Grundzüge der Semantik: Die Bedeutung in sprachwissenschaftlicher Sicht [Reprint 2021 ed.] 9783112414262, 9783112414255


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German Pages 357 [373] Year 1967

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Grundzüge der Semantik: Die Bedeutung in sprachwissenschaftlicher Sicht [Reprint 2021 ed.]
 9783112414262, 9783112414255

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U L L M A N N / G R U N D Z Ü G E DER S E M A N T I K

STEPHEN ULLMANN

GRUNDZÜGE DER SEMANTIK DIE B E D E U T U N G IN SPRACHWISSENSCHAFTLICHER SICHT

Deutsche Fassung von SUSANNE

WALTER

DE

KOOPMANN

GRUYTER

& CO

BERLIN

30

vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp.

1967

Titel der Originalausgabe: The Principles of Semantics. [A linguistic approach to meaning]. © 1957 by Basil Blackwell & Mott Ltd., Oxford

© Archiv-Nr. 45 76 66/1 Copyright 1967 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sdie Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner Veit & Comp. • Printed in Germany • Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung

von Photokopien,

auch auszugsweise,

Satz und Druck: T h o r m a n n & Goetsch, Berlin 44

vorbehalten.

Meiner Frau

V O R W O R T D E S ÜBERSETZERS Die vorliegende deutsche Ausgabe von Stephen Ullmanns Principles of Semantics folgt der zweiten Auflage, die gegenüber der von 1951 um einen 1957 nachgetragenen Forschungsbericht über neuere Strömungen in der Semantik sowie um zwei bibliographische Nachträge von 1959 und 1963 vermehrt ist. Letztere haben wir, um dem Leser die Benutzung zu erleichtern, in das allgemeine Literaturverzeichnis eingearbeitet, zumal dieses von Ullmann bereits für die zweite Auflage auf Neuerscheinungen ausgedehnt worden war, die in den Grundzügen selbst noch nicht berücksichtigt sind, die die Bibliographie gleichwohl kompendienartig weiterführen. Der auf ein bloßes Sachregister beschränkte Index des Originals ist f ü r die deutsche Ausgabe um ein Personenregister und um ein Wortregister vermehrt worden. Erst so erschließt sich die ganze Fülle des verarbeiteten Materials auch für den, der die Grundzüge nur als Handbuch benutzen möchte. Zugleich wird so mit einem Blick deutlich, auf welch große, hierzulande zuweilen aber auch unbekannt gebliebene Namen der Verfasser sein System einer vorwiegend deskriptiven Semantik stützt. Angesichts der Tatsache, daß in den Grundzügen überaus viele Schriften zur Bedeutungslehre aus den letzten fünfzig Jahren vorgestellt und verarbeitet sind, schien es geboten, die so reichlich zitierte Literatur nach Möglichkeit noch einmal bibliographisch zu überprüfen. Die Angaben als solche werden davon natürlich nicht berührt; wohl aber haben sich gegenüber dem Original zahlreiche Korrekturen ergeben, die der Verfasser vermutlich auch selbst schon angebracht hätte, wäre er in allen weiteren Auflagen nicht an den photomechanischen Nachdruck gebunden gewesen. Zudem ist nach Möglichkeit auf leichter zugängliche Ausgaben, neuere Auflagen, inzwischen erschienene Aufsatzsammlungen etc. umpaginiert; waren die vom Autor benutzten Auflagen nicht greifbar, wird gelegentlich allerdings auch nach älteren zitiert. U m den Anmerkungsteil f ü r den Leser noch leichter zugänglich zu machen, haben wir viele nichtssagende oder gar irreführende „op. cit." bzw. „loc. cit." der Vorlage durch Kurztitel spezifiziert; wo die näheren Angaben dagegen eindeutig aus dem Literaturverzeichnis hervorgehen, nennen wir nur Verfasser und Seitenzahlen. Gelegentliche zusätzliche Literaturangaben, die zur Erklärung eines im Englischen selbstverständlichen Sachverhalts gedacht sind, erscheinen in eckigen Klammern. Die Übersetzung selbst ist um eine durchsichtige Begriffsbildung bemüht; in einigen Fällen sind die Ullmannschen Termini zur Kontrolle beigefügt. Englische Beispiele sind durch deutsche Entsprechungen erweitert bzw. ersetzt;

VIII

Vorwort des Übersetzers

w o das nicht möglich w a r , folgt in K l a m m e r n die Übersetzung. Diese fehlt jedoch, wenn W ö r t e r aus mehreren Sprachen zu Beispielreihen zusammengesetzt sind. Zitate aus fremdsprachiger Fachliteratur sind grundsätzlich nicht mitübersetzt, da sie nicht in die Terminologie u n d D i k t i o n der Grundzüge eingefärbt werden sollten. Sie sind vielmehr in jedem Fall, auch w o es sich u m englisch paraphrasierte Zitate aus holländischer oder deutschsprachiger Literatur handelt, nach dem Original zitiert. Soweit d a f ü r Übersetzungen vorliegen, haben wir diese selbstverständlich benutzt. N u r f ü r Saussure sind jeweils auch die Seitenzahlen der französischen Ausgabe mitverzeichnet, um das A u f f i n d e n der f ü r U l i m a n n grundlegenden, von ihm vielzitierten Originalformulierungen zu erleichtern. Als Beispiele a n g e f ü h r t e dichterische Wendungen u n d literarische Zitate haben wir generell weder übersetzt noch nach Ubersetzungen zitiert, da sonst die N u a n c e n , auf die es dabei a n k o m m t , erfahrungsgemäß verlorengehen. Es schien d a r u m wichtiger u n d richtiger, den genauen W o r t l a u t solcher Stellen zu sichern, was bedeutet, d a ß f ü r die deutsche Ausgabe viele Belege nachgetragen u n d indirekte Quellen durch direkte ersetzt w o r d e n sind. Derartige Stellennachweise erscheinen als Ergänzungen des Übersetzers in eckigen Klammern. Bei all diesen Bemühungen hat der Übersetzer beileibe nicht klüger sein wollen als sein A u t o r ; da es bei der Übersetzung einer Semantik mehr denn je auf jedes W o r t a n k o m m t , h a t er sich seiner Vorlage im Gegenteil besonders verpflichtet gefühlt. Natürlich stellt sich d a m i t erst recht das Dilemma ein, das wir dem Leser in der treffenden Formulierung Carl Bertrands doch auch zu bedenken geben wollen: „Übersetzungen gleichen den Frauen: sind sie treu, so sind sie nicht schön, u n d sind sie schön, so sind sie nicht treu!" Bonn, O k t o b e r 1964

Susanne K o o p m a n n

INHALT I.

II.

III.

IV.

V.

Was ist Semantik?

1

1. Terminologie

4

2.

Semantik und Philosophie

3.

Semantik und Sprachwissenschaft

Deskriptive Semantik

6 22

40

1. Das W o r t und seine Autonomie

40

2.

61

Eine funktionale Analyse der Bedeutung

3. Die einfädle Bedeutung

77

4.

99

Bedeutungsvielfalt und semantische Pathologie

Von der deskriptiven zur historischen Semantik

129

1. Das Ineinandergreifen der beiden Methoden (Homonymenkonflikte) . . . .

134

2.

141

Einzelgrößen und Systeme (Bedeutungsfelder)

Historische Semantik

159

1. Wesen und Ursachen des Bedeutungswandels

159

2.

Klassifikation des Bedeutungswandels

185

3.

Bedeutungsgesetze

230

Allgemeine Semantik

238

1. Panchronische Bedeutungsforschung

238

2.

Panchronische Tendenzen in der Synästhesie

245

3.

Panchronische statistische Gesetze

267

Schluß

273

Nachtrag zur zweiten Auflage: Neuere Strömungen in der Semantik

277

Literaturverzeichnis

296

X

Inhalt

Namenregister Wortregister Sachregister Abkürzungsverzeichnis

323 332 345 348

I

Was ist Semantik? D i e S e m a n t i k , d i e T h e o r i e d e r B e d e u t u n g , ist d e r j ü n g s t e Z w e i g d e r m o d e r nen Sprachwissenschaft. D e n k b a r w ä r e , d a ß d a r a u f noch z w e i a n d e r e Wissenschaften, n ä m l i c h die P h o n o l o g i e u n d d i e Stilistik, A n s p r u c h e r h e b e n ; a b e r a u f s G a n z e gesehen sind sie eigentlich eher n e u e Teilgebiete b z w . neue M e t h o d e n a l t b e w ä h r t e r F o r s d i u n g s r i c h t u n g e n 1 , w ä h r e n d die S e m a n t i k ein eigenständiges u n d in sich geschlossenes Fach d e r P h i l o l o g i e d a r s t e l l t . Als solches besteht sie erst ein J a h r h u n d e r t l a n g selbständig, u n d selbst das t r i f f t nicht g e n a u z u . Z w a r ist sie schon 1839 m i t K . C h . Reisigs Vorlesungen über lateinische Sprachwissenschaft als ein S o n d e r g e b i e t d e r „ G r a m m a t i k " b e g r ü n d e t w o r d e n ; a b e r es h a t i m m e r h i n bis z u m E n d e des v o r i g e n b z w . bis z u m A n f a n g unseres J a h r h u n d e r t s g e d a u e r t , bis eine z u n e h m e n d e R e i h e b r a u c h b a r e r , w i e w o h l ziemlich einfallsloser Versuche v o n d e n ersten S t a n d a r d w e r k e n der n e u e n Wissenschaft abgelöst w u r d e : V o n d e n M o n o g r a p h i e n eines D a r m e s t e t e r u n d Bréal, eines E r d m a n n , J a b e r g u n d Meillet u n d v o n d e n die semantische T h e o r i e v e r v o l l s t ä n d i g e n d e n L e h r e n P a u l s u n d W u n d t s . Gleichzeitig richtete sich d a s Interesse m e h r u n d m e h r auch auf die F r a g e , welche S t e l l u n g d e r B e d e u t u n g i n n e r h a l b des S p r a c h g e f ü g e s z u z u w e i s e n sei u n d welche R o l l e semantische Ü b e r l e g u n g e n f ü r die E t y m o l o g i e spielen sollt e n . D e r neue F r a g e n k o m p l e x w u r d e u n t e r d e m d o p p e l t e n A s p e k t d e r L o g i k u n d R h e t o r i k einerseits u n d d e r A s s o z i a t i o n s p s y c h o l o g i e a n d r e r s e i t s in Angriff g e n o m m e n ; auch sind m i t d e r A u s b i l d u n g d e r S p r a c h g e o g r a p h i e u n d d e r „ W ö r t e r u n d Sachen " - R i c h t u n g nach u n d nach neue, d. h. historische, kulturgeschichtliche 1

I

Ober dieses Problem handelt M. Grammont, „La néophonologie" (FM, 6, 1938, S. 205—211); vgl. dazu die Erwiderung von A. Martinet (ebd., 7, 1939, S. 33—37). Was die Stilistik angeht, so bezeichnet sie J. Marouzeau in der Einleitung zu seinem Précis de stylistique française (Paris, 3 1950, S. 15) als „dernière née des sciences linguistiques"; aus der Einleitung wie aus der ganzen Anlage seines Buches geht jedoch hervor, daß er sie, wie Bally, nicht eigentlich als Zweig der Sprachwissenschaft, sondern vielmehr als verwandtes Fach mit gleicher Untergliederung, aber anderer Betrachtungsweise auffaßt. Ebenso ist wohl auch M. Cressots Behauptung zu verstehen, die Stilistik „n'est qu'un compartiment" der allgemeinen Sprachwissenschaft (Le Style et ses techniques, Paris, 2 1951, S. 10). Zum Standort der Stilistik vgl. ferner E. H. Sturtevant, An Introduction to Linguistic Science (New Häven, 1947), S. 52 u. 64; die Einleitung zu L. Spitzers Linguistics and Literary History. Essays in Stylistics (Princeton, 1948) u. C. F. P. Stutterheim, „Modern Stylistics" (Lingua, 1, 1948, S. 410—426). Ullmann

2

Was ist

Semantik?

und soziologische Gesichtspunkte in die Bedeutungsforschung eingeführt worden. Dieser Entwicklungsabschnitt fand gewissermaßen seinen symbolischen Abschluß damit, daß Kr. Nyrop 1913 den vierten Band seiner großen Grammaire historique de la langue française der Semantik widmete, — ein Unternehmen, das bedauerlicherweise kaum Schule gemacht hat. In den zwanziger Jahren erlebte die Bedeutungsforschung einen raschen und unerwarteten Aufschwung. Gelehrte wie Falk und Hatzfeld, Carnoy und Wellander (dessen Werk schon während des Ersten Weltkriegs zu erscheinen begann) brachten eine Reihe von maßgebenden Gesamtdarstellungen heraus. Waren diese Monographien noch ganz der alten Schule verpflichtet, so versuchte Hans Sperber hingegen Neuland zu erschließen, indem er Freudsche Gesichtspunkte in die historische Untersuchung der Bedeutung einführte; doch blieb selbst er noch der vorwiegend psychologischen Ausrichtung der herkömmlichen Semantik treu.Unterdessen hatte sich jedoch ein neuer Einfluß geltend gemacht. In dem postum erschienenen Werk des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure2" war nämlich eine gänzlich neue Art der Sprachbetrachtung entwickelt worden: Die Sprache wird hier als ein System von überindividuellen synchronen Zeichen vorgestellt, die ihre Bedeutung und ihren Stellenwert einem den Schnittlinien des „Schachbretts" vergleichbaren Geflecht von Unterscheidungen und Gegensätzen verdanken. Diese Auffassung hat in Verbindung mit Husserls Phänomenologie und anderen Einflüssen zu einer grundlegend neuen Interpretation der Bedeutung Anlaß gegeben. Die einseitig individualistische und psychologische Ausrichtung der herkömmlichen Bedeutungslehre wurde nun entschieden abgelehnt, und man rügte sie geradezu verächtlich als atomistisch, unfruchtbar und als Weg, der unvermeidlich in eine Sackgasse führe. In dem für die Geschichte der Semantik so entscheidenden Jahr 1931 wird die neue Wissenschaft sozusagen mündig, aber immer mehr tut sich auch eine Kluft auf, die ihre Einheit zu sprengen droht. Die herkömmliche Betrachtungsweise findet man in Gustaf Sterns großer Gesamtdarstellung „Meaning and Change of Meaning" 2 angewendet und durch Ergebnisse bereichert und auf den neuesten Stand gebracht, die seine eigenen Forschungen, bestimmte neue Strömungen in der Semantik sowie sprachwissenschaftlich bedeutsame Untersuchungen auf dem Gebiet der Logik und der Psychologie, Heads Werk über dieAphasie eingeschlossen, gezeitigt haben. Das rund acht Jahre früher erschienene Buch von Ogden und Richards, The Meaning of Meaning, gibt Stern eine brauchbare Analyse semantischer Grundfaktoren an die Hand; dank seiner gründlichen Kenntnis der Materie und seiner scharfsinnigen Unterscheidungen hat er die Forschung auf Jahre hinaus bestimmt. Es verwundert nicht, daß seitdem keine neue Gesamt2a

2

[Cours de linguistique générale (Paris, 3 1 9 6 0 ) , im Folgenden zit. nach Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft (Berlin/Leipzig, 1 9 3 1 ) , wobei jeweils der Zusatz f. A . auf die Seitenzahl des Originals verweist.] G. Stern, „Meaning and C h a n g e o f Meaning. W i t h Special R e f e r e n c e to the English L a n g u a g e " ( G ö t e b o r g s Högskolas Ärsskrift, 3 8 , 1 9 3 2 : 1; Göteborg, 1 9 3 1 ) .

Was ist

Semantik?

3

darstellung mehr zustande gekommen ist, obwohl die Fortschritte, die der Behaviorismus und die Kontexttheorie mit ihrer Bedeutungsinterpretation und die die vielen Spielarten der außersprachwissenschaftlichen Semantik erzielt haben, auf die Dauer doch in das System eingebaut werden müßten. Fast zur gleichen Zeit bekommt die von Leo Weisgerber energisch vertretene phänomenologische und strukturalistische Richtung neuen Antrieb durch die E r gebnisse, die Jost Trier 3 als ersten Teil seiner großangelegten Entwicklungsgeschichte des deutschen Intellektualwortschatzes veröffentlichte. Trier hat in der Einleitung zu seinem Buch (S. 1 — 2 6 ) sowie nachfolgend in einer Reihe ebenso glänzender wie anregender und sehr polemischer Aufsätze seine Theorie des „sprachlichen Feldes" herauskristallisiert, die darauf in den Arbeiten seiner Schüler recht erfolgreich praktisch angewendet worden ist. Mit dem Erscheinen dieser beiden Hauptwerke und der sidi daran anschließenden Diskussion haben sich natürlich die Fronten in beiden Lagern versteift, und die Semantik steht jetzt vor dem Dilemma, entweder einen Bruch in ihrer Konzeption hinnehmen oder die Feldbetrachtungsweise mit der Fülle der Perspektiven, die sie trotz ihres noch unausgereiften Frühstadiums eröffnet, aufgeben zu müssen. Ist der Zwiespalt unabänderlich, oder haben Vermittlungsversuche noch Aussicht auf Erfolg? Schon in den zwanziger Jahren hatten die beiden Gelehrten Roudet und Gombocz 4 die Saussuresche Betrachtungsweise in Auswahl mit der psychologischen Bedeutungsinterpretation zu verbinden versucht und dabei gefunden, daß sich bestimmte Grundgedanken der Bergsonschen Philosophie als Katalysator für dieses Verfahren eignen. Durch eine ungewöhnliche Verkettung widriger U m stände fanden ihre Arbeiten damals aber so gut wie keine Beachtung und gerieten in Vergessenheit. Bei der augenblicklich so verfahrenen Lage wäre nun jedoch eine Wiederaufnahme ihres an sich schon sehr verdienstvollen Versuchs durchaus angebracht. Wenn man damit Aussicht auf Erfolg haben will, wird man die jüngste Entwicklung mit einer Reihe bisher ungenutzter semantischer Möglichkeiten berücksichtigen müssen: etwa das vor allem im Hauptwerk des verstorbenen Charles Bally erreichte neueste Entwicklungsstadium der Saussureschen Lehre; neue Gesichtspunkte sprachgeographischer Untersuchungen zur P o l y semie und Homonymie; ferner v. Wartburgs Bemühungen um eine Verbindung der beiden Methoden 5 und andere Fragestellungen der letzten J a h r e . Das vor3

4

5

1'

J. Trier, Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes. Die Geschichte eines sprachlichen Feldes. I: Von den Anfängen bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts (Heidelberg, 1931). Einen guten Uberblick über solche neueren Bestrebungen gibt O. Springer, „Probleme der Bedeutungslehre" ( T h e Germanic Review, 13, 1938, S. 159—174). [L. Roudet, „Sur la Classification psychologique des diangements semantiques" (Journal de Psychologie, 18, 1921, S. 676—692). Z. Gombocz, Jelentestan (Pees, 1926). Vgl. auch unsere Anm. 421.] Sie finden sich in seiner Einführung in Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft (2., u. Mitwirkung v. St. Ulimann verb. u. erw. Aufl., Tübingen, 1962) zusammengefaßt.

4

Was ist

Semantik?

liegende Buch sudit vor allem dieses Arbeitsprogramm zu erfüllen, wobei eine etwaige Wiederannäherung der Standpunkte als Idealziel vorschwebt. Zuvor müssen aber erst noch bestimmte Grundsatzfragen geklärt werden, die sonst viel Verwirrung u n d Unklarheit stiften könnten. Als erstes hat es der Semantiker demnach mit drei Fragenkomplexen zu tun: Mit der Terminologie und dem N a m e n seiner Wissenschaft; mit ihrem Verhältnis zu einigen außersprachwissenschaftlichen Forschungsrichtungen gleichen Namens; und schließlich mit ihrer Einordnung in das Gesamtgefüge der modernen Sprachwissenschaft.

1. T E R M I N O L O G I E Keine Wissenschaft sollte gewissenhafter auf die Stimmigkeit ihrer Terminologie achten als die Semantik. U n d dennoch ist Schuchardts Warnung kaum anderswo so angebracht wie gerade hier: „Terminologische Unklarheit ist f ü r die Wissenschaft was Nebel f ü r die Schiffahrt. J a sie ist um so gefährlicher als man sich der Unklarheit garnicht bewußt zu werden pflegt." 6 Schon der N a m e der Wissenschaft ist weitgehend umstritten. Mehrere europäische Sprachen haben sich mit der Bildung eigener Komposita aus den landessprachlichen Ausdrücken für 'Bedeutung' und 'Wissenschaft' geholfen: 'Bedeutungslehre', ndl. 'betekenisleer', norw. 'betydningslasre', ung. 'jelentéstan', finn. 'merkitysoppi'. Andere haben es mit Ableitungen aus gr. armaivco versucht; von den verschiedenen konkurrierenden Bezeichnungen, die dabei entstanden sind ('Sematologie', 'Semologie' etc.), machen sich zwei allgemein noch den Rang streitig: 'Semasiologie' und 'Semantik'. 7 Von beiden ist nur 'Semantik' — schon 1883 bei Bréal belegt und ohnehin das einfachere Wort — auch außerhalb der Sprachwissenschaft geläufig. So ist es zu einem merkwürdigen Sachverhalt gekommen. Für die Philologie sind 'Semantik' und 'Semasiologie' Synonyme. Aber 'Semantik' hat noch einen zusätzlichen Anwendungsbereich; in gewissen neueren Strömungen der Philosophie 8 wie der Popularphilosophie 9 ist sie der Oberbegriff f ü r die Erforschung der Be6

7

8

L. Spitzer, Hugo Schuchardt-Brevier. Ein Vademekum der allgemeinen Sprachwissenschaft (Halle, 1922), S. 270. D a z u jetzt A. W . Read, „An Account of the W o r d 'Semantics'" (Word, 4, 1948, S. 7 8 — 9 7 ) . Zu Fragen der Terminologie auch J. Marouzeau, Lexique de la terminologie linguistique (Paris, 3 1951), insb. unter 'sémasiologie'; A. Carnoy, La Science du mot. Traité de sémantique (Löwen, 1927), S. 95 ff.; P. Meriggi, „Sulla Semantica" (.Archivio Glottologico Italiano, 26, 1934, S. 6 5 — 1 0 3 ) , S. 68; J. R. Firth, „The Technique of Semantics" ( T r a n s a c t i o n s of the Philological Society, 1935, S. 3 6 — 7 2 ; im Folgenden zit. n. Papers in Linguistics, 1934—1951, London, 1957, S. 7—33), S. 7 f., 15 f., 27, A n m . 2 u. „The Semantics of Linguistic Science" (Lingua, 1, 1948, S. 3 9 3 — 404), im Folgenden zit. n. Papers, S. 139—147; usw. Vgl. zu U l l m a n n s eigenen terminologischen Vorschlägen: „Esquisse d'une terminologie de la sémantique" (Actes du 6e congrès international des linguistes, Paris, 1949, S. 3 6 8 — 3 7 5 ) . Etwa bei R. Carnap, Introduction to Semantics (Cambridge, Mass., 3 1948), bes. S. 238 f.

Terminologie

5

Ziehungen zwischen Zeichen u n d Bezeichnetem. 1 0 Durch diese d o p p e l t e V e r w e n dungsweise h a t das W o r t ' S e m a n t i k ' seine Eindeutigkeit eingebüßt u n d m a d i t deshalb in der Praxis oft Schwierigkeiten. Viele Sprachwissenschaftler, d a r u n t e r a u d i Stern, w o l l e n ihr Fachgebiet deshalb lieber 'Semasiologie' nennen u n d 'Sem a n t i k ' als Bezeichnung der außersprachwissensdiaftlichen Bedeutungsforschung überlassen. Diese T r e n n u n g ist gewiß konsequent, aber sie w i r d sich w o h l k a u m endgültig durchsetzen, — nicht so sehr deswegen, weil 'Semasiologie' u n d die entsprechenden Ableitungen etwas schwerfällig w i r k e n oder weil die k o n k u r rierende Bezeichnung den verschiedensten Leserkreisen geläufig ist, sondern v o r allem deshalb, weil sie sich in manchen L ä n d e r n , insbesondere in Frankreich, nicht recht einbürgern k a n n . Auch w e n n m a n sich einzelnen Aspekten der S e m a n t i k z u w e n d e t , h a t m a n es m i t einer d e r a r t i g verwickelten Terminologie zu tun. So w i r d das Bedeutungselement der R e d e im Gegensatz z u m ' M o r p h e m ' zuweilen als 'Semem' 1 1 oder engl, u n d f r z . als 'semanteme' ( f r z . auch als 'sème') bezeichnet, was einen ebenso vieldeutigen Begriff ergibt. 1 2 D i e genaue A b g r e n z u n g dieser beiden a u f e i n a n d e r bezogenen T e r m i n i ist in erster Linie ein syntaktisches P r o b l e m u n d d a h e r in unserem Z u s a m m e n h a n g nicht so wichtig. Dagegen k a n n m a n der Entscheidung nicht ausweichen, w e n n es u m das K e r n p r o b l e m der Semantik, um die Bedeutung geht. Spätestens seit The Meaning of Meaning m i t seinem erschreckenden 8. K a p i t e l „ T h e M e a n i n g of Philosophers" w e i ß m a n , d a ß Logiker, Psychologen u . a . diesen Begriff so sehr s t r a p a z i e r t 0

E t w a bei H . R. Walpole, Semantics. ( N e w York, 1941).

The

Nature

of

Words

and

their

Meanings

10

D a s Wort ist erstmals in der W e n d u n g „Semantick Philosophy" in der 2. Fassung von John Spencers A Discourse Concerning Prodigies 1665 belegt und wird im N E D als „relating to signs of the weather" erklärt; aus dem K o n t e x t geht nach A. W . Read (a. a. O., S. 78) jedoch hervor, daß es „prediction of the future on the basis of signs" bedeutet hat. Bloch/v. Wartburg, Dictionnaire étymologique de la langue française (Paris, 3 1960) geben unter 'sémantique' einen frz. Einzelbeleg aus dem 16. Jh. an. 'Sematology' w i r d noch v o n C. S. R. Collin in seinem Bibliographical Guide to Sematology (Lund, 1914) gebraucht, der für die Frühstufe der Semantik unentbehrlich ist. Bemerkenswert ist, daß mit 'Semasiologie' früher audi die philosophische Bedeutungsforschung bezeichnet worden ist ( e t w a v o n Gomperz), was heute jedoch nicht mehr üblich zu sein scheint.

11

Siehe A. Noreen, Einführung in die wissenschaftliche Betrachtung der Sprache (Halle, 1923), S. 200 f. u. L. Bloomfield, Language (London, 3 1950), S. 162 u. 166: 'sememe'. Vgl. Marouzeau, Lexique zu 'sémantème' u. 'sème'. Vgl. bes. O. Jespersen, Analytic Syntax (Kopenhagen, 1937), S. 105 ff. Vgl. auch Ch. Bally, Linguistique générale et linguistique française (Bern, 3 1950), S. 288. Unterschiedliche Terminologien verwenden u. a. N o r e e n , Einführung, S. 199 ff.; E. Buyssens, Les Langages et le discours (Brüssel, 1943), S. 73; J. H o l t , „Rationel Semantik (Pleremik)" (Acta Jutlandica, 18, 3; Kopenhagen, 1946), S. 9 f. Eine Übersicht über heutige Auffassungen v o m Morphem gibt C. E. Bazell, „ O n the Problem of the Morpheme" ( A r c h i v u m Linguisticum, 1, 1949, S. 1—15).

12

6

Was ist Semantik f

haben, daß er wissenschaftlich unbrauchbar geworden ist. 1 3 Aber selbst die an sich exakteren philologischen Definitionen der 'Bedeutung' kranken in einem wichtigen P u n k t an mangelnder Eindeutigkeit: Einige fassen sie als Begriff für die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, während andere sie mit letzterem gleichsetzen. 1 4 Umgekehrt wird das, worüber man sich grundsätzlich einig ist, nur zu oft durch abweichende bzw. einander überschneidende Fachausdrucke verdeckt. 1 5 Widersprüche dieser Art, die besonders lästig sind, wenn man sich einer Metasprache über die Sprache 1 8 bedienen muß, haben A. C a r n o y 1 9 2 7 veranlaßt, zumindest für die verschiedenen T y p e n des Bedeutungswandels eine eigene reichdifferenzierte N o m e n k l a t u r zu entwickeln. 1 7 Leider wirken seine Begriffe, die frz. 'semie' in Verbindung mit verschiedenen griechischen Präpositionen verwenden ('m£tasemie', 'm^tecsämie', 'diasemie' usw.), recht konstruiert; auch wird der Zusammenhang zwischen den Prinzipien seiner Klassifikation und dem eigentlichen Wortsinn der griechischen Partikeln nicht immer

genügend

deutlich. K e i n Wunder also, daß sein Begriffssystem so wenig Anklang gefunden hat. Wenn auch die Verbesserung und grundsätzliche Vereinheitlichung der T e r minologie ein dringendes Desiderat bleibt, würde eine schwerfällige und allzu spitzfindige N o m e n k l a t u r doch eher eine Belastung als einen Gewinn bedeuten. D i e Sternsche Monographie überzeugt ja gerade auch deswegen, weil sie Fachausdrücke überhaupt sparsam verwendet und in ihren Neuprägungen einfach und durchsichtig ist. A u f künftigen Kongressen wird man das terminologische Durcheinander hoffentlich beseitigen; das ist die Semantik sich einfach schuldig, bevor sie ähnliche M i ß s t ä n d e auf anderen Wissensgebieten kritisieren darf. U n t e r dessen tut der Semantiker gut daran, Paretos R a t zu beherzigen, den J . R . Firth mit Genugtuung zitiert: „ N e v e r dispute about w o r d s . " 1 8

2.

SEMANTIK UND

PHILOSOPHIE

Wachsendes Interesse für sprachliche D i n g e ist für das Geistesleben unseres Jahrhunderts besonders bezeichnend. W . M . U r b a n hat es überzeugend als geschichtliches Phänomen gedeutet, daß eine solche Auseinandersetzung m i t der Sprache regelmäßig dann in den Mittelpunkt rückt, wenn die K u l t u r einen „Krisenpunkt" („critical p o i n t " ) 1 9 erreicht. Das scheint augenblicklich zum f ü n f Siehe audi A. J. Ayer, Language, Truth and Logic (London, 2 1946), S. 15 f. u. 68 ff. " Vgl. A. H. Gardiner, The Theory of Speed} and Language (Oxford, 2 1960), S. 29 ff. 15 So erscheint das „significatum" in verschiedenster Gestalt: als „signifié" (Saussure), „thought or reference" (Ogden-Ridiards), „mental content" (Stern), „sense" (Gomboez), „idée" (Roudet), als „Begriff" (Weisgerber), usw. 16 Vgl. bes. Firth, Papers, S. 139 f. " S. 401—407. 1 8 Firth, The Tongues of Men (London, 1937), S. 112. " W. M. Urban, Language and Reality (London/New York, 2 1951), S. 22 ff. Zu Sprach13

6

Was ist Semantik f

haben, daß er wissenschaftlich unbrauchbar geworden ist. 1 3 Aber selbst die an sich exakteren philologischen Definitionen der 'Bedeutung' kranken in einem wichtigen P u n k t an mangelnder Eindeutigkeit: Einige fassen sie als Begriff für die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, während andere sie mit letzterem gleichsetzen. 1 4 Umgekehrt wird das, worüber man sich grundsätzlich einig ist, nur zu oft durch abweichende bzw. einander überschneidende Fachausdrucke verdeckt. 1 5 Widersprüche dieser Art, die besonders lästig sind, wenn man sich einer Metasprache über die Sprache 1 8 bedienen muß, haben A. C a r n o y 1 9 2 7 veranlaßt, zumindest für die verschiedenen T y p e n des Bedeutungswandels eine eigene reichdifferenzierte N o m e n k l a t u r zu entwickeln. 1 7 Leider wirken seine Begriffe, die frz. 'semie' in Verbindung mit verschiedenen griechischen Präpositionen verwenden ('m£tasemie', 'm^tecsämie', 'diasemie' usw.), recht konstruiert; auch wird der Zusammenhang zwischen den Prinzipien seiner Klassifikation und dem eigentlichen Wortsinn der griechischen Partikeln nicht immer

genügend

deutlich. K e i n Wunder also, daß sein Begriffssystem so wenig Anklang gefunden hat. Wenn auch die Verbesserung und grundsätzliche Vereinheitlichung der T e r minologie ein dringendes Desiderat bleibt, würde eine schwerfällige und allzu spitzfindige N o m e n k l a t u r doch eher eine Belastung als einen Gewinn bedeuten. D i e Sternsche Monographie überzeugt ja gerade auch deswegen, weil sie Fachausdrücke überhaupt sparsam verwendet und in ihren Neuprägungen einfach und durchsichtig ist. A u f künftigen Kongressen wird man das terminologische Durcheinander hoffentlich beseitigen; das ist die Semantik sich einfach schuldig, bevor sie ähnliche M i ß s t ä n d e auf anderen Wissensgebieten kritisieren darf. U n t e r dessen tut der Semantiker gut daran, Paretos R a t zu beherzigen, den J . R . Firth mit Genugtuung zitiert: „ N e v e r dispute about w o r d s . " 1 8

2.

SEMANTIK UND

PHILOSOPHIE

Wachsendes Interesse für sprachliche D i n g e ist für das Geistesleben unseres Jahrhunderts besonders bezeichnend. W . M . U r b a n hat es überzeugend als geschichtliches Phänomen gedeutet, daß eine solche Auseinandersetzung m i t der Sprache regelmäßig dann in den Mittelpunkt rückt, wenn die K u l t u r einen „Krisenpunkt" („critical p o i n t " ) 1 9 erreicht. Das scheint augenblicklich zum f ü n f Siehe audi A. J. Ayer, Language, Truth and Logic (London, 2 1946), S. 15 f. u. 68 ff. " Vgl. A. H. Gardiner, The Theory of Speed} and Language (Oxford, 2 1960), S. 29 ff. 15 So erscheint das „significatum" in verschiedenster Gestalt: als „signifié" (Saussure), „thought or reference" (Ogden-Ridiards), „mental content" (Stern), „sense" (Gomboez), „idée" (Roudet), als „Begriff" (Weisgerber), usw. 16 Vgl. bes. Firth, Papers, S. 139 f. " S. 401—407. 1 8 Firth, The Tongues of Men (London, 1937), S. 112. " W. M. Urban, Language and Reality (London/New York, 2 1951), S. 22 ff. Zu Sprach13

Semantik

und

7

Philosophie

ten M a l der F a l l zu sein, wenn man mit U r b a n 1. die griechische Sophistik; 2. die Spätscholastik; 3. die Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts und 4. den Gegenstoß des Idealismus im 19. J a h r h u n d e r t zu den übrigen vier M a l e n rechnet. V o n den verschiedenen Richtungen, die sich aus diesem Sprachinteresse herleiten, bezeichnen sich mittlerweile zwei als 'Semantik', obwohl sie eigentlich weder miteinander noch jeweils mit der philologischen Bedeutungsforschung etwas zu tun haben. D i e P h i l o s o p h i s c h e

Semantik

ist ein Zweig des

logischen Positivismus. I n diesem Sinne ist der Terminus zum ersten M a l 1922 von dem polnischen Logistiker Chwistek gebraucht worden; international durchgesetzt hat er sich jedoch erst, nachdem die polnische Schule 1 9 3 5 dem Philosophischen K o n g r e ß in Paris ihr Programm vorgelegt hatte. 2 0 D i e durch Beiträge von seiten des Wiener Kreises und des Behaviorismus 2 1 bereicherte neue Wissenschaft hat Charles Morris dann in den größeren R a h m e n seiner „ S e m i o t i k " oder allgemeinen Theorie der Zeichen eingebaut. Nach Morris, der in seinen Anschauungen von C a r n a p unterstützt worden ist, gliedert sich die Semiotik in drei Untergruppen:

1. die „ S e m a n t i k " untersucht das Verhältnis der Zeichen zu den

Gegenständen; 2. die „ P r a g m a t i k " beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen Zeichen und Benutzer; 3. die „ S y n t a x " 2 2 erforscht die formalen Beziehungen der Zeichen untereinander. 2 3 E i n krasserer Gegensatz als der zwischen den seltsamen Chiffren und esoterischen Theoremen der Philosophischen Semantik einerseits und dem energisch, zuweilen leidenschaftlich vertretenen praktischen Anspruch und eifer der Verfechter der A l l g e m e i n e n

Semantik

Bekehrungs-

andrerseits ist kaum

denkbar. Als direkter V o r l ä u f e r dieser Schule gilt die 1 9 2 3 von Ogden und Problemen in der Gegenwartsphilosophie vgl. B. Russell, History ophy ( L o n d o n , 2 1 9 4 7 ) , Buch 3, K a p . 3 1 .

of Western

Philos-

20

D a z u R e a d , a . a . O . , S. 8 6 ff.; C a r n a p , Introduction, S. V — V I I ; A . Tarski, Introduction to Logic and to the Methodology of Deductive Sciences ( N e w Y o r k , 2 1 9 5 6 ) , S. 1 4 0 ; W . E . Collinson, „Some recent trends in linguistic t h e o r y with special reference to s y n t a c t i c s " ( L i n g u a , 1, 1948, S. 3 0 6 — 3 3 2 ) , bes. S. 3 1 3 — 3 1 5 .

21

Ober den hauptsächlich auf L. Bloomfield zurückgehenden Einfluß des Behaviorismus auf die Sprachphilosophie vgl. insbes. L . R . P a l m e r , An Introduction to Modern Linguistics ( L o n d o n , 1 9 3 6 ) , K a p . 1; F i r t h , Tongues, K a p . 8 ; G . A . D e Laguna, Speech, its Function and Development ( N e w H a v e n , 1 9 2 7 ) ; M . Schlauch, „ E a r l y Behaviorist Psychology and C o n t e m p o r a r y Linguistics" (Word, 2, 1 9 4 6 , S. 2 5 — 3 6 ) ; Sturtevant, Introduction, S. 5 f.

22

[Das Deutsche weicht von der Terminologie des Originals insofern ab, als für „syntactics" nicht „ S y n t a k t i k " , sondern „ S y n t a x " gebräuchlich ist; vgl. z. B. W . Stegmüller, Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik ( W i e n , 1 9 5 7 ) , S. 3.]

23

C . W . Morris, „Foundations of the T h e o r y of Signs" ( I n t e r n a t i o n a l Encyclopedia of Unified Science, Bd. 1, N r . 2 ; C h i c a g o , 1 9 3 8 ) , S. 6 f.; vgl. C a r n a p , Introduction, S. 8 — 1 1 u. Formalization of Logic ( C a m b r i d g e , Mass., 1 9 4 3 ) , S. I X f. In M o r r i s ' später erschienenem Buch Signs, Language and Behavior ( N e w Y o r k , 4 1 9 5 0 ) , S. 2 1 9 findet sich eine etwas modifizierte Formulierung, wonach die Semantik „deals with the signification of signs in all modes of signifying".

8

Was ist Semantik ?

Richards ausgegangene wichtige Bewegung, die eine Verbesserung des sprachlichen Mediums anstrebte. Die H a u p t p u n k t e ihres Programms finden sich in H . G. Wells' The Shape of Things to Come [V, § 7] wie folgt zusammengefaßt: „An interesting and valuable group of investigators, whose work still goes on, appeared first in a rudimentary form in the nineteenth century. The leader of this group was a certain Lady Welby (1837—1912), who was frankly considered by most of her contemporaries as an unintelligible bore. She corresponded copiously with all who would attend to her, harping perpetually on the idea that language could be made more exactly expressive, that there should be a 'Science of Signifies'. C. K. Ogden and a fellow Fellow of Magdalene College, I. A. Richards (1893—1977), were among the few who took her seriously. These two produced a book, The Meaning of Meaning, in 192324 which counts as one of the earliest attempts to improve the language mechanism. Basic English was a by-product of these enquiries. The new Science was practically unendowed, it attracted few workers, and it was lost sight of during the decades of disaster. It was revived only in the early twenty-first century." Das ist 1933 geschrieben, im gleichen Jahr also, in dem der polnische Mathematiker A. Korzybski sein anregendes großes Buch Science and Sanity25 veröffentlicht hat. Korzybski, der so ziemlich die gleichen Gedankengänge wie Ogden und Richards verfolgt und seine Betrachtungsweise als „general semantics" bezeichnet, hat eine Bewegung ins Leben gerufen, die gegen den Mißbrauch von Abstraktionen und andere Gefahren der Sprache unerbittlich zu Felde ziehen sollte. Die Allgemeine Semantik ist von Stuart Chase, H . R. Walpole, T. C. Pollock u.a. geschickt populär gemacht worden und hat in Amerika erstaunlich viele Anhänger gefunden. Man hat mehrere gutbesuchte Kongresse abgehalten und gibt eine Zeitschrift mit dem Titel ETC. heraus — mit besonderem Nachdruck befürwortet Korzybski ja den reichlichen Gebrauch von e t c.-s, um damit anzuzeigen, daß Aufzählungen unvollständig sind. Manche Gedanken von Korzybski sind für den Unterricht und die Behandlung von Nervenleiden praktisch genutzt worden. N u n ist natürlich zu fragen, ob die Semantik dieser beiden Schulen etwas zur Sprachwissenschaft beizutragen hat. Bisher hat man wohl gelegentlich Verbindung aufgenommen, sich aber nicht um eine systematische Zusammenarbeit bemüht. Wenn man die Frage schon stellt, tut man gut daran, den Bogen gleich weiter zu spannen und auch Arbeiten von Philosophen heranzuziehen, die zwar keiner der beiden Richtungen angehören, aber doch die gleichen Probleme behandeln. Einige der bedeutendsten Vertreter der Philosophie der Gegenwart wird man hier anführen müssen — Russell, Ayer, Urban, Cassirer und Bühler, 24 25

London, 10 1949. Lakeville, Conn., 3 1950. Eine vernünftige Beurteilung der Allgemeinen Semantik findet sich bei M. Schlauch, The Gift of Tongues (London, 3 1949), S. 127—132. Kritischer sieht sie K. Burke, The Philosophy of Literary Form (Louisiana, 1941), S. 138—167 u. A Grammar of Motives (New York, 1945), S. 238 if.

Semantik

und

Philosophie

9

um nur einige große N a m e n zu nennen. 26 Inwiefern sind ihre Theorien f ü r die philologische Bedeutungsforschung r e l e v a n t ? Auf philosophischer Seite bestehen beträchtliche Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Relevanz, zumindest wird sie unterschiedlich eingeschätzt. D a ß man sich nach Standpunkt und Methode grundlegend von der empirischen Philologie unterscheidet, wird gemeinhin anerkannt, nur zieht man widersprechende Schlüsse aus diesem Sachverhalt. Die Absage hat Stuart Chase mit bezeichnender Schärfe so formuliert: „. . . I looked for the first time into the awful depths of language itself—depths into which the grammarian and the lexicographer have seldom peered, for theirs is a different business. Grammar, syntax, dictionary derivations, are to semantics as a history of the coinage is to the operations going on in a large modern bank." 2 7 Der Standpunkt des Allgemeinen Semantikers kehrt, freilich auf ganz anderer Ebene, bei einem Philosophischen Semantiker wieder, wenn sich A . H o f stadter in einem scharfsinnigen Aufsatz mit den Beziehungen zwischen der Sprache und dem Außersprachlichen auseinandersetzt. 28 Nach Hofstadter läßt sich die Sprache und ihr Bezug zum Inhalt unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Sieht man die Sprache als „calculus, i. e. as a set of rules governing the operations of construction and transformation permitted within the language" an, dann kommt der „Semantik" die Entscheidung über die Frage nach den Beziehungen zwischen der Sprache und dem nichtsprachlichen Bereich zu. Sieht man die Sprache dagegen „as a complicated empirical phenomenon, as an institutional and more or less shifting set of modes of behavior of individuals within a sociological group" an, dann sind die Beziehungen zwischen der Sprache und ihrem Inhalt nicht mehr semantischer, sondern objektivpsychologischer N a t u r . Außerhalb der eigentlichen „Semantik" hat A . J . Ayer den gleichen Gegensatz herausgestellt, und zwar am Schluß der Einleitung zur zweiten Auflage seines Buches Language,

Truth

and

Logic-.

„To say of them /philosophical propositions/ that they are, in some sense, about the usage of words, is, I believe, correct but also inadequate; for certainly not every statement about the usage of words is philosophical. Thus, a lexicographer also seeks to give information about the usage of words, but the philosopher differs from him in being concerned . . . not with the use of particular expressions but with classes of expressions; and whereas the prop26

27 28

B. Russell, An Inquiry into Meaning and Truth (London, 4 1951) u. Human Knowledge: Its Scope and Limits (New York, 1948); K. Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (Jena, 1934); E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. I: Die Sprache (Berlin, 1923); Ayer u. Urban, a. a. O., usw. S. Chase, The Tyranny of Words (London, 7 1950), S. 4. A. Hofstadter, „On Semantic Problems" ( T h e Journal of Philosophy, 35, 1938, S. 225—232), bes. S. 230 ff. Er verwendet die Terminologie der Tarski-Sdiule.

10

Was ist Semantik f

ositions of the lexicographer are empirical, philosophical propositions, if they are true, are usually analytic." 2 9 Statt das Trennende zwischen beiden „Semantiken" zu betonen, legen andere Gelehrte das Schwergewicht lieber auf das, was sie miteinander verbindet. U r b a n z.B. räumt zwar ein: „Over against semantics in the linguistic sense we may set the field of philosophical semantics", meint aber doch : „The linguist cannot solve his problems w i t h o u t t r e n c h i n g o n t h e philos o p h i c a l , nor can the logician and philosopher solve theirs without linguistic analysis" (S. 39; nachtr. gesperrt); und er schließt nach einem mit gewissem Vorbehalt angeführten längeren Yoßler-Zitat: „There are certain problems which linguistic science cannot itself solve. These problems culminate in that of the value of language or linguistic validity . . ." (S. 40). Urban steckt das Gebiet der sprachwissenschaftlichen Semantik allerdings zu großzügig ab; seiner Ansicht nach hat sie es mit „language . . . envisaged as an instrument of thought" zu tun, wozu audi „the analysis of grammatical relations, morphology and syntax, and the significance of the life of words" gehören (S. 38). Aber auch wenn er später (S. 95) den Zuständigkeitsbereich dieser Wissenschaft etwas enger faßt, kommt er im Grunde zu dem gleichen Ergebnis: „The nature of linguistic meaning, the historical mutations of meaning, problems of translation . . . all these are problems of semantics, and at all these points problems of a philosophical nature arise." Es mag überraschen, daß sogar Carnap davon überzeugt ist, seine sogenannte „logische Syntax der Wissenschaftssprache" sei f ü r die Sprachwissenschaft relevant. Sein Standpunkt kommt am Schluß der Einleitung zu seiner Logischen Syntax der Sprache2911 klar zum Ausdruck, den wir darum ausführlich zitieren wollen: „Die Methode der Syntax, die im folgenden entwickelt werden soll, wird nicht nur der logischen Analyse wissenschaftlicher Theorien dienen können, sondern auch der l o g i s c h e n A n a l y s e d e r W o r t s p r a c h e n . . . Das bisher übliche Vorgehen der direkten Analyse der Wortsprachen mußte 29

29a

a . a . O . , S. 26 (weitere Lit.-Verweise ebd. Anm. 1). Vgl. ferner folgende Stellen: „Accordingly, one should avoid saying that philosophy is concerned with the meaning of symbols, because the ambiguity of 'meaning' leads the undiscerning critic to judge the result of a philosophical enquiry by a criterion w h i d i is not applicable to it, but o n l y to an empirical enquiry concerning the psychological e f f e c t w h i d i the occurrence of certain symbols has on a certain group of people. Such empirical enquiries are, indeed, an important element in sociology and in the scientific study of a language; but they are quite distinct f r o m the logical enquiries w h i d i constitute philosophy" (S. 69). „There is a ground for saying that t h e philosopher is a l w a y s concerned w i t h an artificial language. For the conventions which w e f o l l o w in our actual usage of words are not altogether systematic and precise" (S. 70, A n m . 1). [n. d. Orig. zit. (Schriften zur wiss. Weltauffassung, Bd. 8; Wien, 1934), S. 8.]

Semantik und Philosophie

11

ebenso scheitern, wie ein Physiker scheitern würde, wenn er von vornherein seine Gesetze auf die vorgefundenen Dinge, Steine, Bäume usw. beziehen wollte." U n d nachdem er die Frage der Methode an Beispielen aus der Mechanik und Geographie erläutert hat, schließt er etwas enttäuschend: „So wird sich die syntaktische Beschaffenheit einer bestimmten Wortsprache, etwa der deutschen, oder bestimmter Klassen von Wortsprachen oder einer bestimmten Teilsprache einer Wortsprache am besten durch den Vergleich mit einer als Bezugssystem dienenden konstruierten Sprache darstellen und untersuchen lassen. Diese Aufgabe liegt jedoch außerhalb des Rahmens dieses Buches." Die Stellungnahme des verstorbenen, hervorragenden amerikanischen Philologen Bloomfield ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil sie zeigt, wie selbst ein empirischer Sprachforscher, auf dem Weg über den Behaviorismus, zu einem radikalen Urteil über die wechselseitige Abhängigkeit von Sprache und Logik kommen kann. In seiner Abhandlung Linguistic Aspects of Science hat er die Linguistik mit der Logik nahezu gleichgesetzt, weil sie seiner Meinung nach „observes how people conduct a certain type of discourse." 30 Bloomfield war nicht der erste Philologe, der sich eine sehr aussichtsund einflußreiche wissenschaftliche Strömung zunutze zu machen suchte; im 19. Jh. hat das A. Schleicher mit der Darwinschen Entwicklungstheorie versucht, Max Müller u . a . mit den Naturwissenschaften ganz allgemein; und gerade diese Richtung hat zu den, der Sache und dem Begriff nach heftig umstrittenen „Lautgesetzen" geführt. Bloomfields Theorien und seine Mitarbeit an der International Encyclopedia of Unified Science beweisen indessen, daß man keineswegs nur außerhalb der Sprachwissenschaft die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Disziplinen betont. Das Problem der Beziehungen zwischen Sprache und Logik gehört zu den traditionellen Streitfragen in der Geschichte der Philosophie. Dennoch könnte zu seiner Klärung beitragen, wenn man die augenfälligsten und unüberwindlichsten Meinungsverschiedenheiten im Hinblick auf die jüngste Entwicklung auf beiden Gebieten überprüft. In folgenden Punkten unterscheidet sich die Alltagssprache von künstlichen Systemen: 1. Die Alltagssprache ist keineswegs e i n h e i t l i c h . 3 1 Horizontale und vertikale Grenzlinien durchkreuzen sie, Unterschiede in den Mundarten einerseits und in den Sprachgewohnheiten beruflicher, fachlicher und sozialer Gruppen andrerseits. Neuere Arbeiten auf dem Gebiet der Sprachgeographie haben das ganze Ausmaß solcher Verschiedenheiten aufgedeckt. Die Analyse alter Texte f ü h r t zu dem gleichen Ergebnis: Selbst die offensichtliche Einheitlichkeit 30

International Encyclopedia of Unified Science, Bd. 1, Nr. 4 (Chicago, 61955), S. 55 f.

31

D a m i t ist nichts über das Schwanken nicht-distinktiver Merkmale beim Sprechen gesagt; vgl. Carnap, Introduction, S. 5—8 u. Morris, Signs, S. 20, 37 u. 251.

Was ist

12

Semantik?

des geschriebenen L a t e i n s täuscht, da sie die sozialen u n d räumlichen Gegensätze verdeckt, die schließlich die E i n h e i t der R o m a n i a gesprengt h a b e n . Selbst die ältesten, durch Erschließung u n d Sprachvergleich verraten

ebensolche

mundartliche

erreichbaren

Differenzierung.32

Ob

man

Sprachformen sich nun

auf

3 0 0 0 v . C h r . o d e r 1 9 5 0 n. C h r . bezieht, eine v ö l l i g einheitliche Sprache bleibt eine F i k t i o n . 3 3 2. Ebenso irrig ist die A n n a h m e einer sich v ö l l i g

gleichbleibenden

Sprache. D a u e r n d sind l a n g - und k u r z f r i s t i g e Verschiebungen u n d V e r ä n d e r u n gen im G a n g e , auch tragen die jeweiligen U m s t ä n d e , unter denen sich die nachfolgenden G e n e r a t i o n e n die Sprache neu aneignen müssen, zu weiteren A b w e i chungen v o n der „ N o r m " bei. D e m k ö n n t e der logische Positivist

allerdings

entgegenhalten, er h a b e es m i t synchronen S y s t e m e n u n d nicht m i t Geschichte zu tun. A u f die Sprache bezogen h e i ß t „ s y n c h r o n " jedoch nicht „ u n v e r ä n d e r l i c h " . J e d e r synchrone S t a t u s ist a u f E n t w i c k l u n g a n g e l e g t ; d a u e r n d w i r d das Gleichgewicht gestört u n d wiederhergestellt. M i t den P r i n z i p i e n der f o r m a l e n S y s t e m e ist eine d e r a r t i g e W a n d l u n g s f ä h i g k e i t nicht v e r e i n b a r . Sie sind m e t h o disch ausgeklügelt u n d gelten, w e n n ü b e r h a u p t , nur a u f G r u n d eines „ c o n t r a t s o c i a l " , w o h i n g e g e n die Sprache sich unberechenbar entwickelt u n d da, w o sie es nötig h a t , ausgebessert, geflickt und w i e d e r in O r d n u n g gebracht werden k a n n . 3. Diese beiden A r g u m e n t e werden v o n N i c h t p h i l o l o g e n sichtigt; dagegen tionale

findet

selten

sich das dritte U n t e r s c h e i d u n g s m e r k m a l ,

u n d dynamische A s p e k t der Sprache, in fast allen

berück-

der

emo-

einschlägigen

philosophischen A r b e i t e n . E r gehört nachgerade zu den Lieblingsthemen

der

m e h r populärwissenschaftlichen „ S e m a n t i k e r " und w i r d v o n ihnen als wichtiger F u n d ausgegeben; aber auch in den entsprechenden wissenschaftlichen A r b e i t e n spielt er eine g r o ß e R o l l e . 3 4 Diese e m o t i o n a l e n F a k t o r e n sind unauflöslich m i t den intellektuellen E l e m e n t e n der Sprache v e r q u i c k t ; jeder Versuch, künstlich zu trennen, was faktisch u n t r e n n b a r ist, begegnet den v o n I . A . R i c h a r d s selbst eindringlich bezeichneten S c h w i e r i g k e i t e n : „ T h e y [sense a n d f e e l i n g / are, as a rule, i n t e r l i n k e d a n d c o m b i n e d v e r y closely, a n d the e x a c t dissection o f the one f r o m t h e o t h e r is sometimes an impossible a n d a l w a y s an e x t r e m e l y delicate a n d perilous o p é r a t i o n . " 3 5 Obgleich der P h i l o s o p h dieses P r o b l e m v o n 32

ganz

Dazu bes. A. Meillet, Les Dialectes indo-européens (Paris, 1908), der mit der Feststellung beginnt: „On ne rencontre nulle part l'unité linguistique complète". Siehe auch Brevier, S. 267 ff. u. Sturtevant, Introduction, S. 166 f.

33

Vgl. Firth, Paper s, S. 29.

34

Vgl. außer den Schriften von Ogden-Richards, Walpole, Russell, Ayer usw. auch K. Britton, Communication. A Philosopbical Study of Language (London, 1939). Die willensmäßige Seite der Sprache ist von der Sprachwissenschaft weniger beachtet worden als die gefühlsmäßige; vgl., was J. Vendryes in Le Langage (Paris, 4 1950), S. 162 f. über „le langage actif" ausführt.

35

I. A. Richards, Practical

Criticism

(London, 3 1935), S. 209.

Semantik und

Philosophie

13

anderer Seite her angeht als der Philologe," sind sich beide über das ständige Vorhandensein von gefühlsbestimmten Konnotationen in der Alltagssprache einig; darin unterscheidet sie sich von der N o r m , die von der logischen und wissenschaftlichen Sprechweise angestrebt wird, die aber nur in der formalen Zeichensprache der Mathematik und der Logistik ganz verwirklicht werden kann. 4. Das störende Einwirken des Gefühls und des Willens auf die „kognitive Struktur" („cognitive design") unserer Sprache ist nur ein Aspekt dessen, was man die „ I l l o g i z i t ä t " („illogicality") bzw. „Alogizität" („alogicality") der menschlichen Sprache genannt h a t . " Dies ist wiederum ein locus communis der modernen Philosophie und eine Grundthese, die so verschieden orientierte Vertreter wie Mauthner und Whitehead 3 8 gemeinsam haben. Gerade hieran entzündet sich in erster Linie das Interesse des Philosophen für sprachwissenschaftliche Fragen; es ist f ü r ihn der zwingendste Grund f ü r die Konstruktion künstlicher Sprachen und, nach Meinung der verschiedensten Gelehrten, die Wurzel von zumindest e i n i g e n Hauptproblemen der Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik. Viele Sprachwissenschaftler sind ebenso davon überzeugt, daß Sprache und Logik auf zwei grundverschiedenen Ebenen liegen und nichts miteinander zu tun haben. „To many philologists", bemerkt Jespersen, „the very word, logic is like a red rag to a bull"; 39 und Schuchardt kritisiert alle die Kollegen, denen es so sehr auf die Ausklammerung der Logik ankommt, „als ob ihnen mit der Logik ein Stein vom Herzen gefallen wäre." 4 0 Das Problem wird durch die Mehrdeutigkeit des Wortes 'Logik' noch erschwert. Es liegt ja auf der H a n d , daß die Sprache nicht unter dem gleichen strengen Gesetz steht wie die einzelnen Zweige der deduktiven Logik. Andrerseits muß sie als Kommunikationsmittel gewissen Mindestforderungen an Verständlichkeit, Klarheit und Folgerichtigkeit genügen. Auch die Sprache hat im üblichen Sinne des Wortes ihre Logik. Es ist freilich alles andere als eine strenge Logik, mehr eine Logik der Zweckmäßigkeit, die dem R a u m und der Zeit entsprechend wechseln kann: Verschiedene Sprachen, bzw. ein und dieselbe Sprache in ihren verschiedenen geschichtlichen Stadien, wählen ihre phonematischen Unterscheidungsmerkmale verschieden aus; auf manche H o m onymenkonflikte reagieren sie, auf andre wieder nicht; unterschiedlich verfahren sie auch mit den Begriffskategorien und reichen von allzu grober Veras

groß dieser Unterschied sein kann, zeigt die Kritik von Ogden-Richards an Vendryes' Behandlung der Frage (The Meaning of Meaning,

37 38

38

40

S. 152 f.).

[Vgl. Jespersen, SPE, Tract 16, S. 3 u. Mankind, S. 101.] Vgl. dazu W. M. Urban, „Whitehead's Philosophy of Language and its Relation to his Metaphysics" (in: P. A. Schilpps Library of Living Philosophers, Bd. 3 [The Philosophy of A. N. Whitehead], N e w York, 2 1951, S. 303—327). O. Jespersen, Mankind, Nation and Individual front a Linguistic Point of View (London, 2 1954), S. 101. Brevier. S. 258.

14

Was ist Semantik ?

einfachung bis zu erstaunlich subtiler Unterscheidung. Aber immer ist eine Spur von „Logik" mit im Spiel: Gewisse Lautmerkmale sind phonematisch; f ü r die mißverständlichsten H o m o n y m e wird Ersatz geschafft; Kategorien werden auf diese oder jene Weise bezeichnet. In gewissem Sinne ist die Behauptung richtig, daß diese Art von Logik zur Psychologie 41 wird und daß sie dem gesunden Menschenverstand, dem cartesianischen „bon sens", nähersteht als theoretischen Normbegriffen. Jespersen, der sich eingehend mit diesen Fragen beschäftigt hat, versuchte mit folgenden Bemerkungen zwischen zwei Extremen einen Mittelweg einzuschlagen: „Grammar does not contain the theoretic logic of the schools, or at least not the whole of that logic, but it contains what may be called a practical everyday logic; it embodies the common sense of untold generations as applied to those complex phenomena of human life which call for expression and communication: that is the chief purpose of language, and language has developed through an infinite number of momentary solutions of such problems of communication as arise every instant of our daily life." 42 In ihrer gemäßigten Richtung bewahrt sich die moderne Sprachwissenschaft also ebenso vor der veralteten Anschauung, die Grammatik sei Handlanger der Logik, wie vor dem anderen Extrem, die Beziehungen zwischen den beiden Wissenschaften überhaupt abzubrechen. Die bisher genannten sowie einige in unserem Zusammenhang weniger interessierende Charakteristika der Spradie haben die methodischen Prinzipien der Sprachwissenschaft bestimmt. Ihrer ganzen Art nach ist die Linguistik eine E r f a h r u n g s w i s s e n s c h a f t und zählt zu den Geisteswissenschaften, obgleich die Phonetik sie auch mit der Physik und mit der Physiologie verbindet. Was die Nachbarfächer angeht, so profitiert sie besonders von ihrem engen Kontakt zur Geistesgeschichte (Kultur, Literatur, Altertumskunde etc.), zur Psychologie und Soziologie. Darüber bestehen kaum Meinungsverschiedenheiten, 41

42

Dazu z . B . Schudiardt, Brevier, S. 214 f. u. 258. Steinthals Hauptthesen findet man bei H . Delacroix, Le Langage et la pensée (Paris, 2 1930), S. 35—42 zusammengestellt. Einen ganz ähnlichen Standpunkt hat B. Malinowski in seinem Aufsatz „The Problem of Meaning in Primitive Languages" (Supplement I zu The Meaning of Meaning, S. 296—336), S. 326 ff. vertreten. Jespersen, Logic and Grammar (SPE Tract, Nr. 16, 1924, S. 3—17), S. 4. Vgl. audi Mankind, S. 100—107 und The Philosophy of Grammar (London, 5 1948), Abschnitt „Syntax and Logic", S. 53 ff. M . M . B r y a n t u. J . R . A i k e n , Psychology of English (New York, 2 1962) diskutieren im 3. Kapitel „The Logic of English Grammar". Aus der Fülle der Stellungnahmen nenne ich nur L. Jordan, „La Logique et la linguistique" (Journal de Psychologie, 30, 1933, S. 45—56); L. Hjelmslev, Principes de grammaire générale (Kphg., 1928), S. 18—23; u. insbes. V. Brondal, „Langage et logique" (Essais de linguistique générale, Kphg., 1943, S. 49—71), w o man die verschiedenen Typen der Logik und ihre Bedeutung für die einzelnen Zweige der Sprachwissenschaft ausführlich erörtert findet. Die Zusammenarbeit von strukturalistisdier Sprachwissenschaft und Logistik befürwortet Hjelmslev, „Structural Analysis of Language" (Studia Linguistica, 1, 1947, S. 69—78), S. 74 fï.

Semantik

und

Philosophie

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denn es liegt einfach in der N a t u r ihres Gegenstandes, und man brauchte es nicht weiter zu erwähnen, wenn es nicht ein gewisses Erbe gäbe, mit dem die Linguistik noch nicht ganz fertig geworden ist. Von Aristoteles an, über die Scholastik, über Scaliger und Port-Royal, bis weit ins 19. Jh. hinein galt uneingeschränkt die Lehre vom l o g i s c h - g r a m m a t i s c h e n Parallel i s m u s ; man hielt es f ü r ein Axiom, daß zwischen der logischen und der grammatischen Struktur ein grundlegender Parallelismus bestünde und daß Probleme wie die Kopula und die Kategorien der Wortklassen und Satzteile entsprechend zu analysieren seien. Wie lähmend sich dieser Irrtum sowohl auf die Logik wie auf die Sprachwissenschaft ausgewirkt hat, zeigen inzwischen zwei Schriften von Ch. Serrus 43 ; mit einer Folgeerscheinung speziell wird sich das Schlußkapitel der vorliegenden Untersuchung beschäftigen. Überdies wurde unter „Grammatik" nur zu oft einfach die klassische, insbesondere die lateinische Grammatik verstanden; daher rühren die vielerlei Anstrengungen, die neueren Sprachen auf das Prokrustesbett der Formkategorien des Lateins zu spannen, und noch die vielen launischen Pedanterien in der Schulgrammatik. Unter dem Einfluß der Schulgrammatik wie anderer Mittel der sprachlichen Reglementierung hat die apriorische Parallelismus-These im Zeitalter des Rationalismus eine ausgesprochen n o r m a t i v e Tendenz bekommen. Die im Umkreis der Romantik ausgebildete neue Wissenschaft der Sprachvergleichung wandte sich bewußt von der normativen Sprachbetrachtung ab 44 , und durch sie bekam die Linguistik eine fast ausschließlich h i s t o r i s c h e Orientierung. Die bis dahin übliche Verbindung von deskriptiver und normativer Sprachbetrachtung hatte die „synchronische" Methode so sehr in Mißkredit gebracht, daß es über ein Jahrhundert gedauert hat, nämlich bis zum postumen Erscheinen des Saussureschen Cours, bis sie wieder gebührend zu Ehren kommen konnte. Auch in den letzten Jahrzehnten haben sich die Bindungen zwischen Sprachwissenschaft und Geschichte noch verstärkt, dank so verschieden gearteter Bestrebungen wie der „Wörter und Sachen"-Methode, Voßlers „Idealistischer Schule" und der „Feldtheorie". Etwas später erst hat sich der Standpunkt der Linguistik gegenüber der Logik und P s y c h o l o g i e herauskristallisiert. 1855 brachte Steinthal seine Abhandlung Grammatik, Logik und Psychologie heraus, in der er unmißverständlich die These von der psychischen N a t u r der sprachlichen Phänomene vertrat. Die engen Beziehungen zwischen den beiden Wissenschaften haben alle Krisen überdauert, obwohl sie darunter gelitten haben, daß man in umstrittene oder veraltete Theorien der Psychologie allzu großes Vertrauen gesetzt hat und Verfechter einer „phänomenologischen" Richtung gegen sie opponiert haben. Neuere Forsdiungsrichtungen wie z. B. der Behaviorismus, die Gestaltpsycholo43

44

Le Parallélisme logico-grammatical (Paris, 1933) u. La langue, le sens, la pensée (Paris, 1941), bes. S. 14. Jespersen, Language: Its Nature, Development and Origin (London, 1922), S. 24 ff.

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Was ist

Semantik?

gie und die Psychoanalyse, aber auch verschiedene Zweige der experimentellen Psychologie und Psychopathologie haben -wertvolle Beiträge zur Deutung sprachlicher Prozesse geliefert. Von den Semantikern hat als erster Stern diese Ergebnisse ausgewertet. Die Zusammenarbeit war immer dann besonders fruchtbar, wenn sich beide Seiten in der Form beteiligten, d a ß die Psychologen das von den Philologen gesammelte Erfahrungsmaterial benutzten; Freuds 45 Analyse der von Meringer und Mayer gesammelten sprachlichen Fehlleistungen ist nur ein schlagendes Beispiel dafür. Auch wird die Sprache heutzutage nicht als passiv und als bloßes Werkzeug betrachtet; man sieht in ihr vielmehr eine aktive Kraft, die die Vorstellungen und das Denken des Menschen in einem Ausmaß formt und prägt, wie man es früher nie vermutet hätte.45® Wenn in sprachwissenschaftlichem Zusammenhang von „Psychologie" die Rede ist, muß der Begriff ziemlich weit gefaßt werden. Man darf ihn nicht auf das Individuelle beschränkt sehen, sondern die entscheidenden s o z i o l o g i s c h e n Aspekte der sprachlichen Verständigung müssen dabei mit in Betracht gezogen werden. Seitdem es die Saussuresche Unterscheidung von „la parole" und „la langue" gibt, womit der individuelle Sprechakt von dem System der Zeichen unterschieden wird, das in allen Sprediern gespeichert und nicht willkürlich abzuändern ist, seitdem ist das soziologische Prinzip zu einer Art Prüfstein f ü r die Scheidung des eigentlich Sprachlichen vom Niditsprachlichen geworden. Die Psychologie kann andrerseits gut als Bindeglied zwischen Sprachwissenschaft und Logik fungieren. Ohne die psychologische Erforschung der Denkund Erkenntnisprozesse ist der sprachliche Bezeichnungsvorgang überhaupt nicht zu verstehen, auch ist die Logik von diesem Problemkreis nicht auszuschließen. 46 Das ist entschieden etwas anderes, als die Sprache mit der Logik gleichzusetzen, wie das einige außersprachwissenschaftlidie Semantiker und andere getan haben. 45

,5a

46

[Im 5. Kap. seiner Psychopathologie des Alltagslebens (Berlin, 5 1917) wertet Freud R. Meringer u. K. Mayer, Versprechen und Verlesen. Eine psychologisch-linguistische Studie (Stuttgart, 1895) aus.] Dies ist eine Hauptthese von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen; vgl. insb. auch seinen Aufsatz „Le Langage et la construction du monde des objets" (Journal de Psychologie, 30, 1933, S. 18—44) [ z . T . als „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt" in: Bericht über den Kongr. d. Dt. Ges. / . Psychol., 12, 1932, S. 134—145]. Auf sprachwissenschaftlicher Seite wird dieser Standpunkt vor allem von Weisgerber vertreten, etwa in Muttersprache und Geistesbildung (Göttingen, 1929). Weitere Literaturangaben bringt unser 3. Kap. Vgl. K. O. Erdmann, Die Bedeutung des Wortes. Aufsätze aus dem Grenzgebiet der Sprachpsychologie und Logik (Leipzig, 4 1925), bes. S. 66—73; O. Dittrich, Die Probleme der Sprachpsychologie . . . (Leipzig, 1913), Kap. 2; Gombocz, Kap. 3; Stern, S. 68—87 mit vielen Literaturangaben; vgl. auch seine Bemerkungen zur Terminologie, S. 46. Zum philosophischen Aspekt siehe E. Husserl, Logische Untersuchungen II, 1 (Halle, 4 1928), Abschn. 1, Kap. 3; zum psychologischen Aspekt siehe F. Kainz, Psychologie der Sprache, Bd. 1 (Stuttgart, 2 1954), S. 142—171.

Semantik und Philosophie

17

Es ist sehr bezeichnend, d a ß sogar Bloomfield die Konsequenzen der angeblichen Parallele zwischen Sprachwissenschaft u n d Logik nicht w a h r h a b e n will und erstere zwischen der Biologie einerseits u n d der Ethnologie, Soziologie und Psychologie andrerseits ansetzt, also auf der Mitte von naturwissenschaftlicher u n d kulturhistorischer Anthropologie. Diese Überlegungen sollten einige Kriterien an die H a n d geben, die f ü r die Bedeutung u n d A n w e n d b a r k e i t außerlinguistischer Theorien f ü r die Sprachwissenschaft im allgemeinen u n d f ü r die Semantik im besonderen maßgebend sind. Selbstverständlich sind damit nur einige A n h a l t s p u n k t e gegeben; sie sind weder u n f e h l b a r noch vollständig u n d nicht einmal unbestritten. Allem Anschein nach scheiden nichtsprachwissenschaftliche Theorien über die Sprache, die Bedeutung, den Satzbau u n d dgl. n i c h t notwendig u n d von vornherein als unwichtig f ü r den Philologen aus. Sie können vielmehr wertvolle Anregungen geben, solange sie nicht n o r m a t i v oder apriorisch gemeint sind und die b e w u ß t empirische u n d „psychologische" Ausrichtung der Sprachforschung nicht beeinträchtigen. Selbstverständlich m u ß „psychologisch" dabei in dem eben skizzierten weiteren Sinne verstanden werden, also einerseits die Soziologie u n d anderseits die der Sprache eigentümliche Logik des gesunden Menschenverstandes mit einbeziehen. Jede Sprachphilosophie, die diese weitgehend negativ bestimmten Bedingungen erfüllt, k a n n b e d e u t s a m s e i n : D e r Philologe m u ß sich damit befassen, wenn er auf dem laufenden bleiben u n d sich nichts entgehen lassen will, was ihn möglicherweise weiterführen könnte. H a t sie sidi erst einmal als sachdienlich erwiesen, wird man sie auf ihren wahren Wert hin p r ü f e n müssen; wenn sie dann noch überzeugt und f ü r nützlich befunden wird, kann sie getrost in die empirische Sprachwissenschaft einbezogen werden. M a n hüte sich jedoch, allzu sehr auf irgendeine bestimmte außersprachwissenschaftliche Theorie zu bauen, die selbst von der Philosophie nachher möglicherweise fallengelassen wird. Ein p a a r Beispiele f ü r in Frage kommende philosophische Theorien sind gewiß lehrreicher als die A u f z ä h l u n g negativer Kriterien. Folgende Gesichtsp u n k t e sind b z w . sollten bei der sprachwissenschaftlichen Bedeutungsforschung von Wichtigkeit sein: Das Dreieck-Schema von O g d e n u n d Richards; Bühlers Analyse der Sprechsituation als Ineinandergreifen von „Symbol, Signal u n d S y m p t o m " ; das entsprechende Schema im Sinne des Behaviorismus bei Bloomfield als Verkettung von Reiz u n d R e a k t i o n ; die Kontexttheorie der Bedeutung; Bertrand Russells Begriff der „ o b j e c t - w o r d s " " usw. All diese Theorien sind f ü r die sprachwissenschaftliche Semantik unbedingt w i c h t i g ; inwieweit sie auch r i c h t i g u n d n ü t z l i c h sind, m u ß von Fall zu Fall geprüft werden, u n d die vorliegende Arbeit w i r d sich in einigen Fällen auch d a r u m 47

2

[Vgl. dazu etwa T. T. Segerstedt, Die Macht des Wortes. Eine (Zürich, 1947), S. 54 f. und s. u. S. 59 f.] Ullmann

Sprachsoziologie

18

Was ist

Semantik?

bemühen. Schon jetzt ist nur allzu klar, daß vieles, was in philosophischen Kreisen über die Sprache geschrieben wird, offensichtlich irrelevant ist und den Blick verstellt. Wer als Philologe an größeren Zusammenhängen und an Grundsatzfragen interessiert ist, kann es sich nicht leisten, die Vorgänge außerhalb seines Fachgebietes außer acht zu lassen, selbst wenn er dabei radikal umlernen und sich ziemlich viel Neuland erarbeiten muß und mit der Terminologie und den praktischen Hilfsmitteln entsprechende Schwierigkeiten hat. Neben dieser s p e z i e l l e n B e d e u t u n g hat die Sprachphilosophie in zweifacher Hinsicht auch noch allgemeinere Bedeutung f ü r die Linguistik. Die Sprachwissenschaftler dürfen, wie andere Wissenschaftler auch, an philosophischen Grundsätzen wissenschaftlicher Terminologie und an anderen Problemen der allgemeinen Methodologie nicht desinteressiert sein. Im Gegenteil, gerade ihr Sprachgebraudi, und insbesondere der der Grammatiker, hat eine Revision bitter nötig. Von dem terminologischen Durcheinander in der Semantik haben wir uns überzeugen können; aber in der Syntax ist die Verwirrung sogar noch größer. Hier kann man unbedenklich normativ verfahren, und mit der „Methode der mehrfachen Definition" 4 8 ließe sich in etwa System in die 200 einander widersprechenden Definitionen des Satzes bringen. 49 In bezug auf die Schulgrammatik mit ihren veralteten und irreführenden Latinismen, die von Jespersen und Brunot unbarmherzig entlarvt worden sind, bleibt mit Firth nur zu hoffen, daß nach einer gehörigen „Durchleuchtung" der Grammatiken „our children would cease to worry about the accusative case in English, the British transmogrification of the ablative absolute, and all the rest of the 'bogus' grammar which teachers of classics impose on the domestic slaves who 'do' the vernacular languages". 50 Solche Studien können f ü r den Philologen und den Grammatiker also sehr von Vorteil sein; aber er wird als Wissenschaftler schlechthin und nicht in erster Linie als Linguist davon profitieren; denn es geht nicht sein Fach speziell an, sondern das, was ihn mehr oder weniger mit Vertretern anderer Wissensgebiete verbindet. Die Sprachphilosophie ist drittens in noch allgemeinerem Sinne von deutung: Wenn die Korzybski-Chase Schule der „Semantik" ihre Thesen härten kann, werden „semantische" Heilverfahren in vielen Lebenslagen, wohl im Inland wie im Ausland, gefragt sein. Die Philologen könnten sich, 48

48

50

Beersowie

[„the technique of multiple definition" ist ein Begriff, den Firth v o n I. A. Richards übernimmt und der bei ihm im Zusammenhang mit der Einbeziehung des Kontextes („contextualisation") eine Rolle spielt; vgl. Papers, bes. S. 10 f . ] Vgl. auch R. Robinson, Definition ( O x f o r d , 2 1962). Dieses Problem ist am eingehendsten v o n J. Ries, „Was ist ein Satz?" {Beiträge zur Grundlegung der Syntax, H e f t 3, Prag, 1931) behandelt worden; vgl. auch Gardiner, Speech, bes. S. 237 ff. Tongues, S. 120. Mit dem Problem, eine geeignete Metasprache für die Beschreibung der Sprache zu finden, hat sich Firth in dem bereits zit. A u f s a t z „The Semantics of Linguistic Science" auseinandergesetzt.

Semantik und Philosophie

19

alle anderen vernünftigen Menschen auch, an solchen Unternehmungen beteiligen, wenn es je dazu kommen sollte; „but" — wie Margaret Schlauch sagt — „in that event we shall all be acting together as citizens anxious to correct an abuse. We shall have left our studies and laboratories to participate in the affairs of the market place" ( G i f t of Tongues, S. 132). Bisher haben wir fast ausschließlich von der Bedeutung der Philosophie f ü r die Sprachwissenschaft gesprochen. Die Entscheidung darüber liegt letztlich bei den Philologen, weil sie am besten die Erfordernisse ihres Faches kennen. Ähnlich müssen audi die Philosophen selbst entscheiden, ob ein Beitrag, den die empirische Sprachwissenschaft geleistet hat oder leisten könnte, in ihrem Zusammenhang von Bedeutung wäre. Es steht aber audi fest, daß beide Seiten bei der augenblicklichen Lage der Dinge darunter leiden, daß sie über die gegenseitigen Möglichkeiten unzulänglich unterrichtet sind und daß eine Zusammenarbeit in größerem Rahmen längst fällig ist. Einen ersten Vorstoß in dieser Richtung haben vor einiger Zeit die beiden Philosophen A. H . Basson und D. J. O'Connor in der Absicht unternommen, die Bedeutung der Sprachwissenschaft f ü r die Philosophie von der Empirie her zu prüfen. Sie haben einen Fragebogen an englische Vertreter nicht-indogermanischer Philologien verschickt, um zu ermitteln, ob die Strukturunterschiede zwischen nicht-indogermanischen und indogermanischen Sprachen Aufschluß darüber geben können, inwieweit die logische Struktur durch die sprachliche Struktur determiniert wird. Die Ergebnisse dieser ersten versuchsweise durchgeführten Umfrage 5 1 konnten nur ziemlich dürftig ausfallen, u. a. angeblich „because of the exceedingly unsatisfactory state of linguistic science" (S. 61). Aber auch in diesem Anfangsstadium hat man schon interessante Beobachtungen über den sprachlichen Ausdruck f ü r Essenz und Existenz sammeln können (S. 59 f.), und mehrere vielversprechende Untersuchungsmethoden sind skizziert worden: Verschiedene sprachliche Ausformungen ein und derselben philosophischen Tradition seien zu vergleichen (Averroes, Avicenna, Maimonides); östliche und abendländische Philosophien seien miteinander zu vergleichen; Übersetzungen von Standardwerken der abendländischen Philosophie kritisch zu prüfen etc. (S. 52 f.). Es bieten sich auch noch andere Gesichtspunkte dafür an, wie die Untersuchung weiter ausgebaut werden könnte. So wären Philosophen mit einer nicht-indogermanischen Muttersprache zu befragen 52 , um festzustellen, ob Mauthner mit dem Satz, 51

62

2*

A. H . Basson-D. J. O'Connor, „Language and Philosophy. Some Suggestions for an Empirical Approach" (Philosophy, 22, 1947, S. 49—65). Eine aufschlußreiche Ubersicht über die Ansichten der Cambridge-School über den Zusammenhang von Alltagssprache und philosophischen Problemen gibt N . Malcolm, „Moore and Ordinary Language" (in: P. A. Schlipps Library of Living Philosophers, Bd. 4 [The Philosophy of G. E. Moore], Evanston and Chicago, 1942, II, 13). Vielleicht ist es mehr als Zufall, daß einer der ersten Versuche, ein nichteuklidisches System der Geometrie aufzubauen, von einem Mathematiker mit einer nichtindogermanischen Muttersprache, nämlich von dem Ungarn Bolyai stammt. Vgl. Serrus, La Langue, S. 128.

20

Was ist Semantik f

der als Motto über den Aufsatz gesetzt ist, recht h a t : „ H ä t t e Aristoteles Chinesisch oder Dakotaisch gesprochen, er hätte zu einer ganz anderen Logik gelangen müssen, oder doch zu einer ganz anderen Kategorienlehre." 53 Die Philologen sollten nicht nur über heutige Erscheinungsformen befragt werden, sondern auch über geschichtliche Vorstufen und Entwicklungen, soweit sie philosophisch von Interesse sind, also z. B. über den Übergang von synthetischer zu analytischer Bauform. Wie auch in einer Antwort auf den Fragebogen dringend empfohlen worden ist, sollte neben der Syntax auch die Semantik aufgenommen werden. Von dem Ergebnis einmal abgesehen, beweist allein schon die Tatsache, daß gerade zu diesem Zeitpunkt eine derartige Umfrage veranstaltet wurde, wie lebhaft eine Zusammenarbeit gewünscht wird, die sich auch noch durchsetzen und wichtige Folgen haben könnte. 5 4 In diesem Zusammenhang ist besonders wichtig, wie sich die Sprachwissenschaft zu der von der Philosophischen Semantik erwogenen allgemeinen T h e o r i e d e r Z e i c h e n stellt. Außer Zweifel steht, daß der kleinste Fortschritt, der in der Grundsatzforschung über den Bezeichnungsvorgang erzielt wird, unmittelbar auch die Sprachforschung angeht; 55 einige Philosophen sind aber noch weiter gegangen und haben dafür plädiert, die gesamte Sprachwissenschaft in die „Semiotik" miteinzubeziehen. C. W. Morris hat seinen Vorschlag mit dem Hinweis erläutert, die drei Teilgebiete der Theorie der Zeichen — Semantik, Pragmatik und Syntax — sollten auch die drei Zweige der Linguistik bilden, und die Semiotik könne dem Philologen eine „Metasprache", eine einheitliche und vom Indogermanischen nicht gefärbte Terminologie bieten, in der sich alle Sprachen der Welt beschreiben ließen. 58 Das sind wohl zu hochfliegende Pläne, und das mit einem solchen Projekt verbundene Apriori wird den Empiristen wohl gegen den Strich gehen. Sollte aber tatsächlich einmal Gestalt annehmen, was eine Theorie der Zeichen genannt zu werden verdient, müßten, ebenso wie alle anderen Symbole und Zeichen, fraglos die sprachlichen Symbole automatisch mit zu ihrem Zuständigkeitsbereich gehören. Als erster hat Saussure selbst mit dieser Möglichkeit gerechnet, als er von der „Semiologie" als einer zukünftigen Wissenschaft sprach, von der die Sprachwissenschaft nur ein Zweig 63

54

55 56

[n. d. Orig. zit.: Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 3 (Stuttgart/Berlin, 2 1913), S. 4.] Anschauungsmaterial zu diesem speziellen Problem geben z. B. E. Sapir u. M. Swadesh, „American Indian Grammatical Categories" (Word, 2, 1946, S. 103— 112) u. Y. R. Chao, „The Logical Structure of Chinese Words" (Language, 22, 1946, S. 4—13). Für Philosophen dürften auch sprachwissenschaftliche Studien über die Ausbildung von Berufs- und Fadisprachen, die eine Bedeutungsspezialisierung zur Folge haben, interessant sein; ferner die Geschichte der philosophischen Begriffe; Arbeiten über die Sprechgewohnheiten der Primitiven (Levy-Bruhl, Malinowski, Sommerfeit), u. a. Ogden-Richards, S. 48. Morris, Signs, S. 220—223 u. S. 279 f.; auch schon Foundations, S. 55. Vgl. auch Buyssens, Langages, Kap. 1 und Segerstedt, S. 46—73.

Semantik

und

Philosophie

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sein würde. 57 Dabei ist aber zu bedenken, daß er bloß eine Wissenschaft der gemeinsdiaftsgebundenen Zeichen geplant hat, „eine Wissenschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens untersucht" (S. 19; f. A. S. 33), in der die Sprache neben der Schrift, dem Taubstummenalphabet, neben Ritualformen, Höflichkeitsformeln, neben Signalen, wie sie im Militärwesen, in der Schiffahrt und im Verkehr gebräuchlich sind, etc. erscheinen würde. In diesem Gefüge wäre für apriorische Disziplinen, wie z. B. die symbolische Logik, kein Raum. Die Theorie der Zeichen sollte natürlich auch deduktive ZeichenSysteme miteinbegreifen; aber dann müßte zwischen den aus der Erfahrung abgeleiteten Systemen einerseits und dem Logikkalkül andererseits scharf geschieden werden. 58 In seinem V o r w o r t " zu Wittgensteins Tractatus schrieb Bertrand Russell 1922: „Hier ergeben sich im Hinblick auf die Sprache verschiedene Probleme. Erstens ergibt sich die Frage nach dem, was tatsächlich in unserem Verstand vorgeht, wenn wir die Sprache verwenden, um etwas damit zu meinen; diese Frage gehört in das Gebiet der Psychologie. Die zweite Frage betrifft die Natur der Beziehung zwischen Gedanken, Worten oder Sätzen und dem, was diese bedeuten oder meinen; diese Frage gehört in den Bereich der Erkenntnistheorie. Drittens ist da das Problem, die Sätze so zu verwenden, daß sie Wahrheit und nicht Falschheit zum Ausdrude bringen; dies gehört in das Gebiet derjenigen Spezialwissenschaft, die es mit dem Gegenstand des betreffenden Satzes zu tun hat. Die vierte Frage lautet: 'Welche Beziehung muß eine Tatsache (wie zum Beispiel ein Satz) zu einer anderen Tatsache haben, um ein Symbol für diese sein zu können?' Dies ist endlich eine logische Frage . . 57

Cours, S. 1 8 — 2 1 ; f. A. S. 32—35. Vgl. audi die Bemerkungen bei Ogden-Richards, S. 6 ; Firth, Papers, S. 17; L. Hjelmslev, Omkring Sprogteoriens Grundlxggelse (Kphg., 1943), S. 95 f. In seinem Aufsatz „Linguistique et théorie du signe" (Journal de Psychologie, 42, 1949, S. 1 7 0 — 1 8 0 ) glaubt J . Kurylowicz semiologische Gesetze durch einen Vergleich phonologisdier und semantischer Gesetze erarbeiten zu können.

58

R. Jakobson, „The phonemic and grammatical aspects of language in their interrelations" (Actes du 6e Congrès International de Linguistes, Paris, 1949, S. 5—18), S. 6 f. untersucht Sprachsymbole in der Sprache der „Semiotik". Auch will er in einem Buch „Sound and Meaning" diese Betrachtungsweise anwenden (vgl. Morris, Signs, S. 280). In einem Privatbrief vom 23. 6. 1948 betrachtet Jakobson sie als „an urgent 'second front' for the linguists who utilised the achievements of acoustics and sound physiology, submitted them to linguistic criteria and thus annexed the speech sounds to the proper science of language creating a special province of this science called phonemics", to „utilize the achievements of symbolic logic and similar trends, submit them to linguistic criteria", and thus lay the „foundations of linguistic semantics."

59

[zit. n. d. Übers, v. M. Bierich, in: L. Wittgenstein, Schriften, Beiheft (Frankfurt/M., 1960), S. 68. Vgl. auch S. 78.]

Was ist Semantik ?

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Diesen vier Betrachtungsweisen mag eine fünfte hinzugefügt werden: Die Sprachwissenschaft, die Erforschung der Sprache selbst als ein Tatbestand der Erfahrung. Von den übrigen vier Fragestellungen ist für den Philologen nur eine irrelevant: Die von außen von der Einzel Wissenschaft zu entscheidende Frage nach 'wahr' und 'falsch'. Die übrigen drei gehen ihn alle an, nur sind sie von unterschiedlicher Bedeutung, wie aus einem einfachen Diagramm hervorgeht:

Sprachwissenschaft

Psychologie j

Logik Erkenntnistheorie

Einzelwissensdiaflen

Diese Anordnung zeigt, daß Logik und Erkenntnistheorie nur indirekt etwas mit der Sprachwissenschaft zu tun haben, nämlich nur auf dem Weg über die Psychologie. Daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn man die Sprache als ein System von Symbolen auffaßt, die allen Vertretern einer Sprachgemeinschaft eingeprägt sind. Eben diese psychologische und soziologische Konzeption wird bei der Bestimmung maßgebend sein, welcher Bereich der Sprachwissenschaft und welcher darin der Semantik zukommt. Davon wird der nächste Abschnitt handeln.

