieser Wirklichkeit. Es geht also um die eingangs angesprochene Unterscheidung Realität/Illusion. In einem zweiten Schritt geht es darum aufzuzeigen, wie Anders in der Unterscheidung Zuordnungen vornimmt. Während das Surrogat der Wahrnehmungsgegenstand der Masse ist, positioniert er rhetorisch seine eigene Person als einsichtig in die Realität, behauptet also seine eigene Beobachtungsautorität in Kontrast zu der als Gesellschaftsform dominanten und verblendeten Masse. Paradoxerweise erscheint er selber dabei als Eremit ge42 Peter Fuchs: »Die Weltflucht der Mönche. Anmerkungen zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens«, in: ders./Niklas Luhmann: Reden und Schweigen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 21-45, hier S. 22. 43 G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 111. Dieser Ausschluss funktioniert anders als der von Geiger behauptete. Bei Geiger folgt dem Eindruck einer massenhaften Exklusion die Selbstexklusion der Masse in Form der Negation. Dagegen bejaht Anders’ Massen-Eremit die Welt, allerdings – so wird noch deutlich – lediglich in ihrer simulierten Variante. Medial wird gerade die Exklusion verdeckt, so dass sich kein entsprechender Eindruck beim MassenEremiten einstellt. 213
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genüber der als Masse bezeichneten Gesellschaft. Die Figur des Eremiten ist also zweifach ausgewiesen.
a) Die Illusion der Masse »Und damit sind wir beim Thema. Denn daß die Ereignisse – diese selbst, nicht nur Nachrichten über sie – [...] uns besuchen; daß [...] die Welt zum Menschen, statt er zu ihr kommt, das ist, neben der Herstellung des Masseneremiten und der Verwandlung der Familie in ein Miniaturpublikum, die eigentlich umwälzende Leistung, die Radio und T.V. gebracht haben. […] Diese […] Umwälzung ist nun der eigentliche Gegenstand unserer Untersuchung. Denn diese beschäftigt sich fast ausschließlich mit den eigentümlichen Veränderungen, die der Mensch als mit Welt beliefertes Wesen durchmacht; und mit den nicht weniger eigentümlichen Folgen, die die Weltlieferung für den Weltbegriff und für die Welt selbst nach sich ziehen.«44
Noch bevor Anders darauf aufmerksam macht, dass sich mit Hörfunk und Fernsehen die Eigenschaften der Welt verändern, spricht er mit der Weltbelieferung eine der zentralen Leistungen an, die dem Fernsehen zugesprochen werden. Es handelt sich um die Idee einer medialen Teilhabe an der Welt, die gewöhnlich in der Kurzformel vom ›Dabei-sein‹ aufgerufen wird. Positiv gewendet heißt das, dass dem Fernsehzuschauer die Möglichkeit gegeben wird, an fernen Ereignissen teilzuhaben, als sei er vor Ort. Räumliche Distanzen spielen bei dieser Vorstellung nur noch als negierte Größe eine Rolle, denn sie werden von den Zuschauern und -hörern nicht als solche erfahren. Die lokale Trennung von Geschehnis und Rezeption scheint aufgehoben.45 Doch genau darin liegt, laut Anders, ein Erfahrungsmangel begründet, da die eigentlich fernen Ereignisse ihre Widerständigkeit46 verlieren, die sich nicht nur in ihrer Distanz manifestiert, sondern auch in ihrer Fremdheit und der Möglichkeit der Interaktion mit ihnen: Anstatt Entfernungen zu erleben, indem man sie überwindet, bleibt der Zuschauer zu Hause und lässt sich die Ereignisse in die Intimität seines Heimes liefern. Und anstatt eines kommu44 G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 110f. 45 Vgl. dazu das Kapitel Das Fernsehen als Simulator von Anwesenheit. 46 Siehe zum Begriff des Widerstandes G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 194: »Bekanntlich hat Dilthey die Tatsache des ›Widerstandes‹ als Argument für die ›Realität der Außenwelt‹ herangezogen. Da sich das Verhältnis des Menschen zur Welt als Zusammenstoß [...] vollzieht, nicht als neutraler Bezug auf ein Etwas (das sich, nach Descartes, auch als ein uns weisgemachtes Phantom entpuppen könnte) ist die Betonung des ›Widerstandscharakters‹ der Welt außerordentlich wichtig.« Und Anders formuliert weiter: Aber es ist »die Widerstandslosigkeit der gesendeten Welt, die deren Auffassung und Deutung verhindert.« Ebd., S. 196. 214
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nikativen Austausches mit anderen Menschen ermöglichen Hörfunk und Fernsehen nur die Form der Rezeption. Der sogenannten medialen Teilhabe an den Ereignissen fehlen also grundsätzliche Komponenten, die der Erfahrung gemeinhin eigentümlich sind. Insofern ist die Wahrnehmungsform via Medien grundsätzlich von der Wirklichkeitswahrnehmung unterschieden.47 Diese Differenz erhält ihren prekären Charakter aber erst dadurch, dass sie nicht als solche erscheint. Der Zuschauer vermeint der Welt selber in den Bildern auf dem Monitor seines Empfangsgerätes ansichtig zu werden. Tatsächlich handelt es sich aber, so Anders, bei diesen Bildern lediglich um ein mediales Surrogat, das gerade jene Eigenschaften entbehrt, die einer Erfahrung eigen sind. Dieses Surrogat gibt sich aber als die Sache selber, wodurch die Differenz nicht wahrnehmbar ist. Dem Zuschauer entgeht dieser Surrogat-Charakter schon allein deshalb, weil ihm an seiner Aufdeckung nicht gelegen sein kann.48 Er wünscht gar nicht, die Widerständigkeit der Welt zu entdecken, denn »die Welt ist das Unbequeme [...].«49 Stattdessen richtet er sich lieber in der »Gemütlichkeit«50 seines eigenen Heims ein und umgeht jede eigentliche Erfahrung, die ihm die Differenz offensichtlich machen würde. Zusammengefasst heißt das: Es gibt nach Anders zwei Wirklichkeitsformen und dem entsprechend zwei Formen ihrer Wahrnehmung. Einerseits besteht jene Sphäre, die man erfährt, indem man Distanzen überwindet, die Fremdheit der Ereignisse anerkennt und an ihnen durch eigene Aktivität teilhat. Dem gegenüber herrscht jener Bereich, den man zwar hört und sieht, der aber von allen anderen Erfahrungskomponenten bereinigt ist und aufgrund dessen von Anders auch als Phantom bezeichnet wird. Die medialen Erscheinungen sind, so Anders, Phantome, da sie nicht die Ereignisse selber sind, aber auch nicht ihre Repräsentation, was bedeutete, dass sie auf ein Abwesendes verweisen. Repräsentation legt den Unterschied zwischen Abbild und Abgebildeten offen, während das Phantom des Fernsehens diese Differenz verdeckt. Stattdessen ›erscheint‹ es als das Ereignis.51 Dieser Scheincharakter forciert nun die Weltflucht des Rezipienten, der so zum unfreiwilligen Eremiten wird. Denn da er meint, an den Ereignissen durch Hörfunk und Fernsehen im eigenen Heim teilzuhaben, wendet er sich nicht der Welt zu und bleibt weltfremd. Er lebt, laut Anders, in einer medieninduzierten Illusion einer Weltzugewandtheit, die eine tatsächliche Zu47 48 49 50
Vgl. G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 114-130. Vgl. ebd., S. 122-127. Ebd., S. 123. Ebd., S. 125. Dieser Sachverhalt wird bei Anders auch unter dem Begriff der Verbiederung verhandelt. Vgl. ebd, S. 117. 51 Vgl. ebd., S. 154. Dieser Zusammenhang wird später zunehmend mit dem Begriff der Simulation versehen. Vgl. vor allem Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin: Merve 1978, S. 10 215
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wendung verhindert. Seine ›Scheinwelt‹ genügt ihm, da er von der Wirklichkeit nichts weiß. Auf diese Weise bleibt er ein Eremit, der sich selber als solcher nicht erkennt. Ein Massen-Eremit ist er, weil viele diese Weltflucht vollziehen: Die Verbreitung von Hörfunk und Fernsehen produziert seine Täuschung und damit sein Eremitentum seriell. Mit anderen Worten: Die Allinklusion der Adressierung durch Medien beziehungsweise die mediale Adressierung der gesamten Gesellschaft macht die Illusion zu einem gesellschaftsweiten Massenphänomen.52 Insofern hebt der Begriff des Massen-Eremiten nicht nur auf ein solistisches Moment ab, das heißt, es geht nicht um eine schlichte Vereinzelung des Massenpartikels. Vielmehr geht es um eine grundsätzliche Absage an jede Welt- und Gesellschaftserfahrung. Die Einschließung im eigenen Heim produziert nicht einfach Einsamkeit, sondern darüber eine Abkehr von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Diese bleibt dem Massen-Eremiten, wie er sich »in Millionen von Exemplaren«53 vor den Bildschirmen findet, verschlossen. Die Unzugänglichkeit der Realität54 wird von Anders dahin gehend radikalisiert, dass dem Rezipienten zunehmend die Fähigkeit abgehen soll, die Wirklichkeit jenseits des Bildschirms als solche zu erkennen, da er in dem Glauben lebe, das Fernsehen liefere die Realität selber. Wirklich ist für den Massen-Eremiten allein, was als Bild auf dem Empfangsgerät erscheint. Infolge dessen wird erstens auch die medienexterne Realität vom Zuschauer nur als wirklich erfahren, wenn sie dem medieninternen Wirklichkeitssurrogat entspricht. Zweitens heißt das, dass sich die Wirklichkeit, um als solche zu erscheinen, zunehmend am Medienphantom zu orientieren hat. Das Ab52 Jedoch ist die Masse bei Anders kein schlichter Effekt von Medienwirkung. Es geht nicht darum, dass durch gleichförmige Adressierung der Gesellschaft eine gleichförmige Masse entsteht. Vgl. G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 102. Indem Anders auf den Begriff der Masse referiert, unterstellt er Hörfunk und Fernsehen zudem eine besondere Wirksamkeit. Es wurde im Kapitel Funktion des Fernsehen: Inklusion darauf hingewiesen, dass die Applizierung des Konzepts der Masse auf Medienbeschreibungen eine kommunikative Erreichbarkeit der Gesellschaft impliziert. Die Beschreibung der Rezipienten als Masse bedeutet, dass der medialen Adressierung auch Leistungsfähigkeit unterstellt wird, da die Masse als besonders stimulierbar gilt und damit auch von einer Realität der angenommenen Effekte ausgegangen werden kann. Insofern stabilisiert der Begriff der Masse die Idee der Allinklusion von Hörfunk und Fernsehen. Medien richten sich an alle und dies mit Erfolg, da die Massengesellschaft ihren Effekten ausgeliefert ist. Somit entsteht eine zirkuläre Argumentation: Einerseits überführt die gleichförmige Adressierung der Gesellschaft durch Medien diese in den Zustand der Masse und andererseits ist diese gleichförmige Adressierung erfolgreich, da die Gesellschaft die Eigenschaft der Masse besitzt. 53 G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 115. 54 Anders nimmt keine begriffliche Differenzierung zwischen Wirklichkeit und Realität vor, sondern verwendet beide Begriffe synonym. 216
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bild dient dann als matrizenhaftes Vorbild für die Realität, die sich damit aufzulösen scheint. Die Unterscheidung Wirklichkeit/Illusion wird aufgehoben, da sich die eine Seite der Unterscheidung zunehmend verflüchtigt. Dies sind die von Anders benannten ›eigentümlichen Folgen, die die Weltlieferung für den Weltbegriff und die Welt selber nach sich ziehen‹. Dem Massen-Eremiten ist somit jeder Zugang zur Welt – das heißt zu den Ereignissen, zu den Menschen und zu der ganzen Gesellschaft – verschlossen, da sie aus seinem Wahrnehmungsfeld verschwindet und selbst ihren eigenen ›wirklichen‹ Status verliert. Auch die Realität wird zum Phantom.55 Mit anderen Worten: Anders behauptet, es gäbe zwei Realitätstypen. Neben der Wirklichkeit existiert die Medienrealität. Da letztere eine besondere Wahrnehmungsform schafft, wirkt sie zurück auf die Wirklichkeit, deren Erfahrbarkeit verloren geht. Anders’ Befund steht damit fest: Die gesamte Gesellschaft lebt in einer Scheinrealität und es ist offensichtlich, dass die Möglichkeit, sie aus dieser Illusion zu befreien, gering ist. Dafür ist sie zu total und allumfassend, denn auch das Jenseits der Illusion ist schon von ihr affiziert. Doch der Text Die Welt als Phantom und Matrize eröffnet eine Lösungsstrategie, die zunächst weniger auf gesellschaftsweite Effekte zielt, als ein individuelles Vorgehen beschreibt: die eigene Abkehr von der verblendeten Gesellschaft, das heißt die individuelle Entscheidung zum Eremitenleben.