3. S E M A N T I K U N D

SPRACHWISSENSCHAFT

Wie ist die Semantik in das Gefüge der Sprachwissenschaft einzuordnen? Offensichtlich kommt ihr eine Schlüsselstellung zu. Die Bedeutung spielt im System der Sprache eine so wichtige Rolle, daß ihrer Erforschung ein H a u p t gebiet gewidmet sein muß. Eine wirkliche Einordnung ist aber nicht möglich, solange man an der althergebrachten Dreiteilung in Phonologie, Morphologie und Syntax festhält. 60 Solange dieses Schema nicht aufgegeben wird, kann die Semantik nichts weiter als eine zufällige Beigabe sein wie etwa in der Einteilung, die L. H . Gray in seinen Foundations of Language61 vorgeschlagen h a t : „Language . . . has two aspects: physiological or mechanical, and psychological or non-mechanical . . . each of these aspects has two sub-divisions: p h o n o l o g y and m o r p h o l o g y for the mechanical side; s y n t a x and s e m a n t i c s for the psychological; and in addition to these, there is a fifth subject of investigation, e t y m o l o g y , which is essentially historical in character." 60

81

Frühere Versuche zu einer solchen Einordnung bespricht E. Richter, „Die Rolle der Semantik in der historischen Grammatik" (GRM, 2, 1910, S. 231—243), S. 243, Anm. 1. ( N e w York, 2 1950), S. 144 f.

Was ist Semantik ?

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Diesen vier Betrachtungsweisen mag eine fünfte hinzugefügt werden: Die Sprachwissenschaft, die Erforschung der Sprache selbst als ein Tatbestand der Erfahrung. Von den übrigen vier Fragestellungen ist für den Philologen nur eine irrelevant: Die von außen von der Einzel Wissenschaft zu entscheidende Frage nach 'wahr' und 'falsch'. Die übrigen drei gehen ihn alle an, nur sind sie von unterschiedlicher Bedeutung, wie aus einem einfachen Diagramm hervorgeht:

Sprachwissenschaft

Psychologie j

Logik Erkenntnistheorie

Einzelwissensdiaflen

Diese Anordnung zeigt, daß Logik und Erkenntnistheorie nur indirekt etwas mit der Sprachwissenschaft zu tun haben, nämlich nur auf dem Weg über die Psychologie. Daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn man die Sprache als ein System von Symbolen auffaßt, die allen Vertretern einer Sprachgemeinschaft eingeprägt sind. Eben diese psychologische und soziologische Konzeption wird bei der Bestimmung maßgebend sein, welcher Bereich der Sprachwissenschaft und welcher darin der Semantik zukommt. Davon wird der nächste Abschnitt handeln.

3. S E M A N T I K U N D

SPRACHWISSENSCHAFT

Wie ist die Semantik in das Gefüge der Sprachwissenschaft einzuordnen? Offensichtlich kommt ihr eine Schlüsselstellung zu. Die Bedeutung spielt im System der Sprache eine so wichtige Rolle, daß ihrer Erforschung ein H a u p t gebiet gewidmet sein muß. Eine wirkliche Einordnung ist aber nicht möglich, solange man an der althergebrachten Dreiteilung in Phonologie, Morphologie und Syntax festhält. 60 Solange dieses Schema nicht aufgegeben wird, kann die Semantik nichts weiter als eine zufällige Beigabe sein wie etwa in der Einteilung, die L. H . Gray in seinen Foundations of Language61 vorgeschlagen h a t : „Language . . . has two aspects: physiological or mechanical, and psychological or non-mechanical . . . each of these aspects has two sub-divisions: p h o n o l o g y and m o r p h o l o g y for the mechanical side; s y n t a x and s e m a n t i c s for the psychological; and in addition to these, there is a fifth subject of investigation, e t y m o l o g y , which is essentially historical in character." 60

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Frühere Versuche zu einer solchen Einordnung bespricht E. Richter, „Die Rolle der Semantik in der historischen Grammatik" (GRM, 2, 1910, S. 231—243), S. 243, Anm. 1. ( N e w York, 2 1950), S. 144 f.

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Sprachwissenschaft

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Obwohl sidi Gray bemüht, sein Schema in etwa auf ein Einteilungsprinzip zu beziehen, zeigt sich doch gleich, daß die Semantik als bloßes Anhängsel dem bereits vorhandenen Schema angefügt wird. Audi die Stellung der Etymologie — oder sagen wir ihre Autonomie — folgt nicht notwendig aus der allgemeinen Anordnung. Bei Bloomfield geht es nicht anders, nur versucht er dadurch aus der Zwickmühle herauszukommen, daß er das Gebiet der Semantik vergrößert und dabei „Grammatik" und „Lexikon" mit hinzunimmt. Im Idealfall würde die Sprachwissenschaft sich also aus zwei Abteilungen zusammensetzen: Aus Phonetik und Semantik. 62 An dieser Lösung wäre nichts auszusetzen, was den Status der Semantik angeht. Aber das wird nur damit erkauft, daß ihr Aufgabenkreis übermäßig ausgeweitet wird, um audi solche Gebiete der Sprache umfassen zu können, die eindeutig anderswohin gehören. Nicht die Bedeutungsforschung also, sondern ein neuartiges Gebilde gleichen Namens wird hier der Sprachwissenschaft zugrunde gelegt. D a ß die Bedeutung in dem System nicht richtig untergebracht werden kann, wäre an sich schon Grund genug, es eingehend zu überprüfen. Aber auch andere, ebenso zwingende Gründe sprechen dafür. So etwa sind Morphologie und Syntax nicht streng voneinander zu scheiden. In Historischen Grammatiken wie auch in theoretischen Arbeiten wird häufig beklagt, daß eine solche eindeutige Abgrenzung fehlt. Darf man z.B. mit v . W a r t b u r g (Einführung, S. 94) behaupten, daß beim Übergang von lat. 'ancillae' zu frz. 'ä la servante' „das Formelement —ae .. . durch eine syntaktische Konstruktion ersetzt" wird? Worauf kann sich eine stichhaltige Unterscheidung zwischen zwei sprachlichen Mitteln stützen, die doch beide den gleichen Bezug ausdrücken, nur einmal durch Flexion und einmal mit Hilfe unabhängiger Partikeln? Beide Ausdrucksmöglichkeiten gehen die Morphologie an, denn sie verwenden formale Elemente, um eine bestimmte „Bedeutung" zu vermitteln. Beide gehen aber zugleich auch die Syntax an, da die so angezeigte „Bedeutung" eine Beziehung ausdrückt. v.Wartburg hat freilich recht, wenn er quasi entschuldigend sagt: „Die Grenzen zwischen Morphologie und Syntax sind Schwankungen unterworfen. Das gilt ebenso f ü r die Abgrenzung von Syntax und Lexikon" (ebd.). Das gleiche Unbehagen ist bei Migliorini 63 und anderen Philologen, die sich mit diesen Dingen befassen, zu spüren. Wie nicht anders zu erwarten war, ist bei einer ausführlichen Diskussion des Problems auf dem Sprachwissenschaftlichen Kongreß von 1948 auch nur wenig herausgekommen. 64 Die Unterscheidung zwischen Morphologie und Syntax versagt nicht nur 62

Bloomfield, Language, S. 74, 138 u. 513; Firth, Papers, S. 15 f. Vgl. K u r y l o w i c z , a. a. O., S. 170, A n m . 1 und Sdiuchardt, auf dessen Standpunkt wir im 2. Abschnitt des 4. Kapitels [s. u. S. 199 f . ] noch näher eingehen werden.

63

Linguistica

64

Vgl. dazu B. Trnkas zusammenfassenden Bericht über das Ergebnis der U m f r a g e (Actes du 6e Congres, S. 19—301.

(Florenz, 2 1950), S. 33 ff.

Was ist

24

Semantik?

in der Praxis; theoretisch ist sie ebensowenig haltbar, wenn diese Termini nicht völlig anders als im geläufigen Sinne gebraucht werden sollen. G a n z allgemein gesprochen scheint die Syntax die Wissenschaft von den Beziehungen zu sein, die folgerichtig als Gegenstück eine Wissenschaft von den Beziehungsgrößen fordert. Die Morphologie ihrerseits ist die Wissensdiaft von den Sprachformen, die durch die Bedeutungsforschung ergänzt werden muß. Beides nebeneinander stellen zu wollen heißt die Grundregeln wissenschaftlicher Klassifikation außer acht lassen. Die Unterteilung betrifft weder das Ganze noch Gleichartiges; vielmehr vermengt sie zwei einander überschneidende Prinzipien der logischen Analyse. Wieder einem anderen Einteilungsprinzip, der Unterscheidung von „generellen" und „speziellen" Merkmalen zufolge, wird die „Lexikologie" als Wissensdiaft von den Wörtern außerhalb der „ G r a m m a t i k " , dem eigentlichen K e r n stück der Sprachbetrachtung, angesetzt." Diese Dichotomie scheint auf den ersten Blick der bestehenden Zweiteilung in Grammatik und Lexikon zu entsprechen; diese sind jedoch nur zweckmäßige Arbeitsmethoden und nidit von der Sprache selbst vorgegeben. Wie Saussure gezeigt hat, gibt es keinen triftigen Grund dafür, die „grammatikalische" Gruppe 'dico-dicor' von der „lexikalischen" Gruppe 'facio-fio' zu trennen, nur weil der Gegensatz von Aktiv und Passiv mit verschiedenen Mitteln bezeichnet wird (S. 1 6 1 ; f. A. S. 186). Ähnliche Schwierigkeiten treten beinahe an jedem Punkt der traditionellen Gliederung auf, audi die Wortbildung ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür. Angesichts dieser vielen Widersprüche ist es recht verwunderlich, daß J o h n Ries mit seinem vor Jahrzehnten in der bisher scharfsinnigsten Untersuchung zur Theorie der Syntax erzielten Ergebnis bei den Sprachwissenschaftlern keine allgemeine Zustimmung gefunden h a t : „Der Formenlehre steht nicht die S y n t a x zur Seite, sondern die Bedeutungslehre; in Formenlehre und Bedeutungslehre zerfällt sowohl die Wortlehre als die Syntax. Syntax ist der dritte Teil der nach den behandelten Objekten gegliederten G r a m m a t i k " . " Mit H i l f e dieser Unterscheidung, die mit weiteren neuen Gesichtspunkten philologischer wie semiologisdier A r t in Beziehung gebracht werden muß, soll versucht werden, den Aufbau der Sprachwissenschaft von der Beschaffenheit der 65

Siehe den Abschnitt „Grammar and Dictionary" in Jespersens Philosophy of Grammar, S. 31—35; er baut hauptsächlich auf Gedankengängen von H.Sweet auf ('Collected Papers, hrsg. v. H. C. Wyld, Oxford, 1913), S. 40 ff.

66

„Was ist Syntax?" (Beiträge zur Grundlegung der Syntax, Heft 1, Prag, 2 1927), S. 142. Die bewundernswerte Klarheit dieser Anordnung ist freilich etwas trügerisch, da die tatsächliche Zuordnung dessen, was Gegenstand der Lexikologie und Syntax sein soll, insbesondere die Stellung der Wortklassen, nicht überzeugt. Das Riessche System ist von Gombocz in Vorlesungen und verstreuten Beiträgen weiterentwickelt worden. Die nachfolgende Erörterung stimmt weitgehend mit den Gedanken von Gombocz überein.

Semantik und Sprachwissenschaft

25

sprachlichen Symbole selbst her zu bestimmen. D a f ü r bieten sich drei Ansatzp u n k t e an. Folgende Themen werden uns beschäftigen: 1. die Funktionen der Symbole; 2. ihre innere S t r u k t u r ; 3. ihre Beziehungen in R a u m u n d Zeit.

1. Die Funktionen

der sprachlichen

Symbole

D r e i Grundbegriffe f ü r den Bezeichnungsvorgang müssen sorgfältig abgegrenzt u n d auseinandergehalten werden, wenn m a n verstehen will, wie der Medianismus der Sprache funktioniert. Gemeint sind: „Zeichen", „Symbol" u n d „ E n g r a m m " . D a v o n sind die beiden ersten besonders verschwommene Begriffe." 7 Unsere Darstellung stützt sich auf die schlüssige Argumentation von O g d e n u n d Richards. Die drei entscheidenden Definitionen lauten: Z e i c h e n : „a stimulus similar to some p a r t of an original stimulus and sufficient to call u p the engram f o r m e d b y t h a t stimulus" (S. 53). Symbol: (S. 23).

„those signs which men use to communicate one w i t h a n o t h e r "

E n g r a m m : „the residual trace of a n a d a p t a t i o n m a d e by the organism to a stimulus" (S. 53)."7" In dieser Terminologie ist „Zeichen" der Gattungsbegriff, w ä h r e n d „Symbol" eine zu dieser G a t t u n g gehörende A r t bezeichnet: D i e aller der menschlichen Verständigung dienenden Zeichen. In diesem Sinne sind die Zeichen der Sprache demnach Symbole. Diese Begriffe lassen sich mit G e w i n n zu Saussures Zweiteilung von „1 a n g u e" und „ p a r o l e " in Beziehung setzen. „Parole" bezeichnet, wie erinnerlich, den individuellen Sprachgebrauch u n d sein Ergebnis, den konkreten Sprechakt. Sie w i r d per definitionem von Fall zu Fall verwirklicht u n d bleibt ephemer u n d zufällig. A k t i v e u n d passive Sprecherfahrungen, Laute, W ö r t e r u n d Sätze, gesprochene u n d gehörte — oder auch n u r geschriebene u n d gelesene — hinterlassen bei den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft eine Reihe v o n Spuren, E n g r a m m e , im Bewußtsein. I n n e r h a l b der Gemeinschaft 67

67a

Ogden-Ridiards, S. 5, Anm. 2; Gardiner, Speech, S. 101, Anm. 1; Saussure, S. 78 f. (f. A. S. 99 f.); Wittgenstein, Tractatus, 3. 317—3. 325; Palmer, Introduction, S. 3; Stern, S. 26 ff.; P. B. Ballard, Thought and Language (London, 1934), S. 244; E. Lerch, „Vom Wesen des sprachlichen Zeichens. Zeichen oder Symbol?" (Acta Linguistica, 1, 1939, S. 145—161), S. 157 ff.; Buyssens, ebd., 2, 1940/41, S. 84 f.; Urban, Language and Reality, S. 407 u. 411—414; L. S. Stebbing, A Modern Introduction to Logic (London, 21933), S. 11, usw. Wahlweise auch: „an excitation similar to that caused by the original stimulus" (S. 53, Anm. 3).

Was ist Semantik f

26 überschneidet

sich

ein

Geflecht

von

Symbol-Engrammen

mit

anderen:

A l s einzelner k a n n keiner, m a g er noch so a u f n a h m e f ä h i g sein, den gesamten Wortschatz zur V e r f ü g u n g haben. F ü r die einzelnen Sprecher bilden diese Eng r a m m - S y s t e m e ein K o m m u n i k a t i o n s m i t t e l :

„ L a langue".

I m Gegensatz zu

„ l a p a r o l e " ist sie immer schon v o r h a n d e n , relativ konstant — sie verändert sich in Zeiträumen v o n J a h r z e h n t e n , Menschenaltern oder g a r J a h r h u n d e r t e n — , und der einzelne b e k o m m t sie v o n außen a u f e r l e g t : E r m u ß sich nach der N o r m richten u n d k a n n sie nicht nach eigenem Ermessen a b ä n d e r n . Sie ist in der Gemeinschaft, nicht im einzelnen Sprecher v e r a n k e r t . Sprachsymbole sind demnach E n g r a m m e , die aktualisiert werden können. S i n d sie einmal aktualisiert, so funktionieren sie genauso wie jedes andere S y m b o l oder gar Zeichen. D e r V o r g a n g ist so oft, hauptsächlich v o n Seiten des Behaviorismus, analysiert worden, d a ß m a n hier nicht näher d a r a u f einzugehen braucht. P a w l o w s berühmtes E x p e r i m e n t mit den bedingten Reflexen bei H u n d e n gibt, mutatis mutandis, einen allgemeinen Eindruck d a v o n , wie der Mechanismus arbeitet. D i e S y m b o l e der Sprache sind Teile v o n weiterreichenden E r f a h r u n g e n , die auch die gemeinten D i n g e mit einbegreifen. D a s W o r t 'Tisch' ist z . B . Teil einer Situation, in der der G e g e n s t a n d , a u f den verwiesen w i r d , ebenso gegenw ä r t i g ist. Weil sie sich in zahlreichen „ K o n t e x t e n " immer wieder gemeinsam einstellen, sind W o r t u n d

„ B i l d " des Möbelstücks im Bewußtsein als zu ein

und derselben E r f a h r u n g gehörig gespeichert; auf G r u n d dieser K o e x i s t e n z verm a g eine K o m p o n e n t e jeweils die andere zu vergegenwärtigen. Wenn das W o r t ausgesprochen wird, ruft es unser „ E n g r a m m " von dem G e g e n s t a n d hervor u n d dient so als S y m b o l f ü r den G e g e n s t a n d selbst. D i e semantische Beziehung, die diesem Bezeichnungsvorgang z u g r u n d e liegt, soll im zweiten Abschnitt des folgenden K a p i t e l s untersucht w e r d e n ; hier k o m m t es uns auf die engraphische N a t u r der sprachlichen S y m b o l e selbst an. S o w o h l die Wörter wie auch ihr Wortsinn sind E n g r a m m e ; beides sind psychische Phänomene. D a s System der Sprache ist überhaupt psychischer N a t u r : „ L a l a n g u e " von

Symbol-Engrammen,

glieder

der

die

ist ein

im B e w u ß t s e i n

Sprachgemeinschaft

gespeichert

System

der

Mit-

sind.

Diese

Definition läßt sich genausogut auf andere S y m b o l s y s t e m e anwenden, e t w a a u f Zeichensprachen, Signalsysteme der M a r i n e , a u f das T a u b s t u m m e n a l p h a b e t oder die Schrift. V o n all diesen konkurrierenden Systemen unterscheidet sich die Sprache durch ihren L a u t charakter, den akustischen U r s p r u n g ihrer S y m b o l e . D i e E n g r a m m e sind natürlich psychischer N a t u r , aber sie stammen v o n a k u s t i s e h e n E r f a h r u n g e n her. „ L a l a n g u e " i s t e i n p s y c h i s c h e s , „ l a role" ein p s y c h o p h y s i s c h e s

Phänomen.

pa-

I m A k t des Sprechens,

der konkreten Realisation des Sprachsystems, dienen L a u t e d a z u , Bedeutungen zu vermitteln, physikalische Phänomene, um geistige P h ä n o m e n e zu vergegenwärtigen. D i e Sprache ist nur über „ l a p a r o l e " zu erreichen; u n d deren k o m p l e x e

Semantik

und

Sprachwissenschaft

27

Struktur schreibt f ü r die Analyse zwei konvergierende Verfahren vor. Um mit dem physikalischen anzufangen: Jede zusammenhängende sprachliche Äußerung läßt sich zunächst in verschieden große Klanggruppen zerlegen, dann in Silben und schließlich in Laute. D i e L a u t e s i n d d i e k l e i n s t e n K l a n g e i n h e i t e n v o n „ l a p a r o l e " . Die Engramme, die von ihnen in „la langue" zurückbleiben, werden P h o n e m e 6 8 genannt. Phoneme sind keine vollwertigen Symbole, da sie keine eigene Bedeutung haben. Das soll jedoch nidit heißen, daß sie semantisch irrelevant sind. Sie haben die Aufgabe, h ö h e r e E i n h e i t e n a u f z u b a u e n ; und wie sich „la langue" aus einem unübersehbaren Geflecht von Gegensätzen, Unterschieden und Stellenwerten zusammensetzt — „in der Sprache . . . gibt es nur Verschiedenheiten" (Saussure, S. 143; f. A. S. 166) —, erfüllen sie ihren Zweck dadurch, daß sie z w i s c h e n B e d e u t u n g e n u n t e r s c h e i d e n . Ihre diakritische Funktion erkennt man sofort, wenn man sie gegeneinander austauscht: Wenn sich durch einen solchen Austausch ein anderer Sinn ergibt (wie bei 'bad' gegenüber 'bed', 'pad', 'bat'), so handelt es sich um eine „phonematische" Opposition; ergibt es keinen neuen Sinn (z. B. Zungen-R gegenüber Zäpfchen-R im Engl, oder Frz.), so handelt es sich um eine „Variation". 8 9 Nach Bloomfield sind Phoneme „minimum units of distinctive sound-features". 70 Die P h o n o l o g i e ist der Zweig der Sprachwissenschaft, der sich mit den Phonemen befaßt. Dagegen ist die Phonetik, die akustische und physiologische Untersuchung der Sprechlaute, kein Bestandteil d-er Linguistik; sie gehört zu „la parole", ist aber als Propädeutik für die Sprachwissenschaft unentbehrlich. 71 es

69

70

71

D . Jones definiert sie als „a f a m i l y of sounds in a given language, consisting of an important sound of the language together w i t h other related sounds, which take its place in particular sound-sequences" („On Phonemes", Travaux, 4, Prag, 1931, S. 7 4 — 7 9 ) , S. 74. Vgl. auch The Phoneme: Its Nature and Use (Cambridge, 1950), S. 7. Ferner W. F. Twaddell, „On Defining the Phoneme" (Language Monographs, N r . 16, Baltimore, 1935) u. B. Bloch, „A Set of Postulates for Phonemic Analysis" (Language, 24, 1948, S. 3—46), S. 3, A n m . 2 mit weiteren Literaturangaben. N a t ü r lich hat es die Phonologie nicht nur mit Phonemen, sondern audi mit Varianten (Allophonen) und „Emphatika" zu tun; aber sie interessiert sich in der Hauptsache für die phonematische Struktur. Ohne auf die für unseren Zusammenhang unwichtige Frage der Phonemanalyse einzugehen, mag nur festgestellt werden, daß einige Lautmerkmale ein Mittelding zwischen Phonem und Variante sind; w e n n man im Frz. erregt 'ab6minable' statt 'abominable' sagt, so wird der begriffliche Inhalt d a v o n nicht berührt, w o h l aber kommt ein Gefühlsbeiklang herein; J. v. Laziczius ( P r o c e e d i n g s of the Second International Congress of Phonetic Sciences, S. 5 7 — 6 0 ) nennt solche Merkmale „Emphatika". Vgl. M. Swadesh, „The Phonemic Principle" (Language, 10, 1934, S. 117—129), S. 118: „The phoneme is the smallest potential unit of difference between similar words recognisable as different to the native". Siehe audi Firth, Papers, S. 2 0 f. u. S. 26, A n m ' 1 u. Bühler, I § 3 u. IV § 17—18. Vgl. A . Sotavalta, Die Phonetik und ihre Beziehungen zu den Grenzwissenschaften (Helsinki, 1936).

Was ist

28

Semantik?

Die zweite Möglichkeit ist die, eine zusammenhängende sprachliche Äußerung unter s e m a n t i s c h e n Gesichtspunkten zu analysieren. Sie läßt sich dabei in eine bestimmte Anzahl bedeutungstragender Glieder zerlegen, die sich letztlich aus kleinsten bedeutungstragenden Einheiten zusammensetzen. Diese Sinneinheiten werden W ö r t e r genannt. Den verschiedenen Aspekten der Wortsymbole wird im nächsten Kapitel ein eigener Abschnitt gewidmet; vorerst genügt der Hinweis, daß sie die Engramme sind, die den kleinsten semantischen Einheiten von „la parole" entsprechen. Im Rahmen der Sprachwissenschaft werden sie von der L e x i k o l o g i e untersucht. Solche Sinneinheiten kommen in einer zusammenhängenden sprachlichen Äußerung nie isoliert vor. Sie sind in bestimmten Figuren angeordnet, die eine Art von Beziehung zwischen den Dingen, f ü r die sie stehen, ausdrücken. Von diesen Anordnungen in „la parole" bleiben engraphische Strukturen in „la langue" zurück, die vorgeprägte Formen vorsehen, in die sich die Wörter einpassen können. Während die Wortsymbole die Aufgabe haben, zu „bezeichnen", etwas Gedachtes oder Gemeintes zu vergegenwärtigen, sind diese Figurensymbole („pattern symbols") dazu bestimmt, Beziehungen auszudrücken („vorstellungssuggestiv" — „beziehungssuggestiv"). Sie werden „ S y n t a g m e n " genannt, und ihr Aufbau, ihre Komponenten und höheren Einheiten werden in der Sprachwissenschaft entsprechend von der S y n t a x untersucht. 72 Bei alledem ist zu beachten, daß die Terminologie nicht f ü r alles Entsprechungen hat. Auf der Lautstufe muß man unbedingt zwischen den Lauten in „la parole" und den Phonemen, ihren Engrammen in „la langue", unterscheiden. In der Lexikologie und in der Syntax ist man ohne eine solche Zweiteilung ausgekommen: derselbe Terminus bezeichnet die Wörter und Syntagmen in „la parole" und auch die ihnen entsprechenden engraphischen Symbole in „la langue". D a unsere Darstellung es ja mit „la langue" zu tun hat, sind „Wort" und „Syntagma", wo nicht anders angegeben, engraphisch zu verstehen. Zusammenfassung: Im engraphischen Bereich gibt es drei Grundtypen sprachlicher Einheiten und entsprechend dreierlei Verfahren, um sie aus einer zusammenhängenden sprachlichen Äußerung herauszulösen; jede dieser Größen hat eine besondere Funktion und ist ein Forschungsgebiet f ü r sich: physikalische Analyse semantische Analyse Analyse der Beziehungen 72

Phonem Wort Syntagma

unterscheidet bezeichnet drückt Beziehungen aus

Phonologie Lexikologie Syntax

Vgl. Ries, Syntax, S. 142 f.; Bühler, S. 70; A. Marty, Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie (Halle, 1908), S. 181— 194; H . F. J. Junker, „Die indogermanische und die allgemeine Sprachwissenschaft" (Streitberg-Festschrift, Heidelberg, 1924, S. 1—64), S. 21.

Semantik

und

Sprachwissenschaft

2. Die Struktur der sprachlichen

29

Symbole

Die Symbole der Sprache sind janusgesichtig; sie haben zwei Seiten: Der Saussureschen Terminologie entsprechend eine äußere, „le signifiant", und eine semantische, „le signifié". Diese grundlegende Unterscheidung zwischen dem, was unverbindlich „ F o r m " und „Bedeutung" genannt werden kann — oder „Ausdruck" und „Inhalt", wie manche Philologen lieber sagen 73 —, fügt dem an H a n d funktionaler Kriterien gewonnenen Dreierschema eine neue Zweiteilung hinzu. Gerade da zeigt sich jedoch ein merkwürdiger Mangel an Symmetrie im A u f b a u der Sprache. Die Unterscheidung zwischen Form und Bedeutung läßt sich nämlich nicht auf die Phoneme anwenden. Sie sind, wie gesagt, keine vollwertigen Symbole, sondern nur Bestandteile von Symbolen, diakritische Zeichen, die Wörter voneinander unterscheiden. Sie können daher selbst kein „signifié" haben. 7 4 Deshalb kann auch die Phonologie nur einschichtig sein: Obwohl sie Semantisches impliziert und sich damit erst die Existenzberechtigung als neue Wissenschaft gibt, hat sie selbst keinen semantischen Teil. U m diese Asymmetrie im A u f b a u ausgleichen zu können, suchte vor Jahren der holländische Philosoph H . J . Pos die Kluft zwischen Phonologie und Semantik zu überbrücken. 75 Er machte geltend: „Juist de phonologie heeft het verband tussen klankleer en semantiek hersteld, zodat men de eerste indien al niet een onderdeel, dan toch de voorhof der betekenisleer mag noemen. . . D e phonologie heeft die eigen semantische waarde der taalklanken o n t d e k t . . . " . Aber das Folgende ist eine falsche Schlußfolgerung: „de overgang van het zidizelf betekenende phoneem tot het woord, dat niet zichzelf maar iets anders betekent, is niet zo groot, indien men bedenkt, ten eerste dat woorden altijd uit phonemen bestaan en vooral, dat ook de betekenissen die door aaneenrijging van woorden tot samenstellingen of volzinnen tot stand komen, ook weer aanmerkelijk verschillend zijn van de betekenissen der samenstellende woorden." Pos' Argumentation fordert in drei Punkten zur Kritik heraus. Der Satz „ D a s Phonem bezeichnet sich selbst" ist eine contradictio in adjecto: Ohne die „signifiant-signifié" Beziehung kann es kein Bezeichnen geben. Ferner gilt der S a t z „Wörter bestehen aus Phonemen" nur von der Form her gesehen: Die Wortform 'Tisch' ist die Summe ihrer phonematischen Elemente, aber der Wortsinn 'mensa' hat nichts mit diesen Elementen zu tun. Die dritte Behauptung endlich, die „Bedeutung" der Phoneme verhielte sich zu der der Wörter wie die 73 74

75

Hjelmslev, Grundlaggelse, S. 44 ff. Vgl. Jakobson, Actes du 6e Congrès, S. 8. „Phonologie en Betekenisleer" (Mededeelingen der kon. Nederlandsche

Akad.

v.

Wetenschappen, Afd. Let., N. R., Deel 1, Nr. 13, 1938, S. 577—600), insbes. S. 588 t. u. 594. Vgl. Junker, a . a . O . , S. 60—64; Firth, Papers, S. 20 f.; Bühler, S. 261 f.; Jones, Phoneme, S. 13 ff.

Was ist Semantik ?

30

W o r t b e d e u t u n g z u r S a t z b e d e u t u n g , b e r u h t offensichtlich a u f einem T r u g s c h l u ß . G a n z abgesehen d a v o n , d a ß die s y n t a g m a t i s c h e B e d e u t u n g nicht b l o ß a d d i t i v e n C h a r a k t e r h a t , s t e h t fest, d a ß s o w o h l 'Tisch' w i e a u d i ' d e r Tisch ist r u n d ' e t w a s b e d e u t e n , w ä h r e n d die e i n z e l n e n P h o n e m e t, i, s u s w . ü b e r h a u p t nichts bed e u t e n . I n seinem K o n g r e ß b e r i c h t h a t J a k o b s o n d a f ü r d i e F o r m e l g e f u n d e n : „it is a l o w e r level of

s e m i o s i s : t h e p h o n e m e p a r t i c i p â t e s in t h e signification,

y e t h a v i n g n o m e a n i n g of its o w n . T h e semiotic f u n c t i o n of a p h o n e m e w i t h i n a higher linguistic u n i t is t o d é n o t é t h a t this u n i t has a n o t h e r m e a n i n g t h a n a n e q u i p o l l e n t u n i t . . ." [Actes

du 6e Congrès,

S. 8].

Es w ü r d e in d e r T a t g e r a d e d e r U n t e r s u c h u n g s m e t h o d e , m i t d e r die P h o n e m e i d e n t i f i z i e r t u n d d e f i n i e r t w e r d e n , w i d e r s p r e c h e n , w o l l t e m a n schon hier die U n t e r s c h e i d u n g v o n F o r m u n d B e d e u t u n g e i n f ü h r e n . Sie k a n n erst auf d e r z w e i t e n o d e r semantischen S t u f e , d. h. in d e r L e x i k o l o g i e , m i t z u m A u f b a u geh ö r e n . Indessen bleibt f e s t z u h a l t e n , d a ß die P h o n e m e eine ü b e r a u s wichtige semantische A u f g a b e z u e r f ü l l e n h a b e n . D i e P h o n o l o g i e ist eine semantisch bes t i m m t e Wissenschaft; g e r a d e durch diese A u s r i c h t u n g a u f das S e m a n t i s c h e u n t e r scheidet sie sich v o n d e r h e r k ö m m l i c h e n B e t r a c h t u n g s w e i s e d e r

Sprechlaute.

U n d d o d i , die P h o n e m e weisen k e i n e D o p p e l s t r u k t u r a u f ; in einer sprachlichen Ä u ß e r u n g t r i t t die B e d e u t u n g auf einer h ö h e r e n S t u f e als a u f d e r d e r L a u t e a u f , u n d die P h o n o l o g i e ist d e m n a c h eine einschichtige Wissenschaft. 7 0 D i e G a b e l u n g setzt also erst auf d e r nächsten S t u f e , in d e r L e x i k o l o g i e ein. Sie u m f a ß t z w e i sich e r g ä n z e n d e A u f g a b e n g e b i e t e . E i n m a l lassen sich die W o r t f o r m e n u n t e r s u c h e n : D a s ist d i e A u f g a b e d e r l e x i k a l i s c h e n logie.

M o r p h o -

Z u m a n d e r n k a n n m a n sich d e n W o r t b e d e u t u n g e n z u w e n d e n : D a f ü r

ist die l e x i k a l i s c h e

Semantik

z u s t ä n d i g . W e n n in linguistischem Z u -

s a m m e n h a n g v o n „ S e m a n t i k " die R e d e ist u n d eine n ä h e r e B e s t i m m u n g d u r c h ein A d j e k t i v f e h l t , ist i m m e r die lexikalische S e m a n t i k g e m e i n t ; ist d a g e g e n das S t u d i u m d e r aus B e z i e h u n g e n r e s u l t i e r e n d e n B e d e u t u n g g e m e i n t , m u ß a u s d r ü c k lich v o n s y n t a k t i s c h e r S e m a n t i k gesprochen w e r d e n . Das Gebiet der l e x i k a l i s c h e n

Morphologie,

u m das es schon

viel Streit gegeben h a t , b e s t i m m t sich v o n d e r spezifischen F u n k t i o n des W o r t e s *6 Interessant ist die Feststellung, daß es bereits einem der ersten Wegbereiter der modernen Semantik, F. Heerdegen, widerstrebte, diesen Mangel an Symmetrie zuzugeben; weshalb denn auch in dem System seiner Untersuchungen zur lateinischen Semasiologie (Erlangen, 1875—1881) ein eigenes Kapitel für die Lautlehre fehlt. Ries merkt zu dieser Haltung kritisch an: „Vermuten darf man, daß das wohl unbewußt dabei wirkende Motiv in dem Wohlgefallen an der Symmetrie des Schemas liegt, ein Motiv, das bei Einteilungen uneingestandenermaßen so oft eine wichtigere Rolle gespielt hat, als ihm zukommt. Heerdegens beide Hauptteile zerfallen in je zwei Unterabteilungen mit demselben Einteilungsprinzip, welche Gliederung ihm für eine besondere Lautlehre nicht geeignet erschienen sein wird" ( S y n t a x , S. 157, Anm. 63).

Semantik

und

Sprachwissenschaft

31

her: Den einem Bezeichneten („thing-meant") 7 7 entsprechenden Denkinhalt zu vergegenwärtigen. Was diese Definition genau besagt, soll später untersucht werden; hier genügt, sich in erster Linie den Unterschied zu der von den Syntagmen übernommenen Beziehungsfunktion klarzumachen. In seiner Eigenschaft als Symbol für ein Bezeichnetes ist das Wort Gegenstand der Lexikologie; mit seinen Beziehungsfunktionen ist es Gegenstand der Syntax. Die lexikalische Morphologie wird sich also mit den Wortstämmen und den verschiedenen Wortbildungsweisen beschäftigen, als da sind: Zusammensetzung, Ableitung, Kontamination, Volksetymologie, Rückbildung, „Nullsuffix" etc. Dagegen ist sie offensichtlich nicht für die Flexion zuständig, denn die gehört zu den Formelementen, die Beziehungen anzeigen. Wenigstens in dem Punkt hat die Schulgrammatik mit ihrer Behauptung recht behalten, daß die „Grundbedeutung" eines Wortes wohl durch Suffixe etc., nicht aber durch Deklination, Konjugation oder Steigerung verändert wird. Bei Veränderungen am Wortstamm ist zu fragen, ob sie sich syntaktisch auswirken oder nicht. Umlaut und Ablaut haben Beziehungsfunktionen: Sie bezeichnen verschiedene grammatische Kategorien, etwa Numerus und Tempus, und gehören deshalb in die Syntax. Andererseits zeigt sich am Beispiel von afrz. 'aim-amons' ein für den Sinn irrelevanter Wechsel, der von mechanischen Lautgesetzen bewirkt und nachfolgend durch Analogie ausgeglichen worden ist; so etwas gehört daher in die lexikalische Morphologie. Die l e x i k a l i s c h e S e m a n t i k untersucht entsprechend die Bedeutungen der Wörter — darin besteht ihre eigentliche Aufgabe, auf die sich auch die meisten Arbeiten zur Semantik beschränken, das vorliegende Buch eingeschlossen — und sie untersucht den semantischen Aspekt der Wortbildung: Die Bezeichnungsfunktion der Affixe, Unterschiede zwischen der Bedeutung eines Kompositums und der Bedeutung seiner Bestandteile etc. Ries und andere möchten auch die Theorie der Wortklassen mit dazunehmen; da diese aber syntaktischen Kategorien verwandt sind, ist es sinnvoller, sie der Syntax zu überlassen. Die S y n t a x , die Wissenschaft von den sprachlichen Beziehungen, hat ebenfalls einen morphologischen und einen semantischen Teil. Man kann jeden für sich vornehmen, üblicher aber ist es, beide zu verbinden: Die Untersuchung kann dann entweder von der äußeren Form zur inneren Bedeutung vorstoßen, was meist geschieht, oder umgekehrt vorgehen, wie Brunot und Bally bevorzugen 78 ; oder beides verbinden, wie Jespersen vorgeschlagen hat. 7 9 77

D e r von G a r d i n e r ( S p e e c h , S. 2 9 ff.) geprägte Begriff „ t h i n g - m e a n t " , mit dem er Ogden-Richards' „ r e f e r e n t " ersetzen wollte und der sowohl für die Lexikologie als auch für die S y n t a x gelten sollte („the distinction between 'meaning' and 'thingm e a n t ' applies no less to sentences than t o single w o r d s " , S. 3 1 ) , w i r d von uns also enger gefaßt. Vgl. Stern, S. 7 6 .

78

F . Brunot, La Pensee et la Langue (Paris, 3 1 9 5 3 ) , S. X X ; Bally, G R M , 4, 1 9 1 2 , S. 6 0 5 f. u. a. Dagegen Hjelmslev, Principes, S. 88 ff. u. Bloomfield, „ M e a n i n g " ( M D U , 3 5 , 1943, S. 1 0 1 — 1 0 6 ) , S. 102 f.

79

Philosophy

of Crammar,

S. 3 9 ff.

Was ist Semantik ?

32

Die s y n t a k t i s c h e M o r p h o l o g i e stellt diejenigen Formelemente in den Mittelpunkt, mit denen die Sprache Beziehungen anzeigt: Intonation, Wortstellung, Ablaut, Flexion u n d Partikeln ([engl.] Artikel, Präpositionen, K o n j u n k t i o n e n u. a.) ; u n d auch auf deren Verteilung k o m m t es ihr an. Die F u n k tionen dieser Formelemente werden von der s y n t a k t i s c h e n S e m a n t i k untersucht. Die Bedeutung der Wortklassen, der Satzteile und anderer grammatischer Kategorien ist, semantisch gesehen, das wichtigste Problem dabei. Jespersen, den diese Fragen gegen Ende seines Lebens immer mehr interessiert haben, h a t klar e r k a n n t , d a ß die grammatischen Kategorien auf einer triadischen Beziehung beruhen. I m M i t t e l p u n k t der Beziehung steht die „Funktion", die sich auf zweierlei richtet: Auf die grammatische F o r m u n d auf außersprachliche Begriffe. Diese S t r u k t u r ist gut an den engl. Begriffspaaren 'sex''gender' ('Gesdiledit'-'Genus') u n d 'time'-'tense' ('Zeit'-'Tempus') zu belegen. 'Gender' u n d 'tense' sind grammatische Kategorien, denen die „Begriffs"-kategorien 'sex' u n d 'time' entsprechen. Auf der formalen Seite können die gleichen Funktionen durch eine ganze Skala von Möglichkeiten ausgedrückt w e r d e n : Sie reicht von der Schwundstufe (es gibt keinerlei Genusbezeichnung im Finn. oder Ung.) bis zu einem komplizierten System v o n Endungen, Partikeln usw. Die Reihe: F o r m — F u n k t i o n — B e g r i f f bleibt die gleiche, ob m a n sie v o m S t a n d p u n k t des Sprechers oder v o m Z u h ö r e r aus betrachtet, nur die Reihenfolge kehrt sich jeweils u m :

Sprecher Zuhörer

C B A B C Begriff -»- Funktion -*• Form Form -*• F u n k t i o n ->- Begriff

Diese Terminologie w i r d in The Philosophy of Grammar (S. 56 f.) verwendet. Jespersen w a r aber mit dem Terminus „ F u n k t i o n " nidit recht zufrieden, den er mit Recht f ü r mißverständlich hielt. Nach einigem Zögern 8 0 griff er die Frage in seiner Analytic Syntax (S. 107 ff.) noch einmal auf u n d schlug f ü r B als Bezeichnung n u n „linguistic centre", „linguo-centre" b z w . „morphoseme" vor und als entsprechende Definition: „linguistic unit Standing a t the intersecting point, where f o r m a n d n o t i o n meet." Wer sich mit der Bedeutung beschäftigt, wird auffällige Entsprechungen zwischen Jespersens Schema u n d der semantischen S t r u k t u r der Wortsymbole feststellen. Wie wir im nächsten K a p i t e l sehen werden, liegt eine ähnliche triadische Beziehung — das „Grunddreieck" — nämlich audi der W o r t b e d e u t u n g zugrunde; der syntaktischen F o r m entspricht hier das lexikalische „signifiant", der „Funktion" das „signifié" u n d dem „Begriff" das „Designatum" ( „ t h i n g - m e a n t " ) . In 80

Vgl. etwa den Schluß seines Artikels „Form and/or Function in Grammar" (JEGP, 35, 1936, S. 461—465), als Antwort auf W. F. Leopold (ebd., 34, 1935, S. 414—431).

Semantik und Sprachwissenschaft

33

beiden Fällen gibt es keine Direktverbindung, keine Abkürzung zwischen dem ersten und dem dritten Terminus. Alle Typen der sprachlichen Bedeutung, lexikalische wie syntaktische, scheinen diese Struktur miteinander gemein zu haben. Ganz trifft die Parallele natürlich nicht zu, da syntaktische Kategorien so sehr grammatikalisiert werden können, daß sie keine äußeren Beziehungen mehr anzeigen, wie das z. B. beim Genus im Französischen der Fall ist. Im Englischen sind die alten Genusunterscheidungen bis auf eine wichtige Ausnahme, das Personalpronomen der 3. Pers. Sg., aufgegeben worden. Das Genus richtet sich jetzt nach logisdien Beziehungen, nicht nach grammatischen Regeln, so daß Geschlecht und Genus wieder zusammenfallen und das natürliche Geschlecht ausschlaggebend ist. Zu den Problemen der syntaktischen Semantik gehören auch übergeordnete Größen: Die Typen der Syntagmen und Sätze, Hypotaxe und Parataxe, Fragen der Rangordnung etc. In der Syntax ist alles noch im Fluß, und man ist sich nicht einmal darüber einig, wie sie in Grundzügen einmal aussehen soll. Das tangiert jedoch kaum eine Beschäftigung mit der lexikalischen Semantik. 81 Verbindet man die beiden Kriterien, Bauform und Bedeutungsfunktion, so ergibt sich als vorläufige Anordnung mit charakteristischer Asymmetrie folgende Übersicht: I. Phonologie. II. Lexikologie: I I I . Syntax:

1. 2. 1. 2.

lexikalische Morphologie; lexikalische Semantik. syntaktische Morphologie; syntaktische Semantik.

Wenn man als weiteres Kriterium die Koordinaten Raum und Zeit hinzunimmt, läßt sich das Schema nach einer dritten Richtung hin aufgliedern.

3. Die sprachlichen Symbole in Raum und Zeit Ferdinand de Saussures Unterscheidung zwischen den beiden grundverschiedenen Möglichkeiten der Sprachbetrachtung, der s y n c h r o n i s c h e n oder beschreibenden und der d i a c h r o n i s c h e n oder historischen, bringt 81

3

Siehe z. B. W. Porzig, „Aufgaben der indogermanischen Syntax" {Streitberg-Festschrifl, S. 126—151), S. 127 f.; Marty, Untersuchungen, S. 101—120; Brendal, „Le Système de la Grammaire" u. „L'Autonomie de la Syntaxe" (Essais, S. 1—7 u. S. 8—14); A. Sediehaye, Essai sur la structure logique de la phrase (Paris, 1926), S. 219—223; V. Mathesius, „On Some Problems of the Systematic Analysis of Grammar" (Travaux, 6, 1936, S. 95—107), S. 98; F.R.Blake, „The Study of Language from the Semantic Point of View" (IF, 56, 1938, S. 241—255), usw. Ullmann

34

Was ist

Semantik?

ein neues Einteilungsprinzip in unsere Untersuchung, das sich nicht ganz mit den bisherigen deckt. Sowohl die Funktion der sprachlichen Symbole als auch ihre spezifische Struktur sind Merkmale der „langue" selbst: Sie zeichnen sich gleichsam von innen her ab und lassen nur analytische Urteile zu. Dagegen ist die neue Zweiteilung nicht vom Sprachmaterial selbst vorgegeben. Nicht die Sprache verfährt synchronisch oder diachronisch, sondern die Sprachbetrachtung, die Untersuchungsmethode, die Wissenschaft von der Sprache. Hier handelt es sich nicht um ein immanentes, sondern um ein methodologisches Kriterium. Als solches ist es jedoch so entscheidend, d a ß es in der Einteilung den beiden anderen gleichgestellt werden muß. Auf Grund der neuen Unterscheidung zerfällt jedes der fünf Gebiete in zwei Teile. Die altbewährten Wissenschaften, die schon lange beide Betrachtungsweisen anwenden, ohne sie freilich immer genau auseinanderzuhalten, fügen sich ohne weiteres in das Schema ein. Die beiden neu dazugekommenen Fächer machen dagegen Schwierigkeiten. Die P h o n o l o g i e , ihrer ganzen Art nach strukturalistisch ausgerichtet, hat gleich von Anfang an gegen das Saussuresche Axiom Einspruch erhoben, wonach die synchronische Sprachwissenschaft es mit Systemen, die diachronische mit Einzelgrößen zu tun hat. Soviel die Phonologen dem Genfer Sprachwissenschaftler auch zu verdanken haben, haben sie sich doch durchweg geweigert, strukturalistische Gesichtspunkte aus ihren diachronischen Forschungen zu verbannen; sie haben phonematische Veränderungen vielmehr immer in ihrer Auswirkung auf das ganze System betrachtet und dabei die synchronen Verhältnisse vor und nach der Veränderung miteinander verglichen und bestimmt, ob ein phonematisches Merkmal dazugewonnen, aufgegeben oder bloß umgeformt worden ist.82 Inzwischen ist schon klar, daß die Geschichte der phonologischen Systeme nicht mit Lautgeschichte gleichbedeutend ist; letztere u m f a ß t die erstere und noch ein gut Teil mehr. Der holländische Phonologe van Wijk ist vor einiger Zeit auf diese Frage eingegangen und zu folgendem Schluß gekommen: „ . . . de klankhistorie wordt slechts voor een deel beheerst door krachten, inhaerent aan het phonologisch systeem . . . De geschiedenis van de phonologische systemen, de taak der diachronische phonologie, is dus een zeer interessant studieobject, al laat zij ook de oorsprong der van buiten körnende krachten, die de uitspraak van phonemen modificeren en de phonologische systemen belagen, buiten beschouwing." 8 ' 82

Dazu insbesondere R. Jakobson, „Prinzipien der historischen Phonologie" ( T r a v a u x , 4, 1931, S. 247—267); N . Trubetzkoy, „La Phonologie actuelle" (Journal de Psychologie, 30, 1933, S. 227—246), S. 244 ff.; N . van Wijk, „L'Etude diadironique des phénomènes phonologiques et extra-phonologiques" ( T r a v a u x , 8, 1939, S. 297—318), was auch für das Folgende von Bedeutung ist; K. Rogger, „Kritischer Versuch über de Saussures Cours général" (ZRPh, 61, 1941, S. 161—224), S. 203 ff.

83

van Wijk, „Klankhistorie en Phonologie" (Mededeelingen der kon. Nederlandsche Akad. v. Wetensdiappen, Afd. Let., N . R., Deel 1, Nr. 3, 1938, S. 181—217), S. 216.

Semantik

und

Sprachwissenschaft

35

In der S e m a n t i k liegen die Schwierigkeiten woanders. Theoretisch fällt es nicht schwer, Synchronisches und Diachronisches, die synchronen Bedeutungssysteme vom Bedeutungswandel zu trennen, selbst wenn Altes und Neues in Form von Polysemie nebeneinander weiterlebt. In vielen Fällen sind beide Aspekte jedoch voneinander abhängig, und einer kann nicht ohne den anderen verstanden werden. Die Homonymie z. B. ist an sich ein synchronisches Phänomen, aber ihre pathologische Erscheinungsform, der Homonymenkonflikt, kann als solche nur von den durch sie ausgelösten diachronischen Entwicklungen her diagnostiziert werden. Diese wechselseitige Abhängigkeit gehört zu den fesselndsten und methodisch aufschlußreichsten Erscheinungen der Semantik und wird im dritten Kapitel ausführlich behandelt werden. Wir können schon jetzt sagen, daß sich das Saussuresche Prinzip der zweierlei Betrachtungsweisen sowohl auf die Phonologie wie auf die Semantik anwenden läßt, wenn auch noch nicht abzusehen ist, wie es sich im einzelnen jeweils auswirkt. In der Sprachwissenschaft gibt es heute auch noch einige Spielarten zu der synchronischen und diachronischen Betrachtungsweise, aber es handelt sich dabei eigentlich nur um Einzelmethoden und Sonderverfahren. So ist beispielsweise die S p r a c h g e o g r a p h i e eine begrüßenswerte Ausweitung der synchronischen Betrachtungsweise auf den zwischenmundartlichen Bereich: Ihre Daten ergeben, kartographisch erfaßt, ein Bild vom zeitlichen Nebeneinander der Erscheinungen. Auch die „zwei Blickrichtungen" der diachronischen Sprachwissenschaft sind nur eine Frage der Methode und der Anordnung (Saussure, S. 255; f. A. S. 291 f.). In der Sprachgeschichte kann man der Entwicklung stromauf oder stromab folgen, je nachdem, ob man einen zeitlich früheren oder einen späteren synchronen Status als Ausgangspunkt wählt. 84 Selbst durch die S p r a c h v e r g l e i c h u n g kommt kein grundsätzlich neuer Faktor in das System. Die historische Methode stützt sich auf Texte, Einzelbelege, auf das Zeugnis von Mundarten und Lehngut etc. und kann damit über eine bestimmte Frühstufe nicht hinauskommen. An dieser Stelle setzt der vergleichende Sprachforscher an, um mit Hilfe verwandter Sprachen prähistorische Entwicklungen zu erschließen. Grundsätzlich gibt es nur zwei Betrachtungsweisen, wenn auch mehrere Methoden, und gerade die diachronische Sprachwissenschaft arbeitet eben teils mit historischen, teils mit sprachvergleichenden Argumenten.

84



Vgl. meine ausführliche Stellungnahme in „Language and Meaning" (Word, 2, 1946, S. 113—126), S. 122 f. Jespersen versucht in seiner Modern English Grammar on Historical Principies beide Betrachtungsweisen zu verbinden. Er nimmt den englischen Sprachstand um 1400 als Ausgangspunkt, untersucht jedes Einzelelement darin aus der Retrospektive und verfolgt es auf seine Ursprünge zurück. Später macht er es andersherum und verfolgt jedes Element in seiner Entwicklungsgeschichte von Chaucer bis ins 20. Jh. [Vgl. MEG, 4, S. V f.]

36

Was ist Semantik ? 4. Die drei Dimensionen der Sprachwissenschaft

Zehn Untergruppen stehen also jetzt zur Verfügung, um das Gebiet der Sprachwissenschaft zu erfassen. Davon gehören zwei zur Phonologie; sie ist eine rein formale Wissenschaft und insofern einschichtig; wohl aber gilt für sie die synchronisch-diachronische Unterscheidung. Lexikologie und Syntax gliedern sich jeweils in einen morphologischen und einen semantischen Teil; davon ist jeder wiederum synchronisch und diadironisch unterteilt. Graphisch sieht die Anordnung so aus:

Phonologie

Lexikologie diachronisch Syntax

synchronisch Morphologie

Semantik

Dieses Diagramm zeigt die Linguistik als ein d r e i d i m e n s i o n a l e s G e b i l d e mit der für die Phonologie charakteristischen Asymmetrie. Man darf jedoch nicht zu viel in dieses Schema hineinlesen wollen. Ich hoffe mit meinen Ausführungen gezeigt zu haben, daß alle drei „Dimensionen" dazugehören, ob sie nun durch die Spradie selbst oder durch die Sprachwissenschaft vorgegeben sind. Es darf daher erwartet werden, daß alle drei bei einer Aufteilung des Gebiets der Philologie berücksichtigt werden. Dagegen kann nicht behauptet werden, daß es notwendig nur drei entscheidende Kriterien gibt. Wie alle früheren Gliederungen ist auch dieses Schema nur eine, dem heutigen Wissensstand angepaßte Arbeitshypothese; es ist e i n e mögliche Aufteilung des Gebiets der Sprachwissenschaft, aber nicht d i e Aufteilung schlechthin.85 85

Unsere Einteilung ist der Hjelmslevs in Principes,

S. 48 nidit unähnlich.

Semantik

und

Sprachwissenschaft

37

Im Augenblick läßt sich allerdings schlecht absehen, welche Einteilungsprinzipien noch in Frage kommen könnten. Die „langue-parole" Einteilung mag auf den ersten Blick aussichtsreich scheinen; aber es ist leicht nachzuweisen, daß sie auf einer anderen Ebene liegt und bereits auf der Vorstufe zur eigentlichen Sprachwissenschaft eingeführt werden müßte. Wo immer ein Forschungsgebiet durch diese Unterscheidung geteilt wird — das Verhältnis von Phonetik und Phonologie ist ein Beispiel d a f ü r —, gehört nur der „la langue" zugeordnete Teil zur Linguistik; der andere ist Wissenschaft von „la parole". Diese Zweiteilung hat daher mit dem Aufbau der Linguistik direkt nichts zu tun. Ein weiteres, außerordentlich wichtiges Kriterium ist die Sweetsche Unterscheidung zwischen „generell" und „speziell". Wir haben uns von ihrer Bedeutung für die Lexikologie überzeugt; man kann sich aber schlecht vorstellen, wie sie auf andere Gebiete ausgedehnt werden könnte. In der letzten Zeit ist die Möglichkeit einer „panchronischen" Sprachbetrachtung viel diskutiert worden. Untersuchungen dieser Art eröffnen höchst wichtige Perspektiven, besonders in der Semantik, f ü r die ein solches Verfahren wie geschaffen zu sein scheint. Eine eingehende Beschäftigung mit diesen Fragen gehört zu den Hauptkapiteln dieses Buches. U n d doch wird sich, was auch dabei herauskommen mag, wohl keine neue Dimension ergeben. Wenn sich nachweisen läßt, daß eine Sprachbetrachtung außerhalb des Koordinatensystems von Raum und Zeit theoretisch berechtigt und praktisch möglich ist, wird damit doch nur eine dritte Möglichkeit zu der Alternative „synchronisch-diachronisch" hinzugewonnen. Die Zeit könnte in ihrer Auswirkung auf die Sprache dann auf dreierlei Art betrachtet werden: Unter dem Gesichtspunkt der Gleichzeitigkeit, dem der zeitlichen Abfolge und von einem neutralen Standpunkt aus, wo sie keine Rolle mehr spielt, weil die betreffenden Phänomene (Merkmale oder Ereignisse) jederzeit und überall vorkommen können. Es gibt jedoch ein Kriterium, das genauso allgemein zutrifft und das fast so Grundlegendes betrifft, wie die drei erstgenannten. Dieses Kriterium bilden ä u ß e r e E i n f l ü s s e im weitesten Sinne des Wortes. Einmal sollte nicht nur fremdes Sprachgut dazugehören, sondern auch Archaismen, Übernahmen aus den Mundarten und die Abwanderung fach- und standessprachlicher Elemente in die Umgangssprache und umgekehrte Vorgänge. Zum andern müßte die ganze Sprache daraufhin untersucht werden und nicht nur die Wörter, auf die sich viele Arbeiten über das Lehngut bisher beschränken. Auch sollte nicht nur direkt Übernommenes im Mittelpunkt stehen; die Lehnbildungen 86 sind ebenso 8 n 2 .

1

1

U m bei dem Beispiel 'Belehrung' u n d seinen Assoziationsreihen zu bleiben, so wird die Verbindung zwischen und n 2 , zwischen den beiden N a m e n , durch die Reihe 'Erklärung', 'Beschreibung' v e r k ö r p e r t : Beide W ö r t e r sind teilweise namengleich, nur ist das h o m o n y m e Suffix [im Original!] der Bedeutung und Funktion nach in jedem W o r t verschieden. Die n 2 — n 3 + s 2 — s 3 Verbindung ist durch die Reihe 'belehren', 'er belehrt' in bezug auf den S t a m m u n d durch die Reihe 'Bekehrung', 'Bescherung' in bezug auf das Suffix vertreten: D i e formale Ähnlichkeit w i r d hier durch die Sinnentsprechung unterstützt, sowohl die N a m e n als auch die Sinne sind miteinander v e r k n ü p f t . Die Reihe 'Erziehung', ' U n t e r -

Eine funktionale

Analyse der

Bedeutung

73

ridit' endlich ist ein Beispiel f ü r den T y p der Verbindung s3 — s 4 ; die beiden Sinne sind ähnlich, doch kommt diese Ähnlichkeit nicht formal zum Ausdruck. So hätte sidi Saussure, wie ich vermuten möchte, wohl die Anwendung seiner These gedacht, die er zu Beginn des gleichen Kapitels aufgestellt hat, wonach „es ganz irrig wäre, ein Glied schlechthin als die Einigung eines gewissen Lautes mit einer gewissen Vorstellung zu betrachten. Eine solche Definition würde bedeuten, daß man es von dem System, von dem es ein Teil ist, abtrennt und vereinzelt; würde bedeuten, daß man mit den Gliedern beginnen und durch ihre Summierung das System konstruieren kann, während man im Gegenteil von dem in sich zusammenhängenden Ganzen ausgehen muß, um durch Analyse die Bestandteile zu gewinnen, die es einschließt". 175 Auf das Geflecht der Sinnassoziationen stützt Charles Bally seine Konzeption des „Assoziationsfeldes", die er bedauerlicherweise nicht mehr hat ausbauen können. „Le diamp associatif est un halo qui entoure le signe et dont les franges extérieures se confondent avec leur ambiance . . . Le mot ' b œ u f ' fait penser: 1. à 'vache', 'taureau', 'veau', 'cornes', 'ruminer', 'beugler', etc., 2. à 'labour', 'charrue', 'joug', etc., à 'viande', 'abattoir', 'boucherie', etc.; enfin 3. il peut dégager, et dégage en français des idées de force, d'endurance, de travail patient, mais aussi de lenteur, de lourdeur, de passivité. Le langage figuré (comparaisons, métaphores, proverbes, tours stéréotypés) intervient comme réactif; comparez 1. 'un vent à décorner les bœufs', 'ruminer une idée', 2. 'mettre la charrue devant les bœufs', 'la pièce de b œ u f ( = la chose essentielle), 3. 'fort comme un bœuf', 'c'est un bœuf pour le travail', 'un gros bœuf', etc., etc." (FM, 8, 1940, S. 195 f.; vgl. auch hing, gén., S. 133). Aus Saussures Anregungen haben zum ersten Mal L. Roudet und 2 . Gombocz Schlußfolgerungen f ü r die Semantik gezogen, 17 ' und zwar in Hinblick auf den Bedeutungswandel. Wenn man ihre Schemata in synchronische Begriffe übersetzt, erweitert und terminologisch etwas abändert, ergeben sie zwei symmetrisch gegliederte Systeme um N a m e und Sinn. An jeden Namen knüpft sich ein Geflecht von Namenassoziationen; davon beruhen einige auf Ähnlichkeit („similarity"), andere auf Berührung („contiguity"). 176 " Diese Grund175

178

178a

S. 135 (f. A. S. 157). Vgl. auch Hjelmslev, Principes, S. 180 f.; Graff, Language, S. 102 ff.; Vendryes, Journal de Psychologie, 30, S. 176 ff.; Rogger, ZRPh, 61, S. 172 f.; H. Frei, „Ramification des signes dans la memoire" (Cahiers Ferdinand de Saussure, 2, 1942, S. 15—27), bes. S. 15 f., wo die Synonymen- und Homonymenreihen etwas willkürlich aus „la science de la langue proprement dite" ausgeklammert werden. Roudet, S. 687 ff.; Gombocz, S. 65 ff. Vgl. auch W. Leopold, „Inner Form" (Language, 5, 1929, S. 254—260), S. 259; H . J . P o s , „Les Fondements de la sémantique" (Actes du 4e Congrès, S. 88—92), S. 90; J. J. de Witte, De Betekeniswereld van het Lichaam (Nimwegen, 1948), S. 5 f. u. 17 ff., mit interessanten Testergebnissen des Verf. [Im Vorwort seiner Übersetzung der Fundamentals of Language von Jakobson und Halle (Berlin, 1960) spricht G. F. Meier vom „Kontiguitäts- und Similaritäts-

Deskriptive

74

Semantik

struktur kehrt auf der Sinnebene wieder; auch hier machen Ähnlichkeit und Berührung die beiden Grundformen aus. Natürlich kommen unendlich viele Abarten, Zwischen- und Übergangsformen dazu vor. Ähnlichkeit kann

auf

übereinstimmenden Einzelmerkmalen oder auf vergleichbarem Gefühlswert beruhen; die Berührung kann im Nebeneinander oder im Nacheinander bestehen; die Assoziationen können an den S t a m m oder an Ableitungen geknüpft sein; es kann nach mehr als einem Prinzip assoziiert werden usw. D a ß wie üblidi klare Begrenzungen fehlen, macht sich besonders dann bemerkbar, wenn wir den dauernd in Fluß begriffenen, unbeständigen und höchst subjektiven G e dankenverbindungen nachgehen, die bei jedem einzelnen latent vorhanden sind und von denen die für „la langue" maßgebenden Zusammenhänge abstrahiert werden müssen. Dennoch zeichnen sich die vier Haupttypen deutlich genug ab. Bei dem Versuch, das System vereinfacht und nur in Grundzügen wiederzugeben, werde

ich ausschließlich

solche Assoziationen

insofern als bestandfähig erwiesen haben, als sie

verwenden,

die sich

Bedeutungsveränderungen

ausgelöst haben. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß dies nur eine diachronische Folgeerscheinung, eine A r t Indiz bzw. ein a posteriori-Nachweis für das Vorhandensein der Assoziationen ist, wohingegen es uns im Augenblick auf die synchrone Situation vor Beginn der Veränderungen ankommt. I.

SINNASSOZIATIONEN:

a) Ä h n l i c h k e i t :

Es bestehen [ f ü r den Engländer] gewisse Gemein-

samkeiten zwischen dem Hals eines Menschen, dem engen Oberteil einer Flasche, einer Straßenverengung und einem durch bestimmte Hindernisse

bewirkten

E n g p a ß im reibungslosen Verwaltungs- bzw. Gesthäftsablauf. (Als Bedeutungsveränderung (Metapher) ergibt sich: engl, 'bottleneck' [wörtl. Flaschenhals].) b) B e r ü h r u n g :

D i e 'Zunge' wird als wichtigstes Sprechwerkzeug mit

der Sprache selbst in Verbindung gebracht. (Als Bedeutungsveränderung (Metonymie) ergibt sich: 'die englische Zunge'.) II.

NAMENASSOZIATIONEN:

a) Ä h n l i c h k e i t : Ae. 's a m - blind' = 'halbblind', 'nur verschwommen sehen können, kurzsichtig', ist mit dem ähnlich klingenden (und semantisch nicht allzu entlegenen) 'sand' [ S a n d ] in Verbindung gebracht worden. (Als Bedeutungsveränderung (Volksetymologie einschließlich Angleichung der F o r men) ergibt sich: engl, 'sand-blind'; vgl. N E D und Stern, S. 234.) b) B e r ü h r u n g :

Engl, 'private' [privat, nicht beamtet, ohne R a n g ] ist

so häufig in attributiver Fügung mit 'soldier' [ S o l d a t ] verwendet worden, d a ß zwischen beiden W ö r t e r n eine assoziative Verbindung zustande kommen konnte. problem" und zitiert als Vorläufer dieser Begriffe Kruszewskis „Ähnlidikeits- und Angrenzungsassoziationen" (S. IV). Vgl. audi Sperber, Einführung, S. 24 f. zu Falks „Berührungs- und Ähnlichkeitsassoziationen".]

Eine funktionale Analyse der Bedeutung (Als Bedeutungsveränderung (Ellipse) ergibt sich: engl, 'a private' ohne R a n g ] . )

75 [Soldat

Z u diesen G r u n d f o r m e n w ä r e n auch Verbindungen hinzuzunehmen, an denen zwei und mehr dieser Formen beteiligt sein können. Z u den bekanntesten mehrschichtigen Assoziationen gehören diejenigen, von denen die Nivellierungstendenz der grammatischen A n a l o g i e ausgeht. Manche Analogiebildungen beruhen auf bloßen Sinnassoziationen, ohne von der F o r m her gestützt zu w e r d e n : So ist z. B. das Genus von f r z . 'dimanche' (vgl. it. 'la domenica') auf die Reihe der Maskulina 'lundi' — 'samedi' zurückzuführen. H ä u f i g e r sind jedoch N a m e n - u n d Sinnassoziationen zugleich beteiligt. Wenn f ü r die Analogie ein u n d dasselbe Beispielwort in Frage k o m m t („paradigmatic analogy"), beruhen diese Assoziationen auf der formalen u n d bedeutungsmäßigen Ähnlichkeit des Stammelements u n d machen sich meist in der Weise geltend, d a ß sie die durch L a u t w a n d e l eingeschränkten bzw. gestörten formalen Entsprechungen aufrechterhalten oder noch verstärken: A f r z . 'il leve' — 'nous lavons'; 'il aime' — 'nous amons' > m f r z . 'il lave' — 'nous lavons' ; "il aime' — 'nous aimons'. E t w a s anders liegen die Dinge, wenn mehr als ein Beispielwort f ü r die Analogie in Frage k o m m t („interparadigmatic a n a l o g y " ) ; in diesem Fall basiert die Assoziation auf gewissen funktionalen (syntaktischen) Übereinstimmungen, die stärker sind als die formalen Verschiedenheiten: Auf G r u n d der Einwirkung von 'sumus' h a t z . B . im Französischen heute die 1. Pers. PI. — mit Ausnahme des passé simple — durchweg die einheitliche E n d u n g '-ons'; nur 'être' ('nous sommes"), von dem die ganze Entwicklung ü b e r h a u p t ausgegangen ist, sollte als einziges Verb v o n dieser Vereinheitlichung ausgenommen bleiben. Solche Analogiebildungen interessieren uns im Augenblick nur, soweit sie verweisenden C h a r a k t e r haben u n d über die Assoziationen Aufschluß geben, die ihnen vorangegangen sind. Auch bei Bedeutungsumformungen können sich Assoziationen geltend machen: Im Englischen h a t die Assoziation zwischen dem adjektivischen und dem adverbialen ' f a s t ' dazu geführt, d a ß das A d j e k t i v im späten Mittelenglischen seine ursprüngliche Bedeutung 'fest, unbeweglich' durch die v o m A d v e r b übernommene N e b e n b e d e u t u n g 'schnell' bereichern k o n n t e ; diese neue Bedeutung w a r v o m A d v e r b f r ü h e r u n d ganz spontan ausgebildet w o r d e n (vgl. N E D u n d Stern, S. 216). D e r synchrone Uberblick w ä r e unvollständig, wenn nicht auch das L e h n g u t als F a k t o r mitberücksichtigt w ü r d e . Dabei kommen selbstverständlich nur solche Entlehnungen in Betracht, die synchron gesehen als f r e m d e m p f u n d e n werden. Sind sie erst einmal in ihre neue U m g e b u n g eingedrungen, k ö n n e n diese Ausdrücke nach u n d nach sowohl in bezug auf die Lautung u n d die Bedeutung, als auch in bezug auf die grammatische Systematisierung den landessprachlichen Gesetzmäßigkeiten angepaßt werden; auch können sie mit der Zeit zu N a m e u n d Sinn der Wörter, die auf der entlehnenden Seite zu ihrem Umkreis gehören,

76

Deskriptive

Semantik

assoziativ in Verbindung treten. Wie Bally bemerkt hat, tendiert 'meeting' im Französischen dazu, wie 'métingue' ausgesprochen zu werden und eine Sonderbedeutung anzunehmen, da man hier bereits über Wörter wie 'réunion', 'assemblée' etc. verfügt. 1 7 7 In diesem Fall haben sich die Assoziationen innerhalb der neuen Sprachgemeinschaft herausgebildet; es ist jedoch auch möglich, daß die Verbindungswege über die Sprachgrenzen hinausgehen, was nicht nur bei echter Zweisprachigkeit oder bei Sprachmischung vorkommt. Erkennen lassen sich die synchron zusammengeschlossenen Glieder auch hier wieder in erster Linie an den diachron eintretenden Veränderungen, die sie eventuell bewirken, an den sogenannten Lehnbildungen also. So berühren sich frz. 'réaliser' und engl, 'to realize' beispielsweise auf Grund einer zweifachen Assoziation, d. h. es liegt Namen- u n d Sinnähnlichkeit vor, woraus sich als Veränderung ergibt, daß durch Nachbildung eine neue Nebenbedeutung im Französischen zustande kommt. Es gibt sogar Fälle, in denen zwei Wörter aus verschiedenen Sprachen ausschließlich über eine Sinnassoziation miteinander verbunden sind: Ein klassisches Beispiel dafür ist engl, 'hobby' und seine nichtenglischen Entsprechungen — 'Steckenpferd', frz. 'dada' usw. — auf das wir noch zurückkommen werden. D a m i t sind wir jetzt in der Lage, zu den Einwänden Stellung zu nehmen, die von den Anhängern der Wortfeldtheorie gegen die funktionale Semantik vorgebracht worden sind. Sie haben einerseits den mit Saussures synchronischer Betrachtungsweise zusammenhängenden Gedanken der sich ausgliedernden Systeme begrüßt und dieses Lob andererseits automatisch wieder annulliert, indem sie der „signifiantsignifié"-Relation jegliche Eignung zur Synthese abgesprochen haben. Ich hoffe nicht nur gezeigt zu haben, daß sich die synchronische Semantik als ein umfassendes Struktursystem um diese Relation herum aufbauen läßt, sondern auch, daß man dabei durchaus im Sinne Saussures verfährt. Unsere Beobachtungen haben überdies das Ineinandergreifen synchronischer und diachronischer Phänomene in der Semantik aufdecken können; sie werden im vierten Kapitel noch einmal zur Sprache kommen und als Gerüst f ü r eine strukturalistische Klassifikation und Erklärung des Bedeutungswandels genutzt werden. Der neugewonnene Begriff der „Assoziationsfelder" ist weit und dehnbar 177

Bally, Ling. gén., S. 315. Die Lautangleichung kann jedodi auch umgekehrt erfolgen, wenn eine bestimmte Menge von Entlehnungen ein neues Phonem in das phonologische System der entlehnenden Sprache einführt. Man nimmt z. B. an, daß das Frz. unter dem Einfluß von Anglizismen wie 'smoking', 'meeting' einen velarisierten Nasal dazugewonnen hat: P. Fouché, „L'évolution phonétique du français du X V I e siècle à nos jours" (FM, 2, 1934, S. 217—236); vgl. jedodi E. Pichon, ebd., 3, 1935, S. 325—344. In dem um 1850 entstandenen Roman Der Dorfnotär [I, 8] des Ungarn Josef Frhr. v. Eötvös erscheint 'meeting' zu „Meeting, Mütting" verdreht, und zwar in der durch viele engl. Brocken eines Anglomanen beeinflußten Sprache des ungebildeten Landadels.

Die einfache

Bedeutung

77

genug, um auch die Sonderformen der von Trier und seinen Schülern gemeinten „Felder" subsumieren zu können. U m diese Einordnung wird man sich zweckmäßigerweise allerdings erst nach einer eingehenden Analyse der „Wortfeldtheorie" selbst bemühen. Bevor wir an diese Aufgabe gehen, wollen wir versuchen, die Hauptmerkmale der einfachen und vielfachen

Bedeutungsbezie-

hungen herauszufinden, wobei uns die im vorliegenden Abschnitt erarbeitete funktionale Analyse der Bedeutung als Anhaltspunkt dienen soll.

3.

DIE EINFACHE

BEDEUTUNG

Die funktionale Definition der Bedeutung als Relation von N a m e und Sinn zeichnet genau vor, wie bei der Charakterisierung der Bedeutungsbeziehung zu verfahren ist. Sie wird sich nach den charakteristischen Merkmalen entweder des einen oder des anderen Begriffs oder nach beiden richten. Die Zahl der zu berücksichtigenden Merkmale steht nicht von vornherein fest, doch dürfte es genügen, wenn wir uns auf eine Auswahl der auffallendsten Züge beschränken. Davon ist der erste an den Namen, der zweite an den Sinn gebunden und der dritte kann dem einen wie dem anderen oder auch beiden zugleich eignen; gemeint ist: Die Traditionsgebundenheit des Namens, die Unbestimmtheit des Sinns und die Gefühlskomponente in beiden Faktoren. I. Die Traditionsgebundenheit

des

Namens

„Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften" sagt Julia [ I I , 2 ] , als sie den erstaunlichen Versuch macht, das Etikett „Romeo" — „leg deinen N a m e n ab . . . der dein Selbst nicht ist" — von E r scheinung und Wesen ihres Geliebten abzulösen. Als Faust vor Gretdien sein pantheistisdies Gottesbekenntnis ablegt, kommt er zu einem ähnlichen Schluß: „Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut" [ F . 3 4 5 7 f . ] . V o n der griechischen Philosophie an steht der Streit um tpvaei und •deaei im Mittelpunkt der Überlegungen über den Ursprung der Sprache. Als einer der Wegbereiter der modernen Sprachwissenschaft hat schon W . D . Whitney mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die sprachlichen Symbole bloß zufällig sind. „Inner and essential connexion between idea and word . . . there is none, in any language upon earth", schrieb er 1868. 1 7 8 Den entscheidenden Schritt hat dann Ferdinand de Saussure getan, als er die „Beliebigkeit des sprachlichen Zeichens" einerseits und dessen „linearen C h a r a k t e r " andererseits 178

W.D.Whitney, Language and the Study of Language nach Jespersen, Language, S. 397, Anm. 1.

(London, 1868), S. 32, zit.

Die einfache

Bedeutung

77

genug, um auch die Sonderformen der von Trier und seinen Schülern gemeinten „Felder" subsumieren zu können. U m diese Einordnung wird man sich zweckmäßigerweise allerdings erst nach einer eingehenden Analyse der „Wortfeldtheorie" selbst bemühen. Bevor wir an diese Aufgabe gehen, wollen wir versuchen, die Hauptmerkmale der einfachen und vielfachen

Bedeutungsbezie-

hungen herauszufinden, wobei uns die im vorliegenden Abschnitt erarbeitete funktionale Analyse der Bedeutung als Anhaltspunkt dienen soll.

3.

DIE EINFACHE

BEDEUTUNG

Die funktionale Definition der Bedeutung als Relation von N a m e und Sinn zeichnet genau vor, wie bei der Charakterisierung der Bedeutungsbeziehung zu verfahren ist. Sie wird sich nach den charakteristischen Merkmalen entweder des einen oder des anderen Begriffs oder nach beiden richten. Die Zahl der zu berücksichtigenden Merkmale steht nicht von vornherein fest, doch dürfte es genügen, wenn wir uns auf eine Auswahl der auffallendsten Züge beschränken. Davon ist der erste an den Namen, der zweite an den Sinn gebunden und der dritte kann dem einen wie dem anderen oder auch beiden zugleich eignen; gemeint ist: Die Traditionsgebundenheit des Namens, die Unbestimmtheit des Sinns und die Gefühlskomponente in beiden Faktoren. I. Die Traditionsgebundenheit

des

Namens

„Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften" sagt Julia [ I I , 2 ] , als sie den erstaunlichen Versuch macht, das Etikett „Romeo" — „leg deinen N a m e n ab . . . der dein Selbst nicht ist" — von E r scheinung und Wesen ihres Geliebten abzulösen. Als Faust vor Gretdien sein pantheistisdies Gottesbekenntnis ablegt, kommt er zu einem ähnlichen Schluß: „Name ist Schall und Rauch, Umnebelnd Himmelsglut" [ F . 3 4 5 7 f . ] . V o n der griechischen Philosophie an steht der Streit um tpvaei und •deaei im Mittelpunkt der Überlegungen über den Ursprung der Sprache. Als einer der Wegbereiter der modernen Sprachwissenschaft hat schon W . D . Whitney mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die sprachlichen Symbole bloß zufällig sind. „Inner and essential connexion between idea and word . . . there is none, in any language upon earth", schrieb er 1868. 1 7 8 Den entscheidenden Schritt hat dann Ferdinand de Saussure getan, als er die „Beliebigkeit des sprachlichen Zeichens" einerseits und dessen „linearen C h a r a k t e r " andererseits 178

W.D.Whitney, Language and the Study of Language nach Jespersen, Language, S. 397, Anm. 1.

(London, 1868), S. 32, zit.

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Deskriptive

Semantik

als die beiden Hauptmerkmale des sprachlichen Symbols herausstellte. 1 7 ' Er war jedoch wohl selbst nicht so recht mit dem W o r t „arbitraire" [„willkürlich", „beliebig"] zufrieden: „Es soll nicht die Vorstellung erwecken, als ob die Bezeichnung von der freien Wahl der sprechenden Person abhinge (weiter unten werden wir sehen, daß es nicht in der Macht des Individuums steht, irgend etwas an dem einmal bei einer Sprachgemeinschaft geltenden Zeichen zu ändern); es soll besagen, daß es u n m o t i v i e r t 179

ist, d . h . beliebig im Verhältnis zum

S. 79—82 u. 156—159 (f. A. S. 100—103 u. 180—184). Das Saussuresche Prinzip ist von Damourette-Pidion und Esnault kritisiert worden, woran sich eine interessante Diskussion angeschlossen hat, beginnend mit E. Benveniste, „Nature du signe linguistique" (Acta Linguistica, 1, 1939, S. 23—29) und weitergeführt durch den wichtigen Beitrag von E. Lerch, „Vom Wesen des sprachlichen Zeichens. Zeichen oder Symbol?" (ebd., S. 145—161) und kürzere Stellungnahmen von E. Pichon (ebd., 2, 1940/41, S. 51 f.), E. Buyssens (ebd., S. 83—86 u. Langages, S. 44—48) und von W. Borgeaud, W. Bröcker und J . Lohmann (ebd., 3, 1942/43, S. 24—30). Die Genfer Schule hat ihren Standpunkt in einer gemeinsamen Stellungnahme von Sechehaye, Bally und H. Frei erneut vertreten (ebd., 2, S. 165—169); siehe auch Bally, „L'Arbitraire du signe" (FM, 8, 1940, S. 193—206) u. Ling. gén., S. 127—139, das einen früheren Aufsatz (BSL, 41, 1945, S. 77—88) ablöst. Einige der Kritiker des Saussureschen Prinzips (Benveniste, Lerch) haben zu zeigen versucht, daß nicht das Zeichen, nicht die „signifìant-signifié"-Relation „beliebig" ist — sie nennen sie vielmehr „notwendig" —, sondern nur die Beziehung zwischen Zeichen und Bezugspunkt. „Ce qui est arbitraire, c'est que tel signe, et non tel autre, soit appliqué à tel élément de la réalité, et non à tel autre" (Benveniste, Acta Linguistica, 1, S. 26). Damit wird das ganze Bedeutungs„gefüge", das „Grunddreieck" verkannt. Dem Bezugspunkt steht nicht die Name-Sinn-Verbindung gegenüber; er ist nur über seine Verknüpfung mit dem Sinn an der Bedeutungssituation beteiligt, da der Sinn per definitionem der Vorstellungsinhalt ist, der dem Bezugspunkt entspricht (sich auf ihn bezieht, sich von ihm herleitet). Mag die Relation von Sinn und Bezugspunkt auch noch sosehr auf konventioneller Abstraktion beruhen, so kann sie doch kaum völlig beliebig genannt werden. Traditionsgebundenheit gibt es, wie wir sehen werden, auf der linken Seite des Dreiecks, in der Relation von Name und Sinn, die wir vereinbarungsgemäß „Bedeutung" nennen. Wie auch sonst braucht die sprachwissenschaftliche Semantik auch hier den Bezugspunkt nicht mit dazuzunehmen. Uber Traditionsgebundenheit und Motivierung vgl. auch Erdmann, Kap. 5 u. 6; Gombocz, S. 11—14; Carnoy, S. 11; Hjelmslev, Principes, S. 171—197; W . Porzig, „Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen" (PBB, 58, 1934, S. 70—97) ; Meillet, Encycl. fr., 1.32, S. 6 f.; v. Wartburg, Einführung, S. 126—136; Serrus, La Langue, S. 42 ff.; Rosetti, S. 13—16; J . M. Koïinek, „Laut und Wortbedeutung" ( T r a v a u x , 8, 1939, S. 58—65); W. Schneider, „Ober die Lautbedeutsamkeit" (ZfdPh, 63, 1938, S. 138—179), bes. S. 161—173 über den lautmalenden Charakter der phonetischen Motivierung; P. Naert, „Arbitraire et nécessaire en linguistique" (Studia Linguistica, I, 1947, S. 5—10); V. Bertoldi, La Parola quale mezzo d'espressione (Neapel, 1946), S. 39 ff.; W. J . Entwistle, „Pre-Grammar?" (Archivum Linguisticum, 1, 1949, S. 117—125), S. 120 f.; J . Orr, „On Some Sound Values in English" ( T h e British Journal of Psychology, 35, 1944/45, S. 1—8); E. L. Thorndike, „The Psychology of Semantics" ( T h e American Journal of Psychology, 59, 1946, S. 613—632), S. 613 ff.; H. J . Pos, „The Foundation of Word-meanings. Différent Approaches" (Lingua, 1, 1948, S. 281—292), S. 289 ff.; und meinen eigenen Aufsatz, „Word-form and Wordmeaning" (Archivum Linguisticum, 1, 1949, S. 126—139).

Die einjache

79

Bedeutung

Bezeichneten, mit welchem es in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit h a t " (S. 8 0 ; f. A. S. 101). Man kann es sich etwas leichter madien, wenn man „willkürlich" durch „konventionell" [bzw. „traditionell"] ersetzt. Wir werden also von der „Traditionsgebundenheit" („conventionality")

der

Symbole sprechen. Dabei darf „konventionell" natürlich nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, also im Sinne einer ausdrücklichen oder auch nur stillschweigenden Vereinbarung über den Ausdruckswert verstanden werden; es soll lediglich besagen, daß keinerlei innere Motivierung oder Rechtfertigung und kein „natürlicher" Zusammenhang zwischen N a m e und Sinn vorliegt. Die Traditionsgebundenheit ist für den sprachlichen Bezeichnungsvorgang so grundlegend, daß sich nur schwer bestimmen läßt, worin sie eigentlich besteht. Wie lange wird diese Frage schon diskutiert, und wie viele Ansichten sind dazu nicht schon geäußert worden! Man ist sich wohl allgemein über den konventionellen Charakter der Wortbedeutung einig, doch gehen die Meinungen darüber auseinander, wo die Traditionsgebundenheit in der Bedeutungsbeziehung eigentlich anfängt, auch mißt man der Traditionsgebundenheit einerseits und der Motivierung andererseits im gesamten lexikalischen System unterschiedliche Bedeutung zu. Vielleicht trägt es zur Klärung bei, wenn wir jedes der drei Probleme gesondert behandeln. T r a d i t i o n s g e b u n d e n h e i t d e r B e d e u t u n g . D i e Gelehrten sind sich einig, daß es keinen inneren Grund dafür gibt, warum a) 'arbor' im Deutschen 'Baum' heißt und warum umgekehrt b) der deutsche N a m e 'Baum' gerade 'arbor' und nicht etwas anderes bezeichnet. Synchron gesehen zeigt sich die Traditionsgebundenheit der Bedeutungsbeziehung daran, daß es eine B e deutungsvielfalt gibt (Synonymie, Polysemie, Homonymie); diachron gesehen daran, daß sowohl Lautwandel als auch Bedeutungswandel eintreten kann; und panchron gesehen daran, daß verschiedene Sprachen für den gleichen oder nahezu den gleichen Sinn verschiedene Namen haben ('Baum', 'tree', 'arbre') und den gleichen oder nahezu den gleichen Namen in verschiedener Bedeutung ('Tier' 'animal'; engl, 'tear' 'Träne'; frz. 'tir' 'Schuß') verwenden. Soweit ist alles klar, dieser Punkt braucht uns also nicht weiter zu beschäftigen. Traditionsgebundenheit

des

Namens.

Sieht man sich den

zweifachen Satz über die Traditionsgebundenheit der Bedeutung genauer an, so zeigt sich, daß hier von den beiden Gliedern der Bedeutungsbeziehung nicht das gleiche gilt. D a m i t der Gegensatz deutlich wird, wollen wir das Problem etwas anders formulieren und fragen: a)

Gibt

Deutschen

es ein

einen Wort

inneren für

'arbor'

Grund

dafür,

vorhanden

ist?

daß

im

Die A n t -

wort lautet offensichtlich: J a. D e r Grund liegt in der außersprachlichen R e a l i tät dessen, was benannt werden muß. Das dürfte selbst für Abstraktionen gelten; wenn wir mit dieser Erklärung nicht weiterkommen, wenn die „Suche nach dem Bezugspunkt" erfolglos bleibt, haben wir uns eben einer H y p o s t a -

80

Deskriptive

Semantik

sierung schuldig gemacht. Wir gebrauchen die W ö r t e r , um uns auf etwas in der Außenwelt zu beziehen, oder wir vermeinen zumindest, sie so zu gebrauchen. Die innere Begründung schließt jedodi nicht zwingende Notwendigkeit ein. Die Außenwelt, das Reich der „Bezugspunkte", liefert nur Rohmaterial f ü r die sprachliche A u s f o r m u n g ; es kann dies auf die verschiedenste Weise ausgewählt, analysiert, klassifiziert und gegliedert werden. Eingeborenensprachen kommen vermutlich gut ohne eine eigene Gattungsbezeichnung f ü r 'Baum' aus 180 ; statt dessen haben sie wohl N a m e n f ü r verschiedene B a u m a r t e n u n d -Sorten. Viele konventionelle Elemente wirken so bei der A u s f o r m u n g des Sinnes mit, aber er wird selbst nie ganz unter den Einfluß der K o n v e n t i o n geraten, da er außerhalb der Sprache, d. h. im Dreieck auf Seiten des „Bezugspunktes", verankert ist. b) G i b t e s e i n e n i n n e r e n G r u n d d a f ü r , d a ß i m D e u t schen ein W o r t mit der L a u t f o l g e 'Baum' v o r h a n d e n ist? G a n z zweifellos gibt es k e i n e n derartigen G r u n d . Es hat indessen einen absolut stichhaltigen ä u ß e r e n G r u n d : Von K i n d h e i t a n sind wir gewohnt, gerade diese Lautfolge mit dem Vorstellungsinhalt zu verbinden, den wir aus den vielerlei uns bekannt gewordenen 'Bäumen' abstrahiert haben. Sie ist m i t samt ihrer Bedeutung a u f u n s g e k o m m e n . In diesem Sinne können wir der These von Benveniste beipflichten, wonach N a m e u n d Sinn „wesensmäßig" und „notwendig" zusammengehören: „Ensemble les deux ont été imprimés dans m o n esprit; ensemble ils s'évoquent en toute circonstance. Il y a entre eux symbiose si étroite que le concept ' b œ u f est comme l ' â m e de l'image acoustique b ö f " ( A c t a Linguistica, 1, S. 25). Diese Feststellung stimmt durchaus mit der Auffassung Saussures, w e n n auch nicht mit der Ballys überein. 1 8 1 Es ist wirklich nicht einzusehen, w a r u m sich „konventionell" und „notwendig" in diesem Zusammenhang ausschließen sollen, obgleich der Ausdruck „willkürlich", so wie er sich unglücklicherweise verstehen läßt, es nahelegen k ö n n t e (vgl. Buyssens, Langages, S. 46, A n m . 1). Wenn es so gibt, wohl aber zweifellos bundenheit 180

181

ist, d a ß es f ü r das Bestehen des N a m e n s keinen inneren G r u n d einen f ü r das Bestehen des Sinns, d a n n z e i c h n e t s i c h nur der N a m e durch völlige Traditionsgea u s , die im Dreieck auf Seiten des „Symbols" in die Be-

Die Ureinwohner von Tasmanien haben z. B. Bezeichnungen für alle Abarten des Eukalyptus und der Akazie, aber keinen Ausdruck für 'Baum' selbst (Jespersen, Language, S. 429). Bally, Ling. gen., S. 128 ff. rechnet die „Assoziationsfelder" zu den Faktoren der Motivierung („motivation implicite"), woraus er folgert, daß ein Wort in seinem „signifiant", in seinem „signifié" oder in beidem motiviert sein kann. Er gebraucht den Begriff „Motivierung" also in einem weiteren Sinne als Saussure oder wir selbst. Vgl. auch Porzig, PBB, 58 u. A. Jolies, „Antike Bedeutungsfelder" (ebd., S. 97 bis 109).