b) Die Realität des Eremiten Mit der Bezeichnung Eremit verweist Anders auf die Figur eines Weltflüchtigen, der der Gesellschaft den Rücken zukehrt und ihr Außen aufsucht. Genau dieses Phänomen sieht Anders in der Rezeption von Hörfunk und Fernsehen gegeben. Jedoch verkürzt er damit diese Figur, die eine des Widerstandes gegen die Gesellschaft ist, schließlich zeichnet sich der Eremit durch seine ›intendierte‹ Abkehr von der Gesellschaft aus. Es handelt sich, laut Cornelia Bohn, um ein Moment der Selbstexklusion: »Für Exklusionsprozesse muss die Initiative nicht notwendig von der Gesellschaft ausgehen: Den unfreiwilligen Exklusionszusammenhängen [...] steht die Selbstexklusion gegenüber, die gewählte Exklusivität, die freiwillige Exklusion, die sich als Figur über Epochen hinweg erhält: Man denke etwa an den mittelalterlichen Mönch, der sich der ›weltflüchtigen‹ Askese (um einen Terminus von Max Weber
55 Vgl. G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 188-206. Vgl. zur Beschreibung des ›ontologischen Verflüchtigungsprozesses‹ Kramer: Technokratie als Entmaterialisierung der Welt, S. 2 u. 30-48. 217
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aufzugreifen) hingibt und mit der Gesellschaft außerhalb des Klosters symbolisch bricht [...]. Das gilt [auch] für [...] die Eremiten.«56
Bohn zu Folge definiert sich der Eremit durch einen Exklusionsprozess, dessen argumentative Basis eine individuelle Entscheidung des Exkludierten darstellt. Diese Beschreibung entspricht nicht Anders Massen-Eremiten. Die gesellschaftliche Exklusion kollidiert sowohl mit der allinkludierenden Eigenschaft von Hörfunk und Fernsehen als auch mit dem Inklusionssog des Masse-Begriffs. Vor allem aber wird das Moment der willentlichen Entscheidung durch das mediale Täuschungsmanöver desavouiert, so dass der Massenmensch zwar im Zustand des Eremitentums lebt, aber nicht als Eremit im eigentlichen Sinne zu bezeichnen ist. Er lebt zwar in Einzelgängerschaft sowie in Abkehr von der Welt und wählt sogar die Exklusion, insofern er die ›Gemütlichkeit‹ seines Heims wünscht, aber diese Wahl bleibt vom Moment der Fehlwahrnehmung affiziert. Demnach verweist der Massen-Eremit nicht allein auf eine Neukonturierung des Konzepts der Masse, wie Anders mit seinem Hinweis auf die Altertümlichkeit von Le Bons’ und Hitlers Massen behauptet. Ebenso wird die Figur des Eremiten neu gefasst. Nicht allein das Konzept der Masse wird angereichert durch das Moment der Isolation und Einsamkeit, sondern die Problematisierung des Typus des Eremiten steht in Frage. Dieser ist nämlich vom Phänomen der Masse affiziert. Die Möglichkeit der Weltflucht, wie sie sich in der symbolischen Selbstexklusion des Eremitentypus ausdrückt, ist durch ihr massenhaftes Auftreten kontaminiert. Die Exklusion bringt nicht automatisch ›Exklusivität‹ mit sich. Exklusivität bleibt dem selbstexkludierten Eremiten vorbehalten, der gerade nicht massenhaft auftritt und den Anders ebenfalls einführt. So wie Anders die Wahrnehmung der Welt in zwei Formen unterscheidet, differenziert er auch zwischen zwei Typen des Eremiten. Während der Massen-Eremit einer Fehlwahrnehmung ausgeliefert ist, hat der Typus des Eremiten, der in Einzelform auftritt, Einsicht in die gesellschaftliche Realität und zwar weil er sie in seiner selbstgewählten Weltflucht von außen beobachtet. Beide Typen stehen außerhalb der Gesellschaft, aber ihr Beobachtungsgegenstand unterscheidet sich, insofern der Massen-Eremit seinen Blick auf den Bildschirm richtet. Der Massen-Eremit realisiert damit die Lebensweise der Eremiten nur unzulänglich. Auch wenn Anders den ›eigentlichen‹ Typus nicht gleichermaßen explizit wie den des Massen-Eremiten beschreibt, taucht er in seinen Betrachtun56 Cornelia Bohn: »Exklusionsindividualität und Inklusionsindividualität«, in: dies./Herbert Willems (Hg.), Sinngeneratoren: Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-historischer Perspektive, Konstanz: UVK 2001, S. 159178, hier S. 163. 218
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gen auf und zwar wenn er eine als Tagebucheintrag bezeichnete Narration in seine Beschreibungen integriert, die mit folgenden Worten beginnt: »Als ich gestern weit außerhalb von L.A. einen highway entlangwanderte, sauste mir ein motorisierter Polizist nach und stoppte.«57 Die knappe Exposition seiner kleinen, autobiographisch genannten Anekdote58 bildet den Auftakt für eine präzise Beschreibung der Motivik des Eremiten. Sie ruft insbesondere das Bild der Wanderschaft auf, die im übrigen Verlauf als ziellos beschrieben wird. Sein Wandern entspricht einer Exklusionsfigur, die sich im kulturkritischen Diskurs regelmäßig zeigt und dessen prominenteste Varianten Ernst Jüngers Waldgänger und Anarch darstellen. Der Waldgänger zieht sich aus der Gesellschaft in Form einer inneren Emigration zurück und bringt dies teilweise auch topographisch zum Ausdruck, indem er die Wälder und Berge aufsucht, sich also auf die Wanderung in der Natur als den Bereich außerhalb der Gesellschaft macht. Zentraler Bestandteil ist aber die innere Zurückgezogenheit, die sich auch in den Großstädten vollziehen kann und sich in der Enthaltsamkeit von sozialem Engagement ausdrückt. Während die soziale Enthaltsamkeit beim Waldgänger durch dessen gesellschaftliche Ächtung forciert wird, wählt der Anarch seine Absenz autonom und behält es sich vor, jederzeit wieder am sozialen Geschehen teilzunehmen.59 Dieses komplexe Bild der Selbst- und Fremdexklusion entwirft auch Anders in seiner kurzen Anekdote. Er geht auf Wanderung, verlässt die Stadt und vollzieht so seine soziale Abkehr, die aus eigenem Antrieb geschieht. Erst im
57 G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 172. Die Anekdote legt einen gegenüber der Begrenzung auf Verbreitungsmedien erweiterten Medien-Begriff nahe. Das (sausende) Auto lässt sich in diesen Medien-Begriff integrieren, dient es doch gleich Hörfunk und Fernsehen der schnellen Überbrückung von Distanzen, die dazu führt, dass Entfernungen aus dem Erfahrungsbereich getilgt werden, was bei der von Anders ausgeführten Wanderschaft nicht der Fall ist. Vgl. zu einer entsprechenden Überlegung Paul Virilio: Fahren, fahren, fahren …, Berlin: Merve 1978, S. 20. 58 Bei der Anekdote handelt es sich um eine epische Kleinform, bei der im Episodischen Typisches aufgezeigt werden soll. Genau in diesem Sinne verwendet Anders diese Erzählform: Eine Episode aus seinem Leben dient als Exemplum für seine Ausführungen, die Aussagen zum allgemeinen Gesellschaftszustand produzieren. In der Sekundärliteratur zu Anders’ Werk wird dieses Verfahren als Gelegenheitsphilosophie oder Okkasionalismus beschrieben, das aktuelle Erscheinungen als Anlass zur allgemeinen Reflexion nimmt. Vgl. z.B. Kramer: Technokratie als Entmaterialisierung der Welt, S. 10; Sabine Palandt: Die Kunst der Vorausschau. Günther Anders’ methodische und psychologische Ansätze zur Technikkritik, Berlin: Wissenschaft und Technik Verlag 1999, S. 2730. 59 Vgl. Klaus Gauger: Krieger, Arbeiter Waldgänger, Anarch. Das kriegerische Frühwerk Ernst Jüngers, Frankfurt/Main u.a.: Lang 1997, S. 228-231; sowie Lutz Niethammer: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 83-88. 219
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Anschluss daran taucht die Gestalt des Polizisten in seiner Geschichte auf, die die gesellschaftliche Ächtung – die Fremdexklusion – in Form einer Befragung, die im Anschluss an den Eingangssatz beschrieben wird, ausführt. Die Befragung dreht sich um den Tatbestand, dass Anders kein Auto besitzt, was Verwunderung bei dem Polizisten hervorruft. Seine Irritation wird als so groß beschrieben, dass Anders, laut eigener Aussage, davon absieht, ihm »die Ziellosigkeit des Wanderns zu definieren«, da er sich andernfalls »endgültig als ›vagrant‹ ausgeliefert« hätte.60 Nach Anders’ Darstellung exkludiert ihn seine Fortbewegungsmethode ohne Auto schon aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen und macht ihn zum Landstreicher und Vagabunden ohne sozialen Status. Anders erläutert diesen Zusammenhang folgendermaßen: »Denn eigentlich gilt nicht-Kaufen als eine Art von Absatz-Sabotage, als eine Bedrohung der legitimen Ansprüche der Ware; mithin nicht nur als ein nicht-Tun, sondern als ein positives, dem Diebstahl verwandtes, Vergehen. Wenn nicht sogar als ein noch skandalöseres: Denn während der Dieb durch seine (ihrer Art nach gewiß unerwünschte) Aneignung immerhin bezeugt, daß er, nicht anders als jedermann, [...] das Gebot der Ware loyal anerkennt, sich also als Konformist bewährt; und, wenn erwischt, unzweideutig zur Verantwortung gezogen werden kann; wagt es der nicht-Käufer [...], den Warenkosmos durch seinen Verzicht zu beleidigen; und dann sogar scheinheilig auf das Alibi der Negativität zu pochen […]; und sich dadurch wirklich dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen. ›Lieber zehn Diebe als ein Asket.‹ (Molussisch)«61
Die Missachtung des Präferenzwertes des Wirtschaftssystems zieht nicht nur die Exklusion aus diesem System, sondern auch aus dem des Rechts und – wie die Geschichte über das Zusammentreffen mit dem Polizisten vor Augen führt – aus der ganzen Gesellschaft nach sich, denn eine Kommunikation mit dem Polizisten ist aufgrund des grundsätzlich verschiedenen Wertesystems der beiden nicht möglich. Anders kann dem Polizisten seine Wanderschaft nicht verständlich machen. Folgt man Anders’ Argumentation, so geht es in der Geschichte vom irritierten Polizisten und dem dazugehörigen Kommentar über den Kaufverweigerer um gesellschaftlich produzierte Exklusionsmechanismen. Der ›nicht-Käufer‹ wird von der Gesellschaft als Asket abgelehnt und der Polizist ist in dem sogenannten Tagebucheintrag der Vollstrecker dieser Ablehnung. Indem er die Anekdote aber aus seiner Perspektive erzählt, geht es 60 G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 174. 61 Ebd., S. 172. Vgl. auch den Roman von Günther Anders: Die Molussische Katakombe, München: Beck 1992, den er in den dreißiger Jahren mit Blick auf das nationalsozialistische System verfasst. 220
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zugleich um die Stilisierung seiner Person als Individuum der Selbstexklusion. Sein Anliegen ist also nicht allein, gesellschaftliche Prozesse offen zu legen, sondern zugleich seiner Verweigerung gegenüber diesen Mechanismen Ausdruck zu verleihen. Dem Ausschluss durch die Gesellschaft in Gestalt des Polizisten geht der selbstgewählte Ausschluss voraus, der sich in seiner ziellosen Wanderschaft zwischen ›L.A. und dem 40 Meilen entfernten San L.‹62 manifestiert. In der eigenen Person wird auf diese Weise der zweite, eigentliche Typus des Eremiten aufgerufen. Dieser wird im Text nicht, wie der Massen-Eremit, als solcher angesprochen, aber das Motiv der Absonderung wird klar evoziert. Anders ist der ›eine Asket‹, der der Menge der konformistischen Diebe gegenüber steht und sich so der Gesellschaft verweigert. Dabei erscheint die Wanderschaft als das eigentlich Reale, denn Start und Zeit sind anonymisierte Nicht-Orte, deren Namen als Akronyme bestehen. Diese Geste ist entscheidend in Anders’ Argumentation. Die Produktion der eigenen sozialen Enthaltsamkeit im Text macht diesen erst zu einem plausiblen Dokument der gesellschaftlichen Krisensituation. Schließlich forciert die Radikalität seiner These von der Phantomhaftigkeit der Welt, die auch die Wahrnehmung affiziert, die Frage nach der Möglichkeit einer unverblendeten Wahrnehmung. Wenn Medien nicht nur gesellschaftsweit den Einblick in die Realität verstellen, sondern darüber hinaus die Gestalt der Welt determinieren, bleibt offen, wie ein Jenseits der Medienrealität zu denken ist. Es stellt sich die Frage, wie Realität noch zugänglich ist, wenn diese selber der Auflösung entgegenstrebt, das heißt die Wirklichkeit im eigentlichen Sinne gar nicht mehr besteht. Anders’ Antwort kann nur ebenso radikal ausfallen wie seine These von der Welt als Phantom und Matrize: Indem man die Gesellschaft meidet, das heißt sich in ihr Außen begibt. Anders’ Wanderschaft, die er in die Argumentation seines Textes einfügt, situiert seine Person an diesem Ort. Außerhalb der Gesellschaft bleibt er von deren Verfallserscheinungen unberührt und erhält so den Status eines unverblendeten Beobachters, der mit der Fähigkeit ausgestattet ist, valide Aussagen über den Zustand der Gesellschaft zu produzieren. Seine in der Wanderschaft 62 Vgl. G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 174. Auch Geiger argumentiert über das Prinzip der doppelten Exklusion, deren Agent einmal die Gesellschaft und einmal die Exkludierten sind. Das heißt einerseits wird die Exklusion durch die Gesellschaft vollzogen, indem sie eine Gruppe ausschließt und andererseits exkludieren sich die Ausgeschlossenen selber. Diese doppelte Exklusion sieht Geiger aber auf der Seite der Masse gegeben. Die an einer Masse Beteiligten registrieren ihren eigenen Ausschluss aus der Gesellschaft durch die Gesellschaft und reagieren darauf durch Selbstexklusion, die sie vollziehen, indem sie sich einer Gruppe – der Masse – anschließen, die sie ebenfalls als Exkludierte identifizieren und die daher die Gesellschaft negieren. Vgl. das Kapitel Die Isolation in der Masse und die Vergemeinschaftung im Medialen. 221
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symbolisierte Flucht vor der Gesellschaft ermöglicht ihm, die ›realen‹ sozialen Zusammenhänge und Wirkmechanismen zu erkennen. In diesem Sinne erläutert Fuchs die Funktion der Abkehr von der Gesellschaft anhand der Figur des Mönchs, der durch seine Weltflucht die eigene spirituelle Unversehrtheit zu erhalten versucht, infolgedessen die göttliche Wahrheit zu erkennen hofft und dabei – und das ist entscheidend – die Gesellschaft als weltflüchtig beobachtet. »Die Menschenwelt kontaminiert jeden, der sich um Transzendenz bemüht, man muß sich von ihr lösen, mit der Loslösung findet man Gott, die Welt aber, die man floh, ist Gottes Welt. Ergo ermöglicht erst die Flucht vor der Welt den Dienst an der gottgeschaffenen, aber aufgrund des Vorkommens von Menschen und diabolischen Mächten perversen und vom Kurs der Perfektion abgekommenen Welt. Erst unter dem Gesetz dieser Dialektik kann der Gottsucher in den Hauptstrom der Gesellschaft zurückkehren. [...] Man kann dieses Ereignis beobachtungslogisch reformulieren: Apotaxis erscheint (von der Gesellschaft her beobachtet) als Gesellschaftsflucht, irrational, Lebensuntüchtigen vorbehalten, ein Devianzphänomen. Dabei unterstellt der Beobachter, daß seine Welt die einzig reale und damit relevante sei; aus der Perspektive des beobachteten Systems erobern der Anachoret, der Mönch, der Ordensmann die eigentliche Welt, und damit kommt es zu der raffinierten Inversion, daß der Weltflüchtige dem Weltmann Weltflucht unterstellt [...]. Rituale der vollkommenen Absage an die Welt sind dann auch [...] Rituale der vollkommenen Aufnahme in die wirkliche und eigentliche [...] Welt. Entscheidend ist [...], daß Apotaxis nicht den Vorgang der Weltflucht als Flucht vor allem [...] bezeichnet, sondern eindeutig den Versuch, die sozial-konstituierte Welt zu verlassen mit der Absicht, gleichsam de-kontaminierte Zonen [...] zu etablieren.«63
Fuchs’ Erläuterung zur vermeintlichen Weltflucht des Mönchs beschreibt Anders’ Argumentation en detail. Die Ausgangssituation des Mönchs ist die Annahme von einer kontaminierten und fehlgeleiteten Welt, die in diesem Zustand nicht mehr eigentlich die Welt Gottes ist. Dieses Bild der Welt – vom religiösen Kontext entkleidet – entwirft auch Anders: Die gleichsam diabolischen Mächte Hörfunk und Fernsehen verursachen die Fehlleitung. Sie schaffen eine Scheinwelt, die der eigentlichen Realität nicht entspricht, der aber alle Teile der Gesellschaft ausgeliefert sind. Über dieses Argumentationsmuster produziert Anders die ›raffinierte Inversion‹, die Fuchs für den Mönch feststellt. Diese Lebensform adressiert die Gesellschaft mit dem Vorwurf, sie entziehe sich der Realität. Anders beschreibt in seinem selbstgewählten und rhetorisch etablierten Eremitentum die Gesellschaft expressis 63 P. Fuchs: Die Weltflucht der Mönche, S. 29f. 222
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verbis als weltflüchtig, da sie via Medien von der Realität ausgeschlossen wird. Er, der sich der Gesellschaft in Form der Wanderschaft entzieht, unterstellt der Gesellschaft, sich nicht zu erkennen, da sie von einer medialen Illusion geleitet ist. Anders selbst ist von dieser medialen Illusion nicht betroffen, weil er sich ihr durch sein Leben als Eremit und durch die damit einhergehende Schaffung von de-kontaminierten Zonen entzieht. Über diese Distanzierung von der Gesellschaft wird das Autorsubjekt als beobachtungskompetent ausgewiesen. Das heißt, es geht dabei um die Frage nach der Möglichkeit einer fehlerfreien Beobachtung der Gesellschaft, die nur von diesen de-kontaminierten Zonen aus möglich zu sein scheint. Sie stellen die Basis für die Behauptung einer Fähigkeit zur Beobachtung von sozialen Zusammenhängen dar und werden im Text implizit mitgeführt. Die Welt als Phantom und Matrize liefert nicht nur eine Gesellschaftsbeschreibung, sondern zugleich eine Position, von der aus die Beobachtung konkurrenzlos angefertigt werden kann. Diese Position ist Effekt der diskursiven Aussonderung des Beobachters aus der analysierten Gesellschaft und der damit einhergehenden Ausstattung des Beobachters mit Überlegenheit gegenüber der beschriebenen Gesellschaft. Die Überlegenheit stellt sich weniger über die positive Formulierung der Fähigkeit des Beobachters her als über die Kritik an der Gesellschaft, denn diese wird als inkompetent zur eigenen Gesellschaftsbeschreibung dargestellt. Anders sieht die Gesellschaft durch Medienwirkung nicht zur Einsicht in die soziale Realität fähig und exkludiert sie damit von ihrer Selbstbeschreibung. Durch seine eigene Distanznahme zu dieser verblendeten Gesellschaft wird seine Person als kompetent ausgewiesen und seine Gesellschaftsbeschreibung autorisiert. Er ist damit das legitime Subjekt der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Darüber hinaus wird die Beobachtungsautorität nicht nur über den Ort, den Anders’ Wanderschaft impliziert, installiert, sondern ebenso über die damit verbundene Form der Fortbewegung. Es geht also nicht nur darum, L.A. zu verlassen und damit die soziale Einsamkeit zu wählen. Gleichzeitig ist entscheidend, wie Anders in seinem Tagebucheintrag die Stadt hinter sich lässt. Schließlich besteht sein zentraler Kritikpunkt an Hörfunk und Fernsehen in deren vermeintlicher Leistung der medialen Teilhabe an entfernten Ereignissen. Medien suggerieren, so Anders’ Analyse, der Mensch könne, ohne die Überwindung von Distanzen, Ereignissen beiwohnen, gleichgültig an welchem Ort sie stattfinden. Auf diese Weise, so sein Befund, bleibe der Mensch aber tatsächlich ›unerfahren‹: »Da wir es in einer Welt, die zu uns kommt, nicht nötig haben, eigens zu ihr hinzufahren, ist dasjenige, was wir bis gestern ›Erfahrung‹ genannt hatten, überflüssig geworden.
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Die Ausdrücke ›zur Welt kommen‹ und ›erfahren‹ hatten bis vor kurzem für die philosophische Anthropologie ungewöhnlich ertragreiche Metaphern abgegeben. Als instinkt-armes Wesen hatte der Mensch, um auf der Welt zu sein, nachträglich, d.h.: a posteriori zu ihr zu kommen, sie zu erfahren und kennenzulernen, bis er angekommen und erfahren war; das Leben hatte in einer Entdeckungsreise bestanden [...]. Nun, da die Welt zu ihm kommt, [...] so daß er sich auf sie nicht einzulassen braucht – ist diese Befahrung und Erfahrung überflüssig und, da Überflüssiges verkümmert, unmöglich geworden. [...] Da wir, ähnlich dem Flieger im Unterschied zum Fußgänger, weg-unbedürftig geworden sind, verfällt auch die Kenntnis der Wege der Welt, die wir früher befahren, und die uns erfahren gemacht hatten; damit verfallen auch die Wege selbst. Die Welt wird weglos. Statt daß wir selbst Wege zurücklegen, wird nun die Welt für uns ›zurückgelegt‹ [...].«64
Genau diese Charakterisierung trifft auf den Wanderer nicht zu; er erfährt die Welt – genauer er macht sich auf den Weg zu ihr, erfährt so die Distanzen und so bleibt der Raum für ihn eine Erfahrungskomponente. Speziell die für sich reklamierte Ziellosigkeit des Wanderns hebt auf den Weg (anstatt auf das Ziel) ab, das heißt auf das Moment, das in Anbetracht der Weltbelieferung durch Hörfunk und Fernsehen verloren geht. Indem Anders sich – gemäß seiner Anekdote – zu Fuß daran macht, die Wege zu begehen, deren Verschwinden er diagnostiziert, bleibt er im Gegensatz zu den Rezipienten von Hörfunk und Fernsehen erfahren – oder besser: bewandert. Aufgrund dessen, so der argumentationslogische Schluss, den er nicht mehr in seinem Text ausführt, ist der Wanderer zur Weltbetrachtung fähig: Er ist erfahren und hat damit die Kompetenz zur Gesellschaftsbeobachtung.65 Die Exklusion der Gesellschaft von ihrer Selbstbeschreibung funktioniert jedoch nicht nur über die Einführung der Annahme einer medialen Scheinrealität, sondern auch über ihre Benennung mit dem Begriff der Mas64 G. Anders: Die Welt als Phantom und Matrize, S. 114. Hervorhebung von Verfasserin. 65 Indem Anders die Anekdote um seine Wanderschaft als Tagebucheintrag deklariert, versieht er sie mit einem Authentizitätszeichen, das in Opposition zu dem medialen Surrogat von Hörfunk und Fernsehen steht. Er stellt damit aus, dass die Geschichte seinem Erfahrungsrepertoire entstammt und eben nicht medial vermittelt ist. Er unterstellt ihr damit nicht nur einen besonderen Wahrheitsgehalt, sondern weist darüber hinaus noch einmal auf seine Eigenschaft als Individuum hin, das zu tatsächlichen Erfahrungen fähig ist. In diesem Zusammenhang ist allerdings nach dem Status der Presseberichte, die er in seine Analyse mit einbezieht, zu fragen. Diese werden nämlich ebenfalls als Dokument mit Wahrheitsgehalt und Beweiskraft für seine Ausführungen eingeführt. Vgl. dazu Christina Bartz: »Die Masse allein zu Hause. Alte Funktionen und neue Medien, in: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S.109-121, hier S. 119f. 224
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se. So formuliert Hofstätter in seinen Ausführungen zu dem von ihm sogenannten Le Bon-Rezept, dass allein die Verwendung des Masse-Begriffs den Nachweis der Beobachtungsfähigkeit des beschreibenden Subjekts leiste. Beim Konzept der Masse geht es genau um die Benennung von Distanzierungsmöglichkeiten gegenüber der als Masse bezeichneten Gesellschaft, mit anderen Worten um die Ausweisung von de-kontaminierten Zonen. Die Distanzierungsbewegung gegenüber der Masse erfolgt dabei auf der Basis der Beschreibung der Gefahr der Inklusion: Jeder kann potentiell vom Massendasein betroffen sein. Durch die Beschreibung dieser Gefahr, so Hofstätter, kann es »so scheinen, als läge es nur an uns, daß wir dieser Gefahr entgehen.«66 Der Inklusionssog, der der Masse aber auch den Medien unterstellt wird, produziert den ihr Widerständigen als fähig zur Distanz. Er besitzt nach dieser Argumentationsstrategie eine Eigenschaft, die ihn von der Masse unterscheidet. Eines der zentralen Unterscheidungskriterien ist die Differenz blind/ sehend, die auch bei Anders einen Kernpunkt der Argumentation ausmacht. Der Massen-Eremit wird als verblendet beschrieben, während der Beobachter allein durch seine Einsicht in die Verblendung der Masse klar die gesellschaftliche Realität vor Augen hat. Die Beobachtung der Masse als von Fehlwahrnehmung geleitet ist der Beweis für die Klarsicht des Beobachters – dass er eben von diesen Fehlwahrnehmungen nicht betroffen ist. Aufgrund dieser Kompetenz kann seinen Beschreibungen ›Wahrheit‹ unterstellt werden. Anders’ Text ist einerseits unter dieses von Hofstätter beschriebene Argumentationsschema, das das Massenkonzept impliziert, zu subsumieren, insofern er genau die Realitätsblindheit des Massen-Eremiten konstatiert. Dabei koppelt er die Leistung des Begriffs der Masse an Medienbeschreibungen: Die Blindheit der Masse ist medial verursacht. Somit übernehmen Medien für die Masse eine explikative Funktion – und umgekehrt: Die Masse ist beschreibungsrelevant für Medienbeobachtungen. Anders’ Text ist schließlich um die Kritik an Hörfunk und Fernsehen zentriert, in deren Rahmen der Begriff der Masse zur Erläuterung der Medieneffekte dient. So bilden Masse und Medium zwei aufeinander bezogene Größen, die sich gegenseitig explizieren. Andererseits fügt die explikative Funktion der Medien hinsichtlich der Massenbeschreibungen einen neuen Distanzierungsmechanismus ein. Die Selbstexklusion aus der Masse funktioniert über eine Absentierung von deren Massenmedien. Das heißt, die Selbstexklusion ist in Anlehnung an die Argumentation des Textes durch die simple Abkehr vom Empfangsgerät zu erreichen. Indem das Autorsubjekt der Mediennutzung entsagt, verortet es 66 P. Hofstätter: Gruppendynamik, S. 8. Vgl. zur Erläuterung des von Hofstätter sogenannten Le Bon-Rezepts das Kapitel Die Funktion der Masse: Exklusion. 225
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sich auf der präferierten Seite der Unterscheidung, ist also der unverblendete Eremit mit Einsicht in die Realität. Denn wenn Hörfunk und Fernsehen die Wahrnehmungsfähigkeit stören, so bedeutet eine Abkehr von ihnen die Kompetenz zur Beobachtung. Der schlichte Akt des Abschaltens – genauer des Nicht-Einschaltens – lässt ein hellsehendes Individuum erscheinen. Einund Nicht-Einschalten gehört zu den Basalunterscheidungen von Anders’ Hörfunk- und Fernsehbeobachtungen. Zwar wird sie nicht in seinem medientheoretischen Zentraltext Die Welt als Phantom und Matrize aufgerufen, stellt aber den Inhalt einer persönlichen Geschichte, die den Text flankiert, dar. Demnach – so wird er nicht müde zu wiederholen – hat er »als er den Aufsatz schrieb, ›noch nicht ein einziges mal ferngesehen [...]‹.«67 Das heißt, er hat sich dem Empfänger nie zugewendet, weshalb sein analytischer Blick nicht getrübt worden ist. Durch diese Bemerkung, in deren Hintergrund seine Analyse einer medialen Verblendung steht, stabilisiert er seine Gesellschaftsbeschreibung, indem er so beweist, nicht von den Medieneffekten affiziert zu sein, das heißt nicht an der medial induzierten Scheinrealität teil zu haben.68
67 Wolfgang R. Langenbucher: »Günther Anders«, in: Christina Holtz-Bacha/ Arnulf Kutsch (Hg.), Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 25-27, hier S. 25. Langenbuch zitiert hier einen Brief von Anders vom 05. Mai 1987 an ihn. Laut Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst. Eine Einführung, Wien: WUVUniversitätsverlag 1999, S. 109, »erzählte [Anders] gerne, daß er damals, 1948 in New York, nur einmal, zufällig [Hervorhebung durch Verfasserin] ferngesehen habe [...].« Vgl. zur Funktion des Abschaltens auch das Kapitel An/Aus. 68 Umberto Eco geht ebenfalls auf die Bedeutung des Abschaltens des Empfangsgerätes in Die Welt als Phantom und Matrize ein. Laut Eco ist das Moment des Abschaltens aber eher ein Hinweis darauf, dass Anders und andere Medienkritiker vom Fernsehen affiziert sind, da es eine »morbide Anziehungskraft« auf sie ausübt, der sie nur durch die Absage an das Fernsehen entgehen können: »Im Endeffekt offenbart er [Anders] uns aber, welche Wirkung das Fernsehen auf ihn selbst hat.« Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt/Main: Fischer 1984 (1964), S. 28 u. 27. Eine Kritik ganz anderer Art äußert Arnold Gehlen, der in seinem Text Mensch trotz Masse die negative Gesellschaftsbeschreibung, wie sie im Begriff der Masse ihren Ausdruck findet, hinterfragt. Bereits 1952, also bevor Anders seine Medienanalyse veröffentlicht, kritisiert Gehlen, die Idee der ›Erfahrung aus zweiter Hand‹, demnach die Erfahrungen in der Massengesellschaft nicht in einer direkten Anschauung bestehen, sondern sich allein durch Reproduktionen herstellen. Gehlen zufolge ist aber die Kritik der Erfahrung aus zweiter Hand weniger auf die Gesellschaft als Ganzes anwendbar, als vielmehr auf die Kulturkritiker. Diese produzieren ihren Analyse auf der Basis anderer Analysen, anstatt aufgrund von eigenen Anschauung: »Diese Kritik verläuft [...], meist ohne Kenntnis ›erster Hand‹ [...].« Arnold Gehlen: »Mensch trotz Masse. Der Einzelne in der Umwälzung der Gesellschaft«, in: Wort und Wahrheit 8 (1952), S. 579-586, hier S. 583. 226
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Dieses Abheben auf die eigene Verweigerung des Fernsehempfangs wird gerade dann bedeutsam, wenn – wie in Anders’ Analyse – die klassische Position des Eremiten in Frage steht, wenn also soziale Enthaltsamkeit angesichts ihres massenhaften Auftretens nicht für Exklusivität sorgt. Zwar steht die Position des Eremiten wie die der Masse nach wie vor zur Verfügung, ihre Funktionen sind aber prekär, wenn die Masse sich isoliert und der Eremit nicht einzeln auftritt. Die gesellschaftliche Unterteilung in Masse und Einzelne erscheint angesichts dieser Analyse problematisch und motiviert neue Distanzierungsverfahren, die ein neues Medium als Anlass nehmen. Gesellschaftliche Differenz produziert das Fernsehen: Es setzt die ehemals als Eremit benannte Figur sowie das Konzept der Masse wieder vollständig in Szene, indem es sie in anderer Form repliziert. Die Fernsehzuschauer nehmen in der Medienbeschreibung die Eigenschaften der Masse an und werden auch als solche benannt. Dabei ersetzt die Medienanalyse die Massenbeobachtung und ihre Funktionsweise: Die Absentierung von der Masse durch die Anfertigung entsprechender Beschreibungen von ihr persistiert in der Medienanalyse, in der das kritische Subjekt der Beobachtung aus der Zuschauerschaft exkludiert wird. Insofern ist Anders Medienkritik eine Fortschreibung des Massendiskurses mit neuen, von Medientechniken inspirierten Mitteln.