Die einfache

Bedeutung

81

deutungsbeziehung hineinkommt. Folglich gilt für den Namen auch der korrelative Begriff der „Motivierung". M o t i v i e r u n g d e s N a m e n s . O b das Gegenteil von Traditionsgebundenheit, also Motivierung vorliegt, läßt sich mit H i l f e folgender Frage leicht feststellen: G i b t e s e i n e n i n n e r e n , s y n c h r o n w a h r n e h m b a r e n G r u n d d a f ü r , daß ein W o r t gerade diese und k e i n e a n d e r e F o r m h a t ? Wenn diese Frage bejaht werden kann, ist das W o r t stets bis zu einem gewissen Grad motiviert, d. h. aus sich selbst verständlich. Dabei können Umfang und Art der Motivierung wechseln. Ein paar Beispiele mögen die verschiedenen Motivierungsweisen illustrieren: 1. ' p l a t s c h ' — engl, 'splash' — ist dadurch motiviert, daß die Laute, aus denen sich der Name zusammensetzt, so ähnlich wie das Geräusch klingen, das sein Sinn meint. 2. ' t r i p p e l n ' — engl, 'totter' = 'torkeln' — ist dadurch motiviert, daß die Laute, aus denen sich der Name zusammensetzt, in etwa der Bewegung entsprechen, die sein Sinn meint. 3. ' F ü h r e r ' — engl, 'leader' — ist insofern motiviert, als seine W o r t bildungsweise den Begriff des 'Führens' in Verbindung mit einem nomen agentis anzeigt; von untergeordneter Bedeutung ist dabei, ob seine Bausteine 'Führ-' und '-er' motiviert sind oder nicht. 4. und 5. ' S c h w a r z d r o s s e l ' — engl, 'blackbird'— und ' V e r g i ß m e i n n i c h t ' — engl, 'forget-me-not' — sind wie 'Führer' motiviert, nur ist die Wortbildungsweise jeweils verschieden. 6. 'Der F u ß eines Berges' — engl, 'the foot of a Hill* — ist dadurch motiviert, daß der unterste Teil eines Berges und der menschliche Körperteil Ähnlichkeit haben; dabei interessiert nicht, ob der N a m e für den Körperteil seinerseits motiviert ist oder nicht. 7. 'B ii r o' < frz. 'bureau' ist durch eine Berührungsassoziation motiviert, wonach das Geschäftszimmer und sein wichtigster Einrichtungsgegenstand, der Schreibtisch, älter 'Büro', verbunden werden; dabei bleibt die eigentliche Motivierung von 'Büro' außer Betracht. 8. In Julius Cäsar ( I I I , 2) sagt der Dritte Bürger von Brutus: „Er werde C ä s a r !", worauf der Vierte Bürger diesen Wortgebrauch spontan „motiviert": „ I m Brutus krönt ihr Casars bess're Gaben". 1 8 2 Wieder ist es völlig nebensächlich, ob der Eigenname 'Cäsar' letztlich auf Konvention beruht oder nicht. Diese ausgewählten Beispiele lassen drei Haupttypen der Motivierung erkennen, die je einem Grundbestandteil des sprachlichen Systems selbst entsprechen. Das erste und zweite Beispiel ist p h o n e t i s c h m o t i v i e r t .

Diese M o t i -

vierungsart bedient sich direkt der Laute, d. h. ihrer Klang- oder Artikulationsmerkmale. Sie kann immer nur intuitiv und unvollständig sein: Sie deutet Ä h n 183

6

Vgl. Jespersen. Philosophy Ulimann

of Crammar.

S. 67.

82

Deskriptive

Semantik

lichkeiten bzw. Parallelen nur an, und es sind, wie Grammont gezeigt hat, nie alle Lautbestandteile des Namens dabei beteiligt. Sie kommt in den verschiedensten Spielarten vor: Dazu gehören die eigentlichen Onomatopoetika 1 8 3 , lautnachahmende Ausrufe und Interjektionen ('pah!') 184 , Beispiele f ü r wirklich nachweisbare Lautsymbolik 185 und auf stilistischem Gebiet auch Klangmalereien („the so-called 'imitative harmony' of sounds"), Laut-Sinn-Entsprechungen, die zu Reiz und Ausdruckskraft der Wörter beitragen, u. a. m. Ohne auf solche Grenzfragen der Semantik näher einzugehen, wollen wir doch noch auf ein Paradoxon der phonetischen Motivierung aufmerksam machen. Es hängt mit der Motivierung, mit der inneren Beziehung zwischen Lautung und Inhalt zusammen, daß die onomatopoetischen Verfahren der verschiedensten Sprachen einander sehr ähnlich sind ; so hat der N a m e f ü r den 'Kuckuck' beispielsweise seine genauen Entsprechungen in engl, 'cudtoo', f r z . 'coucou', lat. 'cuculus', gr. y.6xxu|, russ. 'kukuska' usw. und sogar in der nicht-verwandten finno-ugrischen Sprachgruppe mit ung. 'kakuk', finn. 'käki', permisch 'kök' usw. (Gombocz, S. 12). Sie fallen daher nicht unter die Lautentsprechungen, mit denen die vergleichende Sprachwissenschaft arbeitet; sie zeugen nämlich nicht von geschichtlicher, sondern von „elementarer Verwandtschaft" [Schuchardt, Brevier, S. 175 u. ö.]. Andererseits gibt die Motivierung den akustischen Eindruck keineswegs getreu, sondern immer nur annäherungsweise wieder. Daher können die Schallwörter von einer und erst recht von verschiedenen Sprachen vielfältig abgewandelt werden. Der zweite H a u p t t y p der sprachlichen Motivierung ist durch das dritte, vierte und fünfte Beispiel vertreten: Hier beruht die Motivierung nicht auf direkter Lautnachahmung, sondern auf m o r p h o l o g i s c h e r Zerlegbarkeit. 186 Durchsichtige Komposita und Ableitungen gehören zu dieser Gruppe. Nach dem gleichen Prinzip wird auch in der Syntax motiviert (z. B. bei der Flexion: engl, 'ships' = 'ship' + '-s'), aber das spielt hier f ü r unser Problem 183

184

135

186

Eingehender wird die Onomatopoeie, die nicht Gegenstand dieses Buches sein kann, z. B. in H . Hilmers Monographie behandelt, auf die sich Jespersen in Language, Kap. 20 teilweise stützt; auch v o n Schuchardt, Brevier, Kap. 5; Gombocz, S. 12 ff.; Bühler, § 13; Urban, Language and Reality, S. 144 ff.; Gray, Foundations, S. 275 f.; Ogden-Richards, S. 12, A n m . 1; Richards, Principles, S. 128 f.; Saussure, S. 81 f. (f. A . S. 101 f.); Bally, Ling. gen., S. 129—133, usw. Gardiner, Speech, S. 3 1 5 — 3 1 9 ; Jespersen, Pbilosopby of Grammar, S. 90; Saussure, S. 81 f. (f. A . S. 102); N y r o p , Ordenes Liv (2 Bde, Kphg., 1901 u. 1924), II, Kap. 1. Jespersen, Language, Kap. 20 und „Symbolic value of the v o w e l i" (Linguistica, S. 2 8 3 — 3 0 3 ) u. „Adversative Conjunctions" (ebd., S. 2 7 5 — 2 8 2 ) . Vgl. Saussure zum Begriff der „relativen Beliebigkeit" S. 156—159 (f. A. S. 180— 184); Bally, Ling. gen., S. 129; v. Wartburg, Einführung, S. 129, Anm. 2 u. S. 134; F. W . Householder, „On the Problem of Sound and Meaning" (Word, 2, 1946, S. 83 f.), usw. Wie Bally, Ling. gen., S. 135 richtig bemerkt, ist auch das „ N u l l suffix" ('tri' gegenüber 'trier') eine Form der Motivierung; das gleiche gilt für die syntaktische H o m o n y m i e in engl, 'to k n o w' — 'to be in the k n o w'.

Die einfache

Bedeutung

83

keine Rolle. Saussure spricht bei dieser Motivierungsart von „relativer Beliebigkeit" („l'arbitraire relatif"), da sie bloß eine Verschiebung um einen Schritt bewirkt: Das Zeichen selbst ist motiviert, nicht aber seine Bestandteile. Die Durchsichtigkeit bzw. Undurchsichtigkeit der betreffenden Komposita oder Ableitungen wird davon jedoch nicht beeinflußt. Eine dritte Motivierungsart hängt von s e m a n t i s c h e n Faktoren ab, wie das sechste, siebte und achte Beispiel zeigt. 187 Sie beruht auf einem Umstand, von dem wir als charakteristischstem Merkmal des Bedeutungswandels noch ausführlich handeln werden, nämlich darauf, daß der alte und der neue Wortsinn in ein und demselben synchronen System nebeneinanderher besteht. Das Wort 'Fuß' bezeichnet weiter unseren Körperteil, während es sich gleichzeitig in übertragenem Sinne auf den untersten Teil eines Berges und auf viele andere Dinge anwenden läßt. Solange sich der Sprecher bei solchen Übertragungen der Bildlichkeit einer Metapher, einer Metonymie, eines Pars pro toto usw. bewußt ist, liegt Motivierung vor. Wieder handelt es sich um „relative Traditionsgebundenheit": Man spricht auf Grund der Ähnlichkeit mit dem Körperteil vom 'Fuß eines Berges', aber der N a m e f ü r den Körperteil beruht ausschließlich auf Konvention. Zuweilen erstreckt sich die Motivierung morphologisch oder semantisch über mehrere Stufen. Ein Wort wie engl, 'leadership' kann in 'leader' + 'ship' zerlegt werden, und davon ist 'leader' dann immer noch motiviert; erst bei weiterer Aufgliederung stößt man auf traditionsgebundene Elemente. Ähnlich ist es bei engl, 'bottleneck' ('Flaschenhals'): Eine 'Stockung im Produktionsablauf u. ä.' heißt im Englischen 'bottleneck', weil man der Ähnlichkeit wegen an die bereits vorhandene Bedeutung 'enge Straßeneinmündung' anknüpft. Diese läßt im Englischen an das 'enge Oberteil einer Flasche' denken, das seinerseits wiederum manches mit unserem Hals gemeinsam hat. 'Neck', das Wort für 'Hals', beruht selbst ausschließlich auf Konvention. Die kleinsten Bausteine morphologisch motivierter Wörter wie auch die Ausgangsbasis f ü r Bedeutungsübertragungen sind also traditionsgebunden, wenn sie nicht zufällig phonetisch motiviert sind. Anders ausgedrüdkt: N u r d i e p h o n e tische M o t i v i e r u n g kann auch die e l e m e n t a r s t e n Bestandteile erfassen. Traditionsgebundenheit und Motivierung zeichnen sich durch zwei besondere Eigenschaften aus: Es sind beides Begriffe, die nur im s y n c h r o n e n System gelten, und selbst da ist ihr jeweiliger Anteil schwer zu bestimmen, da ein s u b j e k t i v e s Moment bei der Interpretation mitsprechen kann. Viele 187

6*

Dazu Bally, Traité de stylistique française (Genf/Paris, 3 1951), I, S. 32—44; E. Wellander, Studien zum Bedeutungswandel im Deutschen (T. I—III, Uppsala, 1917, 1923, 1928), I, S. 25—33 („Mechanisierungsprozeß"); Stern, S. 387 ff.; Frei, CFS, 2, S. 18 („transposition dirigée"), usw. Eine Verbindung von morphologischer und semantischer Motivierung liegt vor, wenn ein Wort in einem Kompositum in übertragener Bedeutung gebraucht wird (z. B. 'Kopf' in 'Brückenkopf').

Deskriptive

84

Semantik

Fälle sind eindeutig, oft k o m m t es aber auch ganz auf den Verstand, das V o r stellungsvermögen, das Feingefühl, ja sogar auf die Augenblicksstimmung und die H a l t u n g des Sprechers a n ; so können sich die Ausdrucksmöglichkeiten eines Wortes bei gefühlsbetontem Sprechen beispielsweise entfalten, aber bei einem sachlichen Gedankenaustausch unbemerkt und unausgeschöpft bleiben. 1 8 8 D a r i n besteht das Geheimnis, wie verblaßte Bilder in der Dichtung neu belebt werden können — ein Kunstgriff, von dem im K a p i t e l über die historische Semantik noch die R e d e sein wird. W o es Motivierung und Traditionsgebundenheit gegeneinander abzuwägen gilt, ist es berechtigter und zweckmäßiger als in jedem anderen Zusammenhang, die synchronische bewußt mit der diachronischen Betrachtungsweise zu k o n f r o n tieren. Man stellt daher einigermaßen überrascht fest, daß sich Saussure selbst verleiten läßt, beide durcheinanderzubringen, als er die Bedeutung d e r O n o m a t o poetika für die Sprache zu schmälern sucht. E r führt an, daß vulgärlat. 'pipio' als „ein zufälliges Ergebnis der lautgeschichtlichen Entwicklung" seine lautmalende K r a f t in frz. 'pigeon' eingebüßt hat, wohingegen f r z . ' g l a s ' < ' c l a s s i c u m ' und 'fouet', eine Ableitung von 'fagus', die ihrige einer eigenwilligen Lautgeschichte zu verdanken haben. 1 8 9 D a s mag durchaus richtig sein, nur hat es zweifellos nicht das geringste damit zu tun, welchen Ausdruckswert Sprecher und H ö r e r darin sehen. G r a m m o n t , der j a eine ganze Reihe von Beispielen bespricht, sdiätzt, daß „les pertes et les gains se balancent à peu près". 1 9 0 Bei den übrigen Motivierungsarten verändert sich das Bild auch laufend. K o m p l e x e morphologische Gebilde haben die Tendenz, zu verschmelzen und nicht weiter zerlegbare Blöcke zu bilden. Wer vermutet schon in 'nicht' ein altes Kompositum, das ungefähr der Fügung 'nicht irgend etwas' entspricht: ahd. 'ni' + 'eo' ('immer') +

'wiht'

('Ding')? 1 9 1 U n d auf semantischem Gebiet ist der Schwund der Bildlichkeit fast schon sprichwörtlich: H ä n g e n engl, 'flower' ('Blume') und 'flour' ('Mehl') synchron gesehen heute etwa noch zusammen? W i e bei den O n o m a t o p o e t i k a werden solche Verluste teils durch die Bildung neuer Komposita, neuer Ableitungen und 188 Y g ] bes. M . G r a m m o n t , „Onomatopées et mots expressifs" (Revue Romanes, 4 4 , 1901, S. 9 7 — 1 5 8 ) , S. 125. Vgl. Hjelmslev, Principes, Schneider, Z f d P h , 6 3 u. Kofinek, Travaux, 8. 189 190 191

S. 81 (f. A . S. 1 0 2 ) ; vgl. Jespersen, Language, Revue des Langues Romanes, 4 4 , S. 132.

des Langues S. 1 9 7 f. u.

S. 4 1 0 u. Hjelmslev, Principes,

S. 194.

[ W i r haben das engl, ' n o t ' ( = 'naught'), das sich ursprünglich aus fast den gleichen Elementen wie die ne. W e n d u n g 'never a whit' ('kein bißdien') zusammensetzt — ae. 'ne + ä + wiht' — , durch die vergleichbare deutsche Bildung ersetzt.] A l t e r tümliche Schreibweisen wirken wie z. B. im Englischen konservierend. Die geschriebene F o r m bewirkt, d a ß verschmelzende K o m p o s i t a wie 'boatswain', 'breakfast', 'forecastle', 'blackguard' in e t w a motiviert sind und daß 'grindstone', zuweilen auch 'waistcoat' so gesprochen wird, wie m a n es schreibt; dazu Jespersen, M E G , I, S. 125 und Essentials of English Grammar (London, 1 9 3 3 ) , S. 4 7 . U b e r den negativen Einfluß der Schreibweise v o n engl, 'flower' — 'flour' u. 'metal' — 'mettle' vgl. den A b schnitt über H o m o n y m i e [s. u. S. 1 1 9 ] .

Die einfache

Bedeutung

85

bildlicher Ausdrücke, teils dadurch wettgemacht, daß Motivierungen eingeführt werden, wo es sie historisch gesehen vorher nicht gab. J . O r r drückt das so aus: „One sees so m a n y words break a w a y from their real etymological m o o r i n g s . . . and become mere arbitrary, non-motivated signs

. . . A n d that is when they

become exposed to this associative etymology . . , " m Dieser einflußreiche F a k tor der nachträglichen morphologischen wie semantischen Motivierung meist, wenn auch recht irreführend, als V o l k s e t y m o l o g i e

wird

bezeichnet.

D i e Erscheinung ist zu bekannt, als daß sie vieler Erläuterungen bedürfte. U m nur einige Beispiele herauszugreifen: Engl, 'welcome 1 hat ursprünglich nichts mit 'well' zu tun; vielmehr steckt das ae. 'wilcuma' darin, es ist also von 'willa' 'Wunsch, Vergnügen' abgeleitet. D i e Verbindung mit 'well' beruht nur auf äußerlicher Ähnlichkeit und wurde erst hergestellt, als der ursprüngliche W o r t zusammenhang undurchsichtig geworden war. Frz. 'jour ouvrable', von 'opéra' >

'œuvre' abgeleitet, wird heute an 'ouvrir' angeschlossen; 'souffreteux', älter

'soufraiteux'
frz. 'cuisse' 'Oberschenkel' kommen. 204 Genausowenig gibt es im Bereich der Farbskala eindeutige Abgrenzungen. 205 Wie Jaberg überzeugend nachgewiesen hat, kann die Unsicherheit aber auch daher rühren, daß es an Gelegenheit fehlt, einen an sich klar begriffenen Gegenstand zu bezeichnen. Ein nach dem mundartlichen Ausdruck für 'Wimpern' befragtes 203

[Correspondance, I I I ( 1 9 2 7 ) , S. 141. U l l m a n n hat dieses Z i t a t v. W a r t b u r g s Évolution et structure de la langue française (Bern, 5 1 9 5 8 ) , S. 2 2 6 entnommen, obwohl es d o r t im sinnentstellenden W o r t l a u t der 1. Aufl. der Correspondance, II (1910), S. 2 1 6 erscheint.] Cassirer, Journal de Psychologie, 30, bringt Beispiele aus dem Deutschen (Schiller, Kleist, vgl. S. 4 2 f.).

204

A. Zauner, „Die romanischen N a m e n der K ö r p e r t e i l e " (Romanische Forschungen, 14, 1903, S. 3 3 9 — 5 3 0 ) , S. 4 5 7 ; R . Meringer, „ Z u r Aufgabe und zum N a m e n unserer Zeitschrift" ( W ö r t e r und Sachen, 3, 1912, S. 2 2 — 5 6 ) , S. 4 6 — 5 2 , bes. S. 4 7 ; v. W a r t burg, Einführung, S. 117 f . ; vgl. auch H . F . Muller, L'Époque mérovingienne (New Y o r k , 1 9 4 5 ) , S. 2 2 9 .

205

Ausführliche Literaturangaben findet m a n bei S. Skard, „ T h e Use o f C o l o r in Literature. A Survey of Research" ( P r o c e e d i n g s of the American Philosophical Society, 9 0 , 1946, N r . 3), bes. S. 2 0 5 f.

Die einfache

Bedeutung

89

Schweizer Mädchen deutete z. B. erst auf die Augenbrauen, dann auf die Wimpern, um herauszubekommen, was denn eigentlich gemeint sei (ASNS, 136, S. 98). Obendrein kann natürlich auch mangelnde Sachkenntnis Verwirrung stiften, besonders, wenn es um Fachausdrücke, ausgefallene Pflanzen und Tiere etc. geht (ebd., S. 105 f.).80« Es liegt auf der H a n d , daß solche Unklarheit und Unbestimmtheit leicht zu Verschiebungen im Wortgebrauch führt, woraus sich dann bedenklichere Formen von Bedeutungsvielfalt entwickeln können. Vorerst stellen wir mit Interesse fest, daß die Sprache wegen des fließenden und unpräzisen Charakters ihrer Wortbedeutungen abwechselnd gelobt und getadelt worden ist. Vom Standpunkt rein rationaler Erwägungen aus ist das Schwanken der Bedeutung und was daraus folgt, gewiß nur zu bedauern, obwohl ein bestimmtes Maß an Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit f ü r die Ökonomie der Sprache unentbehrlich ist und „hochentwickelte" Sprachen gerade von „primitiven" Sprachen unterscheidet. Ein Uberangebot von Konkreta gegenüber einem Minimum von Abstrakta ist bekanntlich ein typisches Merkmal für den Wortschatz unzivilisierter Stämme: Die Zulus haben kein Wort f ü r 'Kuh', nur eins f ü r 'weiße Kuh', 'rote Kuh'; die Mohikaner haben keins f ü r 'schneiden', und die Ureinwohner von Zentralbrasilien haben keinerlei Gattungsnamen für 'Palme' und für 'Papagei', obwohl es für die einzelnen Arten in beiden Fällen eine Fülle konkreter Bezeichnungen gibt. 207 Besonders augenfällig zeigt sich die Ambivalenz der Bedeutungsschwankungen schließlich auch auf literarischem Gebiet. Hebbel beklagt sich darüber, „daß alle Taufen der Sprache Nottaufen sind" [Tagebücher, IV, N r . 5952] (Gombocz, S. 37); und Byron merkt im Don ]uan quasi entschuldigend an: O h that my words were colours! but their tints May serve perhaps as outlines or slight hints. (VI, 109) . . . for to the dolour O f bards and prosers, words are v o i d of colour. ( X I V , 40)

In der französischen Literatur, f ü r die seit Malherbe und La Bruyère das „mot propre" als höchstes Ideal gegolten hatte, setzte, weil sich auch der Parnaß :0u

Man kann ein W o r t natürlich auch deswegen nicht verstehen, weil man mit dem N a m e n vielleicht nicht vertraut ist, w e n n es z. B. ein Fremd- oder D i a l e k t w o r t oder ein Fachausdruck ist; in dem Fall kann das W o r t jedoch nicht als zu „la langue" gehörig angesehen werden, wie sie dem betreffenden Sprecher oder H ö r e r gegenwärtig ist.

207

Einzelheiten dazu gibt Jespersen, Language, S. 429 ff. Eine theoretische Erörterung des Sachverhaltes findet sich bei E. Tappolet, „Von den Ursachen des Wortreichtums in den romanischen Sprachen" (GRM, 14, 1926, S. 2 9 5 — 3 0 4 ) .

Deskriptive

90

Semantik

h i n t e r jene L e h r e gestellt h a t t e , m i t Beginn des S y m b o l i s m u s ein h e f t i g e r U m schwung ein. I n seiner Art

poétique

h a t V e r l a i n e die n e u e R i c h t u n g in F o r m

einer o f f e n e n K a m p f a n s a g e a n die h e r k ö m m l i c h e A u f f a s s u n g v o n Sprache u n d Dichtung proklamiert: Il faut aussi que tu n'ailles point Choisir tes mots sans quelque méprise: Rien de plus cher que la chanson grise Où l'Indécis au Précis se joint. M i t d e r A n f a n g s - u n d Schlußzeile dieses Gedichts: „ D e la m u s i q u e a v a n t t o u t e chose — E t t o u t le reste est l i t t é r a t u r e " ist das g a n z e P r o b l e m umrissen, das inzwischen als G e g e n s a t z v o n „poésie m u s i q u e " u n d „poésie r a i s o n " b e k a n n t g e w o r d e n ist. Diese D i n g e gehen zweifellos über den R a h m e n der sprachwissenschaftlichen S e m a n t i k h i n a u s ; dennoch k o m m t es letztlich auf d e n Mechanismus der B e d e u t u n g s - S i t u a t i o n a n , w e n n es gilt, d e n M i t t e i l u n g s w e r t d e r W ö r t e r gegen ihre A u s d r u c k s k r a f t a b z u w ä g e n . D a s P r o b l e m b e s c h r ä n k t sich a b e r nicht auf die U n b e s t i m m t h e i t des Sinns a n sich, s o n d e r n es h ä n g t auch noch m i t einem d r i t t e n wichtigen P u n k t z u s a m m e n , auf den w i r n u n z u sprechen k o m m e n wollen: mit dem Z u s a m m e n w i r k e n erkenntnismäßiger sowie gefühls- bzw. w i l l e n s m ä ß i g e r F a k t o r e n in d e r W o r t b e d e u t u n g . III.

Gefühlselemente

in Name

und

Sinn

W e n n v o n den gefühlsmäßigen K o m p o n e n t e n der Bedeutungsbeziehung die R e d e ist, so steht „ g e f ü h l s m ä ß i g " gleichsam s t e l l v e r t r e t e n d f ü r alle nichte r k e n n t n i s m ä ß i g e n F a k t o r e n , d i e a n sprachlichen F ü g u n g e n beteiligt sein k ö n nen. Es sind also s o w o h l a f f e k t i v e w i e w i l l e n s m ä ß i g e A s p e k t e g e m e i n t u n d , v o n a n d e r e r W a r t e aus gesehen, d e r A u s d r u c k d e r eigenen G e f ü h l e so g u t w i e das Auslösen f r e m d e r G e f ü h l s r e a k t i o n e n . A n sich w ä r e K a r l B r i t t o n s T e r m i n u s „ e m o t i v e - d y n a m i c " e x a k t e r , u n d verschiedene P h i l o l o g e n ( V e n d r y e s , B r u n o t , S t e r n u. a.) m a c h e n auch w i r k l i c h einen U n t e r s c h i e d zwischen b e i d e n Sprechweisen. D a es sich i n n e r - u n d a u ß e r h a l b der Sprachwissenschaft a b e r n u n einm a l e i n g e b ü r g e r t h a t , beides „ g e f ü h l s m ä ß i g " z u n e n n e n , d ü r f t e diese a b g e k ü r z t e Ausdrucksweise k a u m zu Mißverständnissen führen. D i e e m o t i o n a l e Seite d e r S p r a c h e ist ebenso wichtig w i e i h r e E r k e n n t n i s f u n k t i o n . 2 0 8 Theoretisch h a t jede Ä u ß e r u n g s o w o h l einen M i t t e i l u n g s w e r t als 208

Aus der Fülle der nichtsprachwissensdiaftlichen Untersuchungen zu diesem Gegenstand nennen wir nur Delacroix, Langage, S. 391—402; H. H. Britan, „The Function of the Emotions" (Psychological Review, 33, 1926, S. 30—50); F. Paulhan, „La double fonction du langage" (Revue Philosophique, 104, 1927, S. 22—73); Ogden— Richards, passim, bes. S. 149 ff.; Richards, Principles, Kap. 34; K. Britton u. H. R. Walpole, a. a. O., usw., sowie „A Symposium on Emotive Meaning" (The Philosophical

Die einfache

Bedeutung

91

auch einen Gefühlswert: Immer soll etwas ausgesagt werden, immer besteht auch ein persönliches Interesse an der Aussage. Delacroix drückt das so aus: „Tout langage a une valeur affective; si ce que je dis m'était indifférent, je ne le dirais pas. Mais aussi tout langage vise à communiquer quelque chose. Si l'on n'avait absolument rien à dire, on ne dirait rien" (Langage, S. 392). In der Rede kommen grundsätzlich immer beide Elemente vor, nur ist ihr Anteil jeweils verschieden. Deswegen ist es auch so schwer, die beiden Aspekte auseinanderzuhalten: Die Psychologen haben von der „siamesischen Unzertrennlichkeit", von einer „minuziösen Verquickung" der beiden Funktionen gesprochen.209 Es kommt natürlich häufig vor, daß der eine Bestandteil den andern völlig überlagert. Um sicher entscheiden zu können, ob eine Aussage vorwiegend vom Verstand oder vom Gefühl her bestimmt ist, schlagen Ogden-Richards vor, die Testfrage zu stellen: „Is this true or false in the ordinary strict scientific sense?" (S. 150). Freilich bleibt immer zu bedenken, daß es in vielen Fällen um ein Mischungsverhältnis geht, man sich also nicht f ü r das eine oder andere entscheiden kann. Es ist nur natürlich, daß alle Elemente im System der Sprache ihr Teil dazu beitragen, eine so wichtige Funktion zu erfüllen. Gefühle können sich auf vielerlei Art und Weise mitteilen: Über die Intonation und den Rhythmus, die Wahl der Suffixe (Koseformen, Pejorativa etc.), durch Wortstellung und Satzbau usw. Eins dieser Mittel ist die Gefühlswirksamkeit der Wortbedeutung. Schon früh hat man in der Bedeutungsforschung erkannt, daß der Sinn eines Wortes nur dann vollständig beschrieben ist, wenn auch seine gefühlsmäßigen „Obertöne" mitberücksichtigt werden. Diesen Gesichtspunkt hat Erdmann in Verbindung mit dem „Schichtenaufbau" der „Begriffe" auf eine berühmte dreigliedrige Formel gebracht. Erdmann unterscheidet an der Bedeutung dreierlei: 1. „den begrifflichen Inhalt"; 2. „den Nebensinn"; 3. „den Gefühlswert (oder Stimmungsgehalt)". 210 Diese Analyse hat die nachfolgende Entwicklung nachhaltig beeinflußt. Bekanntlich hat auch I. A. Richards versucht, die erkennt-

209

210

Review, 57, 1948, S. 111—157). Von sprachwissenschaftlichen Studien seien besonders genannt: B. Bourdon, L'expression des émotions et des tendances dans le langage (Paris, 1892); M. Bréal, Essai de Sémantique (Paris, 1897), Kap. 25; Erdmann, Kap. 4; Vendryes, Langage, T. 2, Kap. 4; Brunot, a . a . O . , S. 539—573; Bally, Stylistique, passim, bes. I, S. 16. An diachronischen Bedeutungsuntersuchungen nennen wir Hans Sperbers Einführung in die Bedeutungslehre (Bonn/Leipzig, 2 1930), die die gefühlsmäßigen Faktoren ganz besonders hervorhebt; wir werden darauf im 4. Kap. noch zu sprechen kommen [s. u. S. 180 ff.]. Britan, a . a . O . , S. 41 f.; Gray, Foundations, S. 97; Ogden-Richards, S. 150; Vendryes, Langage, S. 164, usw. Erdmann, S. 107. Vgl. dazu die Ausführungen bei Wellander, I, S. 40—44 (er faßt „Nebensinn" und „Gefühlswert" unter dem Terminus „Assoziationsgehalt" zusammen); H. Güntert, Grundfragen der Sprachwissenschaft (Heidelberg, 2 1956), S. 51— 56; Weisgerber, Muttersprache und Geistesbildung, S. 87; Stern, S. 63 f., Anm. 1; Meriggi, a. a. O., S. 89 ff.

92

Deskriptive

Semantik

nismäßigen von den gefühls- und willensmäßigen Faktoren in der Bedeutung zu trennen. Er unterscheidet zwischen 1. Sinn [„sense"]; 2. gefühlsmäßiger Einstellung (zum I n h a l t der Aussage) [ „ f e e l i n g " ] ; 3. Ton (Einstellung zum H ö r e r ) [ „ t o n e " ] ; 4. Absicht [„intention"]. 2 1 1 Diese Einteilung hat den Vorzug, d a ß sie die verschiedenen Aspekte des „emotionalen" Sprechens gut herausbringt, aber sie läßt sich eher auf zusammenhängende Äußerungen als auf einzelne Wörter anwenden. Die gefühlsmäßige Bedeutung kann verschiedenen Ursprungs sein. 212 A m meisten befriedigt die Einteilung von Charles Bally, bei der es auf zweierlei Faktoren a n k o m m t : 1. auf innere („caracteres affectifs naturels"), womit die Ausdrucksmöglichkeiten des Wortes selbst, und z w a r die des Namens wie die des Sinns gemeint sind; 2. auf äußere („effets p a r evocation"), womit die den Fremdwörtern, Archaismen, Fachausdrücken, dem Slang u n d der Sondersprache etc. eigene Färbung gemeint ist. 213 An H a n d all dieser Kriterien wollen wir nun versuchen, den Gefühlswert zu den f ü r die Semantik und die Sprachwissenschaft als Ganzes geltenden P r i n zipien in Beziehung zu setzen. D a f ü r bieten sich verschiedene Zugangsmöglidikeiten an. Der Bedeutung nach rangiert wohl die Gegenüberstellung von „ l a n g u e " u n d „ p a r o l e " an erster Stelle. Zweifellos sind die gefühlsmäßigen Obertöne eines Worten weitgehend vom Sprechkontext abhängig. Wie wir schon sahen, geht meistens nur aus der Sprechsituation hervor, ob ein Ausdruck sachbezogen oder affektiv gebraucht wird, als „langage-signe" oder als „langage-suggestion" [Paulhan, Revue Philosophique, 104, S. 28 u . ö . ] . Selbst die prosaischsten Dinge können mit einem Mal einen ungeahnten Stimmungsgehalt bekommen: T h o u wall, O w a l l , O sweet and lovely wall, Show me thy chink, to blink through with mine eyne! Thanks, courteous w a l l : J o v e shield thee well for this! But what see I? N o Thisby do I see. O wicked wall, through w h o m I see no bliss! Cursed be thy stones for thus deceiving me! A Midsummer Night's Dream, V, 1

Die beabsichtigte W i r k u n g braucht dabei keineswegs immer komisch zu sein; das beweist die tragische Hysterie Richards I I I . : „A horse! a horse! m y kingdom for a horse!" [V, 4]. Gefühlsbeiklänge dieser A r t gehören eindeutig 211

212

213

Practical Criticism, [bes. S. 1 8 1 — 1 8 3 ] ; Mencius on the Mind, etc. [Ullmanns K l a m merzusätze sind insofern falsch zugeordnet, als „feeling" und „tone" versehentlich in umgekehrter Reihenfolge erscheinen.] Vgl. z. B. H . Oertel, Lectures on the Study of Language ( N e w York/London, 1902), S. 299; Paulhan, Journal de Psychologie, 25, S. 304; Ballard, a . a . O . , S. 46 f . ; Buyssens, Langages, S. 70 f., etc. Stylistique, I, T . 4 u. 5; Gombocz, S. 17—30.

Die einfädle

Bedeutung

93

der „parole" an. Sie unterscheiden sich von rein privaten Assoziationen, die sich mit Kindheitserinnerungen oder anderen, zuweilen unbewußten Erlebnissen verbinden, wie denn manche Leute z. B. eine eigentümliche Vorliebe bzw. Abneigung gegenüber bestimmten Vornamen haben. Diese Assoziationen gehören, so beständig und einheitlich sie auch sein mögen, nicht zum System der Sprache, da sie auf den Einzelnen beschränkt und für die übrige Sprachgemeinschaft unverständlich sind. Es gibt andererseits aber auch Gefühlselemente, die weder vom Einzelnen noch rein vom Kontext abhängig sind: Sie bleiben dauernd mit dem Wort verbunden und machen es manchmal erst zu dem, was es ist. Ihr Ausdruckswert läßt sich am besten an Synonymen- oder vielmehr Pseudosynonymen-Reihen ablesen: 'Mädchen — Deern — Maid', 'Mutter — Mammi — Mater', 'klein — gering — lütt — winzig — klitzeklein — minimal — M i n i a t u r . . . — Mikro . . .' usw. Auch hier wird der Kontext miteinbezogen, nur handelt es sich dabei um Kontexte der „langue" und nicht um Kontexte der „parole", die sich wechselseitig beeinflussen und damit den Gefühlston relativ konstant halten. Doch zuweilen sind selbst diese Kontexte überflüssig. Auch ganz f ü r sich genommen kann der Bedeutungskern eines Wortes Gefühlsmomente enthalten: „their real significance is as much emotional as it is conceptual." 214 In vielen Wörtern, die mit Anerkennung oder Mißbilligung verbunden sind, schlagen sich mit der Zeit die Stimmungen und Gefühle nieder, die sich in zahllosen Kontexten immer wieder mit ihnen verbinden. Man denke nur an: 'Freiheit' ['freedom', 'liberty'], 'Demokratie', 'Recht', 'Verfolgung', 'Tyrannei' — im Englischen alle vorzugsweise groß geschrieben — und an all die Ismen und Modewörter! Paulhan hat f ü r solche gefühlsbelasteten, gefährlich aufgeladenen Schlagwörter den bildlichen Ausdrude „Kondensationen" eingeführt. 215 Als Haupteinwand bringt die Allgemeine Semantik gegen jene Wörter vor, sie gäben sich oft sachbezogen, während sie doch in erster Linie dazu bestimmt seien, Gefühle an- und auszusprechen. Über die Polarität von „langue" und „parole" hinweg hat als weiteres Grundprinzip des sprachlichen Gefüges auch die Gegenüberstellung von internen und externen Elementen direkt etwas mit dem Gefühlswert zu tun. „Extern" hat dabei den im vorigen Kapitel beschriebenen weiteren Sinn und umfaßt also Lehngut, Übernahmen aus Mundarten oder älteren Sprachstadien, Übernahmen aus dem sondersprachlichen Wortgebrauch fachlicher, beruflicher und sozialer Gruppen und sogar aus Slang und Cant. Es geht um alle die Fälle, wo ein Wort seiner Herkunft nach irgendwie aus der Stilschicht des Kontextes heraus214

215

Britan, Psych. Review, 33, S. 36. Solche Fälle dürfen nicht mit Wörtern verwechselt werden, deren Bestimmung es ist, Gefühle zu bezeichnen. Wie Morris richtig bemerkt (Signs, S. 68), ist 'Emotion' selbst kein emotionaler Begriff. Vgl. jedoch Stern, S. 57 ff. Paulhan, Revue Philosophique, 104, S. 41—49.

94

Deskriptive

Semantik

fällt: Selbst auf Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher, familiärer und gelehrter Ausdrucksweise kommt es dabei an. Die gefühlsmäßige Wirkung dieser Elemente beruht auf ihrem E v o k a t i o n s v e r m ö g e n : Sie erinnern uns an die Umgebung bzw. an die Stilschicht, in die sie normalerweise hineingehören. Bally spricht hier von „effets par évocation d'un milieu" [Stylistique, I, S. 217 fi.]. Als Bezeichnung deckt sich „gefühlsmäßig" natürlich nicht mit „evokativ"; man kann auch etwas evozieren, ohne emotional wirken zu wollen. Das Lokalkolorit in vielen realistischen und naturalistischen Romanen, z. B. die Bergbau-Terminologie in Zolas Germinal, dient nur der sachgetreuen Darstellung und hat keinerlei Gefühlsbeiklang. Andererseits beeinflußt die Gefühlsfärbung, die auf Grund von Snobismus und Vorurteilen mit nationalen und sozialen Unterscheidungen verbunden ist, leicht den Affektgehalt solcher Ausdrücke. Selbst Dante hat zwischen „vocabula puerilia, muliebria, virilia, silvestria und urbana" 2 1 6 unterschieden; und wenn in neuerer Zeit von chauvinistischen Institutionen wie dem Allgemeinen Deutschen Sprachverein Jagd auf Fremdwörter gemacht worden ist, so beweist das, welcher Zündstoff in solchen Gefühlen steckt.217 Für die stilistische Nuancierung der „Barbarismen, Provinzialismen, Vulgarismen, Archaismen" 218 und Fachausdrücke ist die Semantik nicht zuständig; vieles gehört offensichtlich der „parole" und nicht der „langue" an. Gefühlstöne dieser Art können jedoch auch nachhaltigere Wirkungen haben. Sie können der Antrieb dafür sein, daß ein Wort über seine sprachlichen, mundartlichen oder sozialen Schranken hinausgetragen wird, und daß gelegentlich auch umfangreichere Entlehnungsvorgänge eingeleitet werden, die das gesamte Gefüge und System des Wortschatzes verändern. Es gibt vielerlei Beweggründe f ü r eine solche Nachahmung großen Stils. So haben etwa die Begleiterscheinungen beim Aufstieg des Vulgärlateins überall auf eine Demokratisierung der Sprache hingewirkt. Ernsthafte Bemühungen um eine Abkehr vom eingefahrenen Sprachgebrauch mögen dabei genauso mitgewirkt haben wie andere Vorstöße in die gleiche Richtung (Dezentralisierung, Soldatensprache); jedenfalls ist es zu einer Unmenge volkstümlicher und bildlicher Ausdrücke gekommen. Die Überlegenheit von 'testa' 'bauchiges Gefäß' über 'caput', um nur ein Beispiel herauszugreifen, geht in nicht geringem Maße auf den urwüchsigen, 218

217

218

[De vulgari eloquentia, II, 7] (bei Gombocz, S. 27); vgl. Jespersens Hinweis auf das altindische Drama, Language, S. 241 ff. Vgl. L. Spitzer, Fremdwörterhatz und Fremdvölkerhaß (Wien, 1918); Nyrop, Er Krig Kultur? (Kopenhagen, 1916), Kap. 12; Schuchardt, Brevier, Kap. 13, bes. S. 324 f.; vgl. auch meinen Aufsatz „Anglicism and Anglophobia in Continental Literature" (Modern Languages, 27, 1945/46, S. 8—16 u. S. 47—51). Eine berühmte Verbindung von Archaismen und Gallizismen, in der die Stimmung der Chanson de Roland nachklingt, findet sich in der Schlußzeile von Georges Gedicht „Franken" aus dem Siebenten Ring: „ R E T U R N E N T F R A N C E N F R A N C E DULCE TERRE".

Die einfache

Bedeutung

95

volkstümlich derben C h a r a k t e r dieser anschaulichen und ausdrucksvollen M e tapher zurück. 2 1 9 D a s neuerliche V o r d r i n g e n v o n A r g o t b i l d u n g e n wie ' c a m o u flage' 2 2 0 und das V o r d r i n g e n umgangssprachlicher E l e m e n t e im Englischen und insbesondere im A n g l o a m e r i k a n i s c h e n ist a u f ähnliche Einflüsse zurückzuführen. Zu Z e i t e n massenhafter E n t l e h n u n g e n — m a n denke n u r an die I t a l i a n i s m e n im Elisabethanischen E n g l a n d , an die A n g l i z i s m e n im F r a n k r e i c h des 18. J h . s !



k ö n n e n ganze Bereiche des W o r t s c h a t z e s m i t L e h n w ö r t e r n durchsetzt werden. Bei E n t l e h n u n g e n k o m m t es in erster L i n i e a u f das P r e s t i g e an. Es k a n n a u f einen bestimmten Wirkungskreis, in dem m a n eine f r e m d e N a t i o n der eigenen überlegen glaubt, beschränkt sein, w ä h r e n d Masseninvasionen a u f eine allgemeinere G e f ü h l s h a l t u n g , a u f einen v o m S t e m p e l des F r e m d e n verliehenen Anstrich von V o r n e h m h e i t , E l e g a n z und Feinheit hindeuten. W ö r t e r , die im Z u g e solcher Bewegungen ü b e r n o m m e n werden, haben daher einen ausgesprochen tiven

posi-

G e f ü h l s w e r t ; dagegen k ö n n e n einzeln ü b e r n o m m e n e W ö r t e r auch aus

pejorativen

Konnotationen

die f ü r ihre V e r b r e i t u n g n ö t i g e

Dynamik

herleiten. E i n Ausdruck wie ' G o d d a m ' b z w . ' G o d o n ' , der sich eigentümlich lange zu h a l t e n v e r m a g und in den M u n d a r t e n überall A b l e g e r gefunden h a t , ist mit G e f ü h l e n belastet, in denen sich die A t m o s p h ä r e der anglo-französischen F e i n d seligkeiten verdichtet, die zu seiner E n t s t e h u n g geführt haben. 2 2 1 A l s drittes k a n n der G e f ü h l s g e h a l t m i t G e w i n n auch unter einem spezifisch semantischen Gesichtspunkt betrachtet w e r d e n , nämlich v o n der tion

des

Namens

und

des

Sinns

Funk-

aus. B e i d e sind ihrer A r t

nach

geeignet, das G e f ü h l anzusprechen. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied darin, d a ß der N a m e zur G e f ü h l s w i r k u n g z w a r

beitragen,

diese aber

nicht direkt, o h n e H i l f e des Sinns, auslösen k a n n , w ä h r e n d der S i n n auch o h n e Z u t u n des N a m e n s g e f ü h l s w i r k s a m werden k a n n . D a ß in der L a u t s t r u k t u r einer Sprache ästhetische u n d musikalische Q u a l i täten stecken, ist v o n Aristoteles an bis hin zu den S y m b o l i s t e n und ihrem „ m o t s o n o r e " ein locus c o m m u n i s der R h e t o r i k . 2 2 2 E s f e h l t dabei nicht an h a n d greiflichen K r i t e r i e n : Teils sind es akustische (unterschiedlicher

Stimm-

und

A t e m u m f a n g , T o n h ö h e , K l a n g f a r b e , Nebengeräusche, R h y t h m u s und M e l o d i e 218

220 221

222

Vgl. Bally, Le Langage et la vie (Genf/Lille, 3 1952), S. 39 u. 49; Löfstedt, Syntactica, II, S. 352; v. Wartburg, Einführung, S. 136. Bonfante, Mélanges Bally, S. 199 nimmt hier Tabueinfluß an. Siehe Nyrop, Linguistique et histoire des mœurs (Paris, 1934), S. 239 ff. ['Godon' als Spitzname für den Engländer wird als schallnadiahmende Bildung der Franzosen für den von Engländern oft gehörten Fluch 'God -damn' erklärt: Nyrop, Sémantique, S. 210; Jespersen, Language, S. 399; Stern, S. 329.] Vgl. Dauzat, „Étymologies françaises et provençales" ( R o m a n i a , 44, 1915/17, S. 238—257), S. 244 bis 246. Ähnliche Beispiele bringt mein Aufsatz „Anglicisms in French" (PMLA, 62, 1947, S. 1153—1177), S. 1155 u. 1169. Vgl. Bourdon, a. a. O.; Grammont, Revue des Langues Romanes, 44, S. 97 ff.; Bally, Stylistique, I, S. 53 ff.; Marouzeau, Stylistique, Kap. 1; Gombocz, S. 19—25 (mit dem Cicero-Zitat) ; Korinek, Travaux, 8, S. 63, Anm. 6 usw.

96

Deskriptive

Semantik

in Lautverbindungen), teils motorische und kinästhetische (Artikulationsbewegungen und -folgen). Ihretwegen mag Cicero das x als „vasta littera" und das / als „insuavissima littera" getadelt haben. Der rein klangliche Eindruck all dieser zusammenwirkenden Faktoren wird besonders lebhaft empfunden, wenn es sich um eine fremde Sprache handelt; je unbekannter sie einem ist, desto eher fallen einem ihre lautlichen Eigenheiten auf. Für Alfieri ist das it. 'capitano' dem frz. 'capitarne' und dieses wiederum dem engl, 'captain' weit überlegen, [und er sagt in einem Epigramm auch warum]. 2 2 2 3 Bei der Einschätzung muttersprachlicher Elemente richtet sich die ästhetische und gefühlsmäßige Wirksamkeit des Namens danach, wie der Sinn beschaffen ist und ob beide zusammenpassen. Man braucht nur an den Unterschied zwischen frz. 'tinter' 'klingen' und seinem Homonym 'teinter' 'färben', zwischen engl, 'peel' 'Schale' und 'peal' 'Glockenspiel' oder zwischen engl, 'toll' 'Glockenläuten' und 'toll' 'Zollabgabe' zu denken. 'Ombre', 'sombre', 'nombre', 'décombres' gehören zu den häufigsten und ausdrucksvollsten Reimwörtern in der französischen Dichtung; aus rein formalen Gründen würde sich 'concombre' jedoch noch besser eignen. Obwohl Gautier und viele Ästheten nach ihm das Gegenteil behaupten, sprechen alle Gründe f ü r das vorsichtig formulierte Ergebnis von Charles Bally: „Certains groupements de sons f a v o r i s e n t , le cas échéant, une impression des sens, une représentation sensible, si le sens du mot se prète à cette association; à eux seuls, les sons ne parviendraient pas à produire une action de ce genre" (Stylistique, I, S. 55). D i e A u s d r u c k s k r a f t d e r L a u t e , die nur einen besonderen Aspekt der phonetischen Motivierung darstellt, kann in doppelter Hinsicht gefühlswirksam sein. Wenn Lautung und Bedeutung harmonieren, macht sie sich im Einklang und in der ästhetischen Symmetrie angenehm bemerkbar. Gleichzeitig verstärkt sie den gefühlsmäßigen Eindruck des Sinns. Gerade dieses Mittel wird von der Dichtung und anderen Formen gefühlsbetonten Sprechens gern genutzt; dennoch sollte seine Gefühlswirksamkeit nicht überschätzt werden. So sind etwa die romanischen N a m e n f ü r die 'Schwalbe' — frz. 'hirondelle', it. 'rondinella', span. 'golondrina' — und in gewisser Weise sogar die germanische Reihe — 'Schwalbe', engl, 'swallow', schwed. 'svala' — vom Klang her besonders geeignet, einen so „poetischen" Vogel zu bezeichnen und tragen ohne Zweifel zur gefühlsmäßigen Resonanz des Sinnes bei. In anderen Sprachen läßt das Wort f ü r 'Schwalbe', z. B. ung. 'fecske', die Ausdruckskraft der Laute jedoch manchmal vermissen und kann doch unvermindert gefühlswirksam sein, "2a [Opere di Vittorio

Alfieri — Bicentenario Alfieriano —, Bd. 9 (Asti, 1954), S. 190:] C a p i t a n o , è parola Sonante, intera, e nella Italia nata: C a p i t è n , già sconsola, Nasalmente dai Galli smozzicata: K e p t n poi, dentro gola Dei Britanni aspri sen sta s t r a spolpata.

Die einfädle

Bedeutung

97

sogar in Liedern, denen es seiner Unmusikalität wegen eigentlich erhebliche Schwierigkeiten machen müßte. Ausdruckskraft und Gefühlsfärbung scheinen in einem Austauschverhältnis zu stehen. Die Ausdruckskraft trägt zur Gefühlswirksamkeit bei; umgekehrt zielen die Gefühlselemente, sowohl auf der Stufe der „langue" wie der „parole", darauf ab, die Ausdrucksmöglichkeiten herauszustellen und die Atmosphäre zu schaffen, in der diese zur Geltung kommen können. J. M. Korinek hat in dem bereits genannten Aufsatz „Laut und Wortbedeutung" weitgehende Entsprechungen zwischen Konventionsabhängigkeit und Ausdruckskraft einerseits und sachbezogener und gefühlsmäßiger Bedeutung (zwischen „notional und interjektional fungierenden Semantemen") andererseits festgestellt. Je affektbetonter ein Wort, sei es dauernd oder nur in einem bestimmten Kontext, desto empfänglicher wird man für seine Ausdrucksmöglichkeiten und umgekehrt. Vom wissenschaftlichen Begriff auf der einen Seite bis zur reinen Interjektion auf der anderen Seite reicht die Skala der Möglichkeiten, die zeigt, wie unterschiedlich das Evokationsvermögen der Wörter genutzt sein kann. Gefühlsbetontes Sprechen kann selbst da noch um Ausdruckskraft bemüht sein, wo es sie entweder nicht gibt oder wo, was noch schlimmer ist, Form und Inhalt geradezu in einem Mißverhältnis stehen. Das zeigt sich an einem berühmten Beispiel f ü r eine „reversive Motivierung". In der Verstandeswelt bzw. in der Verwendungsweise, in der es gewöhnlich vorkommt, ist ohne weiteres klar, was mit einem 'Kompendium' — dazu engl, 'compendious', frz. 'compendieux' — gemeint ist, und niemand wird sich dabei klarmachen, daß zwischen der massigen Erscheinungsform des Wortes und seiner Bedeutung des Kurz und Bündigen eine gewisse Diskrepanz besteht. Anders in folgendem Abschnitt aus Racines Komödie Les Plaideurs [ I H , 3 ] : Je vais, sans rien omettre, et sans prévariquer, C o m p e n d i e u s e m e n t énoncer, expliquer,

Von der Prosodie her wird die schwerfällige Vielsilbigkeit des Adverbs, das allein schon einen ganzen Halbvers des Alexandriners füllt, noch unterstrichen. Im Rahmen des Scheinprozesses wird der Zuhörer darin einen jener langen, pedantischen Ausdrücke erkennen, die in derselben Szene einmal „ . . . des mots longs d'une toise, de grands mots qui tiendraient d'ici jusqu'à Pontoise" genannt werden. Hier ist die Diskrepanz zwischen N a m e und Sinn so groß, daß mancher den Sinn hinter dem N a m e n nicht einmal errät und sich möglicherweise eine Zweideutigkeit ergibt, die vom Dichter beabsichtigt sein kann oder auch nicht. 223 Der gefühlsmäßige Aspekt der Wortbedeutung ist noch v a r i a b l e r und 223

7

Vgl. Paulhans Untersuchung, Revue Philosophique, 104, S. 46 [u. die Anm. in der Racine-Ausg. v. P. Mesnard: Bd. 2 (Paris, «1886), S. 218 f.]. Ulimann

Deskriptive

98

Semantik

unbeständiger als der rein e r k e n n t n i s m ä ß i g e . Dieselben F a k t o r e n , die die l e x i kalische M o t i v i e r u n g b e w i r k e n u n d wieder untergraben

('pigeon' —

'glas'),

bestimmen damit auch die Ausdruckskraft und das E v o k a t i o n s v e r m ö g e n vieler W ö r t e r . A n d e r e büßen ihren AfFektgehalt womöglich dadurch ein, d a ß die U m stände und Assoziationen, a u f die er zurückgeht, an A k t u a l i t ä t v e r l o r e n h a b e n ; das beweisen z. B . ' H o m e r u l e ' , ' S u f f r a g e t t e ' und viele andere S c h l a g w ö r t e r v o n einst. Modeausdrücke wie 'schrecklich' oder ' f u r d i t b a r ' sind meist nur anfangs e f f e k t v o l l , weil sie d a u e r n d w i e d e r h o l t u n d ü b e r b e t o n t w e r d e n . Bildlicher W o r t gebrauch v e r b l a ß t leidit u n d w i r d leicht immer begrifflicher: H e u t e ist 'tête' der K o n k u r r e n z rivalisierender A r g o t w ö r t e r wie 'poire', 'citrouille', ' c i b o u l o t ' etc. genauso ausgesetzt, w i e es e i n m a l selbst das f a r b l o s e ' c a p u t ' v e r d r ä n g t h a t . E i g e n n a m e n , insbesondere V o r n a m e n 2 2 4 sind dem gleichen modischen A u f und A b u n t e r w o r f e n ; aber durdi unberechenbare L a u t e n t w i c k l u n g e n k ö n n e n sich auch g a n z neue Möglichkeiten der A f f e k t b e t o n u n g ergeben, k a n n sogar ein B e d e u tungswandel eingeleitet w e r d e n : S o ist e t w a der a p p e l l a t i v e Gebrauch

von

' C i c e r o n e ' im Italienischen, v o n w o aus er auf a n d e r e Sprachen übergegangen ist, vermutlich durch den E v o k a t i o n s e f f e k t der beiden c (tsch) - L a u t e dieser Sprache begünstigt w o r d e n . 2 2 5 S o l d i e und ähnliche P h ä n o m e n e sind sehr oft Gegenstand v o n W o r t u n t e r s u c h u n g e n 2 2 6 u n d sollten hier nur im H i n b l i c k

auf

ihre semantischen V o r a u s s e t z u n g e n k u r z gestreift werden. N o c h einen anderen Z u g h a t der G e f ü h l s w e r t m i t dem v e r w a n d t e n P h ä nomen der M o t i v i e r u n g gemeinsam, nämlich die s u b j e k t i v e

Geltung. Die

S y m p a t h i e oder A n t i p a t h i e gewissen W ö r t e r n gegenüber ist bekanntlich g a n z unerklärlich, und w a s der eine ausdrucksvoll oder rührend

findet,

kann

auf

einen anderen komisch w i r k e n . M a i l a r m e s Schüler a m L y c é e de T o u r n o n schrieben einen V e r s ihres Lehrers an die T a f e l , weil sie ihn so ungemein lächerlich f a n d e n : „Jesuis hanté. L ' A z u r ! l ' A z u r ! l'Azur! l'Azur!"227 Die Wordsworth-Stelle: „And sitting on the grass p a r t o o k the f r a g r a n t beverage d r a w n f r o m C h i n a ' s h e r b " kommentiert

Tennyson

aus einem V o r u r t e i l

gegen nichtgermanische

Wörter

heraus: „ W h y c o u l d he n o t h a v e said ' A n d sitting on the grass h a d t e a ' ? " 2 2 8 D a s b e v o r z u g t e M e d i u m der gefühlsmäßigen Bedeutung ist die D i c h t u n g , und es überrascht keineswegs, d a ß der Versuch, ihrer „Botschaft" rein e r k e n n t n i s m ä ß i g b e i k o m m e n zu w o l l e n , i m m e r wieder zu M i ß v e r s t ä n d n i s s e n f ü h r t o d e r heillose V e r w i r r u n g anrichtet. 2 2 9 D a s empfindliche O h r des Dichters v e r m a g auch 224

225 226 227 229

229

Dazu E. Weekley, Jade and Jill: A Study in our Christian Names (London, 1939). [Zu den frz. Wörtern für 'Kopf' vgl. Bally, Le Langage et la vie, S. 39.] Migliorini, Nome proprio, S. 141 f. Vgl. z. B. Kap. 6 u. 10 von Jespersens Growth and Structure. Marouzeau, Stylistique, S. 175. [Alfred Lord Tennyson, A Memoir by his Son (New York/London, 1897), Bd. 2, S. 71. Vgl. auch Jespersen, Growth and Structure, S. 137.] Außer den Schriften von Richards dazu auch J. Sparrow, Sense and Poetry. Essays on the place of meaning in contemporary verse (London, 1934).

Bedeutungsvielfalt

und semantische

Pathologie

99

da Ausdruckswerte aufzuspüren, wo der normale Sterblidie nichts davon merkt: Für Keats klingt allein schon das Wort 'forlorn' „like a bell to toll me back f r o m thee to my sole seif" (Ode to a Nightingale). S o g a r im Schriftbild eines Wortes kann die dichterische Phantasie eine geheimnisvolle Ähnlichkeit mit dem Gegenstand, den es bezeichnet, entdecken: Paul Claudel fühlt sich bei den beiden t -s in 'toit' an ein schräges Dach und bei 'locomotive' an einen Schornstein und Räder erinnert. 2 3 0 Wir bewegen uns hier auf der Grenze von Sprache und Stil, und weitere Fortschritte auf diesem Gebiet der Semantik könnten auch für die Literaturkritik und Ästhetik folgenreich sein.

4. B E D E U T U N G S V I E L F A L T U N D S E M A N T I S C H E

PATHOLOGIE

D i e funktionale Analyse der Bedeutung definiert diese als eine Relation, die aus den beiden Größen N a m e und Sinn, und z w a r aus jeweils e i n e m N a m e n und e i n e m Sinn besteht. Obwohl beide Glieder der Bedeutungsbeziehung darüber hinaus auch an verschiedenen Assoziationsgeflechten beteiligt sind, die einerseits die Wortformen und andererseits die Wortbedeutungen verknüpfen, haben die senkrechten Linien, die diese waagerechten Verflechtungen im rechten Winkel schneiden, für uns bisher durchweg nur ein „signifiant" an sein jeweiliges „signifié" gebunden und umgekehrt. Die Alltagssprache funktioniert jedoch nicht immer so einfach. D i e zweigliedrige Bedeutungsbeziehung entspricht in ihrer einfachsten Form, so wie wir sie im vorliegenden Kapitel bis jetzt betrachtet haben, in etwa den geographischen Koordinaten — um einen Vergleichspunkt von R . C a r n a p aufzugreifen —, mit deren H i l f e sich die „komplizierte Gestalt der Gebirge, Flüsse, Ländergrenzen usw." am besten darstellen und untersuchen läßt. 2 3 1 Meistens sind jedoch mehrere Bedeutungsbeziehungen ineinander verschränkt. D a s hat zur Folge, daß sich innerhalb des synchronen Systems mehr als ein N a m e an einen Sinn und mehr als ein Sinn an einen N a m e n knüpfen kann. Diese Komplizierung der semantischen Modellsituation ist gemeint, wenn im folgenden von Bedeutungsvielfalt die Rede ist. 232 Bally, Ling. gén., S. 133, A n m . 1. V g l . auch Jespersen, Language, S. 410, A n m . 1 u. H . A m m a n n , „ W o r t k l a n g und Wortbedeutung in der nhd. Schriftsprache" (Neue Jahrbücher f. Wiss. u. Jugendhildg., 1, 1925, S. 2 2 1 — 2 3 5 ) . 2 3 1 C a r n a p , Logische Syntax, S. 8. 232 N i e d e r einmal werden einander widersprechende Begriffe gebraucht, weshalb man vielleicht zu der einfachen und nützlichen H i l f s m a ß n a h m e greifen sollte, die A. H . M a s l o w (Psychological Review, 52, 1945, S. 239 f.) vorschlägt: Verbindung der fraglichen Termini mit dem N a m e n dessen als Index, in dessen Sinn sie gebraucht werden, e t w a : 'Sex' F r e u d , u s w - Menner verwendet in Language, 21, 1945, S. 59 ff. den Begriff „multiple m e a n i n g " gleichbedeutend mit „ p o l y s e m y " . Andererseits gebraucht B a l l y den Begriff Polysemie (Ling. gén., S. 144) in weiterem Sinne, als es

230

7*

Bedeutungsvielfalt

und semantische

Pathologie

99

da Ausdruckswerte aufzuspüren, wo der normale Sterblidie nichts davon merkt: Für Keats klingt allein schon das Wort 'forlorn' „like a bell to toll me back f r o m thee to my sole seif" (Ode to a Nightingale). S o g a r im Schriftbild eines Wortes kann die dichterische Phantasie eine geheimnisvolle Ähnlichkeit mit dem Gegenstand, den es bezeichnet, entdecken: Paul Claudel fühlt sich bei den beiden t -s in 'toit' an ein schräges Dach und bei 'locomotive' an einen Schornstein und Räder erinnert. 2 3 0 Wir bewegen uns hier auf der Grenze von Sprache und Stil, und weitere Fortschritte auf diesem Gebiet der Semantik könnten auch für die Literaturkritik und Ästhetik folgenreich sein.

4. B E D E U T U N G S V I E L F A L T U N D S E M A N T I S C H E

PATHOLOGIE

D i e funktionale Analyse der Bedeutung definiert diese als eine Relation, die aus den beiden Größen N a m e und Sinn, und z w a r aus jeweils e i n e m N a m e n und e i n e m Sinn besteht. Obwohl beide Glieder der Bedeutungsbeziehung darüber hinaus auch an verschiedenen Assoziationsgeflechten beteiligt sind, die einerseits die Wortformen und andererseits die Wortbedeutungen verknüpfen, haben die senkrechten Linien, die diese waagerechten Verflechtungen im rechten Winkel schneiden, für uns bisher durchweg nur ein „signifiant" an sein jeweiliges „signifié" gebunden und umgekehrt. Die Alltagssprache funktioniert jedoch nicht immer so einfach. D i e zweigliedrige Bedeutungsbeziehung entspricht in ihrer einfachsten Form, so wie wir sie im vorliegenden Kapitel bis jetzt betrachtet haben, in etwa den geographischen Koordinaten — um einen Vergleichspunkt von R . C a r n a p aufzugreifen —, mit deren H i l f e sich die „komplizierte Gestalt der Gebirge, Flüsse, Ländergrenzen usw." am besten darstellen und untersuchen läßt. 2 3 1 Meistens sind jedoch mehrere Bedeutungsbeziehungen ineinander verschränkt. D a s hat zur Folge, daß sich innerhalb des synchronen Systems mehr als ein N a m e an einen Sinn und mehr als ein Sinn an einen N a m e n knüpfen kann. Diese Komplizierung der semantischen Modellsituation ist gemeint, wenn im folgenden von Bedeutungsvielfalt die Rede ist. 232 Bally, Ling. gén., S. 133, A n m . 1. V g l . auch Jespersen, Language, S. 410, A n m . 1 u. H . A m m a n n , „ W o r t k l a n g und Wortbedeutung in der nhd. Schriftsprache" (Neue Jahrbücher f. Wiss. u. Jugendhildg., 1, 1925, S. 2 2 1 — 2 3 5 ) . 2 3 1 C a r n a p , Logische Syntax, S. 8. 232 N i e d e r einmal werden einander widersprechende Begriffe gebraucht, weshalb man vielleicht zu der einfachen und nützlichen H i l f s m a ß n a h m e greifen sollte, die A. H . M a s l o w (Psychological Review, 52, 1945, S. 239 f.) vorschlägt: Verbindung der fraglichen Termini mit dem N a m e n dessen als Index, in dessen Sinn sie gebraucht werden, e t w a : 'Sex' F r e u d , u s w - Menner verwendet in Language, 21, 1945, S. 59 ff. den Begriff „multiple m e a n i n g " gleichbedeutend mit „ p o l y s e m y " . Andererseits gebraucht B a l l y den Begriff Polysemie (Ling. gén., S. 144) in weiterem Sinne, als es

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100

Deskriptive

Semantik

Die Bedeutungsvielfalt ist in den im vorigen Abschnitt beschriebenen Merkmalen von N a m e und Sinn mit angelegt. Wenn der N a m e auf Konvention beruht, es also keinen zwingenden Grund dafür gibt, daß 'mensa' 'Tisch' heißt, und wenn ein und demselben Sinn in verschiedenen Sprachen verschiedene N a m e n entsprechen, dann ist es weder selbstverständlich noch unbedingt notwendig, daß es f ü r jeden Sinn nur einen Namen gibt. N u r die Motivierung kann der Bedeutungsbeziehung den Charakter des Einmaligen geben, und allein schon die Tatsache, daß es die Konventionsabhängigkeit gibt, schließt die Möglichkeit der Bedeutungsvielfalt ein: Wenn ein N a m e einen Sinn bloß auf Grund einer allgemeinen Vereinbarung bezeichnet, dann ist es nicht einzusehen, warum auf Grund einer entsprechenden Übereinkunft nicht auch ein anderer N a m e eben diesen Sinn bezeichnen kann. Wenn das Zeichensystem logisch wissensdiaftlich aufgebaut wäre, könnte es nach dem Prinzip „ein Name — ein Sinn" strukturiert sein — obwohl, wie wir sehen werden, eine solche Einförmigkeit nur begrenzt möglich und nicht einmal unbedingt wünschenswert ist. Da die Sprache aber ja ein „in fits of absentmindedness" zustande gekommenes unwissenschaftliches Phänomen ist, trifft aller Wahrscheinlichkeit nach mehr als ein N a m e auf ein und denselben Sinn — ob der Gesichtspunkt dabei gleichbleibt oder wechselt, soll erst später berücksichtigt werden. Auf Grund dieser Elastizität kann auch umgekehrt die Komplikation eintreten, daß sich mehr als ein Sinn an ein und denselben N a m e n knüpft. Allerdings ist hier ein weiterer Grund in der eigentümlichen N a t u r des Sinns zu suchen. Seine Unbestimmtheit bringt eine gewisse Heterogeneität, eine gewisse Mannigfaltigkeit der Aspekte und Wertungen mit sich, die letzten Endes die Sinneinheit sprengen. Ganz ähnlich wirken sich die Gefühlsmomente aus: Audi sie bringen leicht neue Facetten und Nuancen in den Begriffsinhalt. Beide Kräftegruppen wirken im großen ganzen auf eine Bedeutungsvielfalt vom T y p „ein N a m e — mehrere Sinne" hin und schränken damit die Bedeutungsvielfalt vom T y p „ein Sinn — mehrere N a m e n " ein: Sie schließen die absolute Synonymie dadurch aus, daß sie feine Abstufungen in der Konnotation, sach- oder gefühlsbezogene Differenzierungen oder stilistische und ästhetische Unterscheidungen in die Synonymenreihen einführen. Die Bedeutungsvielfalt weist ihrerseits wieder auf ein noch allgemeineres Merkmal der Rede und der Sprache hin: Auf die Diskrepanz zwischen dem seit Breal (S. 154 f.) üblich ist. W e n n man nur Menner, Bally u n d Breal anführt, so ist multiple meaning Menner = Polysemie Breal a h e r Polysemie Breal Polysemie Bally. Idi schließe mich Bally an, da es mir geboten sdieint, einen eigenen Terminus für das gesamte Phänomen „Ein Sinn — mehrere N a m e n " und „Ein N a m e — mehrere Sinne" zu reservieren. Anderseits ist „Polysemie" schon lange in der Semantik beheimatet, während „multiple meaning" sich besonders gut für unsere Zwecke und für die im vorliegenden Buch zugrunde liegende funktionale Definition der Bedeutung eignet.

Bedeutungsvielfalt

und semantische

Pathologie

101

„signifiant" und dem „signifié" der sprachlichen Symbole. Bally (Ling. gen., S. 144) hat alle Phänomene, auf die es dabei ankommt, unter dem Begriff der „ Synthese" zusammengefaßt und zwei Grundtypen unterschieden : Die „Dystaxie" und die Bedeutungsvielfalt (Bally gebraucht dafür den Terminus „Polysemie"). Zur „Dystaxie" gehört alles, was der linearen Abfolge der zusammenhängenden Rede entgegenwirkt; sie ist primär syntaktischer Natur. Zur Bedeutungsvielfalt, die auch eine Anzahl nicht-lexikalischer Elemente umfaßt, rechnet alles, was die „Monosemie" im System der Sprache durchkreuzt. Alle komplizierteren Formen der einfachen „ein Name — ein Sinn" Situation lassen sich in dieser Rubrik unterbringen. Sie gliedern sich in zwei Kategorien auf: 233 I. E i n S i n n m i t m e h r e r e n N a m e n („plurivocité"): Synonymie; II. E i n N a m e m i t m e h r e r e n S i n n e n („plurivalence"). An dieser Stelle empfiehlt es sich, das Ballysche Schema noch weiter zu unterteilen und zu unterscheiden zwischen: a) unterschiedlicher Verwendungsweise; b) Polysemie; c) Homonymie. I. Ein Sinn mit mehreren (Synonymie)

Namen

Synonymie234 und Homonymie werden meist als korrelative Begriffe aufgefaßt, und doch besteht ein bemerkenswerter Unterschied zwischen beiden. Die Homonymie kann in reinster Form auftreten: Im Englischen wird das Wort für 'Rute' genauso ausgesprochen und sogar auch genauso geschrieben wie das Wort 'Pol', nämlich 'pole'. Reine Synonymie ist dagegen bekanntlich äußerst selten und ein Luxus, den sich die Sprache kaum leisten kann. Außerdem liegt es auch wieder an der Unbestimmtheit des Sinns, daß sich die Identität zweier Namen mühelos feststellen, die Kongruenz zweier Sinne aber nur schwer nachweisen läßt. 233

234

Bally, Ling. gén., S. 172; vgl. schon R. de La Grasserie, Essai d'une sémantique intégrale (Paris, 1908), passim; Noreen, Einführung, S. 200; siehe auch S. Karcevskij, „Du dualisme asymétrique du signe linguistique" (Travaux, 1, 1929, S. 88—93), S. 90; A. S. C. Ross, „The Fundamental Définitions of the Theory of Language" (Acta Linguistica, 4, 1944, S. 101—106), S. 103, etc. Insbes. Bally, Stylistique, I, S. 96—100, S. 106—110, S. 140—154; siehe auch Gombocz, S. 42 ff.; Ogden—Richards, S. 92 f., S. 126 u. 206; Sdiuchardt, Brevier, S. 118 f. u. 331; F. Dornseiff, „Buchende Synonymik" (Neue Jb. f . klass. Altertum, 47, 1921, S. 422—433); Jespersen, Growth and Structure, S. 89—93 u. 123—127; Erdmann, Kap. 4, 2; Funke, Innere Sprachform, S. 77 ff.; V. Grundtvig, Begreherne i Sproget (Kopenhagen, 1925), mir unerreichbar — vgl. Trier, Behaghel-Festschrifi, S. 184, Anm. 2; H. J. Pos, „La synonymie dans la langue et dans le langage" (Actes du 2' Congrès, S. 156—158); Bally, Ling. gén., S. 186 ff., S. 332, 343 f. u. 352; Dauzat,

Deskriptive

102

Semantik

E i n e r absoluten S y n o n y m i e w i r k e n z w e i K r ä f t e entgegen: D i e U n b e s t i m m t heit des Sinns u n d der G e f ü h l s b e i k l a n g . Als s y n o n y m können nur solche W ö r t e r gelten, die sich in einem beliebigen K o n t e x t gegeneinander austauschen lassen, o h n e d a ß sich an der erkenntnis- oder gefühlsmäßigen Bedeutung das Geringste ändert. N i m m t m a n diese beiden K r i t e r i e n , die bei der E r d m a n n s c h e n B e d e u tungsanalyse eine R o l l e spielen, zusammen, so ergibt sich f ü r die S y n o n y m i e folgende D r e i t e i l u n g : 1. R e i n e

Synonyme.

S i e sind k o n g r u e n t , haben den gleichen M i t -

teilungs- u n d G e f ü h l s w e r t und k ö n n e n daher gegeneinander ausgetauscht w e r den. E i n Beispiel, das auch in englischen W ö r t e r b ü c h e r n unter ' S y n o n y m ' erscheint, sind die k o n k u r r i e r e n d e n medizinischen Fachausdrücke ' c a e c i t i s ' 'typhlitis' für 2. a)

P s e u d o s y n o n y m e

solche,

die

und

'Blinddarmentzündung'. in

einigen

oder

Homoionyme.

K o n t e x t e n

k o n g r u e n t und

gegeneinander

austauschbar sind, in a n d e r e n dagegen nicht: ' l e a p ' — ' j u m p ' / 'springen' — ' h ü p f e n ' ; ' h e l p ' — ' a i d ' — 'assistance' I ' H i l f e ' — ' B e i s t a n d ' — ' U n t e r s t ü t z u n g ' . b) solche, die dem B e g r i f f , n i c h t E v o k a t i o n s v e r m ö g e n

aber dem G e f ü h l s w e r t nach

und

dem

k o n g r u e n t und gegeneinander aus-

tauschbar s i n d : ' l i b e r t y ' — ' f r e e d o m ' / ' ( ä u ß e r e , innere) F r e i h e i t ' ; 'hide' "conceal' / 'verstecken' —



'verbergen'.

D i e H o m o i o n y m e beider T y p e n überschneiden sich, da ein U n t e r s c h i e d im A f f e k t g e h a l t oft auch einen gewissen Unterschied im Begrifflichen m i t sich b r i n g t : 'regal' — ' r o y a l ' / '(fürstlich) königlich'; 'read' — 'peruse' / '(gründlich) lesen'. I n der 1. S z e n e des V . A k t e s von As You

Like It führt Touchstone an einem

Musterbeispiel v o r , wie m a n sich H o m o i o n y m e stilistisch zunutze machen k a n n : „Therefore, you clown, society,—which

abandon,—which

is in the v u l g a r

in the boorish is c o m p a n y , — o f

leave,—the

this f e m a l e , — w h i c h

in

the

c o m m o n is w o m a n ; which t o g e t h e r is, a b a n d o n t h e society o f this f e m a l e , or, c l o w n , t h o u perishest; or, t o t h y better understanding, diest; or, t o w i t , I kill thee, m a k e thee a w a y , t r a n s l a t e t h y l i f e i n t o d e a t h " . 2 3 5 D i e S y n o n y m e n f o r s c h u n g bedient sich verschiedener M e t h o d e n , u m

fest-

zustellen, o b S y n o n y m e austauschbar sind oder nicht. D a s E i n f a c h s t e ist die Substitution

in unterschiedlichen K o n t e x t e n , was nur eine A n w e n d u n g s -

möglichkeit der unter Z i f f e r 6 im ersten Abschnitt dieses K a p i t e l s strukturalistischen W o r t i n t e r p r e t a t i o n

definierten

ist. A u f diese Weise stellt sich heraus,

welche e r k e n n t n i s - und gefühlsmäßigen Unterschiede sich ergeben, w e n n

ein

H o m o i o n y m in verschiedenen V e r b i n d u n g e n durch ein anderes ersetzt w i r d . 2 3 6

235 236

Études, S. 3 — 2 4 ; W. E. Collinson, „Comparative Synonymies: Some Principles and Illustrations" (Transactions of the Philological Society, 1939, S. 5 4 — 7 7 ) ; C. de Vooys, Inleiding tot de Studie van de woordbetekenis (Antwerpen, 2 1943), etc. Jespersen, Growth and Structure, S. 91; Noreen, Einführung, S. 216 ff. Die Synonyme bzw. Homoionyme können audi fremdsprachlich sein; vgl. Meriggis interessante Bemerkungen, a. a. O., S. 69 ff.

Bedeutungsvielfalt

und semantische

Pathologie

103

Als ergänzendes Verfahren empfiehlt Bally 237 , jeweils auch nach den entsprechenden Gegenbegriffen zu suchen. So wären etwa engl, 'deep' und 'profound' gegeneinander abzugrenzen, wenn man feststellt, inwieweit sie in verschiedenen Kontexten, z.B. in der Verbindung mit 'water', 'voice', 'remark' oder 'relief, gegeneinander ausgetauscht werden können; welche erkenntnis- und gefühlsmäßigen Bedeutungsnuancen sich ergeben, wenn man da, wo sie tatsächlich austauschbar sind, abwechselnd 'deep' und 'profound' einsetzt ('deep relief — 'profound relief'); wie der entsprechende Gegenbegriff in jeder dieser Wortverbindungen lautet ('shallow', 'high', 'superficial'), usw. Auf diese Weise wäre eine „rationale Synonymik" aufzubauen, deren System sach- und gefühlsbedingte Überschneidungen klar erkennen läßt. Ähnlich hängt auch der S y n o n y m e n b e s t a n d einer Spradie mit den jeweils besonderen Strukturmerkmalen eines jeden synchronen Systems zusammen, wenn auch erst die Konfrontierung mit anderen Sprachen bzw. mit anderen Entwicklungsstadien ein und derselben Sprache zeigt, wie ergiebig er jeweils ist und wie er aufgebaut ist. Bei der Beschäftigung mit dem Vulgärlatein überrascht immer wieder der auffällige Mangel an Synonymenreihen: Die Auswahl des Klassischen Lateins an 'pulcher', 'formosus', 'lepidus', 'bellus' und 'venustus' ist unbarmherzig auf 'bellus' — bzw. in den Nebenlinien auf 'formosus': Span, 'hermoso', rum. 'frumos' — zusammengestrichen worden; und all die feinen Nuancen in der Bedeutung und Konnotation, die das „urbane" Idiom zu unterscheiden wußte, sind als unnötiger Luxus f ü r ein einfaches, anspruchsloses sprachliches Medium aufgegeben worden. 238 In den Wörtern, die die meisten Synonyme auf sich vereinigt haben, spiegelt der altenglische Wortschatz die wichtigsten Interessengebiete seiner Zeit wider: Im Beowulf finden sich 37 Wörter f ü r ' H e l d ' bzw. 'Prinz', 17 f ü r 'Meer', 11 f ü r 'Schiff bzw. 'Boot' und 12 f ü r 'Schlacht' oder ' K a m p f ' (Jespersen, Growth and Structure, S. 48 f.). Das Neuenglische zeichnet sich durch eine Synonymenschichtung in zwei bzw. drei Stufen aus: Westgermanisch gegenüber Lateinisch — Französisch ('weak' — 'feeble') bzw. Westgermanisch — Lateinisch — Französisch ('ask' — 'question' — 'interrogate'; 'holy' — 'sacred' — 'consecrated') 239 , wobei das Altnordische und andere Elemente die Sache noch komplizierter machen. Im Neufranzösischen stellt der Gegensatz zwischen volkssprachlichen und „gelehrten" Wörtern — solchen, die sich organisch aus dem Lateinischen entwickelt haben und solchen, die zu einem späteren Zeitpunkt, insbesondere von der mittelfranzösisdien Periode 237

238 239

Bally, Stylistique, I, S. 148 ff. Wartburg, Évolution et structure, S. 52 f. Siehe A. C. Baugh, A History of the English Language (New York/London, 1935), S. 230 f. u. N . Bogholm, Engelsk Betydningslœre (Kopenhagen, 1922), Kap. 1. George Eliot karikiert damit eine ihrer Romanfiguren: „Things never b e g a n with Mr. Borthrop Trumbull: they always c o m m e n c e d . . . " Er verbessert „ask" in „interrogate" und „give an interrogative turn" [Middlemarch, 3. Buch, Kap. 32] ; vgl. F. Mossé, Esquisse d'une histoire de la langue anglaise (Lyon, 1947), S. 207.

v

104

Deskriptive

Semantik

an daraus entlehnt worden sind ('étranglement' — 'strangulation') — einen Medianismus sui generis dar, wie er sich unmöglich außerhalb der Romania hätte herausbilden können, und der in dieser besonderen Form selbst da nur in N o r d gallien vorkommt (Bally, Ling, gén., S. 332). Die von sprachlichen und nichtsprachlichen Einflüssen bestimmten strukturellen Aspekte der Synonymie sind f ü r das synchrone System also nicht weniger bezeichnend und charakteristisch als die viel leichter faßbare Gesetzmäßigkeit der Phonemkorrelationen. Aus der Synonymenstruktur ergeben sich a s s o z i a t i v e S i n n g r u p p i e r u n g e n auf der Ebene der „langue". Wie konstant und dauerhaft solche Assoziationen sind, k a n n man am besten an der diachronen Entwicklung sehen, die sie eventuell einleiten. Es gibt wie üblich bei solchen „symptomatischen" Veränderungen zwei H a u p t t y p e n : Die einen betreffen die Form, die anderen die Bedeutung. Die formalen Veränderungen, Wortkreuzungen oder K o n t a m i n a t i o n e n , gehören an sich in den morphologischen Teil der Lexikologie, sind aber f ü r unseren Gesichtspunkt insofern interessant, als sie einen möglichen pathologischen Aspekt der Synonymie aufdecken: Im Bewußtsein des Sprechers stellen sich zwei konkurrierende Ausdrücke gleichzeitig ein, die er dann prompt durcheinanderbringt: Engl, 'knoll' = 'knell' + 'toll'; frz. 'intendance' = 'intention' + 'tendance', usw. 240 Häufig kommt es auch zu syntaktischen Kontaminationen: Frz. 'se rappeler qch.' + 'se souvenir de qch.' haben zusammen 'se rappeler de qch.' ergeben. Besonders verbreitet ist diese Synonymenmischung da, wo Zweisprachigkeit, Sprachmischung, Fremdeinfluß u. ä. vorliegen und man oft sowieso unsicher ist. So setzt z. B. frz. 'haut' lat. 'altus' fort, verdankt sein 'h-' aber germ, 'höh' = nhd. 'hoch'; auch leiten Wörter wie 'guivre', 'gué', 'guêpe' und 'guéret' ihr 'gu-' daher. Wieder andere, wie 'orteil' oder 'craindre', sind keltisch-lateinische Mischbildungen. Wenn es um die pathologischen Begleiterscheinungen der Synonymie geht, ist jedoch zu berücksichtigen, d a ß Wortmischungen und sog. „portmanteau-words" auch auf einer Assoziation nichtsynonymer Wörter beruhen können: Engl, 'slithy' = 'lithe' + 'slimy' (der Einfluß der Onomatopöie in vielen dieser Bildungen ist unverkennbar!), f r z . 'rendre' = lat. 'reddere' + 'prendere', usw. S e m a n t i s c h können Synonyme sich auf zweierlei A r t und Weise be240

Vgl. Bally, Ling, gen., S. 183 u. Jespersen, Language, S. 312 f. (mit Verweis auf die Monographien von G. A. Bergström u. L. Pound). Stern (S. 226) will in der Kontamination keinen Beweis für eine Synonymenassoziation sehen: „If a pair of synonyms are confused by a speaker, this does not show that the two words were previously associated with each other, but only that both are associated with the referent that the speaker wants to denote, so that the thought of the referent may call up either word." Wenn wir jedoch statt des Bezugspunktes („referent"), den wir als außersprachlich ausschließen, „Sinn" einsetzen, dann spricht die Behauptung, daß sinnverwandte Wörter über ihren Sinn assoziiert werden, keineswegs gegen die Annahme assoziativer Verbindungen. Auf den Mechanismus der Bedeutungsanalogie in Synonymenreihen kommen wir im 2. Abschnitt des 4. Kapitels zu sprechen [s. u. Anm. 434],

Bedeutungsvielfalt

und semantische

105

Pathologie

einflussen, nämlich durch Assimilation und durch Dissimilation, wie A. Carnoy (a.a.O., S. 210) feststellt. Die Assimilation besteht hauptsächlich in P a r a 11 e 1 entwicklungen:

Einige französische Mundarten verwenden

beispiels-

weise sowohl 'maison' als auch 'hôtel' im Sinn von 'cuisine'. 2 4 1 Diese Entsprechungen können ein solches Ausmaß annehmen, daß sich semantische Gesetze statuieren lassen; man denke etwa an die Bedeutungsentwicklung der mittelenglischen Adverbien, die erst 'schnell' und später 'sofort' bedeuten. Gustaf Stern, der diese Gesetzmäßigkeit entdeckt hat, will darin allerdings

keine

Gruppenbildung durch Synonymie sehen, vielmehr führt er den Parallelismus auf wiederholte Verwendung dieser Wörter in ähnlichen Kontexten zurück (S. 2 2 7 ) . Es ist jedoch nicht recht einzusehen, warum Synonyme und Homoionyme nicht ebensolche assoziativen Verbindungen eingehen sollten wie andere bedeutungsähnliche Wörter; wenn auch zuzugeben ist, daß konträre Begriffe sich vielleicht noch häufiger und nachhaltiger gegenseitig beeinflussen ('la mer' nach 'la terre'; 'mobilitas' ahmt die Bedeutungsentwicklung von 'constantia' nach; vgl. Stern, S. 220). Viel verbreiteter ist jedoch der zweite T y p , die S y n o n y m e n d i f f e r e n z i e r u n g . Bréal (Kap. 2, insbes. S. 36) hat darin geradezu ein immanentes „Sprachgesetz" sehen wollen, das er das „Gesetz der Distribution" („loi de répartition") nennt und an der Unterscheidung von 'sage' und 'savant' bzw. 'sentir' und 'penser', die im Lateinischen noch quasi synonym sind (vgl. engl, 'sensible'), erläutert. Absolute Synonymien sind, wie gesagt, ein Luxus, den sich die Sprache kaum leisten kann; meist lassen sach- oder gefühlsbedingte Differenzierungen sie ja auch schnell wieder zu Homoionymien werden. W o das Schwierigkeiten macht, wie bei 'maison' 'cuisine' und 'hôtel' 'cuisine', kann es zu einem sog. „Synonymenkonflikt" kommen. Gilliéron setzt ihn den Homonymenkonflikten gleich, womit er die Häufigkeit und Tragweite dieser Erscheinung aber doch wohl überschätzt (Pathologie, I V , S. 125 ff.). Am deutlichsten manifestiert sich die assoziative Verflechtung der Homoionyme in der K o n k u r r e n z d e r S y n o n y m e , bei der weniger lebensfähige Wörter u. U . ausscheiden müssen und die deshalb großen Einfluß auf das Aussterben der Wörter hat. 2 4 2 Es unterliegen vor allem solche, die an einer der semantischen Krankheiten leiden, die mit der Bedeutungsvielfalt vom T y p „ein N a m e — mehrere Sinne" zusammenhängen. So bot das semantisch stark überlastete frz. 'tracer' den gemeinsam andrängenden Verben 'biffer', 241

242

Gilliéron, Pathologie et thérapeutique verbales (T. 4, Paris, 1921), S. 124 ff. Vgl. auch Carnoy, S. 205—210 u. 2 2 5 — 2 2 9 ; Kroesch, Language, 2, S. 39 ff.; Stern, S. 2 2 4 — 2 2 7 ; Bloomfield, Language, S. 442. Siehe H . Falk, BetydningsUre (Oslo, 1920), S. 42 ff.; Wellander, I, S. 126 f.; Meyer, KZ, 43, S. 358; Porzig, IF, 41, S. 158 f.; Dike, J E G P , 34, S. 355, Anm. 5 ; Héraucourt, Deutschbein-Festschrifl, S. 7 5 — 8 4 ; Lejeune, Encycl. fr., 1.34, S. 2 ; Orr, Studies Pope, S. 266, usw.