3 Die Außenlenkung des Radar-Typus Eine gleichermaßen prominente Gesellschaftsanalyse, die sich sowohl am Begriff der Masse als auch an der Beobachtung von Medien orientiert, ist die Arbeit Die einsame Masse und ihre Charaktertypologie aus traditions-, innen- und außen-geleiteten Menschen. Die Studie hat Erfolg im deutschsprachigen Raum, wie an der Auflagenstärke von über 60.000 Exemplaren bis 1964 abzulesen ist.69 Sie wird in verschiedenen Kontexten zur Beschreibung der Masse herangezogen. Boveri zum Beispiel bemüht in ihrer Untersuchung zum Verrat im XX. Jahrhundert das Konzept des ›außengelenkten‹ Menschen zur Bestätigung ihrer These vom massenhaften Verrat. Der von ihr behauptete Verrat am eigenen Gesellschaftssystem entstehe durch die außen-gelenkte Charakterstruktur, die den Menschen für vielfältige Manipulationsversuche zugänglich mache.70 Solche Adaptionen verdecken jedoch, dass Riesmans Studie sich nicht reibungslos in die deutsche Masse-Semantik 69 Vgl. zur Relevanz der Studie in Deutschland Gernot Wersing: »David Riesman, Reuel Denney, Nathan Glazer«, in: Christina Holtz-Bacha/Arnulf Kutsch (Hg.), Schlüsselwerke für die Kommunikationswissenschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002, S. 373-375, hier S. 373. 70 Vgl. M. Boveri: Verrat als Epidemie, S. 19-22. 227
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einfügen lässt, wie Helmut Lethen herausarbeitet. Laut Lethen scheint es fast unmöglich, »in der deutschen Tradition [...], diesen Typus [des außengeleiteten Charakters] unbefangen, getrennt vom [...] kulturkritischen Ressentiment gegen jede Gestalt, die massenhaft auftritt, auch nur wahrzunehmen [...].«71 Die Studie trifft also auf gewisse Widerstände in der deutschen Gesellschaftsanalyse. Diese ist zumeist von einer Verachtung gegenüber der Masse geprägt, die sich mit Riesmans nüchterner Auseinandersetzung mit der USamerikanischen Gesellschaft nur schwer vereinbaren lässt. Dessen ungeachtet wird der Text – wie das Beispiel Boveri verdeutlicht – in die bundesdeutschen Debatten integriert und richtet dort die Gesellschaftsbeschreibung ein. Reibungswiderstände werden nicht thematisiert. So leitet ein spezifisches und bereits etabliertes Wissen über die Masse die Lektüre in der Bundesrepublik. Der Text wird an dieses Wissen angeschlossen. In dieser bruchlosen Adaption geht verloren, dass es möglich ist, eine Massentheorie zu schreiben, die erstens nicht kulturkritisch ist und zweitens den Medien eine starke strukturelle Stellung zuschreiben, die aber positiv gewendet wird. Um dies aufzuzeigen, werden im Folgenden die basalen Differenzen zu den großen massenpsychologischen Entwürfen benannt. Die Massentheorie aus den USA ist ein Gegengewicht zu bisher angesprochenen Konzepten und dennoch sind zentrale Themenfelder identisch. Dabei ist es im Besonderen die Differenz von außen- und innengeleiteter Charakterstruktur, die als eine Wiederauflage der Gegenüberstellung der beiden Formen der Willensbildung erscheint. Seit dem 19. Jahrhundert gehört es zu den zentralen Beschreibungsformen der Masse, ihr einen eigenen Willen abzusprechen. Im gleichen Zuge, so wurde unter Bezug auf das Prinzip der Unzurechnungsfähigkeit ausgeführt, wird ein der Masse externer Wille angenommen. Die Masse habe keinen eigenen Willen, sondern sei fremdbestimmt. Dies genau unterscheide sie vom Individuum, das seinen eigenen Willensvorgaben folge. Es wird eine Differenz zwischen interner und externer Willensbildung formuliert. Eine ähnliche Oppositionsbildung scheint auch David Riesmans Die einsame Masse zu leiten, in der zwischen einem ›innen-geleiteten‹ und einem ›aussen-geleiteten‹ Charaktertyp unterschieden wird. Zusätzlich wird ein sogenannter ›traditions-geleiteter‹ Typus angenommen, der jedoch für die von Riesman fokussierte Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft von geringem Interesse ist.72 Dies begründet sich darin, dass die jeweiligen Charaktere auf 71 Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 235 72 Vgl. David Riesman/Reuel Denney/Nathan Glazer: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Hamburg: Rowohlt 19615 (1950), S. 30. Auch wenn es sich um eine Kollektivarbeit handelt, wird im Folgenden – allein zur Vereinfachung – nur Riesman als Autor genannt. 228
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die in einer Gesellschaft herrschenden Produktionsprozesse73 zurückgeführt werden, so dass in verschiedenen historischen Perioden je ein Typ dominiert. Der Traditionstypus stellt die älteste Form dar, die in der Feudalgesellschaft vorherrschend gewesen sei. Mit der Industrialisierung komme der innen-geleitete Mensch auf, der im post-industriellen Zeitalter durch eine Charakterstruktur der Außenleitung abgelöst werde. Es handelt sich jedoch lediglich um eine Dominanz eines Typus in der Gesamtbevölkerung, so dass die verschiedenen Typen nebeneinander existieren. So herrsche zunehmend die außen-geleitete Persönlichkeitsstruktur, ohne dass die innen-geleitete vollkommen verdrängt werde. Riesman beschreibt die innen-geleitete Persönlichkeitsstruktur als einen ›eigenständigen Charakter‹, dessen Verhalten sich aus dem »eigenem Ermessen«74 ergebe, wobei dieses eigene Ermessen der Effekt der Erziehung sei. »Die Kraft, die das Verhalten des Individuums steuert, wird verinnerlicht, d.h. sie wird frühzeitig durch die Eltern in das Kind eingepflanzt [...].«75 Im Zuge der Erziehung internalisiere das Kind die Verhaltensregeln, die es in der Folge aus eigener Motivation umsetze. Aufgrund dieses Verinnerlichungsprozesses sei das Handeln des Menschen fast ausschließlich das Resultat eines inneren Antriebs und erscheine daher autonom. Eine solche Internalisierung von Verhaltensvorgaben finde beim außengeleiteten Typus nicht statt und zwar weil es keine Regeln gebe, denen man eine dauerhafte Gültigkeit unterstellen könne. In der aktuellen Gesellschaft werde der Mensch permanent mit wechselnden und unvorhersehbaren Situationen konfrontiert, so dass sich keine Verhaltensmaßregeln für deren Bewältigung etablieren könnten. Der Mensch müsse je situationsbedingt neu reagieren und daher eine Sensibilität für seine Umgebung entwickeln, um
73 Die Produktionsbedingungen sind wiederum im ›Bevölkerungsumsatz‹ begründet. Diesen Zusammenhang entnimmt Riesman den Schriften des Ökonomen Thomas Robert Malthus. Vgl. D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 26. Obgleich Riesman mit dem Bevölkerungsumsatz die Entwicklung der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, die Form von Arbeitsprozessen, die Spezifik des Konsumverhaltens und die Entwicklung der Industrialisierung verbindet (vgl. ebd., S. 26-40), behauptet Erich Franzen in seiner Buchrezension, Riesman habe aufgrund seiner anti-materialistischen Haltung die »Produktionsverhältnisse und Spezialisierung des Arbeitsprozesses« übersehen, was eine Lücke in seinem Werk ausmache. Erich Franzen: »Soziologie für Konsumenten«, in: Merkur 2 (1958), S. 183-186, hier S. 185. Ohne Zweifel liefert Riesman keine genaue Analyse dieser Zusammenhänge, aber sie werden durchaus in Die einsame Masse angesprochen. Brookman hebt deren Beschreibung in Riesmans Schrift sogar hervor. Vgl. Christopher Brookman: Society since the 1930s, London, Basingstoke: Macmillion 1984, S. 105. 74 D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 32. 75 Ebd., S. 31. Vgl. auch ebd., S. 57-59. 229
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seine Reaktion angemessen zu gestalten. Aufgrund dessen müsse diese Persönlichkeitsstruktur sich grundsätzlich nach außen hin orientieren. »Das gemeinsame Merkmal der außen-geleiteten Menschen besteht darin, daß das Verhalten des einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert wird; entweder von denjenigen, die er persönlich kennt, oder von jenen anderen, mit denen er indirekt durch Freunde oder durch die Massenunterhaltungsmittel bekannt ist. Diese Steuerungsquelle ist selbstverständlich auch hier ›verinnerlicht‹, und zwar insofern, als das Abhängigkeitsgefühl von dieser dem Kind frühzeitig eingepflanzt wird. Die von dem außen-geleiteten Menschen angestrebten Ziele verändern sich jeweils mit der sich verändernden Steuerung durch die von außen empfangenen Signale. Unverändert bleibt lediglich diese Einstellung selbst und die genaue Beachtung, die den von den anderen abgegeben Signalen gezollt wird.«76
Der Mensch, so Riesman weiter, »entwickelt [...] eine weitgehende Verhaltenskonformität [...] durch die außergewöhnliche Empfangs- und Folgebereitschaft, die er für die Handlungen und Wünsche der anderen aufbringt.«77 In dieser Beobachtung findet sich der Massenmensch, wie er seit der Jahrhundertwende definiert ist, wieder, obgleich seine Beschreibung durch einige technische Vokabeln, sowie die Thematisierung von Massenmedien angereichert und somit aktualisiert wird. Die Außen-Leitung scheint dann auch die charakterliche Disposition des Massenmenschen, den Riesman gemäß seinem Titel zu erfassen versucht. Die Masse, so lässt sich gleichermaßen mit Riesman wie mit den Massentheoretikern der Jahrhundertwende formulieren, ist grundsätzlich empfangsbereit beziehungsweise beeinflussbar. Ihre grundsätzliche Beeinflussbarkeit hat zum Effekt, dass sie auf jedes gegebene Signal und auf jeden gegebenen Reiz reagiert und sich danach richte. Ihr Verhalten sei somit allein durch diese äußerliche Reizgebung verursacht und nicht das Resultat eines eigenen Willensbildungs- oder Denkprozesses. Die Willensbildung beziehungsweise die Bestimmung eines anzustrebenden Ziels werde vom Außen des Individuums vorgegeben. Aufgrund dessen handele der Einzelne konform mit seinen Mitmenschen. Das heißt, das Handeln der Masse erscheint auch bei Riesman gleichgerichtet. Weil die Masse aber jeder Vorgabe eines Ziels folgt, ist sie veränderlich und wankelmütig beziehungsweise flexibel.78 Sie ändert ihre Ziele mit jedem neu gegebenen Signal. In Die einsame Masse werden so die gleichen Befunde präsentiert, wie sie viele Massenbeschreibungen zuvor vorgelegt haben und wie sie in der vorliegenden Arbeit dargestellt wurden.
76 Ebd., S. 38. 77 Ebd., S. 38. 78 Vgl. zur Veränderlichkeit ebd., S. 196f. und 206. 230
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Die große Übereinstimmung in der Charakterisierung des außen-geleiteten Typus mit der gängigen Bestimmung der Masse lässt Riesmans Studie als eine kontinuierliche Fortschreibung der Massentheorie erscheinen. Doch einer solchen Kontinuitätsthese stehen weitreichende Differenzen der beiden Beschreibungen gegenüber. So ist die Untersuchung von einigen Distanzierungsbewegungen gegenüber der Be-, genauer gesagt, Verurteilung der Masse geprägt. Riesman verwehrt sich gegenüber »gewissen Werturteilen«79, die mit der Beschreibung der Masse einhergehen. Der gesamte Text ist von dem Versuch einer möglichst neutralen Beschreibung der außengeleiteten Persönlichkeitsstruktur gekennzeichnet.80 Diese Neutralität manifestiert sich unter anderem darin, dass die Verteilung einiger Merkmale zwischen dem außen- und innen-geleiteten Typus nicht so eindeutig ausfällt, wie es die oben angeführte Skizzierung der jeweiligen Charaktere nahe legt.81 Die Begrifflichkeit der Anpassung, Konformität und Steuerung ist nach Riesman für alle Typen – inklusive den traditionsgeleiteten – gleichermaßen relevant. Während diese Merkmale gemeinhin ausschließlich der Masse zugerechnet werden, sieht Riesman sie als gültig für alle Menschen an, die an einem sozialen Zusammenschluss teilhaben. So lautet seine Ausgangsüberlegung, dass die Herausbildung einer bestimmten Charakterstruktur in Abhängigkeit von der Gesellschaft und den darin herrschenden Produktionsbedingungen geschehe. Die ökonomischen Erfordernisse provozierten eine spezifische Charakterbildung, die der »Befriedigung der dringlichsten Bedürfnisse der Gesellschaft«82 zuträglich seien. Der Charakter passe sich den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen 79 Ebd., S. 47. 80 Vgl. z.B. ebd., S. 172f. 81 Die Bezeichnung des außen-geleiteten Typus als Masse geschieht vor allem auf der Basis eines bereits etablierten Wissens über die Masse und ihre Beeinflussbarkeit. Zwar schreibt Riesman, dass dieser Charakterstruktur »der größte Teil dieses Buches gewidmet« sei. Insofern die Masse titelgebend für seine Studie ist, scheint er eindeutig im Außen-Geleiteten den Massenmenschen zu identifizieren. Den Begriff der Masse verwendet er dann aber sowohl für den außenwie innen-geleiteten Typus. Und auch von der Einsamkeit, die im Buchtitel angesprochen wird, sind beide Charakterstrukturen betroffen. Vgl. z.B. D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 59. Es ließe sich also auch behaupten, dass die Masse jeweils der Charaktertypus ist, der in einer Gesellschaft dominant ist. Für diese These spricht auch, dass die außen-gelenkte Charakterstruktur ein Phänomen des post-industriellen Zeitalters ist, während die innen-geleitete in die Zeit der Industrialisierung – und damit dem allgemein benannten Kontext der Masse – gehört. Das Wissen über die Beeinflussbarkeit des Massenmenschen verhindert aber diese Lektüre. Die Beeinflussbarkeit der Masse wird in der Außen-Lenkung wiederentdeckt. Vgl. O. Hartmann, Die Massenmedien – Macht und Unterjochung des Menschen, S. 64f.; E. Franzen: Soziologie für Konsumenten. 82 D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 22. 231
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an, um darin produktiv zu werden. »So findet sich die Verbindung zwischen Charakter und Gesellschaft in der Art und Weise, wie die Gesellschaft einen gewissen Grad der Verhaltenskonformität der ihr zugehörigen Individuen garantiert.«83 Das Individuum ist insofern in Bezug auf die Produktions- und Gesellschaftsbedingungen konform, gleichgültig in welchen spezifischen Produktionsformen es lebt. Jede Form fordert die ihr angemessene Konformität. Konform ist der Einzelne zudem, weil eine gewisse Einheitlichkeit der charakterlichen Struktur, die eine Entsprechung zur herrschenden Produktion aufweist, in einer Gesellschaft besteht. Weil ein spezifischer Charakter in einer Gesellschaft eine Anpassung an den Produktionsprozess darstellt, wird dieser einheitlich herausgebildet. Diese »Konformitätssicherung«84 ist die Basis für das gesellschaftliche Zusammenleben. Damit ist der innen-geleitete Mensch »in keinem geringerem Maße als die anderen ein Konformist, nur sind die Stimmen, auf die er hört, entfernter, sie gehören einer älteren Generation an, und die von ihnen aufgestellten Normen wurden bereits in der Kindheit verinnerlicht.«85 Der innen-geleitete Typus ist damit gleichermaßen konform und angepasst wie der außen-geleitete, denn es handelt sich jeweils um eine Anpassung gegenüber den herrschenden Bedingungen. Konformität macht also kein Differenzierungsmerkmal der unterschiedlichen Typenstrukturen aus. Die verschiedenen Charaktere, die in den jeweiligen historischen Perioden herrschend sind, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer »Steuerungsorgane«.86 Jeder Typus wird nach seinem je eigenen Prinzip gesteuert – beziehungsweise wie die je unterschiedliche Typenbezeichnung besagt – geleitet. Während der ehemals dominierende innen-geleitete durch verinnerlichte Normen gelenkt wird, richtet sich der außen-geleitete Charakter nach äußeren Vorgaben. Aufgrund des Internalisierungsprozesses scheint der zeitlich frühere Typus eigenständig und autonom in seinen Handlungen.87 Dem Typus der Innen-Lenkung steht damit zwar ein »Abwehrmechanismus gegen willkürliche Beeinflussung«88 zur Verfügung, den sein Gegentypus entbehrt, aber mit dem ›Steuerungsorgan‹ unterliegen sie beide einem Lenkungs- und Kontrollmittel. Sie beide haben ihre je eigene »Steuerungsquelle«.89 Damit ist das Moment der Steuerung kein Effekt der Beein-
83 Ebd., S. 22. Vgl. zur Anpassungsthese auch ebd., S. 253f. Dieses Konzept einer Verhaltenskonformität entspricht in einigen Punkten Tardes Modell der Nachahmung, in dem es ebenfalls darum geht, durch Anpassung ein gesellschaftliches Zusammenleben zu sichern. Vgl. G. Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 165-177. 84 D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 31. 85 Ebd., S. 47. 86 Ebd., S. 46. 87 Vgl. z.B. ebd., S. 92. 88 Ebd., S. 70. 89 Ebd., S. 38. 232
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flussbarkeit, wie die Massentheorie seit dem 19. Jahrhundert behauptet, sondern menschliches Verhalten wird grundsätzlich durch einen Steuerungsmechanismus gelenkt. Im Falle der Innen-Lenkung ist dieser Mechanismus lediglich durch Internalisierung in das Innere verlegt. Insofern der Lenkmechanismus im Falle der Außen-Leitung eben äußerlich bleibt, ist hier eine Beeinflussbarkeit gegeben, die sich nicht beim Gegentypus findet. Der außen-geleitete Mensch (und in diesem Sinne der Massenmensch) wird also von Riesman mit dem Prädikat ›beeinflussbar‹ versehen. Gleichwohl Riesman also allgemein und für alle Typen von einer Verhaltenssteuerung ausgeht, trifft das Moment der Beeinflussbarkeit allein für die außen-geleitete Masse zu und insofern schließt Riesman an die bis dato bestehenden Massenbeschreibungen an. Es zeigt sich deutlich, wie trotz der weitgehenden Übereinstimmung von Riesmans Massendefinition mit der etablierten Massendarstellung auch Differenzen zwischen beiden bestehen. Der gravierendste Unterschied liegt wohl darin, dass er überhaupt einen Gegentypus zum Massenmenschen in solcher Ausführlichkeit entwirft. Das Gegenüber der Masse bleibt keine diffuse Größe. Es wird nicht schlicht behauptet, dass das Zeitalter der Massen90 angebrochen sei und damit eine neue Verhaltensweise einhergehe, die sich von der alten unterscheide, wobei vor allem das Neue thematisiert wird. Riesman geht sogar noch weiter, indem er beide aus den gleichen grundsätzlichen Strukturen abzuleiten versucht. Seine Frage lautet sowohl für den früher herrschenden innen-geleiteten wie für den aktuellen außen-geleiteten Typus auf der Basis welcher Produktionsbedingungen er entsteht und von welchen Steuerungsmechanismen sein Verhalten bestimmt ist. Indem er beide Typen zugleich untersucht, aktualisiert er einerseits die Masse-Semantik und kommt andererseits zu vollkommen anderen Befunden, als die spezifisch europäisch geprägte Massentheorie. In der Gegenüberstellung entfällt eine Bewertung der jeweiligen Eigenschaften und diese werden über das Anpassungsmodell einer neutraleren Beschreibung zugeführt. Eine starre Zuordnung von Werturteilen im Sinne einer guten Vergangenheit und einer korrumpierten Gegenwart – der Dichotomie also, auf die kulturkritische Texte aufbauen – bietet der Text nicht. Exemplarisch kann dies anhand der angenommen Veränderlichkeit der Masse verdeutlicht werden, von der Riesman wie auch seine Vorgänger ausgehen. Le Bons Beschreibung des Wankelmuts der Masse scheint sich in
90 Wie bereits im Kapitel Steuerung im Zeitalter der Massen erläutert, sieht Le Bon ein neues Zeitalter anbrechen, das von der Macht der Masse gekennzeichnet sei. Die Formulierung vom Zeitalter der Massen wird zur immer wieder reproduzierten Floskel. So sieht auch Riesman – ohne jedoch Le Bons Wortlaut zu übernehmen – ein neues Zeitalter des außen-geleiteten Typus anbrechen. Vgl. D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 20. 233
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Riesmans Erläuterung ihrer Veränderlichkeit zu wiederholen. Beide gehen davon aus, dass die Masse beeinflussbar sei und daher auf äußere Einflüsse äußerst sensibel reagiere. Mit dem Wechsel der Einflüsse gehe dann auch eine Veränderung im Verhalten des Massenmenschen einher. Die Masse verfolge unterschiedliche Ziele, je nach den gegebenen Reizen beziehungsweise Signalen.91 Diese Beobachtung erhält jedoch im Rahmen einer Gegenüberstellung mit dem Innen-Geleiteten eine neue Wendung. Der pejorative Begriff des Wankelmuts wird zur positiven Charaktereigenschaft der Flexibilität, wenn die Beschreibung der innen-geleiteten Persönlichkeitsstruktur ansteht. Die Internalisierung sozialer Normen, wie sie dieser Typus vollziehe, führe nämlich zum Problem einer mangelnden Beweglichkeit in Anbetracht der aktuellen Gesellschaftsstruktur, die sich durch soziale Mobilität auszeichne.92 Der innen-gelenkte sei »ein starrer [...] Charakter«, so Riesman.93 Demgegenüber entwickele der Typus der Außen-Leitung eine Flexibilität seiner Verhaltensweisen, die der sozialen Mobilität entspreche. Indem er sich sensibel gegenüber seiner Umgebung zeige, könne er auf veränderte und unbekannte Situationen, wie sie durch die soziale Mobilität entstünden, adäquat reagieren. Die Starre des innen-geleiteten Menschen werde aber erst in Anbetracht der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse zum Problem, weil sie an diese nicht angepasst sei. Aufgrund dessen bringe eine Veränderung der Gesellschaft auch einen neuen, ihr entsprechenden Charaktertypus hervor. »Unstimmigkeiten zwischen gesellschaftlich und charakterologisch angemessenem Verhalten sind [...] die stärksten Beweggründe für den sozialen Wandel.«94 Die Eigenschaft der Außen-Lenkung, wie sie in der Masse bestehe, ist also Effekt einer neuen gesellschaftlichen Struktur. Die Masse und die ihr zugeschriebenen Charaktereigenschaften sind somit kein gleichsam natürliches Faktum, das immer schon gegeben ist und das unter bestimmten Bedingungen das gesellschaftliche Geschehen dominiert, sondern das Resultat dieser Bedingungen. Sie kommt also nicht, wie Le Bon dies behauptet, plötzlich an die Macht. Insofern legt Riesman ein verändertes Massenkonzept vor und dies nicht, weil sich die beschriebenen Verhaltensweisen der
91 Vgl. D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 38; sowie das Kapitel Die Steuerung im Zeitalter der Massen. 92 Vgl. D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 60-62. Dieser sozialen Mobilität kann man natürlich ebenfalls kritisch gegenüber stehen und auch darin ein Massenproblem erkennen. Aber dessen ungeachtet zeigt sich hier, dass Riesman einen Abgleich beider Typen vornimmt und dabei eine möglichst neutrale Beschreibung vorzulegen versucht. Die positive oder negative Bewertung einer Charaktereigenschaft resultiert dabei lediglich aus der eingenommenen Perspektive. 93 D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 32. 94 Ebd., S. 45. 234
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von ihm konzeptualisierten Masse gegenüber denen bis dato und im Rahmen dieser Arbeit benannten unterscheiden, sondern weil die konzeptuelle Grundlage der bisherigen Massentheorie weitgehend entfällt.95 Dieses veränderte Massenkonzept beschreibt dann auch keine gesellschaftliche Verfallsgeschichte, wie sie das kulturelle Archiv Europas füllt.96 Solchen Verfallsszenarien hält Riesman seine Anpassungsthese entgegen. Der außen-geleitete Typus stelle eine Anpassung an die gesellschaftlichen und produktionstechnischen Strukturen dar und garantiere deren Funktionieren. Die Masse ist also kein (revolutionärer) Antipode der herrschenden Verhältnisse, sondern die Basis der Gesellschaft der Gegenwart. Das gesellschaftliche Zusammenleben vollzieht sich auf der Grundlage des daran angepassten Menschen und das heißt für die zeitgenössische Gesellschaft, dass ihre Existenz vom Außen-Geleiteten abhängt. Riesman beobachtet die Masse also nicht unter einer kulturkritischen Perspektive. Indem er den Begriff aus seinem etablierten und insbesondere psychologisch informierten Argumentationsmuster löst, gibt er ihm eine neue – wenn auch nicht positive, so
95 Seine soziologische Herangehensweise, die den Zusammenhang von Charakter und Gesellschaft fokussiert, stellt vor allem ein Gegenmodell zur massenpsychologischen Theoriebildung bereit. Die psychologischen Konzepte werden in Riesmans Untersuchung zurück gewiesen. Vgl. C. Brookman: Society since the 1930s, S. 106. Das betrifft erstens die Idee einer Stratifikation des Charakters, die in der Massentheorie prominent ist, aber in der vorliegenden Arbeit nicht ausführlich dargestellt wurde, weil sie für die Beschreibung des Fernsehens keine erhöhte Relevanz erhält: Riesman hält diesem Modell einer Stratifikation seine Charaktertypologie entgegen, die von einer kompletten Umformung des Charakters anstatt von einer zunehmenden Überlagerung der unterschiedlichen Ebenen ausgeht. Damit verlieren sich auch die damit plausibilisierten Beschreibungen. Die Masse in Gestalt des außen-geleiteten Charakters ist nicht gewaltbereit und primitiv oder gar barbarisch. Zweitens geht es um die Vorstellung einer Massenseele, der Riesman mit einem beobachtungstechnischen Hinweis begegnet: Jede Beobachtung der unterschiedlichen Charaktere und damit auch der Masse müsse zwangsläufig das einzelne Individuum, das deren Manifestation darstelle, aus dem Blick verlieren. Es handele sich lediglich um Verallgemeinerungen, die dem Einzelnen nicht gerecht würden. Eine Charaktertypologie übergeht den konkreten Menschen, aus dem sie gewonnen und auf den sie angewendet werde. Die einzelnen Typen sind damit eine Abstraktionsleistung, die sich daraus ergibt, dass aus den Beobachtungen am Einzelmenschen einheitliche Formen gewonnen werden, die aber dabei den Charakter des Einzelnen nivellieren. Indem diese Einheitlichkeit aber bei Riesman als Abstraktion anerkannt wird, hinter der sich die Summe vieler Singularitäten versteckt, wird implizit auch das Modell einer einheitlichen Massenseele zurück gewiesen. Die Einheitlichkeit stellt sich erst in der Beobachtung her und ist nicht den Phänomenen eigen. Vgl. im gleichen Sinne T. Geiger: Die Masse und ihre Aktion, S. 66f.; sowie Reiwalds Äußerungen, wie sie im Kapitel Pathologien vorgestellt wurden. 96 Vgl. exemplarisch H. de Man: Vermassung und Kulturverfall, S. 60f. 235
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doch zumindest neutrale – Wendung. Das Moment einer Verfallserscheinung kann darin nicht identifiziert werden. Obwohl Riesman einen neuen Begründungszusammenhang liefert und die Massenbeschreibung so vom kulturkritischen Duktus befreit, sind die beschriebenen grundlegenden Charaktereigenschaften kaum von denen des Objekts der Massenpsychologie zu unterscheiden. Beeinflussbarkeit, Veränderlichkeit und Gleichgerichtetheit bleiben auch bei Riesman die bestimmenden Merkmale. In diese Charakterisierung integriert Riesman dann auch Massenmedien und weist ihnen eine Rolle zu. Er kommt im Zuge der Frage nach der Erscheinung des außen-geleiteten Massenmenschen zu einer Beschreibung von »Massenkommunikationsmitteln«97. Riesmans Ausgangsfrage richtet sich nicht auf eine Medienanalyse, in deren Kontext eine Konzeption der Masse aufgerufen wird, sondern die Masse ist sein zentrales Thema und insofern die zeitgenössische Gesellschaft von Massenmedien geprägt ist, werden auch diese angesprochen. Aufgrund dieses Verfahrens erhalten die Massenkommunikationsmittel keine prominente Stellung in Riesmans Ausführungen. Ungeachtet ihrer regelmäßigen Thematisierung sind sie nur eines von vielen Elementen, mit denen der Außen-Geleitete konfrontiert wird. »Dem Konsum von Bildung, Freizeit, Luxus und öffentlichen und privaten Dienstleistungen entspricht die Steigerung des Konsum von Wort und Bild durch die neuen Massenkommunikationsmittel.«98 Massenmedien stellen eine Form des modernen Lebens dar und entbehren den Status des Exzeptionellen. Ihre spezifische Leistung liegt darin, dass die Steigerung des Konsums massenmedialer Inhalte ein zunehmendes Partizipieren an bis dato unzugänglichen gesellschaftlichen Bereichen ermöglicht. Die so eröffneten sozialen Felder gehören zum Erfahrungsreservoire des außen-geleiteten Charakters, das darüber einen enormen Zuwachs erhält.99 Zur Bewältigung dieses Zuwachses bedarf es der außengelenkten Charakterstruktur, denn nur diese bietet das dazu entsprechende Potential. Dem Außen-Geleiteten ist es insofern möglich, den durch die 97 D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 49. 98 Ebd., S. 37. Eine Vielzahl der Beschreibungen der Massenmedien in Die einsame Masse sind der Widerlegung der Manipulationsthese gewidmet. Nach Riesman bieten die Massenmedien keine Möglichkeit der Manipulation der Masse, auch wenn ihre Außen-Lenkung dies nahe legt. Die Annahme, die Masse werde durch die »Massenunterhaltungsmittel« manipuliert, disqualifiziert Riesman als Theorie der »Verschwörung«. Ebd., S. 166. Die These von der Außen-Leitung, so lässt sich Riesmans Argumentation zusammenfassen, ist nicht in eine Möglichkeit der unbeschränkten massenmedialen Steuerung übersetzbar. Massenkommunikationsmittel wirkten nicht im besonderen Maße auf den außen-geleiteten Charakter. Vgl. ebd., S. 118f., 172f., 206 u. 211. 99 Dies ist natürlich genau eine zu Anders’ Ausführungen konträre Konzeption von Massenmedien. Bei Anders führen Hörfunk und Fernsehen ja zu einer geringeren Zugänglichkeit zur Welt. 236
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Massenkommunikationsmittel ständig wechselnden und unbekannten Eindrücken gerecht zu werden, weil seine Charakterstruktur eine adäquate, das heißt flexible Reaktionsweise eröffnet.100 Die Beobachtung von Medien entwickelt jedoch gerade abseits der Funktionsbeschreibung von Massenkommunikationsmitteln eine hohe Relevanz. Riesmans Gesellschaftsanalyse fokussiert nicht nur den Zusammenhang von Massenmedien und Massengesellschaft, sondern auch die medientechnische Struktur des Massenmenschen. Der außen-geleitete Charakter funktioniert selbst gleich einer Medienapparatur, genauer gesagt: Der Einzelne der Masse ist ein informationsverarbeitendes System, das ›Signale empfängt‹ und das darüber strukturell mit seiner Umwelt gekoppelt ist. Es findet ein ununterbrochener »Signalwechsel«101 in der Umwelt statt, deren »Schwingungen«102 beziehungsweise »Handlungsimpulse«103 mit Hilfe der »empfindlichen Radarausrüstung«104, die der Außen-Geleitete entwickelt hat, empfangen werden. Auf diese Weise wird ›Information‹ im System Mensch gewonnen. Im Falle einer Überlastung des Systems durch zu viel Input stellt es seinen Empfang ein, wie ein Radio, das man ›abschaltet‹.105 Funktioniert dieser Abschaltmechanismus nicht – wenn »es nicht gelingt, [die] Radaranlage auch nur für einen Augenblick abzuschalten«106 –, kommt es zur ›Überspannung‹, was einen Abfall der ›Energie‹ zur Folge hat.107 Das System überprüft durch Feedback autonom, »ob seine Radarausrüstung auch noch richtig funktioniert.«108 So entwirft Riesman den Menschen selbst als eine Medien- beziehungsweise Empfangsapparatur, die gleich den Empfangsgeräten wie Hörfunk und Fernsehen arbeitet. Er überträgt deren technische Funktionsweise auf die Charakterstruktur des außen-geleiteten Typus. Zur Entwicklung dieses Konzepts bezieht sich Riesman explizit auf ein informationstheoretisches Wissen. Er fokussiert eine »industrielle Revolution«, die »technische Errungenschaften nicht mehr auf dem Gebiet maschineller Bearbeitungsvorgänge [...], sondern auf dem der Kommunikation und Verwaltung [aufweist]. Das Telephon, automatische Steuerungsanlagen, die Hollerithmaschine, die 100 Vgl. D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 64f. u. 185-217. Vgl. auch Helmut Schelsky: »Einführung«, in: David Riesman/Reuel Denney/Nathan Glazer: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Hamburg: Rowohlt 19615 (1950), S. 7-19, hier S. 11f. 101 D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 50. 102 Ebd., S. 197. 103 Ebd., S. 193. 104 Ebd., S. 67. Vgl. zum Terminus Radar auch ebd., S. 41, 49, 69 u. 311. 105 Vgl. ebd., S. 119. 106 Ebd., S. 256. 107 Vgl. ebd., S. 256f. Vgl. auch ebd., S. 280. 108 Ebd., S. 87. 237