Deskriptive Semantik

106

'rayer', 'barrer' und 'effacer' einst eine willkommene Angriffsfläche (Gillieron, Abeille, S. 230). Auch unbehagliche Ideenassoziationen (engl, 'undertaker' auf dem Rückzug vor 'mortician') und Homonymenkollisionen können bewirken, daß bestimmte Wörter durch Synonyme ersetzt werden. Manchmal sind dafür auch grammatische Faktoren ausschlaggebend: Ae. 'asring' konnte durch 'dawn' verdrängt werden, weil dieses durch den Wortverband 'dasg', 'dagian' gestützt war (Holthausen, GRM, 7, S. 190). Die häufig anzutreffende S y n o n y m e n r e i h u n g 2 4 3 ist ein rein synchronisches Indiz dafür, daß man beim Sprechen synonymenbewußt ist. Eine sehr einfache, fast glossenartige Reihung von Synonymen findet sich in der Ancrene Riwle, einer Nonnenregel des 13. Jh.s: „cherite, J>et is luve"; „ignoraunce, fjet is unwisdom & unwitenesse"; usw. *) Auf höherer Ebene hat diese Technik durchaus nichts Prosaisches mehr, sondern dient als dichterisches Ausdrucksmittel der Emphase: „Of blind forgetfulness and dark oblivion" W; „Of the manifold multiform flower" c>. Heutzutage ist vor allem die öffentliche Rede („wir kämpfen für Freiheit und Unabhängigkeit") und die Juristensprache („Vorschub und Beihilfe leisten") unerschöpflich in der Aneinanderreihung von Synonymen. Im David Copperfield macht sich Dickens darüber lustig: „. . . deponents seem to enjoy themselves mightily when they come to several good words in succession, for the expression of one idea; as, that they utterly detest, abominate, and abjure . . . We talk about the tyranny of words, but we like to tyrannize over them too" d> — was auf einen weiteren u. U. pathologischen Aspekt der Synonymie hindeutet. Synonymenreihen bieten vorzugsweise die Wörterbücher, speziell die Begriffswörterbücher. Die Synonymenforschung wird damit zu einem wichtigen Grenzbezirk zwischen Semantik, Stilistik und Lexikographie. Gerade auf dem Gebiet der Lexikographie sind in den letzten Jahrzehnten auf Rogets Thesaurus hin einige großangelegte Projekte verwirklicht worden, die einen beachtlichen Beitrag zur Wortfeldtheorie darstellen. Die eigentliche Semantik braucht sich damit allerdings nicht auseinanderzusetzen.244 243

Die nachfolgenden Beispiele sind Jespersen, Growth and Structure, S. 89 u. S. 125 ff. entnommen [mit Zitat-Nachweis d. Ü . : a) E E T S , 225, S. 3, Z. 20 u. S. 124, Z. 28 f.

b) Richard III: III, 7, 129. c) Swinburne, Songs before Sunrise: „Tenebrae", Str. 20. d) 52. Kap.],

844

Vgl. hierzu Bally, Stylistique,

I, S. 1 2 4 — 1 3 4 ; F. Dornseiff, Neue

Jahrbücher

für

das klass. Altertum, 47 und bes. Der deutsche Wortschatz nach Sacbgruppen (Berlin, 5 1959). Vgl. auch C. D. Buck, „Words for World, Earth and Land, Sun"

(Language,

5, 1929, S. 215—227); Trier, Behaghel-Festschrifl,

S. 184, Anm. 2; F.

Stroh, „Allgemeine Sprachwissenschaft u. Sprachphilosophie" (ebd., S. 2 2 9 — 2 5 8 , mit vielen Lit.-Angaben), S. 241 f.; O. Springer, S. 164; Meriggi, a. a. O., S. 68 ff., etc.

Bedeutungsvielfalt

und semantische

Pathologie

107

II. Ein Name mit mehreren Sinnen Bei diesem zweiten T y p von Bedeutungsvielfalt steht für mehrere Sinne jeweils nur ein N a m e zur Verfügung. I n vieler Hinsicht liegt hier das K e r n problem aller Bedeutungsforschung, mag sie nun sprachwissenschaftlich

oder

anders orientiert sein. 245 Nirgends prallen ältere und neuere Lehrmeinungen so unvermittelt aufeinander wie auf diesem Gebiet 2 4 6 ; es hat von allen Zweigen der synchronischen Semantik glücklicherweise aber auch am meisten von den empirisch soliden Beiträgen der Sprachgeographie profitiert. M i t der Vielzahl der Sinne hängen, rein synchron gesehen 247 , die verschiedenartigsten Phänomene zusammen. Es ist wie immer leicht, bestimmte Typen aufzustellen, aber unmöglich, sie scharf gegeneinander abzugrenzen. M a n kann folgende drei H a u p t t y p e n etwa so anordnen: a)

Mehrere

Aspekte

eines

Sinnes:

Unterschiedliche

Verwen-

dungsweisen; z. B. 'gesundes K l i m a ' — 'gesunde Gesichtsfarbe'. b)

Mehrere Sinne eines W o r t e s :

Polysemie;

z. B. 'human head' ( K o p f ) — 'head o f department' (Abteilungsleiter)



'bridge-head' (Brückenkopf). c)

Mehrere W ö r t e r :

Homonymie;

z. B. 'sea' (Meer) — 'to see' (sehen) — 'a see' (Bistum). Zwischen diesen drei H a u p t t y p e n gibt es Übergangsstadien, die sich oft nur schwer zuordnen lassen. Soll man z. B . die 'gerade Linie' und die 'Schiffahrts-, Fluglinie' als grundverschiedene Verwendungsweisen oder als gelinde Formen von Polysemie bezeichnen? D a r f man andererseits in 'bureau' (Schreibtisch) und 'Deuxième Bureau' eine bloße Polysemie sehen? Liegt hier nicht vielmehr H o m onymie vor, die diachron gesehen (was in unserem Zusammenhang irrelevant ist) auf eine divergierende Bedeutungsentwicklung zurückgeht? O f t wird sich der eine so, der andere so entscheiden. Im großen ganzen darf aber auch nicht übersehen werden, daß der „Etymologisierungsinstinkt" am W e r k ist, der, wie gesagt, ein synchron sehr einflußreicher F a k t o r ist. Ein schlagendes Beispiel dafür liefert die Sprachgeographie. In einigen Gegenden Oberitaliens hat 'capo' ' K o p f ' die spezielle Bedeutung ' R a d n a b e ' angenommen. M a n k ö n n t e meinen, hier läge ein recht klarer F a l l von H o m o n y m i e durch divergierende Bedeutungsentwick245 246 247

Hierzu Firth, Papers, „The Technique of Semantics" passim, bes. S. 9 f. Vgl. z. B. Richards, The Philosophy of Rhetoric, Kap. 4 und Firth, Papers, S. 10 ff. Wie man in diesem Zusammenhang syndironische und diachronische Gesichtspunkte miteinander vermengen kann, zeigt Rosettis Feststellung: frz. „'dîner' . . . signifie 'déjeuner' et 'dîner'" (S. 41). Gemeint ist, daß zwei Wörter, die der Form und der Bedeutung nach synchron gesehen völlig verschieden sind, auf das gleiche lateinische 'disjejunare' zurückgehen und sich in Bedeutung und Paradigma auseinanderentwickelt haben.

Deskriptive

108

Semantik

lung vor. Dagegen spricht aber die Tatsache, daß in etlichen angrenzenden Gebieten für 'capo' ' R a d n a b e ' gleichbedeutendes 'testa' eingetreten ist, was nur auf den Einfluß von 'testa' zurückgehen kann, das 'capo' bereits in der Bedeutung ' K o p f ' ersetzt hatte. Beide Wortsinne von 'capo' müssen demnach assoziativ als zwei Bedeutungen ein und desselben Wortes aufgefaßt worden sein und nicht als zwei verschiedene Wörter, d. h. sie müssen als polysemantisch und nicht als homonym gegolten haben. 2 4 8 Wenn dieses Beispiel und ähnliche Fälle allgemeine Schlüsse zulassen, tut man vielleicht gut daran, folgende goldene Regel aufzustellen: I n G r e n z - und Zweifelsfällen sollte man jeweils die direktere der beiden Anschlußmöglichkeiten annehmen, also eher unterschiedliche Verwendungsweise als Polysemie und eher Polysemie als H o m o n y m i e . Natürlich wird man immer von F a l l zu F a l l entscheiden m ü s s e n , " ' auch wird es häufig überhaupt keine eindeutige Lösung geben. a) UNTERSCHIEDLICHE

VERWENDUNGSWEISEN

Unterschiedliche Verwendungsweisen resultieren aus dem Nebeneinander von „möglichem" und „tatsächlichem" Wortsinn einerseits und aus seiner U n bestimmtheit und Anpassungsfähigkeit andererseits. Ein so einfaches W o r t wie 'Mauer' kann die verschiedensten Aspekte haben, je nachdem, woraus die Mauer besteht (Stein, Ziegel, Beton, H o l z ) , wozu sie da ist (Haus-, Festungsmauer), und auch je nachdem, wer damit zu tun hat (Maurer, Architekt, Kunsthistoriker etc.). 2 5 0 All diese Schattierungen im Wortgebrauch werden als Facetten eines einheitlichen Ganzen angesehen; sie setzen sich, um noch einmal das Bild von H . V . Velten zu gebrauchen, zu einem semantischen „ P o l y g o n " zusammen. 2 5 1 V o n solchen Verschiebungen und ihrem Anteil an der Herausbildung der Polysemie gehen einige der bekanntesten semantischen Unterscheidungen aus, die unter den verschiedensten

Bezeichnungen

geradezu leitmotivisch

immer

wiederkehren. M i t Erdmanns Einteilung in einen begrifflichen Inhalt, Nebensinn und Gefühlswert sind wir schon vertraut. O b w o h l sie zu der Annahme verleitet, es gäbe immer eine „zentrale" Bedeutung, und die verschiedenen Verwendungsweisen ein und desselben Wortsinnes bestünden nicht alle gleichberechtigt nebeneinander — was oft der F a l l sein kann — , ist die Erdmannsche Dreiteilung zum Ausgangspunkt für viele konstruktive Gedankengänge der modernen Semantik geworden. Das gilt wohl auch von H e r m a n n Pauls Unterscheidung zwi848 249

250

251

K. Jaberg, Aspects géographiques du langage (Paris, 1936), S. 62. Wenn es sich bei dem einen Wortsinn oder bei beiden um eine so spezielle Bedeutung handelt wie bei engl, 'renal calculus' (Nierenstein) und 'differential calculus' (Differentialrechnung) bzw. frz. 'calcul mental' und 'calcul rénal' (Vendryes, Langage, S. 207), so spricht das z. B. eher für Homonymie. Ähnlich verfolgt Stern, S. 61 das Wort 'brick' und Richards, Philosophy of Rhetoric, S. 74 das Wort 'book'; vgl. auch Gombocz, S. 35 f. u. 41 f. Velten, IF, 53, S. 7; vgl. Meriggi, a. a. O., S. 72 u. S. 99, Anm. 7.

Bedeutungsvielfalt

und semantische

Pathologie

109

sehen „usueller" und „okkasioneller" Bedeutung 252 , die ebenfalls schon klassisch zu nennen ist. Auch andere, sich z. T. überschneidende Schemata gehen wie die eben genannte Einteilung von der Gegenüberstellung der „langue" und „parole" aus, so wie sie für die Semantik gilt. Es liegt an der Unbestimmtheit des Sinns und an anderen besonderen Umständen, daß die Kluft zwischen den beiden Ebenen hier zwangsläufig noch größer ist. 253 Nicht die deskriptive, sondern die historische Darstellung hat zu zeigen, wie sich die unterschiedlichen Verwendungsweisen eines Wortes nach und nach so weit auseinanderentwickeln können, daß man schließlich ein polysemantisches Verhältnis mehrerer Einzelbedeutungen darin sieht. Oft tragen E l l i p s e n dazu bei, daß sich Bedeutungsnuancen zu stehenden, relativ selbständigen Bedeutungen verfestigen, eine Tatsache, die schon Bréal 2 5 4 berücksiditigt hat, und die dann auch in Wellanders Bedeutungstheorie eine große Rolle spielt. Wäre in einer englischen Zeitungsagentur von 'daily paper' bzw. 'weekly paper' die Rede, würde das natürlich fast pleonastisch klingen; die ganz selbstverständliche Kurzform 'daily', 'weekly' hat zu einer Polysemie der beiden Adjektive geführt. Bei einem Wort wie 'Operation' denkt man überhaupt nicht mehr an irgendwelche Kürzungen. Vermutlich ist hier nie eigentlich gekürzt worden, etwa so, daß ein Kompositum oder ein Satz auf einen seiner Bestandteile reduziert worden wäre. Es brauchten sich nur bestimmte Situationen zu wiederholen, in denen das Wort so selbstverständlich war, daß es ohne ausdrückliche Zusätze verstanden wurde: Der Kommandierende General eines Armeekorps, der den Beginn einer 'Operation' anordnet, brauchte wohl nie dazuzusagen, daß kein Blinddarmeingriff gemeint sei. Es kann also sein, daß unterschiedliche Verwendungsweisen oft bis zur Polysemie gehen, es muß wohlgemerkt aber durchaus nicht immer so sein, wie denn auch nicht jede Polysemie auf unterschiedliche Verwendungsweisen zurückgeht. b)

POLYSEMIE

Die Polysemie steht im Mittelpunkt der semantischen Analyse. Synchron gesehen handelt es sich dabei darum, d a ß e i n W o r t m e h r a l s e i n e n S i n n h a b e n k a n n . In die Terminologie der diachronischen Betrachtungsweise übersetzt heißt das, daß ein Wort seinen bisherigen Sinn bzw. seine bisherigen Sinne beibehalten und gleichzeitig einen oder mehrere neue annehmen 252

P a u l , Prinzipien, S. 7 5 ff. V g l . auch Husserls ( I I , 1, S. 8 5 f.) freundlichen und Sterns (S. 8 7 f.) unfreundlichen K o m m e n t a r dazu.

253

So unterscheidet e t w a J a b e r g zwischen „genereller" und „ a k t u e l l e r " Bedeutung ( A S N S , 136, S. 88 f.), W e l l a n d e r zwischen „individueller" und „lexikalischer" B e deutung (I, S. 1 2 — 1 8 ) , w ä h r e n d Stern mit zwei korrelativen Begriffen operiert, „central a n d peripheral elements" (S. 6 0 — 6 3 ) und „actual a n d lexical m e a n i n g " (S. 6 8 ff.). Vgl. N o r e e n , Einführung, S. 2 1 1 — 2 1 4 ; M a r t y , Untersuchungen, S. 4 9 7 — 5 0 1 ; P a u l h a n , Journal de Psychologie, 2 5 , S. 2 8 9 — 3 0 7 ; Meriggi, a. a. O . , S. 8 9 , etc. K a p . 15, „ D ' u n e cause particulière de p o l y s é m i e " .

254

110

Deskriptive

Semantik

kann. Aus diesem Sachverhalt ergeben sich direkt oder indirekt nicht nur die meisten Probleme der außersprachwissenschaftlichen Semantik, sondern es gibt auch, von der Bedeutungsbeziehung selbst einmal abgesehen, keinen Befund, der geeigneter wäre, dem System der sprachwissenschaftlichen Bedeutungsforschung zugrunde gelegt zu werden. Zudem kommt durch dieses Prinzip eine weit engere Verbindung und wechselseitige Abhängigkeit von deskriptiver und historischer Semantik zustande, als das auf anderen Gebieten möglich wäre, wo Altes und Neues nicht synchron nebeneinanderher besteht. In Urbans Formulierung: „This double reference of verbal signs, like their triadic character, is a basal differentia of semantic meaning. The fact that a sign can intend one thing without ceasing to intend another, that, indeed, the very condition of its being an e x p r e s s i v e sign for the second is that it is also a sign for the first, is precisely what makes language an instrument of knowing. This 'accumulated intension' of words is the fruitful source of ambiguity, but it is also the source of that analogous prediction, through which alone the symbolic power of language comes into being" (Language and Reality, S. 112 f.). Wer in bezug auf die menschliche Kommunikation bloß rationalistische Gesichtspunkte gelten läßt, macht gern die Polysemie f ü r viele der dabei auftretenden Pannen verantwortlich. Unter dem Einfluß von Condillac hat einst Talleyrand eine Sprachreform erwogen, die das Französische in ein schlagkräftiges politisches Idiom mit scharfen Trennungslinien zwischen den einzelnen Wortbedeutungen hätte verwandeln sollen (Gombocz, S. 38). Als Rationalist war Friedrich II. allerdings anderer Meinung: Er sah die Vielzahl der Bedeutungen, die er an der französischen Sprache so bewunderte, als ein Zeichen von besonders hohem kulturellem Niveau an (Bréal, S. 155). Als die Sprachwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem beherrschenden Einfluß der Naturwissenschaften, insbesondere der Darwinschen Evolutionstheorie stand, verglich Arsène Darmesteter (S. 38) den Prozeß der Polysemie, f ü r den Bréal [S. 155 und 314] soeben erst diese Bezeichnung gefunden hatte, mit der Fortpflanzung gewisser niederer Lebewesen, die zunächst knospen, um sich dann in zwei und mehr Teile aufzuspalten („gemmation"). Bildliche Vergleiche dieser Art werden heutzutage, nicht zuletzt auf Bréals berühmte Darmesteter-Rezension 255 hin, peinlich vermieden. Tatsache ist und bleibt jedoch, daß die Polysemie f ü r die Ökonomie der Sprache unentbehrlich ist. Es wäre praktisch einfach unmöglich, jeden Inhalt mit einem eigenen Ausdruck zu belegen. Wie schon der Abschnitt über die Unbestimmtheit des Sinns gezeigt hat, würden wir damit nur in die allzu konkrete und unerträglich schwerfällige 255

Bréal, L'Histoire des mots (abgedr. als Anhang zu seinem Essai de Sémantique, S. 305—339), bes. S. 306; A. Darmesteter, La Vie des mots étudiée dans leurs significations (Paris, 10 1950), S. 38; V. H e n r y , Antinomies linguistiques (Paris, 1896), S. 18 bis 24; Bally, Le langage et la vie, S. 36 ff. u. 143; M. Schöne, Vie et mort des mots (Paris, 2 1951), S. 5 f.

Bedeutungsvielfalt

und semantische

Pathologie

111

Ausdrucksweise der Primitiven verfallen. Das Basic English, in vieler Hinsicht ein Schulbeispiel für angewandte Semantik, ist nicht von ungefähr auf bewußt polysemantischen Prinzipien aufgebaut. D a ß die neueren Sprachen semantisch viel stärker befrachtet sind als die alten, ist eine bekannte Tatsache und mit dem seit der Antike angesammelten großen Schatz von Wissen und Erfahrung zu erklären (Breal, S. 164 f.). Welche Rolle die Polysemie in den einzelnen synchronen Gefügen spielt und wie sich diese jeweils darauf einstellen, könnte interessante Kriterien für den Vergleich verschiedener Sprachen und aufeinanderfolgender Entwicklungsstadien in der Geschichte ein und desselben Idioms liefern. 256 Die Q u e l l e n f ü r d i e P o l y s e m i e 257 sind synchron gesehen insofern wichtig, als die verschiedenen Sinne vom Sprecher definitionsgemäß als zusammengehörig empfunden werden — andernfalls liegt Homonymie und nicht Polysemie vor. Die Grenzen sind da manchmal fließend. Auch zur anderen Seite hin gibt es keine klare Trennungslinie, nämlich zwischen der Polysemie und den unterschiedlichen Verwendungsweisen eines Wortes. Schrittweise und ohne jede krasse Veränderung kann aus unterschiedlichen Verwendungsweisen Polysemie 258 und aus Polysemie Homonymie werden, und die Wörterbücher müssen ihr Material oft nach bloßen Faustregeln anordnen. Hauptquelle für die Polysemie sind also die unterschiedlichen Verwendungsweisen eines Wortes, und zwar meist dann, wenn die eben erwähnten Kürzungen eintreten. Es führt jedoch ein noch direkterer Weg zum gleichen Ziel. Wenn zu 'Sprache' 'Zunge' gesagt wird und die Bezeichnung damit vom Organ auf seine Tätigkeit übergeht, oder wenn das konkrete 'begreifen' gebraucht wird, um den abstrakten Vorgang des Verstehens zu bezeichnen; wenn das Adjektiv 'scharf' einer Stimme oder einem Geschmack beigelegt wird, und wenn 'pinchbeck' 259 (Tombak) als Name eines Londoner Uhrmachers aus dem 18. J h . überliefert ist, so handelt es sich dabei und in zahllosen anderen Fällen nicht um unterschiedliche Verwendungsweisen: Die Polysemie geht hier vielmehr auf Ü b e r t r a g u n g e n zurück. Nebenquellen für die Polysemie sind die bereits im vorigen Abschnitt behandelten Analogien, die sich zwischen einheimischen oder fremden Synonymen herausbilden können 280 ('maison' 'cuisine' — 256 257

258 259 260

Dazu Jaberg, Aspects, S. 50. Aus der Fülle der Literatur über die Polysemie vgl. bes. Breal, Kap. 14 u. 15; Vendryes, Langage, S. 232 ff.; Gombocz, S. 35 ff.; Erdmann, Kap. 3; Carnoy, S. 129 ff.; Firth, Papers, S. 8 ff.; Jaberg, Aspects, Kap. 2; Gray, Foundations, S. 2 5 5 — 2 5 8 ; R. J . Menner, „Multiple Meaning and Change of Meaning in English" (.Language, 21, 1945, S. 5 9 — 7 6 ) ; Karcevskij, T C L P , 1, S. 88; C. F. P. Stutterheim, (Antwerpen/Nimwegen, 1949), Kap. 8. Inleiding tot de Taal-philosophie Siehe insbes. Richards, How to read a Page (London, 1943), S. 132 f. Weekley, Romance of Words, S. 40. Vgl. Wellander, I, S. 129.

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'hôtel' 'cuisine'; 'to realize' — 'réaliser'), sowie Homonymien, die sich auf Grund einer reversiven Motivierung in Polysemien verwandeln, was uns im nächsten Abschnitt noch beschäftigen wird. D i e polysemantischen Beziehungen, die durch diese und andere Faktoren zustande kommen, können verschieden weit reichen und mehr oder weniger verzweigt sein. D e r einfachste T y p ist die Dichotomie einer monosemantischen Sinneinheit, die man als „ B i s e m i e " (frz. „bissémie", „bissémantisme") bezeichnet. Das Einfache daran ist jedoch lediglich die Struktur, und es kann leicht zu Widersprüchen, Zweideutigkeiten und sogar zu pathologischen Konflikten zwischen den beiden Ausdrücken kommen. So gebrauchen einige französische Mundarten z . B . ' m o i s d ' a o û t ' f ü r ' E r n t e ' . W i e Gilliéron gezeigt hat, ist dies ein typisches Beispiel für eine spradiliche Therapie zwischen Skylla und Charybdis. Man sucht mit 'mois d'août' dem Homonymenzusammenstoß von 'moisson' und 'moineau' zu entgehen, erkauft das aber nur mit einem neuen Zusammenstoß, der diesmal die Bedeutung betrifft: „Voilà le mois d'août, nous allons faire le mois d'août" {Abeille, S. 155). Ein Sonderfall von Bisemie liegt vor, wenn sich mit ein und demselben Namen e n t g e g e n g e s e t z t e B e d e u t u n g e n verbinden. Auch hier sind synchrone und diachrone Gesichtspunkte wieder unbedingt auseinanderzuhalten. Neutrale Ausdrücke, „voces mediae" 2 ' 1 wie 'Geschick', 'Umstand' etc. nehmen im L a u f der Zeit oft eine ausgesprochen pejorative bzw. meliorative Bedeutung an: Engl, 'luck', 'fatal' und die Wortpaare 'hostis' — 'Gast' und 'heureux' — 'malheur', 'bonheur' sind Beispiele dafür. Es kommt aber auch vor, daß sich beide Bedeutungen synchron geltend machen; das führt zu Zweideutigkeiten, die nur der K o n t e x t k l ä r t : Lat. 'sacer', frz. 'sacré' 1. 'heilig'; 2. 'verflucht'. Wenn die Spezialisierung der Bedeutung in den einzelnen Gesellschaftsschichten unterschiedlich weit fortgeschritten ist, so kann das zusätzlich A n l a ß zu Mißverständnissen geben: Ein Redner, der einfachen Parisern die Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft erläutern wollte, soll auf den entrüsteten Protest seiner Zuhörer gestoßen sein: „II n'y a pas d'individus ici, il n'y a que de braves gens!" 2 6 2 Wenn man bedenkt, wie schlecht sich die beiden Glieder so mancher bisemantischen Beziehung vertragen, überrascht die Feststellung, daß wirklich breit angelegte Lexikonwörter wie engl, 'put', 'do' u. ä. ihre vielfältigen Funktionen ziemlich reibungslos erfüllen. I m Basic English hat man ihnen deswegen semantisch sogar noch erheblich mehr zumuten wollen. Von der Quantität darf also nicht auf eine pathologische Polysemie geschlossen werden. Leo Spitzer hat sich ausdrücklich dagegen verwahrt, als er den Ersatz von 'dit-il' durch das noch 261

262

Frei, Cahiers, 2, S. 18 f. sieht darin Beispiele für „transposition libre", bei der die Übertragung in der einen oder in der anderen oder audi in beiden Richtungen erfolgen kann. Carnoy, S. 151 ff.; vgl. auch Gombocz, S. 36 f.

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viel bedeutungsreichere 'fait-il' erörterte. 2 " Den Ansichten Gilliérons wird damit kaum widersprochen, es fragt sich nur, ob die von ihm und seiner Schule benutzte Terminologie angemessen ist: „Semantische Überfrachtung", „ H y p e r trophie", „Plethora", „Übersättigung", all diese Termini erwecken den Anschein, als sei nur die Quantität ausschlaggebend. W ö r t e r mit besonders weit verzweigten Bedeutungen geben natürlich eher zu Verwechslungen A n l a ß ; aber auch in den einfachsten bisemantischen Verbindungen sind Verwechslungen nicht ausgeschlossen, während sie bei kompliziert strukturierten Polysemien — den K o n t e x t als Korrektiv vorausgesetzt — ausbleiben können. 2 8 4 Die Polysemie hat zwei p a t h o l o g i s c h e A s p e k t e . Trügerischer und heimtückischer ist der erste T y p , dem die Allgemeine Semantik den K a m p f angesagt hat. Es geht dabei um die Zweideutigkeit unserer Begriffssprache. Auch im vorliegenden Buch werden viele vage und proteische Termini gebraucht — der Bedeutungsbegriff ist notorisch der anstößigste — , die zur Genüge demonstrieren, wo die Gefahren liegen. Man kann ihnen einerseits durch die Einbeziehung des Kontextes („contextualisation"), vermittels der „Technik der mehrfachen Definition", andererseits durch den Ausbau einer einheitlichen Terminologie und Metasprache begegnen. Es sieht so aus, als würde diese schon so lange anstehende Aufgabe endlich ernsthaft in Angriff genommen, nachdem der 1948 in Paris abgehaltene 6. Internationale Linguisten-Kongreß sein Augenmerk auf Fragen der Terminologie gerichtet und eine diesbezügliche Kommission eingesetzt hat. Man könnte dabei gut von Jules Marouzeaus ausgezeichnetem Lexique de la Terminologie Linguistique ausgehen. Uns kommt es hier jedoch nicht auf diesen Aspekt der semantischen Pathologie an, vielmehr auf die Pathologie vom zweiten T y p : Wir haben es dabei mit einem empirischen Begriff zu tun, den schon die griechischen Grammatiker gebraucht haben, als sie von der Jiôftï] Trjg cpœvfjç sprachen. In neuerer Zeit ist dieser Gedanke vor allem durch den von der Medizin zur Philologie gekommenen Lexikographen Littré 2 6 5 in die Sprachwissenschaft eingeführt worden. Uber Darmesteter fand der Begriff dann Eingang in die Sprachgeographie; er spielt eine wichtige Rolle bei Gilliéron und taucht hier sogar im Titel einer seiner Schriften a u f : Pathologie et thérapeutique verbales. Es ist ein sehr weiter Begriff für jede Art von Störung im Gleichgewicht eines L. Spitzer, „Zur Bewertung des .Schöpferischen' in der Sprache" (Archivum Romanicum, 8, 1924, S. 349—385): „Das Allerweltsverbum 'faire' bekommt n o c h eine Funktion, die von vornherein ziemlich abliegend scheint — wieder ein Beweis dafür, daß die Gilliéronsdie Ansicht vom Todbringenden der Polysemie der Revision oder Einschränkung bedarf. Der Ersatz von zweideutigem 'dit' (Ulimann: es kann Indikativ Präsens ('dicit') und Passé Simple fdixit') sein) durch hundertdeutiges 'fait' hieße aus Scylla in Charybdis geraten" (S. 350). 264 Ygj 'e(s)mer' und 'amare' > 'aimer' gehört zu den eindrucksvollsten Leistungen des neuen Verfahrens und der Sprachwissenschaft überhaupt; hauptsächlich ihrer methodologischen Bedeutung wegen ist das Interesse für die Homonymik so groß. Es gibt sicher ebensoviel englische Beispiele, wenn sie auch schwerer festzustellen und auszuwerten sind, solange ein Sprachatlas für England fehlt. Von den bisher untersuchten Beispielen ist 'queen' 'Königin' und 'quean' 'freches, ungezogenes Mädchen, Weibsbild, Dirne' besonders aufschlußreich. Der lautliche Zusammenfall geht auf die konvergente Lautentwicklung 2781

[ D a z u Ross, Transactions

279

J . O r r , „The Flea and the F l y " (jetzt in: Words and Sounds, S. 1 — 8 ) , worin er auch zeigt, inwiefern die Funktionen des zurückgedrängten 'to flee' teilweise von 'to fly' [fliegen] w a h r g e n o m m e n werden [es handelt sich also nicht, wie U l i m a n n v o m Titel verleitet sagt, um die Substantive 'flea' und 'fly'] — ähnlich wie a f r z . 'esmer' durch 'aimer' absorbiert w o r d e n ist, u. ä. m. Vgl. ferner O r r s Artikel „'Bougre' as E x p l e t i v e " (ebd., S. 1 9 1 — 1 9 3 ) . I o r d a n — O r r , S. 163, A n m . 1 [ist bei Bahner, S. 190, gestrichen]. A n d e r e r Ansicht ist Spitzer, dem O r r , Studies Pope, S. 2 6 9 jedoch widerspricht. Gilliéron—Roques, a. a. O . , S. 1 3 2 — 1 5 0 .

280 281 282

of the Philological

Society,

1 9 3 4 , S. 9 9 . ]

126

Deskriptive

Semantik

von me. [ e : ] und [ e : ] zurück; überall wo dieser Lautausgleich erfolgt ist, hat die 'Königin 5 ihre Rivalin verdrängt. Dagegen hat sich in Devon und Somerset, wo beide Laute unterschieden bleiben, 'quean' erhalten (Menner, Language, 12, S. 2 3 2 f.). Die Untersuchungen von Edna R . Williams haben gezeigt, wodurch eine Kollision von 'an ear' und 'a near' (neben 'kidney' ein altes germanisches Wort, zu dem auch dt. 'Niere' gehört) abgewendet worden ist: Wo sich, wie im Standard English, 'ear' behauptet hat, ist 'near' durch 'kidney' ersetzt worden; wo sich dagegen 'near' durchgesetzt hat, ist 'lug' für 'ear' eingetreten (a. a. O., S. 4 7 — 5 3 ) . A u f ähnliche Weise ist man einem Konflikt zwischen 'gate' 'Tor' und rivalisierendem 'gate' < an. 'gata', 'Gasse' ausgewichen, wobei auch die lautliche Differenzierung eine Rolle spielt: W o 'gate' 'Weg' erscheint, nimmt das homonyme 'gate' ' T o r ' die Form 'yate' oder 'yett' an (ebd., S. 5 7 — 6 9 ) . Wenn erst der von der Philological Society in Angriff genommene Linguistic Atlas of the British Isles vorliegt, bekommt die englische Homonymenforschung und alles, was mit dem Wortschwund zusammenhängt, natürlich eine viel solidere Grundlage; auch wird das Kartenmaterial sicher etliche bisher ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. D i e s t r u k t u r e l l e B e d e u t u n g d e r H o m o n y m i e und die A r t und Weise, wie sich verschiedene Sprachen auf sie eingestellt haben, ist für den synchronen Status einer Sprache ebenso bezeichnend, wie es die entsprechenden Merkmale der Konventionsabhängigkeit und Motivierung, der Synonymie und Polysemie sind. D a sich Vorgänge der Homonymie weit eher auf präzise Formeln bringen lassen als andere Aspekte der Bedeutungsvielfalt, sind auf diesem Gebiet auch schon viel handgreiflichere Ergebnisse erzielt worden als anderswo, die vermutlich noch um so konkreter werden, je mehr die Häufigkeitsstatistik, die phonologische Analyse und die Methoden der Kartographie ausgebaut werden. Für die Verbreitung der Homonymie im allgemeinen und ihrer pathologischen Symptome im besonderen scheinen mehrere Faktoren ausschlaggebend zu sein. Einer davon ist die grammatische Struktur. Meillets Untersuchungen auf dem Gebiet des Indogermanischen haben ergeben, d a ß es zwar auch hier zu Homonymenkollisionen gekommen ist, daß aber das ausgeprägte Flexionsschema dieser Sprachen sie nicht an Umfang und Bedeutung hat gewinnen lassen. 283 Ein damit nicht unverwandter, aber noch wichtigerer Faktor ist die Einsilbigkeit 2 8 4 , die an dem Überhandnehmen der Homonymie im Chine283

284

A. Meillet, „Sur les effets de l'homonymie dans les anciennes langues indo-européennes" (Cinquantenaire de l'École Pratique des Hautes Études, Paris, 1921, S. 169—180), S. 169. Vgl. Löfstedt, Syntactica, II, S. 57 ff. Vgl. außer Jespersens wichtigem Aufsatz (Linguistica, S. 384—408) insbes. auch Trnka, Travaux, 4 u. die in Anm. 274 zit. Abh., S. 57—93. Die Ansicht von Trnka und Mathesius, daß das Englische wie auch andere analytische Sprachen sich mehr auf den Satzzusammenhang stützt und daher für Homonymien weniger anfällig sei als das Tschechische und andere slawische Sprachen, wird von Menner, Language, 21, S. 76, Anm. 35 kritisiert.

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Pathologie

127

sischen*85 u n d auch im Englischen schuld ist. Nach Jespersens Schätzungen gibt es rund viermal soviel einsilbige wie mehrsilbige H o m o n y m e , was auch gar nicht überrascht, denn „the shorter the w o r d , the more likely is it to f i n d another w o r d of accidentally the same sound" (Linguistica, S. 398). R o b e r t Bridges veranschlagt die Zahl der H o m o n y m e im Englischen, ohne rein grammatische Fälle wie ' r o u n d ' zu berücksichtigen, auf 1600 bis 2000 (SPE, 2, S. 6). Dabei k o m m t es nicht nur auf die Einsilbigkeit, sondern auch auf eine möglichst einfache Silbenstruktur an. Monosyllaben mit einer größeren Konsonantenfolge im An- oder Auslaut weisen weniger H o m o n y m e auf als Monosyllaben mit der denkbar einfachsten Silbenstruktur; vgl. 'male'—'mail', 'so'—'sew'—'sow', etc. (Jespersen, Linguistica, S. 398). Von diesen beiden F a k t o r e n her erklärt sich die Bedeutung der H o m o n y m i e f ü r das Französische. 2 8 ' Die einfache Silbenstruktur, die dem Französischen selbst in mehrsilbigen W ö r t e r n eigen ist, macht es zu einem beliebten T u m m e l p l a t z f ü r Calembours, die manchmal höchst kunstvoll sein können, wie folgende vielzitierte Beispiele beweisen: „Gal, a m a n t de la reine, alla, tour magnanime, galamment de l'Arène à la T o u r Magne, à N î m e s " ; oder „Dépêchez-vous, Charles attend (charlatans)", mit dem Louis X V I I I . seine Ä r z t e gestichelt haben soll. H i n z u k o m m t , d a ß das Französische sicher auch auf G r u n d der berühmten „clarté française" so empfindlich auf den Doppelsinn der H o m o n y m e reagiert; auch sind die Unterschiede zwischen der wohlgeordneten Hochsprache und den eigenwilligeren u n d freizügigeren M u n d a r t e n in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen (Iordan-Bahner, S. 216). D a konvergente Lautentwicklungen den größten Einfluß auf die H o m onymenbildung haben, gibt diachron gesehen immer die Lautgeschichte den H i n t e r g r u n d f ü r die H o m o n y m i e n einer Sprache ab. W ä h r e n d das Deutsche 287 , Spanische u n d Italienische mehr konservativ ist, h a t das Französische u n d Englische die Fülle seiner H o m o n y m e vor allem dem T e m p o u n d dem A u s m a ß seiner phonologischen Entwicklung zu verdanken (Dauzat, Géogr. Ving., S. 78). Im Zuge einer beschleunigten Lautentwicklung pflegt sich also die H o m o n y m i t ä t auszubreiten u n d das Bewußtsein f ü r ihre G e f a h r e n zu schärfen. So w a r es jedenfalls seit dem Altfranzösischen in Frankreich, nachdem die E n d k o n s o n a n t e n und das -s- vor Konsonanten verstummt w a r e n (Iordan-Bahner, S. 216 f.). Es können aber auch moralische G r ü n d e mitsprechen: Für die „Précieuses" des 285

28s

287

Dabei ist aber audi zu berücksichtigen, daß die Sprachmelodie im Chinesischen wie in den skandinavischen Sprachen eine phonematisdie Funktion hat. Wörter, die sidi nur durch ihre Sprachmelodie unterscheiden, sind genausowenig homonym wie engl, 'man' — 'men' oder 'absent' — 'absent'. Zu diesem Aspekt des Neufranzösischen siehe insbes. Bally, ¿ing. gén., S. 276, 302 u. 334—337; [vgl. zu den beiden folgenden Wortspielen Carnoy, S. 221]. Deutsche Beispiele bringt B. Liebich, „Kleine Beiträge zur deutschen Wortforschung" (PBB, 23, 1898, S. 223—231), S. 228 ff. Vgl. dazu den kurzen Forschungsbericht über Arbeiten von E. öhmann u. a. bei Williams, a. a. O., S. 28—31. Über den Zusammenhang von Lautwandel und Homonymie siehe insbes. Trnka, Travaux, 4, S. 155 f.

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Semantik

17. Jahrhunderts hatten auch bloß zufällige Lautanklänge oft einen so anstößigen Nebensinn, daß sie sogar Quasihomonyme (Paronyme) etwaiger Zweideutigkeiten wegen verbannten. Deshalb durfte das Verb 'inc«/quer' z. B. nicht gebraucht werden, weil man sich bei der zweiten Silbe an ein verpöntes W o r t erinnert fühlte. U n d vor noch gar nicht langer Zeit soll man eine Sechsergruppe in einem amerikanischen Orchester als 'Quintett' bezeichnet haben, weil 'Sextett 5 zu „anzüglich" gewesen wäre. 2 8 8 Immerhin schafft die konservative Schreibung einen gewissen Ausgleich zu schnell und gründlich wirkenden Lautveränderungen. Es ist daher kein Zufall, daß das Englische, das Französische, das Irische und das Chinesische — alles Sprachen, die durch die Homonymie besonders gefährdet sind — so hartnäckig an ihrer antiquierten Schreibweise festhalten — ein Argument, das die Befürworter von Rechtschreibreformen nur selten berücksichtigt haben (vgl. Bally, hing, gen., S. 333 f. und Jespersen, Linguistica,

S. 398).

Wenn wir nun auf das Gebiet zurückblicken, das wir im Rahmen der deskriptiven Semantik behandelt haben, so fällt eins besonders a u f : I m synchronen System ist alles miteinander verbunden, hängt alles mit allem zusammen. Die einzelnen semantischen Faktoren sind unauflöslich miteinander verquickt: Konventionsabhängigkeit und Motivierung, Onomatopöie und Volksetymologie, Gefühlswert, Synonymie, Polysemie und Homonymie bilden eine Einheit, ein einmaliges Mischungsverhältnis und ein gerade gehaltenes Gleichgewicht, das nicht seinesgleichen hat. Überdies hängen sie mit dem phonologischen, morphologischen und syntaktischen System zusammen, mit der Schichtung des Wortschatzes, mit der jeweils geltenden Gesellschafts- und Dialektstruktur, mit Fremdeinflüssen, Stilnormen, Schreibweisen und selbst mit W o r t spielregeln; und über das rein Sprachliche hinaus sogar mit dem allgemeinen Klima der Zeit, mit ihren kulturellen Bestrebungen und ihrem Sittlichkeitsbegriff. Ein so komplexes Panorama läßt an das Saussuresche Schachbrett denken, auf dem keine einzige Figur, nicht einmal ein einfacher Bauer, weggenommen oder gezogen werden kann, ohne daß sich das Kräftespiel, das dem synchronen System zugrunde liegt, verändert. In Wirklichkeit wird jedoch fortwährend etwas verschoben und entfernt, und dauernd ändert sich das Gesamtbild, weil sich immer neue synchrone G e flechte ergeben, die ebenso einmalig und ebenso vergänglich sind wie die vorhergegangenen. Aus triftigen methodischen Gründen muß zwischen beiden Aspekten streng geschieden werden; doch greifen auch sie ineinander, und nirgends zeigt sich dieses Ineinandergreifen deutlicher als auf semantischem Gebiet, wo die Bedeutungsvielfalt eine klare Trennung praktisch unmöglich und theoretisch unhaltbar macht. In einem dritten Kapitel soll daher die Verflechtung von Synchronie und Diachronie untersucht werden. 288

Nach A. W. Read, „The Lexicographer and General Semantics" (Papers jrom tbe Second American Congress on General Semantics; Chicago, 1943, S. 33—42), S. 41 f.

III

Von der deskriptiven zur historischen Semantik Der dreidimensionale Aufbau der Sprachwissenschaft geht, wie erinnerlich sein wird, auf drei verschiedene Kriterien zurück. Die Dichotomie von Morphologie und Semantik sowie die Dreiteilung in Phonologie, Lexikologie und Syntax haben deduktiven, analytischen Charakter: Beides ist im Begriff der „langue" als eines in der Sprachgemeinschaft verankerten engraphischen Symbolsystems vorgegeben. Dagegen ist das dritte kein sprachimmanentes Prinzip; es ist ein Merkmal der Sprachwissenschaft, nicht ein Merkmal ihres Gegenstandes; auch ist es nicht a priori grundlegender als manch anderer ebenso berechtigte Gesichtspunkt. Wir haben uns vielmehr aus rein methodischen Gründen f ü r die Gegenüberstellung von synchroner und diadironer Betrachtungsweise als drittes Einteilungsprinzip entschieden. Von daher bekommt auch der Gesamtaufbau, einschließlich der Zahl seiner Dimensionen, aposteriorischen Charakter. Im Gegensatz zu den beiden ersten Prinzipien, die deduktiv gewonnen sind und die sich damit von selbst rechtfertigen, ist das dritte Kriterium erst noch auf seine Berechtigung hin zu prüfen, da mehrere Möglichkeiten d a f ü r zur Wahl gestanden haben. Seine Berechtigung kann sich nur daran erweisen, was es heuristisch wie systematisch zu leisten vermag. Wenn man sich die zweierlei Sprachbetrachtungsweisen zum Prinzip der Methode macht, kommt es wie bei allen Arbeitshypothesen auf die praktische Bewährung, d. h. auf die Ergebnisse an die damit erzielt werden. In der Beziehung hat die Saussuresche Antinomie schon Beachtliches geleistet. Um nur zwei Pluspunkte zu nennen: Es ist schwer vorstellbar, wie zwei der jüngsten und vielversprechendsten Zweige der modernen Linguistik, nämlich Phonologie u n d Stilistik, ohne den Anstoß dieser Unterscheidung überhaupt hätten entstehen können. Auf dem Gebiet der Semantik selbst ist es die Feldtheorie, die ausdrücklich für sich in Anspruch nimmt, von dem Saussureschen Begriff der synchronen Systeme ausgegangen zu sein. Diese Argumente sind, obwohl sie alle aus der Praxis stammen, letztlich vielleicht doch gewichtiger als rein theoretische Erwägungen. Wir können und wollen hier nicht alles durchgehen, was für und wider die Saussuresche Unterscheidung spricht; gut vierzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen ist die Diskussion über den Cours noch immer in vollem Gange, was ja auch wieder beweist, wie fruchtbar die Anregungen gewesen sind — denn 9

Ulimann

130

Von der deskriptiven

zur historischen

Semantik

mehr als bloße Anregungen waren es kaum! —, die von dem Genfer Gelehrten ausgegangen sind. 289 Auf den verschiedenen Gebieten der Sprachwissenschaft ist die Situation allerdings nicht überall gleich. Insbesondere die Semantik unterscheidet sich durch die Eigenart ihres Forschungsgegenstandes von den übrigen. Inwieweit das Prinzip der zweifachen Sprachbetrachtungsweise für die Semantik relevant und anwendbar ist, läßt sich am besten an dieser Stelle diskutieren, da es dabei hauptsächlich auf das Problem der Wechselwirkung zwischen dem Vorher und dem Nachher ankommt. Im ganzen vorigen Kapitel sind wir um eine klare Trennung zwischen syndironen und diachronen Gesichtspunkten bemüht gewesen, was sich in einigen Fällen dann auch als sehr vorteilhaft erwiesen hat. Wo es beispielsweise um die Frage der Konventionsabhängigkeit und Motivierung, um die tatsächliche Bedeutung der Onomatopöie und der Volksetymologie und um eine sachliche Beurteilung der Synonymie, Polysemie und Homonymie geht, ist man ganz auf die rein synchronisdie Analyse angewiesen. Die überaus wichtige psychologische Tatsache, daß frz. 'pas' 'Schritt' und die Negationspartikel 'pas' Homonyme sind, und daß engl, 'ear' ein polysemantischer Begriff ist, der sowohl 'auris' als auch 'acus' bedeuten kann, steht in direktem Gegensatz zu der landläufigen Auffassung, wonach 'pas' polysemantisch ist, weil beide Wörter von 'passus' abgeleitet sind, 'ear' dagegen homonym, weil beide Namen verschiedene Etymologien haben. D a ß solche grundverkehrten Ansichten selbst in der seriösen Fachpresse hartnäckig wiederkehren, ist ein alarmierendes Zeichen dafür, daß die Saussureschen Gedankengänge — so einfach und alltäglich sie einigen seiner Kritiker auch vorkommen mögen — noch immer nicht genügend Eingang in die wissenschaftliche Praxis gefunden haben. Neben solchen augenfälligen Vorteilen sind wir aber auch mehr als einmal auf gewisse Schwierigkeiten gestoßen. Bei dem Versuch, die assoziativen Verbindungen aufzuzeigen, die das synchrone System durchkreuzen und nachgerade konstituieren, haben wir oft notgedrungen auf diachrone Indizien rekurrieren müssen. Da wir nicht mit psychologischen Tests, die außerhalb unseres Fachgebiets liegen und oft alles andere als zuverlässig sind, arbeiten können, schien der Nachweis assoziativer Kräfte im Bewußtsein des Sprechers nur auf diese Weise möglich. Ohne das Indiz der in N a m e und Sinn gleichermaßen verderbten Mischbildung 'sand-blind' hätte man wohl unmöglich erschließen können, d a ß es zwischen 'sam-blind' und 'sand' irgendwann einmal eine synchrone Assoziation gegeben hat. Dennoch hat gerade diese Assoziation die Voraussetzungen 289

Einen Uberblick über den derzeitigen Stand der D i n g e gibt der Aufsatz von M . S a n d mann, „On Linguistic Explanation" (MLR, 36, 1941, S. 195—212). Grundsätzlich dazu auch K. Rogger, „Kritischer Versuch über de Saussure's Cours général" (ZRPh, 61, 1941, S. 161—224). Neuerdings darüber auch R. S. Wells, „De Saussure's System of Linguistics" {Word, 3, 1947, S. 1—31).

Von

der deskriptiven

zur historischen

Semantik

131

für die anschließende Veränderung, d. h. hier sind es gleich mehrere, geschaffen. Letztere geben gleichsam den terminus ante quem für den synchronen Status ab, in dem sich die assoziativen Verbindungen eingestellt haben. G a n z ähnlich liegen die D i n g e auf dem Gebiet der semantischen Pathologie. O h n e das Indiz der Gegenmaßnahmen, bei denen es sich natürlich um diachronische Prozesse handelt, hätte das Nebeneinander

von frz. 'nouer' 'schwimmen'

(von

lat.

'notare') und 'nouer' 'knüpfen' (von lat. 'nödare') schwerlich als pathologisch diagnostiziert werden können (vgl. v. W a r t b u r g , Z R P h , 57, S. 302 ff.). In noch krasseren Fällen, wie z. B. bei den zweierlei

'moudre' oder bei

der

Kollision von 'queen' und 'quean', ist man natürlich zu der A n n a h m e berechtigt, daß sich eine pathologische Konstellation herausgebildet h a t ; aber das wäre ein rein induktiver Schluß, der jede sprachwissenschaftliche Begründung vermissen läßt. Nicht einmal konkrete Beispiele für Mißverständnisse und bewußte W o r t spiele wären beweiskräftig: Sie lassen wohl auf eine gewisse Verwirrung in der „parole" schließen, ob das Übel aber auch auf die „langue" übergegriffen hat, kann man nur an den M a ß n a h m e n ablesen, mit denen sie A b h i l f e zu schaffen gesucht hat — und derartige „Schritte" erfolgen, um es noch einmal zu sagen, diachron und sind mit sprachlichen Veränderungen verbunden. M a n könnte ja nun einfach annehmen,

die beiden

Betrachtungsweisen

seien immer dann zu trennen, wenn es sich um statische Verhältnisse handelt; jede Störung im Gleichgewicht mache dagegen eine solche Trennung unmöglich. Das aber wäre ein Trugschluß. Völlig statische Systeme gibt es nämlich gar nicht. Dauernd [Language,

sind lang-

und

kurzfristige

Veränderungen

im

Gange



Sapir

K a p . 7 ] spricht von der „ S t r ö m u n g " ( „ d r i f t " ) der Sprache; in jedem

Ruhezustand gibt es Ansätze zur U m f o r m u n g . Überdies lebt in allen synchronen Systemen Früheres in Überresten weiter. Sie sind nichts weiter als

flüchtige

Phasen, die im K o n t i n u u m der Zeit unmerklich ineinander übergehen. Saussure selbst w a r sich durchaus darüber im klaren, daß die Anwendung seines Prinzips außerhalb der Phonologie Schwierigkeiten machen

würde. 2 9 0

Nachdem er demonstriert hat, wie sich die Dichotomie auf diesem Gebiet auswirkt, macht er kein H e h l daraus, daß sich jeder weiteren Entwicklung große Hindernisse in den Weg stellen: „Aber es sind nicht nur die Laute, die sich mit der Zeit umgestalten; die W ö r t e r verändern ihre Bedeutung, die grammatikalischen Kategorien entwickeln sich . . . U n d wenn alle Tatsachen der assoziativen und syntagmatischen Synchronie ihre Geschichte haben, wie kann man dann die 290

9*

D a r a u f deutet auch der U m s t a n d hin, d a ß Phänomene, die später aufgetreten sind oder schon v o r h e r verschwunden waren, in frühere synchrone Stadien projiziert werden. Einer solchen Verwechslung haben sich viele Untersuchungen zum Aussterben der W ö r t e r schuldig gemacht. V o r diesen Gefahren w a r n t auch Stern in seinem A u f satz „ O n Methods of I n t e r p r e t a t i o n " ( S t u d i a Neophilologica, 17, 1 9 4 4 / 4 5 , S. 35 bis 4 1 ) . Ich habe mich um eine klare T r e n n u n g auf dem Gebiet der syntaktischen Semantik bemüht, und z w a r in meinem A u f s a t z „ T h e Vitality of the P a s t Definite in R a c i n e " ( F r e n c h Studies, 2, 1948, S. 3 5 — 5 3 ) .

132

Von der deskriptiven

zur historischen

Semantik

vollständige Scheidung zwischen Diachronie und Synchronie aufrecht erhalten? Diese Scheidung wird also sehr schwierig, sowie man von der bloßen Lautlehre sich entfernt" (S. 1 6 8 ; f. A. S. 194). Saussure hat nicht bezweifelt, daß sich die grundlegende Unterscheidung auch für diese Bereiche als brauchbar erweisen würde, war sich aber der ganzen Tragweite des Problems bewußt: „ . . . hier liegt die wahre Schwierigkeit; die Unterscheidung zwischen Diachronie und Synchronie — d i e g l e i c h w o h l a u f r e c h t e r h a l t e n w e r d e n m u ß — würde sehr schwierige Erklärungen erfordern, die mit dem Rahmen dieser Vorlesungen unvereinbar sind." 2 9 1 Die von Saussure angedeuteten Schwierigkeiten zeichnen sich noch klarer ab, wenn wir genau definieren, auf welche Aspekte seiner Lehre es dabei ankommt. Sieht man sich die Saussuresche Unterscheidung vor dem Hintergrund der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts an, so erkennt man, daß damit vier unterschiedlich weitreichende Axiome ausgesprochen sind: 1. Es gibt zwei verschiedene Arten der Sprachbetrachtung, eine synchronische und eine diachronische; 2.

Die synchronische Sprachbetrachtung ist völlig unabhängig und in sich ge-

schlossen und hat absoluten Vorrang als die einzige dem Gegenstand der Sprachwissenschaft wirklich angemessene Betrachtungsweise (vgl. Saussure, S. 104, f. A. S. 125; Bally, Vox Romanica,

2, S. 3 4 8 ; Sechehaye, ebd., 5, S. 11 u. S. 2 5 ) ;

3. Beide Methoden müssen säuberlich getrennt bleiben; 4. Die synchronische Sprachwissenschaft hat es mit Systemen, die diachronische Sprachwissenschaft mit Einzelelementen zu tun. Diese vier Axiome — die wohlgemerkt weder von Saussure, noch von seinen Schülern oder gar von seinen Kritikern je in dieser Weise unterschieden worden sind — werden nicht alle angefochten. U m sie der Reihe nach durchzugehen, so findet das erste Axiom doch wohl allgemeine Zustimmung. Es ist der Sache nach nicht einmal neu: Gleich für mehrere Forscher, darunter H u m boldt, Marty, Jespersen und Schuchardt, könnten Prioritätsansprüche angemeldet werden, was z. T. auch geschehen ist. Das Neue daran ist die prägnante, eindeutige Formulierung und die Verwendung einer besonders adäquaten Terminologie. 2 9 2 2,1

202

S. 170 (f. A. S. 196 f.), nachtr. gesperrt; vgl. die Anmerkung der Herausgeber zu dieser Stelle; ferner Sandmann, MLR, 36, S. 211; audi die „Thèses" der Prager Schule (Travaux, 1, 1929, S. 7—29), S. 7 f. sowie Hjelmslev, Principes, S. 49—52, insbes. seinen Schluß: „La dualité de de Saussure devient un conflit dans toutes les sciences opérant sur des valeurs. C'est ainsi que la méthode de la sémantique et de la syntaxe évolutives est restée assez mal assurée" (S. 52). Die Saussureschen Termini „synchronisch — diachronisch" haben gegenüber Begriffspaaren, die sonst nodi dafür vorgeschlagen worden sind („deskriptiv—historisch" und „statisch—dynamisch (bzw. evolutiv)"), den Vorzug, daß sie indirekt das Ineinandergreifen der beiden Aspekte betonen (vgl. Iordan—Bahner, S. 327, Anmerk. 3). Auch spricht für sie, daß als dritte mögliche Betrachtungsweise eine

Von der deskriptiven

zur historischen

Semantik

133

V o n dem Primat der synchronischen Betrachtungsweise vielleicht abgesehen ist das zweite Axiom ebenso unbestreitbar wie das erste; die meisten Gelehrten wollen darin überhaupt den fruchtbarsten Beitrag der ganzen Saussureschen Theorie sehen. 293 Es hat die deskriptive Linguistik aus dem Status des bloß Zweckdienlichen befreit, zu dem sie durch den Aufstieg der historischen Methode im vorigen Jahrhundert verurteilt war. Im Anschluß an Hegel könnte man versucht sein, in der bisherigen Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft drei Stufen zu unterscheiden: Eine bis ins frühe 19. Jahrhundert reichende ausschließlich deskriptiv-normative Phase ( T h e s e ) ; eine das ganze vorige Jahrhundert hindurch anhaltende ausschließlich historische Phase ( A n t i t h e s e ) ; endlidi eine von Saussure eingeleitete Phase der S y n t h e s e. 2B4 I m Gegensatz zum ersten und zweiten Axiom sind die beiden anderen schon eher umstritten. Das dritte Axiom folgt nicht logisch aus dem ersten: Zwei Methoden können durchaus verschieden und unabhängig voneinander sein, und dennoch mag es zweckmäßig sein, sie nebeneinander einzusetzen. Dasselbe gilt für den vierten Punkt: Es kann sich als notwendig erweisen, die beiden Methoden auseinanderzuhalten, aber das richtet sich dann ganz und gar nicht danach, ob diese isolierend oder systematisch sind. D i e letzten beiden Axiome sind deshalb gesondert zu betrachten, und selbst wenn sich dabei herausstellen sollte, daß sie nicht überzeugen, bleiben die Thesen im übrigen immer noch bestehen. Es wäre noch hinzuzufügen, daß Axiom 3 als ganzes, Axiom 4 dagegen nur zur Hälfte zu bestreiten ist: Den Systemcharakter synchroner Gefüge wird wohl niemand bezweifeln, nur die isolierende Tendenz der diachronischen Betrachtungsweise wird mehr und mehr in Frage gestellt. W i r wollen uns deshalb auf Axiom 3 und auf den anfechtbaren Teil von Axiom 4 beschränken und an H a n d von ein paar praktischen Beispielen kurz prüfen, inwieweit es auf dem Gebiet der Bedeutung tunlidi und von Nutzen ist, die beiden Betrachtungsweisen auseinanderzuhalten und in der diachronischen Sprachwissenschaft ein ausschließlich isolierendes Verfahren zu sehen.

293

294

„panchronische Sprachwissenschaft" ohne weiteres in diesen Rahmen hineinpaßt; vgl. Sommerfeit, Norsk Tidsskrifi, 9, 1938, S. 242. Siehe auch Hjelmslev, Principes, S. 55—58. Siehe z. B. v. Wartburg, „Das Ineinandergreifen von deskriptiver und historischer Sprachwissenschaft" (Berichte ii. d. Verh. d. Sachs. Akad. d. Wiss. zu Lpzg., Phil.hist. Kl., 83. Bd., 1931, H. 1), S. 6 ff. u. Sandmann, MLR, 36, S. 195 f. Ballys Linguistique générale et linguistique française ist bis jetzt das bedeutendste Ergebnis der neuen Richtung. Siehe auch Rogger, ZRPh, 61, S. 183 f. u. J. Vendryes, „Sur les tâches de la linguistique statique" (Journal de Psychologie, 30, 1933, S. 172—184), S. 173 fi. Saussure faßt die drei Stufen selbst wie folgt zusammen: „Die alte Grammatik sah nur die synchronische Seite; die Sprachwissenschaft hat uns eine neue Art von Erscheinungen kennen gelehrt; aber das genügt nicht; man muß den Gegensatz der beiden Arten kenntlich machen, um alle sich daraus ergebenden Folgerungen zu ziehen" (S. 98; f. A. S. 119).

134

Von der deskriptiven zur historischen Semantik 1. D A S I N E I N A N D E R G R E I F E N D E R B E I D E N

METHODEN

(Homonymenkonflikte) Saussure w a r von der Einfachheit u n d der grundsätzlichen Bedeutung seiner Entdeckung wohl so beeindruckt, d a ß er die Trennung der beiden Methoden als kategorischen I m p e r a t i v jeder wissenschaftlich betriebenen Linguistik ansah. Immer wieder ist er auf dieses Postulat zu sprechen gekommen: „Der Gegensatz der beiden Betrachtungsweisen . . . läßt sich nicht aufheben und nicht vermitteln" (S. 98; f. A. S. 119); „Wollte man in einer u n d derselben Disziplin so verschiedenartige Tatsachen vereinigen, so w ä r e das ein verkehrtes Unternehmen" (S. 101; f. A. S. 122); „Diese verschiedenartige N a t u r der aufeinanderfolgenden Glieder und der gleichzeitigen Glieder . . . verbietet es, die einen und die andern zum Gegenstand einer einzigen Wissenschaft zu machen" (S. 103; f. A. S. 124). Die Entschiedenheit dieser Behauptungen verrät Saussures junggrammatische Schulung; sie erinnern tatsächlich etwas an die „blinde N o t w e n d i g k e i t " , die Osthoff f ü r die Lautgesetze gelten ließ. Saussures mathematischer Verstand, zu dem sich verschiedene seiner Kritiker (Meillet, Jespersen) geäußert haben, hat die Wahl seiner bildlichen Vergleiche bestimmt, mit denen er seine Thesen zu erläutern suchte: Quer- u n d Längsschnitte an einem Baumstamm; die Analogie zum Schachspiel; und vor allem die Aufstellung eines Koordinatensystems f ü r die Sprachforschung:

v D wobei AB „die Achse der Gleichzeitigkeit" und C D „die Achse der Aufeinanderfolge" darstellt (S. 94; f. A. S. 115) — eine A n o r d n u n g , die Schuchardt zu der Bemerkung v e r a n l a ß t h a t : „Das k o m m t mir so vor wie wenn man die Lehre von den Koordinaten in eine von den O r d i n a t e n u n d eine von den Abszissen spaltete" (Brevier, S. 266). In den vier Jahrzehnten, die seit dem Erscheinen des Cours verstrichen sind, hat sich dieses Gebot keineswegs gelockert. Noch Charles Bally, berufenster I n terpret der Genfer Sprachtheorie, h a t w a r n e n d darauf hingewiesen, d a ß jedes Abrücken d a v o n ein Zerrbild statt ein Abbild des gegenwärtigen Zustandes ergeben w ü r d e (Ling. gen., S. 22).

Das Ineinandergreifen

der beiden

Methoden

135

Dennodi wäre es ganz im Sinne Saussures, wenn sich die beiden Methoden zu ihrer beider Nutzen irgendwie sinnvoll verknüpfen ließen. 2943 Als der Entdecker zweier sich ergänzender Zugangsmöglichkeiten war Saussure natürlich zunächst einmal bestrebt, beide einander gegenüberzustellen und den Nachdruck vor allem auf das zu legen, was sie unterscheidet und eine Trennung wünschenswert erscheinen läßt. Immerhin finden sich im Cours aber auch Hinweise auf das Ineinandergreifen der beiden Methoden. 295 Unsere im vorigen Kapitel gemachten Erfahrungen scheinen den Schluß zuzulassen, daß in der Semantik — bei nur leichter Akzentverschiebung — beide Einstellungen legitim sind, wenn auch nicht immer im gleichen Zusammenhang. In einigen Fällen sind die synchronen Stadien besser zu verstehen, wenn man von der Vergangenheit ganz absieht (z. B. bei den verschiedenen Entstehungstypen der Homonymie und Polysemie). In anderen Fällen kann man sich dagegen nur dann ein rechtes Bild von den synchronen Assoziationen, insbesondere von den veränderlichen und pathologischen Konstellationen machen, wenn man diachronische Zeugnisse mit heranzieht. Diese haben dann nichts als symptomatische Bedeutung. Wenn man die beiden Perspektiven in dieser Weise miteinander verbindet, verträgt sich das durchaus mit einer etwas liberaleren Auslegung des Saussureschen Prinzips, allerdings unter dem wichtigen Vorbehalt, daß die Verbindung nicht zu Verwechslungen führt und beide Methoden einzig und ausdrücklich nur zu dem Zweck nebeneinander verwendet werden, um sich gegenseitig zu beleuchten. 288 Bisher haben wir in der Hauptsache auf diachronische Vorgänge zurückgegriffen, um über die synchronen Stadien Aufschluß zu gewinnen, die ihnen v o r a u s g e h e n . In ähnlicher Weise wird sich das Kapitel über die diachronische Semantik hauptsächlich zu dem Zweck auf synchrones Material stützen, um Bedeutungsveränderungen bis zu ihrem U r s p r u n g zurückverfolgen zu können. So verbunden, geben die Veränderungen die S y m p t o m e für die 2Ma

I n seiner hing. gen. hat Bally selbst wiederholt auf diachronisches Material zurückgegriffen; w i e er selbst vorsichtig formuliert, hat er es jedoch nur als „des points de comparaison qui éclairent, par contraste, la nature vraie — et différente — de la langue actuelle" (S. 22) benutzt, w o m i t er also viel beschränkteren und weniger organischen Gebrauch davon macht, als hier vorgeschlagen wird. Siehe auch seinen wichtigen A u f s a t z „En été — au printemps . . ." (Festschrift E. Tappolet, Basel, 1935, S. 9 — 1 5 ) u. Lerdi, Hauptprobleme, I, S. 260 ff. 295 So z . B . in folgenden Stellen: „Bei der diachronischen Betrachtungsweise hat man es mit Erscheinungen zu tun, die keinerlei Zusammenhang mit Systemen haben, o b w o h l s i e d i e B e d i n g u n g e n z u s o l c h e n d a r s t e l l e n " (S. 101 f.; f. A. S. 122); „ U m gleichzeitig die Selbständigkeit und d i e gegenseitige A b h ä n g i g k e i t des Synchronischen und des Diachronischen zu zeigen . . ." (S. 103; f. A. S. 124); „gleichwohl w i r k t s i c h der Zug auf das ganze System a u s" (S. 105; f. A . S. 126) etc. (nachtr. gesperrt). 296 Y g j z u J e n Schwierigkeiten, einen synchronen Status räumlich und vor allem auch zeitlich genau zu begrenzen, Saussure, S. 121 f. (f. A . S. 142 f.); Firth, Papers, S. 18, A n m . 1; Sandmann, MLR, 36, S. 210 f.

136

Von der deskriptiven

zur historischen

Semantik

syndironen Situationen und diese wiederum den H i n t e r g r u n d für die diadironen Entwicklungsvorgänge ab. Das Zusammenwirken ist demnach auf den unteren Teil des Saussureschen Koordinatensystems beschränkt:

>' D Dasselbe wäre jedoch auch auf den oberen Teil des Koordinatensystems, d. h. auf den ACB-Bereich auszudehnen. Eine solche Verbindung ist aus methodologischen Gründen vielleicht nicht so dringlich, verspridit aber nicht weniger Vorteile. Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Veränderungen in ihrer E i n w i r k u n g auf die synchronen Systeme erfassen, mit all den Störungen und Neuverteilungen, die sich auf dem Schachbrett notwendigerweise immer dann ergeben, wenn irgendein Element verschoben, hinzugefügt oder weggenommen wird. Beide Methoden lassen sich sogar audi miteinander verbinden, indem die Veränderungen zu den ihnen vorausgehenden u n d ihnen nachfolgenden synchronen Stadien in Beziehung gesetzt werden. Ein Gesamtbild von den verschiedenen Stadien und Prozessen, um die es dabei geht, zeigt eine komplexe Folge von Verflechtungen auf allen Stufen. Der komplizierte Mechanismus wird einem völlig klar, wenn man Walther v. Wartburg, dem wichtigsten Fachmann auf diesem Gebiet, in der Analyse eines einfachen Beispiels folgt." 7 Wenden wir uns der mittlerweile sattsam bekannten Konfliktsituation von 'gat' ' H a h n ' und 'gat' 'Katze' in dem Teil Südwestfrankreichs zu, in dem eine willkürliche Lautentwicklung — Wandel des auslautenden -II zu -t — 'gallus' und 'cattus' zu 'gat' zusammenfallen läßt! Gilli£ron habe den ersten Schritt zur Überwindung der Saussureschen Antinomie getan, so argumentiert v. Wartburg, als er zeigte, daß eine synchrone Situation, in diesem speziellen Fall eine Homonymenkollision, automatisch diachronische Entwicklungsvorgänge ausgelöst hat: Man hilft sich mit ortsüblichen Varianten von 'faisan' und 'vicaire' als 287

v. Wartburg hat dieses Problem verschiedentlidi erörtert. Zum ersten Male hat er seine Ideen dazu in der bereits genannten kurzen Abhandlung Ineinandergreifen entwickelt. Die gleichen Gedanken verfolgt und baut er weiter aus in: „Betrachtungen über die Gliederung des Wortschatzes und die Gestaltung des Wörterbuchs" (ZRPh, 57, 1937, S. 296—312, auch in Jaberg-Festschrifl, Halle, 1937, S. 168—184), wo er manches von der Kritik zurückweist, die Trier in der Behaghel-Festschrifl, S. 176—183 geübt hatte, v. Wartburgs Ansichten finden sich auf neuestem Stand in seiner Einführung, S. 137—155 zusammengefaßt. Bemerkenswert ist, daß sich seine Argumentation nicht auf die lexikalische Semantik beschränkt, sondern auch syntaktische Phänomene mit einbezieht. Siehe auch Rogger, ZRPh, 61, S. 193—203.

Das Ineinandergreifen

der beiden

Methoden

137

Ersatz für 'gat' 'Hahn'." 8 Es bleibe jedoch noch ein zweiter Schritt zu tun. Wie ist man gerade auf 'vicaire' gekommen? An diesem Punkt stimmt v. Wartburg, wie vor ihm schon Spitzer 2 9 9 , nicht mit Gilli£ron überein, der angenommen hatte, 'faisan' und 'vicaire' seien als A u g e n b l i c k s l ö s u n g ,

unter dem

Druck eines sprachlichen Notstandes entstanden. Nadi v. Wartburg sind 'vicaire' und andere scherzhafte, affektbetonte Synonyme, „Trabantenwörter", vielmehr sdion v o r h e r als spontane volkstümliche Sprachschöpfungen entstanden. Als es zu dem Zusammenstoß kommt, stehen sie synchron bereit, um in die Bresche zu springen. Es gibt also ein zweites Korrektiv zu der Saussuresdien Polarität: Den Ubergang von der diachronischen Entwicklung, die den Bedeutungswandel von 'vicaire' im Dorfdialekt bewirkt hat, zu dem synchronen Status, in dem Hahn und Katze kollidieren und dem Sprecher das neue affektbetonte Synonym als Ersatzwort zur Verfügung steht. W. v. Wartburg®00 illustriert den ganzen Mechanismus an folgendem Schema:

gallus (bigey)

gat ' K a t z e ' < -

gat

- > g a t 'Hahn'

I

(bigey)

bigey

A, B und C bezeichnen synchrone Stadien, A B und B C diachronische Vorgänge. Gilliéron hatte gezeigt, wie es durch die pathologische Situation in B zur Veränderung B C gekommen ist; v. Wartburg hat nun erklärt, daß der diachronische Vorgang A B die Mittel bereitgestellt hatte, mit denen die Spannung im 298 Vgl. Gilliéron—Roques, Kap. 12. [„Gask. 'bigey' ist natürlich der Vertreter von lat. 'vicarius'. Doch war seine Bedeutung nidit 'vicaire', wie Gilliéron meinte, sondern 'Dorfrichter' ('viguier', wie man in Südfrankreidi bis zur Revolution sagte)." (v. Wartburg, Einführung, S. 138, Anm. 2).] v. Wartburg geht nicht auf die wichtige Frage ein, welche Gründe für das Uberleben der einen und das Aussterben der anderen Konkurrenzform ausschlaggebend sind; vgl. Iordan—Bahner,

S. 193 u. Dauzat, Géogr. ling., S. 74.

299

Archivum Romanicum, 8, S. 368.

300

v. Wartburg ( I n e i n a n d e r g r e i f e n , S. 16) führt für seinen Standpunkt sogar ein Gilliéron-Zitat an: „II est possible d'ailleurs que les parlers aient trouvé quelque agrément à ces dénominations anormales et aient mis quelque complaisance à les propager."

Von

138

der deskriptiven

zur historischen

Semantik

synchronen Status B zu lösen war, was auf eine unlösbare Verflechtung von Synchronie und Diachronie schließen läßt. 3 0 1 Interessant an v. Wartburgs Analyse ist, daß drei der wichtigsten — man könnte fast sagen, d i e drei wichtigsten — Schulen der modernen Linguistik bemüht werden,

das Ihre zur Lösung des einen Problems beizutragen.

Die

Problemstellung als solche stammt von Saussure; Gillieron erklärt das Zustandekommen der Veränderung von B zu C als eine unerläßliche „therapeutische" M a ß n a h m e ; woher die Mittel dazu stammen, d.h. wie es zu dem phantasievollen W o r t w i t z , zu dem affektbetonten S y n o n y m 'bigey' 'vicaire' kommt, das schließlich l ä ß t sich am besten mit den Methoden der Idealistischen Schule um K a r l V o ß l e r erklären. 3 0 1 3 Wenngleich sich v. W a r t b u r g selbst dazu nicht äußert, zeigt sich auch hieran wieder die einzigartige methodologische Bedeutung der Homonymenkonflikte. Sie sind wie ein Mikrokosmos, der das Kräftespiel einer Fülle größerer Einflüsse auf engstem R a u m spiegelt. Affektbetonte

S y n o n y m e sind nur eins der Hilfsmittel, auf die

die Sprache zurückgreifen kann, um sich aus einer unangenehmen Lage zu befreien. Als weitere „ H e i l m i t t e l " zählt v. W a r t b u r g noch drei andere Möglichkeiten a u f : a ) den s u b s i d i ä r e n

Nebenbegriff

aus der semantischen

Umgebung des zu ersetzenden Wortes. Als 'mulgere' mit 'molere' kollidiert, wird für ersteres 'traire'
M

335

Stroh (Behaghel-Festschrifl, S. 240) bemerkt, daß es u. a. auch Weisgerbers ersten neuen Fragestellungen noch an Methode mangelte. Über die Grenzen der onomasiologischen Betrachtungsweise siehe Tappolet, GRM, 14, S. 297. Vgl. auch die Einleitung zu Dornseiffs Wortschatz nach Sachgruppen, insbes. S. 42 mit Anm. 31. Dies ist der Leitgedanke seines Buches Muttersprache und Geistesbildung und der bereits erwähnten Aufsätze. Seine Theorie hat auch in „Sprache und Begriffsbildung" (Actes du 4' Congrès, S. 33—40) Ausdruck gefunden, woran sich eine interessante Diskussion angeschlossen hat. Auf eben dem Kongreß hat Weisgerber auch zu Trier Stellung genommen (ebd., S. 98): „. . . daß der Übergang von der Bedeutungslehre zur Wortfeldforschung nicht lediglich ein terminologischer Wechsel ist; es äußert sich vielmehr darin das Bemühen, die Wortinhalte nicht mit den Maßstäben der lautlichen Wortformen zu messen, sondern endlich die Erscheinungen der sprachlichen Begriffsbildung von ihrem Wesenskern aus zu verstehen". Vgl. seine Antwort an Pos (ebd., S. 91). Mir unzugänglich war W. Krause, „Bemerkungen über das Verhältnis von Bedeutungslehre, Bezeichnungslehre und Begriffslehre" (Commentationes Vindobonenses, 1, 1935); vgl. Dornseiff, ZfdPh, 63, S. 121 u. 133 ff.

152

Von der deskriptiven

zur historischen

Semantik

wo es den N a m e n nicht gibt, da ist auch der Begriff sprachlich nicht als Einzelgröße auszudrücken, wie z. B . das Mittelhochdeutsche ohne ein eigenes Wort für 'klug' ausgekommen ist, oder wie das Griechische keine eigene Bezeichnung für einige Farbzusammenstellungen hat, die wir unterscheiden und unter einem Gattungsnamen subsumieren. Der Sinn liegt zwischen dem spradilichen und dem nicht-sprachlichen Bereich; er überbrückt die Kluft zwischen dem Namen und dem Bezugspunkt und hat an beidem teil. Anstatt die Semantik bis zur Unkenntlichkeit zu beschneiden und ihr Erbe unter eine Vielzahl sich überschneidender Teildisziplinen aufzuteilen, erscheint es sehr viel sinnvoller und bei dem wachsenden Interesse für semantische Fragen audi außerhalb der Sprachwissenschaft sehr viel angebrachter, ihre Terminologie sowie ihren ganzen Methodenapparat an Weisgerbers Theorie und an den praktischen Ergebnissen der Feld-Schule zu überprüfen und entsprechend zu vereinheitlichen. Triers Felder würden dann ihren Platz im Assoziationsgeflecht der Sinne finden, in dem sie besonders beständige, organisch gegliederte Konfigurationen bilden würden, ohne aus dem größeren Zusammenhang der semantischen Systematisierung gerissen zu werden, in den sie offensichtlich hineingehören. Nachdem wir das neue Verfahren für die Semantik gesidiert haben, sind wir jetzt in der Lage, an den Kern des ganzen Problems heranzugehen: Wie verhält sich die Feldtheorie zu dem Axiom, daß die diachronische Sprachwissenschaft auf Einzelgrößen beschränkt ist und es nie mit Systemen zu tun haben kann? Trier hat seinen Standpunkt in einem scharfsinnigen Abschnitt seines Aufsatzes in der Behaghel-Festschrift [insbes. S. 1 7 5 — 1 8 4 ] dargelegt. Die bisherige Bedeutungsforschung mußte notwendig immer alles vereinzeln, so argumentiert er, und z w a r nicht nur auf Grund des Beziehungsdiarakters der Bedeutung, sondern auch auf Grund der durch das 19. Jahrhundert hineingebrachten vorwiegend historischen Orientierung, bei der Geschichte ausschließlich als Aufeinanderfolge von Einzelgrößen „auf der Senkrechten des Sprachwerdens" verstanden wurde. Die erste Schwierigkeit ist in der Sprachwissenschaft — wenn auch nicht in der Semantik — durch das Saussuresche Prinzip des synchronen Systems überwunden worden. Unterdessen änderte sich jedoch nichts an den isolationistischen Tendenzen der diachronischen Sprachwissenschaft. Vielmehr wurden sie durch die krasse Gegenüberstellung der beiden Methoden noch verstärkt: „Eine verblüffende und — wie die Folge gezeigt hat — anregende und förderliche Formel, aber eine sprachwissenschaftliche Ungeheuerlichkeit, da sie die Einheit des Gegenstandes Sprache aufhebt, die nun einmal doch, ob im Werden oder im Sein ergriffen, die eine Sprache ist und bleibt." (S. 176). Dieser Zwiespalt wird von zwei Seiten aus bekämpft: Von der allgemeinen Sprachwissenschaft und von der Wortforschung. In der Wortforschung wird der K a m p f wiederum in zwei verschiedenen Richtungen geführt, und zwar in sprachpsychologischer Riditung, wie sie v. Wartburg mit seiner Theorie des Horn-

Einzelgrößen

und

Systeme

153

onymenkonflikts vertritt, und in „begriffsgeschichtlicher", auf den „Sprachinhalt" bzw. das „Feld" zielender Richtung. Trier unterzieht v. Wartburgs Theorie zunächst einer eingehenden Kritik, die sich nicht eigentlich auf deren praktische Ergebnisse, sondern auf die Wahl ihres Musterbeispiels und ihre selbstgesteckten Grenzen richtet, um sie dann mit seiner eigenen, an der Entwicklungsgeschichte des Intellektualfeldes geübten Methode zu konfrontieren. Dabei stehen mechanistische gegen geschichtliche, äußerliche gegen innere, heterogene gegen homogene, allgemeine gegen einmalige Vorgänge. Aus der Gliederungsgeschichte hat Trier den zentralen Begriff der U m g l i e d e r u n g gewonnen. An dieser Stelle wollen wir seinen Standpunkt abschließend nur noch dadurch charakterisieren, daß wir seine Schlußfolgerungen im vollen Wortlaut wiedergeben: „Im Begriff der U m g l i e d e r u n g ist enthalten, daß der weite Blick auf Ganzheit und Gliederung, den die Sprachwissenschaft in der Betrachtung des ruhenden Zustandes wieder gewonnen und geübt hat, nun auch herübergenommen wird in die Betrachtung des Werdens . . . Auch im Werden spricht stets das Ganze des Feldes, auch im Fließen bestehen alle jene gegenseitigen Abhängigkeiten der Einzelstücke voneinander, die aus der Ganzheit und der Gliederung folgen, nicht nur im Sein. Umgliederungen sind Änderungen im System als einem System; sie gehen aufs Ganze und zwar von vornherein aufs Ganze, nicht erst auf Grund einer Auslösung . . . U n t e r d e m L e i t s t e r n des G e d a n k e n s der U m g l i e d e r u n g ist das I n e i n a n d e r greifen von d e s k r i p t i v e r und h i s t o r i s c h e r Sprachwiss e n s c h a f t n u n a u c h d a h e r g e s t e l l t , w o es s i c h u m S p r a c h i n h a l t e u n d i h r e Ä n d e r u n g e n h a n d e l t . " (S. 183 f.; vgl. auch Wortschatz, S. 18). Der für die synchronen Werte so bezeichnende, anschauliche Schach-Vergleich wird also aufgegeben, wenn es gilt, die diachrone Entwicklung eines Feldes zu illustrieren. Er wird durch das nicht eben neue, weniger augenfällige, aber realistischere Bild des Fließens abgelöst, das, wie gesagt, auch schon bei Saussure vorgebildet ist. Bemerkenswert ist an Triers Konzeption, daß die Umgliederung nicht nur die Wörter im Feld, sondern auch die Felder innerhalb übergeordneter Größen erfaßt, bis hin zum Ganzen der Sprache (S. 188). Triers abstrakte, ins Weltanschauliche gehende Ausdrucksweise darf uns nicht den Blick auf die außerordentlich praktischen, handgreiflichen Ziele verstellen, die er mit seiner Reform der Methoden anstrebt. Für das Verständnis bestimmter semantischer Phänomene ist ein Methodenwandel einfach unerläßlich. Wie dringlich eine solche Neuorientierung ist, läßt sich an einem Beispiel zeigen, das Trier in einem anderen Aufsatz entwickelt hat ( N e u e Jahrbücher, 10, S. 4 3 2 — 4 3 8 ) ; er stützt sich dabei auf seine eigenen Untersuchungen zum Mittelhochdeutschen um 1200 sowie auf die Arbeit einer seiner Schülerinnen

Von der deskriptiven

154

zur historischen

Semantik

zur Terminologie der Mystik bei Meister Eckehart ein Jahrhundert später. 3 3 4 Ein Teilbereich des Intellektualfeldes wird um 1200, um nur das Wichtigste für unseren Zusammenhang herauszugreifen, durch die Trias von 'wisheit', 'kunst' und 'list' gebildet und gegliedert. 'Kunst' benennt in etwa die oberen, höfisch bestimmten Bezirke des Wissens, die auch das Gesellschaftliche miteinschließen; 'list' benennt die unteren, mehr technischen Wissens- und Könnensbereidie ohne höfische Besonderung; aber es kann auch insMagisch-Dolose gehen, was notwendig einen Schatten auf seine übrigen Verwendungsweisen wirft. 'Wisheit' kann nicht nur in den meisten Fällen für die beiden eben genannten Begriife eintreten, sondern bringt sie gleichzeitig auch zur Synthese, indem sie den Menschen als Totalität begreift und das Verstandesmäßige mit Ethisdiem, Ständischem, Ästhetischem und R e ligiösem zu einer unauflöslichen Einheit verbindet. Dieser für das Mittelalter typisch weitgefaßte Begriff meint „die Reife des geistig und ständisch erhöhten Menschen" und verbindet die „sapientia personalis" mit der „sapientia dei" [S. 4 3 4 ] . So sieht es um 1200, im ersten synchronen Stadium aus. Hundert J a h r e später hat sich das ganze Bild verändert. Immer noch teilen sich drei Begriffe in den Wissensbereich, doch ist es jetzt eine andere Trias: 'Wisheit', 'kunst' und 'wizzen'. H i e r ist 'list' aber nicht einfach durdi 'wizzen' ersetzt worden. Nicht nur der Inhalt eines jeden einzelnen Begriffs hat sich verändert, auch die Beziehungen der Begriffe untereinander haben sich gewandelt. 'Wisheit' kann nun nicht mehr alternativ für 'kunst' oder 'wizzen' gebraucht werden; und da sie jetzt ganz ins Religiös-Mystische gewendet ist, kann sie auch kaum noch die Zusammenfassung übernehmen. D i e Unterscheidung zwischen religiösem Weisheitsbereich und Bereichen irdisch konkreten Wissens und K ö n nens hat den Verlust der dem früheren Gefüge eigentümlichen Breite zur Folge. Eine weitere tiefgreifende Veränderung besteht darin, daß der Wissens-KönnensBereich seine höfisch-ständischen Konnotationen verloren hat. Wir haben es also, um kurz zusammenzufassen, mit folgenden beiden synchronen Stadien zu t u n :

1200

wisheit

kunst

list

1300

wisheit

kunst

wizzen

Wie wäre man mit den herkömmlichen

Methoden der

diachronischen

Semantik mit dieser Situation fertiggeworden? Die Frage kann man so gar nicht stellen, da sich die diachronische Semantik bisher noch nicht mit nen 330

befaßt hat. Sie hätte nur die Geschichte einer jeden

Situatio-

Einzelgröße

Eine ähnliche Untersuchung hat f ü r das Altfranzösische H . A . H a t z f e l d , „Linguistic Investigation o f O l d French H i g h Spirituality" ( P M L A , 61, 1 9 4 6 , S . 3 3 1 — 3 7 8 , mit vielen L i t e r a t u r a n g a b e n ) vorgelegt.

Einzelgrößen

und Systeme

155

innerhalb der beiden Begriffsreihen nachzeichnen können. Sie hätte gezeigt, wie 'list' an Boden verloren hat, zweifellos auf Grund unangenehmer Assoziationen mit den magisch-dolosen Seiten seiner Bedeutung; wie der Infinitiv 'wizzen' in den Status eines selbständigen Substantivs aufgerückt ist; wie 'kunst' seine ständischen Konnotationen eingebüßt und wie sich auch 'wîsheit' mehr und mehr spezialisiert hat. M a n hätte zu jedem Begriff Belegmaterial gesammelt und die jeweiligen Beweggründe untersucht: Psychologische Gründe (etwa den Tabueinfluß bei 'list'), historische Gründe (Schwund der ständischen Konnotationen) und sprachliche Gründe (Einfluß konkurrierender Formen und Lehnbildungsprozesse" 7 , Parallelentwicklungen und Synonymen-„Streuung"). All diesen nützlichen und durchaus angebrachten Vorarbeiten wäre aber nicht zu entnehmen gewesen, wie das Gesamtbild, die Einschätzung und Deutung der Welt des Verstandes, so grundlegend hat verändert, umgegliedert und umgedeutet werden können; wie sich der Schwerpunkt auf mehr als einer Ebene hat verlagern können (vom Ständischen zum Allgemeinen, vom Religiösen zum Weltlichen); und wie sich durch die sprachliche Entwicklung eines Jahrhunderts eine ganz neue Optik ergeben konnte; oder, um es ganz einfach auszudrücken, wie es zur Veränderung der G e s a m t s t r u k t u r gekommen ist. D e r neue Status ist nicht das Ergebnis zahlloser Einzel Veränderungen: Systeme, nicht Einzelgrößen müssen sich auf der CD-Achse abwärtsbewegen. Wie kann dieses Prinzip für die Praxis genutzt werden? A u f diese Frage gibt es bis jetzt nodi keine klare Antwort. Wie Trier selbst einräumt, wird eine strukturalistisch orientierte Geschichte „nur möglich sein als komparative Statik, d. h. als eine sprungweise von Querschnitt zu Querschnitt fortgehende, stets und immer von neuem das G e s a m t f e l d

ins Auge fassende zeitlich

rückwärts und vorwärts vergleichende Beschreibung. Es wird von der Dichtigkeit der angelegten Querschnitte abhängen, wie hoch der G r a d der Annäherung an den tatsächlichen Fluß des Werdens am Ende ist" (Wortschatz,

S. 13). 338

Trier denkt offenbar an ein kompliziertes Zusammenwirken von Spiegeln, das in etwa an die Dichtweise von Paul Valéry erinnert. Selbst im Idealfall dürfte die ununterbrochene Aufeinanderfolge von Systemen auf der Achse der Geschichte höchstens annäherungsweise zu registrieren sein — eine Einschränkung, »« Vgl. Dornseiff, ZfdPh, 63, S. 128 u. v. Wartburg, Neue Jahrbücher, 7, S. 231 f. ®38 Vgl. auch Rogger, ZRPh, 61, S. 186 und die oben in Anm. 312 zitierten Ansichten von Sediehaye. Man könnte in dieser Methode eine bloße Verfeinerung der „historisch-strukturalistisdien" Betrachtungsweise v. Wartburgs sehen (s. o. S. 142 mit Anm. 311). Beide Methoden sind offensichtlich jedoch nicht nur graduell, sondern ihrer ganzen Art nadi verschieden, v. Wartburg versucht beide Betrachtungsweisen zur Synthese zu bringen, und die diachronischen Kapitel, die zu den synchronischen Kapiteln in seiner Évolution überleiten, sind in der traditionellen „isolierenden" Weise aufgebaut. Trier versucht die Kluft zwischen den beiden Verfahrensweisen seinerseits dagegen dadurch möglichst zu verringern, daß er die Querschnitte so dicht wie möglich legt und dabei immer das Gesamtfeld im Auge behält.

156

Von der deskriptiven

zur historischen

Semantik

die die Saussuresche Antinomie doch nicht ganz unbegründet erscheinen läßt. Dennoch ist sie in ihrer jetzigen Form unhaltbar. Das eben angeführte Beispiel hat bewiesen, daß eine auf die Erforschung von Einzelgrößen beschränkte diachronische Semantik nicht in der Lage und auch gar nicht berechtigt wäre, solche Probleme zu lösen oder überhaupt nur zu stellen. Dennoch gehören auch sie zu den Aufgaben der Sprachwissenschaft, selbst wenn man sie nicht mit absolutem Vorrang behandelt, wie es die Befürworter dieser Richtung fordern. Auch bei objektivster Beurteilung wird man zugeben müssen, daß die Saussuresche Gleichung „diachronisch = isolationistisch", ungeachtet ihrer sonstigen Verdienste, ihren Verfechtern den Blick auf bestimmte Probleme der historischen Semantik verstellt und eine Lösung erst recht unmöglich macht. Allein diese Feststellung ist schon Grund genug, den Bann zu lockern. Der Saussuresche Dualismus läßt aber schon von selbst einen Ausweg offen. Angesichts der Schwierigkeit, ihn auf bestimmte weitreichende Veränderungen auf morphologischem und syntaktischem Gebiet anzuwenden, hat Saussure erklärt, d a ß ein Phänomen wie der Verfall des Nominativs im Französischen, so komplex es auch sein mag, doch nur als Einzelvorgang mit vielfältigen Aspekten anzusehen sei (S. 111; f. A. S. 132). Schon Ammann hat dazu bemerkt, daß Saussure selbst mit einer solchen Deutung „die von ihm gezogenen Grenzen verschiebt" (IF, 52, S. 267). Ebenso könnte man auch das Feld als Einzelgröße behandeln wollen. Damit würde man aber ganz offensichtlich einem Trugschluß erliegen, und zwar schon deswegen, weil die Felder ihrerseits genauso in die Umschichtung und Umgliederung einbezogen werden wie die Wörter im Feld; auch bei ihrer Neuverteilung geht es um die Verlagerung ganzer Systeme auf der Senkrechten, ein Vorgang, der sich bis hin zum Ganzen der Sprache fortsetzt. Damit wird die oben vorgeschlagene Ausweitung des Begriffs der „Einzelgröße" sinnlos. Wenn sich in der diachronischen Semantik neben der isolierenden Betrachtungsweise inzwischen ein systematischer Zweig herausbildet, so ist das strukturell von ungeheurer Tragweite. Der Vorgang läßt sich in all seinen Folgeerscheinungen jetzt zwar noch gar nicht ganz übersehen, doch kann man auch vorläufig schon einiges dazu anmerken. Als erstes fällt einem gleich die Ähnlichkeit zwischen der Phonologie und der Feldtheorie auf. Nachdem sie beide den Gedanken des synchronen Systems in all seinen Konsequenzen ausgeschöpft haben, stehen sie nun vor der Schwierigkeit, mit dem historischen Teil ihres Gebietes fertigzuwerden. Die Entwicklung phonologischer und semantischer S y s t e m e läßt sich nur synoptisch erfassen. Andererseits machen diese A u f gaben natürlich noch nicht das ganze Gebiet der Lautgeschichte bzw. der historischen Semantik aus. 339 Im dritten Abschnitt des ersten Kapitels [s. o. S. 34] 339

Das wird von T r i e r klar gesehen ( W o r t s c h a t z , S. 19).

Einzelgrößen und Systeme

157

haben wir van Wijks Kompromißlösung f ü r die Phonologie kennengelernt; die d o r t vorgeschlagene Zweiteilung w i r d sich zweifellos auch auf die Semantik anwenden lassen. Die herkömmliche, auf Einzelgrößen abzielende Forschungsrichtung, die „ i s o l i e r e n d e d i a c h r o n i s c h e S e m a n t i k " , wird später einmal durch eine Schwesterdisziplin, die „ s y s t e m a t i s c h e diac h r o n i s c h e S e m a n t i k " , ergänzt werden, geradeso wie die seit eh u n d je bestehende „Lautgeschichte" durch eine „Geschichte der phonologischen Systeme" vervollständigt werden wird. Bis jetzt ist auf dem Gebiet der Feldforschung noch zu wenig getan worden, als d a ß wir schon die jeweilige Bedeutung dieser beiden diachronischen Ergänzungsstudien beurteilen könnten. D e r Verstandesbereich ist, wie schon häufig gesagt wurde, f ü r die „Feldforschung" besonders geeignet; dagegen ist es fraglich, ob man auch auf anderen Gebieten „Begriffe" so klar gegeneinander abgrenzen k a n n . Natürlich lassen sich Fachterminologien aufzeichnen u n d vielleicht sogar noch erfolgreicher aufgliedern, aber diese werden nicht immer von solchem historischen Interesse sein wie Triers Ergebnisse. I m Augenblick ist die Feldtheorie immerhin so weit, d a ß sie einen eigenen P l a t z innerhalb des gesamten Rahmens beanspruchen d a r f ; m a n kann aber jetzt noch nicht sagen, wie groß dieser ist, geschweige denn mit welchen konkreten Ergebnissen er einmal ausgefüllt sein wird. Selbst wenn es eine gewisse A n t i k l i m a x bedeuten sollte, m u ß das Kapitel über die diachronische Semantik noch immer auf die traditionelle isolationistische Betrachtungsweise begrenzt bleiben; mit der einen Einschränkung, d a ß es später einmal einen zweiten Teil dazu geben wird, in dem die Geschichte der Bedeutungsfelder und anderer Systeme abgehandelt wird. N u n noch ein letztes W o r t zur Saussureschen Unterscheidung selbst. Die letzten Äußerungen führender Vertreter der Genfer Schule lassen erkennen, d a ß sie sich immer isoliert gefühlt haben. „. . . il f a u t reconnaître que le principe saussurien n'est accepté que p a r une faible minorité de linguistes", schreibt Bally, u n d er geht sogar so weit, das P r i n z i p „la thèse 'séparatiste'" zu nennen (Vox Romanica, 2, S. 345). „ . . . les rares tenants de l'orthodoxie saussurienne se voient réduits à la défensive", stellt Sechehaye fest (Mélanges Bally, S. 19). Selbst wenn man bedenkt, d a ß es sich dabei nur um einen Aspekt der Saussureschen R e f o r m handelt, scheinen die Äußerungen ungewöhnlich pessimistisch zu klingen. Wie wir bereits in diesem Kapitel gesehen haben, sind nur zwei (oder genauer eineinhalb) der vier in der Unterscheidung enthaltenen Axiome umstritten, u n d das auch nur in bezug auf ihre überspitzte Formulierung. Alles was Saussure gefordert hat, w i r d als gerecht a n e r k a n n t u n d h a t Bestand; die Einwände beschränken sich lediglich d a r a u f , d a ß man in einigen Fällen aus heuristischen u n d theoretischen Erwägungen heraus nicht so scharf trennen u n d gegenüberstellen darf. 3 4 0 Gerade die Tatsache, daß Saussures k ü h n e 540

Damit sind wir wieder bei Martys einsichtiger Formulierung angelangt: „. . . die deskriptiven Fragen im allgemeinen von den genetischen zu trennen und ihre Lösung

158

Von der deskriptiven

zur historischen

Semantik

Konzeption vom synchronen System als Geflecht von Unterscheidungen und Werten überall Erfolg gehabt hat, hat die Gelehrten dazu gebracht, eben diese vielversprechende Forschungsmethode auch auf die Sprachgeschichte auszudehnen. Als es galt, das neue Prinzip der zweierlei Betrachtungsweisen einzuschätzen, haben wir behauptet, Saussure habe das Stadium der Synthese „eingeleitet". Aber er hat sie auch wirklich nur eingeleitet; und aufgrund seiner Vorliebe für das Mathematische und das Paradoxe als auch der besonderen Umstände wegen, unter denen man seine Theorien ein für allemal festgehalten und auf einer zu frühen Stufe zur Doktrin erhoben hat, hat diese im Keim angelegte Synthese die Form einer außergewöhnlich scharfen Antithese angenommen. Seine beiden inzwischen verstorbenen berühmten Schüler waren in erster Linie bemüht, die synchronische Seite des Programms zu entwickeln, worin das eigentlich Neue, Uberzeugende und Ungenutzte der R e f o r m bestand und die ihrer Meinung nach absoluten Vorrang verdiente. Nachdem wir uns heute auf die Erfahrungen einer Generation stützen können, wird die Vollendung einer wahrhaften, organischen Synthese immer dringlicher, und Phonologen und Semantiker suchen sich diesem Ziel auf dem gleichen Wege anzunähern.

nur soweit miteinander zu verbinden, als die eine für die andere eine Hilfe und Vorarbeit liefert" (Untersuchungen, S. 52). Vgl. Guillaume, FM, 13, S. 82.

IV

Historische Semantik 1. W E S E N U N D U R S A C H E N DES B E D E U T U N G S W A N D E L S Die synchronische Semantik ist die Wissenschaft von der Bedeutung, die diachronische Semantik ist die Wissenschaft von den Veränderungen der Bedeutung. Die erstere kreist um die einfache oder vielfältige Bedeutungsbeziehung; die letztere hat es mit dem B e d e u t u n g s w a n d e l zu tun. „Bedeutung", „Bedeutungsbeziehung" sind rein synchronische Begriffe, potentielle Formen und Strukturen im Bewußtsein der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft; in diachronischem Zusammenhang werden sie bedeutungslos. Umgekehrt ist der „Bedeutungswandel" wie jede Art von Sprachwandel ein ausgesprochen diachronischer Begriff, der sich überhaupt nicht ins Synchronische übersetzen läßt. Nichtsdestoweniger greifen die beiden ineinander, denn bei dem einen handelt es sich nur um eine Projektion des anderen auf eine neue Ebene. Wenn man eine funktionale Analyse der Bedeutung gibt, wird man deshalb auch den Bedeutungswandel in ähnlicher Weise definieren müssen. Wenn man die Bedeutung als eine reziproke Beziehung zwischen N a m e und Sinn begreift, d a n n h a t m a n es i m m e r d a n n m i t e i n e m B e d e u t u n g s w a n d e l z u tun, wenn sich ein neuer N a m e mit einem Sinn verb i n d e t u n d / o d e r ein neuer Sinn mit einem Namen. Was diese Definition besagt, wird sich erst im Laufe unserer weiteren Untersuchung zeigen; einige vorläufige Bemerkungen müssen wir aber sdion hier einschieben. Schon der Wortlaut zeigt, daß darin eine Klassifikationsmöglichkeit der Phänomene steckt, f ü r die die Definition gilt. Außerdem läßt er auf verschiedene Grade des Bedeutungswandels schließen, so wie es auch einfache und vielfältige Bedeutungsbeziehungen gibt. U m das an einem einfachen Beispiel zu demonstrieren: wenn wir von einem 'Stammbaum' reden, so gibt es manche Gemeinsamkeiten zwischen der Pflanze und der genealogischen Figur. Die beiden S i n n e sind ähnlich, und das befähigt uns, den N a m e n 'Baum' von einem Sinn auf den anderen zu übertragen. Wenn man umgekehrt im Englischen von 'the main' spricht, so wird das Substantiv 'sea' ausgelassen, weil die beiden N a m e n , 'main' und 'sea', in zahllosen Sätzen nebeneinander gestanden haben: in diesem Fall sind die N a m e n miteinander verbunden, und der Sinn kann daher von einem Namen auf den anderen übergehen.

160

Historische

Semantik

Viele Fälle sind verwickelter. 'Burgunder' beruht auf einer zweifachen Beziehung: der zwischen den beiden Sinnen, 'Wein' und 'Bewohner' Burgunds, und der zwischen den beiden Namen, die so oft zu der Wendung 'Burgunderwein' verbunden worden sind, daß der zweite Terminus am Ende ohne weiteres fehlen kann. Diesen zweifachen Aspekt der semantischen Prozesse werden wir im zweiten Abschnitt dieses Kapitels untersuchen. Schließlich legt die Definition, auch wenn sie sich diachronischer Begriffe bedient, eine Verbindung von Deskription und Geschichte nahe, so wie wir sie im vorigen Kapitel erörtert haben. Wie kann man 'Stammbaum' als eine Namenübertragung klassifizieren? Indem man die synchronen Verhältnisse vor der Veränderung rekonstruiert: in diesem Fall handelt es sich um eine Assoziation zwischen den beiden Sinnen. Auf die gleiche Weise kommt die Definition von 'the main' als Sinnübertragung und die von 'Burgunder' als eines mehrschichtigen Wandels zustande. Welche Stellung kommt dem Bedeutungswandel s t r u k t u r e l l gesehen im größeren Rahmen der diachronischen Sprachwissenschaft zu? Schon seit Wundt ist es üblich, ihn auf eine Stufe mit dem Lautwandel zu stellen. Genau genommen entsprechen sich die beiden jedoch nicht. Der dreidimensionale Aufriß der Sprachwissenschaft zeigt den Bedeutungswandel als strukturelles Gegenstück zum F o r m w a n d e l , wohingegen der Lautwandel kein semantisches Gegenstück hat, da die Laute keine Bedeutung haben. Sowohl der Formwechsel als auch der Bedeutungswandel können sich entweder auf die Wortstämme oder auf die Wortbildung beziehen; und die Parallele setzt sich bis in die Syntax hinein fort. Es handelt sich jedoch dabei mehr um eine strukturelle als um eine inhaltliche Symmetrie. In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich der Bedeutungswandel von dem Formwandel: das Wort, auf das beide Teile der Lexikologie gerichtet sind, ist die kleinste Sinneinheit der Rede und der Sprache, aber es ist nicht deren kleinste formale Größe. Daraus ergibt sich ein wichtiger methodischer Unterschied: die diachronische Semantik ist in sich geschlossen und muß eine eigene Technik entwickeln, um mit ihren besonderen Problemen fertigzuwerden, wohingegen die diachronische Morphologie weitgehend die Lautgeschichte auf die Wortformen anwendet. Bezeichnend für diesen grundlegenden Unterschied ist die Rolle, die die A n a l o g i e in den beiden Zweigen der Lexikologie spielt. In der Morphologie wirkt die Analogie vor allem nivellierend und schließt die Lücken, die der Lautwandel verursacht hat. Das etwas dramatische und zu sehr vereinfachte Bild der Junggrammatiker von der Sprache als einem Kampffeld, auf dem die mechanische Kraft der Lautentwicklung gegen die Analogie als Prinzip der Harmonie und des Ausgleichs, als psychologischen Faktor par excellence steht, hat im großen und ganzen immer noch Gültigkeit, und der Saussuresche Dualismus von Synchronie und Diachronie hat es neu bestätigt. Synchron gesehen wirkt

Wesen und Ursachen

des

Bedeutungswandels

161

die A n a l o g i e ausgleichend, w i r k e n die L a u t g e s e t z e a u f l ö s e n d ; d i a d i r o n gesehen arbeiten die Lautgesetze ausgleichend, und der S t ö r f a k t o r ist die A n a l o g i e . 3 4 1 In

der S e m a n t i k

gibt es kein

solches G e g e n e i n a n d e r .

Zwar

fehlt

die

A n a l o g i e keineswegs, aber sie spielt keine so g r o ß e R o l l e . Sie gehört zu den zahllosen

Ursachen

des Bedeutungswandels

u n d ist bestenfalls unter

seinen

S o n d e r f o r m e n a u f z u f ü h r e n . S i e ist noch unerforscht, a b e r auch w e n n m a n einmal m e h r über sie w e i ß , w i r d das ihre strukturelle B e d e u t u n g k a u m

wesentlich

verändern. D e n n o c h w a r W u n d t s G e d a n k e , den B e d e u t u n g s w a n d e l m i t dem

Laut-

w a n d e l zu vergleichen, gar nicht so abwegig. B e i d e h a b e n ein strukturelles M e r k m a l gemeinsam: beide stellen V e r ä n d e r u n g e n an E i n z e l g r ö ß e n im Sprachsystem dar. D i e diachronische P h o n o l o g i e geht der E n t w i c k l u n g v o n L a u t e n g r a m m e n , den f o r m a l e n Einheiten der Sprache nach; die diachronische S e m a n t i k

leistet

dasselbe f ü r deren Sinneinheiten. D a ß beide M e t h o d e n nicht den gleichen Ausg a n g s p u n k t haben, f o l g t d i r e k t aus dem asymmetrischen A u f b a u der S p r a c h wissenschaft. I n bezug a u f die z w e i t e D i m e n s i o n stehen L a u t w a n d e l und B e deutungswandel auf gleicher S t u f e . D e r grundlegende Fehler in W u n d t s Ü b e r l e g u n g e n liegt in der A n n a h m e , d a ß die beiden A r t e n v o n S p r a c h w a n d e l n o t w e n d i g p a r a l l e l l a u f e n u n d den gleichen „ G e s e t z m ä ß i g k e i t e n " u n t e r w o r f e n sind. 3 4 2 A n s t a t t sie m i t e i n a n d e r zu k o n f r o n t i e r e n und an dem G e g e n s a t z ihre jeweiligen Unterschiede herauszuarbeiten, w o l l t e er einen durchgehenden Parallelismus nachweisen, den es gar nicht gibt. Dadurch ist er a u f die b e r ü h m t e Unterscheidung zwischen

„singu-

l ä r e m " u n d „ r e g u l ä r e m " B e d e u t u n g s w a n d e l g e k o m m e n , die er an den beiden lateinischen W ö r t e r n f ü r ' G e l d ' e r l ä u t e r t : ' m o n e t a ' ist v o n dem N a m e n der J u n o M o n e t a abgeleitet, deren T e m p e l in u n m i t t e l b a r e r N ä h e der römischen M ü n z stätte gelegen w a r ; ' p e c u n i a ' v o n 'pecu', das m i t dt. ' V i e h ' u n d dem engl, 'fee' [ G e b ü h r ] v e r w a n d t ist. D e r erstere ist einmalig, plötzlich u n d willkürlich zustande g e k o m m e n ; er w a r ursprünglich a u f einen E i n z e l n e n oder eine kleine G r u p p e beschränkt u n d spiegelt die Geschichte eines

Wortes ;

regelmäßig,

gekommen;

allmählich

und unwillkürlich

v e r b r e i t e t u n d spiegelt die Geschichte eines

zustande

„Begriffes",

letzterer ist er ist

weit-

in diesem F a l l e

den Ü b e r g a n g v o m T a u s c h h a n d e l z u m G e l d v e r k e h r . 3 4 3 341

342

543

Migliorini, Linguistica, S. 81. Synchron gesehen ist 'pleure' — 'pleurons' regelmäßiger als älteres 'pleure' — 'plourons'. Diadiron gesehen läuft der Systemausgleich der Wirkung des Lautgesetzes zuwider, wonach offenes, gegentoniges 5 zu ou wird wie in 'nodare' > 'no«er', während offenes 5 in der Haupttonsilbe zu eu wird wie in 'colorem' > 'coule«r\ „. . . daß der Bedeutungswandel, ebenso wie der Lautwandel, überall einer strengen Gesetzmäßigkeit unterworfen sei, deren Erkenntnis nur in vielen Fällen durch die Konkurrenz mannigfacher Ursachen verschiedenen Ursprungs erschwert ist" (Völkerpsychologie, I : Die Sprache, T . 2, Leipzig, 1900), S. 437. Ebd., Kap. 8, I, 3: „Grundformen des selbständigen Bedeutungswandels" (S. 426 bis 432).

11 Ulimann

Historische

162

Semantik

Wundts Schema stellt offensichtlich einen etwas gewaltsamen Versuch dar, die Unterscheidung zwischen spontanem und kombinatorischem Lautwandel auf die Semantik zu übertragen. Die inneren Widersprüche eines solchen Vorgehens sind von vielen Kritikern aufgedeckt worden. 3 4 4 Gerechterweise muß man aber doch sagen, daß nicht der Gedanke, die beiden Arten von Sprachwandel miteinander zu konfrontieren, falsch war, sondern nur die Art, wie der Vergleich durchgeführt worden ist. D a ß der Gedanke an sich im Grunde genommen berechtigt und fruchtbar war, läßt sich aus dem merkwürdigen und bisher nicht beachteten Umstand schließen, daß Wundts Theorie alle Hauptzüge enthält, die zum Wesen des Bedeutungswandels gehören — nur enthält sie sie in entstellter Form und in falscher Optik, aus der sie erst befreit werden müssen, um richtig eingeschätzt werden zu können. Vier solcher Züge wollen wir hier kurz aufzählen. 1. B e d e u t u n g s w a n d e l

u n d B e d e u t u n g s v i e l f a l t . Bei der Bespre-

chung der Polysemie (s. o. S. 109) haben wir die „ein Name—mehrere Sinne"Beziehung das Kernstück der synchronischen Semantik genannt, das nur der Struktur der einfachen Bedeutungsbeziehung an Wichtigkeit nachsteht;

dort

wurde auch schon angedeutet, daß dieser Satz ein ebenso wichtiges diachronisches Gegenstück hat: e i n W o r t seine

bisherigen

einen

oder

kann

Sinne

mehrere

neue

seinen

bisherigen

beibehalten Sinne

und

annehmen.

Sinn

bzw.

gleichzeitig Aus diesem Sach-

verhalt ergibt sich ein sehr wichtiges M e r k m a l : ein Bedeutungswandel kann entweder in eine einfache Bedeutungssituation oder in Bedeutungsvielfalt münden. Wundt war sich der Gültigkeit dieses Merkmals instinktiv bewußt und hat es an den Anfang seiner Beschreibung des Bedeutungswandels gestellt; auch hatte er den Eindruck, daß es sich dabei um ein n e g a t i v e s

Kennzeichen des Bedeu-

tungswandels handelt, und er unterschied, „ganz äußerlich", zwischen „partiellem" und „totalem" Bedeutungswandel; im übrigen wird seine Analyse jedoch durch die „proper meaning superstition" 3 4 4 a und durch die damals noch unvermeidliche Verwechslung von Synchronie und Diachronie getrübt (S. 4 2 6 f.). E r hat dieses Charakteristikum auch nicht mit irgendwelchen Entsprechungen im Bereich der Laute verglichen, was in Anbetracht dessen, daß er vor allem an Parallelen und nicht an Gegensätzen interessiert war, nicht überrascht. Für uns ergibt sich gerade aus der Vereinbarkeit des Bedeutungswandels mit der B e deutungsvielfalt ein charakteristisches Merkmal des Bedeutungswandels, weil es 344

Vgl. u. a. Roudet, S. 681—686; Gombocz, S. 58—62; Carnoy, S. 88 f.; Stern, S. 287 f., der auch die Kritik von Marty einbezieht. Diese stellt die eingehendste Auseinandersetzung mit dem Wundtschen System dar und ist im Anhang seiner Untersuchungen, S. 543—738 enthalten. Siehe auch Wellander, I, S. 50 ff., S. 164 bis 174 u. ö.

3Ma

[Der Irrglaube an eine eigentliche, an eine Grund- bzw. Urbedeutung der Wörter; vgl. dazu das Folgende mit Anm. 345a u. 346 sowie u. S. 213.]

Wesen und Ursachen des

Bedeutungswandels

163

diese in phonologischem Zusammenhang gar nicht gibt und sie dort auch absolut undenkbar ist. In der Phonologie gibt es natürlich gewisse Züge, die in etwa an Bedeutungsvielfalt erinnern; bei näherem Hinsehen erweist sich diese Ähnlichkeit als eine nur oberflächliche. Betrachtet man nur die phonematisdien, d. h. die diakritischen Merkmale — bloße Varianten und Emphatika gehören offensichtlich niclit hierher, da sie die gleiche Stellung einnehmen wie unterschiedliche Verwendungsweisen in der Semantik —, so kommt es bei spontanem Lautwandel oft vor, daß Altes und Neues eine Zeitlang nebeneinander weiterbestehen, was z. T. auf den konservierenden Einfluß der Schreibung zurückzuführen ist. Dabei handelt es sich jedoch um ein Übergangsstadium, das sich nicht mit Bedeutungsvielfalt, sondern nur mit der f ü r die Verbreitung bestimmter Typen des Bedeutungswandels maßgebenden „Äquivokation" vergleichen läßt (Stern, S. 355—358). Andererseits werden phonematische Unterschiede in einer begrenzten Zahl von Wörtern zugelassen, d. h. als bloße Varianten behandelt: engl, 'd/rect', frz. 'tandis que'. Aber dabei handelt es sich um eindeutig begrenzte Ausnahmefälle; überdies sind sie nur in Sprachen mit archaischer Schreibweise denkbar, kommen also beispielsweise nicht im Italienischen oder Finnischen vor. Diese gelegentlichen und vereinzelten Fälle unterscheiden sich grundlegend von dem weitverbreiteten und durchaus alltäglichen Phänomen der Bedeutungsvielfalt. 3 " Die Entstehung mehrfacher Bedeutungsbeziehungen durch Bedeutungswandel ist etwas komplizierter, als gewöhnlich angenommen wird. Einmal neigt sowohl der Etymologe als auch der Laie zu der Annahme, es gäbe immer eine ursprüngliche und „eigentliche" Bedeutung, ein „Etymon", aus dem sich „abgeleitete" Bedeutungen durch einen Prozeß der „Ausstrahlung" bzw. „Verkettung" entwickelten. 345a Wir stellen heute keine Stammbäume zur Bedeutungsverzweigung auf, wie sie noch Wundt vorgeschlagen hat (S. 427); solange sich unsere festeingebürgerten Denkgewohnheiten allerdings noch nicht grundlegend durch „semantische" Schulung gewandelt haben, können wir bei der Beurteilung des Vorgangs gar nicht ohne die Hypothese einer „eigentlichen" Bedeutung auskommen. 346 Man sollte sich andererseits aber auch stets vor Augen halten, daß die Polysemie ein Wesensmerkmal der mensdilichen Kommunikation ist, obwohl es durchaus denkbar ist, daß frühe Kulturstufen — z. B. die Stufe des Indo345

Vgl. A. Grégoire, La Linguistique (Paris, 1939), S. 100 f. 345a [Darmesteter, S. 73 ff.: „rayonnement" und „enchaînement".] 344 „Daß wir überhaupt nach dem Grund solcher Mehrdeutigkeit fragen, beweist, daß das Wort für uns von Hause aus Bedeutungseinheit ist; der Satz, daß die Einheit das Ursprüngliche, die Bedeutungsspaltung das Sekundäre ist, e r s c h e i n t u n m i t t e l b a r e v i d e n t " (Ammann, I, S. 97; nachtr. gesperrt). De Witte, a. a. O., S. 3 sieht in dem Vorhandensein einer „Grundbedeutung" ein Gesetz der Bedeutungsentwicklung. Vgl. dagegen H. Hirt, Etymologie der nhd. Sprache (München, £ 1921), S. 401. 11*

164

Historische

Semantik

germanischen — sie in weit geringerem Maße kennen und daß sie die gleidie Vorliebe für Konkreta zeigen wie die Sprachen der Primitiven heute. 347 Die Form der Bedeutungsvielfalt, die sich aus dem Bedeutungswandel ergibt, ist die P o l y s e m i e , die sich dann zur reinen Homonymie entwickeln kann. Polysemien dieser Art können auf zweierlei Weise zustande kommen: 1. ein N a m e kann auf einen Sinn übergehen, der mit seinem ursprünglichen Sinn assoziiert ist, und er kann den ursprünglichen Sinn neben dem neuen beibehalten: 'einen Gegenstand begreifen' — 'eine Idee begreifen'; 2. ein Sinn kann auf einen Namen übergehen, der mit seinem ursprünglichen N a m e n assoziiert ist, wobei der neue N a m e seinen alten Sinn neben dem neuen beibehält: 'a „constitutional (walk)"' — '„constitutional" government'. In komplizierteren Fällen wird dasselbe durdi das Zusammenwirken beider Faktoren erreicht: 'Burgunder' (der Bewohner Burgunds) — 'Burgunder' (Wein). Die beiden H a u p t t y p e n lassen sich durch folgende Diagramme veranschaulichen:

II Diese aus Martinaks Schemata weiterentwickelten Diagramme 3 4 ' zeigen, daß die Polysemie durch Namenübertragung und durch Sinnübertragung zustande kommen kann. Aber das ist nur die eine Seite. Man kann das Ergebnis genausogut von der anderen Seite aus betrachten. Um auf unsere Beispiele von eben zurückzukommen: durdi die Übertragung auf etwas Abstraktes wird das Wort 'begreifen' zum S y n o n y m bzw. Pseudosynonym von anderen Wörtern mit dem gleichen Sinn: 'verstehen', 'erfassen', 'einsehen', 'dahinterkommen', 'schließen' usw. Ähnlich wird 'constitutional' mehr oder weniger synonym mit dem vollständigeren Syntagma 'constitutional walk' und mit anderen d a f ü r in 347

348

Segerstedt hat der Deutung, daß es sich dabei um „primitive" Sprachen handelt, widersprochen (a. a. O., S. 56 ff.). Seiner Meinung nach darf man aus dem Umstand, daß die Lappen keine Gattungsbezeichnung für 'Schnee', w o h l aber eine Fülle konkreter Einzelbezeichnungen für die verschiedenen Schneearten und alles, w a s damit zusammenhängt, haben, nidit auf einen Mangel an Abstraktionsvermögen schließen; vielmehr verrate sich darin nur, w i e wichtig der Sdinee im Leben dieser Sprachgemeinschaft ist. D a s mag in diesem Fall richtig sein, doch ist nidit recht einzusehen, warum Unterscheidungen wie 'ich wasche midi', 'ich wasche meinen K o p f , 'ich wasche jemand anders den K o p f usw. nötig sind, wenn man nicht einmal einen Sammelbegriff für 'wasdien' hat, w i e die Cherokees (Jespersen, Language, S. 430). E. Martinak, Psychologische Untersuchungen zur Bedeutungslehre (Leipzig, 1901), S. 95 f. G a n z ähnliche Diagramme verwenden G o m b o c z und Stern bei den verschiedensten Gelegenheiten.

Wesen und Ursachen des

Bedeutungswandels

165

Frage kommenden, etwas umständlicheren Wendungen wie 'walk for health's sake'. Auf das Diagramm bezogen bedeutet das, daß s2 über zwei Namen, n t und n 2 , verfügt: im ersten Diagramm ist die Synonymie wie die Polysemie und wie der f ü r beide verantwortliche Bedeutungswandel durch Namenübertragung vermittelst Sinnassoziation bedingt, im zweiten Diagramm durch den umgekehrten Vorgang der Sinnübertragung vermittelst Namenassoziation. Es können sich also aus jedem Bedeutungswandel zwei Arten von Bedeutungsvielfalt ergeben: Polysemie (ein N a m e — mehrere Sinne) und Synonymie (ein Sinn — mehrere Namen). 3 4 9 Es gibt zwischen beiden natürlich gewisse Unterschiede. Reine Synonyme, die durch unberechenbaren Sinnwandel zustande gekommen sind, werden genausowenig geduldet wie andere Arten von Synonymie: wenn die beiden Ausdrücke gleichwertig und gegeneinander austauschbar sind, dann wird einer von beiden meist aufgegeben, oder es tritt eine Differenzierung im Sinne von Bréals Gesetz der Distribution ein. Zu beachten ist auch, daß es im Fall der Namengebung nicht zu Synonymien kommt, wohingegen sich die Polysemie in jederlei Bedeutungszusammenhang entwickeln und unbegrenzt fortsetzen kann, solange es nicht zu pathologischen Oberfrachtungen kommt. 2. B e w u ß t e u n d u n b e w u ß t e , b e a b s i c h t i g t e u n d u n b e a b s i c h t i g t e P r o z e s s e . Diese Begriffspaare sind von mehreren Semantikern als Klassifikationsmerkmale benutzt worden. 3 5 0 Ebenso wichtig sind sie in ästhetischer Hinsicht f ü r die Analyse der Metapher und anderer semantisch bedingter Redefiguren.' 51 Stern, der sich eingehend damit beschäftigt hat 352 , fand, daß sich bestimmte Typen des Bedeutungswandels (er spricht von „nominations" und „transfers") damit erfassen lassen, andere dagegen nicht. Aufs Ganze gesehen spielen Bewußtsein und Absicht natürlich eine weit wichtigere Rolle f ü r den Bedeutungswandel als für den Lautwandel, selbst wenn sich bestimmte Arten von Bedeutungswandel ganz unbewußt und unwillkürlich vollziehen, wohingegen durch Standesdünkel, Hyperkorrekturen, mundartliches Selbstbewußtsein und durch andere Faktoren viel Bewußtes und Absichtliches in einige Lautveränderungen hineinkommen kann. 353 Die überragende Bedeutung des Bewußten und Beabsichtigten in semantischen Prozessen zeigt sich deutlich genug, um als Unterscheidungsmerkmal f ü r die Bedeutungsentwicklung im Unterschied zur Lautentwicklung dienen zu können. 349

Siehe bes. Karcevskij, Travaux, 1, S. 92 f. Dauzat, La Vie du langage (Paris, 1910), S. 99—103; Wellander, I, S. 60—64 u. passim; Nyrop, Sémantique, S. 396—402; Carnoy, S. 90—93; Ammann, I, S. 97; V. Henry, Antinomies linguistiques, S. 68 ff., etc. 351 Vgl. zur Synästhesie J . E . S . D o w n e y , Creative Imagination (London, 1929), S. 94ff.; E. v. Erhardt-Siebold, PMLA, 47, S. 581; Silz, ebd., 57, S. 470 und meine eigenen Bemerkungen ebd., 60, S. 812. 352 S. 167 f., 170 f. u. bes. 284 ff. 353 Ygl v Wartburg, Einführung, S. 33. 350

166

Hiitoriscbe

Semantik

Man kann auf jeder Stufe eines semantischen Prozesses fragen, wieweit etwas bewußt oder spontan geschieht. A u f der Stufe der „ p a r o 1 e " muß die Neuerung als solche, so gut es geht, daraufhin untersucht werden, wieweit sie absichtlich eingeführt worden ist. Bei weithergeholten oder ausgesprochen dichterischen Bildern wird man sich darüber eher im klaren sein als bei gewöhnlichen Übertragungen. Die dichterisch gebrauchte Metapher unterscheidet sich auch darin vom alltäglich gebrauchten Bild, daß man weiß, wann sie zum ersten M a l auftaucht und daß sich manchmal sogar rekonstruieren läßt, welche Umstände dazu geführt haben. Die Verwendung von „Leitbildern", Selbstkommentare des Dichters, das Zeugnis von Varianten, die Kenntnis von Quellen und Vorbildern liefern dem Kritiker oft handfeste Kriterien, die einem bei der Untersuchung nichtliterarischer Bilder meistens fehlen. 3 5 4 Auf einer Z w i s c h e n s t u f e , nämlich da, wo die Neuerung aus der „parole" — aus einem oder unzähligen Sprechakten — in die „langue" übergeht, wird der Nachahmungstrieb wirksam. Wenn eine Neuerung übernommen und bestätigt wird, so kann das ganz spontan geschehen; in vielen Fällen wird sie vom Sprecher dagegen bewußt als neue, auffällige, ausdrucksvolle, anschauliche Wendung benutzt, teils um ihrer selbst willen, teils deswegen, weil man sich damit hervortun will, weil man sich davon ein gewisses Sozialprestige oder den Anstrich des Modischen und Aktuellen erhofft. D i e gleichen Kräfte, die für die Verbreitung der Fremdwörter und anderer geläufiger Wendungen maßgebend sind, begünstigen also auch die Einbürgerung neuer Bedeutungen. Die Verbreitung hyperbolischer Ausdrücke wie 'schrecklich', 'furchtbar', 'entsetzlich', 'rasend' usw., die sich gerade aufgrund der Emphase, der sie eigentlich ihre Existenz verdanken, schnell abschleifen, ist dafür ein treffendes Beispiel. Auf der Stufe der „ l a n g u e " wird die Frage nach dem Verhältnis von bewußten und unbewußten semantischen Prozessen zum synchronisdien Problem der Bedeutungsmotivierung. Wie wir im dritten Abschnitt des zweiten Kapitels gesehen haben, ist das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Bindeglieds zwischen ursprünglicher und übertragener Bedeutung von der oft subjektiven und schwer bestimmbaren Haltung des Sprechers abhängig. Dieser Sachverhalt läßt einen bestimmten Spielraum zu, der zu Neuansätzen führen kann. Verblaßte und nicht mehr im eigentlichen Sinn gebraudite Bilder können n e u b e l e b t werden, undurchsichtig gewordene Wörter können aufgehellt werden, Ausdrücke, die aus ihrem etymologischen Zusammenhang herausgerissen sind, können durch einfühlsame Sprecher, insbesondere durch Schriftsteller, die an einem experimentellen Sprachgebrauch interessiert sind, damit wieder in Verbindung gebracht werden. Eine solche Wiederbelebung kann auf verschiedenste Weise vor sich gehen. Die einfachste Methode besteht darin, ein W o r t ausdrücklich zu etymologisieren, 354

Beispiele für solche Techniken finden sich in den Aufsätzen zur Synästhesie, die w i r im nächsten K a p i t e l zitieren [vgl. insbes. A n m . 4 8 0 , 4 8 9 u. 5 0 4 ] .

Wesen und Ursachen des

Bedeutungswandels

167

wie es in der mittelalterlichen Literatur durchaus üblich war. So erklärt z. B. Chaucer die Herkunft des Wortes 'daisy': That wel by reson men hit calle may The 'dayesye' or elles the 'ye of day', The emperice and flour of floures alle. The Legend of Good Women: Prolog [B 183 ff.]

Rabelais geht schon scharfsinniger vor bei dem Versuch, das Verb 'avaler' neu zu beleben. Dieses alte Kompositum aus 'à + val' hatte ursprünglich 'herabsteigen' bedeutet, war aber schon lange auf 'verschlingen' festgelegt. Indem er es mit seinem entgegengesetzten Begriff konfrontiert, wird mit einem Male seine ursprüngliche Bedeutung und der ganze Mechanismus der Übertragung wieder deutlich: „Si je m o n t o i s aussi bien comme j ' a v a 11 e , je feusse pieçà hault en l'aer." 355 T. S. Eliot macht in einem Vers von der gleichen Technik Gebrauch:355" And time yet for a hundred indecisions, And for a hundred v i s i o n s and r e v i s i o n s , Before the taking of a toast and tea. [The Love Song of J. Alfred Prufrock]

Überdies kann auch die Ausweitung einer Synonymenreihe einen passenden Rahmen dafür abgeben. Shakespeare muß sich der — historisch unrichtigen — Beziehung zwischen 'sand' und 'sand-blind' bewußt gewesen sein, als er sie durch die Verbindung „more than sand-blind, high-gravel blind" (The Merchant of Venice, II, 2) noch unterstrich. Schließlich kann auch der Kontext selbst den nötigen Aufschluß geben, wie das von M. Schlauch [a.a.O., S. 231] zitierte Beispiel von Emily Dickinson zeigt: Essential Oils are wrung — The Attar from the Rose Is not e x p r e s s e d by Suns — alone — It is the gift of Screws — [Poems, ed. Th. H . Johnson, Nr. 675]

Manches alltägliche Wortspiel wirkt neubelebend, oft in Verbindung mit einem leichten Schock, wenn der Hörer erkennt, daß das Wort nicht im üblichen, sondern im ursprünglichen Sinn zu verstehen ist. Die Zweideutigkeit kann vom Sprecher aus auch unbeabsichtigt sein; die Querverbindung stellt sich dann nur [Garg., I, 5, 72 f. Ulimann hat seine Version des Zitats v. Wartburgs Évolution, S. 161 entnommen, obwohl die Stelle dort audi nicht belegt ist und der krit. Ausg. v. A. Lefranc (I, Paris 1912, S. 58) nadi zu urteilen in Wortlaut und Sprachstand höchstens eine vage Leseerinnerung darstellt.] " ' • A u d i bei Sdilaudi, Gift of Tongues, S. 247 zitiert. 355

Historische

168

Semantik

für den H ö r e r ein. I n krassen F ä l l e n k a n n es zu sdiiefen B i l d e r n und regelrechtem U n s i n n k o m m e n , wenn sich die ursprünglichen Bedeutungen v o n Ausdrücken, die in übertragenem Sinn gebraucht durchaus m i t e i n a n d e r vereinbar sind, allzusehr widersprechen. 3. dem

G r a d u e l l e

eben

Entwicklung.

behandelten

unbewußte

und

bestehen

unbeabsichtigte

Zwischen

offensichtliche

diesem M e r k m a l

Berührungspunkte.

und

Gerade

semantische Prozesse vollziehen sich häufig

langsam und stufenweise. Auch aus dem G e g e n s a t z v o n plötzlichen u n d allmählichen V e r ä n d e r u n g e n h a t m a n K l a s s i f i k a t i o n s m e r k m a l e abgeleitet ( C a r n o y , J a b e r g ) . D a es einen ähnlichen Unterschied in der P h o n o l o g i e gibt, scheint vieles a u f den ersten B l i c k für W u n d t s Parallelismusthese zu sprechen. A b e r die Ä h n lichkeit täuscht. Bei bestimmten A r t e n v o n B e d e u t u n g s w a n d e l Neuerung

hat nicht die

an sich graduellen C h a r a k t e r , sondern n u r die A r t , wie sie sich

herauskristallisiert,

verbreitet

keine Zwischenstufen;

u n d einbürgert.

welche w ä r e n

Bei

der Ü b e r t r a g u n g

gibt es

auch zwischen dem menschlichen

'Fuß'

und dem unteren T e i l eines Berges d e n k b a r ? 3 5 6 B e i m s p o n t a n e n L a u t w a n d e l k a n n m a n die einzelnen Phasen beim Ü b e r g a n g eines P h o n e m s z u m anderen gut rekonstruieren, so z . B . beim Ü b e r g a n g v o n lat. langem b e t o n t e m u zu frz. y : 'murus' >

' m u r ' , eine E n t w i c k l u n g , die, o b sie nun keltischen Ursprungs ist

oder nicht, viele J a h r h u n d e r t e gebraucht h a t . Solche U b e r g a n g s p h a s e n können zwischen

die beiden

Endpunkte

des B e d e u t u n g s w a n d e l s

nicht

eingeschoben

werden. Andererseits h a t t e C a r n o y m i t seiner A n n a h m e recht, d a ß es einen gewissen Parallelismus zwischen dem B e d e u t u n g s w a n d e l u n d dem k o m b i n a t o r i schen L a u t w a n d e l g i b t : A s s i m i l a t i o n , D i s s i m i l a t i o n , M e t a t h e s e ( a . a . O . , S. 8 9 ) . Beide Prozesse treten plötzlich u n d sporadisch a u f ; beide beruhen auf A s s o z i a t i o n ; schließlich zeigen sich bei beiden gewisse „panchronische" T e n d e n z e n , a u f die wir im S c h l u ß k a p i t e l eingehen w o l l e n . D a s F e h l e n v o n Zwischenstufen in dem P r o z e ß des U b e r g a n g s selbst ist demnach auch ein K r i t e r i u m f ü r den B e d e u t u n g s w a n d e l . E i n i g e der sehr sorgfältigen Wortgeschichten in m o d e r n e n etymologischen W ö r t e r b ü c h e r n 3 5 7 k ö n n t e n in der T a t den Eindruck erwecken, d a ß eine g a n z e R e i h e solcher Zwischenstufen 3M

357

Bréal, S. 135; Marty, Untersuchungen, S. 599, Anm. 1; Roudet, S. 685 f.; L. Spitzer, „Why does Language Change?" ( M o d e r n Language Quarterly, 4, 1943, S. 413—431), S. 425 f. Siehe v. Wartburg, „Grundfragen der etymologischen Forschung" ( N e u e Jahrbücher, 7, 1931, S. 222—235) u. Einführung, S. 120 f. Auch die Etymologen sind dauernd auf der Suche nach solchen Verbindungsgliedern, wie z. B. Arbeiten von Spitzer zeigen (vgl. Word, 2, 1946, S. 142—154). [Die Etymologie „kann es nicht mehr bewenden lassen bei dem faden Strich, der Anfangs- und Endpunkt miteinander verbindet" ( E i n f ü h r u n g , S. 120)] oder um dafür einen Vergleich von Gilliéron zu gebraudien: „Balzac, assis sur les genoux de sa nourrice, était vêtu d'une robe bleue, rayée de rouge. Il écrivit la Comédie Humaine" [zit. ebd., S. 118],

Wesen und Ursachen des

Bedeutungswandels

169

den Ü b e r g a n g v o n der „ursprünglichen" Bedeutung z u r „ E n d p h a s e " bezeichnet. Diese

scheinbaren

änderungen,

„Zwischenstufen"

sind jedoch

lauter

unabhängige

Ver-

v o n denen jede einen N e u a n s a t z o h n e Zwischenglieder z u m

V o r l ä u f e r bedeutet. Dies ist eine logische F o l g e der B e d e u t u n g s v i e l f a l t : w ü r d e sich eine aus der anderen „ e n t w i c k e l n " , so w ü r d e n sie, wie es die L a u t e tun, ihre V o r l ä u f e r ersetzen, oder, genauer gesagt: es w ü r d e gar keine „ V o r l ä u f e r " geben, w i e auch der gleiche L a u t in i m m e r a n d e r e r

akustisch-physiologischer

G e s t a l t u n d möglicherweise m i t a n d e r e m p h o n e m a t i s d i e n W e r t w e i t e r l e b t . D i e für den Bedeutungswandel so bezeichnende D i s k o n t i n u i t ä t

er-

gibt sich diachron gesehen als natürliche F o l g e aus dem P r i n z i p der Polysemie. D i e Unterscheidung v o n plötzlichen und allmählichen Prozessen gilt daher n i d i t f ü r das erste A u f t r e t e n der V e r ä n d e r u n g , sondern f ü r ihr weiteres Schicksal: f ü r das H e r a u s t r e t e n

aus dem K o n t e x t ,

in dem sie ursprüng-

lich b e h e i m a t e t w a r , f ü r ihren U b e r g a n g aus der „ p a r o l e " in die „ l a n g u e " . A n diesem P u n k t k o m m t es d a r a u f an, o b die V e r ä n d e r u n g durch unterschiedliche V e r w e n d u n g s w e i s e n oder a u f k ü r z e r e m W e g e zustande g e k o m m e n ist. D e r Unterschied entspricht in vielen F ä l l e n der G e g e n ü b e r s t e l l u n g v o n „ p l ö t z l i c h " und „ a l l m ä h l i c h " . B e i m W o r t g e b r a u c h v o n ' O p e r a t i o n ' gibt es kein Zwischenglied zwischen der allgemeinen und der chirurgischen, rechnerischen oder m i l i tärischen

Verwendungsweise;

aber

der

spezielle

Sinn

ist

zunächst

einmal

k o n t e x t g e b u n d e n ; es h a n d e l t sich dabei nur u m unterschiedliche V e r w e n d u n g s weisen, verschiedene N u a n c e n ein und desselben Sinnes, nicht um verschiedene S i n n e ein und desselben W o r t e s . In vielen b e r ü h m t e n F ä l l e n m u ß die S p e z i a l i sierung in irgendeinem ständischen o d e r geographischen Z u s a m m e n h a n g

auf

diese W e i s e e r f o l g t sein; so w u r d e in der Sprache der französischen B a u e r n lat. 'ponere' 'legen' zu ' p o n d r e ' 'ein E i legen'; so w u r d e 'the C i t y ' allmählich zur Bezeichnung f ü r ' C i t y o f L o n d o n ' schlechthin. E i n e andere G r u p p e v o n V e r ä n d e r u n g e n beruht nicht a u f K ü r z u n g , sondern auf Ä q u i v o k a t i o n . G . S t e r n h a t ausführlich gezeigt ( S . 3 5 2 ff.), wie engl, ' b e a d ' ' G e b e t ' die Bedeutung ' K u g e l ' a n g e n o m m e n

hat. Wendungen

wie

'counting

one's beads', 'telling one's beads' k o n n t e n im einen wie im a n d e r e n S i n n e v e r standen werden, da die R o s e n k r a n z p e r l e n tatsächlich f ü r die gesprochenen G e b e t e standen. Aus diesem D o p p e l s i n n , v o n dem die Aussage als g a n z e u n b e r ü h r t blieb, h a t sidi im L a u f e der Z e i t der neue Sinn entwickelt. E i n d r i t t e r T y p v o n B e d e u t u n g s w a n d e l , bei dem die Z e i t eine wichtige R o l l e spielt, resultiert aus V e r ä n d e r u n g e n der K u l t u r g ü t e r o d e r der k u l t u r e l l e n V e r hältnisse. U n s e r e 'Schiffe' unterscheiden sich in vieler H i n s i c h t v o n den 'scip'-s aus der W i k i n g e r z e i t , u n d das englische ' P a r l i a m e n t ' unterscheidet sich v o n dem ' R u m p ' u n d dem ' L o n g P a r l i a m e n t ' des 17. J a h r h u n d e r t s . H i e r k ö n n t e m a n sogar v o n unendlich vielen Zwischenstufen in der Geschichte des Bezeichneten selbst sprechen;

a b e r w i r werden später sehen,

d a ß es sich dabei n u r

PseudoVeränderungen o h n e sprachliche N e u e r u n g e n h a n d e l t .

um

170

Historische

Semantik

Alle diese Vorgänge sind von Metaphern wie 'Krone' für 'Kopf' [engl, 'crown' auch 'Scheitel']; engl, 'flat voice' [eigentl. 'flach'; 'klanglos']; 'dark threat' 'dunkle Drohung' usw. abzuheben. Hier sind keine unterschiedlichen Verwendungsweisen, keine doppeldeutigen Kontexte nötig, damit die Veränderung eintreten kann; sie ist von Anfang an klar, unabhängig und selbstverständlich. Wie die Verbindung auch beschaffen sein mag, sie kommt als Augenblicksschöpfung zustande. Allein die endgültige Einbürgerung der Neuerung in die „langue" vollzieht sich nach und nadi, mit all den Anpassungen und Angleidiungen, die ein solcher Vorgang mit sich bringt. Das ist jedoch kein besonderes Kennzeichen des Bedeutungswandels, sondern eine natürliche Entwicklungsstufe bei jeder sprachlichen Veränderung. 4. R e g e l m ä ß i g k e i t . Dieses Merkmal, das den beiden eben besprochenen nicht unverwandt ist, hängt mit dem methodologischen Problem der Bedeutungsgesetze zusammen, das über die Grenzen der diachronischen Semantik hinausgeht. Zweckmäßigerweise wird man es erst nach einem Gesamtüberblick über die Ursachen und Haupttypen des Bedeutungswandels angehen. Wir wollen es daher erst am Ende dieses Kapitels erörtern, wo es dann die Überleitung zum nächsten bilden kann. Ursachen des

Bedeutungswandels

Bevor wir uns dem Problem der Ursachen des Bedeutungswandels zuwenden, mag es nützlich sein, erst einmal an ein paar konkreten Beispielen zu zeigen, welche Kräfte dabei am Werk sind. 1. Engl, 'hussy', etymologisch eine Dublette zu 'housewife', geht in seiner jetzigen Bedeutung 'leichtes Mädchen; freches Ding' auf p e j o r a t i v e Tendenzen zurück, die sich in diesem Zusammenhang auch sonst bemerkbar machen: engl, 'quean'; frz. 'fille', 'garce'; dt. 'Dirne' usw. 358 2. 'Papier' hat seit dem 'Papyrus' der Antike eine lange Entwicklung durchgemacht. In diesem Fall ist die Sprache konservativer als die Kultur gewesen, und der Unterschied zwischen der klassischen und der modernen Bedeutung des Wortes spiegelt nur die technische E n t w i c k l u n g d e s B e z e i c h n e t e n im Laufe der Jahrhunderte. 3. 'Wolkenkratzer' ist eine scherzhafte, wirkungsvolle und pittoreske Metapher, mit der die Phantasie des Volkes die übergroß aufragenden Gebäude der modernen Architektur zu bezeichnen und vielleicht sogar zu bewältigen suchte. Der Erfolg dieser Metapher in vielen Sprachen (engl, 'sky-scraper', frz. 'gratte-ciel', ital. 'grattacielo' usw.) zeigt, wie angemessen die Analogie ist, die an sich zu dem großen Bereich „animistischer" Übertragungen gehört, bei denen 358

Dazu K. Jaberg, „Pejorative Bedeutungsentwicklung im Französischen" (ZRPh, 25, 1901; 27, 1903; 29, 1905).

Wesen und Ursachen des

Bedeutungswandels

171

unbelebte Gegenstände mit tiersymbolischen oder anthropomorphen Begriffen belegt werden. Aber es gab einen besonderen Grund dafür, daß diese Bezeichnung zu jener Zeit auftauchte: man m u ß t e f ü r eine architektonische Neuerung e i n e n N a m e n h a b e n , im Wortschatz mußte eine Lücke ausgefüllt werden. Dieser Prozeß dauerte nur wenige Jahre: um 1883/84 hat man mit dem Bau solcher Hochhäuser begonnen, und um 1891 ist der N a m e dafür aufgetaucht. 339 4. Wenn im Englischen ein Reigen schöner Frauen oder glänzender Begabungen als 'galaxy of beauties' bzw. als 'galaxy of talent' bezeichnet wird, so handelt es sich dabei um den gleichen schöpferischen Prozeß wie in dem vorhergehenden Beispiel, mit dem einzigen Unterschied, daß hier etwas Unbelebtes, nämlich die Milchstraße, etwas Belebtes charakterisieren soll. Wenn auch der Hintergrund der Assoziation fast der gleiche ist, so sind die Ursachen doch verschieden. Hier gibt es keine L ü c k e im Wortschatz; die Metapher wurde ohne einen besonderen äußeren Anlaß um ihrer selbst willen gebildet, und zwar aus k ü n s t l e r i s c h e r F r e u d e am anschaulichen, originellen Vergleich. Sie entspricht einem tiefeingewurzelten Instinkt, der schon im kindlichen Sprachgebrauch wach ist.390 5. 'Bär' und andere germanische Bärennamen bedeuten eigentlich 'der Braune', eine Bedeutung, die noch in lit. 'béras' fortlebt. Worin dieser Bedeutungswandel begründet ist, wird deutlich, wenn wir ihn vor einem größeren Hintergrund betrachten. Dann zeigt sich nämlich, daß die ursprüngliche indogermanische Bezeichnung, die sich in sanskr. 'irksa-', gr. apxxoç, lat. 'ursus' und in dessen romanischen Nachfahren erhalten hat, anderwärts durch eine Reihe unverkennbar euphemistischer und versöhnlicher Umschreibungen ersetzt worden ist: lit. 'lokys' 'Lecker', russ. 'medvéd" 'Honigesser', mittelkymrisch 'melfoehyn' 'Honigschwein' usw. Wenn wir noch weiter gehen, so stoßen wir selbst im Finno-Ugrischen und in philippinischen Eingeborenensprachen auf solche Umschreibungen, die man gewöhnlich „Deckwörter" nennt. Alles das weist eindeutig auf T a b u - E i n f l ü s s e hin. 3 ' 1 6. Es gibt, wenn auch keinen grundsätzlichen, so doch einen graduellen Unterschied in der Geschichte von 'Bär' und von frz. 'tricher'. Dies wird oft durch Wendungen wie 'corriger la fortune' und im modernen Argot auch durch 359

360 3,1

Nach Migliorini, „Grattacielo", in Lingua e Cultura (Rom, 1948), S. 283 f. Er weist in diesem Artikel nach, daß das Bild nicht nur schon vorher im Englischen zur Bezeichnung von etwas Übergroßem (z. B. für die ersten Hodiradfahrer) gebraudit worden ist, sondern daß es auch davor schon in mittelalterlichen italienischen Eigennamen vorkommt, womit wohl auf den Hochmut des Betreffenden angespielt wurde. Uber Bilder in der Kindersprache insbes. Bertoldi, a . a . O . , S. 119 ff. Dazu insbesondere Meillet, Ling. bist., I, S. 282—286; Bloomfield, Language, S. 400 f.; Gray, Foundations, S. 249 f.; Bonfante, Mélanges Bally, S. 195 ff.; Hävers, Sprachtabu, S. 34—37; M. B. Emeneau, „Taboos on Animal Names" (Language, 24, 1948, S. 56—63).

172

Historische

Semantik

Ableitungen von 'grec' umschrieben, zu dem es eine Reihe analog gebildeter Synonyme gibt: 'chevalier de l'Hellade', 'péloponnésien', 'philhellène', alle in der Bedeutung 'tricheur'. 3 ' 2 Die Antriebskraft ist hier der E u p h e m i s m u s , der jedesmal dann in Aktion tritt, wenn etwas Heiliges oder Gefährliches oder auch etwas Unangenehmes oder Ungehöriges gemäßigt werden soll. 7. Aus dem semantisch so weitverzweigten lat. 'persona' ist im Französischen eine Negationspartikel geworden. Diese Veränderung hat rein s p r a c h l i c h e Gründe. Die Berührung mit der Negationspartikel 'ne' hat dieses Wort in der gleichen Weise wie 'rem', 'passum', 'punctum' in einem Prozeß „infiziert", den Bréal „contagion" [Ansteckung] genannt hat (Kap. 21). 8. 'Bischof, engl, 'bishop', frz. 'évêque' gehen auf die lateinische Entsprechung des gr. êjûaxojTOç zurück. Ursprünglich bedeutete dieses Wort 'Aufseher'; wie andere kirchenspradiliche Ausdrücke ähnlichen Ursprungs ('presbyter', 'ecclesia', 'basilica') verdankt es seinen neuen Sinn dem Umstand, daß es in eine bestimmte s o z i a l e G r u p p e , in die frühchristliche Gemeinde, Eingang gefunden hat. 9. Frz. 'penser' und 'peser' sind Doppelformen, die beide auf 'pensare' zurückgehen; sie sind ein anschauliches Beispiel für das weitverbreitete P h ä nomen, daß etwas Dingliches einen ähnlich gearteten geistigen Vorgang bezeichnet. Solche Übertragungen, f ü r die 'begreifen', engl, 'grasp' u. ä. nur ein Beispiel unter vielen sind, lassen das Bemühen erkennen, a b s t r a k t e V o r g ä n g e g e g e n s t ä n d l i c h e r u n d a n s c h a u l i c h e r zu m a c h e n . 10. 'Schöpfung' als 'Schöpfungsakt' hat im 18. Jahrhundert die Bedeutung 'alles Geschaffene' dazugewonnen. Anscheinend hat die Polysemie von „nomen actionis" und „nomen acti" nichts Ungewöhnliches (vgl. engl, 'the art of writing' und 'the writing on the wall' [dt. etwa 'das Briefeschreiben' und 'ein Schreiben bekommen']). Eine eingehende Untersuchung des jeweiligen Kontextes hat jedoch ergeben, daß diese Entwicklung im Deutschen nicht spontan erfolgt ist, daß der neue Sinn vielmehr als L e h n b e d e u t u n g nach engl, 'création' gebildet worden ist.363 Diese Beispielsammlung ist bei weitem nicht vollständig, aber sie soll nur einige der f ü r den Bedeutungswandel besonders typischen Einflüsse zeigen. Das unendlich vielfältige Kräftespiel wird durch einige Faktoren zusätzlich kompliziert. So kann z. B. mehr als eine Ursache wirksam sein.

auch aufnoch Frz.

362 Nyrop, Sémantique, S. 289 f., 314 u. 385. Einiges aus der umfangreichen Literatur zum Euphemismus findet man bei Stern, S. 330—336 besprochen. Wahrhaft „komparative Semantik" treibt Riccaut de la Marlinière in Lessings Minna von Barnhelm: „Comment, Mademoiselle? Vous appelles cela betrügen? Corriger la fortune, l'endiainer sous ses doits, etre sûr de son fait, das nenn die Deutsch betrügen? betrügen! O, was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak! für ein plump Sprak!" (IV, 2; zit. n. Lachmann—Mundcer). 3(13 J. A. Walz, „Schöpfung = Welt" (ZfdWf., 15, 1914, S. 146—156).

Wesen und Ursachen des

Bedeutungswandels

173

'renard' etwa geht auf den germanischen Eigennamen 'Reginhard zurück. In dem berühmten mittelalterlichen Tierepos wird dem Fuchs, 'goupil', der Name 'Renart' beigelegt, und aus der Zusammenstellung ' R e n a r t goupil' ist ersteres als Kürzung hervorgegangen. Am auffälligsten haben sich zweifellos sprachökonomische Gründe ausgewirkt (Nyrop, Sémantique, S. 361). Möglicherweise hat aber noch ein anderer, zwingenderer Grund vorgelegen, nämlich Tabueinfluß wie bei 'Bär'. 3 6 4 Die beiden Ursachen brauchen nicht, wie hier, gleichzeitig wirksam zu werden, es kann auch ein Nacheinander sein. Ein scheinbar in sich geschlossener, homogener Bedeutungswandel teilt sich dann in zwei getrennt, manchmal geradezu entgegengesetzt verlaufende Entwicklungsgänge auf. Wer sich beispielsweise Schuchardts berühmter Erklärung für frz. 'trouver', it. 'trovare' etc. als einer Metathese von lat. 'turbare' anschließt, für den verläuft die Bedeutungsentwicklung in zwei getrennten Abschnitten: 1. 'turbare' 'trüben' wird in einer kleinen sozialen Gruppe spezialisiert, erst bei den Fischern, später auch bei den J ä g e r n ; es bekommt hier den Sinn „Wasser so trüben, daß die Fische in eine bestimmte Richtung getrieben werden", der in sard. 'trubare' noch erhalten ist, das einmal „Fische an eine Stelle treiben, wo das Wasser vergiftet ist" und dann auch einen ähnlichen Vorgang bei der J a g d bezeichnet; 2. der so spezialisierte Ausdruck kehrt in den allgemeinen Sprachgebrauch zurück und erfährt eine entsprechende Bedeutungserweiterung, die zu seiner heutigen Verwendungsweise geführt hat. 3 , 4 a Meillet hat ähnliches für die Entwicklung von frz. 'chasser' nachgewiesen ( L i n g . hist., I, S. 2 5 9 ) ; manches davon hat sich in der englischen Doppelform 'to catch' und 'to chase' auf synchroner Ebene erhalten. Die Frage nach den Ursachen wird weiter dadurch kompliziert, daß der Bedeutungswandel, wie überhaupt jede Art von Sprachwandel, zweierlei Aspekte hat. Für U r s p r u n g und V e r b r e i t u n g einer neuen Bedeutung sind oft ganz verschiedene Faktoren maßgebend; für die Verbreitung spielt die Nachahmung offensichtlich eine nicht unwesentliche Rolle, während sie für den Ursprung außer Betracht bleibt. N y r o p hat den Einfluß der Bühne auf die Verbreitung so mancher BedeutungsVeränderung nachgewiesen; so verdankt 'Demimonde' z. B. seine heute allgemein übliche Bedeutungsnuance dem gleichnamigen Stück von Dumas d. J . (Nyrop, Sémantique, S. 101). Auch bei einigen Lehnbildungen besteht eine solche Diskrepanz zwischen Herkunft und Verbreitung: Die Lehnbedeutung von 'réaliser' geht auf Fremdeinflüsse zurück — ein Faktor, der die ganze Breite und Vielfalt kultureller und sozialer K o n n o t a tionen einschließt; sie hat sich durchsetzen können, weil die Heeresberichte des Ersten Weltkrieges, in denen sie zum erstenmal auftaucht, das nötige Prestige und eine häufige, öffentlichkeits- und gefühlswirksame Verwendung garantierten. Migliorini, Nome proprio, S. 80 u. 166; Hävers, Sprachtabu, s«4a [Vgl. die Darstellung bei Iordan—Bahner, S. 74, Anm. 2.]

384

S. 49.

174

Historische

Semantik

Für das Aufkommen einer Neuerung sind manchmal dieselben Gründe maßgebend wie für ihre Verbreitung; dann nämlich, wenn die Veränderung so angebracht ist oder so sehr in der Luft liegt, daß sie vielen Sprechern unabhängig voneinander einfällt und bei den anderen sofort spontanen Beifall findet, die ihrerseits zu Recht oder Unrecht das Gefühl haben, die Wendung könnte auch von ihnen stammen, sie hätten sie quasi schon auf der Zunge gehabt. Zu dieser Kategorie gehört 'Wolkenkratzer', das zweifellos auf Grund eben dieser Dynamik internationale Verbreitung gefunden hat. 385 Natürlich können in solchen Fällen auch andere Gründe mitsprechen, wie z. B. eine gewisse snobistische Vorliebe f ü r neue, gewagte, geistreiche oder pittoreske Wendungen der eleganten Welt oder der jüngeren Generation. Tatsächlich verdoppelt sich die Zahl der f ü r den Bedeutungswandel maßgeblichen Gründe beinahe noch, wenn man auch seine Verbreitung, so wie es eigentlich nötig wäre, mitberücksichtigt. Der Bereich wird schließlich nodi größer, wenn auch der umgekehrte Vorgang, das semantisch bedingte Aussterben von Wörtern, in die Untersuchung miteinbezogen wird. 369 Aber auch darin erschöpft sich das Problem noch nicht. Von den Ursachen des Bedeutungswandels sind die dazu nötigen V o r a u s s e t z u n g e n zu unterscheiden. Sie ermöglichen Bedeutungsveränderungen u n d stellen vorgeprägte Formen d a f ü r bereit, ohne jene jedoch selbst auszulösen oder in ihrer Eigenart zu bestimmen. Einige dieser Voraussetzungen gelten für alle Phänomene der Sprache, wenngleich sie in Hinblick auf die Semantik in ein etwas anderes Licht rücken. Wieder andere gelten nur f ü r die Bedeutung. Zu ersteren hat man seit Paul (Prinzipien, S. 85 ff.) o f t d a s E r l e r n e n d e r M u t t e r s p r a c h e i m K i n d e s a l t e r gezählt, wenn dieser Faktor von den verschiedenen Gelehrten auch unterschiedlich eingeschätzt wird. Sein Einfluß ist 395

366

D a z u Stern: „It is evident that the processes leading to a sense-change, like any normal psychic events, can 1) occur repeatedly in the mind of the originator, or 2) be imitated by other speakers to w h o m the new use of the word will present itself as a normal w a y of using speech, or 3) happen, independently of imitation, in the minds of other speakers, w h o find themselves confronted by the same linguistic task as the first" (S. 176 f.). V o n den anderen führenden Semantikern ist Sperber (Einführung, S. 32) lediglich an der Ausbreitung, Wellander (I, S. 52 f.) lediglidi an dem Zustandekommen einer Neuerung interessiert. Vgl. auch A. Fröhlich, „Der gegenwärtige Stand der Bedeutungslehre" (Zeitschr. f . Deutschkunde, 40, 1926, S. 323—338), S. 333 f. D a z u Falk, S. 47—52; Holthausen, Huguet, Dike, Menner sowie die Ausführungen im Abschnitt über Synonymie [s. o. S. 105 u. Anm. 274], Vgl. auch J. B. GreenoughG. L. Kittredge, Words and their Way s in English Speech (London, 1902), passim; M. Runes, „Vom Aussterben der Wörter (mit besonderer Berücksichtigung der klassischen Sprachen)" (Actes du 2e Congrès, 1933, S. 205—209); M. Schöne, a. a. O., S. 126—135; Thorndike, American Journal of Psychology, 59, S. 631 f.; A. Dauzat, Précis d'histoire de la langue et du vocabulaire français (Paris, 1949), S. 228 fi.

Wesen und Ursachen des

Bedeutungswandels

175

a n sich kaum zu bezweifeln 3 ' 7 , nur läßt sich seine W i r k u n g schwer nachweisen u n d deuten. So ist z. B. Meillet der Meinung, der französische Euphemismus 'saoul' ( 'poison' gehören dazu. Zum „singulären Bedeutungswandel" rechnet er: Namengebung, Namenübertragung und Metapher. Wundts Einteilung, die sich auch bei Jaberg, ZRPh, 25, S. 585—589 zusammengefaßt findet, ist von J. v. Rozwadowski, Wortbildung und Wortbedeutung (Heidelberg, 1904), Kap. 4 u. 5 weiterentwickelt worden. Zur Kritik vgl. Anm. 344.

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

199

spätere Forschungen leider oft übersehen haben. 4 1 6 Mit dieser kurzen A u f z ä h l u n g sind längst nicht alle Impulse genannt, mit denen W u n d t die funktionale Betrachtungsweise nachhaltig beeinflußt h a t ; damit sind nur die P u n k t e bezeichnet, in denen sie ihm am meisten zu verdanken hat. 2. S c h u c h a r d t. O b w o h l er vom Fach her nicht eigentlich Semantiker w a r , h a t der hervorragende Grazer Gelehrte eine nicht unbedeutende Rolle f ü r die Entwicklung unserer Wissenschaft gespielt. N u r hat er ihren Zuständigkeitsbereich und ihre Aussichten wohl etwas übersdiätzt. „Man verzichte doch endlich auf das grammatisdie Triptychon;" schrieb er in seiner Anzeige des Saussuresdien Cours, „es gibt nur eine G r a m m a t i k , und die heißt Bedeutungslehre oder wohl richtiger Bezeichnungslehre — die Lautlehre ist nur eine Beigabe, die 'Lautgesetze' sind Wegmarken, uns durch den dichten W a l d zu geleiten. Das Wörterbuch stellt keinen andern Stoff dar als die G r a m m a t i k ; es liefert die alphabetische Inhaltsangabe zu ihr" (Brevier, S. 127). 417 Schudiardt darf neben Meringer als Begründer der „Wörter und Sachen"-Methode gelten. Seine kühnen, einfallsreichen Etymologien und seine berühmte Fehde mit A. T h o m a s — „Magier" gegen „Mystiker", um mit Voßler zu sprechen — über die jeweilige Bedeutung phonologischer u n d semantischer Gesetzmäßigkeiten haben entscheidend dazu beigetragen, die vergleichende Bedeutungsforschung auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. 418 Seine Arbeiten über O n o m a t o p ö i e und Lautsymbolik haben einen panchronischen Zugang zur Semantik angebahnt. In unserem Z u sammenhang interessiert besonders, d a ß sein denkwürdiger Aufsatz „Sachen u n d Wörter" 4 1 9 indirekt zur Herauskristallisierung der f u n k t i o n a l e n Klassifikation, wie sie im System von Gombocz Gestalt annehmen sollte, beigetragen h a t . Ein paar Zitate aus diesem Aufsatz mögen zeigen, wie nachhaltig u n d f r u c h t b a r er die funktionale Theorie des Bedeutungswandels beeinflußt h a t : „ . . . d a s u n d in 'Sachen u n d W ö r t e r ' verwandele sich aus einem Additionszeichen in ein Multiplikationszeichen; es entwickle sich eine Sachwortgeschichte" (Brevier, S. 116). „Wie einem Sein oder Geschehen der Satz, so entspricht einer Sache das W o r t ; nur ist die Beziehung nicht umkehrbar. Ich k a n n f r a g e n : wie heißt diese Sache? Ich m u ß f r a g e n : was bedeutet dieses W o r t ? " (ebd., S. 117). „Also im Verhältnis zum W o r t ist die Sadie das P r i m ä r e u n d Feste, das W o r t ist an sie geknüpft und bewegt sich um sie h e r u m " (ebd.). „Wir haben im ganzen vier Arten von Geschichte zu unterscheiden: neben der Geschichte der Sadie 416

417

418

419

E t w a S. Johansen, Le Symbolisme. Étude sur le style des symbolistes français (Kphg., 1945), Kap. 1; vgl. meine Rezension in French Studies, 1, 1947, S. 276 ff. Vgl. auch Jespersens Bemerkung, Philosophy of Grammar, S. 32, A n m . 1 u. Brandal, Essais, S. 6, Anm. 3. Ähnliche Ansichten hat schon Marty, Untersuchungen, S. 51 f. vertreten. Vgl. E. Tappolet, „Phonetik und Semantik in der etymologischen Forschung" ( A S N S , 115, 1905, S. 101—123) u. H a t z f e l d , Leitfaden, S. I X f. Anthropos, 7, 1912, S. 8 2 7 — 8 3 9 ; vieles davon ist im Brevier, S. 114—127 abgedruckt. Die Entwicklung der Schudiardtschen Position ist bei Iordan-Bahner, S. 88 bis 9 0 skizziert und mit vielen Zitaten belegt.

200

Historische

Semantik

und der des Wortes . . . die Geschichte der Bezeichnung und die der Bedeutung; die beiden ersteren sind ihrem Wesen nach absolut . . . die beiden letzteren relativ. Wir nehmen nun nicht etwa dieses Vierfache nebeneinander wahr, sondern in jedem Ruhepunkt deckt sich eine Bezeichnung mit einem Worte und eine Bedeutung mit einer Sache, aber von einem Ruhepunkt zum anderen wechselt eine solche Verbindung" (ebd., S. 120 f.). 420 Im Anschluß an eine Erörterung des sprachlichen Konservatismus und der sprachlichen Neuerung folgen dann noch einmal zwei sehr wichtige Abschnitte: „Statt von Bezeichnungswandel spricht man fast immer von Bedeutungswandel. Es ist richtig, beides besagt im Grunde dasselbe, nur daß dieses von entgegengesetzten Seiten angeschaut wird, einmal von der Sache, das andere Mal vom Worte aus. Im ersteren Falle ist die Richtung unseres Blickes auch die des Vorgangs; vom Wort zur Sache besteht kein Vorgang, hier haben wir nur ein Verhältnis vor uns" (ebd., S. 123). „Wie die Sache gegenüber dem Wort, das Sprechen gegenüber dem Verstehen das Primäre ist, so auch die Bezeichnung in allen ihren Phänomenen gegenüber der Bedeutung. Die Doppelköpfigkeit der Sprache tritt hier und überall hervor und ihr muß Rechnung getragen werden. Das Studium der Bezeichnung ist aus seinem Schatten hervorzuziehen; die zahlreichen, umfassenden und tiefgehenden Untersuchungen über den Bedeutungswandel bleiben in ihrem Werte und mit ihren Ergebnissen unversehrt, nur werden in gewissen Zusammenhängen sozusagen Transpositionen erheischt" (Brevier, S. 124). Diese wenigen Zitate mögen gezeigt haben, in welcher Richtung das funktionale Schema durch die gelegentlichen Äußerungen H u g o Schuchardts beeinflußt worden ist. 3. R o u d e t. Léonce Roudet, der Wundt kritisch gegenübersteht und von Schuchardt offensichtlich nicht beeinflußt ist, hat in seinem Aufsatz auf sechzehn Seiten 421 , von denen nur sechs dem eigentlichen Thema gewidmet sind, zum 420

421

Dies ist der Ausgangspunkt für die oben auf S. 150 besprochene Einteilung von Weisgerber. Vgl. auch Marty, Untersuchungen, S. 297 u. Vendryes' Doppelkapitel: „Comment les mots changent de sens" — „Comment les notions changent de nom" [Langage, S. 225 ff. u. 249 ff.]. „Sur la classification psychologique des changements sémantiques" (Journal de Psychologie, 18, 1921, S. 676—692). Dieser von uns schon wiederholt herangezogene Aufsatz hat eine merkwürdige Geschichte gehabt. So bündig und anregend er ist, mag er manchen Sprachwissenschaftler durch seinen Titel abschrecken; auch ist er ja in einer nichtsprachwissenschaftlichen Zeitschrift erschienen, und so kam es, daß er in der Semantik fast ganz unbekannt geblieben ist. Stern, der als einziger sich überhaupt auf ihn bezieht, ist davon unbeeinflußt geblieben. Danach hat sich erst wieder A. Sommerfeit (Norsk Tidsskrifl, 9, 1938, S. 242 f.) für seine nachträgliche Anerkennung eingesetzt. Roudet hat natürlich für Gombocz große Bedeutung gehabt; aus „sprachlichen" Gründen ist sein Jelentéstan jedoch noch unbekannter geblieben als Roudets Aufsatz; Carnoy und Stern scheinen von seiner Existenz nidit einmal gewußt zu haben. Ich habe in knapper Form die Theorie von Gombocz in ihrem Verhältnis zu der Einteilung von Stern in meinem Aufsatz „The Range and Mechanism of Changes of Meaning" (JEGP, 41, 1942, S. 46—52) dargestellt. [Vgl. zu Person und Werk von Zoltän v. Gombocz Ungarische Jahrbücher, 15, 1935, S. 365—384.]

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

201

ersten Mal eine vollständige und befriedigende Klassifikation der semantischen Neuerungen 422 auf funktionaler Basis vorgelegt. Sein Schema konnte natürlich nur ein Entwurf sein, der nachträglich mit sprachlichem Material anzureichern war. Das machte weiter keine Schwierigkeiten, alldieweil sein System so einleuchtend und flexibel gehalten ist. Roudet hat einen neuen Faktor in die Analyse semantischer Neuerungen eingeführt, und zwar wendet er Bergsons These vom „effort intellectuel" auf das an, was er „l'effort d'expression" nennt. Der Bedeutungswandel geht immer von dem Bemühen des Einzelnen aus, seinen Gedanken auch Ausdruck zu verleihen vermittels „un appel de concepts et d'images par un 'schéma dynamique'" (S. 687). 423 Er kann sich dabei des doppelten synchronen Geflechts um N a m e und Sinn bedienen, das, wie im zweiten Abschnitt des zweiten Kapitels (s. o. S. 73 ff.) ausgeführt wurde, durch Ähnlichkeits- und Berührungsassoziationen zusammengehalten wird. Wenn der Ausdrucksprozeß einsetzt, kann der Vorstellungsinhalt auf vier verschiedene Weisen ausgedrückt werden: durch das Erinnern des Namens, durch das Entlehnen eines Fremdworts, durch eine Wortneubildung und schließlich durch einen Bedeutungswandel. Wie kommt letzterer zustande? D a Roudets Beitrag weithin unbekannt geblieben ist, soll die entscheidende Stelle hier noch einmal ausführlich zitiert werden: „. . . cette idée n'est pas seule dans le champ de la conscience: elle en occupe le centre lumineux, mais tout autour dans des zones plus ou moins éclairées se pressent des idées qui lui sont associées par contiguïté ou par ressemblance. L'une au moins de ces idées, satellites de la première, est associée directement à un mot de la langue. Ce mot lui aussi va apparaître dans le champ de la conscience, entraînant à sa suite ceux qui lui sont unis par des rapports syntagmatiques ou associatifs. Il y aura donc dans le champ de la conscience comme une constellation d'idées en face d'une constellation de mots. Le changement de sens résulte de l'action de l'un de ces groupes sur l'autre. Ou bien l'idée s'exprime par un mot signifiant une autre idée associée à la première par contiguïté ou par ressemblance. Dans ce cas, l e m o t g l i s s e d ' u n e s i g n i f i c a t i o n à l ' a u t r e . O u bien l'idée signifiée par un mot passe à un autre mot associé au premier . . . Ici, c ' e s t l a s i g n i f i c a t i o n q u i g l i s s e d ' u n m o t à l ' a u t r e " (S. 689). D a n n folgen die vier möglichen Kategorien mit einer knappen Umschreibung dessen, was jeweils dazugehört, und wenigen Beispielen, die nicht alle glücklich gewählt sind; es ist z. B. nicht recht einzusehen, warum die Synonymenstreuung unter 422

429

Auf das Bewahren bzw. die Veränderung der bezeichneten Sachen geht Roudet nur kurz ein (S. 686). „On sait ce que le philosophe (Bergson) entend par ce terme: c'est une 'attente d'images et de concepts, une attitude intellectuelle destinée tantôt à préparer l'arrivée d'une certaine image précise comme dans la mémoire, tantôt à organiser un jeu plus ou moins prolongé entre les images capables de venir s'y insérer' comme dans l'effort de compréhension et l'effort d'invention, et comme aussi dans l'effort d'expression dont M. Bergson n'a pas parlé" (S. 687).

202

Historische

Semantik

Bréals „loi de répartition" Assoziationsbeziehungen zwischen den Namen zugeschrieben werden soll. Auch schwankt die Terminologie etwas: Berührungs- und Ähnlichkeitsassoziationen zwischen den Sinnen stellt er auf Saussures Einfluß hin mit „syntagmatischen" und „assoziativen" Verbindungen zwischen den N a m e n zusammen. Auch hat Roudet wohl nicht erkannt, daß seine Einteilung automatisch auf eine funktionale Definition der Bedeutung als einer Beziehung zwischen „mot" ( = Name) und „idée" ( = Sinn) hinausläuft. In seinem Sprachgebrauch scheint sich „idée" mit „signification" zu decken, was die ganze Gliederung ziemlich durcheinanderbringt. Zwar wird in vielen Arbeiten zur Semantik beides sehr oft gleichgesetzt, doch läßt gerade sein Schema eine solche Identifikation nicht zu. Trotz dieser Mängel ist der entscheidende Schritt getan und der „Mechanismus" 424 des Bedeutungswandels in ein völlig neues Licht gerückt worden. Roudet hat ein bei aller Einfachheit geniales Bild d a f ü r gefunden, wie er sich diesen Prozeß denkt: „ . . . la cause immédiate de chaque changement est toujours un phénomène psychologique qui a son siège dans l'individu, à savoir l'effort du sujet parlant pour exprimer sa pensée au moyen de la langue. Cet effort fait apparaître dans la conscience un système d'idées et un système de mots. Si les deux systèmes sont en accord, l'effort aboutit simplement au rappel d'un mot; mais souvent il y a désharmonie entre eux: l'effort d'expression cherche alors à les adapter l'un à l'autre. P o u r c e l a , il f a i t g l i s s e r le s y s t è m e d e s m o t s s u r le s y s t è m e d e s i d é e s , o u a u c o n t r a i r e , il f a i t g l i s s e r le s y s t è m e d e s i d é e s s u r l e s y s t è m e d e s m o t s " (S. 691 f.; nachträglich gesperrt). Inzwischen haben wir zeitlichen Abstand gewonnen, und wenn wir „mot" und „idée" durch ein neutrales Begriffspaar wie „signifiant-signifié", „SymbolVorstellungsinhalt" oder „Name-Sinn" ersetzen und in dem Begriff „System" alle neueren Konzeptionen von so verschieden orientierten Gelehrten wie Charles Bally, Louis Hjelmslev und Jost Trier zusammenfassen, können wir Roudets Entdeckung, deren Möglichkeiten erst in der vierten und fünften Entwicklungsstufe der funktionalen Theorie ganz ausgeschöpft worden sind, recht würdigen. 4. G o m b o c z. Diese Entwicklungsstufe bringt für die funktionale Theorie die Synthese. Gombocz hat die drei wichtigsten und viele andere Fäden aufgenommen und zu einem geschlossenen, wenn auch noch ziemlich skizzenhaften semantischen System zusammengefaßt. Als einziger unter den führenden Semantdkern hat er die Möglichkeiten von Roudets Bergsonscher Betrachtungs424

Dieser Terminus w a r bisher meist fortgeschrittenen Stadien des Bedeutungswandels vorbehalten; vgl. das 4. Kap. der Sperberschen Einführung-. „Mechanismus des Bedeutungswandels" ( s . o . S. 181), in dem er Stöcklein referiert, der den Bedeutungswandel „am W o r t als Glied eines Satzzusammenhanges" betrachtet; und M. Leumann, „Zum Mechanismus des Bedeutungswandels" (IF, 45, 1927, S. 105—118), worin ausführlich auf die Rolle des Hörers eingegangen wird.

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

203

weise erkannt, wohl weil sie seiner eigenen, vorwiegend Saussureschen Sprachphilosophie so verwandt w a r ; und er hat den bloßen Rahmen mit einer begrenzten, aber gut ausgewählten Zahl von Beispielen ausgefüllt. Viele dieser Beispiele sind nicht-indogermanischen (finno-ugrischen, turktatarischen) Sprachen entnommen, was die pandironisdie Gültigkeit des Systems beweist. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Koordination der diadironen Klassifikation mit der synchronen Analyse der Bedeutung. In Gombocz' Schema tauchen die vier H a u p t t y p e n in ähnlicher Form wie in Roudets System auf, wenn auch „mot" und „idée" natürlich durch „Name" und „Sinn" ersetzt sind. Die Entsprechung zwischen N a m e n - und Sinnübertragungen wird dadurch nodi verdeutlicht, daß Roudets etwas vage Formulierung „rapports associatifs entre les mots" durch „Namenähnlichkeit" ersetzt wird. Im übrigen wird dieser Kategorie nur wenig Beachtung geschenkt. Roudets dritte Klasse behält er in der Saussureschen Bezeichnung „syntagmatische Beziehungen" bei, so daß die Entsprechung an diesem Punkte terminologisch nicht gewahrt ist. Die erste Kategorie, Namenübertragungen aufgrund von Sinnähnlichkeit, wird recht eingehend untersucht. Roudet schon hatte zwisdien „ressemblance représentative" und „ressemblance affective" unterschieden und hatte damit Wundts Gegenüberstellung von „assimilativen" und „komplikativen" Prozessen wieder aufgenommen. Gombocz hat diese Unterscheidungen nach verschiedenen Richtungen hin ausgebaut und hat dabei z. B. Cassirers Gedanken zu den anthropomorphen Metaphern einbezogen und das Wesen der synästhetisdien Übertragung neu definiert, die er im Unterschied zu Wundt und Roudet [!] zur affektiven Sinnähnlichkeit rechnet. Andererseits folgt er noch Wundt, wenn er durch sprachlichen Konservatismus bedingte Veränderungen als assimilative Übertragungen behandelt. Gombocz' Beitrag zur funktionalen Theorie war in zweifacher Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Er hat gezeigt, daß Roudets Schema eine brauchbare Basis f ü r die Erforschung und die Systematisierung der Bedeutung abgibt und daß dieses System flexibel genug ist, um neues Material aufzunehmen und neue Standpunkte in Einklang zu bringen. Gerade diese Elastizität des Systems wollen wir jetzt erproben, wenn wir es nun mit der in diesem Buch praktizierten strukturalistischen Betrachtungsweise zu verbinden suchen. 5. D i e f u n k t i o n a l e T h e o r i e h e u t e . Mehr als drei J a h r zehnte sind seit Beginn der vierten Entwicklungsstufe der funktionalen Theorie vergangen, und die augenblickliche Phase unterscheidet sich hauptsächlich dadurch von der vorhergegangenen, daß sie alle in der Zwischenzeit vorgebrachten wichtigen Gesichtspunkte berücksichtigt. Dazu gehört vor allem die Weiterentwicklung der Saussureschen These vom synchronen System, die sich auf zwei scheinbar auseinanderstrebenden, aber im Grunde doch parallelen und ergänzenden Wegen vollzogen hat: als Theorie vom „Assoziationsfeld" und als „Feldmethode". Kaum weniger wichtig ist das wachsende Interesse f ü r semantische Analogiebildungen, die Lehnbildungen einschließen. Schließlich können

204

Historische

Semantik

auch Fortschritte auf dem Gebiet der außersprachwissenschaftlichen Semantik f ü r dieses Kernproblem von Bedeutung sein. Diese Einflüsse haben in Verbindung mit einigen Unterscheidungen, die wir früher schon in diese Untersuchung eingeführt haben, und mit kleineren Modifikationen, die das System von sich aus forderte, die Klassifikation bestimmt, die ich jetzt vorlegen werde, und zwar zunächst als bloßes Gerüst und darauf mit einigen kurzen Hinweisen auf Inhalt und Gliederung jeder Untergruppe. Dem folgt ein zusammenfassender Vergleich meiner Einteilung mit der von Carnoy und Stern. Auf diese Weise lassen sich nicht nur die drei neuesten Theorien koordinieren; dieser Vergleich erspart uns auch eine eingehendere Erörterung der verschiedenen Untergruppen, die von Carnoy und Stern bereits sehr ausführlich abgehandelt worden sind. ABRISS DER FUNKTIONALEN KLASSIFIKATION:

A. Bedeutungswandel infolge s p r a c h l i c h e n Konservatismus B. Bedeutungswandel infolge s p r a c h l i c h e r Neuerungen I. N a m e n ü b e r t r a g u n g e n a) aufgrund von Sinn ä h n l i c h k e i t ; b) aufgrund von Sinn b e r ü h r u n g . II. S i n n ü b e r t r a g u n g e n a) aufgrund von Namen ä h n l i c h k e i t ; b) aufgrund von N a m e n b e r ü h r u n g . III. M e h r s c h i c h t i g e r Bedeutungswandel. Bevor wir diesen bloßen Abriß mit Anschauungsmaterial ausfüllen, sind einige Vorbemerkungen nötig. Was die Terminologie angeht, so wird „Übertragung" („transfer") ganz neutral gebraucht, ohne Bezug darauf, ob der Wandel absichtlich oder unabsichtlich, plötzlich oder allmählich erfolgt. Diese Unterscheidungen werden in unserem Schema nicht als Klassifikationsprinzipien benutzt; andere Einteilungen haben jedoch auf sie aufgebaut, und man hat der Übertragung die Verschiebung, die Namengebung u. ä. gegenübergestellt. Wir gebrauchen „Übertragung" mehr im allgemeinen Sinn, wie Gombocz es bereits tat, weil das am besten zu dem „Mechanismus" paßt, wie ihn Roudet sich vorgestellt hat und wie er dem ganzen System zugrunde liegt. „Ähnlichkeit" und „Berührung" sind ebenfalls in diesem weiteren Sinne zu verstehen. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit Stern zwischen „Ähnlichkeit" und anderen Beziehungen zu unterscheiden. Solange man jedoch „Berührung" in diesem ausschließenden Sinne gebraucht, darf man den Begriff ruhig verwenden, zumal er den doppelten Vorzug hat, kurz und treffend zu sein. 425 Die funktionale bzw. strukturalistische Klassifikation des Bedeutungs425

Vgl. Thorndikes Kritik und seine Vorschläge, American S. 622 f.