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elektronische Kalkulationsmaschine und neue statistische Methoden für Qualitätsuntersuchungen hielten ihren Einzug: in Hawthorn [Ort der Telefonfabrik Western Electric] wurde die ›Seele des modernen Arbeiters wiederentdeckt‹.«109
Die Seele des modernen Arbeiters wird in den Telefonfabriken entdeckt, in denen die Informationstheorie zu den neuen Maschinen entwickelt wird. Und so gleicht dieser Arbeiter auch deren Apparaturen, die aus einer Quelle Signale empfangen und als Information verarbeiten.110 Die Massenmedien erhalten dabei den Status eines Transmitters, der auf der Basis der Umwelt Signale gewinnt, um sie an den Empfänger weiterzuleiten: »Die Verbindung mit der Außenwelt [...] wird in zunehmendem Maße durch das Medium der Massenkommunikationsmittel hergestellt. Die politischen Ereignisse werden für die außen-geleiteten Typen durch ein Nachrichtenprisma gebrochen, was zur Folge hat, daß von den Ereignissen gewöhnlich nur noch einzelne Strahlen aufgenommen [...] werden.«111
Riesman legt so ein komplettes Kommunikationssystem aus Transmitter, Signalgeber und Receiver vor, wie es die Informationstheorie entwickelt.112 Der außen-geleitete Charakter fügt sich in das System ein und bildet das Element des Receivers, der Signale empfängt, die vom Transmitter als solche 109 Ebd., S. 139. 110 Dies verweist auf eine Theorie der Arbeit, wie sie Rabinbach in seinem Werk Motor Mensch rekonstruiert. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde der Mensch im Rahmen der Arbeitswissenschaft als energetische Maschine entworfen. Vgl. Anton Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderen, Wien: Turia+Kant 2001 (1990), S. 65-67. An dieses Modell schließt Riesman an. Allerdings geht er von der Entwicklung neuartiger Maschinen aus, die anstatt auf Energie und Kraft auf Information basieren. Rabinbach macht darüber hinaus darauf aufmerksam, wie diese Arbeitswissenschaft immer schon die Gesellschaftstheorie informiert. Befunde der Arbeitswissenschaft werden als gesellschaftstheoretische Konzepte genutzt. Vgl. ebd., S. 85-100. Dies lässt sich im Besonderen anhand Ortega y Gassets Massenkonzeption nachverfolgen: Die ›Trägheit‹ der Masse führt gemäß Ortega y Gasset dazu, dass der ›Maschine‹ Staat die ›Energie‹ entzogen wird. Vgl. J. Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, S. 88f. Vgl. auch Torsten Hahn: »Energiegeladene Eliten. Masse und Entropie als sozialer Mythos der Moderen«, in: Annette Simonis/Linda Simonis (Hg.), Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004, S. 183-202, hier S. 184 u. 192. 111 D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 37. Vgl. zur Informationstheorie auch ebd., S. 99. 112 Vgl. Warren Weaver: »Recent Contributions to the Mathematical Theory of Communication«, in: ders./Claude Shannon: The Mathematical Theory of Communication, Urbana, Chicago: University of Illinois Press 1998 (1949), S. 1-28, hier S. 7. 238
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aus den Umweltdaten gewonnen werden. Der Empfänger ist Bestandteil eines ›Regelgetriebes‹113, dessen Effektivität von der Funktionstüchtigkeit der einzelnen Subsysteme abhängt. Der Betrieb wird unter anderem durch die Herausbildung funktionstüchtiger Empfänger aufrecht erhalten und bricht zusammen, wenn diese ausfallen. Die außen-geleitete Charakterstruktur ist somit Bestandteil einer technologischen Revolution, die nicht nur neue Apparaturen produziert, sondern auch entsprechende Menschen hervorbringt. Diese funktionieren gleich den Maschinen anders als die der vorhergehenden Phase.114 Die technologische Revolution wird so auch zu einer Revolution der Persönlichkeitsstruktur. Der außen-geleitete Mensch wird in eine Reihe mit dem Telefon und der Hollerithmaschine gestellt. Ihre Entwicklung vollzieht sich zeitgleich und gemeinsam und alle funktionieren »automatisch«.115 Der Mensch als Automat ist dabei im eigentlichen Sinne des Wortes zu verstehen – eine Maschine, die ihr Programm ausführt, indem sie Informationen aufnimmt und verarbeitet – und bildet keine Metapher einer psychologischen Beschreibung der Hypnose.116 Riesman ersetzt die Modelle der Psychologie durch die Informationstheorie. Ist dieser Wechsel einmal vollzogen, kann die Informationstheorie rückwirkend zur Erklärung vorhergehender Charaktertypen herangezogen werden. Dabei wird deutlich, dass Riesman keineswegs der Vorstellung einer unidirektionalen ›Übertragung‹ der Information anhängt. Im Hinblick auf den innen-geleiteten Typus zeigt sich noch einmal die nachrichtentechnische Informiertheit von Riesmans Text. Hier ist es das Rauschen, das für den Empfänger die Information darstellen kann – also eine Nachricht, die vom Sender keineswegs intendiert ist. Die Selektionsleistung liegt beim Empfänger: »Wir können doch wohl annehmen, daß der Wandel [von der Traditions-Lenkung] zur Innen-Lenkung zuerst in jenen Kreisen auftrat, die durch literarische Bildung oder auf anderem Wege Zugang zu vielen und mehrdeutigen Steuerungsquellen erhielten. Wie sich nach der Theorie der Kommunikation das zur Nachrichtenübermittlung erforderliche Geräusch mit der Nachricht selber vermischt und so die Reinheit der Sendung nachteilig beeinflußt, so ist es unvermeidlich, daß sich auch
113 Vgl. D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 254. 114 Der innen-geleitete Mensch soll eine Entsprechung der Maschinen der Industrialisierungsperiode darstellen. Er enthält einen »Kreiselkompaß«, der die innere »Drehzahl« festlegt, nach der ›gearbeitet‹ wird. D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 59. 115 D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 85. 116 Vgl. das Kapitel Pathologien. 239
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bei den an die Jugend gerichteten Sendungen Verzerrungen und Geräusche einschleichen [...].«117
Wie Riesman anhand der Herausbildung der innen-geleiteten Charakterstruktur verdeutlicht, wird auch das Rauschen zur Information und beeinträchtigt jeden intentionalen Kommunikationsakt. Allein der Empfänger unterscheidet zwischen Rauschen und Information. Und so ist es auch dem außen-gesteuerten Menschen möglich, seinen ›Radarschirm‹ autonom auf die ihm gegebenen Signale auszurichten und um- beziehungsweise auch ›abzuschalten‹. Er ist zwar der Empfänger der ihn umgebenden Signale, für deren Empfang er perfekt eingerichtet ist, aber die Unterscheidung Information/Rauschen liegt auf seiner Seite. Wohl ist er auf Empfang gestellt, aber, so Riesman, nichts »beweist jedoch, daß die Kommunikationsmittel jemals ihr Ziel treffsicher und so, wie es ihre ursprüngliche Absicht war, erreicht haben.«118 Stattdessen muss man »störende Nebengeräusche«119 annehmen. Mit anderen Worten: Nur weil der Außen-Geleitete eine Art Radar besitzt, ist damit weder gesagt, was er empfängt, noch ob er überhaupt empfängt. Die Option zum ›Abschalten‹ steht ihm jederzeit offen. Damit formuliert Riesman eine Möglichkeit für den außen-gelenkten Typus, die dem Fernsehzuschauer, laut den deutschen Debatten der Zeit, nicht zur Verfügung steht. Der Rezipient sei nicht fähig zum Ausschalten seines Empfangsgerätes, beziehungsweise erliege immer wieder der Versuchung des Einschaltens, so der Grundton dieser Kommunikation über Mediennutzung. »Fernsehen«, so Dietrich Martins, »ist eine Versuchung. Man kann versuchen, ihm auszuweichen, wird aber immer wieder den Apparat andrehen, um zu sehen, was einem das drahtlose Heimkino jetzt bringt.«120 Äußerungen wie diese sehen den Dauerempfang als sichergestellt an. Die Option ›Abschalten‹ fällt für den (hypnotisierten) Zuschauer aus. Die Versuchung scheint zu groß, als dass ihr der Einzelne widerstehen könnte: Er bleibt auf Empfang, gleichgültig was gesendet wird. Doch auch wenn Riesman aus der Empfangsbereitschaft keine Empfangsgarantie ableitet, radikalisiert er das Moment des Empfangs und den Aspekt des Abschaltens dahingehend, dass damit keine Handhabung einer Technologie beschrieben wird, sondern der Mensch selbst. Es geht nicht um einen Umgang mit den Massenkommunikationsmitteln, sondern um die Möglichkeiten des Einzelnen in der gegenwärtigen Gesellschaft zu bestehen. Er setzt den Fernseher als Gerät mit dem Fernseher im Sinne des Zuschauers
117 118 119 120
D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 99. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103. D. Martins: Ein deutscher Fernsehbrief aus Amerika, S. 668. 240
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gleich:121 Der Mensch selbst besitzt den Knopf zum Abschalten und – was noch viel wichtiger ist – er verwendet ihn auch. Riesmans ›Radar-Typus‹ unterscheidet sich also von der empfänglichen Masse, die die Massenpsychologie entwirft. Es handelt sich nicht um deren ›triviale Maschinen‹, die auf jeden Reiz reagieren und aus jedem Input einen berechenbaren und vorhersagbaren Output generieren. Riesmans informationstheoretische Finesse lässt sich demnach nicht als eine Wiederauflage des massenpsychologischen Wissens, das seit der Jahrhundertwende die deutsche Semantik der Masse bestimmt, verstehen. Dessen ungeachtet scheint Riesmans Analyse daran anschließbar, insofern er ähnliche Themenfelder behandelt. Ihm geht es ebenfalls um die Erläuterung der Empfänglichkeit der Masse. Doch er behandelt das Thema im Rahmen neuer Koordinaten. Indem er eine vollkommen andere Beschreibungsgrundlage wählt – Informationstheorie statt Psychologie –, weichen seine Ergebnisse ab. Das Wissen der Massenpsychologie über Menschen, Massen und Medien erscheint im Abgleich mit dieser informationstheoretischen Reformulierung der Massentheorie ungesichert und defizitär.
4 ›Massenkommunikation‹ Auf der Folie von Riesmans informationstheoretisch geprägtem Konzept des Radar-Typus lassen sich die Befunde der Massenpsychologie neu einlesen. Die Gegenüberstellung der Psychologie der Masse und der ›Informationstheorie der Masse‹ lässt zwei unterschiedliche Modelle des Massenmenschen erscheinen, obgleich es scheinbar auch Übereinstimmungen gibt, insofern beide Modelle die Masse über das Merkmal der Empfangsbereitschaft bestimmen. Der Radar-Typus gibt jedoch nicht nur dem Menschen der Masse eine spezifische Form, sondern verweist auch auf ein Kommunikationsmodell, in das er eingebunden ist. Es geht um seine Fähigkeit, Signale zu empfangen und daraus Information für sein Verhalten zu gewinnen. Genau diese Fähigkeit mache sein Spezifikum aus und passe ihn der Gesellschaft an, die aus einem Rauschen der unzähligen Signale bestehe. Die Gesellschaft umgebe den Massenmenschen mit diesem Rauschen, aus dem der Außen-Geleitete seine Information produziere, um daran anschließend sein Verhalten auszusteuern. Dieses Kommunikationsmodell behauptet keine Unidirektionalität: Es gibt keine Botschaft, die vom Sender zum Empfänger geht, sondern nur 121 Während in Deutschland dem Zuschauer volkspädagogisch erst einmal klar gemacht wird, dass er gerade kein Fernseher ist: »Sind Sie ein ›Fernseher‹? Eigentlich nicht, denn Sie sehen ja nur nah.« K. Tetzner/G. Eckert: Fernsehen ohne Geheimnisse, S. 27. 241
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den Empfänger inmitten der Signale, die von überall her gegeben werden. Dabei gehören nicht nur die Massenmedien, sondern auch die Masse selber zu den Signalgebern. Der Außen-Geleitete richtet seinen Radar auf andere Außen-Geleitete und wird wiederum selbst zum Sender von Signalen. ›Massenkommunikation‹, wie Riesman sie entwirft, meint damit nicht nur eine Kommunikation Richtung Masse, sondern auch die Kommunikation in der Masse.122 Indem Riesman dieses Konzept von Massenkommunikation liefert, wird eine Lücke in der massenpsychologischen Theoriebildung offenkundig. Gerade in Anbetracht der Dauerverwertung des massenpsychologischen Wissens zur Beschreibung von massenmedialer Kommunikation stellt dieses Fehlen ein irritierendes Faktum dar. Mit der Massenpsychologie ist die Beobachtung der Massenmedien in einen Kontext eingebettet, der selbst nur über ein rudimentäres Schema von ›Massenkommunikation‹ verfügt. Die Medienbeschreibungen, die mit Hilfe massentheoretischer Konzepte operieren, beziehen sich auf ein Wissen, dem ein ausgearbeitetes Konzept von Kommunikation fehlt. Genauer gesagt: Der Massentheorie fehlt nicht einfach ein Kommunikationskonzept, sie entwirft die Masse sogar gleichsam als kommunikationslos. Eine Vorstellung von ›Massenkommunikation‹ wird negiert. Diese Negation wird im Abgleich mit Riesmans Modell auffällig, da dieses hinter dem Prozess des Empfangs immer die Informationsgewinnung sieht. Der kommunikative Akt vollzieht sich zwar auf der Basis von Signalen, er erschöpft sich aber nicht darin. Die Theorie der einsamen Masse dehnt ihre Diskussion auch auf die Frage aus, wie der Außen-Geleitete aus diesen Signalen sein Verhalten generiert – statt einfach nur reflexartig zu reagieren. Exemplarisch zeigt sich dies anhand der Inhaltsanalyse von Comics und Märchen. Im Zuge dieser Analyse fragt Riesman, wie diese Geschichten in ein Unterscheidungsvermögen zu transformieren seien und wie sie zur Entstehung eines persönlichen Selbstbildes des einzelnen Außen-Gelenkten beitragen.123 Das Signal wird gleichsam umgewandelt beziehungsweise dechiffriert und in das eigene Programm übersetzt. Es findet ein Signifikati122 Das im Kapitel Das Fernsehen als Simulator von Anwesenheit beschriebene Modell der Resonanz könnte als eine ähnliche Konzeption erscheinen, aber dabei dienen die anderen Massenpartikel als Resonanzboden oder Verstärker für ein von außen gegebenes Signal. Das ist bei Riesman nicht der Fall: Der Einzelne tritt selber als Signalgeber auf. Ebenso könnte zunächst Le Bons Modell der masseninternen »Ausströmungen« (G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 18) oder ›Ansteckung‹ (»contagion mentale«, in der deutschen Übersetzung durch »Übertragung« wiedergegeben [ebd., S. 17.]) als äquivalent dazu scheinen. Bei dieser wechselseitigen Beeinflussung handelt es sich aber, so wird im Folgenden gezeigt, gerade nicht um Kommunikation. Die Massenpsychologie bezieht sich auf Wahrnehmung. 123 Vgl. D. Riesman et al: Die einsame Masse, S. 102f. 242