Journal

of Psychology,

59,

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des

Bedeutungswandels

205

wandels ist das genaue diachronische Gegenstück zu dem doppelten synchronen Assoziationsgeflecht, das wir im 2. Abschnitt des 2. Kapitels besprochen haben (s. o. S. 71—77). Von den Veränderungen her vermögen wir den Assoziationszusammenhang zu erschließen; umgekehrt können wir vom Zusammenhang her die Genese der Veränderungen verfolgen. Die Geflechte lösen den Bedeutungswandel weder aus, noch bestimmen sie seine genaue Richtung — das besorgen seine eigentlichen Ursachen —, aber sie stellen M a t e r i a l zur Auswahl bereit426; auch stecken sie in etwa den U m f a n g der Übertragung ab, obgleich die Willkür der Assoziationsprozesse diese Grenzen meist dauernd in Fluß hält. Andererseits muß die Assoziation, ob sie nun bewußt oder unbewußt, absiditlich oder unabsichtlich zustande kommt, der Sprachgemeinschaft „angebracht" und annehmbar erscheinen, wenn die Neuerung sich in der „langue" einbürgern soll. Die synchronen Gefüge müssen deshalb als s o z i o l o g i s c h e Phänomene begriffen werden, als Assoziationsbeziehungen, die im Bewußtsein der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft schlummern. Wie die Symbol-Engramme selbst sind auch die sie umgebenden Assoziationsfelder nur der Möglichkeit nach vorhanden, aber jedes Element daraus kann jederzeit aktualisiert werden. Nachdem wir so die Terminologie des neuen Systems geklärt und seinen allgemeinen Tenor bestimmt haben, können wir nun prüfen, was es praktisch zu leisten vermag. Die grundsätzliche Dichotomie von Konservatismus und Neuerung haben wir bereits oben erörtert; wir können uns deshalb jetzt ganz den semantischen Neuerungen zuwenden. 126

„Si la pensée d'une signification contient un ensemble de moments, qui s'en distinguent comme les propriétés de la substance, il est évident que chaque élément de cet ensemble, grâce à sa cohésion intime avec les autres, représente dans u n sens et les autres et l'ensemble. U n e certaine disposition mentale s u f f i r a p o u r que le m o t d ' u n élément soit mis à la place d ' u n autre. Pareille disposition est d o n n é e p a r l'usage o r d i n a i r e de la langue. Les applications des mots y sont t r o p hâtives, l ' a t tention des sujets p a r l a n t s est t r o p intéressée p o u r p e r m e t t r e de distinguer t o u t le temps les éléments de la signification et entre eux et de l'ensemble. Q u a n d une signification change i n v o l o n t a i r e m e n t , cela est dû à une sorte de d é f a i l l a n c e nécessaire de l'esprit. Mais t o u t en é t a n t i n v o u l u jamais le changement n e se f a i t aveuglément. L'impulsion qui préside au changement, aveugle en elle-même, s e trouve toujours déterminée dans sa d i r e c t i o n p a r l'ensemble d'éléments qui sont contenus dans la signific a t i o n e n q u e s t i o n . Lequel de ces éléments ira p r e n d r e la place de l ' a u t r e , c'est affaire de contingence; mais ce qui empêche le changement d ' ê t r e a r b i t r a i r e , c'est qu'il s e f e r a a u d e d a n s d ' u n e l i m i t e q u i e s t t r a c é e par l a s t r u c t u r e d e l a s i g n i f i c a t i o n " (Pos, Actes du 4e Congrès, S. 90). Im ersten der beiden v o n m i r gesperrten Sätze w ü r d e ich „ d i r e c t i o n " durch „ d i o i x " ersetzen. In welche Richtung eine V e r ä n d e r u n g i n n e r h a l b eines bestimmten Assoziationsfeldes geht, ob sie z. B. eine Bedeutungsverschlechterung o d e r -Verbesserung, eine Bedeutungsspezialisierung oder -Verallgemeinerung b e w i r k t , h ä n g t v o n äußeren F a k t o r e n , v o n den „eigentlichen Ursachen" a b ; der Assoziationszusammenhang l i e f e r t : a) bestimmte Grenzen, i n n e r h a l b d e r e r die E r s a t z w ö r t e r zu finden sind; b) die in diesen Grenzen enthaltenen E r s a t z w ö r t e r selbst.

206

Historische

Semantik

I.

Namenübertragungen a) aufgrund von Sinn ä h n l i c h k e i t . Das Gros der Literatur zur Semantik ist zu allen Zeiten um die Erforschung dieser Kategorie bemüht gewesen, weil hier die M e t a p h e r und verwandte Tropen oder Redefiguren abgehandelt werden müssen. Bei der Besprechung der logisdi-rhetorisdien Klassifikation hat sich gezeigt, daß semantische und rhetorisch-stilistische Kriterien mehr als 2 000 Jahre lang unauflöslich miteinander verquickt waren und noch heute oft verwechselt werden. Dennoch kann man sie deutlich voneinander trennen. Übertragungen aufgrund von Sinnähnlichkeit bilden semantisch eine Gattung, und in dieser Gattung stellen die Metaphern und Verwandtes eine Art dar. Was sie von der übrigen Gattung unterscheidet, ist, daß sie b e w u ß t e u n d b e a b s i c h t i g t e Ü b e r t r a g u n g e n z u ä s t h e t i s c h e n Z w e c k e n sind. Die gleiche Unterscheidung gilt auch f ü r den Status der Metonymie und Synekdoche innerhalb der Kategorie der Übertragungen aufgrund von Sinnberührung. Da alles Metaphorische von Aristoteles an ein Lieblingskind der Forschung gewesen ist427, dürfen wir uns hier wohl auf seine rein semantischen Aspekte beschränken; wir wollen also die Züge jeweils herausgreifen, die die Tropen mit anderen Übertragungen aufgrund von Sinnähnlichkeit gemeinsam haben. Wie die Übertragung zustande kommt, ist an dem auch schon auf S. 164 entwickelten Diagramm abzulesen. Der Sinn s t berührt sich in gewissen Punkten mit einem anderen Sinn, s2, der innerhalb seines Assoziationsfeldes liegt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden nur die Gemeinsamkeiten, nur die Überschneidungen der beiden Bedeutungsbereidie herausgestellt, und der zu Si gehörige N a m e n j wird jetzt als angemessene Bezeichnung für s2 empfunden, ohne Rücksicht darauf, ob s2 bereits über ein n2 verfügt oder nicht:

Über den eigentlichen Ablauf ist man sich grundsätzlich einig, und in den letzten fünfzig Jahren haben sich die Ansichten über die Struktur nur in einer Hinsicht gewandelt: man f a ß t die Sinnverbindung heute strukturalistisch statt elementar auf. Meinungsverschiedenheiten über Einzelfragen, z. B. über den 427

Vgl. bes. Stern, S. 296—314; Konrad, a . a . O . , S. 85—100; Stanford, Greek Metaphor, passim, wo sich auch viele Literaturverweise finden. Vgl. auch die Zupopulaire. sammenstellung vieler volkstümlicher Bilder bei G. Esnault, L'Imagination Métaphores occidentales (Paris, 1925); seine Ergebnisse faßt er in „La Sémantique^ (in: A. Dauzat, Où en sont les études de français; Paris, o. J., S. 111—138) zusammen.

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

207

Vermittlungscharakter der Übertragung, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr man sich in den wesentlichen Punkten einig ist. Einige der bekanntesten und fruchtbarsten Theorien zu dieser Form des Bedeutungswandels wurzeln darin. Am bekanntesten ist A. Martys „figürliche innere Sprachform", ein Begriff, der weiter gefaßt ist und den Gesamtbereich der Namenübertragungen einschließt. Von Funke populär gemacht, hat er ein wechselvolles Geschick gehabt, was nicht zuletzt an dem verschwommenen, nicht gerade glücklich gewählten Terminus gelegen haben mag. 428 Von den neueren Theorien paßt insbesondere die von I. A. Richards, der bei der Metapher zwischen „Tenor" und „Vehikel" unterscheidet, gut zu unserer Einteilung. 4 2 ' Man hat die Namenübertragungen aufgrund von Sinnähnlichkeit auf verschiedenste Weise klassifiziert. Die rhetorischen Kategorien der „Metapher", „Hyperbel", „Litotes", „Ironie", des „Euphemismus" usw., denen Wellander und Stern breiten Raum widmen, sind f ü r eine eigentlich semantische Untersuchung nur indirekt von Bedeutung, wenn sie auch f ü r das Verständnis der geistigen Abläufe ganz aufschlußreich sind. Wundts Gegenüberstellung von „Assimilation" und „Komplikation", die, wie gesagt, von Roudet und Gombocz weiter ausgebaut worden ist, kommt da schon eher in Betracht. Es empfiehlt sich, an dem f ü r diese Zweiteilung maßgeblichen Gegensatz zwischen „sachbezogener" und „gefühlsbezogener" Ähnlichkeit festzuhalten, da er in der synchronischen Unterscheidung zwischen „erkenntnismäßiger" und „gefühlsmäßiger" Bedeutung eine Entsprechung hat. Dagegen müssen die bis jetzt gebräuchlichen Termini doch wohl revidiert werden. „Assimilation" ist insofern etwas irreführend, weil dieser Terminus in der Tat auf beide Typen zutrifft. „Komplikation" ist nicht durchsichtig genug und könnte einen Doppelsinn bekommen (Wundt unterscheidet z.B. „primäre" und „sekundäre" Komplikationen usw.); überdies setzt man sich mit diesem Terminus über die Grenze zwischen Ähnlichkeits- und Berührungsübertragungen hinweg, die bei uns klar geschieden bleiben sollen. Wenn Roudet von „ressemblance repräsentative" spricht, so wird das Moment der Perzeption an dem Vorgang vielleicht zu sehr betont. Ich schlage vor, zwischen w e s e n s m ä ß i g e r und g e f ü h l s m ä ß i g e r Ähnlichkeit zu unterscheiden („substantial"—„emotive"). Auf das Konto der wesensmäßigen Ähnlichkeit gehen dann auch anthropomorphe Übertragungen wie 'Tischbein', 'Fuß eines Berges', 428

Marty, Untersuchungen, passim, bes. S. 134 ff.; Funke, Innere Sprachform, S. 26—44. Vgl. auch Wellander, I, S. 155 ff.; Trier, Wortschatz, S. 2, Anm. 1; Stern, S. 315 f. Noreen schon hatte den Begriff der „inneren Sprachform" so zweideutig gefunden, daß er ihm unbrauchbar erschien [vgl. Einführung, S. 222]; diese Unklarheit ist durdi die lange Diskussion zwischen Funke, Porzig, Weisgerber u. a. nur noch größer geworden. W. Leopold, Language, 5, S. 259 f. und „Der Mitteilungsvorgang und die 'innere Sprachform'" (Anglia, 56, 1932, S. 1—22), S. 7 ff. schlägt statt dessen „Brüche" vor. Vgl. auch Velten, „The Science of Language and the Language of Science" (PMLA, 48, 1933, S. 608—622), S. 619 f. Esnault, Imagination, S. 24 gebraucht auch den „Brüchen"-Vergleich. Philosophy of Rhetoric, S. 87—112.

208

Historische

Semantik

'Flußarm' (dazu engl, auch 'mouth of a river'), engl, 'eye of a needle' (Nadelöhr), 'Brückenkopf usw. Der menschliche Körper ist aber nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Ziel solcher Übertragungen. Man denke nur an die vielen Bezeichnungen, die aus dem Tier- und Pflanzenreich und aus der unbelebten N a t u r auf ihn übergegangen sind: 'Augapfel', frz. 'gueule' für 'tète' usw.430 Sehr häufig ist auch der Typ, bei dem Konkreta auf Abstrakta übertragen werden: engl, 'hub' (Radnabe), übertr. 'Mittelpunkt'; engl, 'hinge' (Türangel), übertr. 'Angelpunkt' etc. Wenn in diese auf „wesensmäßiger Ähnlichkeit" beruhenden Übertragungen auch gewisse Gefühlsnuancen hineinkommen können, gründen sie sich doch auf irgendein sachbezogenes Tertium comparationis. Die g e f ü h l s m ä ß i g e Ähnlichkeit stützt sich dagegen ausschließlich auf den analogen Eindruck und den vergleichbaren Affektgehalt der beiden Sinne. Eine eigene Untergruppe bilden hier die Übertragungen von Sinneswahrnehmungen auf Geistig-Seelisches: 'Bitterkeit', engl, 'sweet temper' 'Sanftmut', engl, ' w a r m feelings' (dt. etwa 'warmherzig'). Hierher gehört auch die Verwendung von Schimpfwörtern als Kosenamen, eine sehr verbreitete Erscheinung, f ü r die Stern (S. 323) ein nettes Beispiel aus Punch a n f ü h r t : „First Youth: Hullo, congenital idiot! — Second Youth: Hullo, you priceless old ass! — The Damsel: I'd no idea you two knew each other so well!" Dabei gibt es offensichtlich kein eigentliches Tertium comparationis, nur der Affektgehalt entspricht sich in etwa. Viele Semantiker sind geneigt, in diese Kategorie auch die S y n ä s t h e s i e einzustufen. Das Phänomen ist freilich viel zu komplex, als daß es in einer einzigen Rubrik unterzubringen wäre. Der Struktur nach ist sie säuberlich von solchen Übertragungen zu unterscheiden, bei denen ein Sinneseindruck auf seelische Zustände oder Vorgänge bezogen wird. 'Dunkle Drohung' oder „blanc souci" [Mallarmé, Salut] sind keine Synästhesien, mag man sie auch noch so oft als solche bezeichnet finden. Wenn man diese Fälle nicht ausklammert, wird man sich über den die Sinneseindrücke mischenden Assoziationsprozeß kaum klar werden können. Noch trügerischer sind Verbindungen wie 'fragrant darkness*, die ich an anderer Stelle (FM, 14, 1946, S. 27 f.) als „Pseudosynästhesien" bezeichnet habe und die in Wirklichkeit in die Kategorie I b gehören, wo sie dann auch abgehandelt werden. Was alles übrige angeht, so überschneidet sich die 430

In einer vielzitierten Stelle seiner Principi geht Vico auf das anthropozentrische Element in der Metapher ein, [wonach „der unwissende Mensch nach sich selbst das Weltall b e u r t e i l t . . u n d „in allen Sprachen die Mehrzahl der Ausdrücke für leblose D i n g e übertragen sind v o m menschlichen Körper und seinen Teilen, v o n den menschlichen Sinnen und den menschlichen Leidenschaften" (dt. Ausg. S. 171 f . ) ] ; vgl. Gombocz, S. 73; Carnoy, S. 3 2 4 — 3 3 6 ; Cassirer, I, S. 158 ff. In seiner M o n o graphie zu den Körperteilnamen geht de Witte ausführlich auf Expansion u n d Attraktion in diesem Bereich ein und kommt zu interessanten panchronischen Ergebnissen. D a v o n ist vielleicht am wichtigsten, daß die Expansion häufiger ist als die Attraktion.

Klassifikation des

Bedeutungswandels

209

übliche U n t e r t e i l u n g in „ e r l e b t e " u n d „ b l o ß v o r g e s t e l l t e " S y n ä s t h e s i e n — „the man who actually s e e s f r o m the m a n w h o

colour

images

w h e n he hears music m u s t be distinguished

colour

o r merely

t h i n k s i t " 4 3 1 — genau

m i t der Gegenüberstellung des W e s e n s m ä ß i g e n u n d G e f ü h l s m ä ß i g e n ; überdies ist dem n u r a u f der S t u f e der „ p a r o l e " b e i z u k o m m e n , unter E i n b e z i e h u n g des K o n t e x t e s und des psychischen H i n t e r g r u n d e s , unter Berücksichtigung etwaiger besonderer Neigungen, des artistisch G e w o l l t e n u n d alles dessen, w a s die Geistigkeit des Sprechers bzw. Schreibers sonst noch an I m p o n d e r a b i l i e n m i t sich b r i n g t . N o c h schwerer ist das genaue Mischungsverhältnis der sach- u n d gefühlsbezogenen F a k t o r e n bei der synästhetischen A s s i m i l a t i o n zu b e s t i m m e n , m a l überwiegt das eine E l e m e n t , m a l das andere. N e h m e n w i r zwei sehr ähnliche Beispiele v o m gleichen A u t o r : wenn O s c a r W i l d e in der Salome

von 'black silence' spricht,

scheint eine gefühlsmäßige Ähnlichkeit zwischen dem optischen u n d dem akustischen Eindruck vorzuliegen; w e n n sich ihm in An

Ideal

Husband

dagegen

ungarische Musik m i t dem Eindruck ' m a u v e ' v e r b i n d e t , so ist die „ Ä h n l i c h k e i t " — m a g sie noch so subjektiv, abstrus u n d gesucht sein — doch w o h l eher in dem Sinneseindruck selbst begründet als in irgendwelchem G e f ü h l s b e i k l a n g ; genausogut ist allerdings auch eine andere D e u t u n g möglich. A m besten r ä u m t m a n der Synästhesie eine eigene U n t e r a b t e i l u n g ein, w o m i t m a n dann folgende U n t e r g r u p p e n für K a t e g o r i e I a h ä t t e : Ü b e r t r a g u n g e n a u f g r u n d v o n wesensmäßiger, gefühlsmäßiger und synästhetischer Ähnlichkeit. 4 3 2 W ä h r e n d diese K l a s s i f i k a t i o n von der Ähnlichkeit selbst ausgeht, gibt es auch noch ein anderes Einteilungsprinzip, das v o n dem M e d i a n i s m u s des P r o zesses abgeleitet ist. Es ist nicht auf die vorliegende K a t e g o r i e und unterscheidet direkte und

analogische

beschränkt

V e r ä n d e r u n g e n . 4 3 3 A n einem

einfachen Beispiel l ä ß t sich zeigen, w i e der Mechanismus f u n k t i o n i e r t . I m Frühneuenglischen w u r d e das V e r b ' o v e r l o o k ' im S i n n e v o n 'scheel a n sehen, durch Z a u b e r b a n n e n ' gebraucht, w o r a u s sich der erstmals 1 5 9 6 belegte S i n n 'betrügen' entwickelt h a t . D a b e i h a n d e l t es sich um eine einfache N a m e n übertragung a u f g r u n d v o n S i n n ä h n l i c h k e i t , a u f die sich unser Schema

ohne

weiteres a n w e n d e n l ä ß t . 431 432

433

14

[J. E. S. Downey, Creative Imagination (London, 1929), S. 94 ff.] Diese Einteilung berührt sich mit den von Carnoy (Kap. 20) unterschiedenen vier Haupttypen von Metaphern — wahrnehmungsmäßigen, synästhetischen, gefühlsmäßigen und pragmatischen —, nur daß hier die gefühlsmäßige und die willensmäßige Untergruppe zusammengenommen wird. Siehe insbes. S. Kroesch, „Analogy as a Factor in Semantic Change" (Language, 2, 1926, S. 35—45); „The Semantic Development of Old English 'cra;ft'" (MPh, 26, 1929, S. 433—443) u. „Change of Meaning by Analogy" (Studies in Honor of H. Collitz; Baltimore, 1930, S. 176—189). Gleichermaßen wichtig ist Stern, Kap. 9: „Sense-dianges due to analogy". Vgl. auch Bloomfield, Language, S. 441 ff. u. Springer, S. 164 ff. In Ergänzung zu der oben in Anm. 86 angeführten Literatur siehe zur Lehnbildung auch die Beiträge von Wellander [I, Kap. 4] u. Meillet, „Les Interferences entre vocabulaires" {Ling. bist., II, S. 36—43). Vgl. Sandfeld-Jensen, Sprachwissenschaft, S. 38. Ulimann

Historische

210

Semantik

Genau 50 Jahre später wird 'oversee', ein Synonym von 'overlook', im Sinne von 'betrügen' gebraucht. Dazu Kroesdi: „It is safe to say that the individual who first used 'oversee' in this meaning knew the word 'overlook* 'deceive'. The two words, however, were closely associated in his mind, and the one had, no doubt, recalled the other on other occasions in other meanings which the two had in common. The use of the one for the other in the new meaning is, therefore, easily understood. The meaning 'deceive' in 'oversee' is not developed directly from 'look with the evil eye', but by analogy with 'overlook'. An investigation of the words 'cram' and 'stuff' reveals that the meaning 'deceive' in the latter came in like manner by analogy with the former" (Language, 2, S. 39). 434 Wie paßt dieser Vorgang in unsere Einteilung und in unser Schema? Wenn man über 'overlook' nichts wüßte, würde man zweifellos den Bedeutungswandel von 'oversee' 'betrügen' als einfache Namenübertragung aufgrund von Sinnähnlichkeit ansehen, wie sie bei seinem Synonym tatsächlich erfolgt ist. Hier muß man jedoch mit einer Z w i s c h e n s t u f e rechnen. Die beiden Sinne von 'oversee' sind nicht direkt miteinander assoziiert worden, auch wenn das an sich möglich gewesen wäre. Die Assoziation ging über den ursprünglichen Sinn von 'overlook', der mit dem von 'oversee' Ähnlichkeit hatte: II

I

In diesem Diagramm ist n t = 'oversee', Si = der ursprüngliche Sinn von 'oversee', n2 = 'overlook', Sa = der ursprüngliche Sinn von 'overlook', n3 = 'deceive', s3 = sein Sinn. Wenn es sich um Namengebung handelt, gibt es natürlich kein n s . Wie unser Diagramm zeigt, unterscheidet sich dieser Vorgang von gewöhnlichen Übertragungen aufgrund von Sinnähnlichkeit durch die Existenz eines Zwischengliedes, eines M o d e l l s — ein Sachverhalt, den Paul etwas antiquiert durch eine „Proportionsgleidiung" ausdrückt.435 'Oversee' nimmt die 434

435

Bei der Besprechung synchroner Assoziationen zwischen Synonymen (Homoionymen) haben wir bereits bemerkt, daß Stern hier nicht mit Gruppenbildung und Analogieeinfluß rechnen will (s. o. Anm. 240). Wir brauchen hier nicht auf die gesamte Theorie der Analogie einzugehen, da sie nur teilweise zur Semantik gehört. Paul hat seine Theorie im 5. Kap. seiner Prinzipien vorgelegt, bes. S. 116 f. Die berufenste Kritik und eine Besprechung der gängigsten Theorien gibt E. Hermann, „Lautgesetz und Analogie" ( A b h a n d l . d. Gesell, d. Wiss. zu Göttingen, phil.-hist. Kl., N. F. 23, 3, 1931), bes. S. 73 ff.; siehe auch Stern, S. 200 ff. u. 212, Anm. 1 u. Palmer, lntroduction, S. 65 ff.; Gray, Foundations, S. 106—114, u . a . m .

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

211

Bedeutung 'betrügen' an, weil sein Synonym 'overlook' sie bereits angenommen hatte: 'overlook': 'deceive' = 'oversee': x; demnach ist x = 'deceive'. Die Veränderung geht also von der Sinnähnlichkeit zwischen 'overlook' und 'oversee' aus und nicht von der Ähnlichkeit zwischen dem alten und neuen Sinn von 'oversee'. Im Unterschied zu d i r e k t e n Namenübertragungen haben wir es hier mit v e r m i t t e l t e n Übertragungen zu tun, die man, um eine Kollision mit Martys „vermittelnden Metaphern" auszuschließen, auch Relaisübertragungen nennen könnte [im Englischen ist durchweg von „relayed transfers" die Rede]. Solche auf Analogiewirkung beruhenden vermittelten Übertragungen sind keineswegs auf die Kategorie I a beschränkt. Viele Beispiele sind insbesondere auch unter Kategorie I I I abzuhandeln, da sie durch das Zusammenwirken von Namen- und Sinnassoziationen zustande gekommen sind. Dieses Gebiet ist bis jetzt noch kaum erforscht, Materialsammlungen f ü r die Kategorien I b und I I a sowie II b fehlen ganz; man kann daher noch gar nicht sagen, ob vermittelte Übertragungen auch durch Sinnberührung oder durch irgendwelche semantisch nicht gestützten Namenassoziationen zustande kommen können. Wie sich gleich zeigen wird, braucht bei „Beeinflussung durch Lautassoziationen" vom T y p 'sand-blind' nicht mit Analogiebildung gerechnet zu werden: hier handelt es sich vielmehr um direkte Übertragungen aufgrund von Namenähnlichkeit. Solange die nötigen historischen Belege nodi ausstehen, kann man nur vermuten, daß bloße Lautähnlichkeit bzw. eine bloße syntagmatische Berührung allein noch nicht ausreicht, um eine vermittelte Übertragung einzuleiten, obwohl sie in Verbindung mit semantischen Faktoren wohl eine Rolle spielt. Solche Fälle gehören aber ja zu Kategorie III, zu den mehrschichtigen Übertragungen. Bei den vermittelten Übertragungen, die ausschließlich auf Sinnähnlichkeit beruhen, gibt es wiederum mehrere Untergruppen. Zunächst einmal ist zwischen landessprachlichen und fremdsprachlichen Einflüssen zu unterscheiden. I n n e r h a l b e i n u n d d e r s e l b e n S p r a c h e geht die Analogiebildung häufig von S y n o n y m e n aus. Als Beispiel wäre wieder engl, 'oversee' — 'overlook', 'cram' — 'stuff' oder auch Gilliérons Wortpaar 'maison' > 'cuisine' — 'hôtel' > 'cuisine' anzuführen; außerdem sei an gewisse Synonymenreihen im Argot erinnert, wo das Wort 'polir' im 15. Jahrhundert z . B . den Sinn 'stehlen, svw. abstauben' bekommen hat, woraufhin auch seine Synonyme 'nettoyer', 'fourbir' und 'sorniller' den Sinn 'stehlen' angenommen haben. 436 D a ß auch ein G e g e n b e g r i f f als Modell f ü r eine Analogiebildung dienen kann, beweist die Geschichte des Wortes 'Low Church'. Zunächst wurde 'high' im Sinne von 'heftig, extrem' auf Ansichten und Lehrmeinungen bezogen; so ist es zu der Wendung 436

14*

Dazu bes. M. Schwöb—G. Guieysse, „Étude sur l'argot français" (MSL, 7, 1892, S. 33—56), S. 48—54; Esnault, La Sémantique, S. 126 fï. u. Imagination, S. 21—24; Migliorini, Saggi, S. 16—18. Er schlägt als Bezeichnung für diese Erscheinung den Begriff „synonymische Radiation" („irradiazione sinonimica") vor.

212

Historische

Semantik

'High Church' gekommen, die dann ihrerseits die Bedeutung des Gegenbegriffs entsprechend modifiziert hat (Stern, S. 219). Neben Analogien zwischen Synonymen und Gegenbegriffen können audi lockerere Ähnlichkeitsbeziehungen eine Rolle spielen, insbesondere das, was man „ F e l d b e w u ß t s e i n " nennen könnte, die Beeinflussung durch andere Wörter aus dem gleichen Vorstellungskreis. Die Sperbersdien Beispielreihen f ü r die „Expansion" könnten in gewissem Grad durdi solche Faktoren bedingt sein. Er führt z. B. ja eine ganze Reihe von Beispielen aus der französischen Soldatensprache dafür an, daß Waffenbezeichnungen f ü r Nahrungsmittel, Küchenutensilien oder Küchenarbeiten gebraucht wurden: 'tank' 'cuisine roulante', 'shrapnells' 'haricots', 'mitrailler' '¿cosser des haricots', 'sous-marin' 'cuisine roulante* {Einführung, S. 45 f.). Den nötigen Anstoß dazu haben sicher Affektäußerungen gegeben, aber zu ihrer Verbreitung könnten Analogiebildungen beigetragen haben. Uber all diese Phänomene und ihre jeweilige Bedeutung im Gesamtaufbau der diachronischen Semantik wird man mehr wissen, wenn erst einmal verläßliches Material vorliegt (vgl. Porzig, Idg. Jahrbuch, 12, S. 13 ff.). Von großem methodologischem Interesse ist die Analogiewirkung, die von fremds p r a c h l i c h e n (mundartlichen, fachsprachlichen oder technischen) Ausdrücken ausgeht. Dabei geht es uns im Augenblick nur um die Nachahmung solcher Fremdwörter, die den einheimischen bedeutungsmäßig ähneln, ohne jedoch lautlich an sie anzuklingen: Fälle wie frz. 'parlement', das in seiner Bedeutungsentwicklung durch engl. 'Parliament' beeinflußt worden ist, gehören dagegen zur Gruppe der mehrschichtigen Übertragungen. Überdies interessieren uns hier nur die Bedeutungsentlehnungen; die eigentlichen Lehnübersetzungen (lat. 'conscientia' — 'Gewissen'; engl, 'man in the street' — f r z . 'l'homme de la rue') betrachten wir in unserem Rahmen dagegen als morphologische, nicht als semantische Entlehnungen. Der Vorgang der Bedeutungsentlehnung läßt sich gut an der Geschichte des Wortes 'hobby' illustrieren, da wir hier den genauen Tatbestand entschieden besser kennen, als es sonst oft möglich ist. Laut N E D taucht die vollere Form 'hobby-horse' 1589 f ü r 'Kinderspielzeug' auf, und kaum ein Jahrhundert später ist der bildliche Gebrauch 'Lieblingsgegenstand oder -beschäftigung' belegt. Das Wort ist dann später von Sterne aufgegriffen worden, der es zu einem wichtigen Motiv seines Tristram Shandy gemacht hat. Im Deutschen ('Steckenpferd') und im Französischen ('dada') ist die Entwicklung ähnlich verlaufen: in beiden Sprachen ist das Kinderspielzeug zur Bezeichnung einer 'Lieblingsbeschäftigung' geworden, wobei sich nur die Konnotationen etwas unterscheiden. Weekley (Romance of Words, S.91) hat diese Entsprechung als Beispiel f ü r „parallel metaphors in different languages" registriert. Eingehendere Untersuchungen haben jedoch erbracht, daß es sich um Entlehnungen handelt. Sowohl im Französischen als auch im Deutschen taucht die neue Bedeutung etwa ein Jahrhundert später auf als im Englischen, und z w a r beide Male zuerst in Übersetzungen des Tristram Shandy, von wo sie sich schriftsprachlich sehr rasch weiter aus-

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

breitet. 4 3 7 A u d i ist sie nicht a u f diese beiden Sprachgemeinschaften

213 beschränkt,

sondern k o m m t in fast allen n o r d - und mitteleuropäischen Sprachen v o r ; dagegen f e h l t sie a u f den drei g r o ß e n südlichen H a l b i n s e l n : dieses V e r b r e i t u n g s gebiet (Isoglosse) l ä ß t a u f eine gewisse i n t e r n a t i o n a l e Ausstrahlungskraft schließ e n , die vermutlich v o m Deutschen ausgeht. 4 3 8 Dieses Ergebnis sollte uns in doppelter H i n s i c h t zur L e h r e dienen. Z u m einen w i r k e n B e d e u t u n g s v e r ä n d e r u n g e n

oft n u r scheinbar einfach und

über-

sichtlich. „ I t is, therefore, e r r o n e o u s to t h i n k o f the meanings o f a w o r d as a l w a y s derived the one f r o m the o t h e r in a close c o n c a t e n a t i o n f r o m a f u n d a m e n t a l meaning as source . . . E v e n t h o u g h such a chain o f meanings is psychol o g i c a l l y unimpeachable it m a y still be i n c o r r e c t unless possible a n a l o g i c a l influences are weighed in c o n s i d e r i n g t h e semantic history o f a w o r d " (Kroesch, Collitz

Studies,

S. 1 8 8 ) . D i e G e f a h r einer falschen B e u r t e i l u n g h ä n g t v o n dem

allgemeinen H i n t e r g r u n d a b . W e i l viele der v o m „ S t u r m und D r a n g " p r o p a g i e r ten literarischen S c h l a g w ö r t e r aus dem Englischen und Schottischen stammen 4 3 9 , w i r d m a n automatisch nach diesbezüglichen E n t l e h n u n g e n suchen, wohingegen der Bedeutungseinfluß v o n lat. 'ars' und 'virtus' a u f ae. 'crîeft' weniger offen z u t a g e liegt und nur durch Einzeluntersuchungen festzustellen ist. Auch v o n dieser Betrachtungsweise aus gesehen w i r d der „ G l a u b e an die U r b e d e u t u n g " und das „falsche E t y m o l o g i s i e r e n " zu F a l l gebracht. D i e M e t h o d e v o n K r o e s c h l ä ß t uns auch v o r einem anderen, noch wichtigeren Trugschluß a u f der H u t sein. M a n k ö n n t e ihn den „Trugschluß

der

P a r a l l e l e n t w i c k l u n g " n e n n e n . ' H o b b y ' ist nur ein kleines Beispiel. I n einschlägigen Büchern tauchen i m m e r w i e d e r Zusammenstellungen v o n Bedeutungsveränderungen auf, die in verschiedenen Sprachen ähnlich v e r l a u f e n ; m a n glaubte, Vgl. fürs Dt. J . A. Walz, „Steckenpferd" (ZfdWf, 13, 1911/12, S. 124—128) u. für das Frz. P. Barbier, „English Influence on the French Vocabulary" (SPE, Tracts, 7, 1921), S. 31 und meine Miszelle in FM, 15, 1947, S. 214. 438 Vgl. Holl, 'stokpaardje', schwed. 'käpphäst' (ähnlich im Dan. u. Norweg.) ; russ. 'konëk', poln. 'konik', tschech. 'konicek'; lit. 'arkliukas'; finn. 'keppihevonen', ung. 'vesszôparipa'. Ober den Vorrang des engl, oder dt. Vorbildes siehe Hellquist, Svensk Etymologisk Ordbok unter 'käpp'. 4 3 9 Vgl. zu diesen Lehnbildungen die gründliche Studie von A. B. Stiven, Englands Einfluß auf den deutschen Wortschatz (Diss. Marburg, 1936); vgl. auch L. P. Smith, „Four Words: Romantic, Originality, Creative, Genius" (SPE, Tracts, 17, 1924); R. Ullmann—H. Gotthard, Geschichte des Begriffes 'romantisch' in Deutschland ( = Germ. Studien H. 50; Berlin, 1927); F. Baldensperger, „'Romantique', ses analogues et ses équivalents" ( H a r v a r d Studies and Notes in Philology and Literature, 19, 1937, S. 13—105) u. F. Madcenzies Miszelle in Notes and Queries, 1946. Wellander (I, S. 103—137) lehnt es ab, zwischen Lehnübersetzungen und Bedeutungsentlehnungen zu unterscheiden. Seiner Meinung nach können letztere nur dann zustande kommen, wenn zwei Wörter lautähnlich sind (dt. 'Ton' beeinflußt durch frz. 'ton'); andernfalls handelt es sich immer um Lehnübersetzungen fester Verbindungen, aus denen sich der neue Sinn dann ablöst. Über parallele Bedeutungsübergänge, die keine sind, vgl. ebd., I, S. 129—136.

437

214

Historische

Semantik

daran die grundsätzliche Gleichartigkeit menschlichen Geistes ablesen zu können; und je mehr man nach „Elementarverwandtschaft" suchte, desto wichtiger wurde ihre panchronische Bedeutung. Bei den hier bereits behandelten Bedeutungsveränderungen haben wir diesbezügliche Beispiele gefunden, die von den verschiedensten Voraussetzungen ausgehen: Beispiele für technische Namengebung ('Wolkenkratzer'), Euphemismen ('Bär', 'belette'), einfache Metonymien ('Zunge') usw. Man wird sich also nicht mehr mit solchen bloßen Reihungen begnügen dürfen; bevor man etwas über ihre panchronische Geltung sagt, ist immer erst zu prüfen, ob es sich nicht um Bedeutungsentlehnungen handelt. Sogar eine seit eh und je bestehende Gruppe wie 'capio', 'concipio'; 'comprendre'; 'begreifen'; 'grasp' u. ä. wird kaum ungeschoren bleiben (vgl. Kroesch, Language, 2, S. 45 u. Collitz Studies, S. 180). Bei vielen angeblich panchronischen Prozessen stellt sich dann oft heraus, daß sie bloß diachronisch sind. Trotzdem bleiben nodi genügend Fälle dafür übrig, da die grundsätzliche Ähnlichkeit der Assoziationsvorgänge nicht zu bezweifeln ist: die Entlehnung hätte sich vielleicht überhaupt nicht durchsetzen können, wenn es an diesen Voraussetzungen gefehlt hätte. Was für panchronisdie Zusammenhänge spricht, wird man trotzdem genau prüfen müssen, womit vielleicht ein neuer und wissensdiaftlidierer Abschnitt in der Geschichte dieses Zweiges der Semantik eingeleitet wird. Das Schlußkapitel des vorliegenden Buches wird zeigen, welche Konsequenzen dieses methodische Prinzip f ü r die Forschung hat. Fassen wir zusammen: Kategorie I a, Namenübertragungen aufgrund von Sinnähnlichkeit, in vieler Hinsicht der wichtigste Teil der diachronischen Semantik, gliedert sich wie folgt: 1. D i r e k t e Ü b e r t r a g u n g e n : aufgrund von wesensmäßiger, synästhetischer oder gefühlsmäßiger Ähnlichkeit; 2. v e r m i t t e l t e o d e r a n a l o g e Ü b e r t r a g u n g e n : innerhalb einer Sprache (synonymische, antonymische oder „Feld"-Analogie) bzw. von einer Sprache zur andern (Bedeutungsentlehnung). b) N a m e n ü b e r t r a g u n g e n aufgrund von Sinn b e r ü h r u n g . Wenn das Wort 'Stadt' f ü r deren Bewohner gebraucht wird — 'die ganze Stadt war bestürzt', engl, 'town and gown' ('Bürger' und 'Studenten'); wenn wir den Namen 'Bau' vom Vorgang auf sein Ergebnis übertragen; wenn der literarische 'Stil' seine Bezeichnung von 'stilus' als dem Schreibgerät erhält und engl, 'engine' ('Maschine') von 'ingenium', dem Talent, dem sie ihre Entstehung verdankt; wenn 'Trommel' nicht nur das Instrument, sondern auch den Spieler bezeichnet; wenn man von einem Schiff als 'Segel' in einer 'Flotte von zwanzig Segeln' sprechen kann, so unterscheiden sich diese Beispiele nur durch die A r t der Beziehung von Kategorie I a. Das Grundschema gilt auch d a f ü r ; auch hier werden N a m e n aufgrund von Sinnverbindungen übertragen; es handelt sich hier jedoch nicht um eine Ähnlichkeitsbeziehung, sondern entweder um ein räumliches, zeitliches oder kausales Verhältnis. Das Assoziationsfeld eines Wortes ist nicht auf ähnliche Sinne beschränkt, sondern kann alles, was sonst damit

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

215

verbunden ist, einschließen. Das Beispiel von Bally auf S. 73 hat gezeigt, d a ß 'Ochse' einerseits 'Kuh', 'Bulle', 'Kalb', andererseits 'Pflug', 'Joch', 'wiederkäuen' evoziert. Jeder dieser assoziierten Sinne k a n n als Schlußpunkt einer Ü b e r tragung dienen, mag diese nun absichtlich oder unabsichtlich, v o m Sprecher eingeführt oder zuerst vom H ö r e r in mehrdeutigen Wendungen so verstanden worden sein. Übertragungen a u f g r u n d von Sinnberührung sind sehr häufig und haben in der Literatur zur Semantik 4 4 0 u n d Rhetorik, w o sie den alten Kategorien der Metonymie und Synekdoche 441 entsprechen, große Beachtung gefunden. Alle von alters her üblichen Einteilungen: das Symbol f ü r das Symbolisierte, der Erzeuger f ü r das Erzeugnis, das G e f ä ß f ü r den Inhalt, pars p r o toto usw. lassen sich an dieser Stelle in den größeren R a h m e n einordnen. Noch grundlegender ist vielleicht die Zweiteilung, die Gombocz in seinen Vorlesungen über Semantik vorgeschlagen hat. Die Berührung k a n n demnach in einem Nebeneinander oder in einem Nacheinander bestehen: die beiden angrenzenden Sinne können zugleich in einer Vorstellung enthalten sein oder rasch aufeinanderfolgen. Verschiedene Phasen in der Geschichte des Wortes 'Büro' illustrieren die S i m u l t a n e i t ä t. A f r z . 'burel', Diminutiv von 'bure' 'grobes Tuch', w u r d e zur Bezeichnung f ü r ein damit bezogenes Möbelstück, dann zur Bezeichnung des Amtes, w o das Möbel stand, schließlich zur Bezeichnung f ü r den Stab, der in dem A m t arbeitet. Alle diese Übertragungen gehen auf eine Koexistenz der betreffenden Sinne in ein u n d demselben Erfahrungsbereich zurück. Die einzige auf Ähnlichkeit beruhende Übertragung w a r eine Zwischenstufe, als nämlich der N a m e 'Büro' auf jede A r t von Schreibtisch ausgedehnt wurde, mochte er nun mit 'bure' bezogen sein oder nicht (vgl. Vendryes, Langage, S. 233). Die S u k z e s s i o n wird dadurch illustriert, wie engl. u. f r z . 'collation' den Sinn 'leichte Mahlzeit' bekommen hat. Im Benediktinerkloster pflegte sich a n die abendlichen Lesungen und Diskussionen, 'collationes p a t r u m ' , ein kleiner I m b i ß anzuschließen, auf den dann irgendwann einmal der N a m e der ganzen Veranstaltung übergegangen ist ( N y r o p , Sémantique, S. 214). In die G r u p p e der simultanen Sinnberührung gehört nun auch das P h ä nomen der P s e u d o s y n ä s t h e s i e hinein. M a n h a t oft — z u m Teil über 440

441

Zahlreiche Beispiele und Unterteilungen finden sich z. B. bei Darmesteter, S. 45 bis 54; Bréal, Kap. 13; Nyrop, Sémantique, S. 188—228; Carnoy, Kap. 16; Leumann, IF, 45, S. 110 ff.; Stern, S. 326—330 u. Kap. 13, etc. In einer kurzen, aber recht erwägenswerten Anmerkung schlägt Bally vor, Synekdoche, Metonymie und Metapher unter rein logischen Gesichtspunkten auf drei korrelative Begriffe zu bringen: pars pro toto, pars pro parte und totum pro toto. (Ling. gén., S. 137, Anm. 1). [Ullmann zitiert statt pars pro parte fälschlicherweise totum pro parte.] Vgl. auch Konrad, a. a. O., S. 107 u. Trost, Travaux, 6, S. 292: „Vom Standort objektivistischer Formanalyse ist die Metapher gegenüber der Metonymie als Transpositio gegenüber Circumpositio auszugrenzen". Eine eingehende Analyse findet sich auch bei Esnault, Imagination, S. 29—39.

Historische

216

Semantik

Gebühr — hervorgehoben, welche R o l l e die Einheit der Perzeption, die verschiedene Sinneseindrücke gleichzeitig umfaßt 4 4 2 , bei intersensorischen Übertragungen spielt: wenn man den Duft einer Blume riecht, ihre Form und Farbe betrachtet und sie gleichzeitig auch anfühlt, so ist es ganz natürlich, daß die verschiedenen Sinneseindrücke miteinander assoziiert werden. A n dieser Stelle sind die methodologischen Konsequenzen aus diesem Sachverhalt zu ziehen. Die wirkliche Synästhesie, die in der „audition colorée" psychologisch ihr Extrem erreicht, wurzelt ganz offensichtlich in der subjektiven Auffassung eines wahrnehmungsmäßigen, begrifflichen oder gefühlsmäßigen Tertium

comparationis

zwischen beiden Ausdrücken. Ein Laut wird als 'schrill' oder 'durchdringend' bezeichnet, weil die beiden Sinneswahrnehmungen, die Eindrücke, die sie hervorrufen, oder ihr Gefühlsbeiklang irgendwie als analog empfunden werden. In Baudelaires Formulierung: Les parfums, les couleurs et les sons se répondent. Il est des parfums frais comme des chairs d'enfants, Doux comme les hautbois, verts comme les prairies, (Correspondances) Jedoch entsprechen nicht alle Verbindungen disparater Sinneseindrüdce diesem Typus. Wenn Longfellow schreibt: „When from the forest at night, through the s t a r r y silence the wolves howled" ( E v a n g e l i n e , I, 2), meint er in Wirklichkeit „starlight a n d silence". Ebenso ist „green weight of laureis" in Oscar Wildes Gedicht A Vision nur eine eindrucksvollere und prägnantere dichterische Wendung für „the weight o f green laureis", während „the fragrant darkness of her hair" in Ernest Dowsons Terre promise sich sowohl in „the darkness o f her fragrant hair" als auch in „the fragrance a n d darkness of her hair" auflösen ließe. Hier erreicht der stilistische Effekt der grammatischen Subordination (Hypallage und Zeugma), also die syntaktische Anordnung, die Verschmelzung der verschiedenen Sinnesempfindungen zu einem festen, unauflöslichen Ganzen, das wie eine Synästhesie wirkt. Ihrer Genese nach sind solche Fälle aber ausdrücklich von echten Ähnlichkeitsübertragungen zu unterscheiden. Man muß natürlich immer mit der Möglichkeit einer A n a l o g i e b i l d u n g rechnen, bevor man einen Bedeutungswandel dieser Untergruppe zuweist. Die Verschiebung 'hôtel' > 'cuisine' könnte man für ein klassisches Pars pro toto halten, wenn man nicht wüßte, daß sie in Analogie zu 'maison' > 'cuisine' und nicht auf Grund einer Sinnberührung entstanden ist. Jedes Beispiel will für sich beurteilt sein. So wird man auch die „panchrone" Reihe yXtoaaa; 442

Vgl. z.B. P. Souriau, L'Imagination de l'artiste (Paris, 1901), S. 96; J. van Ginneken, „Het Gevoel in Taal en Woordkunst" (Leuvensche Bijdragen, 9, 1911, S. 265—356; ebd., 10, 1912, S. 1—156 u. S. 173—273), 10, S. 127 f.; H. Falk, a.a.O., S. 61 ff.; H. Larsson, Poesiens Logik (Stockholm, 4 1922), S. 114 f.; E. v. Erhardt-Siebold, PMLA, 47, 1932, S. 584; W. Silz, PMLA, 57, 1942, S. 482.

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

217

'lingua'; 'langue'; 'tongue'; 'Zunge'; 'jazik' usw. revidieren müssen, nachdem Kroesdi ( C o l l i t z Studies, S. 180) herausgefunden hat, d a ß ahd. 'zunga' in der Bedeutung 'Sprache' auf lat. 'lingua' zurückgeht. Andererseits braucht man das panchronische Prinzip auch nicht ganz aufzugeben. G. Révész benutzt diese Übertragung als Argument f ü r den P r i m a t der Lautsprache gegenüber der Gebärdensprache und f ü h r t dazu eine stattliche Reihe von Beispielen aus Eingeborenensprachen von Polynesien über A f r i k a bis Z e n t r a l a m e r i k a an 443 , der wir noch das Wogulische, eine wenig verbreitete finno-ugrische Sprache aus Westsibirien, hinzufügen könnten (Gombocz, S. 94). All diese Beispiele deuten unverkennbar auf „Urverwandtschaft". II.

Sinnübertragungen

a) a u f g r u n d von N a m e n ä h n l i c h k e i t . Bei der E r ö r t e r u n g der synchronen Assoziationsgeflechte um N a m e und Sinn (s. o. S. 74) sind wir auch auf ein Beispiel gestoßen, bei dem zwei W ö r t e r auf G r u n d ihrer Lautähnlichkeit assoziiert worden sind: Die erste H ä l f t e von 's a m - blind', in der vermutlich lat. 'semi' steckt, wird mit ähnlich klingendem 's a n d ' in V e r b i n d u n g gebracht. Diese Assoziation hat sowohl formale als auch bedeutungsmäßige V e r ä n d e r u n gen b e w i r k t : aus 'sam-blind' w i r d 'sand-blind', dem es sich d a n n auch in der Bedeutung a n p a ß t . D r . Johnson gibt in seinem Wörterbuch folgende E r k l ä r u n g d a z u : „ H a v i n g a defect in the eyes, by which small particles a p p e a r to fly before them" (vgl. Stern, S. 234). Auch die Geschichte der englischen Wendung ' c u r r y f a v o u r with someone' läßt diese doppelte Tendenz erkennen. Ursprünglich hieß es 'curry Favel', wobei 'Favel' den 'Falben' bezeichnete, der als Symbol der Unredlichkeit aus dem mittelalterlichen Roman de Fauvel bekannt w a r . Zunächst bedeutete die Wendung 'unaufrichtig schmeicheln'. Die neuen Assoziationen haben einen F o r m wandel, 'favel' > ' f a v o u r ' , u n d einen Bedeutungswandel, 'Gunst suchen' b z w . 'sich bei jemandem einschmeicheln', eingeleitet (Stern, S. 236). D a s französische A d j e k t i v 'plentureux', heute 'plantureux', ist von dem alten Substantiv 'plenté' (engl, 'plenty') abgeleitet u n d bedeutete ursprünglich 'reichlich, üppig', was noch in 'un repas p l a n t u r e u x ' erhalten ist. U n t e r dem Einfluß von 'plante' w u r d e es allmählidi ausschließlich im Sinne von ' f r u c h t b a r ' gebraucht, u n d eine noch im 17. J a h r h u n d e r t gebräuchliche W e n d u n g wie 'une saignée plantureuse' klingt heute komisch ( N y r o p , Sémantique, S. 328). Ähnlich ist f r z . 'recouvrir' im 17. J a h r h u n d e r t mit 'recouvrer' ( < 'recuperare') durcheinandergebracht worden, u n d sogar einem Malherbe sind Fehler wie „qui ont recouvert leur santé" unterlaufen; G r a m m a t i k e r haben diesen Gebrauch des P a r tizips P e r f e k t später sogar noch sanktioniert ( H a t z f e l d , Bedeutungsverschiebung, S. 22). 413

G. Révész, Ursprung

und Vorgeschichte

der Sprache (Bern, 1946), S. 76 f.

Historische

218

Semantik

D i e s e wenigen Beispiele mögen genügen, u m das ziemlich schwer faßliche und unberechenbare P h ä n o m e n zu beleuchten. D a s zugrunde liegende K r ä f t e spiel ist k l a r zu durchschauen: die Bedeutungsbeziehung v e r ä n d e r t sich a u f eine L a u t ä h n l i c h k e i t der beiden N a m e n hin, was in dem f ü r die Q u e l l e n der P o l y semie entwickelten D i a g r a m m (s. o. S. 1 6 4 ) so aussieht:

Es h a n d e l t sich u m eine genaue P a r a l l e l e zu den bisher untersuchten N a m e n übertragungen, n u r m i t dem einen Unterschied, d a ß diesmal die beiden N a m e n durch eine p u n k t i e r t e L i n i e v e r b u n d e n sind, wohingegen die beiden S i n n e unverbunden bleiben. Zusätzliche M e r k m a l e dieses T y p s sind: m a n g e l n d e V e r t r a u t heit m i t dem beeinflußten W o r t b z w . m i t seiner genauen B e d e u t u n g ; o f f e n b a r m u ß auch — wie S t e r n , S . 2 3 0 b e m e r k t — irgendein B e d e u t u n g s a n k l a n g oder zumindest irgendein Z u s a m m e n h a n g gegeben sein. S t a t t eine verbindliche K l a s s i f i k a t i o n f ü r die äußerst fließenden und wenig b e k a n n t e n Prozesse vorzulegen 4 4 4 , w e r d e ich v i e l m e h r genau zu bestimmen v e r suchen, was tatsächlich in diese K a t e g o r i e hineingehört, deren G r e n z e n m i r in m e h r als einer Hinsicht schlecht abgesteckt zu sein scheinen. L a u t ä h n l i c h k e i t

und

Analogie.

Kroesch

und S t e r n

haben

sich beide der bisher üblichen K l a s s i f i k a t i o n angeschlossen, wonach die „ B e e i n flussung

durch

Lautassoziationen"

(„phonetic

associative

interference")

als

„ A n a l o g i e " gilt. Allerdings macht S t e r n a u f „viele wichtige Unterschiede" z w i schen diesen V e r ä n d e r u n g e n u n d a n d e r e n F o r m e n der B e d e u t u n g s a n a l o g i e a u f m e r k s a m (S. 2 3 0 f.). D e r betreffende V o r g a n g h a t z w e i f e l l o s viel m i t der A n a logie g e m e i n s a m ; wie alle V o l k s e t y m o l o g i e n , so beruht auch er offensichtlich 444

Am wichtigsten ist hierzu die bereits erwähnte Studie von Hatzfeld, Uber Bedeutungsverschiebung durch Formähnlichkeit im Neu französischen mit ausführlichem Forschungsbericht im 2. Kap. Die Hatzfeldsche Klassifikation ist für unsere Zwecke aber ungeeignet, da sie die „mehrschichtigen Übertragungen" mit dazunimmt. Weiter informieren: Nyrop, Sémantique, S. 3 2 6 — 3 3 6 ; Kroesch, Language, 2, S. 36; Falk, S. 9 7 — 1 0 7 ; Carnoy, S. 211 ff.; Ammann, Neue Jahrbücher, 1; Hermann, a . a . O . , S. 88—93; Stern, S. 2 3 0 — 2 3 6 ; Dauzat, Études, S. 253—261 sowie unsere Literaturangaben zur Volksetymologie in [Anm. 193], Diese Erscheinungen haben in der Altphilologie viel Beachtung gefunden; siehe insbes. O . H e y , „Ein Kapitel aus der lateinischen Bedeutungsgeschichte" (Archiv für lat. Lexikographie, 13, 1904, S. 201—224), S. 209—218; E. Löfstedt, Vermischte Studien zur lateinischen Sprachkunde und Syntax (Lund u.a., 1936), S. 9 3 — 1 0 4 ; Struck, a . a . O . , S. 7 1 — 7 8 ; A. Ernout, Philologica (Paris, 1946) u. ö.; vgl. seinen Aufsatz „Incino-incendo" (Archivum Linguisticum, 1, 1949, S. 30—34).

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

219

auf Gruppenbildung, auf dem assimilierenden Einfluß irgendeines assoziierten Wortes. Aber damit hört die Parallelität auch auf. Es handelt sich hier nicht um vermittelte Übertragungen. Wenn engl, 'shamefast' 'bescheiden, schüchtern' unter dem Einfluß von 'face' Form und Bedeutung zu 'shamefaced' 'beschämt' geändert hat (Kroesch, Language, 2, S. 36; Stern, S. 235), so beruht die Bedeutungsverschiebung nicht auf der N a c h a h m u n g irgendeiner bei 'face' eingetretenen Veränderung. 'Face' hat nicht als Verbindungsglied, als „Relaisstation" gedient: es hat seinen eigenen ursprünglichen Sinn beigesteuert, der auf einen anderen, ähnlich klingenden Namen übergegangen ist. Mir ist kein Beispiel d a f ü r bekannt, daß eine semantische Analogie aufgrund rein formaler Ähnlichkeit zweier N a m e n zustande gekommen ist. „ N a t u r a non facit saltus": und um nichts weniger als um das würde es sich handeln, wenn wir annehmen, daß ni sorgsam s2, den Sinn eines lautähnlichen n 2 , umgeht, um sich direkt mit einem s3 zu verbinden, nur weil n2 das auch bereits getan hat. Es ist viel wahrscheinlicher, daß es zuerst s2 angenommen hat, woraufhin es dann durch mehrschichtige Analogie auf s 3 übertragen werden konnte. L a u t ä h n l i c h k e i t u n d V o l k s e t y m o l o g i e . Über das genaue Verhältnis dieser beiden Faktoren gehen die Meinungen auseinander. Für N y r o p hat die Volksetymologie zwei Seiten: sie kann entweder die Wortform oder die Wortbedeutung beeinflussen (S. 326). Kroesch und Stern (S. 233) scheinen diese Ansicht in etwa zu teilen. Wieder andere, z.B. Carnoy (S. 224), wollen beide Gruppen lieber auseinanderhalten. H a t z f e l d empfiehlt geradezu, zwischen „Lautetymologie" und Volksetymologie zu unterscheiden, wobei sich letztere auf die formalen Einflüsse beschränken sollte; aber er gesteht zu, daß eine solche Trennung oft unmöglich ist (S. 63 ff.). Tatsächlich ändert sich der Sache nach [es geht um Helianthus tuberosus = Topinambur oder Jerusalemartischocke] kaum etwas, wenn ital. 'girasole' 'Sonnenblume' zu 'Jerusalem' umgeformt wird oder 'cocktail' zu 'coq-d'ail' im volkssprachlichen Französisch (Dauzat, Études, S. 255), obgleich nicht einmal hier der Sinnbeiklang unbeeinflußt bleibt. Aber wenn 'fors-bourg' 'außerhalb der Stadt' als 'faubourg' d. h. 'faux-bourg' 'falsche Stadt' gedeutet wird, so ist die damit verbundene Bedeutungsveränderung keineswegs unbedeutend. Das gleiche gilt f ü r die Deutung des mhd. 'sinvluot' 'große Flut' als 'Sündflut'. Bei einem Phänomen wie der Volksetymologie scheint es mir besonders unangemessen zu sein, scharfe Grenzen ziehen zu wollen, weil sie ein sehr eindrucksvolles Symptom f ü r die unauflösliche Einheit von Form und Bedeutung ist, die in der Sprachwissenschaft von heute als Axiom gilt. Mit der „assoziativen Etymologie" wird die Grenze zwischen Morphologie und Semantik überschritten, was natürlich nicht heißt, daß der Semantiker sich auch mit dem zu beschäftigen hätte, was jenseits der Grenze liegt. Lautähnlichkeit und mehrschichtige Übertragung e n . Wie wir oben sahen, ist in den meisten Fällen von Namenähnlichkeit

220

Historische

Semantik

irgendein Sinnanklang bzw. ein Sinnzusammenhang unerläßlich. Wenn sich dieser Faktor stärker bemerkbar macht, wenn man den Eindruck hat, daß er bei der Veränderung mitgewirkt hat, dann gehört der Vorgang in die dritte Kategorie, zu den mehrschichtigen Übertragungen. Auch hier gibt es wieder keine klare Trennungslinie. Man nimmt z. B. gemeinhin an, daß engl, 'b e 1 fry' seinen jetzigen Sinn 'bell tower' ('Glockenturm') unter dem Einfluß von 'bell' erhalten hat, wohingegen 'belfry' ursprünglich einen 'Turm für den Angriff von Festungen' bezeichnete, ebenso wie afrz. 'berfroi', das auf ein germanisches Kompositum ('bergen' + 'Friede') zurückgeht (vgl. Weekley, Romance of Words, S. 164). Diese Erklärung ist zweifellos richtig; dennoch möchte ich diese Veränderung ungern zur Kategorie I I a rechnen (vgl. Stern, S. 235). Außer der Lautähnlichkeit muß auch eine Assoziation aufgrund einer Sinnberührung mitgewirkt haben; das wird von frz. 'beffroi' bestätigt, das ebenfalls den Sinn 'Glockenturm' und sogar 'Glocke' ausgebildet hat, ohne daß die Möglichkeit einer Lautähnlichkeit oder einer Lehnbildung bestanden hätte. Das englische Beispiel gehört darum in die I I I . Kategorie, während das französische eine echte Namenübertragung aufgrund von Sinnberührung ist. b) S i n n ü b e r t r a g u n g e n aufgrund von Namen b e r ü h r u n g . Engl, 'capital' kann für sidi gebraucht je nach dem Kontext 'Vermögen', 'Hauptstadt', 'großer Buchstabe' bedeuten. Engl, 'strike' bedeutet, von einem Schiff gesagt, die Flagge streichen; wenn das Verb dagegen in bezug auf Arbeitskämpfe gebraucht wird, besagt es, daß die Arbeiter die Arbeit niedergelegt haben. In diesen beiden sowie in zahllosen anderen Fällen geht der Bedeutungswandel auf die syntagmatische Assoziation zurück, die sich zwischen Namen herausgebildet hat, die häufig im selben Kontext vorkommen; und zwar so häufig, daß nicht immer die ganze Wendung ausgesprochen zu werden braucht: der Sinn eines angrenzenden Wortes geht sozusagen auf das benachbarte Wort über, das aufgrund einer besonderen Art von bedeutungsmäßiger Ellipse 445 für die gesamte Konstruktion stehen kann. Wie bereits erwähnt, hat Michel B r i a l diesen Prozeß als „contagion" aufgefaßt, was besagt, daß ein Wort von dem Sinn eines anderen, mit dem es oft in Kontakt kommt, „angesteckt" wird. 445

Uber die allgemeine Bedeutung der Ellipse für die Sprache (Kürzung, Kurzform, Auslassung, Unterdrückung usw.) siehe insbes. W . Horn, „Sprachkörper und Sprachfunktion" (Palaestra, 135; Berlin, 1921); vgl. auch Paul, Prinzipien, Kap. 18; Jespersen, Language, S. 273 ff. u. Philosophy of Grammar, S. 3 0 9 — 3 1 2 u. passim; Stern, S. 2 3 7 — 2 5 8 (berücksichtigt Sundens Theorie); Bally, Ling. gen., S. 159 f., etc. Uber die allgemeine und semantische Funktion der Ellipse siehe insbes. Wellander, II u. I I I ; zu rein semantischen Aspekten Breal, S. 1 6 3 — 1 7 2 u. 2 2 1 — 2 2 6 ; Hey, a . a . O . , S. 2 0 2 — 2 0 9 ; Nyrop, Semantique, S. 5 8 — 6 9 ; Falk, S. 9 3 — 9 7 ; Sperber, Einführung, S. 13 f.; Sandfeld-Jensen, Sprachwissenschafl, S. 38 f.; Gombocz, S. 103 bis 109; Carnoy, S. 2 3 2 — 2 4 8 ; W . Franz, „Ellipse und Bedeutungswandel" (ESt, 62, 1927/28, S. 2 5 — 3 4 ) ; Stern, S. 2 5 8 — 2 7 7 ; Holt, a . a . O . , S. 19; Streng-Renkonen, a. a. O., S. 104 f.; Struck, a. a. O., S. 81 f., etc.

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

221

Das zugrunde liegende Parallelogramm der Kräfte ist das gleiche wie in der vorigen Kategorie, nur daß die punktierte Linie zwischen ni und n2 jetzt eine Berührungsassoziation und keine Ähnlichkeitsassoziation darstellt. Mit Kontiguität ist häufige Verwendung im gleichen Syntagma, aber nicht notwendig unmittelbare Nadibarsdiaft gemeint; man denke nur an frz. 'ne . . . pas, point, rien, personne, jamais'. Ein anderes Beispiel ist engl, 'but' in folgender Bedeutung: „We have here but five loaves and two fishes", was einem ae. 'ne . . . bütan' entspricht: „We nabbad her büton flf hläfas and twegen fiscas", d . h . 'nichts außer'. Später wurde die Negationspartikel ausgelassen, und ihr Sinn wurde von 'but' übernommen, dessen ursprünglicher Sinn sich noch in dem verwandten holl. 'buiten' 'außen' erhalten hat (Horn, Palaestra, 135, S. 90; Breal, S. 223 f.). Die semantischen Auswirkungen der Ellipse sind so oft erörtert worden, daß wir nicht näher darauf einzugehen brauchen, nachdem wir uns erst einmal über ihre Stellung im System klargeworden sind. Alle sonst noch vorgeschlagenen formalen Klassifikationen können dabei mitberücksichtigt werden. Die soziologische Betrachtungsweise, die von Breal und etwas ausführlicher von Franz skizziert worden ist, sollte bei künftigen Untersuchungen eine große Rolle spielen. Wie wir im Abschnitt über die synchrone Polysemie gesehen haben (S. 108 f.), bieten Berufsgruppen und andere besonders ausgebildete Interessengemeinschaften mit einer eigenen Gruppensprache die besten Voraussetzungen f ü r solche Kürzungen. Der intransitive Gebrauch von 'they found, they killed' ist bei der Fuchsjagd ganz selbstverständlich; 'open on' statt 'open fire on' und 'put to sea' statt 'put ship to sea' stammen eindeutig aus der Seemannssprache; 'bill' statt 'bill of exchange' hat sich zuerst in Geschäftskreisen herausgebildet; 'Minister' statt 'Kabinett-Minister' in der Politik, wobei 'Minister' auf das Römische Imperium zurückgeht und ursprünglich dem 'Fürstendiener' galt (Breal, S. 165; Franz, ESt, 62, S. 26 ff.). Kürzungen wie 'private [soldier]', 'the main [sea]', 'daily [paper]' und 'constitutional [walk]' sind bereits genannt worden. Auf den offensichtlichen Zusammenhang dieser Kategorie mit den rhetorischen Begriffen der Bedeutungsspezialisierung ('praktizierender Katholik') und der Bedeutungsbesonderung ('the City' = die Londoner City) braucht nicht weiter eingegangen zu werden. 4452 „Voces mediae" wie lat. 'augurium' > frz. 'heur' in 'heureux' (vgl. 'bonheur'-'malheur') haben ebenfalls durch die Ellipse eine Bedeutungsverbesserung bzw. Bedeutungsverschlechterung erfahren (s. o. S. 112; vgl. Carnoy, S. 151 ff.). E i g e n n a m e n a l s A p p e l l a t i v e . Bei dem Entwurf unseres Schemas haben wir bis jetzt nur Appellative berücksichtigt, da mit dem Ubergang vom Eigennamen zum Gattungsnamen ein neues Element hinzukommt. Anstelle des 445a

[Ulimann folgt Stern, der auf S. 408—420 zwischen „the pregnant use of a word" („specialization") und „the unique use of a word" („particularization") unterscheidet.] Vgl. auch Wellander, II, S. 83 f.

222

Historische Semantik

bloßen Identifizierens müssen sie eine Bedeutung, einen „Sinn" annehmen. Von diesem einen Unterschied abgesehen bleiben die grundlegenden Beziehungen aber gleich und kommt man zu genau entsprechenden Kategorien. Den etwas irreführenden Terminus „Sinn" ersetzen wir dabei allerdings besser durch Ogden-Richards' „Vorstellungsinhalt" („reference"). I a) Namenübertragung aufgrund einer Ähnlichkeit der beiden Vorstellungsinhalte: 'Caesar' > 'Kaiser', russ. 'czar', ung. 'csdszar'. I b) Namenübertragung aufgrund einer Berührung der beiden Vorstellungsinhalte: engl, 'mackintosh' heißt so nach dem Erfinder, der als erster solche Regenmäntel herausbrachte. II a) Übertragung des Vorstellungsinhalts aufgrund einer Namenähnlichkeit: in Frankreich ist 'Saint Genou' ('Genulphus') Schutzpatron der Gichtkranken, weil sein Name an 'genou' 'Knie' anklingt (Nyrop, Sémantique, S. 333). II b) Übertragung des Vorstellungsinhalts aufgrund einer Namenberührung: 'Renard goupil' > 'renard'. In allen wissenschaftlichen wie volkstümlichen Darstellungen zur Semantik findet man zahlreiche Beispiele zu dieser Gruppe, insbesondere bei Weekley. Migliorini diskutiert in seiner bereits erwähnten Monographie Dal Nome proprio al nome comune alle semantischen Konsequenzen dieses Vorgangs durch. III. M e h r s c h i c h t i g e r Bedeutungswandel Bei allen früheren Klassifikationen des Bedeutungswandels hat es immer wieder Grenzfälle gegeben, die genausogut zwei oder mehr verschiedenen Kategorien hätten zugeordnet werden können; infolge ihrer relativ eindeutigen Abgrenzungen hat auch die funktionale Theorie Schwierigkeiten dieser Art (vgl. Gombocz, S. 98 f.). Ihnen suchen wir nun dadurch zu begegnen, daß wir eine eigene Gruppe für „mehrschichtige Übertragungen" ansetzen. Statt uns mit mehreren möglichen Lösungen zufriedenzugeben, gehen wir von der Annahme aus, daß m e h r e r e A s s o z i a t i o n s t y p e n g l e i c h z e i t i g auf einen Bedeutungswandel hingewirkt haben können. Natürlich ist auch so noch mit Grenzfällen und Fehlergrenzen zu rechnen: manchmal wird es eine Ermessensfrage sein, ob der Nebeneinfluß wirklich so stark ist, daß wir von einem mehrschichtigen Prozeß sprechen können; bei Einzeluntersuchungen könnte sich zum Beispiel herausstellen, daß gar keine Ellipse vorgelegen hat, wo wir mit dem Zusammenwirken einer Kürzung und einer anderen Assoziation gerechnet hatten. Semantische Systeme dürfen nicht zu starr sein, wenn sie ihrem sich dauernd kaleidoskopartig verändernden Gegenstand angemessen bleiben sollen. Unter diesem Vorbehalt könnte die vorgeschlagene Erweiterung der funktionalen Theorie die Erklärung und Zuordnung vieler konkreter Beispiele erleichtern, die sich bisher der Klassifikation entzogen haben (vgl. Jaberg, ZRPh, 25, S. 601 u. Wellander, I, S. 160 u. II, S. III). Hieraus folgt, daß die gemischte Gruppe genauso aufgebaut ist wie die

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

223

einfachen Übertragungen und alle erdenklichen Kombinationen der vier Haupttypen umfaßt. Der Einfachheit halber werden wir uns auf zweigliedrige Verbindungen beschränken; drei- und mehrgliedrige Beziehungen, die nicht allzu häufig sein dürften, können gegebenenfalls nach dem gleichen Prinzip analysiert werden. Die gemischte Gruppe gliedert sich in drei Untergruppen: mehrschichtige Namenübertragungen, mehrschichtige Sinnübertragungen und Namen-SinnÜbertragungen. Nur bei dieser letzten Gruppe sind wieder mehrere Typen zu unterscheiden. a) M e h r s c h i c h t i g e N a m e n ü b e r t r a g u n g e n . Schon Wundt hat darauf aufmerksam gemacht, daß bei vielen Namenübertragungen Ähnlichkeits- u n d Berührungsassoziationen eine Rolle spielen. Wenn immer man aus dem Verhältnis mit Recht schließen darf, daß beide Kräfte bei dem Prozeß entscheidend mitgewirkt haben, so handelt es sich um eine mehrschichtige Namenübertragung, d. h. ein Name hat sich mit einem neuen Sinn verbunden, der durch Ähnlichkeits- u n d Berührungsassoziationen mit seinem eigenen alten Sinn gekoppelt ist. So leitet sich lat. 'anxius' von 'angere' 'würgen' her, teils weil es ein Tertium comparationis zwischen dem physiologischen und dem entsprechenden psychischen Zustand gibt, teils weil Furcht und Beklemmung oft von körperlichen Zeichen der Beengung — es schnürt einem die Kehle zu — b e g l e i t e t sind (vgl. Falk, a.a.O., S. 18). Das neue Kräftespiel sieht in unserem leicht abgewandelten Diagramm so aus: n,

n.

Die beiden punktierten Linien stehen für die zweifache Assoziationsbeziehung zwischen den beiden Sinnen. Ansonsten entspricht der „Mechanismus" genau dem von Kategorie I. b ) M e h r s c h i c h t i g e S i n n ü b e r t r a g u n g e n . Es kann auch sein, daß zwei ähnlich klingende Namen häufig im gleichen Satz vorkommen. Dies ist eine Randerscheinung, die vielleicht aber doch häufiger ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag, besonders in sich reimenden Wendungen. I m Französischen ist 'Grégoire' zum Spitznamen für den 'Trunkenbold' geworden, weil es sich auf 'boire' reimt, mit dem es häufig in Scherzgedichten zusammensteht: „Reboire! Voilà, voilà Le nec plus ultra Des plaisirs de Grégoire." (Nyrop, Sémantique, S. 356). D e r gleiche doppelte Einfluß mag zur Bedeutungsangleichung von 'hegen' und 'pflegen' geführt haben. 4 4 6 Wie alle Fälle von „Laut446

Ammann, Neue Jahrbücher, 1, S. 223. Viele der von ihm angeführten Beispiele deuten darauf hin, daß die Form des Wortes zuweilen seine Bedeutung beeinflussen

224

Historische

Semantik

beeinflussung" g e h ö r e n diese Beispiele auch z u r V o l k s e t y m o l o g i e ; d a n e b e n

findet

auch eine s y n t a g m a t i s c h e B e r ü h r u n g s t a t t :

c)

N a m e n - S i n n - Ü b e r t r a g u n g e n .

Hier

gibt

es

theoretisdi

vier Möglichkeiten, die alle b e i m B e d e u t u n g s w a n d e l v o r k o m m e n u n d v o n d e n e n einige sogar eine f ü h r e n d e R o l l e d a b e i spielen. 1.

N a m e n ä h n l i c h k e i t

und

Sinnähnlichkeit.

Hierher

gehören z w e i sehr wichtige K a t e g o r i e n a n a l o g e r V e r ä n d e r u n g e n : die „ e t y m o l o gische" o d e r , w i e S t e r n sagt, „ k o m b i n a t o r i s c h e " tungsentlehnung,

die

ein

form-

und

Analogie und

bedeutungsähnlidies

die

Bedeu-

Fremdwort

zum

V o r b i l d h a t . E r s t e r e l ä ß t sich a n engl, ' h a r d ' u n d ' h a r d l y ' illustrieren. U m 1200 h a t t e das A d j e k t i v d e n Sinn ' s d i w i e r i g a u s z u f ü h r e n , nicht leicht' a n g e n o m m e n . D a s A d v e r b scheint sich dieser S i n n e n t w i c k l u n g erst drei J a h r h u n d e r t e s p ä t e r angeschlossen zu h a b e n , u n d z w a r h ö c h s t w a h r s d i e i n l i c h nach d e m V o r b i l d des A d j e k t i v s ; bei i h m h a t sich aus diesem n e u e n S i n n d a n n 'nicht g a n z , k a u m ' entwickelt (Stern, S. 2 1 7 ) . E b e n s o h a t l a t . 'ascendentes' nach d e m V o r b i l d des semantisch ausgebildet

und

f o r m a l ähnlichen

(ebd.).

Auch

'descendentes'

syntagmatische

die B e d e u t u n g

Berührungen

mögen

'Vorfahren' dabei

mit-

g e w i r k t h a b e n . F a s t g e n a u s o v e r h ä l t es sich, w e n n die A n a l o g i e b i l d u n g v o n einem F r e m d w o r t , einem b e r u f s s p r a d i l i d i e n o d e r m u n d a r t l i c h e n A u s d r u c k ausgeht. D a s ist die b e k a n n t e s t e A r t d e r L e h n b i l d u n g ; sie l ä ß t sich a n f r z . ' i n désirable' in der B e d e u t u n g ' u n e r w ü n s d i t e r Ausländer* zeigen, die nachweislich auf

Zeitungsartikel

vor

Ausbruch

des

Ersten

Weltkrieges

zurückgeht,

als

M a x i m G o r k i u n d a n d e r e ' u n d e s i r a b l e s ' aus d e n U S A ausgewiesen w u r d e n . 4 4 ' kann, und zwar ohne einen bestimmten Assoziationszusammenhang. Vieles ist aber auch umstritten (insbes. die Erklärung zu 'Vater' und 'Mutter', S. 234), und das meiste gehört eher zur Lautsymbolik und Verwandtem als zur eigentlichen Semantik. Siehe auch Nyrop, Sémantique, S. 3—14. Marouzeaus These, wonadi der Bedeutungsunterschied zwischen lat. 'murmur' und frz. 'murmure' mit der unterschiedlichen Vokalfärbung zusammenhängt, referiert Hjelmslev, Principes, S. 196. Vgl. unsere Analyse von frz. 'compendieusement' (reversive Motivierung) oben auf [S. 97]. 447

Nyrop, „Études de grammaire française" (Det Kgl. Danske Videnskabernes Selskab. Hist.-filol. Meddelelser, 8, 1920/21), S. 22. Vgl. hierzu Hey, a . a . O . , S. 218—224, bes. S. 220 f. ('equites-pedites', 'ascendentes-descendentes') und die obenerwähnten Arbeiten zur Bedeutungsentlehnung [siehe Anm. 433 u. 439].

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

225

Alle diese Fälle wie auch die übrigen Kategorien von Namen-Sinn-Ubertragungen können nach folgendem Schema analysiert werden:

Wir haben hier jetzt also ein vollständiges Kräfteparallelogramm: jeder Name ist mit seinem eigenen Sinn verbunden, und sowohl die Namen als audi die Sinne sind auch untereinander gekoppelt, wobei sidi als Resultante eine diagonale Beziehung zwischen ni und s2 aufgrund gegenseitiger Übertragung ergibt. 2. N a m e n ä h n l i c h k e i t u n d S i n n b e r ü h r u n g . Als Beispiel für diese Kategorie wäre das oben bereits erörterte 'belfry' anzuführen. 3. N a m e n b e r ü h r u n g u n d S i n n ä h n l i c h k e i t . 'Equites peditesque' war im Lateinischen eine stehende Wendung. Als 'equites' zur Standesbezeichnung für den Ritter wurde, ist 'pedites' in Analogie dazu aufgrund antonymischer wie syntagmatischer Assoziationen (evtl. auch formaler Ähnlichkeit?) in Richtung auf 'Gemeiner, Bürgerlicher' abgedrängt worden (Stern, S. 219, der dieser Erklärung von Hey etwas skeptisch gegenübersteht). 4. N a m e n b e r ü h r u n g u n d S i n n b e r ü h r u n g . Wenn man von einem 'Rembrandt' oder einem 'Bordeaux' spricht, so handelt es sich dabei teils um kontiguitätsbedingte Metonymien (Erzeuger-Erzeugnis; Erzeugnis-Herstellungsort) und teils um Kürzungen längerer Wendungen wie 'ein Rembrandtbild', 'ein Gemälde von Rembrandt' und 'Bordeaux-Wein' (vgl. Wellander, II, S. 115 f. u. III, S. 21—25). Nachdem wir so die funktionale Klassifikation in allen ihren Teilen vorgeführt haben, wollen wir sie nun noch kurz mit zwei Einteilungen vergleichen, die in letzter Zeit nach einem anderen Prinzip aufgestellt worden sind, nämlich mit Carnoys eklektischem und Sterns empirisdiem System.

3. Eklektische

Klassifikation

Albert Carnoy schlägt in seiner Science du Mot eine Klassifikation vor, die in ihren sorgfältigen Unterscheidungen und in der Zahl ihrer Untergruppen einzigartig ist. Sie ist darin eklektisch, daß sie im großen und ganzen psychologisch orientiert ist und im einzelnen mit den alten logischen und rhetorischen Kategorien arbeitet, die hinter einer neuen und ein wenig erdrückenden Terminologie stecken, die wir bereits kennengelernt haben: Erweiterung erscheint als „ecsimie", Verengung als „prossimie", Metapher als „mitecs&nie" usw. Von der 15 Ullmann

226

Historische

Semantik

schwer zu handhabenden Terminologie abgesehen wird Carnoys ganze Betrachtungsweise auch dadurch beeinträchtigt, daß er nicht zwischen Namenübertragung und Sinnübertragung zu unterscheiden vermag. Weisgerber hat das mit gebührender Schärfe in seiner Carnoy-Rezension herausgestellt (IF, 46,1928, S. 331—335). So reich Carnoys Schema auch an genauen Unterscheidungen, klugen Beobachtungen und anregenden Beispielen ist, so fehlen ihm doch Vollständigkeit, Einheitlichkeit und Einteilungsprinzip, wie das alles nun einmal zu einer wissenschaftlichen Klassifikation gehört. Überdies erhöht sich gerade mit der Vielfalt der Untergruppen die Gefahr von Überschneidungen, zu denen solche Systeme immer neigen. 448 Diese Umstände, die also keineswegs das Experiment als solches in Frage stellen, erschweren es uns noch mehr, seine Ergebnisse mit den unsrigen zu vergleichen, was nur annäherungsweise geschehen kann. Die ganze Einteilung geht von einer Dichotomie aus: Veränderungen des Begriffsinhaltes stehen Qualitäts- und Wertveränderungen gegenüber. Erstere vollziehen sich allmählich und unabsichtlich, letztere plötzlich, absichtlich und dynamisch (vgl. bes. S. 97). Carnoy nennt die erste Gruppe „métasémie évolutive", die zweite „diasemie" oder „métasémie substitutive". 449 Die allmählichen und unabsichtlichen Veränderungen können einfach oder komplex sein, je nach der wechselseitigen Beeinflussung zweier Symbole (S. 190). Die e i n f a c h e n u n d a l l m ä h l i c h e n Übertragungen lassen sich in drei Gruppen unterteilen. Veränderungen der Hauptzüge entsprechen teils unserer Kategorie des sprachlichen Konservatismus, teils unserer Kategorie Ia (Sinnähnlichkeit). Hauptsächlich zu letzterer gehört auch die Weglassung bzw. H i n zufügung von Nebenzügen, wohingegen die verschiedenen Typen der „Ausstrahlung, die von dem bezeichneten Begriff ausgeht" (S. 154 ff.), unserer Gruppe I b (Sinnberührung) entsprechen, die auch einige Fälle umfaßt, die in der vorhergehenden Kategorie aufgeführt sind (vgl. auch Kap. 8). Die Klasse der a l l m ä h l i c h e n u n d w e c h s e l s e i t i g e n Veränderungen umfaßt die Assimilation, Dissimilation und „contagion". Zur Assi448

449

Allerdings ist dazuzusagen, daß es sidi hier um selbstauferlegte Beschränkungen handelt; vgl. etwa folgende zwei Stellen: „. . . en sémantique plus qu'en tout autre domaine, la classification est un moyen et non un but" (S. 96) ; „Peut-être reprodiera-t-on, entre autres choses, à l'auteur précisément d'avoir cherché à classifier rigoureusement ces phénomènes qui sont variés et complexes comme toutes les opérations de l'esprit humain. Cette objection ne lui a pas échappé et il en comprend toute la valeur. Il concède volontiers qu'aucun classement n'est absolument 'exhaustif et qu'on trouvera toujours des faits susceptibles d'être rangés sous plusieurs rubriques, parce que résultant à la fois de plusieurs des tendances psychologiques agissant sur les mots" (S. 399 f.). Jaberg hat für den Unterschied einen treffenden Vergleich gefunden: „Im ersten Falle ist die Bedeutung einem Fußwege zu vergleichen, der dadurch verschoben wird, daß die Fußgänger nach und nach seitwärts davon abweichen. Der zweite Fall dagegen zeigt uns einen neu angelegten P f a d , der dem alten vorgezogen oder auch neben ihm benutzt wird" (ZRPh, 27, S. 25).

Klassifikation

des

227

Bedeutungswandels

milation und Dissimilation redinen außer einigem nicht hierhergehörigen M a terial eine Reihe von einfachen wie auch mehrschichtigen Analogiebildungen (Ia und I I I c l ) und ferner Sinnübertragungen aufgrund von Namenähnlichkeit ( I I a ) . Seine dritte Untergruppe der „contagion" deckt sich bis auf einige mehrschichtige Erscheinungen, die teilweise auf Ellipse beruhen, in etwa mit unserer Kategorie I I b (Sinnübertragung aufgrund von Namenberührung). Carnoys zweiter Haupttyp, der der p l ö t z l i c h e n

und

absichtli-

c h e n Vorgänge, umfaßt eine Reihe von Abarten der Namenübertragung aufgrund von Sinnähnlichkeit; an dieser Stelle legt er seine Klassifikation der Metapher vor, die, wie wir schon gesehen haben, im wesentlichen mit der unsrigen übereinstimmt. Im ganzen führt der Vergleich zu keinem klaren Ergebnis, teils, weil sich Einteilungsprinzip und Betrachtungsweise zu sehr unterscheiden, teils, weil Carnoys System zu viele Untergruppen h a t ; dennoch berühren sich seine H a u p t gruppen alle auch irgendwie mit den unsrigen. 450

4. Empirische

Klassifikation

Die Sternsche Klassifikation ist für einen fruchtbaren Vergleich mit der funktionalen Theorie weit besser geeignet. Seine Einteilung ist wissenschaftlich ausgereift und bietet eine Fülle von Belegmaterial auf dem Hintergrund umfassender theoretischer Erörterungen. 4 5 1 Z w a r ist auch sie bewußt eklektisch ausgerichtet (S. 165 f.), aber psychologische und logische Erwägungen sind streng und in hierarchischer Gliederung voneinander getrennt. Überdies ist sein Standpunkt mit dem unsrigen verwandt: auch ihm geht es in erster Linie um die psychischen Vorgänge, und er faßt die Bedeutungsbeziehung im Sinne des Dreiecks von Ogden und Richards auf, das, wie wir schon gesehen haben (s. o. S. 66 f.), mit der funktionalen Betrachtungsweise der Bedeutung durchaus vereinbar ist. Andererseits unterscheidet sich seine Methode hinlänglich von der hier entwickelten, so daß sie mehr zur Sache bietet als bloß eine etwas andere Terminologie; um nur zwei Punkte herauszugreifen: für Stern ist die „Be450

D a s gleiche gilt für die auf W u n d t aufgebaute Einteilung von F a l k (S. 5 6 u. passim): 1. Berührung zwischen den bezeichneten Sachen; 2. Ähnlichkeit der bezeichneten Sachen; 3. Ellipse; 4. F o r m a l e u n d / o d e r bedeutungsmäßige Ähnlichkeit zweier W ö r t e r ; 5. Gefühlsbedingte Veränderungen. Diese Einteilung berührt sich in vielen Punkten mit der hier vorgeschlagenen, jedoch w i r d sie durch die unrichtige Analyse der Bedeutungsbeziehung in ihrem W e r t geschmälert.

451

Schon 1 9 3 7 habe ich Sterns Schrift in Magyar Nyelv rezensiert, worin ich auch zu den ersten Reaktionen a u f das Buch Stellung nehme. Siehe insbes. die Bemerkungen von S. M o o r e in M L R , 2 7 , 1 9 3 2 , S. 4 9 1 — 4 9 3 und danach K . F. Sunden, dessen A n sicht in The Year's Work in English Studies, 2 4 , 1 9 4 3 , S. 2 0 z u s a m m e n g e f a ß t ist. Siehe auch Stanford, Greek Metaphor, S. 8 6 — 8 9 .

15*

Historische

228

Semantik

deutung" kein Beziehungsbegriff, und er läßt das Bezeichnete nicht unberücksichtigt. Ein weiterer Unterschied macht die Gegenüberstellung noch lohnender. Das hier vorgeschlagene Schema ist im -wesentlichen deduktiv; das von Stern vertretene ist seiner ganzen A r t nach empirisch. Wenn sich nun zeigen läßt, daß beide sidi prinzipiell decken, so würden damit der praktische Nutzwert des ersteren und die theoretische Gültigkeit des letzteren sich gegenseitig bestätigen. D a ß ein solches Verfahren möglich ist, habe ich vor Jahren bei dem Vergleich der Sternschen Theorie mit der Klassifikation von Gombocz zu zeigen versucht (vgl. J E G P , 41, S. 4 6 — 5 2 ) ; hier werde ich mich in aller K ü r z e der gleichen Argumente bedienen und mich dabei insbesondere auf den gegenwärtigen Stand der funktionalen Betrachtungsweise beziehen. Obwohl Stern seine sieben Klassen in erster Linie aus einer empirischen Gruppierung des Bedeutungswandels gewonnen hat, hat er sie doch so begründet, daß sie mehr als bloß statistisch gewonnene Typen sind (S. 165). I n dem er sich dabei von ätiologischen Erwägungen leiten ließ und seine Klassen mit seiner Analyse der Bedeutungsbeziehung zusammenbrachte, kam er zu folgendem Schema (S. 1 7 5 ) : A. Äußere Gründe B . Sprachliche Gründe: I. Veränderung des Wortbezugs I I . Veränderung des Objektbezugs I I I . Veränderung des Subjektbezugs

Klasse I. Substitution a) Klasse I I . Analogie b) Klasse I I I . Kürzung a) Klasse I V . Namengebung b) Klasse V . Übertragung a) Klasse V I . Vertauschung b) Klasse V I I . Adäquation

Dieses einfache und übersichtliche Schema ähnelt dem funktionalen Schema darin, daß es um die Unterscheidung weniger Haupttypen bemüht ist, die sich dann weiter unterteilen lassen. Wir können uns den tatsächlichen Vergleich auch noch dadurch erleichtern, daß wir die „Substitution", das Gegenstück zu unserem „sprachlichen Konservatismus", und die „Adäquation", 4 5 2 die weitgehend als eine Begleiterscheinung der einzelnen Typen des Bedeutungswandels angesehen werden darf, von vornherein ausschließen, wohingegen sich alles übrige (Verallgemeinerung, Spezialisierung, Besonderung) ohne weiteres auf anderen Stufen des Schemas einfügen läßt. Die Zuordnung der fünf anderen Kategorien bietet nur eine Schwierigkeit. „Kürzungen" entsprechen unserer Klasse I I b, der Namenberührung; „Namengebungen" unserer Klasse I a und I b, je nachdem, ob sie auf Ähnlichkeit oder 452

Dazu Palmers scharfsinnige Bemerkungen, Introduction, S. 93, Anm. 1. Der Begriff selbst stammt von Stöcklein; vgl. Jaberg, ZRPh, 25, S. 582.