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onsprozess statt, in dem das Signal eine Bedeutung erhält und so semantisch aufgeladen wird. Daraus können Unterscheidungen und ganze Weltbilder generiert werden. Genau diese umfassende Skizze der massenkommunikativen Prozesse, wie sie der Text von 1950 entwirft, liefert eine Folie, auf der rückwirkend die Beobachtungen der Massentheorie beziehungsweise -psychologie seit der Jahrhundertwende erschlossen werden können. Sie bietet eine Basis zur Betrachtung der massenpsychologischen Konzepte von ›Massenkommunikation‹. Indem Riesman die Frage behandelt, wie der kommunikative Prozess in der Masse vonstatten geht, lässt sich diese Frage auch retrospektiv an die Massenpsychologie stellen. Welches Kommunikationsmodell bietet die europäische Massentheorie, das dann auch maßgeblich für die Beschreibung von Massenmedien wird? Von welchen Konzepten geht die Medienbeschreibung der 1950/60er Jahre aus, wenn sie Namen wie Le Bon heranzieht? Die Antwort lässt sich mit Adorno und Horkheimer so zusammenfassen: »Die Signifikation [...] vollendet sich im Signal.«124 Adorno und Horkheimer geht es hier zunächst nicht um eine Beobachtung der Massenpsychologie, sondern viel eher um die Beschreibung der Kommunikation, die die Masse adressiert. Sie untersuchen den Signifikationsprozess und sein Ausbleiben, wie er sich in der ›Kulturindustrie‹ vollzieht. Aber im Zuge dessen wiederholen sie präzise, was die Massenpsychologie schon immer unter ›Massenkommunikation‹ versteht: Einen unidirektionalen Verkehr von Zeichen, die auf ihren »Signalcharakter«125 reduziert sind und jenseits aller Semantik bestehen. In der Sprache der Reklame, so Adorno/Horkheimer, »wird das Wort, das nur noch bezeichnen und nichts mehr bedeuten darf, so auf die Sache fixiert, daß es zur Formel erstarrt.«126 Die Autoren bringen hier im Rahmen einer komplexen Sprachanalyse das massenpsychologische Wissen auf den Punkt: Die Masse kennt nur ›qualitätslose Zeichen‹ anstatt ›Bedeutungsträger‹.127 Die Präzision von Adornos und Horkheimers Beschreibung der ›Massenkommunikation‹ ist dem Umstand geschuldet, dass sie auf der Basis einer Oppositionsbildung von Kultur und Kulturindustrie angefertigt wird. Während die Kulturindustrie, die sich an die Masse richtet, die gerade be124 T.W. Adorno/M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 189. Dabei ist natürlich bemerkenswert, dass hier genau Riesmans Vokabular des Signals verwendet wird. Bei Riesman ist die ›Kommunikation‹ oder ›Übertragung‹ aber nicht mit dem Signal abgeschlossen und insofern verweist der Begriff Signal bei Riesman auf einen anderen Zusammenhang als bei Adorno und Horkheimer. 125 T.W. Adorno/M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 189. 126 Ebd., S. 188. 127 Vgl. ebd., S. 187. 243
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schriebene semantische Leere hervorbringt, ist die Kultur durch einen Zusammenhang aus »Wort und Gehalt«128 bestimmt. In der Kultur realisiert sich im Begriff eine Bedeutung, die über die Präsenz des Signifikanten hinausgeht. Das Positivkonzept der Kultur gibt der Kulturindustrie erst ihre Kontur.129 Darüber wird das Fehlen des Signifikationsprozesses in der Kulturindustrie beobachtbar. Damit handelt es sich bei den Erzeugnissen der Kulturindustrie nicht um eine gelungene kulturelle Kommunikation, sondern nur um ein Signalfeuer. Adorno und Horkheimer konstatieren so einen Verfall der Kommunikation im Zuge der Kulturindustrie. Kulturelle Kommunikation setzt gleichsam aus. Ein solches Aussetzen formuliert die Massenpsychologie nicht, insofern sie der Masse gar nicht die Möglichkeit einer solchen Form der Kommunikation zugesteht. Es wird eine Masse entworfen, die jenseits einer so verstandenen Kommunikation operiert. Dem gemäß scheint es so, als verfüge die Masse über keine Kommunikation. Kommunikationslosigkeit meint dabei aber nicht, dass sich die Masse gegen ihre Umwelt verschließt – dies widerspräche der ihr unterstellten Empfangsbereitschaft. Es meint vielmehr, dass der Umweltkontakt auf ein biologistisches Reiz-Reaktionsschema reduziert wird. Statt um den Austausch bedeutungstragender Zeichen geht es um Körperaktivitäten, denn das »Muskelgewebe« gibt das Vorbild für die Beschreibung dessen ab, was in der Massentheorie als Kommunikationsprozess zu identifizieren ist: »[A]uf den Reiz seitens eines äusseren Vorgangs reagiert es [das Gewebe] entsprechend der Beschaffenheit und Stärke des Reizes. [...] [Es verkürzt] sich in den einzelnen Muskeln nur dann [...], wenn ein äußerer Reiz seine Kontraktilität weckt. Ganz so verhält sich die Psyche in ihren Organen; sie hat nichts Spontanes, Autonomes; sie tritt auf Grund empfangener Reize in Thätigkeit und tritt entsprechend der Natur dieser Reize nach aussen hervor.«130 128 Ebd., S. 187. 129 Vgl. Douglas Kellner: »Kulturindustrie und Massenkommunikation. Die Kritische Theorie und ihre Folgen«, in: Wolfgang Bonß/Axel Honneth (Hg.), Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, S. 482-515, hier S. 483-487. 130 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 58. Entsprechend heißt es bei Le Bon: Die Handlungen der Masse »stehen viel öfter unter dem Einfluß des Rückenmarks als unter dem des Gehirns. Die vollzogenen Handlungen können ihrer Ausführung nach vollkommen sein, da sie aber nicht vom Gehirn ausgehen, so handelt der einzelne nach zufälligen Reizen. Die Masse ist der Spielball aller äußeren Reize, deren unaufhörlichen Wechsel sie widerspiegelt. Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen. Der alleinstehende einzelne kann ja denselben Reizen unterliegen wie die Masse, da ihm aber sein Gehirn die unangenehmen Folgen des Nachgebens zeigt, so gehorcht er ihnen nicht. Physiologisch läßt es sich so erklären, daß der alleinstehende 244
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Die Stimulierung von Muskelkontraktionen durch simple Reizgebung ist das Modell, an dem sich orientiert wird, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wie sich etwas der Masse mitteilt. Beobachtungen an organischem Material sollen für das Verständnis des Kontaktes der Masse mit ihrer Umwelt ausreichen. Die Masse wird so zu einem Körper, der auf eine Reizgebung ›reagiert‹. Wie bei einem Muskel setzt sich ein gegebener Reiz in eine Reaktion um. Riesmans Vorstellung eines Dechiffrierens oder die von Adorno/Horkheimer angesprochene Problematik der Signifikation sind in diesem Modell überflüssig. Kommunikation verstanden als Reiz-Reaktionszusammenhang basiert per se nicht auf bedeutungstragenden Zeichen mit einer Leistung jenseits des bloßen Auslösens von Reaktionen. Während Adorno und Horkheimer auf der Basis ihres Kulturmodells die Feststellung machen, dass die Sprache durch die Kulturindustrie zu leeren Signifikanten verkommt, kennt die Masse nach Sighele keine bedeutungstragenden Einheiten. Die Masse ›kommuniziere‹ – so legt es die Beschreibung anhand des Muskelgewebes nahe – nur auf der Grundlage basaler Reize, mögen sie sich auch in Lautketten manifestieren: »[E]in Signal, ein Ruf, ein Schrei«131 löst das Handeln der Masse aus: Inhaltslose Signale werden in eine Reaktion umgesetzt. Steht also die Frage der Massenkommunikation an, bietet die Massenpsychologie ein biologisches Modell, in dem es Reize statt Signifikanten und Reaktionen statt Adressaten im Sinne Riesmans gibt. Eine Konzeption von Kultur, die sich nach Adorno und Horkheimer in dem Zusammenhang von ›Wort und Gehalt‹ realisiert, hat in diesem Modell keinen Platz. »Das Wort ist« dann auch, wie Le Bon dies formuliert, »nur der Klingelknopf [...].«132 Für die Masse habe es nicht mehr als ›Signalcharakter‹ und verliere die Ebene der Bedeutung. Anstatt Bedeutung gebe es nur lebendig vor Augen tretende Bilder, so Le Bon, die die Masse dem Wort unterlege: »Die Macht der Worte ist mit den Bildern verbunden, die sie hervorrufen, und völlig unabhängig von ihrer wahren Bedeutung. Worte, deren Sinn schwer zu erklären ist, sind oft am wirkungsvollsten. So z.B. die Ausdrücke Demokratie, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit u.a., deren Sinn so unbestimmt ist, daß dicke Bände nicht ausreichten, ihn festzustellen. Und doch knüpft sich eine wahrhaft magische Macht an ihre kurzen Silben [...].«133 einzelne die Fähigkeit zur Beherrschung seiner Empfindungen hat, die Masse aber nicht dazu imstande ist.« G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 21f. 131 S. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 45. Vgl. auch ebd., S. 103. 132 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 84. Äquivalent formuliert dann Packard in den 1950er Jahren, dass die Werbefachleute auf der Suche »nach den ›Drückern‹« sind, also dem Knopf, auf den man drücken muss, um eine bestimmte Handlung auszulösen. V. Packard: Die geheimen Verführer, S. 35. 133 G. Le Bon: Psychologie der Massen, S. 83f. 245
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Die Masse stelle eine Verbindung zwischen Silben und Bildern her und nicht zwischen Worten und Bedeutungen. So erhielten auch gerade mehrdeutig bestimmte Begriffe, die allein die Manifestation abstrakter Ideen darstellen, einen bildhaften Charakter. Sie würden in die Eindeutigkeit eines Bildes überführt und dieses Bild, so stellt Le Bon weiter fest, werde von der Masse auch noch mit der Sache selbst verwechselt: »Die Bilder, die in ihrem Geist [...] hervorgerufen werden, sind fast so lebendig wie die wirklichen Dinge.«134 So komme die Masse von dem Wort zur Sache. Die Reizgebung in Form von Lauten führe zum Erblicken von Dingen. ›Massenkommunikation‹ heißt dann nur noch Schauen. Die Ansprache an die Masse wird von dieser als eine Sinneswahrnehmung aufgenommen. So entwickelt die Massenpsychologie implizit ein Kommunikationsmodell ohne Kommunikation. Dies ist eine radikale Variante von Adornos und Horkheimers Beschreibung der Kulturindustrie, denn auch in dieser bedeutet das Wort nichts mehr, sondern wird ›auf die Sache fixiert‹. Dabei gehen diese aber davon aus, dass die Kopplung von Wort und Sache von der Kulturindustrie geprägt sei und von der Masse adaptiert würde. Die massenpsychologische Variante sieht das Problem dagegen in der Masse selbst gegeben: Die Masse sehe – ohne das Hinzutreten der Kulturindustrie – im Wort die Sache gegeben. Gerade aufgrund dieses Massenkonzeptes umgehen Adorno und Horkheimer den Begriff der Masse, indem sie verstärkt auf das Konzept der Kulturindustrie abheben.135 »Weder«, so betont Adorno in Résumé über Kulturindustrie, »geht es um die Massen an erster Stelle, noch um die Techniken der Kommunikation als solche, sondern um den Geist, der ihr eingeblasen wird, die Stimme ihres Herrn. Kulturindustrie mißbraucht die Rücksicht auf die Masse dazu, ihre als gegeben und unabänderlich vorausgesetzte Mentalität zu verdoppeln, zu befestigen, zu verstärken. Durchweg ist ausgeschlossen, wodurch diese Mentalität verändert werden könnte.«136
Wenn Adorno und Horkheimer die Kulturindustrie beschreiben, referieren sie also auf ein massentheoretisches Wissen. Die Eigenschaften der Masse werden dabei zu einem Bestandteil der kulturindustriellen Produktion, an134 Ebd., S. 51. Hier zeigt sich also in Entsprechung zum Kapitel Exklusion von Kommunikation, wie der Ausschluss der Masse vollzogen wird, indem sie als kommunikationslos beschrieben wird. 135 Nach Kellner vermeiden Adorno und Horkheimer den Begriff der Masse beziehungsweise Massenkultur, um der Überlegung entgegen zu treten, es handele sich bei der Kulturindustrie um eine ›Kultur‹, die von der Masse gebildet wird und von ihr ausgeht. Vgl. D. Kellner: Kulturindustrie und Massenkommunikation, S. 483. 136 T. Adorno: Résumé der Kulturindustrie, S. 338. 246
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statt ein unveränderliches Merkmal der Masse darzustellen. Während Le Bon die Verwechslung von Wort und Sache der Masse zurechnet, gehört sie bei Adorno und Horkheimer zur Produktionsweise der Kulturindustrie. Die Besonderheit der Kulturindustrie liege darin, dass sie die Produkte liefere, die gemäß der Massentheorie der Masse gerecht würden. Adorno/Horkheimer zufolge gehört die Massenpsychologie demnach zum Wissensrepertoire der Kulturindustrie.137 Diese legitimiert ihre Produktionsweise durch ein von der Massenpsychologie bereit gestelltes Konzept der ›Mentalität‹ der Masse. Le Bons Beschreibungen der Verwechslung von Wort und Sache werden zum Bestandteil des kulturindustriellen Verfahrens. Auf der Grundlage dieser Argumentation legen sie die oben genannte präzise Darstellung der Massenkommunikation, wie sie die Massenpsychologie konzipiert, vor. Deshalb benennen sie so genau das massenpsychologische Konzept der Kommunikation, das eben gar nicht von Kommunikation ausgeht. Die Masse, so lässt sich mit Le Bon sagen, unterhält Kontakt in Form der Wahrnehmung, weil die Worte ein lebendiges Bild der Dinge vor ihren Augen hervorrufen. Genau diese Beschreibung prädestiniert die Masse dann dazu, zum Fernsehzuschauer umformuliert zu werden. Die Vorstellung, dass sich der Masse nie Bedeutung, sondern immer nur die Sache selber mitteile, korrespondiert mit der spezifischen Kommunikationsweise des Fernsehens, wie sie Elena Esposito herausarbeitet. Nach Esposito liegt die Besonderheit der Fernsehkommunikation darin, dass sie ihren eigenen kommunikativen Charakter verdeckt. Das Fernsehen ist Kommunikation, mit dem Erscheinungsbild einer Wahrnehmung. Es scheint, als würde es die Sache zeigen, obgleich man das Gezeigte »im Unterschied zur Realität auf die Mitteilung von jemanden beziehen«138 muss. Fernsehen ist also nach Esposito Kommunikation, die sich jedoch dadurch auszeichnet, dass sie als solche nicht auftritt, denn »Fernsehen (und Kino) ermöglichen die Kommunikation von bewegten Bildern mit synchronisiertem Audio. Die Kommunikation zeigt sich dem Zuschauer mit derselben Evidenz und in denselben Wahrnehmungsformen der nichtkommunikativen Realität.«139 Fernsehen erscheint also als Kommunikationsform, die sich als Wahrnehmung gibt – genauer gesagt, die dem Zuschauer nahelegt, zeitweise den Kommunikationsaspekt zu vergessen. »Auch wenn man weiß, daß es sich um Kommunikation handelt, verlangt die Funktion der Massenmedien, daß man das – wenigstens normalerweise – nicht laufend mitberücksichtigt.«140 Durch den audiovisuellen Cha137 Vgl. dazu auch das Kapitel Steuerung im Zeitalter der Massen. 138 Elena Esposito: »Macht der Persuasion oder Kritik der Macht«, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1999, S. 83-107, hier S. 97. 139 Ebd. 140 Elena Espositio: »Interaktion, Interaktivität und die Personalisierung der Massenmedien«, in: Soziale Systeme 2 (1995), S. 225-259, hier S. 236. 247
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rakter des Fernsehens ergeht also gleichsam die Aufforderung an den Zuschauer, den Akt des Fernsehens als Wahrnehmung zu begreifen. Diese Aufforderung der Massenmedien wird wohl in den Fernsehbeschreibungen der 1950/60er Jahre allzu ernst genommen, denn sie entwerfen ein Fernsehen, das sich nicht als Kommunikation, sondern eben als ›Fernsehen‹ realisiert. »Die Metaphern und Vergleiche der fünfziger Jahre unterstellen allesamt eine Nähe der technisierten, medial vermittelten zur ›natürlichen‹, alltagsweltlichen Realitätswahrnehmung und -konstitution; sie gehen so weit, ›fernsehen‹ suggestiv gleichzusetzen mit aktiver Sehleistung [...].«141
In den 1950er Jahren und auch darüber hinaus wird eine Konzeption des Fernsehens verfolgt, die es mit dem ›natürlichen‹ Schauen vergleichbar macht. Der Referenzpunkt der Beschreibungen liegt – das zeigt sich auch im Wort Fernsehen – im Sehen. Damit erscheint das Fernsehen als ein Organisator von Wahrnehmung und nicht von Kommunikation. Das Moment der Kommunikation wird in den Beschreibungen des Fernsehens übergangen. Es wird auf einen (technisierten) Wahrnehmungsakt reduziert. Auf der Grundlage dieser Beschreibung wird das Fernsehen das Medium der Massen par excellence, weil es deren angenommener Kommunikationsform entspricht. Die Fernsehanalyse formuliert für das Fernsehen, was die Massentheorie für die Masse feststellt: Kommunikation realisiert sich nur als Wahrnehmung. Indem das Fernsehen sich aufgrund seines audiovisuellen Charakters auf Anhieb als Form des Sehens erschließt, ist es die Realisierung von ›Massenkommunikation‹, wie die Massenpsychologie sie entwirft. Die Massendisposition – Schauen statt Sprache – hat ihr technisches Äquivalent gefunden. Die Fernsehbeschreibung korrespondiert mit der der Masse unterstellten Kommunikationsform. Die Idee des ›Fern-sehens‹ macht dabei die Erläuterung überflüssig, wie sich in der Masse die Bedeutung vom Wort trennt und das Wort in eine Realitätswahrnehmung übersetzt wird, denn nun scheint man es mit dem Sehen direkt zu tun zu haben. Damit ist das Fernsehen kein Massenmedium neben anderen. Es ist viel mehr das ausgezeichnete Medium der Masse, weil es scheinbar wie keine andere Medientechnik mit der angenommenen Kommunikationsform der Masse in Einklang steht.