Klassifikation

des

Bedeutungswandels

229

anderen Sinnbeziehungen beruhen; „Übertragungen" gehören zu I a , zur Sinnähnlichkeit, die sich von der vorhergehenden Gruppe dadurch unterscheiden, daß sie unbeabsichtigt sind; die „Vertauschung" entspricht unserer Klasse I b , der Sinnberührung, die ebenfalls unabsichtlich erfolgt. Sterns Diagramm auf S. 345 zeigt ganz deutlich, daß er bei der Gruppe der „Namengebung", „Übertragung" und „Vertauschung" sowohl mit dem Kriterium der „Intentionalität" als auch mit dem Kriterium „Ähnlichkeit oder Beziehungen anderer A r t " rechnet. Er nimmt sogar die „Adäquation" als zweiten T y p einer unbeabsichtigten Übertragung aufgrund von „Beziehungen anderer A r t " hinzu. Die einzige Gruppe, die nicht so ohne weiteres in das funktionale Schema paßt, ist die „ A n a l o g i e " . Hier unterscheidet Stern drei Typen, die an verschiedenen Stellen des Systems unterzubringen sind. Die „kombinatorische Analogie" ist ein vermittelter mehrschichtiger Typ, bei dem sowohl N a m e n als auch Sinne verwandter Wörter in ein und derselben Sprache sich ähneln ( I I I c l ) ; die „korrelative Analogie" u m f a ß t andere vermittelte, und zwar sowohl einfache ( I a ) als auch mehrschichtige Übertragungen ( I I I c l ) ; die dritte Klasse, die „assoziative Lautbeeinflussung", entspricht unserer Klasse IIa, den Sinnübertragungen aufgrund von Namenähnlichkeit. Das Ineinandergreifen der beiden Systeme läßt sidi am besten an folgendem Diagramm zeigen, das sich auf die Gegenüberstellung von Sterns fünf Hauptgruppen mit unseren vier H a u p t t y p e n zuzüglich der Namen- und Sinnähnlichkeit als wichtigster mehrschichtiger Untergruppe beschränkt. Die kleineren Untergruppen des mehrschichtigen Bedeutungswandels, die sonst noch in dem funktionalen Schema vorgesehen sind, brauchen hier nicht aufgeführt zu werden, da diese Fälle bei Stern ganz im Sinne der hier vertretenen Auffassung einfach als „alternative explanations" (S. 175) registriert werden. Das Diagramm sieht so aus: Funktionale Klassifikation

Sternsche Klassifikation

I a Sinnähnlichkeit

II. Analogie

I b Sinnberührung

a) kombinatorische A. b) korrelative A. -c) assoziative Lautbeeinflussung

I I a Namenähnlichl

.III. Kürzung

I I b Namenberühru

J V . Namengebung \ V . Übertragung -VI. Vertauschung

III.

Mehrschichtige

6 w.

230

Historische

Semantik

Beide Klassifikationen greifen also lückenlos ineinander, und jede Kategorie kommt in beiden vor. Die baconische und die cartesianische Betrachtungsweise des Bedeutungswandels, das induktive Sortieren des empirisch gesammelten Materials und die deduktive Analyse aller der Struktur nach möglichen Typen haben zu übereinstimmenden Ergebnissen geführt, womit beide Theorien sich gegenseitig bestätigt haben. Deswegen brauchen wir auch dort keine Nachlese zu halten, wo Stern schon geerntet hat: nun, da sich die grundsätzliche Übereinstimmung gezeigt hat, können wir seine detaillierten Ausführungen und seine sorgfältigen Klassifikationen zu den einzelnen Untergruppen geschlossen in das funktionale Schema übernehmen. Letzteres kann seinerseits wiederum der Sternschen Einteilung die Einheitlichkeit, Homogenität und logische Notwendigkeit geben, die selbst den gediegensten empirischen Systemen nun einmal abgeht. Ferner hat sich herausgestellt, daß sich Saussures und Ogden-Richards' einander scheinbar widersprechende Auffassungen in der Praxis vereinbaren lassen und sich sogar ergänzen: ein Ergebnis, das die Annäherung vorbereiten könnte, um die es uns schon anfangs zu tun war.

3. B E D E U T U N G S G E S E T Z E Die Suche nach semantischen Gesetzen ist so alt wie die Semantik selbst. Bedeutungsforscher und andere haben ihr schon oft die widersprechendsten Prognosen gestellt: Die einen wollten darin das Idealziel unserer Wissenschaft sehen, andere ein gefährliches Trugbild. Mandie führenden Semantiker haben recht o p t i m i s t i s c h mit der Möglichkeit gerechnet, daß sich in semantischen Prozessen irgendeine Art von Regelmäßigkeit erkennen läßt: Bréal, Wundt, Sperber, Leumann, Carnoy, Stern und Esnault, sie alle haben, wenn auch verschiedene, so doch konstruktive Vorschläge dazu gemacht. 453 Ihre Hoffnungen sind von anderen maßgebenden Forschern mehr oder weniger vorsichtig geteilt worden. „The comparative study of languages enables us to observe and codify(!) the general laws which govern sense development, and to understand why meanings become extended or restricted", behauptet Ernest Weekley (Romance of Words, S. 86). Vendryes urteilt kaum weniger kategorisch: „Le linguiste ne fait d'étymologie que pour réunir le plus grand nombre possible de procès sémantiques 453

Bréal, S. 6 u. 9 ; Wundt, S. 437 (s. o. Anm. 342) u. S. 5 8 0 — 5 8 3 ; Sperber, „Ein Gesetz der Bedeutungsentwicklung" (ZfdA, 59, 1922, S. 4 9 — 8 2 ) u. Einführung, Kap. 10; Leumann, IF, 45, S. 117 f.; Carnoy, S. 88 ff.; Stern, „Swift, Swiftly, and their Synonyms" (Göteborgs Högskolas Arsskrifl, 27, 1921) u. a . a . O . , S. 1 8 5 — 1 9 1 ; G. Esnault, „Lois sémantiques" (La Sémantique, Kap. 3). Vgl. auch Meriggi, a . a . O . , S. 6 5 — 7 8 ; Pos, Actes du 4e Congrès, S. 8 8 — 9 2 ; De Witte, a. a. O., S. 3; Kurylowicz, Journal de Psychologie, 42, S. 170—180. Zu einem frühen Vorschlag von Bechtel vgl. Schrijnen, Einführung in das Studium der indogermanischen Sprachwissenschaft (Heidelberg, 1921), S. 158.

230

Historische

Semantik

Beide Klassifikationen greifen also lückenlos ineinander, und jede Kategorie kommt in beiden vor. Die baconische und die cartesianische Betrachtungsweise des Bedeutungswandels, das induktive Sortieren des empirisch gesammelten Materials und die deduktive Analyse aller der Struktur nach möglichen Typen haben zu übereinstimmenden Ergebnissen geführt, womit beide Theorien sich gegenseitig bestätigt haben. Deswegen brauchen wir auch dort keine Nachlese zu halten, wo Stern schon geerntet hat: nun, da sich die grundsätzliche Übereinstimmung gezeigt hat, können wir seine detaillierten Ausführungen und seine sorgfältigen Klassifikationen zu den einzelnen Untergruppen geschlossen in das funktionale Schema übernehmen. Letzteres kann seinerseits wiederum der Sternschen Einteilung die Einheitlichkeit, Homogenität und logische Notwendigkeit geben, die selbst den gediegensten empirischen Systemen nun einmal abgeht. Ferner hat sich herausgestellt, daß sich Saussures und Ogden-Richards' einander scheinbar widersprechende Auffassungen in der Praxis vereinbaren lassen und sich sogar ergänzen: ein Ergebnis, das die Annäherung vorbereiten könnte, um die es uns schon anfangs zu tun war.

3. B E D E U T U N G S G E S E T Z E Die Suche nach semantischen Gesetzen ist so alt wie die Semantik selbst. Bedeutungsforscher und andere haben ihr schon oft die widersprechendsten Prognosen gestellt: Die einen wollten darin das Idealziel unserer Wissenschaft sehen, andere ein gefährliches Trugbild. Mandie führenden Semantiker haben recht o p t i m i s t i s c h mit der Möglichkeit gerechnet, daß sich in semantischen Prozessen irgendeine Art von Regelmäßigkeit erkennen läßt: Bréal, Wundt, Sperber, Leumann, Carnoy, Stern und Esnault, sie alle haben, wenn auch verschiedene, so doch konstruktive Vorschläge dazu gemacht. 453 Ihre Hoffnungen sind von anderen maßgebenden Forschern mehr oder weniger vorsichtig geteilt worden. „The comparative study of languages enables us to observe and codify(!) the general laws which govern sense development, and to understand why meanings become extended or restricted", behauptet Ernest Weekley (Romance of Words, S. 86). Vendryes urteilt kaum weniger kategorisch: „Le linguiste ne fait d'étymologie que pour réunir le plus grand nombre possible de procès sémantiques 453

Bréal, S. 6 u. 9 ; Wundt, S. 437 (s. o. Anm. 342) u. S. 5 8 0 — 5 8 3 ; Sperber, „Ein Gesetz der Bedeutungsentwicklung" (ZfdA, 59, 1922, S. 4 9 — 8 2 ) u. Einführung, Kap. 10; Leumann, IF, 45, S. 117 f.; Carnoy, S. 88 ff.; Stern, „Swift, Swiftly, and their Synonyms" (Göteborgs Högskolas Arsskrifl, 27, 1921) u. a . a . O . , S. 1 8 5 — 1 9 1 ; G. Esnault, „Lois sémantiques" (La Sémantique, Kap. 3). Vgl. auch Meriggi, a . a . O . , S. 6 5 — 7 8 ; Pos, Actes du 4e Congrès, S. 8 8 — 9 2 ; De Witte, a. a. O., S. 3; Kurylowicz, Journal de Psychologie, 42, S. 170—180. Zu einem frühen Vorschlag von Bechtel vgl. Schrijnen, Einführung in das Studium der indogermanischen Sprachwissenschaft (Heidelberg, 1921), S. 158.

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semblables et pour dégager de cette étude les lois générales suivant lesquelles le sens des mots évolue" (Langage, S. 2 2 8 ) . Jespersen f a ß t ähnliche Ziele ins Auge, nur beurteilt er alles bisher Erreichte skeptischer: „There are universal laws of thought which are reflected in the laws of change o f meaning . . . even if the Science o f Meaning . . . has not yet made mudi advance towards discovering them" (Mankind, S. 190). Später hat G . Bonfante das Problem noch einmal aufgegriffen; er ist mehr von sprachvergleichenden und von etymologischen Gesichtspunkten ausgegangen und zu dem Ergebnis gekommen : „certain semantic changes are possible and extremely frequent, certain others are impossible or at least extremely rare." 4 5 4 Zwei wichtige Faktoren — das Prestige der Naturwissenschaften einerseits und die Existenz von Lautgesetzen andererseits — haben das Interesse der Semantiker für Bedeutungsgesetze geweckt und in bestimmter Beziehung beeinflußt. 4 5 5 Wundts Versuch, zwischen phonologischen und semantischen Phänomenen einen engen Parallelismus herauszuarbeiten, war genauso verfehlt wie die Einstellung derjenigen Forscher, die die Existenz von Bedeutungsgesetzen bloß deswegen b e z w e i f e l t haben, weil man annahm, die semantischen Gesetze müßten von den in der Lautgeschichte beobachteten unbedingt verschieden sein. Dieses Vorurteil hat bei Antoine Thomas die präziseste und zugleich schroffste Formulierung gefunden: „Ii y a des lois en phonétique, et c'est pour cela que la phonétique doit être considérée comme une science, au sens rigoureux du mot. Il n'y a pas de lois en sémantique, et l'on conçoit difficilement qu'il puisse jamais y en avoir". 4 5 6 Schuchardt, der die junggrammatische Auffassung von den „blind" und ausnahmslos wirkenden Lautgesetzen ebenso leidenschaftlich bekämpft hat wie den doktrinären Radikalismus von Antoine Thomas und Gaston Paris, hat nicht versäumt, dazu festzustellen, Sinn und Zweck jener Lehre sei einzig, die Existenz von Gesetzen auf anderen Gebieten, insbesondere im Bereich des Bedeutungswandels, in Frage zu stellen; 4 5 7 wohl räumt auch er ein: „Freilich wird sich . . . der Bedeutungswandel" nie „in ein System so fester Formeln bringen lassen wie der Lautwandel", nur sieht er darin keinen Grund, ihm deshalb weniger Beachtung zu schenken als der Lautgeschichte (Brevier, S. 186). Dennoch hat der augenscheinliche Mangel an Symmetrie zwischen den beiden großen Strängen sprachlicher Entwicklung viele Forscher skeptisch gemacht. Diese Skepsis kommt in zwei vielzitierten Äußerungen von Saussure und N y r o p zum Ausdruck, durch die sie übrigens noch erheblich bestärkt worden ist. D e r Genfer Gelehrte bezieht sich auf den Bedeutungswandel von frz. 'poutre' 454

455

456 457

G. Bonfante, „On Reconstruction and Linguistic Method" {Word, 1, 1945, S. 132—161), S. 146; vgl. S. 132 u. 145 f. (mit ausführlicher Bibliographie). Vgl. meinen Aufsatz „Laws of Language and Laws of Nature" (MLR, 38, 1943, S. 3 2 8 — 3 3 8 ) ; vgl. auch Sperber und Carnoy. A.Thomas, Nouveaux Essais de philologie française (Paris, 1904), S. 28. Schuchardt, „Über Laut- und Bedeutungswandel" (ZRPh, 25, 1901, S. 253—256), S. 255.

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'Stute' > 'Stück H o l z , Balken' u n d meint dazu, dieser Vorgang habe seine besonderen Gründe, unabhängig von allen gleichzeitig sonst noch eintretenden Veränderungen; „es ist nur einer der Zufälle, welche die Gesdiichte einer Sprache verzeichnet" (S. 110, f. A. S. 132; s. o. S. 143). K u r z zuvor h a t t e sich N y r o p in seiner Sémantique (S. 79) dem Pessimismus v o n T h o m a s angeschlossen: „La science phonétique a . . . acquis une telle sûreté, que dans beaucoup de cas il est possible de p r é d i r e l e d é v e l o p p e m e n t q u e s u b i r a t e l m o t , vu qu'il n'y a p o u r un groupe de phonèmes q u ' u n nombre assez restreint de changements possibles. Il en est tout autrement de l'évolution sémantique; ici les conditions qui déterminent les changements sont tellement multiples et tellement complexes, que l e s r é s u l t a t s d é f i e n t c o n s t a m m e n t toute p r é v i s i o n et o f f r e n t les plus grandes surprises" (nachtr. gesperrt). Nach einigen etwas verheißungsvolleren Vorbemerkungen zeigt sich auch Wellander schließlich ebenso zurückhaltend. 4 6 8 Es werden auch noch andere E i n w ä n d e gegen die A n n a h m e semantisdier Gesetzmäßigkeiten gemadit. Manche Philologen sagen sich wie Weisgerber ( G R M , 15, 1927, S. 161) v o n der herkömmlichen Betrachtungsweise der Semantik überhaupt los; andere wollen nur praktisdie Beweise gelten lassen, wohl weil sie darüber befremdet sind, d a ß das semantische Etymologisieren so sehr dem Zufall überlassen bleibt 459 u n d k a u m etwas als semantisches Gesetz bezeichnet zu werden verdient. 4 6 0 Wie groß die Verwirrung über diesen so wichtigen Fragenkomplex ist, läßt sich am beredtesten an einer Gegenüberstellung zweier maßgeblicher Lehrmeinungen zeigen. Zu Beginn dieses J a h r h u n d e r t s h a t der f ü h r e n d e Philologe Z u p i t z a erklärt, die Gesetze der Semasiologie kenne man nun genügend; es handle sich n u r u m die Anwendung. 4 ' 1 U n d doch k o n n t e fast vier J a h r z e h n t e später Leo Spitzer feststellen: „But no one has ever thought of offering a 'semantic l a w ' . " 4 " 459

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460

461 462

[I, S. 68 f.] ; siehe ferner ebd., S. 63 u. 145 f. sowie unsere Anm. 368. Wellander hat dieser Problematik überdies eine — mir nicht zugängliche — Spezialstudie gewidmet: „Om betydelseutvecklingens lagbundenhet" ( U p p s a l a Universitets Ärsskrifl, 1915, Bd. 1, Förhandlingar, S. 1—55). Vgl. auch Güntert, Grundfragen, S. 46 f. Schon 1922 hat Hans Sperber eine ernste Warnung ausgesprochen gegen „die letzten Reste von Dilettantismus . . . die der Linguistik aus den Zeiten ihrer Entstehung noch anhaften. Auf keinem anderen Gebiete gestattet sich der geschulte Sprachforscher Gedankengänge und Annahmen von so offenkundiger Willkürlichkeit, wie auf dem der Bedeutungslehre" (ZfdA, 59, S. 49). Vgl. Wellander, I, S. 92, Anm. 1. „Si je pouvais énoncer ici des lois de sémantique evidentes, je n'eusse pas perdu le temps à les dire possibles. Faute de collectes de faits sémantiques suffisamment copieuses, c'est une dépense d'effort énorme pour l'étymologiste de rechercher dans l'ensemble des lexiques si chaque idée qui lui vient se justifie par des faits d'un titre convenable" (Esnault, La Sémantique, S. 133). Vgl. R. M. Meyer, KZ, 43, S. 352. Modem Language Quarterly, 4, 1943, S. 427; zit. von Bonfante, Word, 1, S. 146, der sich dagegen verwahrt. Vgl. auch Terracini, Actes du 4' Congrès, S. 110: „(la semantica) . . . nata dalla vana ricerca di una legge generale che desse all'etimologia

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Die Frage ist hier weniger, wer von beiden recht hat, als vielmehr, wie es über das, was letztlich nur eine sachliche Feststellung sein sollte, zu einer solchen Verwirrung hat kommen können. Wer auf terminologisch bedingte Irrtümer achten gelernt hat, merkt schnell, daß es sich hier wieder um eine pathologische Bedeutungssituation handelt. Unklarheiten waren in vieler Hinsicht schon deshalb unvermeidlich, weil „Bedeutungsgesetze" einfach an den „Lautgesetzen" gemessen wurden, die, wie Schuchardt mit Nachdruck betont hat (ZRPh, 25, S. 253 f.), selbst alles andere als ein klarer Begriff sind. Diese „ererbte" Unklarheit hat in vielen diesbezüglichen Theorien zu einer dreifachen petitio principii geführt: 1. daß a 11 e L a u t g e s e t z e dem räumlich-zeitlichen Typus entsprechen: „A wird zu B in einer Zeit C in einem Raum D unter den Voraussetzungen £ " , was eine Gleichung mit fünf Unbekannten ergibt; 2. daß a l l e s p r a c h l i c h e n „ G e s e t z e " diesem Muster zu entsprechen haben; 3. daß k e i n e s e m a n t i s c h e n Entwicklungsvorgänge von dieser Art Formulierung erfaßt werden können. Punkt 1 und 2 braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen; man mag sich nur erinnern, daß in der Phonologie selbst — insbesondere von Maurice Grammont in seinen Arbeiten zur Assimilation und Dissimilation — wichtige Gesetzmäßigkeiten entdeckt worden sind, die die Grenzen der Raum-Zeit„Gesetze" überschreiten und sich nichtsdestoweniger erstaunlich exakt formulieren lassen. Ähnliche Ergebnisse sind bei der Behandlung bestimmter grammatischer Probleme, etwa des Schwunds der einfachen Formen des Präteritums, weniger eindrucksvoll vielleicht, aber kaum weniger überzeugend erzielt worden. Auf solche Fragen werden wir im nächsten Kapitel eingehen, wo wir sie kurz auf ihre methodologische Bedeutung hin untersuchen wollen. Punkt 3 gehört dagegen unmittelbar in unseren Zusammenhang herein; ihm ist überdies, wie ich glaube, dadurch beizukommen, daß man sich zunächst frühere Ansätze zu semantischen Gesetzen ansieht und auf diese Weise bestimmte Typen von Gesetzmäßigkeiten unterscheiden lernt, mit denen auf diesem Gebiet zu rechnen ist. Mit den meisten früheren Ansätzen ist hier natürlich nichts anzufangen. Bréals „loi de spécialité" und „loi de répartition" ist viel zu allgemein gehalten. Wundts „allgemeine Assoziationsgesetze", als da sind Ähnlichkeit, räumlich-zeitliche Berührung und Verdrängung unvereinbarer Elemente (S. 580), mögen auf die Klassifikation des Bedeutungswandels gewissen Einfluß haben, sind aber wohl kaum als „Bedeutungsgesetze" anzusehen; wie Sperber (Einführung, S. 57 f.) bemerkt, läßt dieses Schema aufgrund offensichtlicher Sinnuna base sicura, conserva ancor oggi un resto di questo sorpassato intento . . ." Interessant ist, daß Velten, IF, 53, S. 7 von einem „semasiologischen Gesetz" spricht, während er zwei Jahre zuvor die Möglichkeit „universaler Sprachgesetze" glatt geleugnet hatte (PMLA, 48, 1933, S. 611). Spitzer selbst hat in seinen Essays in Historical Semantics, S. 5 seine Kritik etwas abgeschwächt, aber sich erneut gegen die „hallowed quality of .predictability'" verwahrt.

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berührung auch die Übertragung ' N a s e ' auf 'Auge' zu, ohne daß je derartiges bekanntgeworden wäre. Neuere Vorschläge sind da der Sache nach oft überzeugender, nur sind sie zu subjektiv formuliert, als d a ß sie z u m Gesetz erhoben werden könnten. Das gilt insbesondere v o n einer Reihe v o n „Gesetzmäßigkeiten", die Esnault {La Sémantique, S. 133—138) als Anreiz mehr angedeutet als aufgezeigt hat, nur um eine Diskussion darüber in Gang zu bringen. Viele Parallelentwicklungen wird m a n eingehend d a r a u f h i n p r ü f e n müssen, ob sie nicht vielleicht auf Analogie-(Lehn)bildungen zurückgehen, wenngleich einige Entsprechungen durch dieses Verfahren sicher nur bestätigt werden, z. B. Bloomfields Ansicht: „refined a n d abstract meanings largely grow out of more concrete meanings" (Language, S. 429; vgl. Bonfante, Word, 1, S. 145). Natürlich wäre es v e r f r ü h t , aus solchem Material schon jetzt weitreichende Schlüsse ziehen zu wollen. Zunächst müssen erst einmal sichere G r u n d l a g e n geschaffen werden, was nur in geduldiger Kleinarbeit und durch die Sammlung wissenschaftlich stichhaltigen Tatsachenmaterials geschehen kann. 4 0 3 Wenigstens zwei solcher Vorstöße sind zum Glück schon gemacht worden, u n d z w a r beide im gleichen f ü r die Herausbildung der modernen Semantik so entscheidenden J a h r z e h n t ; sie haben überdies den Vorzug, d a ß sie das Problem von verschiedenen Seiten her angehen und sie sich also gegenseitig ergänzen. M i t einem Vergleich der beiden m ü ß t e unser Sachverhalt, was das Methodologische angeht, demnach zu klären sein. Gustaf Stern ist a u f g r u n d seiner eingehenden Studien zur Geschichte der mittelenglischen Adverbien um 'swiftly' d a z u gekommen, folgendes „Gesetz" aufzustellen: „English adverbs which have acquired the sense ' r a p i d l y ' before 1300, always develop the sense 'immediately'. This happens when the adverb is used to q u a l i f y a verb, the action of which m a y be apprehended as either imperfective or perfective, and when the meaning of the adverb consequently is equivocal: 'rapidly/immediately'. Exceptions are due to the influence of special factors. But when the sense ' r a p i d l y ' is acquired later t h a n 1300, no such development takes place. There is no exception to this rule." 4 8 4 Wie ein klassisches Lautgesetz erweist sich diese Formel bei näherem Zusehen als Gleichung mit fünf U n b e k a n n t e n , die alle ermittelt w o r d e n sind: A = ' r a p i d l y ' ; B = 'immediately'; C Zeit = vor 1300; D R a u m = Mittelenglisch; E Voraussetzungen = die oben näher bezeichnete zweideutige Stellung. Dieses Ergebnis beweist, d a ß sich unter günstigen U m s t ä n d e n sogar der o r t h o doxeste T y p von Sprachgesetz in der Semantik findet — eine Möglichkeit, mit der manche Forscher nur ganz entfernt gerechnet h a t t e n u n d die von den 4,3

464

Vgl. Stern, „En engelsk betydelselag" (Göteborgs Högskolas Ärsskrifl, 1925, Bd. 31, S. 23—36), S. 23: „Nagon annan säker grund för framsteg i betydelseläran än en omsorgsfull och metodisk detaljforskning lär icke finnas." Meaning and Change of Meaning, S. 190. Die einzelnen Begründungen finden sich in seinen Spezialstudien: Swift, Swiftly und En engelsk betydelselag.

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meisten überhaupt für ausgeschlossen gehalten worden war. 4 6 5 Welche Rolle die Analogie bei dem Vorgang gespielt hat, ist für die Gesetzmäßigkeit der Entsprechung uninteressant. Wir haben hier ein klassisches Beispiel für ein d i a chronisches Bedeutungsgesetz. Einen ganz anderen Eindruck bekommt man von H a n s Sperbers „Gesetz". Die Quintessenz seiner von Freud abhängigen Theorie, wonach Expansionsprozesse unter dem Druck der Affekte in Gang kommen, ist darin so formuliert: „Wenn zu einer bestimmten Zeit ein Vorstellungskomplex so stark affektbetont ist, daß er e i n Wort aus den Grenzen seiner ursprünglichen Bedeutung hinaustreibt und es veranlaßt, eine neue Bedeutung anzunehmen, so ist mit Bestimmtheit zu erwarten, daß derselbe Vorstellungskomplex auch andere ihm angehörige Ausdrücke zur Überschreitung ihrer Verwendungssphäre und damit zur Entwicklung neuer Bedeutungen treiben w i r d " ( E i n f ü h r u n g , S. 67). Über dieses „Gesetz" sind die Meinungen recht geteilt. D e m formalen Aufbau nach fällt es deutlich aus dem traditionellen Sprachgesetzmodell heraus. Es ist kein Analogon zu einem „Lautgesetz", wie Collinson in seiner Rezension sagt ( M L R , 20, S. 106), und O t t o Springer hat lieber einen „Leitgedanken" darin sehen wollen ( a . a . O . , S. 163). Außer diesen methodologischen Bedenken ist auch K r i t i k am Inhalt anzumelden. Es sind im Grunde dieselben Einwände, die sich, wie wir bereits sahen, ganz allgemein gegen Sperbers Theorie des Gefühlsdynamismus richten. Um mit dem Inhaltlichen anzufangen: Seine D i a gnose, insbesondere die Wendung „so ist mit Bestimmtheit zu erwarten", wird man sehr viel vorsichtiger formulieren müssen; vielleicht ist der Einfluß des Gefühls von ihm überhaupt überschätzt worden und wäre besser durch einen anderen Faktor, etwa durch Schwieterings „vorherrschende Sinnrichtungen" (s. o. S. 184), zu ersetzen. Es ist jedoch kaum zu bezweifeln, daß Sperber tatsächlich so etwas wie eine sprachliche Gesetzmäßigkeit aufgedeckt hat. U n d es kommt uns nun gerade darauf an, wie diese Gesetzmäßigkeit methodologisch zu fassen ist. Haben wir immer noch eine „Gleichung mit fünf Unbekannten"? Zwei Größen, A und B, sind uns bekannt: A ist die alte und B die neue Bedeutung. W i r kennen auch bestimmte Voraussetzungen, unter denen die Regel gilt: Den Einfluß der Affektstärke oder was sonst als F a k t o r dafür in Frage kommt ( £ ) . Unbekannt ist uns C und D, das Raum-Zeit-Element. Sterns Gesetz hatte Zeitpunkt und Vorkommen des Bedeutungswandels mit der in der Lautgeschichte üblichen Genauigkeit begrenzt. Sperbers Gesetzmäßigkeit soll für j e d e b e l i e b i g e Sprache in j e d e m b e l i e b i g e n Entwicklungsstadium gelten, wenn nur die nötigen Voraussetzungen für den Prozeß als solchen gegeben sind. Selbst wenn man sie auf „ v e r s c h i e d e n e Sprachen" „in v e r s c h i e d e n e n Entwicklungsstadien" einschränkt — eine Einschränkung, die der Autor zwar nicht ausdrücklich macht, die bei einer so allgemein gehaltenen 465

Vgl. Tappolet, ASNS, 115, S. 108 u. Sperber, Einführung, 59, S. 51 ff.

S. 60 f. u. bes. ZfdA,

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Historische Semantik

Behauptung aber doch wohl angebracht ist —, so ist damit doch keine eindeutige räumlich-zeitliche Abgrenzung gewonnen. Wir haben also eine Gleichung mit drei statt fünf Unbekannten — ein typisches Beispiel f ü r ein p a n c h r o nisches Bedeutungsgesetz. D a m i t haben wir die A n t w o r t auf die drei oben aufgeworfenen Fragen, womit die terminologische Verwirrung jetzt aufzulösen ist. Auf allen Gebieten der Sprachforschung, einschließlich der Phonologie und der Semantik, lassen sich zweierlei Gesetzmäßigkeiten erkennen: Diachronische oder räumlich-zeitliche, d . h . Gleichungen mit f ü n f Unbekannten (z. B. lat. Ü ~> frz. y: 'murus' > 'mur' oder 'swiftly' > 'immediately') und panchronische, d. h. Gleithungen mit d r e i Unbekannten (z. B. „von zwei Phonemen dissimiliert immer das stärkere das schwächere" oder Sperbers Gesetz der Expansion). Es ist letztlich eine Frage der Terminologie, ob der Begriff des „Sprachgesetzes" so definiert wird, daß er beide Arten umfassen kann, ob man den Gegensatz dadurch zum Ausdrude bringt, daß man „Gesetze" von „Gesetzmäßigkeiten", „Tendenzen" oder „Formeln" unterscheidet oder ob man den irreführenden Begriff „Gesetz" lieber überhaupt aufgibt. Letzteres würde bedeuten, daß man die ganze Problematik der Lautgesetze wieder aufrollen müßte, was aber eindeutig über den Rahmen unserer Untersuchung hinausgeht. Für welchen Begriff wir uns audi entscheiden mögen, so kommen wir doch nidit um die Tatsache herum, daß der sprachliche Wandel in all seinen Verzweigungen zwei grundverschiedenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Diese Zweiheit wirft äußerst wichtige methodologische Probleme auf, da der Unterschied zwischen den beiden Arten von „Gesetzen" darin besteht, ob man mit den Koordinaten von Raum und Zeit rechnet oder nicht. In bescheidenerem Rahmen, aber nicht weniger folgenreich f ü r ihre eigene Orientierung und Wertskala, hat die Sprachwissenschaft das gleiche getan wie die Physik unter dem Eindruck der Relativität: sie hat eine ihrer eigenen grundlegenden Dimensionen in Frage gestellt. Wenn wir uns wieder nur auf die Semantik beschränken, so ist unsere gesamte Untersuchung bis jetzt auf der Zweiteilung von synchronisier und diachronischer Betrachtungsweise aufgebaut. Jetzt dagegen sind wir auf eine Gesetzmäßigkeit gestoßen, die sich nur begreifen läßt, wenn wir das dieser Zweiteilung zugrunde liegende Koordinatensystem aufgeben. Damit haben wir einen ähnlichen Standpunkt erreicht wie am Ende des vorigen Kapitels. D a hatten wir im Zusammenhang mit der Feldtheorie festgestellt, daß es bestimmte semantische Probleme gibt, die nicht in Angriff genommen und nicht einmal gesehen werden konnten, solange man strikt an der Saussureschen Auffassung von der diachronischen Sprachwissenschaft als einer rein isolierenden Forschungsrichtung festhielt. Angesichts der zwingenden heuristischen Erwägungen mußte der Bann gelockert werden; mehr konnte auf so früher Stufe kaum getan werden. Im gegenwärtigen Zusammenhang würde uns die dogmatische Formulierung sprachlicher Gesetze, wenn man sie gewissen-

Bedeutungsgesetze

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haft beachten würde, daran hindern, gewisse breite zwischensprachliche Strömungen und Entsprechungen, auf die Bedeutungsforscher u. a. immer wieder hingewiesen haben, zu prüfen oder überhaupt zu erkennen. Wieder kann es nur eine Antwort geben. Methodologische Vorurteile dürfen uns nicht den Weg zur Entdeckung und Erklärung semantischer Tatsachen verstellen. Wenn das bestehende System d a f ü r keinen passenden Rahmen liefert, wird man es revidieren müssen. U m panchronische Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen zu können, müssen wir eine neue Untergruppe in die Semantik einführen, selbst wenn wir ihr im Augenblick sehr wenig zuzurechnen haben. Tatsächlich ist es darum aber etwas besser als um die „systematische diachronische Semantik" bestellt. Es fehlt wirklich nicht an Material, nur ist eine gänzliche Reorganisation der Methoden, Ziele und Maßstäbe notwendig, bevor es genutzt werden kann. Wir wollen die neuen Perspektiven im Schlußkapitel kurz umreißen, worin wir in erster Linie darum bemüht sein werden, ihre Möglichkeiten an einem konkreten Beispiel zu zeigen.

V

Allgemeine Semantik 1. PANCHRONISCHE BEDEUTUNGSFORSCHUNG Nachdem ein ganz neuer Typus von sprachlicher Gesetzmäßigkeit, wie wir ihn am Ende des vorigen Kapitels skizziert haben, aufgetaucht ist, ist es heuristisch unumgänglich notwendig, eine neue Untergruppe in die moderne Philologie einzuführen. Ferdinand de Saussure hat dafür die ansprechende, aber etwas irreführende Bezeichnung „panchronische Betrachtungsweise" gefunden. Allerdings war diese Betrachtungsweise nicht gänzlich neu, da das Interesse für eine „universale" bzw. „allgemeine" Grammatik die Philologie seit vielen Jahrhunderten bestimmt hatte. Im vorwissenschaftlichen Stadium der Sprachforschung war sie vorwiegend deduktiv und apriorisch ausgerichtet und stand nur zu oft unter dem Einfluß des übermächtigen Prestiges des Lateins. Als berühmtes Beispiel wäre die Port-Royal-Grammatik von Lancelot, Arnauld und ihren Mitarbeitern zu nennen, die 1660 unter dem bezeichnenden Titel erschien: Grammaire genérale et raisonnée contenant les fondemens de l'art de parier, expliques d'une manière claire et naturelle. Les raisons de ce qui est commun à toutes les langues et des principales différences qui s'y rencontrent.. .466 Als dann im 19. Jahrhundert die historische und vergleichende Sprachwissenschaft aufkam, geriet diese Anschauungsweise in Verruf, und 1869 konnte Benfey feststellen: „Seit der Zeit, wo die . . . Resultate teils bewiesen, teils als beweisbar erkannt sind, sind die allgemeinen und philosophischen Grammatiken plötzlich verschwunden und ihr Verfahren samt den darin herrschenden Anschauungen tritt nur noch in solchen Schriften hervor, die von den Wegen der Wissenschaft seitab liegen."467 Trotzdem haben führende Gelehrte weiter über die Möglichkeit einer Art von universaler Sprachwissenschaft nachgedacht. Humboldt, der so viele Entwicklungen in der modernen Sprachwissenschaft angebahnt hat, war gegen eine deduktive universale Grammatik und befürwortete die Ausarbeitung einer 466

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Vgl. hierzu H. Pedersen, Sprogvidenskaben i det Nittende Aarbundrede (Kphg., 1924), S. 6 ff.; Jespersen, Language, S. 21—26 u. Philosophy of Grammar, S. 46—49 („Universal Grammar?"); Bloomfield, Language, S. 6; Firth, Tongues, Kap. 6; Gray, Foundations, S. 434; Serrus, Parallélisme, T. 2. [Th. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft .. . (München, 1869), S. 306, Anm. 1 ] ; vgl. auch Jespersen, Philosophy of Grammar, S. 48.

Panchronische

Bedeutungsforschung

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induktiven allgemeinen Grammatik auf der Grundlage eines Vergleichs verschiedener Sprachen. 468 Marty ( U n t e r s u c h u n g e n , S. 51—95) hat sich bei der Formulierung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten auf die Lautphysiologie und die Sprachphilosophie gerichtet. 469 Sdiuchardts nachdrücklich verfochtene Theorie von der „Elementarverwandtschaft" wies in die gleiche Richtung. Um die Jahrhundertwende legte Maurice Grammont seine zwanzig „Gesetze" der Dissimilation vor, auf die er und Vendryes, Meillet, Sommerfeit u. a. ihre bekannte Theorie der Laut-„Gesetze", -„Formeln" und -„Tendenzen" aufgebaut haben.4™ Meillet versuchte sogar zwischen „natürlichen" und „spezifischen" Lautveränderungen 4 7 1 zu unterscheiden. Diese Argumente sind später von der Prager Schule der Phonologie 472 wesentlich gestützt worden. Inzwischen sind auch auf anderen Gebieten sowohl der deskriptiven als auch der historischen Sprachwissenschaft „panchronische" Verfahren eingeleitet worden; zu den bemerkenswertesten ge473 hört Hjelmslevs Principes de Grammaire genérale Danach hat F. R. Blake den Abriß eines Systems syntaktischer Kategorien aus semantischer Sicht entworfen, den er etwas inkonsequent als „Static Semantics" bezeichnet (IF, 56, S. 242). In historischen Untersuchungen war es wiederum Meillet, der wiederholt auf die Notwendigkeit einer synoptischen Betrachtungsweise hingewiesen hat. In seinem Aufsatz über den Schwund des einfachen Präteritums im Französischen, ein Prozeß, der sich auch in vielen anderen Sprachen findet474, hat er die großen heuristischen Möglichkeiten der neuen Betrachtungsweise auf eine klare und nüchterne Formel gebracht: „L'utilité des observations sur la morphologie genérale est précisément qu'elles permettent d'apprécier dans une certaine mesure le degré d'importance des causes auxquelles on doit attribuer 468 Vgl Jespersen, Language, S. 58 u. V. Thomsen, Geschichte der Sprachwissenschaft bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts (Halle, 1927), S. 63. Uber „inductive generalizations" auch Bloomfield, Language, S. 20. 469

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Vgl. O. Funke, Innere Sprachform, S. 19 u. Weisgerbers Kritik in Muttersprache und Geistesbildung, S. 75 f. Einen Uberblick darüber geben Iordan-Bahner, S. 55—60, S. 348, Anm. 2 u. S. 405 ff.; vgl. auch E. Hermanns Kritik, a. a. O., S. 62—71. Meillet, „Sur l'histoire des consonnes en grec" (MSL, 19, 1916, S. 163—173), S. 172; vgl. Jespersens Kommentar in Language, S. 198 ff. u. seine beiden Aufsätze über das Vernersche Gesetz u. über stimmhafte u. stimmlose Reibelaute im Englischen (Lingüistica, S. 229—248 u. S. 346—383). Vgl. Hermanns Bemerkungen, a. a. O., S. 49 ff.; T r u b e t z k o y , Journal de Psychologie, 30, S. 243 f.; Rogger, Z R P h , 61, S. 218 f. passim, bes. S. 101—111 u. 249—295. A. Meillet, „Sur la disparition des formes simples du prétérit" (Ling. bist., I, S. 149—158); vgl. auch Spitzer, „Uber den Schwund des einfachen Präteritums" (Donum Natalicium Schrijnen, S. 86—88); A. J. F. Zieglschmid, „Der U n t e r g a n g des einfachen Präteritums in verschiedenen indogermanischen Sprachen" (Curme Volume of Linguistic Studies, Baltimore, 1930, S. 369—378); Iordan-Bahner, S. 356, Anm. 1. Uber andere allgemeine Tendenzen in der grammatischen Entwicklung jetzt auch M. Leroy, Sur le concept d'évolution en linguistique (Brüssel, 1950), S. 29 ff.

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Allgemeine

Semantik

les innovations. O n est amené à éliminer toutes les causes qui seraient particulières à une langue, dès l'instant qu'il s'agit d ' u n fait constaté sur un grand nombre de points: si une même évolution se p r o d u i t sur deux domaines distincts, ce peut être dû à une rencontre fortuite, mais si on l'observe sur cinq ou six grands domaines, le h a s a r d semble exclu et il f a u t découvrir des causes qui aient pu agir sur tous les domaines considérés. La généralité même du fait est une donnée de premier ordre pour la recherche des causes" (Ling. bist., I, S. 156). Meillets Überlegungen machen die ganze methodologische Tragweite der von ihm vorgeschlagenen Betrachtungsweise deutlich. V o r ihm pflegte m a n den Schwund des einfachen Präteritums im Französischen mit rein innersprachlichen G r ü n d e n zu erklären: mit den Konjugationsunregelmäßigkeiten dieses Tempus; mit paradigmatischer H o m o n y m i e ; als syntaktische Bevorzugung des Perfekts als einer mehr „subjektiven" Vergangenheitsform gegenüber dem mehr „objektiven" P r ä t e r i t u m ; als morphologische Tendenz zu analytischen V e r b f o r m e n usw. Die gleichen Argumente pflegte m a n auf parallele Erscheinungen im D e u t schen, Slawischen, Iranischen, Armenischen u. a. a n z u w e n d e n . Die neue Methode verzichtet auf keins dieser Argumente, weist aber über sie hinaus auf etwas Tieferes u n d Bleibenderes, auf eine Tendenz, die sich immer u n d überall in den verschiedenen Sprachen findet d a n k einer besonderen Reihe von günstigen U m s t ä n d e n u n d Bedingungen — es sind genau die, die m a n zuvor als äußere Ursachen d a f ü r a n g e f ü h r t hatte. Dies w i r d besonders immer d a n n deutlich, w e n n sich dieselbe Tendenz zu verschiedenen Z e i t p u n k t e n in der Geschichte derselben Sprache geltend macht, wie z. B. in der beständigen Rivalität zwischen P r ä t e r i t u m u n d P e r f e k t im Französischen, einer A r t zyklischer Entwicklung, die noch immer nicht abgeschlossen ist. 475 Andererseits w ä r e es ein grober methodischer Fehler, zu behaupten, d a ß sich diese Tendenz in Sprachen wie dem Englischen, w o die beiden Zeitformen ungestört nebeneinander bestehen ("I loved' — 'I have loved'), a u f g r u n d widriger U m s t ä n d e oder sogar mangels günstiger Bedingungen nicht bemerkbar gemacht habe. D a s „argumentum ex silentio" gilt in diesem Falle nicht: w e n n es keine k l a r e n u n d unbestreitbaren Symptome f ü r diese Tendenz gibt, d ü r f e n wir nicht einfach deswegen mit ihr rechnen, weil sie anderswo v o r k o m m t . Eine Tendenz k a n n auch ohne universale Geltung n a t ü r lich, spontan u n d weitverbreitet sein. In Anbetracht der eben genannten u n d der n o d i zu diskutierenden T a t sachen darf m a n wohl sagen, d a ß eine „pandironische" Betrachtungsweise in bestimmten Situationen nicht nur erlaubt u n d vielversprechend, sondern sogar 475

Meillet, „L'Évolution des formes grammaticales" {Ling. bist., I, S. 130—148), bes. S. 141—144 ist der Meinung: „Le cycle est désormais parcouru, et, pour se donner un parfait, le français devra recourir à quelque tour nouveau, dont on n'entrevoit pas encore la naissance" (S. 143). Nach L. Foulet, „Le Développement des formes surcomposées" (Romanía, 51, 1925, S. 203—252, bes. S. 251 f.) kommt jedodi das Parfait Surcomposé ('j'ai eu aimé') als Nachfolger für das Passé Indéfini als Perfektform in Frage.

Panchronische

Bedeutungsforschung

241

unbedingt geboten ist, wenn m a n grobe Irrtümer vermeiden will. Die skeptischen Bemerkungen vieler Gelehrter einschließlich Saussures selbst sollten uns nicht abschrecken, sondern als Vorsichtsmaßnahmen und Warnungen vor voreiligen Verallgemeinerungen in so schwerwiegenden Dingen betrachtet werden. Saussure hat sich selbst nicht ganz klar d a z u geäußert. Er räumt ein, daß es möglicherweise „panchronische Gesetze" gibt, die den universalen Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaften ähneln, z. B. die allgemeine Geltung des Lautwandels. „ I n der Sprachwissenschaft gibt es wie beim Schachspiel Regeln, die alle Ereignisse überdauern" (S. 113; f. A . S. 135). Aber er hat diese Ausblicke nur getan, um zu zeigen, daß es nichts als Trugbilder sind: die allgemeinen Prinzipien haben, so sagt Saussure, nichts mit greifbaren Tatsachen gemeinsam, und sobald man sich diese ansieht, wird der panchronische Gesichtspunkt automatisch hinfällig. S o ist jeder einzelne Lautwandel in R a u m und Zeit begrenzt; keiner hat sich jederzeit überall vollzogen; er ist diachronisch, nicht panchronisch. Es gibt auch keinen gemeinsamen Nenner f ü r den synchronischen und den panchronischen S t a n d p u n k t : der Begriff des Wertes kann nur auf die Synchronie angewendet werden. So kommt er zu dem entmutigenden Schluß: „ D e r panchronische Gesichtspunkt findet niemals Anwendung auf bestimmte Tatsachen der Sprache" (S. 114). Hierauf darf man zu Recht mit G r a y (Foundations, S. 24) antworten: wenn es überhaupt eine panchronische Betrachtungsweise gibt, so würde sie ihren Bezugspunkt in „le langage", der menschlichen Sprechtätigkeit im allgemeinsten Sinne, haben, und nicht im Bereich von „la langue", geschweige denn von „ l a p a r o l e " . Wieder einmal gibt die praktische und heuristische Seite des Problems den Ausschlag gegenüber Saussure. Seit man herausgefunden hat, daß es außer den verschiedenen „langues" bestimmte durchgehende Kennzeichen bzw. Strömungen gibt, die sich mit gewisser Genauigkeit auch formulieren lassen, müssen sie ja auch wohl untersucht werden. Saussures Zweifel geben dennoch wertvolle Anhaltspunkte für die Methode und den A u f b a u des neuen, oder vielmehr zukünftigen, Wissenschaftszweiges. In keinem anderen Bereidi der Sprachwissenschaft ist soviel Vorsicht geboten; es empfiehlt sich daher, einige Bemerkungen zur Methode vorauszuschicken, die jeder, der sich mit „panchronischen" Problemen befaßt, beherzigen sollte, wenn er nicht den neuerworbenen wissenschaftlichen R a n g seines Forschungsgegenstandes gefährden will. Soweit ich sehe, gibt es vier solcher Grundbedingungen: 1. „ T h e only useful generalizations about language are inductive g e n e r a l i z a t i o n s." 4 7 6 Anstatt um deduktive Systeme bemüht zu sein, denen alle Sprachen entsprechen sollen, wie es vor zwei Jahrhunderten üblich war, 476

16

Bloomfield, Language, S. 20 (nachtr. gesperrt). V g l . Serrus, La Langue, S. 63 u. H j e l m s l e v , Principes, S . 3 9 ; in seinen Grundlaggelse, S. 11 ff. betont er jedoch, d a ß auch d e d u k t i v e Gesichtspunkte nötig sind. Ulimann

242

Allgemeine Semantik

sollte die Forschung durch praktisches Herumprobieren weiterkommen und auf konkrete Ergebnisse bedacht sein. Die Phänomene sollten mit der gleichen peinlichen Genauigkeit durchforscht werden, durch die sich die orthodoxeren Zweige der Sprachwissenschaft auszeichnen, nur mit dem einen Unterschied, daß die gleichen hohen wissenschaftlichen Anforderungen jetzt an die Erforschung von mehr als einer Sprache gestellt werden. Statt zu einem Gegenschlag gegen das auszuholen, was man den „Atomismus" der üblichen Forschungen genannt hat, sollte die panchronische Sprachwissenschaft in Anbetracht dessen, was auf dem Spiele steht, noch gewissenhafter in der Methode sein. 2. Mit dem ersten Grundsatz hängt die Forderung nach einer e m p i r i s c h e n Betrachtungsweise zusammen. Man sollte immer daran denken, daß das neue Verfahren vor allem heuristisch gerechtfertigt ist. Es muß uns immer um nachweisbare Merkmale und Tendenzen gehen; wir können keine Systeme aufstellen, bevor wir ihnen nicht etwas zuzuordnen wissen. Ein sehr weitgefaßter Rahmen und ein ebensolches Programm sind zusammen mit einer vorläufigen Terminologie natürlich wichtige methodische Vorbedingungen; freilich sollte man sich darüber im klaren sein, daß sie nur praktischen und momentanen Wert haben. Die Zeit für kühne und allumfassende Systeme ist noch nicht einmal in Sicht. 3. Alle Aussagen über „panchronische" Tendenzen sollten m ö g l i c h s t f l e x i b e l gehalten sein, damit alle möglichen Ausnahmen und störenden Einflüsse berücksichtigt werden können. Wenn sogar diachronische Lautgesetze, das Zwingendste, was an Gesetzmäßigkeiten in der Sprache überhaupt denkbar ist, heutzutage nur sehr vorsichtig formuliert werden, so ist hier noch mehr Vorsicht geboten, wo es um mehrere Sprachen geht und sich die Gefahr von Überschneidungen und Abweichungen entsprechend erhöht. 4. V o r allem aber muß d e r B e g r i f f „ p a n c h r o n i s c h " nach Bedeutung und U m f a n g sehr s o r g f ä l t i g bestimmt werd e n . Wenn man, wie es geschehen ist, behauptet, daß bestimmte Merkmale oder Tendenzen allgegenwärtig sind, daß sie sich in j e d e r Sprache zu j e d e m Zeitpunkt ihrer Entwicklung geltend machen, so heißt das, die Entdeckungen der neuen Methode der wissenschaftlichen Beweisbarkeit entziehen (vgl. Blake, I F , 56, S. 251 f.). N u r allgemeine Aussagen wie die Feststellung: „Alle Sprachen sind mehr oder weniger polysemantisch" würden, derart universal bezogen, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben; und diese Wahrscheinlichkeit a priori würde nur dafür sprechen, daß sie selbstverständlich, d. h. ohne jeden heuristischen Wert sind. Empirische Aussagen können nur für Zeiträume und Gebiete gelten, die wirklich untersucht worden sind. Diese Einschränkung braucht aber die Verfahrensweise dieser Untersuchungen nicht zu beeinträchtigen. Sie ist eine natürliche Folge der eben geforderten induktiven und empirischen Orientierung und der einzige Weg, dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu begegnen.

Panchronische

243

Bedeutungsforschung

I n Anbetracht dieser Bestimmungen scheint der Terminus „panchronisch" nicht besonders geeignet zu sein. Was sonst noch dafür in Frage kommt, ist allerdings noch ungeeigneter: „ U n i v e r s a l " ist ebenso irreführend und außerdem mit einigen

zweifelhaften K o n n o t a t i o n e n verbunden.

„Allgemein"

hat

einen großen Nachteil: es könnte mit der „Allgemeinen S e m a n t i k " der K o r zybski-Schule verwechselt werden. „ K o m p a r a t i v " ist oft recht vage in diesem Sinne gebraucht worden, aber es kann genausogut den Vergleich

mehrerer

Sprachen — b z w . verschiedener Stufen in der Geschichte ein und derselben Sprache — zu zahlreichen anderen Zwecken bezeichnen, die uns ebenfalls geläufig sind: zur Erschließung hypothetischer Bedeutungen in der Muttersprache; zur Strukturanalyse ( B a l l y , v . W a r t b u r g ) ; um die gegenseitige Beeinflussung und Ergebnisse ein und desselben Einflusses in mehreren Sprachen festzustellen (Spitzer); zur „systematischen diachronischen Sprachwissenschaft", die auf dem Vergleich synchroner Querschnitte aufgebaut ist (v. Wartburg, Sechehaye u. Trier). 4 7 7 D i e panchronische Betrachtungsweise könnte in der Fülle dieser einander durchkreuzenden und überschneidenden Gesichtspunkte leicht untergehen. Alle diese Termini haben noch zusätzlich den Nachteil, daß sie nicht in die Begriffsreihe von „synchronisch" und „diachronisch" passen, während „panchronisch" ausdrücklich dafür geschaffen worden ist. Es wäre trotzdem noch unmißverständlicher

und

genauer,

die

neue

Methode

„achronisch" 4 7 8

oder

„polychronisch" zu nennen. Aber da sich „panchronisch" in diesem Zusammenhang nun einmal eingebürgert hat, so hält man zweckmäßigerweise

daran

fest und bestimmt seinen U m f a n g im Sinne unserer vier Grundsätze. Sommerfeit hat v o r einiger Zeit die künftige Wissenschaft der panchronischen Linguistik in ihrer allgemeinen Struktur skizziert. 4 1 9 Dabei hat er von Saussure (S. 1 0 7 ; f. A. S. 128) den Terminus „Idiosynchronie"

übernommen,

um damit synchrone Systeme innerhalb e i n e r Sprache zu bezeichnen; auch hat er den Saussureschen A u f r i ß der verschiedenen Zweige der Sprachwissenschaft als Ausgangspunkt für ein stärker verzweigtes System benutzt. Saussures Schema baut sich aus einfachen und bekannten Elementen auf (vgl. S. 1 1 7 ; f. A. S. 1 3 9 ) : Synchronie Langue Diachronie

Langage Parole 477

478 479

16*

Vgl. L a Grasserie, II, S. 6 3 5 — 6 5 8 ; Wellander, I, S. 7 9 f.; J . Weisweiler, „Bedeutungsgeschichte, Linguistik und Philologie" ( S t r e i t h e r g - F e s t s c h r i f l , S. 4 1 9 — 4 6 2 ) , S. 4 2 0 ; Meriggi, a. a. O . , S. 85 u. 91 ff.; K o n r a d , a. a. O . , S. 1 1 0 f . ; Spitzer, Historical Semantics, S. 2. B r a n d a l , Essais, S. 9 6 ; vgl. meine Bemerkungen in M L R , 38, S. 3 3 3 . „Points de vue diadironique, synchronique et panchronique en linguistique générale" (Norsk Tidsskrifl, 9, 1 9 3 8 , S. 2 4 0 — 2 4 9 ) . Vgl. audi die beiden Beiträge v o n A . S. C . Ross, „Outline of a T h e o r y of L a n g u a g e " (Leeds Studies in English, 1, 1932,

244

Allgemeine

Semantik

Sommerfeit hat die obere Zone des Schemas ausgebaut, um die pandironische Untergruppe unterbringen zu können. Seine Hauptthese ist, daß „la langue" sowohl idiochronisch als auch panchronisch untersucht werden kann, wobei es jedesmal wiederum einen synchronischen und einen diachronischen Teil

zu

unterscheiden gibt: Idiosynchronie Idiodironie Langue

Idiodiachronie Pansynchronie

Panchronie

Pandiachronie

In diesem Schema, das sich allerdings nicht leicht mit Sechehayes drei (oder Buyssens' sechs) Saussureschen Linguistiken koordinieren lassen würde, kommt der Doppelcharakter der panchronischen Sprachwissenschaft überzeugend zum Ausdruck: sie kann es entweder mit panchronischen M e r k m a l e n , „les principes communs à tous les états de langue" (S. 2 4 2 ) , oder mit panchronischen T e n d e n z e n , „des caractères généraux des changements linguistiques" (ebd.), zu tun haben. Was darüber hinaus in diesem System an Symmetrie erstrebt wird, stimmt nicht ganz. D i e panchronische Linguistik ist, wie gesagt, nicht eigentlich eine Wissenschaft von „la langue", sondern von „le l a n g a g e " ; die Gabelung muß auf einer früheren Stufe einsetzen, selbst wenn damit die Saussuresche Einteilung gefährdet würde. V o n daher gesehen passen die neuen Untergruppen gut in das System von Sechehaye. Es ergeben sich drei parallele Wissenschaften: eine Linguistik der „langage" ( =

panchronisch), eine der „langue" und eine

der „parole". Für die erste gelten die beiden von Sommerfeit unterschiedenen Einteilungsprinzipien, für die zweite das traditionelle Schema von Synchronie und Diachronie, wobei sich „la parole organisée" zwischen die beiden Betrachtungsweisen der „langue" einschiebt. Es wäre verfrüht, über diese Einteilung jetzt weiter nachzudenken, da die panchronische Abteilung erst mit greifbarem, sorgfältig geprüftem Sprachmaterial gefüllt werden muß. An welche Stelle gehört die Semantik? Beide Teile der panchronischen Linguistik würden offensichtlich wieder die üblichen fünf Untergruppen haben und demnach eine dreidimensionale Einheit bilden, die dem A u f b a u der Linguistik von „la langue" entspricht. D i e „pansynchronische" oder „deskriptiv panchronische" Semantik würde diejenigen M e r k m a l e der Bedeutung

ermitteln,

die verschiedene Sprachen in einem Ruhezustand gemeinsam haben, während sich S. 1 — 1 4 ) , bes. S. 12 ff. u. „The Sub-divisions o f P h i l o l o g y " (ebd., 2, 1 9 3 3 , S. 1 — 5 ) ; vgl. auch Hjelmslev, Principes, S. 1 0 2 , Anm. 3 ; S. 2 6 7 u. 2 7 4 sowie meine Bemerkungen in Word, 2, S. 125.

Panchronische

Tendenzen

in der

Synästhesie

245

die „pandiachronische" oder „historisch panchronische" Semantik auf bestimmte mehr oder weniger allgemeine Tendenzen der Bedeutungsentwicklung konzentrieren würde, die sie soweit wie möglich zu bleibenden Wesenszügen des menschlichen Geistes oder der Gesellschaftsordnung in Beziehung zu setzen sucht, so wie etwa ihr phonologisches Gegenstück seine Ergebnisse an den physiologischen Mechanismus der Artikulationsbewegungen anzuschließen trachtet (Sommerfeit, S. 242). Im Augenblick gibt es noch sehr wenig induktives Material, das irgendwelche Schlüsse auf dem Gebiet der p a n s y n c h r o n i s c h e n S e m a n t i k zulassen würde. Deduktiv könnte man, ohne Fehler zu machen, einiges folgern, aber man würde wieder nur zu vagen, selbstverständlichen und daher völlig nichtssagenden Ergebnissen kommen. Vieles, was wir im zweiten Kapitel dieses Buches erarbeitet haben, läßt sich wie andere Prinzipien der allgemeinen Linguistik potentiell auch panchronisch anwenden: solange diese Feststellungen jedoch noch nicht empirisch verifiziert worden sind, ist es müßig, über den Gegenstand weiter zu theoretisieren. In der deskriptiven Semantik scheinen sogar U n t e r s c h i e d e mehr zu interessieren als Entsprechungen; so gelten etwa die allgemeinen Kategorien der Bedeutungsvielfalt offensichtlich f ü r eine ganze Reihe von Sprachen, aber die Untersuchung wird gerade dann fruchtbar, wenn man sich näher ansieht, wie jede dieser einzelnen Sprachen auf ihre besondere Weise auf die Polysemie und Homonymie reagiert und wie die Synonyme innerhalb des synchronen Systems angeordnet sind. Die „Feldtheorie" steht und fällt mit einer solchen um die Unterschiede bemühten Betrachtungsweise. Die p a n d i a c h r o n i s c h e S e m a n t i k ist heuristisch zweifellos sehr vielversprechend. Ihre Stärke sind nicht sosehr allgemeine Theorien wie die von Meillet und Roudet, die Sommerfeit als klassische Beispiele d a f ü r a n f ü h r t (S. 242 u. 247 f.); ihre Möglichkeiten liegen vielmehr in der Richtung jenes neuen Typs von Bedeutungsgesetz, der den Ausgangspunkt f ü r unsere panchronische Untersuchung bildete. Um nicht nur zu theoretisieren, werde ich im folgenden ausführlicher als konkretes Beispiel die „pandiachronischen" Gesetzmäßigkeiten, von denen die synästhetischen Übertragungen bestimmt zu sein scheinen, erörtern.

2. P A N C H R O N I S C H E T E N D E N Z E N I N D E R S Y N Ä S T H E S I E Intersensorische Übertragungen 4 8 0 haben so auffällig viele panchronisdie Züge, daß sie sich als Musterbeispiel geradezu anbieten. Von woher man die 480

Es ist unmöglich, hier auch nur eine Auswahlbibliographie aus der Flut der Literatur zur Synästhesie zu geben; ich beschränke mich daher auf die Angabe einiger Standardwerke, wo sich weitere Literaturhinweise finden. Zwei neuere Abhandlungen sind: Skard, a . a . O . , S. 183 ff. (mit sehr nützlicher Bibliographie) u. A. G.

Panchronische

Tendenzen

in der

Synästhesie

245

die „pandiachronische" oder „historisch panchronische" Semantik auf bestimmte mehr oder weniger allgemeine Tendenzen der Bedeutungsentwicklung konzentrieren würde, die sie soweit wie möglich zu bleibenden Wesenszügen des menschlichen Geistes oder der Gesellschaftsordnung in Beziehung zu setzen sucht, so wie etwa ihr phonologisches Gegenstück seine Ergebnisse an den physiologischen Mechanismus der Artikulationsbewegungen anzuschließen trachtet (Sommerfeit, S. 242). Im Augenblick gibt es noch sehr wenig induktives Material, das irgendwelche Schlüsse auf dem Gebiet der p a n s y n c h r o n i s c h e n S e m a n t i k zulassen würde. Deduktiv könnte man, ohne Fehler zu machen, einiges folgern, aber man würde wieder nur zu vagen, selbstverständlichen und daher völlig nichtssagenden Ergebnissen kommen. Vieles, was wir im zweiten Kapitel dieses Buches erarbeitet haben, läßt sich wie andere Prinzipien der allgemeinen Linguistik potentiell auch panchronisch anwenden: solange diese Feststellungen jedoch noch nicht empirisch verifiziert worden sind, ist es müßig, über den Gegenstand weiter zu theoretisieren. In der deskriptiven Semantik scheinen sogar U n t e r s c h i e d e mehr zu interessieren als Entsprechungen; so gelten etwa die allgemeinen Kategorien der Bedeutungsvielfalt offensichtlich f ü r eine ganze Reihe von Sprachen, aber die Untersuchung wird gerade dann fruchtbar, wenn man sich näher ansieht, wie jede dieser einzelnen Sprachen auf ihre besondere Weise auf die Polysemie und Homonymie reagiert und wie die Synonyme innerhalb des synchronen Systems angeordnet sind. Die „Feldtheorie" steht und fällt mit einer solchen um die Unterschiede bemühten Betrachtungsweise. Die p a n d i a c h r o n i s c h e S e m a n t i k ist heuristisch zweifellos sehr vielversprechend. Ihre Stärke sind nicht sosehr allgemeine Theorien wie die von Meillet und Roudet, die Sommerfeit als klassische Beispiele d a f ü r a n f ü h r t (S. 242 u. 247 f.); ihre Möglichkeiten liegen vielmehr in der Richtung jenes neuen Typs von Bedeutungsgesetz, der den Ausgangspunkt f ü r unsere panchronische Untersuchung bildete. Um nicht nur zu theoretisieren, werde ich im folgenden ausführlicher als konkretes Beispiel die „pandiachronischen" Gesetzmäßigkeiten, von denen die synästhetischen Übertragungen bestimmt zu sein scheinen, erörtern.

2. P A N C H R O N I S C H E T E N D E N Z E N I N D E R S Y N Ä S T H E S I E Intersensorische Übertragungen 4 8 0 haben so auffällig viele panchronisdie Züge, daß sie sich als Musterbeispiel geradezu anbieten. Von woher man die 480

Es ist unmöglich, hier auch nur eine Auswahlbibliographie aus der Flut der Literatur zur Synästhesie zu geben; ich beschränke mich daher auf die Angabe einiger Standardwerke, wo sich weitere Literaturhinweise finden. Zwei neuere Abhandlungen sind: Skard, a . a . O . , S. 183 ff. (mit sehr nützlicher Bibliographie) u. A. G.

246

Allgemeine

Semantik

Synästhesie auch angeht, so fällt auf, d a ß sie ein Grenzphänomen ist und einen großen Spielraum hat. In der funktionalen Klassifikation selbst hat sie genau auf der Grenze zwischen den beiden wichtigsten Kategorien des Bedeutungswandels gelegen, nämlich zwischen N a m e n ü b e r t r a g u n g e n a u f g r u n d von Sinnähnlichkeit u n d Namenübertragungen a u f g r u n d von Sinnberührung. Wie allgemein das Phänomen ist, zeigt sich audi darin, d a ß in den unterschiedlichsten Sprachen Parallelentwicklungen vorkommen. Wem im Dorian Gray (5. Kap.) der Vergleich „his words . . . eut the air like a dagger" aufgefallen sein sollte, der wird überrascht sein, d a ß es einen sehr ähnlichen Vergleich in der Sprache der K w a k i u t l - I n d i a n e r auf Vancouver Island gibt: „ . . . t h e words of the speech 'strike' the guests, as a spear strikes the game or as the rays of the sun strike the e a r t h " (F. Boas, Donum Schrijnen, S. 148). Frz. 'couleur criarde', it. 'colori stridenti' ['schreiende Farben'] ist mit der Bedeutungsentwicklung von 'hell', das mit 'hallen' zusammenhängt, und mit zwei nichtindogermanischen Beispielen zu vergleichen: ung. 'rikitö' 'grell', ursprünglich nur auf gellende Geräusche bezogen, jetzt auf Farben beschränkt, u n d finn. 'heleänpunainen' 'scharlachrot', w ä h r e n d 'heleä' f ü r sich den üblichen Sinn 'klingend' hat (Gombocz, S. 7). Die Reihe der Beispiele ließe sich noch aus allen möglichen alten und neueren Sprachen bis ins unendliche fortsetzen. Selbst w e n n man sich erinnert, daß mit solchen Parallelen erst dann zu rechnen ist, wenn sie auf mögliche Lehnbildungen hin eingehend untersucht worden sind, bleibt doch der Gesamteindruck, d a ß sie panchronische Geltung haben. 481 U n d doch ist die semantische Seite der Synästhesie nur eine kleine Facette des Kaleidoskops. Die Neigung, die verschiedenen Sinnesbereiche miteinander zu verbinden, zu vereinigen und zu verschmelzen, ist so elementar u n d tiefein-

481

Engstrom, „In D e f e n c e of Synaesthesia in Literature" (Philological Quarterly, 25, 1946, S. 1—19). D i e umfassendste Bibliographie geben F. Mahling, „Das Problem der 'Audition colorée'" (Archiv für die gesamte Psychologie, 57, 1926, S. 1 6 5 — 3 0 1 ) ; A. Argelander, Das Farbenhören und der synästhetische Faktor der Wahrnehmung (Jena, 1927); u. A. Wellek, „Zur Geschichte und Kritik der Synästhesie-Forschung" (Archiv für die gesamte Psychologie, 79, 1931, S. 3 2 5 — 3 8 4 ) . D i e gründlichste literarhistorische Arbeit ist immer noch E. v. Siebold, „Synästhesien in der englischen Dichtung des 19. Jahrhunderts" (ESt, 53, 1919/20, S. 1 — 1 5 7 u. S. 196—334). I. Babbitts The New Laokoon ( B o s t o n / N e w York, e 1 9 2 9 ) behandelt vor allem die ästhetischen Aspekte. D i e folgenden Aufsätze enthalten brauchbares, mehr allgemeines Material: G. Dromard, „Les Transpositions sensorielles dans la langue littéraire" (Journal de Psychologie, 5, 1908, S. 492—507); J. E. D o w n e y , „Literary Synesthesia" (The Journal of Philosophy, 9, 1912, S. 4 9 0 — 4 9 8 ) ; G. Maurevert, „Des sons, des goûts et des couleurs" (Mercure de France, 292, 1939, S. 5 4 1 — 5 8 5 ) ; W . B. Stanford, „Synaesthetic Metaphor" (Comparative Literature Studies, 6/7, 1942, S. 2 6 — 3 0 ) etc. etc. Weitere Literaturangaben finden sidi auch in meinen Aufsätzen zur S y n ästhesie bei einzelnen Dichtern [s.u. A n m . 5 0 4 ] . Einige interessante Angaben finden sich bei R. Jakobson, G. A . Reichard u . E. Werth, „Language and Synesthesia" (Word, 5, 1949, S. 2 2 4 — 2 3 3 ) .

Panchronische

Tendenzen

in der

Synästhesie

24 7

gewurzelt, daß man überall auf ihre Folgeerscheinungen stößt und daß eine Reihe von Wissenschaften sich mit ihnen zu befassen hat. 1926 hat Mahling festgestellt, daß mindestens sieben große Gebiete an ihrer Erklärung interessiert sind: die mathematische Physik, die Anatomie, die Physiologie, die Psychologie, die Ästhetik, die Pädagogik und Forschungen auf dem Gebiet des Okkultismus (Archiv, 57, S. 177). Dem wären noch zwei weitere Betrachtungsweisen hinzuzufügen: Literaturwissenschaft und Semantik. Darüber hinaus ist eine Reihe sehr verschiedener Zweige der Psychologie, von der Experimentellen Psychologie bis zur Freudschen Psychologie, daran interessiert. Mahling hat nicht weniger als elf H a u p t t y p e n psychologischer Theorien verzeichnet. Seitdem haben die Experimente von Anschütz neue Möglichkeiten auf diesem Gebiet eröffnet. Diese wenigen kurzen Hinweise mögen genügen, um eine Vorstellung davon zu geben, auf wie vielen Gebieten die Synästhesie im Brennpunkt des Interesses steht. Noch aufschlußreicher ist ein Blick auf die E n t w i c k l u n g d e r S y n ä s t h e s i e in der Literatur- und Geistesgeschichte. Ihre frühesten Spuren gehen bis auf das zweite, möglicherweise sogar bis auf das dritte Jahrtausend v. Chr. zurück; sie tauchen im alten China und Japan, in Indien, Persien, Arabien, Ägypten, Babylonien und in Palästina auf. 482 In Griechenland 483 spielen sie in einer Reihe von Mythen, in der „Sphärenmusik", in Demokrits Lehre von den Atomen und sogar bei Piaton eine Rolle, der atomistisch verstandene Entsprechungen wie 'weiß-heiß', 'schwarz-kalt' verzeichnet. In De Anima untersucht Aristoteles den Gebrauch von Adjektiven wie 'schwer' und 'spitz' in bezug auf Töne: „'Acute' and 'grave" are here metaphors transferred from their proper sphere, viz., that of touch . . . There seems to be a sort of parallelism between what is acute or grave to hearing and what is 'sharp' or 'blunt' to touch" (Stanford, Greek Metaphor, S. 49). Inzwischen hatte die Synästhesie audi in die griechische Dichtung Eingang gefunden, und zwar in Homers Epen, wo sich z. B. audi das berühmte '¿na XeiQiöeooav 'lilienstimmig' findet (Ilias, III, 152). In seiner reichen Materialsammlung f ü h r t Stanford auch zwei wirklich erstaunliche Metaphern aus der griechischen Tragödie an: „Trompeten flammten schmetternd drein mit ihrem R u f " in den Persern von Aischylos (V. 395)484 und „Als, einem Brand gleich, nun der Ruf tyrrhenischer Trompeten scholl" (Euripides, Die Phoinikerinnen, V. 1377; vgl. Stanford, Greek Metaphor, S. 53 u. 57). 4,2

183

484

Wellek, „Das Doppelempfinden im abendländischen Altertum und Mittelalter" (Archiv f . d. ges. Psychologie, 80, 1931, S. 120—166), S. 122; vgl. audi Maurevert, Mercure de France, 292, S. 546 u. Engstrom, Philological Quarterly, 25, S. 10. Vgl. Wellek, Archiv f . d. ges. Psychologie, 80, S. 123—141 u. bes. Stanford, Greek Metaphor, S. 47—62: „On Synaesthetic or Intersensal Metaphor". Vgl. auch Struck, a. a. O., S. 109—118 [nicht nur zum Griechischen und Lateinischen]. Vgl. Stanford, Aeschylus in his Style (Dublin, 1942), S. 106—110.

248

Allgemeine

Semantik

In Rom fand das Horazische „mutum est pictura poema", in dem Simonides nachklingt, sein Gegenstück in der Definition des Vitruvius, die Architektur sei „gefrorene Musik" (Wellek, Archiv, 80, S. 139). Cicero bringt Übertragungen wie „splendor vocis" [Her. 3, 21, 12], „verborum fulmina" [Fam. 9, 21, 2] u. a. Er hat darin in Ennius einen Vorgänger, der [in seinen Scenica, 215 f.] die Wendung wagt: „Quid noctis videtur? in altisono Caeli clipeo . . (Stanford, Aeschylus, S. 65). In der Äneis finden sich einige interessante Nachklänge griechischer Synästhesien: „clamore incendunt caelum" (X, 895); „maestam incendunt clamoribus urbem" ( X I , 147; vgl. Struck, a. a. O., S. 112). Im Mittelalter war der Verfall des Sinnlichen der Theorie der Synästhesie und der intersensorischen Übertragung im großen und ganzen abträglich (Wellek, Archiv, 80, S. 141—166). Das Motiv der „Sphärenmusik" lebt weiter: es findet sich bei Dante (Purg. X X X , 92 f.) und Chaucer [Pari, of Foules, 59 ff.]. Die Musiktheorie und insbesondere die Gedankengänge des Guido d'Arezzo tragen das Ihre dazu bei. Es überrascht nicht, daß sich die stark stilisierende und esoterische provenzalische Dichterschule synästhetischer Concetti bedient hat. Der erste Troubadour, Guillaume I X . von Aquitanien, sprach vom „vers . . . de bona color" [ed. A. Jeanroy, Paris 1913, VI, 2], Raimbaut d'Orange unterschied zwischen „bruns e tenhz motz" [ed. Pattison, I, 19], Jaufré Rudel hat, Boileaus „polissez-le sans cesse et le repolissez" [Art Poétique, I, 173] vorwegnehmend, den Gesang der Nachtigall so beschrieben: E.l rossinholetz el ram Volf e refranh ez aplana Son dous chantar et afina . . . [ed. A. Jeanroy, Paris 2 1924, II. 4 — 6 ]

Ein wenig später hat im benachbarten Kastilien König Alfonso X . seine in galicischer Sprache geschriebenen Cantigas de Santa Maria als „saborosos de cantar" [ed. W. Mettmann, Bd. 1, Prolog A, V. 26] gerühmt (vgl. Wellek, Archiv, 80, S. 161). Sogar ein nordfranzösischer Versroman spricht vom Hören 'kalter Nachrichten': „Dont ont oï freides novèles" ( R o m a n de Thèbes, V. 1944). Audi in der Edda gibt es einige kühne Vermischungen von Sinneseindrücken (Wellek, Archiv, 80, S. 163 f.). Es konnte gar nicht ausbleiben, daß das Sprachgenie Rabelais diese Möglichkeiten genutzt hat. Er hat das mit wahrem Wohlbehagen im 56. Kapitel von Buch I V bei der berühmten Episode der „gefrorenen Worte" getan: „Lors nous jecta sus le tillac plenes mains de parolles gelées, et sembloient dragée perlée de diverses couleurs. Nous y veismes des motz de gueule, des motz de sinople, des motz de azur, des motz de sable, des motz dorez. Les quelz, estre quelque peu esdiauffez entre nos mains, fondoient comme neiges, et les oyons realement, mais ne les entendions, car c'estoit languaige barbare" [ed. P. Jourda, Bd. 2,

Panchronische Tendenzen

in der

Synästhesic

249

Paris, 1962, S. 2 0 6 ] , Ein Beispiel 4 8 5 für Geschmackssynästhesien k o m m t auch bei Ronsard vor: Orateurs eloquens, de qui le beau parier Surpassoit la liqueur que rousse on voit couler Dans les gaufres de cire, alors que les auettes O n t en miel conuerty la douceur des fleurettes. [ed. Laumonier, Paris 1914—1919, Bd. 4, S. 233] I m Elisabethanischen E n g l a n d müssen solche H y p a l l a g e n so häufig gewesen sein, d a ß sie v o n Marston: „ D i d y o u ever smell a more sweete sounde" ( A n t o n i o ' s Revenge, III, 4) und sogar v o n Shakespeare: „Pyramus: I see a voice: n o w will I to the chink T o spy an I can hear m y Thisby's face" ( A MidsummerNight's Dream, V, 1) ironisiert werden konnten. 4 8 6 A n d e r s w o finden sich bei Shakespeare jedoch auch echte intersensorisdie Übertragungen, z. B. in The Merchant of Venice, w o dieses nur eins v o n vielen Beispielen ist: Here will we sit and let the sounds of music Creep in our ears: soft stillness and the night Become the touches of sweet harmony . With sweetest touches pierce your mistress' car And draw her home with music. (V, 1) Twelfth Night wird mit einer sehr kunstvollen Synästhesie eingeleitet, in der sich vier verschiedene Sinneseindrücke mischen: If music be the food of love, play on; Give me excess of it, that, surfeiting, The appetite may sicken, and so die. T h a t strain again! it had a dying fall: O, it came o'er my ear like the sweet sound, T h a t breathes upon a bank of violets, Stealing and giving o d o u r . . . (1.1) Diese weitausgesponnene intersensorisdie Metapher ist später so gründlich mißverstanden worden, d a ß z. B. P o p e 'sound' zu 'south' emendiert hat. 486 " 185

Nach G. Davis, „Colour in Ronsard's Poetry" (MLR, 40, 1945, S. 95—103), S. 99. Beide Beispiele bei Stanford, Comparative Literature Studies, (>l7, S. 28. A. Wellek, „Renaissance- und Barock-Synästhesie" (DVj, 9, 1931, S. 534—584), S. 565 zitiert „as they smelt music" aus The Tempest, IV, 1. Wellek (ebd., S. 566—572) bringt auch interessante Beispiele aus der englischen Literatur des 17. Jahrhunderts, bes. von Crashaw: [aus „Musicks Duell", V. 95 u. V. 68] „On the w a v ' d backe of every swelling straine"; „Bathing in streames of liquid Melodie". U . a . auch: „Eyes are vocall, [Teares have Tongues,/ And there be words not made with lungs". „Faithlesse and fond Mortality", V. 27 f.]. 48fla [Wellek, DVj, 9, S. 564 ist dazu aufschlußreicher als v. Siebold, ESt, 53, S. 217, Anm. 1], 489

250

Allgemeine Semantik

Immerhin hatte aber auch Bacon in seinem Essay Of Gardens schreiben können: „ . . . the breath of flowers is far sweeter in the air (where it comes and goes like the warbling of music) than in the h a n d " [entstellt in der Version, die Ullmann aus ESt, 53, S. 217 übernommen hat]. Selbstverständlich waren auch die „Metaphysicals" an solchen Analogien interessiert. Stanford ( a . a . O . , S. 27) führt drei treffende Beispiele dafür an: A loud perfume, which at my entrance cryed Even at thy fathers nose . . . Donne, 4. Elegie, „The Perfume" [V. 41 f.] Till ev'n his beams sing, and my musick shine. Herbert, „Christmas" [V. 3 4 ] There might you heare her kindle her soft v o y c e , In the close murmur of a sparkling noyse. Crashaw, „Musicks D u e l l " [V. 83 f . ]

Dem wären noch die bei v. Siebold (ESt, 53, S. 263) zitierten Verse: O h could y o u v i e w the Melodie O f ev'ry grace, A n d Musick of her face, Lovelace, „Orpheus to Beasts"

und das berühmte „blind mouths" aus Lycidas (V. 119) sowie viele andere Beispiele aus Comus hinzuzufügen (Wellek, DVj, 9, S. 569). Solche Concetti haben f ü r alle großen Strömungen der Barockdichtung eine Rolle gespielt. Sie finden sich vor allem bei Calderón. D a ß die französischen „Précieuses" audi dieser Mode gefrönt haben, geht aus Moliéres satirischem „plat de huit vers" und „ragoüt d'un sonnet" (Les Femmes Savantes, I I I , 2) hervor. Beispiele aus La Fontaine finden sich in der Monographie von F. Boillot. Inzwischen zeigten sich ähnliche Tendenzen auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet. Newtons Betrachtungen über physikalische Entsprechungen zwischen Ton- und Farbskalen haben das zeitgenössische Denken und die nachfolgenden Generationen bis hin zu Voltaire und Goethe stark beeinflußt (Mahling, S. 169—173; Étiemble, RLC, 19, S. 237). Der englische Augenarzt J. T. Woolhouse, Leibarzt Jakobs II., hat einige Experimente mit einem blinden Deutschen gemacht, der Farben nach Gehörseindrücken bestimmte, und er verwirrte einen Pariser Salon durch die Frage, welche Farbe sein Patient ihrer Ansicht nach mit dem Klang einer Trompete verbinden würde. ' R o t ' , war die einmütige Antwort. Fast das gleiche Beispiel kommt an einer berühmten Stelle in Lockes Essay Concerning Human Understanding vor, von w o aus

Panchronische

Tendenzen

in der

Synästhesie

251

es dann in die Schriften von Fielding, Adam Smith, Johnson, Shaftesbury und Erasmus Darwin Eingang gefunden hat. 487 Eine andere Vorstellung, die großen Widerhall finden sollte, taucht zum ersten Mal bei dem deutschen Jesuiten Athanasius Kircher auf, der in seiner Musurgia Universalis behauptet, daß jeder, der bei einem Konzert die Luftschwingungen wahrzunehmen vermöchte, überraschende Farbmischungen sehen würde. Dies war der Ausgangspunkt f ü r Pater Castels berühmtes „clavecin oculaire", das er 1725 ankündigte und rund neun Jahre später fertigstellte. Viele Hinweise auf seine Entdeckung zeigen, wie groß das Interesse f ü r dieses Unternehmen gewesen ist.488 In der zweiten H ä l f t e des 18. Jahrhunderts ebnete noch manches andere den Weg f ü r die romantische Vorliebe f ü r Synästhesien: der Okkultismus (Swedenborg), Theorien über den Sprachursprung (Herder), der Versuch, die verschiedenen Künste gegeneinander abzugrenzen (Lessing, Erasmus Darwin), Rousseaus Verwendung sinnlicher Metaphern und verschiedene andere Strömungen der vorromantischen Literatur. All diese Fäden sind von der Romantik wieder aufgenommen worden. 489 Jene Epoche brachte auch manches Eigene mit, so etwa: den Exotismus-Kult und den Gebrauch von Drogen wie Haschisch und Opium; eine gewisse Veranlagung zur Synästhesie, wie sie z. B. E. T. A. Hoffmann 4 9 0 auszeidinet; verstärkte gesellschaftliche Beziehungen zwischen Dichtern, bildenden Künstlern und Musikern; wie überhaupt die neue Ästhetik mit ihrer Suche nach neuartigen, von der Einbildungskraft bestimmten suggestiven Ausdrucksmitteln. Die synästhetische Metapher wird zum erstenmal in der Literaturgeschichte zu einem ausgereiften dichterischen Kunstmittel, und ihre stilistischen Möglichkeiten werden voll genutzt. Am häufigsten bot sie sich für suggestiv beschreibende Passagen an, in denen die Synästhesien, wie Leibnizsche Monaden, verschiedene Gesichtspunkte 487

[Locke, III, 4, 11]. Vgl. Wellek, Archiv f . d. ges. Psychologie, 79, S. 3 2 8 — 3 3 2 u. Empson, Seven Types, S. 16 f. 488 Ygi d a z u y. Siebold, ESt, 53, S. 4 3 — 5 2 u. „Some Inventions of the Pre-Romantic Period and their Influence upon Literaturc" (ESt, 66, 1931/32, S. 3 4 7 — 3 6 3 ) ; A. Wellek, „Farbenharmonie und Farbenklavier" ( A r c h i v f . d. ges. Psychologie, 94, 1935, S. 3 4 7 — 3 7 5 ) ; ders., Zeitschr. / . Ästhetik, 25, 1931, S. 2 2 6 — 2 6 2 . 489

190

In Ergänzung zu den bereits genannten Abhandlungen siehe bes. H . Petridi, Drei Kapitel vom romantischen Stil (Leipzig, 1878); F. Stroloke, „Das Tönende in der N a t u r bei den französischen Romantikern" ( R o m a n i s c h e Forschungen, 31, 1912, S. 1 5 5 — 3 0 2 ) ; M.-A. Chaix, La correspondance des arts dans la poésie contemporaine (Paris, 1919); E. v. Erhardt-Siebold, „ H a r m o n y of the Senses in English, German and Frendi Romanticism" ( P M L A , 47, 1932, S. 5 7 7 — 5 9 2 ) ; K. O. Weise, „Synästhesien bei Balzac" ( A S N S , 172, 1937, S. 173—187); W. Silz, „Heine's Synaesthesia" ( P M L A , 57, 1942, S. 4 6 9 — 4 8 8 ) , etc. Weitere Literaturangaben bei Skard, a. a. O., sowie in meinen A u f s ä t z e n zu Keats und Byron und zu Théophile Gautier [ s . u . Anm. 504]. Vgl. bes. O. Fischer, „E. T . A. H o f f m a n n s Doppelempfindungen" ( A S N S , 123, 1909, S. 1—22); weitere Literatur bei Skard, a. a. O., S. 234.

252

Allgemeine

Semantik

für die Betrachtung ein und derselben Empfindung abgaben 491 ; für Situationen, bei denen die organische Einheit der verschiedenen Sinneswahrnehmungen betont werden sollte und nicht zuletzt für vage, traumhafte oder sogar unheimliche und halluzinatorische Stimmungen, worin die halb pathologischen Begleitumstände der intersensorischen Übertragung einen angemessenen Ausdruck fanden. Das Interesse an solchen „Korrespondenzen", „Harmonien" und „Transpositionen" war so groß, daß ganze Gedichte synästhetischen Themen gewidmet wurden. Keats' Grecian Urn stellt einen solchen Versuch dar, die „unheard melodies", die in eine „silent form" gefaßt sind, zu übersetzen und zu deuten. Keats hat die synästhetische Erfahrung, die dieser Ode und vielen anderen ähnlichen Metaphern zugrunde liegt, wiederholt zu formulieren versucht; vielleicht am eindrucksvollsten im Endymion: . . . T o interknit One's senses with so dense a breathing stuff Might seem a w o r k o f pain . . .

[Ill, 380 ff.]

und in zwei Stellen von The Fall of

Hyperion-.

I heard, I l o o k ' d : t w o senses both at once So fine, so subtle, felt the t y r a n n y O f that fierce threat, and the hard task proposed.

[I, 118 ff.]

. . . nor could my eyes A n d ears a c t with that pleasant unison of sense Which marries sweet sound v/ith the grace of form, A n d dolourous accent from a tragic h a r p W i t h large-limb'd visions . . . [I, 4 4 1 ff.]

„. . . car il semble qu'en certains instants l'oreille aussi a sa vue", schreibt Hugo in Notre-Dame de Paris [ I I I , 2 ] (vgl. Comp. Lit. St., 6/7, S. 27); und Balzac bestätigt aufs neue in Louis Lambert den gemeinsamen Ursprung von Ton, Farbe, Geruch und Form, womit er frühere Theorien von Lamartine, Claude-Henri de Saint-Martin und Ballanche wieder aufnimmt. 492 Aber erst Théophile Gautier, bildender Künstler, Kritiker und Dichter, außerdem Mitglied des „Club des Hachichins" im Hôtel Pimodan, wurde zum Theoretiker der Synästhesie, und zwar mit seinen verschiedenen Berichten über die Wirkungen der Stimulantia — die Wilde im Dorian Gray wieder aufnimmt — und 491

„ M e t a p h o r is the stereoscope o f ideas. B y presenting t w o different points of view on one idea, it gives the illusion and conviction of solidity and reality. T h u s m e t a p h o r adds a new dimension to language" ( S t a n f o r d , Greek Metaphor, S. 1 0 5 ) .

492

Vgl. Étiemble, R L C , 19, S. 2 4 0 ; Weise, A S N S , 172, S. 1 7 7 ; C h a i x , a . a . O . , S. 4 0 ; H . J . H u n t , [s. o. A n m . 9 5 ] , S. 18, 99, 179, etc.