141 M. Elsner/T. Müller: Der angewachsene Fernseher, S. 398. 248
SCHLUSS Orientiert man sich für die Definition von Massenkommunikation nicht an einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive, sondern bezieht sich auf eine Variante des Mediendiskurses, der durch die Tradition der Massentheorie gespeist ist, dann bedeutet ›Massenkommunikation‹ – so lässt sich das letzte Kapitel zusammenfassen – gerade die Abwesenheit von kommunikativen Prozessen. Zu betonen ist aber, dass diese Definition keiner adäquaten Beschreibung von Verbreitungsmedien geschuldet ist, als vielmehr das Resultat einer Semantik der Masse, wie sie sich in die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen einschreibt. Fernsehanalyse und Masse-Semantik korrespondieren dabei in besonderer Weise, weil beide auf Wahrnehmung anstatt Kommunikation abheben. Die Kopplungswahrscheinlichkeit der Begriffe Masse und Medium – wie sie die Arbeit untersucht hat – steigt mit dem Fernsehen, weil dieses (zum Teil bis heute) weniger als Kommunikationsmittel als im Sinne eines Wahrnehmungsinstruments gefasst wird. Damit ist das Fernsehen kein Massenmedium neben anderen. Es ist viel mehr das ausgezeichnete Medium der Masse, weil es scheinbar wie keine andere Medientechnik mit der Annahme von der fehlenden Kommunikation der Masse in Einklang steht. Zu einem ausgezeichneten Medium der Masse wird es zudem aufgrund eines weiteren Aspekts, der im engen Zusammenhang mit der Wahrnehmungsproblematik steht – und zwar weil das Fernsehen über das Moment der unmittelbaren Präsenz beobachtet wird. Fernsehen, so kann man es den Beschreibungen der 1950/60er Jahre entnehmen, sei ein Medium, dass Realität eben nicht vermittelt oder konstruiert, sondern diese scheinbar unmittelbar zugänglich und damit direkt wahrnehmbar mache. Die technische Vermittlung wird beim Fernsehen ausgeblendet, so dass sich der Eindruck unmittelbarer Teilhabe einstellt. Diese Beschreibung des Fernsehens wird gerade relevant im Zusammenhang des Befundes, der für die vorliegende Untersuchung leitend war: Der Masse-Begriff changiert zwischen der Beschreibung einer akuten und einer dispersen Masse. Er dient zwar seit dem Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, bleibt dabei aber zumeist an der lokal versammelten Masse orientiert. Sie steuert den Massendiskurs implizit aus. Das Fernsehen hilft dieses Changieren diskursiv auszublenden, beziehungsweise es schreibt sich in dieses Changieren ein, denn durch das Fernsehens persistieren all jene Charak249
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terisierungen des Masseneinzelnen, deren Ursache in der Präsenz einer Menschenmenge gesehen werden. Solche Eigenschaften, die auf andere Anwesende zurückzuführen sind, erhalten mit dem Fernsehen als Simulator von Anwesenheit eine neue argumentative Grundlage. Damit sind sie auch als gesamtgesellschaftliche Beobachtung verfügbar und bilden in den 1950/60er Jahren einen Bestandteil der Fernsehanalyse. Sie werden mit dem Fernsehen in einem neuen Feld situiert, das sie mit neuer Plausibilität versieht. Durch solche Anschlusspotentiale werden die Beschreibungen der Masse zunehmend zu denen des Fernsehens. Ziel der Arbeit war es genau den Transformationsprozess von der Massen- zur Medienanalyse nachzuvollziehen. Es ging also darum, solche Charakterisierungen der Masse herauszuarbeiten, die in die Fernsehbeschreibung eingegangen sind beziehungsweise als Fernsehbeschreibung fortbestehen und so dem Wort Massenmedium Kontur verleihen. Zur Analyse solcher Bedeutungsgehalte des Begriffs Masse wurde vor allem auf Texte und Bezugsgrößen eingegangen, die sich auch in der Diskussion der 1950/60er Jahre finden. Damit stand der bis heute immer wieder neu aufgelegte Text Psychologie der Massen von Le Bon im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In Anlehnung an Reiwald wurde jedoch die These vertreten, dass sich Le Bons Überlegungen zur Masse bei Sighele vorformuliert finden. Dabei sind Sigheles Ausführungen genauer als die Le Bons, so dass sich viele Argumentationsgänge eher in Sigheles Psychologie des Auflaufs erschließen. Zwei Aspekte waren bei der Betrachtung von Sigheles Argumentation von entscheidender Bedeutung. Erstens: Obgleich sich Sigheles und Le Bons Charakterisierungen der Masse, die nur wenige Jahre hintereinander erscheinen, ähneln, dienen sie der Erfassung eines unterschiedlichen Objekts. Sighele betont nachdrücklich seine Bezugnahme auf die Massenansammlung, während Le Bon sein Ziel einer Gesellschaftsbeschreibung hervorhebt. Hier zeigen sich das eben benannte Changieren des Masse-Begriffs zwischen zwei Referenten und die Problematik, dass auch die gesellschaftliche Selbstbeschreibung anhand des Masse-Begriffs auf die Beobachtung der akuten Masse verwiesen ist. Das heißt allgemeiner formuliert: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird der Masse-Begriff für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung frei gegeben. Diente er bis dato maßgeblich zu Benennung lokaler Menschenansammlungen, wird der Begriff Masse zunehmend zur Bezeichnung der gesamten Gesellschaft und ihres (krisenhaften) Zustandes verwendet. Masse meint seit der Wende zum 20. Jahrhundert weniger einen konkreten Menschenauflauf, das heißt die akute und aufständische Menge, als vielmehr die gesellschaftliche Befindlichkeit insgesamt. Mit dieser Verschiebung des Objekts der Benennung ist jedoch kaum eine Änderung der Bedeutungsgehalte verbunden. Die Beobachtungen, die anhand von Massenansammlungen gewonnen wer-
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SCHLUSS
den, werden auf die Beschreibung der Gesellschaft übertragen. Die Beschreibungen der Masse – obgleich anlässlich der akuten Masse generiert – behalten in der Massentheorie auch nach der Umstellung des Begriffs auf eine Gesellschaftsbezeichnung ihre Gültigkeit. Die Masse als gesamtgesellschaftliches Phänomen wird also weitgehend identisch wie der Massenauflauf charakterisiert. Aufgrund dessen scheint der Begriff auch Widerstände gegen eine Auslegung im Sinne einer Gesellschaftsbeschreibung zu entwickeln, die sich darin ausdrücken, dass seit dem 19. Jahrhundert unablässig die Unterscheidung in Aktionsmasse und ubiquitäre Masse zum Thema gemacht wird. Zwar verabschiedet man sich mehr und mehr von der Idee einer räumlich präsenten Masse, jedoch nie ohne einen expliziten Hinweis darauf, dass die konkret anschauliche Masse für die eigene Beschreibung nicht relevant sei.1 Die massentheoretischen Texte des 20. Jahrhunderts beziehen sich zwar weitgehend auf die Masse als Massengesellschaft, führen jedoch die andere Massenform – und sei es nur zur Abgrenzung – mit.2 Es werden Unterscheidungen wie latente und aktuelle Masse eingeführt, um das eigene Objekt zu konturieren.3 Dadurch wird offensichtlich, dass der Begriff sich von der akuten Masse als Referenzobjekt nicht wirklich lösen kann, sondern immer daran rückgebunden bleibt. Indem die Massenform der lokalen Menschenan-
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Noch Sloterdijk, so hat die Einleitung gezeigt, referiert auf diese Gegenüberstellung, wenn er behauptet Canettis Aussagen hätten Patina angesetzt. Veraltet seien diese Vorstellungen von Versammlungsmassen, weil aus »der Auflaufmasse [...] eine programmbezogene Masse geworden« ist. P. Sloterdijk: Die Verachtung der Massen, S. 17. Die Masse ist heute die Masse der Massenmedien. In die Unterscheidung schreibt sich auch hier das Fernsehen ein. Ausnahmen bilden hier die zuletzt genannten Theoriebildungen von Adorno/ Horkheimer und Riesman. Hervorzuheben ist hierbei noch einmal die Position Geigers, die in der Arbeit exemplarisch für eine spezifische Perspektive der Soziologie erläutert wurde. Geiger widmet der Unterscheidung zwischen den beiden Massenformen ganz besondere Aufmerksamkeit. Dies ist aber seinem Projekt geschuldet, die Masseneigenschaften gerade nicht als Resulat einer versammelten Menschenmenge zu verhandeln. Dieses Projekt teilt er unter anderem mit Vleugels, der feststellt: »Das ›Einströmen fremder Zuständlichkeiten‹ in der Masse ist an die Wahrnehmung [...] [eines] physischen Ausdrucks gebunden«, an eine »unmittelbare Wechselwirkung von Mensch zu Mensch.« W. Vleugels: Der Begriff der Masse, S. 196. Vleugels stellt auf dieser Grundlage zur Debatte, inwiefern von einer Gleichgerichtetheit des Massenhandels ausgegangen werden kann, wenn die dazu notwendige Ursache – die Präsenz der Menge – nicht gegeben sei, Masse also Massengesellschaft meint. Er fragt dabei auch, ob die Presse für den unmittelbaren Kontakt ein ›Surrogat‹ bieten könne, und verneint dies. Stattdessen nennt er als Ursache den Glauben des Einzelnen, andere würden ebenso empfinden, wie man selbst. Vgl. W. Vleugels: Der Begriff der Masse, S. 198. 251
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sammlung mitgeführt wird, bleiben auch die damit verbundenen Beschreibungen präsent. Der Übertragungsprozess der Bedeutungsgehalte des Masse-Begriffs vom Massenauflauf auf die Massengesellschaft ist einem Beobachtungsproblem geschuldet, denn die Masse als gesamtgesellschaftliches Phänomen verstanden entzieht sich der Sichtbarkeit. Gemäß Peter Fuchs’ These, dass die Gesellschaft sich selbst unerreichbar ist, kann sie sich nur mittels Hilfskonstruktionen zum Erkenntnisobjekt werden. Daran anschließend ging die Arbeit von der Überlegung aus, dass der Begriff der Masse sowie die damit verbundenen Massenmerkmale und das Verbreitungsmedium Fernsehen gleichermaßen als eine solche Hilfskonstruktion dienen. Sie funktionieren als (imaginäre) Möglichkeit, die Gesellschaft als Ganzes zu erfassen. Wie dabei Fernsehanalyse und Masse-Begriff aufeinander bezogen sind, hat sich besonders deutlich anhand Anders’ Die Welt als Phantom und Matrize gezeigt. Masse und Medium bilden ein sich gegenseitig verstärkendes Gefüge, das einerseits die Massengesellschaft als Beobachtungsobjekt einrichtet und andererseits eine mit Autorität ausgestattete Beobachterposition bietet. Zweitens: Im Masse-Begriff, wie ihn Sighele prägt und Le Bon popularisiert, manifestiert sich ein weiteres Beobachtungsproblem, das die spezifische und vielschichtige Charakterisierung der Masse aussteuert. Das Beobachtungsproblem besteht in der Menschenschwärze beziehungsweise amorphen Form, die sich dem Betrachter beim Anblick einer lokal versammelten Masse bietet. In dieser Menschenschwärze tritt das Individuum zurück und zwar – das war zentral für die Argumentation der Arbeit – für den Beobachter. Diesem bietet sich das Bild einer einheitlich agierenden Menge, weil er das Individuum nicht mehr als Akteur isolieren kann. In der Massentheorie wird dieses Zurücktreten des Individuums aber nicht als Sichtbarkeitsdefizit, sondern als Masseneigenschaft beschrieben. Der Einzelne in der Masse handele demnach gleichgerichtet beziehungsweise konform und sei entindividualisiert sowie willenlos. Mit diesem Befund der Massentheorie ist ein Angebot an Erklärungsansätzen verbunden, die mögliche Ursachen für die Willenlosigkeit und Entindividualisierung des Einzelnen in der Masse anbieten. In der Arbeit wurde im Besonderen die zentrale Erklärung der Willenlosigkeit über die Hypnoseforschung nachgezeichnet. Ein medizinisches Wissen um Hypnose und Suggestion wird ebenso wie eine politische Theoretisierung des Führers herangezogen, um die problematischen Charakteristika der Masse zu erläutern. Die so gewonnenen Erläuterungen werden in den 1950/60er Jahren anlässlich des Fernsehens erneut formuliert. Dabei bieten die in der Massentheorie entwickelten Charakterisierungen ein Beschreibungsrepertoire, das in die Fernsehanalyse integriert wird. So wie sich die Massentheorie in die Fernsehanalyse einschreibt, gehen auch Vorstellungen vom Fernsehen in die Überlegungen zur Masse ein,
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SCHLUSS
denn das Fernsehen dient als weiterer Erklärungsansatz neben der Hypnose im Repertoire der möglichen Ursachen für das Massenverhalten. Das Fernsehen fügt sich in eine Kausalitätskette, an deren Ende die willenlose Zuschauermasse steht. Die Behauptung einer solchen Kausalität stattet die Charakterisierung der Masse mit Evidenz aus. Auf diese Weise haben die Konzepte Fernsehen und Masse eine wechselseitig explikative Funktion. So wie man mit dem Fernsehen zu wissen meint, wodurch die Eigenschaften der Masse hervorgebracht werden, meint man auch die Effekte des Fernsehens zu kennen, weil ein Wissen über die Masse bereitsteht. Aus der Idee einer beeinflussbaren Masse wird so das Wissen über das einflussreiche Fernsehen gewonnen und auf der Grundlage der These vom Einflussfaktor Fernsehen wird dessen suggestive Wirkung auf die Masse behauptet und beobachtet. Masse und Medium werden in einem Zirkel der Argumentation aufeinander bezogen. Die Annahme eines spezifischen Massenmerkmals produziert eine entsprechende Eigenschaftsbeschreibung des Fernsehens.4 Im Zuge der Generierung von Wissen über das Fernsehen anhand des Masse-Begriffs wird eine Vorstellung von Massenmedien gebildet, die sich auch dann nicht verliert, wenn die Masse nicht mehr thematisiert wird, das heißt wenn sie nur noch im heute viel bemühten Kompositum präsent bleibt. Das 1961 in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeführte und bis heute immer wieder bemühte Wort Massenmedium verweist auf eine Vorstellung von Medien und deren Wirkung, die sich in den 1950/60er Jahren unter Bezugnahme auf massentheoretisches Wissen herausgebildet hat. Bis in die Gegenwart ist der Massendiskurs so prägend für das Wissen über Massenmedien. ›Masse‹ bleibt der zentrale Begriff, der die Erkenntnisse, die über Massenmedien gewonnen werden können, limitiert. Indem aber die Beobachtung des Fernsehens am Masse-Begriff ausgerichtet wird, erhält dieser eine erhöhte Relevanz in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. Das viel diskutierte Medium Fernsehen reaktiviert die Bedeutungsgehalte des Begriffs und hält ihn so in den Debatten präsent.
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In den Worten Luhmanns: »Die Überlegungen zu den Auswirkungen der neuen Massenmedien, die derzeit angestellt werden, lassen sich durch eine zu enge Problemstellung führen. Sie fragen, orientiert an dem Begriff der ›Masse‹, nach den Auswirkungen der Medien auf das individuelle Verhalten. Die gesellschaftlichen Konsequenzen ergeben sich in dieser Sicht daraus, daß das individuelle Verhalten durch Massenpresse, Film und Funk massenhaft deformiert wird. Auch die sich abzeichnenden Veränderungen auf diesem Sektor, etwa die Erweiterung der Zugänglichkeit von Sendungen oder sogar von Kommunikation schlechthin im eigenen Haus werden unter diesem Gesichtspunkt antizipiert.« N. Luhmann: Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, S. 84. 253
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Christina Bartz MassenMedium Fernsehen Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung Juni 2007, 276 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-628-1
Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Media Marx Ein Handbuch
Sylvia Sasse, Stefanie Wenner (Hg.) Kollektivkörper Kunst und Politik von Verbindung 2002, 324 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-109-5
Friedrich Balke, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Big Brother Beobachtungen 2001, 264 Seiten, kart., 20,50 €, ISBN: 978-3-933127-63-1
2006, 408 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-481-2
Friedrich Balke, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Paradoxien der Entscheidung Wahl/Selektion in Kunst, Literatur und Medien 2003, 248 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-148-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de