Panchronische Tendenzen

in der

Synästbesie

253

besonders in seinen Emaux et Camées, worin die drei berühmten Manifeste „Contralto", „Symphonie en blanc majeur" und „Variations sur le Carnaval de Venise" enthalten sind. Von Gautier führt eine direkte Linie zu Baudelaire, der in seinen Correspondances die ästhetische Theorie der Synästhesie herauskristallisiert hat und der von der romantischen zur symbolistischen 493 Mode der Synästhesie überleitete. Sein Eintreten f ü r Wagners „Gesamtkunstwerk", sein starkes Hervorheben der Geruchseindrücke, seine völlig neue Einschätzung der Sinne in Leben und Kunst führte zu einer gänzlichen Neubewertung der intersensorischen Metapher, die man von da ab als besonderes Kunstmittel dieser Schule betrachtete. 494 Jetzt wurde sie in einem bisher unbekannten Ausmaß benutzt, und ihr Spielraum wurde beträchtlich erweitert. Allmählich verlor sie alle Spontaneität und drohte zum Klischee zu erstarren. Man mußte immer neue Anstalten machen, um sie neu wirken zu lassen, wozu die künstlichsten und extravagantesten Kombinationen recht waren — auch hier bedarf es also einer ständigen Bekräftigung und Erneuerung, wie wir das bereits für den Euphemismus und die Hyperbel festgestellt haben. In Frankreich kam es zu theatralischen Versuchen, bei denen es um die Verbindung disparater Sinneseindrücke ging. Huysmans schilderte in A Rebours eine „orgue à bouche". 4944 Spekulationen über die Farben der Sprachlaute waren an der Tagesordnung. Rimbauds Sonett „Voyelles" war dafür tonangebend: A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu, voyelles, Je dirai quelque jour vos naissances latentes.

Die moderne Forschung hat die Fibel ausgegraben, aus der Rimbaud das Abc gelernt hat, und man hat darin dieselben Farben und dieselben Illustrationen gefunden wie im Gedidit. Es überrascht daher kaum, daß andere Dichter, in erster Linie René Ghil, zu ganz anderen Ergebnissen gekommen sind. 495 493

Aus der Fülle der Literatur zur Synästhesie im Symbolismus vgl. bes. A. Binet, „Le Problème de l'audition colorée" (Revue des Deux Mondes, 113, 1892, S. 586— 614); V. Segalen, „Les synesthésies et l'école symboliste" (Mercure de France, 42, 1902, S. 57—90); E. Fiser, Le Symbole littéraire (Paris, 1941), S. 197—208; S. Johansen, Le Symbolisme, Kap. 1, etc. etc. 494 Zur Synästhesie bei Baudelaire vgl. die Monographien von A. Ferran, J. Pommier (Mystique de B.), E. Starkie u. M. Raymond. 494a [Mit „Mundorgel" ist die im 4. Kap. des Romans vorgeführte Hausbar gemeint, in deren einzelnen Geschmacksnuancen die Klangfarben eines ganzen Orchesters vertreten sind. Vgl. dazu schon Mercure de France, 42, S. 76 u. Mahling, Archiv f . d. ges. PsychoL, 57, S. 227 f.] 495 Siehe insbes. R. Étiemble, „Le sonnet des Voyelles" (RLC, 19, 1939, S. 235—261). Die Fibeltheorie ist von Gaubert 1904 aufgebracht und durch den Aufsatz von H. Héraut, „Du nouveau sur Rimbaud" (La Nouvelle Revue Française, 43, 1934, S. 602—608) neu entdeckt und weit verbreitet worden. Vgl. auch C. A. Hackett, „Le Lyrisme de Rimbaud" (Thèse; Paris, 1938). Beispiele zu Huysmans gibt M. Cressot, La Phrase et le vocabulaire de J.-K. Huysmans (Paris, 1938).

254

Allgemeine

Semantik

In E n g l a n d f ü h r t e O s c a r Wilde die neue M o d e an, die v o n Whistler in gleicher Richtung beeinflußt w o r d e n w a r . E r scheute sich nicht, in The Ballad of Reading Gaol „green T h i r s t " [V, 9] u n d in Salome „black silence" zu gebrauchen. „ T h y voice was a censer t h a t scattered strange p e r f u m e s " , sagt Salome in ihrem Schlußmonolog. E r f ü h r t e sogar in seine Märchen synästhetische M o t i v e ein: „build it

266

Allgemeine

Semantik

wieder um den Hermaphroditismus: er ist das H a u p t t h e m a seines Romans Mademoiselle de Maupin und bildet auch die Grundlage f ü r sein großes, mit Synästhesien experimentierendes Gedicht „Contralto". Leitmotivisch taucht in den Gedichten und in deren verschiedenen Fassungen auch immer wieder sein „azur amer" auf. Bei Leconte de Lisle begegnet uns ein wahrhaft „archetypisches Grundmuster" synästhetischen Ursprungs, das Bild des „œil dardé", das gleichsam zum kosmischen Symbol wird und das sich vor allem im Qain manifestiert. 512 Unter dieser subjektiven Schicht bilden die jeweiligen M o d e n , Vorbilder aus Literatur und Kunst und gerade besonders bevorzugte Sehweisen eine dritte, mehr allgemeine Schicht. D a ß bei den unbedeutenderen Vertretern der „Decadence" die Übertragungen in absteigender Linie so zahlreich sind, geht sicher eher auf derartige Einflüsse zurück, als daß es auf abweichende Assoziationen schließen läßt. Ebenso sind auch Byrons wiederholte Klagen, „words are void of colour", auf die wir uns schon einmal bezogen haben [s. o. S. 89], sowie seine vielen Anspielungen auf die „hue of words" kein Beweis f ü r wirkliche Synästhesie-Erlebnisse; sie sind vielmehr einfach Ausdrude eines für seine Zeit höchst wichtigen ästhetisdien Problems, des Ineinandergreifens der einzelnen Künste. Ein f ü r diese Schicht nicht minder wichtiger Faktor ist der Einfluß bestimmter V o r b i l d e r aus Literatur und Kunst. Die Wildeschen Synästhesien sind ganz offensichtlich von Gautier, Huysmans und Whistler beeinflußt. Manchmal ist sogar genau zu rekonstruieren, welchen Weg die synästhetischen Motive genommen haben. Als man in Byrons The Bride of Abydos die Wendung „Music breathing from her face" beanstandete, rechtfertigte sich Byron mit dem H i n weis auf eine Stelle in Madame de Staëls De l'Allemagne, worin Klang und Farbe in Analogie gesetzt werden; ferner mit dem Hinweis auf den Topos von der Architektur als „gefrorener Musik", den er bei der gleichen Autorin kennengelernt habe, die ihn wiederum von irgendeinem „teutonischen Sophisten" habe. Später hat dann auch Poe in seinem Tamerlane von „the sound of the Coming darkness" gesprochen und f ü r diese Metapher seinerseits die Autorität Byrons angerufen. 513 Es ist sogar möglich, daß jede größere Epoche ihren eigenen synästhetischen „Stil" im Zusammenhang mit den gerade herrschenden künstlerischen Sehweisen und Ausdrucksformen ausbildet. Es sind schon viele anregende Spekulationen darüber angestellt worden, wenn auch das dafür angeführte Beweismaterial 512

513

Dazu A. R. Chisholm, „The Tragedy of the Cosmic Will. A Study of Leconte de Lisle" (French Quarterly, 13, 1931, S. 69—97), S. 92—97. [Vgl. Byrons Anm. zu V. 179 der Bride of Abydos (ed. Coleridge, Bd. 3, S. 164 f.) u. sein Journal v. 1 7 . 1 1 . 1 8 1 3 (ed. Prothero, Bd. 2, S. 326) sowie Poes Anm. zu Tamerlane, V. 197 (ed. Campbell, S. 153 bzw. 155 f.); zum Gesamtzusammenhang:] v. Erhardt-Siebold, PMLA, 47, S. 587 f.

Panchronische statistische Gesetze

267

nicht immer stichhaltig w a r . I m alten H e l l a s soll der visuelle Bereich häufiger die Quelle f ü r synästhetische Ü b e r t r a g u n g e n gewesen sein als der akustische (Struck, S. 112 f.). Wellek ist der Ansicht, d a ß die Synästhesien der Renaissance u n d der Klassik „tektonisch", plastisch, f o r m h a f t u n d auf dem F a r b e n h ö r e n a u f g e b a u t sind, w ä h r e n d die Synästhesien des Barock u n d der R o m a n t i k im Gegensatz dazu „atektonisch", malerisch-musikalisch sind, m i t charakteristischer Vorliebe f ü r K l a n g f a r b e n u n d Tönesehen. 5 1 4 N a c h d e m w i r uns m i t diesen k o m p l e x e n K r ä f t e n einigermaßen v e r t r a u t gemacht haben, können wir n u n nach einer noch allgemeineren G r u n d s t r u k t u r suchen, die v o n den Zufälligkeiten v o n R a u m u n d Zeit u n a b h ä n g i g ist. W e n n die bis jetzt aufgedeckten T e n d e n z e n verläßliche H i n w e i s e sind, d a n n scheint das panchronische Substrat in der Synästhesie sehr ausgeprägt zu sein u n d fähig, sich in verschiedenster U m g e b u n g gegen die darüberliegenden, m e h r oder weniger wichtigen Schichten zu b e h a u p t e n . Bei den bis jetzt untersuchten Dichtern v e r mochten w e d e r ausgesprochen synästhetische N e i g u n g e n noch mächtige äußere Einflüsse es zu überlagern o d e r auch n u r merklich zu v e r ä n d e r n . Jedes abschließende Urteil w ä r e angesichts des bis jetzt noch dürftigen u n d begrenzten Belegmaterials v e r f r ü h t . Dennoch m a g unser langer E x k u r s vielleicht einen guten Zweck d a m i t e r f ü l l t haben, d a ß er nicht n u r das neue V e r f a h r e n selbst, sondern auch die zahlreichen I r r t ü m e r , die es dabei zu vermeiden gilt, aufgezeigt h a t .

3.

P A N C H R O N I S C H E STATISTISCHE

GESETZE

Gesetzt den Fall, die soeben f ü r die Synästhesie umrissenen T e n d e n z e n w ü r d e n v o n Einzelforschungen noch erhärtet, wie sieht d a n n dieser neue T y p u s einer semantischen Gesetzmäßigkeit m e t h o d i s c h aus? D i e neuen „Gesetze" zeichnen sich durch zwei a u f e i n a n d e r bezogene H a u p t m e r k m a l e aus. Erstens sind sie ihrer ganzen A r t nach s t a t i s t i s c h e Gesetze. Sie haben es m i t Durchschnittswerten, m i t allgemeinen u n d immer w i e d e r k e h r e n d e n S t r u k t u r e n zu t u n , geben aber keinen Aufschluß über einzelne Ü b e r t r a g u n g e n . Zweitens erlauben sie in sehr bescheidenem R a h m e n , E n t w i c k lungen w e n n nicht tatsächlich v o r a u s z u s a g e n , so doch mit gewisser Wahrscheinlichkeit zu berechnen. An diesem P u n k t unserer Untersuchung finden w i r den Anschluß an eine wichtige u n d vielversprechende Richtung in der m o d e r n e n Linguistik, die in den letzten J a h r z e h n t e n immer m e h r an Einfluß g e w o n n e n h a t : die H ä u f i g k e i t s s t a t i s t i k . Nichtphilologen haben statistische M e t h o d e n bereits auf verschiedene Probleme der Sprache angewendet, u. a. auf semantische Z a h l e n verhältnisse u n d Worthäufigkeitsberechnungen, w a s f ü r die sprachwissenschaft514

Zeitschr. f . Ästhetik,

23, S. 31 f.; vgl. Skard, a. a. O., S. 184.

Panchronische statistische Gesetze

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nicht immer stichhaltig w a r . I m alten H e l l a s soll der visuelle Bereich häufiger die Quelle f ü r synästhetische Ü b e r t r a g u n g e n gewesen sein als der akustische (Struck, S. 112 f.). Wellek ist der Ansicht, d a ß die Synästhesien der Renaissance u n d der Klassik „tektonisch", plastisch, f o r m h a f t u n d auf dem F a r b e n h ö r e n a u f g e b a u t sind, w ä h r e n d die Synästhesien des Barock u n d der R o m a n t i k im Gegensatz dazu „atektonisch", malerisch-musikalisch sind, m i t charakteristischer Vorliebe f ü r K l a n g f a r b e n u n d Tönesehen. 5 1 4 N a c h d e m w i r uns m i t diesen k o m p l e x e n K r ä f t e n einigermaßen v e r t r a u t gemacht haben, können wir n u n nach einer noch allgemeineren G r u n d s t r u k t u r suchen, die v o n den Zufälligkeiten v o n R a u m u n d Zeit u n a b h ä n g i g ist. W e n n die bis jetzt aufgedeckten T e n d e n z e n verläßliche H i n w e i s e sind, d a n n scheint das panchronische Substrat in der Synästhesie sehr ausgeprägt zu sein u n d fähig, sich in verschiedenster U m g e b u n g gegen die darüberliegenden, m e h r oder weniger wichtigen Schichten zu b e h a u p t e n . Bei den bis jetzt untersuchten Dichtern v e r mochten w e d e r ausgesprochen synästhetische N e i g u n g e n noch mächtige äußere Einflüsse es zu überlagern o d e r auch n u r merklich zu v e r ä n d e r n . Jedes abschließende Urteil w ä r e angesichts des bis jetzt noch dürftigen u n d begrenzten Belegmaterials v e r f r ü h t . Dennoch m a g unser langer E x k u r s vielleicht einen guten Zweck d a m i t e r f ü l l t haben, d a ß er nicht n u r das neue V e r f a h r e n selbst, sondern auch die zahlreichen I r r t ü m e r , die es dabei zu vermeiden gilt, aufgezeigt h a t .

3.

P A N C H R O N I S C H E STATISTISCHE

GESETZE

Gesetzt den Fall, die soeben f ü r die Synästhesie umrissenen T e n d e n z e n w ü r d e n v o n Einzelforschungen noch erhärtet, wie sieht d a n n dieser neue T y p u s einer semantischen Gesetzmäßigkeit m e t h o d i s c h aus? D i e neuen „Gesetze" zeichnen sich durch zwei a u f e i n a n d e r bezogene H a u p t m e r k m a l e aus. Erstens sind sie ihrer ganzen A r t nach s t a t i s t i s c h e Gesetze. Sie haben es m i t Durchschnittswerten, m i t allgemeinen u n d immer w i e d e r k e h r e n d e n S t r u k t u r e n zu t u n , geben aber keinen Aufschluß über einzelne Ü b e r t r a g u n g e n . Zweitens erlauben sie in sehr bescheidenem R a h m e n , E n t w i c k lungen w e n n nicht tatsächlich v o r a u s z u s a g e n , so doch mit gewisser Wahrscheinlichkeit zu berechnen. An diesem P u n k t unserer Untersuchung finden w i r den Anschluß an eine wichtige u n d vielversprechende Richtung in der m o d e r n e n Linguistik, die in den letzten J a h r z e h n t e n immer m e h r an Einfluß g e w o n n e n h a t : die H ä u f i g k e i t s s t a t i s t i k . Nichtphilologen haben statistische M e t h o d e n bereits auf verschiedene Probleme der Sprache angewendet, u. a. auf semantische Z a h l e n verhältnisse u n d Worthäufigkeitsberechnungen, w a s f ü r die sprachwissenschaft514

Zeitschr. f . Ästhetik,

23, S. 31 f.; vgl. Skard, a. a. O., S. 184.

268

Allgemeine

Semantik

lidie Bedeutungsforschung interessant sein dürfte. 515 Von philologischer Seite ist verschiedentlich auf die Vorteile hingewiesen worden, die sich f ü r uns aus diesen Experimenten ergeben. 518 Die größte Schwierigkeit, die im Augenblick noch einer fruchtbaren Zusammenarbeit im Wege steht, ist praktischer N a t u r . U m mit Ross zu sprechen: „ . . . both philology and mathematics are essentially esoteric subjects, the latter more so than the former. This means that the mathematics will not be intelligible to someone who is not a mathematician and the philology will, at the best, be difficult for someone who is not a philologist." 517 In seinem Aufsatz f ü h r t er auch einige Beispiele für Fehler an, die sowohl von Statistikern als auch von Philologen leicht gemacht werden, wenn sie nicht miteinander in engem Gedankenaustausch stehen. Wir können hier nicht auf Einzelheiten eingehen; die Zeit ist noch nicht reif, diese ersten Experimente in die Semantik einzugliedern, u n d selbst wenn sie es wäre, so wäre ich d a f ü r nicht der geeignete Mann. Es mag jedoch nützlich sein, einen Vorgeschmack von dem zu geben, was sich mit solchen Methoden erreichen läßt, und wir zitieren daher die Ergebnisse von zwei neueren Untersuchungen, die Zipf geleitet hat. In der ersten Arbeit untersucht er die Polysemie und Worthäufigkeit unter dem Gesichtspunkt des „Principle of Least Effort", und er formuliert das, was er „Principle of Diversity of Meanings" nennt, folgendermaßen: „There will be a direct relationship between the frequency of a tool's usage and the diversity of its usage. Translated into terms of words and their meanings — with a w o r d equivalent to a t o o l and a word's m e a n i n g equivalent to a specific u s a g e of a tool in terms of jobs, we may expect to find a d i r e c t r e l a t i o n s h i p b e t w e e n t h e n u m b e r o f d i f f e r e n t m e a n i n g s of a w o r d a n d i t s r e l a t i v e f r e q u e n c y o f o c c u r r e n c e s." 518 In seinem zweiten Beitrag, der sich auf eine Analyse des Thorndike Century Senior Dictionary gründet, hat er f ü r diese Beziehung sogar eine mathematisch genaue Formel gefunden: „ d i f f e r e n t m e a n i n g s 615

518

517

518

Vgl. z. B. E. L. Thorndike, „Studies in the Psychology of Language" (Archives of Psychology, 231; N e w York, 1938), S. 6—40 u. „Semantic Changes" (The American Journal of Psychology, 60, 1947, S. 588—597); H. S. Eaton, Semantic Frequency List for English, French, German, and Spanish (The University of Chicago Press, 1940); G. U. Yule, The Statistical Study of Literary Vocabulary (Cambridge, 1944); G. K. Zipf, Selected Studies in the Principle of Relative Frequency in Language (Cambridge, Mass., 1932), bes. S. 8—27 u. Human Behavior and the Principle of Least Effort (Cambridge, Mass., 1949). Bloomfield, Language, Kap. 23; Firth, Papers, S.7—33, passim; A. S.C.Ross, Transactions of the Philological Society, 1934, S. 99, usw. „Philologica Mathematica" (Casopis pro Moderni Filologii, 31, 1947/48, S. 102 bis 108 u. S. 185—191), S. 191. Zur praktischen Anwendung der Methode vgl. R. Roberts—A. S. C. Ross, „A Note on the Interpretation of the Statistics of Variant Forms in Philology" (Leeds Studies in English, 2, 1933, S. 7—13). G. K. Zipf, „The Repetition of Words, Time-Perspective, and Semantic Balance" (The Journal of General Psychology, 32, 1945, S. 127—148), S. 144.

Panchronische

statistische

Gesetze

269

of a w o r d w i l l t e n d t o be e q u a l t o t h e s q u a r e r o o t of i t s r e l a t i v e f r e q u e n c y (with the possible exception of the few dozen most frequent words)." 619 Diese Betrachtungsweise könnte, vernünftig entwickelt, weitreichende methodische Folgen f ü r die moderne Semantik haben. Sie geht über den bisher üblichen Rahmen der statistischen Untersuchung hinaus, die auf die Lösung eines bestimmten synchronischen oder diachronischen Problems 520 beschränkt war, und kann — innerhalb der mit dem Gegenstand gesetzten Grenzen — ein „prognostisches" Stadium einleiten, was, um mit R. S. Wells zu sprechen, bedeuten würde: „. . . linguistics will have attained the inner circle of science". 521 O b die synästhetische Übertragung sich jemals f ü r eine solche Formulierung eignen wird, ob die Imponderabilien der Willkür, der Idiosynkrasie und der Mode eine solche mathematische Genauigkeit zulassen, mag zweifelhaft erscheinen; indessen kann es nicht schaden, unsere Entsprechungen statistisch so exakt wie möglich zu formulieren. Es wäre dagegen entschieden zu früh, unsere Zwischenergebnisse zum Gegenstand einer solchen ausgereiften statistischen Analyse und Wahrscheinlichkeitsrechnung zu machen. Sie sind weder gewichtig noch repräsentativ genug, um eine solche Betrachtungsweise zu rechtfertigen. Es bedarf noch sehr vieler Einzelforschungen, bevor man Vermutungen darüber anstellen kann, welche Reichweite und Genauigkeit panchronische statistische Gesetze auf diesem oder irgendeinem anderen Gebiet der diachronischen Semantik wohl haben werden. Nachdem wir uns die methodischen Unterschiede zwischen den orthodoxen Raum-Zeit-Formeln und dem neuen, noch unvollkommenen Begriff panchronischer Gesetzmäßigkeiten klargemacht haben, wollen wir nun noch kurz untersuchen, wie sich diese Vorgänge auf den S t a t u s d e r S p r a c h g e s e t z e auswirken. Bekanntlich war die junggrammatische Auffassung von den blind und ausnahmslos wirkenden Lautgesetzen dazu ausersehen, die Sprachwissen519

620

521

ders., „The Meaning-Frequency Relationship of Words" (ebd., 33, 1945, S. 251 bis 256), S. 255. Am bekanntesten ist Jespersens Chronologie französischer Wörter im Englischen, die sich auf Material des N E D stützt ( G r o w t h and Structure, S. 86 f.). Dazu auch A. C. Baugh, MLN, 50, 1935, S. 90—93; A. Koszul, Bulletin de la Faculté des Lettres de Strasbourg, 15, 1937, S. 79—82; F. Mossé, English Studies, 25, 1943, S. 33 bis 40; vgl. auch meinen Aufsatz „Notes sur la chronologie des anglicismes en français classique et postclassique" (FM, 8, 1940, S. 345—349). Word, 3, S. 24. Wells betrachtet eine solche „predictive linguistics" als „third brandi of diachronics" neben einer „rétrospective" und einer „prospective linguistics"; die beiden letzteren sind jedoch zweifellos „idiodiachronisch", d. h. auf eine einzelne „langue" beschränkt, während erstere „pandiachronisch" ist und die Grenzen einzelner „langues" überschreitet und für die Ebene der „langage" gilt, auf der die Gegenüberstellung von „retrospektiver" und „prospektiver" Methode bedeutungslos wird. Uber „progressive Aussagen" in der Semantik vgl. auch Bachmann, a. a. O., S. 62 (vgl. auch S. 28—32 zur Synästhesie) und die bereits zit. Äußerung von L. Spitzer, Historical Semantics, S. 5 (s. o. Anm. 462).

Allgemeine

270

Semantik

schafl den Naturwissenschaften gleichzustellen, was Schleicher und M a x Müller mit verschiedenen Mitteln zu erreichen suchten. Seitdem sie als erstes von Jespersen und Schuchardt kritisiert wurden, sind die Verfechter dieser Theorie immer mehr in die Defensive gedrängt worden, so daß heute nur noch wenige sie in ihrer strengsten F o r m vertreten. Aber selbst wenn wir dieses E x t r e m zu unserem Standpunkt machen würden, bleibt zwischen den Naturgesetzen und den räumlich-zeitlichen Gesetzmäßigkeiten der Sprache eine Kluft. Mögen sie sich auch noch so durchgängig und allgemein geltend machen, so bleiben sie ipso f a c t o doch in den K o o r d i n a t e n von R a u m und Zeit befangen. Sie stehen per definitionem auf einer ganz anderen Ebene als physikalische „ G e s e t z e " ; wenn man sie trotzdem Gesetze nennt, wird damit nur die vorhandene Ambiguität zwischen juristischen und naturwissenschaftlichen „Gesetzen" bestärkt. 5 2 2 D a ß die drei Begriffe weit auseinanderklaffen und völlig unvereinbar sind, hat Vendryes k l a r gesehen: „C'est déjà par une extension fâcheuse qu'on a appliqué le mot de loi aux vérités naturelles qui résultent de l'expérience . . . c'est par un abus de langage qu'on attribue à la loi un caractère impératif. Les lois phonétiques ne sont même pas assimilables aux lois physiques et chimiques"

(Langage,

S. 50 f.).

D e r räumlich-zeitliche Gesetzesbegriff hat in der Lautgeschichte sein eigentliches Anwendungsgebiet gefunden; wie wir am Ende des vorigen

Kapitels

sahen, lassen sich zuweilen aber auch semantische Entwicklungsvorgänge auf diese Weise formulieren. Daneben gibt es nun einen zweiten neuen Typus, den „pandironischen" Gesetzesbegriff, der, sollte er einmal zum T r a g e n kommen, in der Bedeutungsforschung bestimmt eine große R o l l e spielen wird.

Immer

vorausgesetzt, daß sich dieser neue Typus wissenschaftlich nachweisen l ä ß t und sich dabei herausstellt, d a ß er die im vorliegenden K a p i t e l angedeutete statistische Struktur besitzt, dürfen wir hoffen, linguistische Formeln noch enger an die Naturgesetze anschließen zu können, als das selbst mit den strengsten L a u t entsprechungen möglich ist. Z w a r wird der Abstand immer noch beträchtlich sein, die K l u f t als solche dürfte aber nicht mehr ganz so tief sein, wenn es erst einmal so etwas wie wissenschaftliche Prognosen geben wird, mögen diese noch so vage, allgemein und unverbindlich sein. Unser augenblicklicher Wissensstand l ä ß t optimistischere Schlüsse nicht zu. Indessen ist nicht zu übersehen, daß es auch auf der Gegenseite ähnliche Tendenzen gibt. Wenn man den methodischen Gegensatz zwischen den Ergebnissen der Sprachwissenschaft und denen

der

Physik neu diskutiert, so muß man berücksichtigen, daß die revolutionären Entwicklungen in den Naturwissenschaften ihrerseits zu einer

weitgehenden

Umwertung des Begriffs „Naturgesetz" geführt haben. 5 2 3 Statistische Gesetze, 522 Ygj Jespersens Parallele zwischen den Lautgesetzen und den Gesetzen der Darwinschen Zoologie, Language, S. 297; vgl. dazu meine Bemerkungen in MLR, 38, S. 329 f. Zur Ansicht Saussures vgl. Wells, Word, 3, S. 30 f. 5 2 3 Zu diesem ganzen Abschnitt siehe meinen Aufsatz „Laws of Language and Laws of Nature", MLR, 38, S. 337 f.

Panchronische

statistische

Gesetze

271

die ursprünglich für sdiwer faßbare Fälle wie die „Brownsche Bewegung" gedacht waren, bei der das Verhalten einzelner Partikelchen nicht direkt beobachtet und nur grobe Durchschnittswerte aus der „Mengenbeobachtung" beredinet werden konnten, haben mit dem Aufkommen der Quantentheorie ihren Wirkungskreis beträchtlich erweitert. Bohrs Atommodell war z. B. bewußt indeterministisch gehalten. Um J. W. N . Sullivan zu zitieren: „Another unsatisfactory feature of Bohr's atom is that it contains within itself no prophecy of its future. If we are given a complete specification of the Bohr atom at any instant, we cannot deduce from that specification what the atom is going to do next. We do not know when an electron will jump or where it will jump to" [zit. n. MLR, 38, S. 337, Anm. 1]. Der gleiche Indeterminismus spielt eine große Rolle in den Überlegungen von Physikern wie Broglie, Heisenberg, Schrödinger und Dirac, deren Standpunkt Sir James Jeans wie folgt charakterisiert hat: „Wenn wir es mit Atomen und Elektronen in Menge zu tun haben, zwingt uns das mathematische Gesetz des Durdischnitts den Determinismus auf, von dem uns physikalische Gesetze nicht haben überzeugen können." 524 Diese Formulierung sollte uns den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Arten statistischer Gesetze nicht übersehen lassen. Sie sind ganz und gar verschieden. Der Semantiker wird es niemals mit Diracs Wahrsdieinlichkeitsberechnungen aufnehmen können, die in besonderen Fällen eine Einheit erzielen, wodurch das Ergebnis des Experiments völlig determiniert wird. 525 In der Sprache kann Quantität nie über Qualität gehen. Wir können bestenfalls damit rechnen, unter besonders günstigen Umständen eine allgemeine Grundstruktur hinter den zahllosen Einflüssen und Zufällen, die sie verdecken und verzerren, zu erkennen. Man sollte auch nicht vergessen, daß der einzelne Sprechakt, die einzige konkrete Realisation der „langue", im Grunde nicht zu determinieren ist; wie Bloomfield sagt: „we should still be unable to measure the equipment each speaker brought with him, and unable, therefore, to predict what speech-forms he would utter, or, for that matter, whether he would utter any speech at all" (Language, S. 141).528 Trotz all dieser wichtigen Einschränkungen ist der Abstand — der vermutlich immer bestehen wird — zwischen statistischen Sprachgesetzen und statistischen Naturgesetzen entschieden geringer als die ursprüngliche Kluft zwischen dem orthodoxen Typus des physikalischen Gesetzes und den traditionellen Raum-Zeit-Gesetzmäßigkeiten der Sprachwissenschaft. 524

525 526

[Zit. n. Der Weltenraum und seine Rätsel (Stuttgart/Berlin, 1931), S. 48.] Auf statistische Naturgesetze geht z. B. L. Infeld, The World in Modern Science. Matter and Quanta (London, 1934) in den Einleitungskapiteln ein. Vgl. MLR, 38, S. 338. „Da wir . . . in keinem einzelnen Falle die Umstände mit absoluter Vollständigkeit kennen, so können wir auch nirgends mit voller Sicherheit den Erfolg berechnen, sondern nur mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit" (Marty, Untersuchungen, S. 598).

272

Allgemeine

Semantik

Diese Betrachtungsweise h a t sicher nichts Rückschrittliches; sie fällt in keiner Weise in das unausgereifte Stadium der vergleichenden Sprachwissenschaft zurück, als die damals neue Wissenschaft dadurch an Prestige u n d R a n g zu gewinnen suchte, d a ß sie ihren Gegenstand quasi als Naturgewächs behandelte. Das hier a u f g e w o r f e n e Problem ist ein rein methodisches. Nach Cassirer ist die Sprache „organisch", ohne ein „Organismus" zu sein. Weiter behauptet er in dem k u r z vor seinem T o d e geschriebenen A u f s a t z : „Biologists and linguists are often engaged in the same battle against a common adversary, a battle t h a t m a y be described b y the slogan: structuralism versus mechanism; morphologism against materialism. In this combat they m a y allege similar arguments; they m a y m a k e use of the same logical weapons. But that does not p r o v e t h a t there is any identity in their subject-matter, that, in an ontological sense, w e can put h u m a n language on the same level as plants or animals" (Word, 1, S. 110). Wenn m a n den Reingewinn der neueren Entwicklung auf beiden Wissensgebieten unter rein methodischen Gesichtspunkten ohne metaphysische N e bengedanken veranschlagt, so ist ein gewisser G r a d der Annäherung nicht zu leugnen, verbunden mit einem dementsprechenden Zuwachs an Wissenschaftlichkeit in der modernen Sprachwissenschaft und insbesondere in der Semantik, immer vorausgesetzt, d a ß sie die in sie gesetzten H o f f n u n g e n auch erfüllt. M i t diesem optimistischen Ausblick wollen wir unser letztes Kapitel beschließen.

Schluß In diesem Buch haben w i r gleicherweise von der Semantik und von der Bedeutung selbst gehandelt. W i r hatten uns vorgenommen, die Kluft zu verringern, die sich seit den frühen 30er J a h r e n in dieser Wissenschaft aufgetan hatte; und um einen möglichst großen gemeinsamen Nenner zu finden, haben w i r den Bogen weit genug gespannt, um auch verschiedene andere linguistische Untersuchungsmethoden, die für die Semantik von Interesse sind, ebenso wie nichtsprachwissenschaftliche Theorien von sprachwissenschaftlicher Bedeutung einbeziehen zu können. U m den damit verbundenen Gefahren des Eklektizismus und der Klitterung zu begegnen, haben w i r all diese Elemente ebenso wie frühere Theorien auf ein einfaches und flexibles System bezogen und soweit wie möglich auch eingebaut bzw. mit seiner Terminologie in Einklang gebracht. Wenige grundsätzliche Bestimmungen, oder genauer Interpretationen und Analysen, haben das Grundgerüst gebildet. M i t dem dreidimensionalen Modell der modernen Sprachwissenschaft konnten w i r den Ort der Semantik bestimmen und einen Anhaltspunkt für die relative Autonomie der Wortsymbole finden. Aus der Doppelnatur des Wortsymbols haben w i r dann die Unterscheidung zwischen N a m e und Sinn und die funktionale Definition der Bedeutung abgeleitet, die w i r uns als eine Wechselbeziehung sui generis zwischen N a m e und Sinn vorstellen. Diese Anschauung w a r für die ganze weitere Untersuchung grundlegend und heuristisch fruchtbar. Strukturell ergab sich daraus ein doppeltes Assoziationsgeflecht, das ein synchrones System von gegensätzlichen und aufeinander bezogenen Werten bildet und sich zu „Assoziationsfeldern" um N a m e und Sinn verdichtet. Innerhalb der Symbolstruktur des Wortes w a r e n damit die H a u p t merkmale der einfachen Bedeutungsbeziehung festzustellen und die Phänomene der Bedeutungsvielfalt zu klassifizieren. Bei der Bedeutungsvielfalt in Form der Polysemie, die durch die Sprachgeographie empirisch erhellt wurde, zeigten sich die wichtigsten C h a r a k t e r i s t i k a der Wortbedeutung sowohl in ihren synchronisdien als auch diachronischen Aspekten; dabei stellte sich auch heraus, daß die beiden Perspektiven in der Semantik nicht streng voneinander zu trennen sind, wenn sie auch niemals vermischt werden dürfen, und daß ihr Ineinandergreifen in Zusammenhang mit neueren Forschungen zum Homonymenkonflikt, zur Linguistik von „la parole" und zur Feldtheorie noch einmal sorgfältig untersucht werden muß. Im diachronischen Bereich führte die funktionale Analyse der Bedeutung zu einem weitgefaßten Begriff des Bedeutungswandels, aus dem sich eine struk18

Ulimann

274

Schluß

turelle Klassifikation dann von selbst ergab. Statt nun noch ein neues Schema vorzulegen, habe ich meine Einteilung mit einigen verwandten früheren Versuchen abzustimmen und auf die neuesten anders orientierten Theorien, insbesondere auf Gustaf Sterns großes System, zu beziehen versucht. Ein anderer Punkt, der dringend der Klärung bedurfte, war das damit zusammenhängende Problem der Bedeutungsgesetze. Die beiden ausgeprägtesten Typen ließen einen grundlegenden Unterschied erkennen: während sich bei dem einen die auch sonst angewendeten räumlich-zeitlichen Formeln auch auf die Bedeutung übertragen lassen und er damit der diachronischen Ebene verhaftet bleibt, läßt der andere Typus die traditionellen Grenzen hinter sich und stützt damit die „panchronische" Betrachtungsweise. D i e Möglichkeiten dieser neuen Methode sind an der Synästhesie praktisch erprobt worden; sie liegen auf statistischem Gebiet, stehen in Einklang mit neuesten Häufigkeitsberechnungen und könnten, falls sie bestätigt werden, die Kluft zwischen sprachlichen Gesetzmäßigkeiten und dem modernen physikalischen Gesetzesbegriff verringern. Nachdem wir so zum Schlußpunkt unserer Überlegungen zurückgekehrt sind, können wir nun eine A r t Zwischenbilanz für die Semantik heute ziehen. Die Aktiva und die Passiva zeichnen sich deutlich genug ab. Auf der Habenseite sind mehrere handgreifliche oder sogar augenfällige Ergebnisse zu verzeichnen: sprachgeographische Forschungen zur Bedeutungsvielfalt, insbesondere zur Bedeutungsüberfrachtung und zum Homonymenkonflikt; die Erstlingserfolge der Feldtheorie; die neuen Thesen zur semantischen Analogie und Lehnbildung; Sperbers und Sterns „Bedeutungsgesetze"; die jüngsten panchronischen Bestrebungen; die ersten Ergebnisse der statistischen Auszählungen und Häufigkeitsberechnungen. Einzelne Posten davon waren, wie sich herausstellte, bis jetzt noch nicht organisch in die traditionelle Semantik einbezogen worden, teils, weil sie für eine endgültige Integration noch zu neu waren, teils, weil die Grenzen unserer Wissenschaft so eng gesteckt waren, daß viele semantisch außerordentlich wichtige Punkte gar nicht zur Sprache kommen konnten. Von unserer Synthese aus sind zumindest einige der unverbindlichen Äußerungen über die Rückständigkeit der Bedeutungsforschung als bloßes Gerede abzutun. Immerhin bleibt aber doch einiges für die Sollseite unserer Bilanz übrig. Hier wechseln sich T a t - und Unterlassungssünden ab; auf einigen Gebieten ist zuviel, auf vielen anderen zuwenig getan worden. Die Hypertrophie der isolationistischen historischen Semantik hat für die gesamte Bedeutungsforschung sehr verhängnisvolle Folgen gehabt. Obendrein sind einzelnen semantischen Problemen erstaunlich wenige Fachmonographien gewidmet worden; statt dessen hat man dauernd neue Klassifikationen vorgelegt und unendlich viel und planlos über semantische „Gesetze" spekuliert. Die Zukunft der isolationistischen diachronischen Semantik, der wahrscheinlich in jedem Fall vom systematischen Zweig mehr und mehr Konkurrenz gemacht wird, liegt zweifellos auf dem Gebiet geduldiger Einzelforschungen, die umfangreiches und zuverlässiges Be-

275

Schluß

l e g m a t e r i a l a n s a m m e l n , das dann weitreichendere Schlüsse z u l ä ß t . A l l e die E r gebnisse, die bereits a u f diesem und dem angrenzenden F e l d der panchronisdien S e m a n t i k erzielt w o r d e n sind, sind i m m e r aus Spezialstudien hervorgegangen, was im Augenblick der brauchbarste W e g ist, um diese Seite unseres Faches w e i t e r auszubauen. Z u den Unterlassungssünden gehört, d a ß die synchronische S e m a n t i k unlängst m i t nichts h a t a n f a n g e n müssen; in mancher H i n s i c h t h a t sie das V e r s ä u m t e schon in beachtlichem M a ß e nachgeholt. H i e r w a r die M i t a r b e i t Sprachgeographie

der

a m fruchtbarsten. A n d e r e Z w e i g e , insbesondere die syste-

matische diachronische S e m a n t i k und die S e m a n t i k der „ p a r o l e " , h a b e n bis j e t z t noch k a u m G e s t a l t a n z u n e h m e n b e g o n n e n ; unterdessen bedeutet ihr b l o ß e s A u f tauchen schon eine methodische K o m p l i k a t i o n , d a zu gegebener Z e i t einiges v o n dem, w a s j e t z t a n d e r s w o untergebracht ist, möglicherweise a u f sie übergehen w i r d . D a s gleiche gilt f ü r die panchronische S e m a n t i k . M a n h a t den E i n d r u c k , d a ß h i e r noch alles im F l u ß ist, w a s jedes Theoretisieren noch m ü ß i g e r als sonst erscheinen l ä ß t : also noch ein z w i n g e n d e r G r u n d m e h r f ü r den P r i m a t

der

M a t e r i a l s a m m l u n g und der empirischen E i n z e l f o r s c h u n g . E r f r e u l i c h e r h a b e n sich in l e t z t e r Z e i t unsere B e z i e h u n g e n zu anderen D i s z i p l i n e n gestaltet. D i e P a r a l l e l e n t w i c k l u n g v o n P h o n o l o g i e und

Feldtheorie;

das B e h a r r e n der S p r a c h g e o g r a p h i e a u f der u n t e i l b a r e n E i n h e i t v o n F o r m und B e d e u t u n g ; die Einsicht, d a ß sowohl die L e x i k o l o g i e als auch die S y n t a x ihren semantischen T e i l h a b e n ; ein w e i t e r Bedeutungsbegriff, der die E i n b e z i e h u n g der O n o m a s i o l o g i e e r l a u b t : all diese F a k t o r e n h a b e n die V e r b i n d u n g zwischen der S e m a n t i k und anderen G e b i e t e n der Sprachwissenschaft g e s t ä r k t . Auch die K o n t a k t e nach außen sind entscheidend v e r m e h r t w o r d e n , und z w a r durch Sterns V e r w e n d u n g v o n psychologischem, psychopathologisdiem und logischem

Ma-

terial z u r E r h e l l u n g semantischer Prozesse. Vielversprechende Beziehungen h a ben sich zwischen unserer Wissenschaft und der Psychoanalyse, dem B e h a v i o r i s mus, der M e n g e n l e h r e und den verschiedenen Z w e i g e n der außersprachwissenschaftlichen S e m a n t i k herausgebildet. I n keinem F a l l brauchen diese T h e o r i e n natürlich uneingeschränkt ü b e r n o m m e n zu w e r d e n . A u f diachronischem G e b i e t ist die Z u s a m m e n a r b e i t m i t der „ W ö r t e r und S a c h e n " - M e t h o d e durch den E i n bezug des durch K o n s e r v a t i s m u s bedingten B e d e u t u n g s w a n d e l s in das allgemeine S y s t e m gefestigt w o r d e n ; indessen h a t die Feldbetrachtungsweise

den

I n t e l l e k t u a l w o r t s c h a t z in den Bereich dieser gemeinsamen Untersuchungen einbezogen, und interessante Ergebnisse dürfen w o h l auch v o n den neuen M e t h o d e n der Lehnforschung e r w a r t e t werden. D a s wachsende Interesse f ü r G e f ü h l s e l e m e n t e und f ü r die S e m a n t i k der „ p a r o l e " erschließt der Z u s a m m e n a r b e i t v o n Sprachwissenschaft, Stilistik, R h e t o r i k und Literaturwissenschaft neue G e b i e t e . D i e Naturwissenschaften geben w e i t e r h i n brauchbare M a ß s t ä b e und A n a l o g i e n a n die H a n d , und die neue R i c h t u n g der H ä u f i g k e i t s a n a l y s e v e r l a n g t nach enger Z u s a m m e n a r b e i t v o n S e m a n t i k e r n , M a t h e m a t i k e r n und S t a t i s t i k e r n . 18*

Gewisse

276

Schluß

Grenzgebiete wie die Synästhesie weisen auf eine noch umfassendere Synthese hin, zu der die Semantik einen an U m f a n g und Genauigkeit einzigartigen Beitrag leisten kann. Alle diese Beziehungen können sich, durch das f ü r unser Zeitalter typische wachsende Interesse f ü r sprachliche Dinge gefördert, in einer besonders günstigen Atmosphäre entfalten. Dieses Interesse macht sich die nichtsprachwissenschaftliche Semantik besonders zunutze, sosehr man auch den messianischen Eifer und die unwissenschaftliche Ausdrucksweise einiger ihrer Neophyten bedauern mag. Ihre immer größer werdende Anhängerschaft erwartet von der Semantik solide philologische Grundlagen für theoretische Spekulationen; empirische Fakten, auf die sich normative Systeme aufbauen lassen. Unser Gegenstand ist an sich schon attraktiv genug und braucht nicht eigens noch popularisiert zu werden — eine Fülle solcher Publikationen, bevor noch wissenschaftliche Vorarbeiten den Boden einigermaßen geebnet haben, hat den Fortschritt auf diesem Gebiet in der Tat sehr gehemmt. Unumstößliche Tatsachen, faßbare Kriterien, empirisch nachweisbare Wahrheiten nur können sprachbewußten Menschen helfen, mit ihren intellektuellen Problemen fertig zu werden. Den Bedeutungsforscher, der im Brennpunkt der Ansprüche und Interessen steht, mag das gleiche Gefühl beschleichen, das Schuchardt aus seiner dauernden kritischen Beobachtung größerer philologischer Zusammenhänge kannte. Innerhalb und außerhalb der Semantik ist alles in Gärung. Alte Grenzen werden neu gezogen, alte Methoden überprüft, alte Programme gründlich revidiert. Uber die terminologische Verwirrung hinweg, die jede Übereinstimmung und jede Meinungsverschiedenheit gleichermaßen fragwürdig machte, bemühen sich die Gelehrten, auf die Grundlagen zurückzugehen und eine echte Übereinstimmung zu erzielen. Die Semantik macht eine Krise durch. Das ist nicht sehr angenehm, läßt uns die Orientierung verlieren, bringt einander überschneidende Perspektiven mit sich, ist mit einem oft unnützen oder falsch angewendeten K r a f t a u f wand verbunden; und doch könnte es, auf lange Sicht gesehen, kein beruhigenderes Lebenszeichen geben.

Nachtrag zur zweiten Auflage: Neuere Strömungen in der Semantik i In den sieben Jahren, die seit der Drucklegung der ersten A u f l a g e dieses Buches vergangen sind 527 , hat es viele Zeichen eines wachsenden Interesses für die Semantik gegeben. Probleme der Bedeutung standen auf der Tagesordnung z w e i e r internationaler Linguistenkongresse. 5 2 8 Im März 1951 w u r d e in N i z z a eine kleine Tagung über die Semantik abgehalten, auf der über einige Grundbegriffe ein gewisses M a ß an Übereinstimmung erzielt wurde. 5 2 9 1955 f a n d auf der Tagung der British Association ein S y m p o s i o n über die Semantik statt mit Beiträgen eines Psychologen, eines Linguisten, eines N e u r o l o g e n und eines Logikers. 5 3 0 Bezeichnend ist auch, d a ß in der bekannten Reihe „Que sais-je?" v o r kurzem ein Band über Semantik erschienen ist. Wie groß das Interesse für semantische Fragen neuerdings ist, zeigt auch die Flut der Veröffentlichungen zu diesem Gegenstand. D e r vorliegende Überblick wird sich darauf beschränken, die Hauptströmungen der gegenwärtigen 527

528

529 530

Die ausführlichsten Rezensionen der ersten Auflage dieses Buches sind: G. Devoto in Archivio Glottologico Italiano, 38, 1953, S. 98—103; G. Gougenheim in Critique, 9, 1953, S. 429—437; I. Meyerson in Journal de Psychologie, 45, 1952, S. 116—120; H . Werner in Language, 28, 1952, S. 249—256. Es ist bezeichnend für die inneren Spannungen in der Sprachwissenschaft von heute und für die von uns bezogene Mittelposition, daß das Buch gleichzeitig als zu strukturalistisch (A. Gill, MLR, 48, 1953, S. 207—209) und als zu wenig strukturalistisch (K. Togeby, Studia Neophilologica, 26, 1953/54, S. 222—227) getadelt worden ist. In den folgenden Anmerkungen beziehe ich midi mehrfach auf meine Besprechungen von Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Semantik, in denen idi auf die betreffenden Arbeiten näher eingehe. Gemeint sind der 7. u. 8. Internationale Linguistenkongreß in London und in Oslo; vgl. Actes du 7 e Congres (London, 1956), passim, bes. S. 5—17 u. 181—233. Die Actes du 8e Congrés (Oslo, 1958) sind nach Drucklegung unseres Nachtrages erschienen. Vgl. G. Devoto, Archivio Glottologico Italiano, 36, 1951, S. 82—84. Darüber informiert G. P. Meredith, „Language, Meaning and Mind" (Nature, 176, 1955, S. 673—674). Drei der Beiträge sind unter dem Sammeltitel „Semantics: A Symposium" (Archivum Linguisticum, 8, 1956) veröffentlicht worden: G. P. Meredith, „Semantics in Relation to Psychology" (S. 1—12); S. Ullmann, „The Concept of Meaning in Linguistics" (S. 12—20); Sir Russell Brain, „The Semantic Aspect of Aphasia" (S. 20—27).

278

Nachtrag zur zweiten

Auflage

Forschung zu skizzieren. Eine Tendenz zeigt sich sehr deutlich: im Augenblick ist man mehr an Grundsatzdiskussionen bzw. an Spezialstudien interessiert als an dem Versuch, ehrgeizige Synthesen für das ganze Gebiet aufzustellen. Außer Pierre Guirauds handlichem kleinen Band in der Reihe „Que sais-je?", der sich an den interessierten Laien wendet 531 , ist in den letzten Jahren nur eine umfassende Gesamtdarstellung erschienen: H . Kronassers Handbuch der Semasiologie?32 Es gibt einen klaren und gutfundierten Überblick aus vorwiegend diachronischer Sicht. Es beweist großen Scharfsinn in der Aufhellung des psychologischen Hintergrundes des Bedeutungswandels und enthält wertvolles Vergleichsmaterial aus verschiedenen älteren und neueren indogermanischen Sprachen sowie aus anderen Sprachfamilien. Von den kleineren Arbeiten ist Kurt Baldingers kürzlich vor der Berliner Akademie gehaltener Vortrag über die Semantik besonders nützlich, da er den neuesten Uberblick über das gesamte Gebiet vermittelt. 533 Zur Semantik einer einzelnen Sprache sind zwei neue Bücher erschienen. Beide sind dem Französischen gewidmet und behandeln das Problem auf grundverschiedene Weise. E.Gamillschegs Französische Bedeutungslehre5M ist fast ausschließlich historisch orientiert. Sie schenkt der zeitgenössischen Theorie und synchronischen Problemen nur wenig Aufmerksamkeit, analysiert aber dafür den Bedeutungswandel mit viel Geschick und Sachkenntnis und einer beachtlichen Reihe gut gewählter Beispiele. In meinem Précis de sémantique française535 habe ich versucht, einige der im vorliegenden Buch entwickelten Prinzipien auf das Französische anzuwenden und deskriptive und historische Gesichtspunkte sowie traditionelle und moderne Methoden gegeneinander abzuwägen mit dem Endziel, die vorherrschenden semantischen Tendenzen im heutigen Französisch festzustellen. In letzter Zeit sind auch einige Dauerprobleme der s e m a n t i s c h e n T h e o r i e 5 3 ® viel diskutiert worden. Einen besonders wichtigen Anstoß hat 531 532 533

534 535

639

La Sémantique (Paris, 1955); rez. in MLR, 51, 1956, S. 309. Heidelberg, 1952; rez. in Word, 9, 1953, S. 281—282. „Die Semasiologie. Versuch eines Uberblicks" (Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin, Vorträge ». Schriften, H. 61, 1957). Vgl. auch O. Funke, „Neue Sprachforschung unter besonderer Berücksichtigung des modernen Englisch" (Sprache und Literatur Englands und Amerikas, Tübingen, 1952, S. 1—27, bes. S. 11—16) u. H . L. Scheel, „Neuere Arbeiten zur Lexikologie" (GRM, 36, 1955, S. 253—263). Tübingen, 1951; rez. in MLR, 47, 1952, S. 234—235. Bern, 1952 (Bibliotheca Romanica, I, 9). Am ausführlichsten besprochen von A. Goosse in Revue Beige de Philologie et d'Histoire, 33, 1955, S. 926—932; A. Carballo Picazo in Revista de Filologia Espanola, 37, 1953, S. 333—338; R.-L. Wagner in BSL, 48, 1952, S. 66—72 u. in Journal de Psychologie, 47, 1954, S. 547—550; U. Weinreich in Language, 31, 1955, S. 537—543. Das Buch wird ausführlich auch von Baldinger besprochen. Um nur einiges aus der einschlägigen Literatur zu nennen: Y. Bar-Hillel, „Logical Syntax and Semantics" (Language, 30, 1954, S. 230—237; vgl. auch N . Chomsky,

Neuere Strömungen

in der

Semantik

279

die Linguistik mit der postumen Veröffentlichung von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen537 von außen bekommen. In diesem Werk hat Wittgenstein eine rein „operationale" Definition der Bedeutung vorgelegt. Der Gedanke ist keineswegs neu; lange vor Wittgenstein hatte schon P. W. Bridgman den operationalen Charakter wissenschaftlicher Begriffe wie Länge, Zeit oder Energie 538 unterstrichen und behauptet: „The true meaning of a term is to be found by observing what a man does with it, not by w h a t he says about it". 539 Aber Wittgenstein ist noch sehr viel weiter gegangen; seiner Meinung nach wird die Bedeutung eines Wortes durch seinen Gebrauch nicht bloß e r m i t t e l t : die Bedeutung eines Wortes i s t sein Gebrauch. Mit dieser Gleichsetzung von Bedeutung und Gebrauch durchkreuzte Wittgenstein tiefeingewurzelte Sprachund Denkgewohnheiten, und er scheint selbst einige Zweifel an der Gültigkeit seiner Formel gehabt zu haben 540 ; es sieht so aus, als habe er geahnt, daß in der Bedeutung eines Wortes etwas mehr als nur sein Gebrauch steckt, aber daß dieses Etwas sich der Analyse entzieht. Aber selbst wenn man gegen eine Gleichsetzung der beiden Termini Bedenken hat, so wird der Kern der operationalen Theorie kaum davon berührt. Wittgenstein hat aus seinem Axiom eine funktionale Theorie der Bedeutung entwickelt, die f ü r den modernen Sprachforscher höchst attraktiv ist. Wie ich

537

538

539

540

Language, 31, 1955, S. 36—45); C. E. Bazel!, „The Sememe" (Litera, 1, 1954, S. 17—31); J. Brough, „Some Indian Theories of Meaning" (Transactions of the Philological Society, 1953, S. 161—176); J. R. Firth, „Modes of Meaning" (jetzt in Papers, SA90—215);0. Tunke, Actes du7eCongrès, S. 29—34,194—197 u. 251—273; ders., „On some Synchronic Problems of Semantics" (English Studies, 34, 1953, S. 258—261); ders., „Form und 'Bedeutung' in der Sprachstruktur" (Festschrift A.Debrunner, Bern, 1954, S. 141—150); A. Gill, „La Distinction entre 'langue' et 'parole' en sémantique historique" (Studies . .. presented to ]. Orr, Manchester, 1953, S. 90—101); W . H a a s , „On Defining Linguistic Units" (Transactions of the Philological Society, 1954, S. 54—84); W. Henzen, „Wortbedeutung und Wortnatur" (Debrunner-Festschrift, S. 179—194); C . E . O s g o o d , „The Nature and Measurement of Meaning" (Psychological Bulletin, 49, 1952, S. 197—237); A. W. Read, „The Term 'Meaning' in Linguistics" (ETC., 13, 1955/56, S. 37—45); J. Vendryes, „Le Mot dans la phrase" (FM, 21, 1953, S. 81—90); ders., „Sémantème et morphème" (Archivio Glottologico Italiano, 39, 1954, S. 48—55); H. Yamagudii, „An Essay towards English Semantics. I: A Descriptive Study" (Memoirs of Fukui University, Liberal Arts Department, I, 1, 1952, S. 1—28); „II: A Historical Study" (ebd., I, 4, 1955, S. 70—85). Oxford, 1953. Vgl. dazu R. Wells, „Meaning and Use" (Word, 10,1954, S. 235—250) u. meinen bereits erwähnten Aufsatz, Archivum Linguisticum, 8, 1956, S. 17 ff. The Logic of Modern Physics (New York, 1927); vgl. S. 5: „In general, we mean by any concept nothing more than a set of operations; t h e c o n c e p t i s s y n o n y m o u s w i t h t h e c o r r e s p o n d i n g set of o p e r a t i o n s . " [Ebd., S. 7]; audi bei Firth, Actes du 7e Congrès, S. 8 und Chase, Tyranny of Words, S. 7. Vgl. Philosophische Untersuchungen, S. 53 u. 215.

280

Nachtrag zur zweiten

Auflage

an anderer Stelle zu zeigen versuchte 541 , besteht eine unverkennbare Verwandtschaft zwischen manchen Ideen Wittgensteins und zeitgenössischen sprachwissenschaftlichen Überlegungen — eine Verwandtschaft, die um so erstaunlicher ist, als Wittgenstein anscheinend nicht mit sprachwissenschaftlichen Werken vertraut war. Einige Grundzüge des vorliegenden Buches finden sich in mehr philosophischer Form auch bei Wittgenstein: die ausschlaggebende Funktion des Kontextes für die Bestimmung der Bedeutung; der Gedanke, daß Bedeutungen am besten dadurch festzustellen sind, daß man Wörter gegeneinander austauscht; die Auffassung von der Sprache als eines gegliederten Ganzen, als einer Gestalt, deren Teile ihre Bedeutung aus dem Gesamtsystem erhalten. Sogar Wittgensteins Bilder klingen zuweilen unwillkürlich an die der Linguisten an; wenn er sich Wörter als Werkzeuge und die Sprache als Schachspiel vorstellt und wenn er sich um jedes Wort ein Kraftfeld denkt, so sind das für den Semantiker durchaus vertraute Bilder. 642 Allgemein gesprochen bestehen im Augenblick also offensichtlich zwei Denkrichtungen über das Wesen der Bedeutung: die von Wittgenstein vorgeschlagene operationale Betrachtungsweise und die „analytische" 543 Betrachtungsweise, die die Bedeutung in ihre Bestandteile aufzulösen versucht und die in Ogden-Richards' Dreieckschema ein klassisches Beispiel gefunden hat. Die analytische Auffassung hat ihre Schwächen 544 ; dennoch läßt sie sich, wie ich im vorliegenden Buche zu zeigen versuchte, mit moderner Sprachbetrachtung in Einklang bringen, und — was noch widniger ist — es läßt sich damit arbeiten: sie hat bewiesen, daß sie ein methodisches und flexibles System f ü r die Klassifikation sowohl synchronischer als auch historischer semantischer Phänomene abgeben kann. Man kann jetzt noch nicht sagen, ob Wittgensteins Theorie den Bedürfnissen des Empirikers ebenso genügen wird, wenn man zugegebenermaßen auf den ersten Blick auch noch nicht recht sehen kann, wie ein um541

Archivum Linguisticum, 8, S. 18 f. Philosophische Untersuchungen, S. 6; 47 u. 150 f.; 219. 543 "Wells, Word, 10, S. 236 f., nennt diesen Definitionstypus „dyadisch", da er von einer bipolaren Relation zwischen Zeichen und Objekt ausgeht. „Ogden and Richards . . . analyze the triadic relation as a conjunction of two dyads: one holding between sign and interpretant, the other between interpretant and object". Das ändert jedoch überhaupt nichts an der Tatsache, daß ihr Bedeutungsbegriff grundsätzlich triadischer Natur ist. Sie unterscheiden genau zwischen drei Begriffen — „Symbol", „thought" und „referent" — und betonen immer wieder, daß es zwischen dem ersten und dritten Glied keine direkte Verbindung gibt. Ich will mit der Bezeichnung „analytisch" nur die Verfahrensweise als solche charakterisieren, ohne mich auf die Zahl der dadurch ermittelten Komponenten festzulegen. Vgl. hierzu H. Spang-Hanssens guten Überblick Recent Theories on the Nature of the Language Sign (TCLC, 9, 1954). 542

544

Vgl. Archivum Linguisticum, 8, S. 14—17, wo ich auch zu Einwänden Stellung genommen habe, die gegen die im vorliegenden Buch vorgetragene Theorie der Bedeutung gemacht worden sind.

Neuere Strömungen

in der

Semantik

281

fassendes System der deskriptiven und historischen Semantik auf einer solchen Grundlage aufzubauen wäre. 5 4 5 Ein weiteres, in den letzten Jahren vielbeachtetes grundsätzliches Problem ist die Stellung der Semantik innerhalb der Sprachwissenschaft und ihre Beziehung zu anderen Disziplinen, insbesondere zur Morphologie und Syntax. 54 ® Interessant sind in diesem Zusammenhang die Bemühungen der Komparatisten, ihre Methoden auf die neuesten Ergebnisse der Semantik abzustimmen. Dieser Punkt ist auf dem Siebten sprachwissenschaftlichen Kongreß 5 4 7 zur Sprache gekommen, und eine Reihe von Aufsätzen hat die Feldtheorie und andere neuere Verfahren auf Probleme der linguistischen Rekonstruktion und der vergleichenden Etymologie anzuwenden versucht. 5 4 8

2 Die Linguisten interessieren sich auch weiterhin

für die

traditionellen

Probleme der deskriptiven wie auch der historischen Semantik. So sind in den letzten Jahren eine Reihe von Aufsätzen bzw. eigene Abhandlungen über Eigennamen 5 4 9 ,

Motivierung 5 5 0 ,

Onomatopoesie 5 5 1 ,

Volksetymologie 5 5 2 ,

emotionale

Wells, Word, 10, S. 245 ff. hat die operationale Betrachtungsweise an der verschiedenen Verwendungsweise mehrerer englischer Adjektive erprobt. Er kommt zu interessanten Ergebnissen, die aber doch nichts an dem ersten Eindruck ändern, daß der operationale Bedeutungsbegriff für die deskriptive und historische Semantik weniger bietet als die analytische Theorie. 54« Ygi Q Devoto, „Sémantique et Syntaxe" ( C o n f é r e n c e s de l'Institut de Linguistique de l'Université de Paris, 11, 1952/53, S. 51—62); O.Funke, „On the System of Grammar" {Archivum Linguisticum, 6, 1954, S. 1—19), bes. S. 15 ff.; G. P. Meredith, ebd., 8, S. 6 ff. ; J . Perrot, „Morphologie, syntaxe, lexique" ( C o n f é r e n c e s de l'Institut de Linguistique de l'Université de Paris, 11, 1952/53, S. 63—74); ders., La Linguistique (in der Reihe „Que sais-je?", Paris, 2 1957), S. 121 ff.; R.-L. Wagner, Supplément bibliographique à l'introduction à la linguistique française, 1947—1953 (Genf/Lille, 1955), Avant-propos; rez. in Archivum Linguisticum, 7, 1955, S. 66—67. 545

547 548

54

Actes du 7 e Congrès, S. 103—111 u. 401—423. Z. B. W. S. Allen, „Relationship in Comparative Linguistics" (Transactions of the Philological Society, 1953, S. 52—108); E. Benveniste, „Problèmes sémantiques de la reconstruction" {Word, 10, 1954, S. 251—264); L . R . Palmer, „The Indo-European Origins of Greek Justice" (Transactions of the Philological Society, 1950, S. 149 bis 168); ders., „The Concept of Social Obligation in Indo-European. A Study in Structural Semantics" (Hommages à M. Niedermann, Brüssel, 1956, S. 258—269); E. Reifler, „Linguistic Analysis, Meaning and Comparative Semantics" (Lingua, 3, 1952/53, S. 371—390). Mir unzugänglich: N. M. Holmer, „Comparative Semantics: a New Aspect of Linguistics" (International Anthropological and Linguistic Review, 1, 1953, S. 97—106).

' E. Coseriu, „El Plural en los nombres propios" (Revista Brasileira de Filologia, 1, 1955, S. 1—15); Sir Alan Gardiner, The Theory of Proper Names (London u.a., 2 1954); E. Pulgram, „Theory of Names" (Beiträge zur Namenforschung, 5, 1954, S. 149—196).

282

Nachtrag zur zweiten

Auflage

Bedeutung 5 5 3 , Vieldeutigkeit 5 5 4 , Bedeutungswandel 5 5 5 , zur Metapher 5 5 8 , zu Tabu und Euphemismus 5 5 7 und zur Onomasiologie 5 5 8 erschienen. D a b e i sind ein oder z w e i brauchbare Begriffe herausgekommen: Orr hat den Begriff „pseudoseman550

551

552

653

554

555

558

557

J. Engels, „Het Probleem der motivering" (Levende Talen, 1955, S. 521—539); J. Vendryes, „Sur la dénomination" (BSL, 48, 1952, S. 1—13). R. Lehmann, Le Sémantisme des mots expressifs en Suisse romande (Romanica Helvetica, 34, Bern, 1949); G. V. Smithers, „Some English Ideophones" (Archivum Linguisticum, 6, 1954, S. 73—111); H . Wissemann, Untersuchungen zur Onomatopoiie, I: Die sprachpsychologischen Versuche (Heidelberg, 1954). J. Orr, „L'Étymologie populaire" (Revue de Linguistique Romane, 18, 1954, S. 129 —142); J. Vendryes, „Pour une étymologie statique" (BSL, 49, 1953, S. 1—19). Über moderne Methoden der Etymologie ist eine Reihe wichtiger Aufsätze von Y. Malkiel erschienen: „Etymology and the Structure of Word Families" (Word, 10, 1954, S. 265—274); „The Place of Etymology in Linguistic Research" (Bulletin of Hispanic Studies, 31, 1954, S. 78—90); „Etymology and Historical Grammar" (Romance Philology, 8, 1954/55, S. 187—208); „The Uniqueness and Complexity of Etymological Solutions" (Lingua, 5, 1955/56, S. 225—252); „A Tentative Typology of Etymological Studies" (International journal of American Linguistics, 23, 1957, S. 1—17). Vgl. audi B. E. Vidos, „Étymologie organique" (Revue de Linguistique Romane, 21, 1957, S. 93—105). M. Piron, „Caractérisation affective et création lexicale. Le cas du wallon ramponô" (Romanica Gandensia, 1, 1953, S. 119—170); A. Sieberer, „Vom Gefühlswert der Wörter. Ein Beitrag zur allgemeinen Bedeutungslehre" (Die Sprache, 3, 1957, S. 4 bis 22 u. 110—119). W. Empson, The Structure of Complex Words (London, 1951); A. Rudskoger, Fair, Foul, Nice, Proper. A Contribution to the Study of Polysemy (Stockholm, 1952). R. M. Estrich-H. Sperber, Three Keys to Language (New York, 1952), Kap. 1—3; 0 . Funke, „Zum Problem des Bedeutungswandels" (Wiener Beiträge zur Englischen Philologie, 62, 1955, S. 53—61); A. Sauvageot, „A propos des changements sémantiques" (Journal de Psychologie, 46, 1953, S. 465—472); H . Schreuder, „On Some Cases of Restriction of Meaning" (English Studies, 37, 1956, S. 117—124); J. Schröpfer, „Wozu ein vergleichendes Wörterbuch des Sinnwandels?" (Actes du T Congrès, S. 366—371); H . Werner, „Change of Meaning: a Study of Semantic Processes through the Experimental Method" (The Journal of General Psychology, 50, 1954, S. 181—208). Ch. Bruneau, „L'Image dans notre langue littéraire" (Mélanges A. Dauzat, Paris, 1951, S. 55—67); E. Coseriu, La Creación metafórica en el lenguaje (Montevideo, 1956); Estrich-Sperber, a. a. O., Kap. 13 u. passim; R. Jakobson-M. Halle, Fundamentals of Language (Den Haag, 1956), S. 76—82 (dt: Grundlagen der Sprache, Berlin, 1960); F. W. Leakey, „Intention in Metaphor" (Essays in Criticism, 4, 1954, S. 191—198); B. Migliorini, „La Metafora reciproca" (Saggi, S. 23—30); 1. A. Richards, Speculative Instruments (London, 1955); R. A. Sayce, Style in French Prose (Oxford, 1953), Kap. 10; u. mein Style in the French Novel (Cambridge, 1957), Kap. 5 u. 6. Ch. Bruneau, „Euphémie et euphémisme" (Festgabe E. Gamillscheg, Tübingen, 1952, 5. 11—23); M. Cortelazo, „Valore attuale del tabu linguistico mágico" (Rivista di Etnografía, 7, 1953, S. 13—28); Estrich-Sperber, a. a. O., Kap. 1—4; J. Orr, „Le Rôle destructeur de l'euphémie" (Cahiers de l'Association Internationale des Études Françaises, 1953, S. 167—175). Mir unzugänglich: R. F. Mansur Guérios, Tabus Lingüísticos (Rio de Janeiro, 1956).

Neuere Strömungen

in der

Semantik

283

tische Entwicklung" („pseudo-semantic development") eingeführt, um den Typus von Bedeutungswandel zu bezeichnen, der sich nicht spontan, sondern durch assoziative Lautbeeinflussung entwickelt 559 , und Malkiel hat von der „lexikalischen Polarisation" gesprochen, womit er den wechselseitigen Einfluß der Gegenbegriffe bezeichnet. 580 Audi sind die semantischen Aspekte der Zweisprachigkeit systematisch erforscht worden. 561 Alle diese wichtigen Untersuchungen werden jedoch von dem zentralen Problem in den Schatten gestellt, das sich der Semantik heute stellt: inwieweit und mit welchen Methoden läßt sich der Wortschatz s t r u k t u r a l i s t i s c h behandeln? Das Problem ist nicht neu: es hat sich uns im vorliegenden Buch immer wieder gestellt und ist im dritten Kapitel ausführlich diskutiert worden. Neuerdings ist es aber besonders dringlich geworden, da immer mehr Semantiker erkannt haben, daß ihr Fach mit der übrigen Linguistik nicht hat Schritt halten können und von der modernen Entwicklung überholt worden ist. Diese Bedrohung haben die Semantiker damit beantwortet, daß sie einige der in den letzten fünfundzwanzig Jahren entwickelten Techniken vervollkommnet und auch mit neuen Methoden experimentiert haben. Im Zuge dieser verschiedenen Bemühungen hat sich eine neue, strukturalistisch orientierte Semantik abzuzeichnen begonnen, und es ist bezeichnend, daß P. Guiraud in seinem Bändchen in der Reihe „Que sais-je?" ein besonderes Kapitel der „sémantique structurale" gewidmet hat. 562 Es lassen sich etwa vier Gruppen von Methoden unterscheiden, die den Wortschatz strukturalistisch beschreiben wollen: 1. D i e s t a t i s t i s c h e M e t h o d e . Die statistische Betrachtungsweise, die wir im letzten Kapitel des vorliegenden Buches besprochen haben, ist in den letzten Jahren von einigen Gelehrten mächtig vorangetrieben worden. 563 Diese Untersuchungen sind nicht nur deshalb so wichtig, weil sie präzise sind und B. Quadri, Aufgaben und Metboden der onomasiologischen Forschung. Eine entwicklungsgeschicbtliche Darstellung (Romanica Helvetica, 37, Bern 1952), bes. Kap. 3. 559 „ T w o Cases of Pseudo-semantic Development" (jetzt auch in Words and Sounds in English and French, O x f o r d , 1953, S. 154—160). 660 „Lexical Polarization in Romance" (Language, 27, 1951, S. 485—518). 561 U. Weinreich, Languages in Contact. Findings and Problems ( N e w York, 1953), S. 4 7 f f . ; rez. in Romance Philology, 8, 1954/55, S. 209—211. Ders., „Research Frontiers in Bilingualism Studies" (Reports for the 8th Congress, Oslo 1957, S. 184—196); vgl. auch E. Haugen, „Language Contact" (ebd., S. 253—267). 562 Kap. 5. Vgl. auch C. E. Bazell, „La Sémantique structurale" (Dialogues, 3, 1953, S. 120—132); R. Wells, „To what extent can meaning be said to be structured?" (Reports, Oslo, 1957, S. 197—209); L. Hjelmslev, „Dans quelle mesure les significations des mots peuvent-elles être considérées comme formant une structure?" (ebd., S. 268—286). 503 Ygj z g p Guiraud, Les caractères statistiques du vocabulaire (Paris, 1954); ders., „Langage et communication. Le substrat informationnel de la sémantisation" (BSL, 50, 1954, S. 119—133); B. Mandelbrot, „Structure formelle des textes et communi-

558

284

Nachtrag

zur zweiten

Auflage

ungeahnte Strukturen und Beziehungen aufdecken können, sondern audi, weil sie für bestimmte Probleme der Kommunikationstechnik und Informationstheorie bedeutsam sind. Sie sind auch für die Stilistik von Nutzen und können zur Klärung beitragen, wenn der Verfasser eines literarischen Werkes umstritten oder die Chronologie der Schriften ein und desselben Autors unklar ist. Auf dem letztgenannten Gebiet hat G. Herdan in seinem Buch Language as Choice and Chance564 die bahnbrechende Arbeit von G . U . Yule fortgesetzt. Aber der statistischen Wortschatzbetrachtung sind zwei Grenzen gesetzt: nur die wenigsten Sprachwissenschaftler haben die nötigen mathematischen Kenntnisse, um diese Methoden anwenden oder auch nur verstehen zu können, und, was noch wichtiger ist, es handelt sich dabei um eine rein quantitative Erhebung, wohingegen die meisten semantischen Probleme wesentlich qualitativer Art sind. 565 2. D i e E r f o r s c h u n g c h a r a k t e r i s t i s c h e r S t r ö m u n g e n . 5 8 8 I m zweiten Kapitel dieses Buches habe ich zu zeigen versucht, daß jede Sprache bestimmte Idiosynkrasien hat, wozu z. B. das Überwiegen konventioneller oder motivierter Wörter oder das Verhältnis von Einzelbestimmungen und Gattungsnamen gehört. Hierin kann sich eine Sprache auf charakteristische Weise von einer anderen und eine Entwicklungsstufe in der Geschichte einer Sprache von einer früheren oder späteren Phase unterscheiden (vgl. S. 85 f., 103 f., 115 ff. u. 126 ff.). Ich habe diese Kriterien inzwischen auf das heutige Französisch angewendet und angedeutet, daß sich auf dieser Basis eine rudimentäre semantische Typologie aufbauen läßt. 5 6 7 Jeder der im zweiten Kapitel behandelten H a u p t c a t i o n " (Word, 10, 1954, S. 1 — 2 7 ) ; J . W h a t m o u g h , „Statistics and Semantics" (Debrunner-Festschrifl, S. 4 4 1 — 4 4 6 ) ; ders., Language. A Modern Synthesis ( L o n d o n , 1 9 5 6 ) , K a p . 11. Einige dieser Problerne sind audi auf dem Londoner K o n g r e ß z u r Sprache gekommen; siehe Actes du 7e Congrès, bes. S. 2 0 1 f. u. 2 0 9 ff. 564

Groningen, 1 9 5 6 ; ders., „Chaucer's Authorship o f the Equatorie of the Planetis. T h e U s e o f R o m a n c e V o c a b u l a r y as E v i d e n c e " ( L a n g u a g e , 32, 1 9 5 6 , S. 2 5 4 — 2 5 9 ) . Über statistische Methoden in der Stilistik vgl. mein Buch Style in the French Novel, S. 2 9 ff.

565

Vgl. Martinets geistvollen Angriff auf die mathematische Sprachwissenschaft : „Flaunting m a t h e m a t i c a l formulae before a linguistic audience or in a linguistic publication is either grossly misinterpreting the needs and capacities o f one's audience or readers, o r else trying to bully them into accepting one's views b y claiming f o r these the support o f a science they tend to respect as the most e x a c t of all sciences, but whose d a t a they are not in a position to verify. W e need more and more rigour in linguistics, but our o w n b r a n d " ( „ T h e U n i t y of L i n guistics", Word, 10, 1 9 5 4 , S. 1 2 1 — 1 2 5 ; S. 1 2 5 ) .

In H a t z f e l d s Critical Bibliography of the New Stylistics (Chapel Hill, 1 9 5 3 ) w i r d diese Betrachtungsweise als „entirely new stylistic discipline" bezeichnet und „ i d i o m a t o l o g y " bzw. „language c h a r a c t e r i z a t i o n " genannt. Die „Idiomatische Sem a n t i k " w ü r d e in dieser neuen Disziplin eine U n t e r g r u p p e bilden (S. 2 1 5 ) . 567 y g j m e ; n e n Précis de sémantique française, passim, bes. S. 3 1 6 f. u. meine beiden Aufsätze, „Les Tâches de la sémantique descriptive en français" (BSL, 4 8 , 1 9 5 2 , S. 1 4 — 3 2 ) u. „Descriptive Semantics and Linguistic T y p o l o g y " (Word, 9, 1 9 5 3 , S. 2 2 5 — 2 4 0 ) .

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Neuere

Strömungen

in der

Semantik

285

aspekte der einfachen und der vielfältigen Bedeutung scheint ein solches Kriterium abgeben zu können, so daß sich alsbald ein halbes Dutzend charakteristischer Tendenzen aus dem Schema ablesen läßt: a) Der Anteil der konventionellen und motivierten Wörter und die relative Häufigkeit der verschiedenen Typen der (phonetischen, morphologischen und semantischen) Motivierung. b) Die Vorliebe einer bestimmten Sprache für Einzelbestimmungen bzw. Gattungsbezeichnungen. 568 c) Besondere Mittel, die Gefühls- oder Ausdruckskraft der Wörter zu steigern, was im Französischen z. B. durch ein vorgestelltes Adjektiv erreicht wird: 'une i n t é r e s s a n t e nouvelle' — 'une nouvelle i n t é r e s s a n t e ' . d) Charakteristische Synonymengruppierungen wie z. B. der Gegensatz zwischen Erbwörtern und (griechisch-lateinischen) gelehrten Bildungen im Französischen: 'sécheresse' — 'siccité', 'sûreté' — 'sécurité'. e) Die relative Häufigkeit der Polysemie und besondere Schutzmaßnahmen dagegen, zu denen z. B. im Französischen das Genus gehört: 'le pendule' (Pendel) — 'la pendule' (Uhr). Das Ausmaß der aus der Polysemie resultierenden Mehrdeutigkeit. f) Die relative Häufigkeit der Homonymie und besondere Schutzmaßnahmen dagegen, zu denen z. B. im Französischen das Genus gehört: 'le page' — 'la page' gegenüber engl. 'page'. Das Ausmaß des Homonymenkonfliktes. Einige dieser Kriterien, insbesondere b), e) und f) ergeben zusammengenommen ein siebtes, allgemeineres Kriterium: g) Die Autonomie der Wörter und die Bedeutung des Kontextes in einer bestimmten Sprache. So bringt es das Überhandnehmen der Gattungsbezeichnungen und die Häufigkeit der Polysemie und Homonymie im Französischen mit sich, daß der Kontext in dieser Sprache sehr viel wichtiger ist als z. B. im Deutschen, wo die Wörter ein größeres Maß an semantischer Autonomie genießen. Die sieben soeben aufgezählten Kriterien sind in keiner Weise erschöpfend: es ließen sich noch viele andere semantische Idiosynkrasien feststellen, wenn 668

569

Die Bemerkungen von Ch. Bally (Ling. gén., S. 346 ff.) und V. Brondal (Le Français langue abstraite, Kphg., 1936) werden nun durch J. Orrs Aufsatz „English and French — a Comparison" (jetzt in Words and Sounds, S. 5 6 — 6 2 ) bereichert. Die weitverbreitete Ansicht, daß die Eingeborenensprachen eine Fülle von Einzelbenennungen, aber nur wenig Gattungsnamen haben, wird von amerikanischen Sprachwissenschaftlern energisch zurückgewiesen; siehe bes. A. A. Hill, „ A Note on Primitive Languages" (International Journal of American Linguistics, 18, 1952, S. 172—177). Mit der Beurteilung des Sachverhalts sollte man tunlichst noch warten, bis noch mehr Belegmaterial vorliegt (vgl. Kronasser, Handbuch, S. 130 ff.), doch sollte man von jetzt ab die Bezeichnung „primitive Sprachen" als irreführende Kurzform für „Sprachen der Primitiven" fallenlassen. Vgl. z. B. die beiden Bücher von Leisi, auf die wir noch zu sprechen kommen [s. u. S. 2 9 1 ] .

286

Nachtrag zur zweiten

Auflage

man eine Sprache mit einer anderen konfrontierte. 5 6 9 Es muß dabei gesagt werden, daß diese Methode, auch wenn sie primär deskriptiv ist, auch auf historische Probleme anwendbar ist; so läßt sich durch eine Gegenüberstellung des Neufranzösischen mit dem Altfranzösischen zeigen, wie, wann und warum sich das Französische aus einer motivierten zu einer konventionellen Sprache entwickelt h a t ; wie es zum Schwund einiger seiner Ableitungstypen, wie es zu der Homonymenflut, wie es zu seinen zweierlei Synonymenschichten gekommen ist etc. 3. S p r a c h f e l d t h e o r i e n . Wie nicht anders zu erwarten war, wird die Semantik in Theorie und Praxis weiterhin nachhaltig von der Trier-Schule beeinflußt. In ihrem Gefolge ist eine Reihe von Einzeluntersuchungen entstanden 570 , und in vielen Aufsätzen hat man sich mit der neuen Methode kritisch auseinandergesetzt. 571 Am nachdrücklichsten wird diese Betrachtungsweise wohl von Leo Weisgerber vertreten, der ja zu den Mitbegründern der Feldtheorie gehört (s.o. S. 1 4 4 f . u. 149ff.). E r hat seine früheren Gedankengänge in den beiden Bänden eines Budies mit dem bezeichnenden Titel Vom Weltbild der deutschen Sprache572 entscheidend weitergeführt. Dieses Werk ist nicht nur deswegen bedeutend, weil es die Feldtheorie ausweitet und vertieft, sondern auch aus zwei anderen Gründen: die neue Technik wird hier auf ihre Gültigkeit geprüft und in vielen Einzelergebnissen erfolgreich an der Struktur der deutschen Gegenwartssprache erprobt; auch werden die Ergebnisse der Feldtheorie mit denen verwandter Denkrichtungen, insbesondere mit den hier gleich noch zu besprechenden Gedankengängen von B. L . W h o r f und E . Leisi in Beziehung gesetzt. Weisgerbers Untersuchungen gehen über die eigentliche Semantik hinaus: sowohl der Wortschatz als auch das grammatische System werden daraufhin untersucht, auf welche Weise sie die Erfahrungen ordnend zusammenfassen und eine „sprachliche Zwischenwelt" zwischen uns und die nichtsprachliche Welt schieben. Weisgerber teilt den Wortschatz in drei große Gruppen auf: Natur, materielle Kultur und Geisteswelt. In der ersten Gruppe handelt er ausführlich von der sprachlichen Erschließung der Bergwelt, wie sie sich in den Mundarten 670

5,1

572

Vgl. z. B. B. v. Lindheim, „OE. 'Drêam' and its Subsequent Development" (RES, 25, 1949, S. 193—209); F. Maurer, Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte, besonders in den großen Epen der S tau fischen Zeit (Bern, 1951); Sister L. Tinsley, The Trench Expressions for Spirituality and Devotion. A Semantic Study (Washington, D. C., 1953; rez. in Romance Philology, 9, 1955/56, S. 46—48). H. Basilius, „Neo-Humboldtian Ethnolinguistics" (Word, 8, 1952, S. 95—105); B. v. Lindheim, „Neue Wege der Bedeutungsforschung" (Neuphilologische Zeitschr., 3, 1951, S. 101—114); S. öhman, „Theories of the 'Linguistic Field'" (Word, 9, 1953, S. 123—134). Die Feldtheorie kommt auch in mehreren allgemeineren Darstellungen zur Semantik zur Sprache: Baldinger, a.a.O., S. 15 ff.; Guiraud, La Sémantique, S. 70 ff.; Kronasser, Handbuch, S. 133 ff.; und in meinem Précis de sémantique française, Kap. 12. Bd. I: Die inhaltbezogene Grammatik (Düsseldorf, 2 1953); Bd. II: Die sprachliche Erschließung der Welt (Düsseldorf, 1954); [in der dritten Auflage 1962 in Titel und Bandeinteilung verändert.]

Neuere Strömungen

in der

Semantik

287

spiegelt, und er führt audi die lexikalische Struktur einiger anderer Felder vor — die von Raum und Zeit, Pflanzen- und Tierwelt, Verwandtschaftsbegriffe, Körperteilnamen, das System der Farben und anderer Sinnesempfindungen. Die materielle Kultur wird relativ kurz abgehandelt, -dafür wird das abstrakte Wortgut voll erschlossen, insbesondere das Feld menschlicher Verhaltensweisen und das intellektueller Eigenschaften, das ja den Ausgangspunkt f ü r die ganze Feldtheorie gebildet hatte. Ein anderes Buch dieser Schule, Suzanne ö h m a n s Wortinhalt und Weltbild513, steckt den Rahmen nicht so weit, enthält aber viel brauchbares Material. Die Verfasserin, eine in Schweden lebende deutschsprachige Schweizerin, hat die Bezeichnungen für menschliche Einrichtungen (Administration, Parteibezeichnungen, militärische Titel, Unterrichtswesen, Münzen und Maße, Anredeformen), den Wortschatz im Bereich der Sinneswahrnehmungen (Farben, Töne, Witterungsverhältnisse) und für Verwandtschaftsbeziehungen im Deutschen und im Schwedischen im einzelnen miteinander verglichen. Sie hat sich jedoch nicht in die höheren Regionen des intellektuellen und ethischen Wortschatzes vorgewagt, wo die Feldtheorie ihre größten Erfolge zu verzeichnen hat. Es hat auch Kritik gegeben. Schon früher war an der Feldtheorie kritisiert worden, daß Triers Auffassung von einem klarumrissenen Feld, in dem sich die Elemente wie Steinchen in einem Mosaik einfügen, zu starr und, bis auf wenige Ausnahmen, unrealistisch ist (s. o. S. 147). Darauf hat W. Betz in einem neueren Aufsatz 574 nachdrücklich hingewiesen. Um Triers Hypothese zu prüfen, hat er mit 77 Studenten die Probe gemacht, von denen jeder alle ihm einfallenden Bezeichnungen für Verstandesqualitäten aufschreiben mußte. Die Ergebnisse zeigten nichts von scharfen Umrissen und der Geschlossenheit, die man der Theorie zufolge hätte erwarten können, und statt eines streng durchgegliederten Systems ergaben sich überall Lücken und Überschneidungen. Betz möchte den Feldbegriff überhaupt aufgeben und Triers ursprünglichen Terminus „Sinnbezirk" wiederaufnehmen. Weiter wird an der Trierschule getadelt, daß sie sich einzig auf die Bedeutung konzentriere und die formalen Assoziationen, die sich zwischen den Wörtern herausbilden können, vernachlässige. 675 All diese Einwände sind nicht ganz unbegründet, aber sie rühren nicht an die Substanz der Feldtheorie. Es wäre schade, wenn diese Schule mit zu starren Prinzipien arbeiten und orthodox und doktrinär würde; sie läuft auch Gefahr, den Einfluß der Wörter auf das Denken zu überschätzen und diesen Prozeß zu einfach zu beschreiben. 576 Unter diesen Vorbehalten zählt die Feldtheorie weiterhin zu den fruchtbarsten 573

674 575

576

Wortinhalt und Weltbild. Vergleichende und methodologische Studien zu Bedeutungslehre und Wortfeldtheorie (Stockholm, 1951); rez. in Archivum Linguisticum, 4, 1952, S. 171—173. W. Betz, „Zur Überprüfung des Feldbegriffes" (KZ, 71, 1954, S. 189—198). M. Konradt-Hicking, „Wortfeld oder Bedeutungsfeld (Sinnfeld)?" (KZ, 73, 1956, 5. 222—234). Vgl. meine Bemerkungen in Archivum Linguisticum, 4, S. 173.

288

Nachtrag zur zweiten

Auflage

Experimenten der modernen Semantik, und auch nach mehr als fünfundzwanzig Jahren hat sie nichts von ihrer Triebkraft verloren. Von gänzlich anderen Voraussetzungen aus hat G. Matoré einen Feldbegriff entwickelt, der in vieler Hinsicht dem Trierschen gleicht, aber stärker soziologisch ausgerichtet ist. In seiner verdienstlichen Monographie Le Vocabulaire et la société sous Louis-Philippe577 hat er eingehend gezeigt, wie seine Betrachtungsweise in der Praxis funktioniert; zwei Jahre später hat er dann in La Méthode en lexicologie578 die theoretischen Grundlagen dafür gelegt. Er stimmt darin mit Trier überein, daß Wörter als Elemente in einem Feld anzusehen sind, aber er interpretiert diese Felder als soziologische Einheiten. „ . . . nous proposons de considérer le mot", schreibt er im Vorwort des ersten Buches, „non plus comme un objet isolé, mais comme un élément à l'intérieur d'ensembles plus importants, que nous classons hiérarchiquement en partant d'une analyse des structures sociales". In seinem zweiten Buch geht er sogar noch weiter, wohl zu weit, wenn er die Lexikologie definiert als „une discipline sociologique utilisant le matériel linguistique que sont les mots" (S. 50). Es kommt bei der Wortschatzbetrachtung zunächst einmal darauf an, den Zeitraum abzugrenzen, auf den sich die Untersuchungen beziehen sollen. Hierzu wird die Geschichte der französischen Sprache in ungefähr gleich lange Abschnitte eingeteilt, die einzelnen Generationen entsprechen. In jeder Periode dedct die soziologische Analyse eine Hierarchie von Begriffssphären auf, in denen die einzelnen Wörter sich zu bestimmten Strukturen ordnen. Um die Struktur eines jeden Feldes zu bestimmen, werden zwei weitere Begriffe eingeführt: „mot-témoin" und „motclé". Das erstere bezeichnet „des éléments particulièrement importants en fonction desquels la structure lexicologique se hiérarchise et se coordonne", wie z. B. 'magasin' im Wirtschaftsleben um 1820. 579 Schlüsselwörter sind Begriffe, die die Ideale einer einzelnen Generation zusammenfassen, wie z. B. "honnête homme' im 17. oder 'philosophe' im 18. Jahrhundert. 580 Ein weiteres wichtiges 577

Genf/Lille, 1 9 5 1 ; rez. in Archivum

578

Paris, 1953; rez. in French Studies, 8, 1954, S. 3 8 1 — 3 8 2 . Vgl. auch die früheren, ebenso betitelten Aufsätze von G. Matoré und A. J. Greimas in R F , 60, 1947, S. 411 bis 4 1 9 ; ebd., 62, 1950, S. 208—221. Im Anhang seiner La Méthode en lexicologie führt Matoré seine Methode an einem praktischen Beispiel vor: „Le champ notionnel d'art et d'artiste entre 1827 et 1834" (S. 9 9 — 1 1 7 ) ; anschließend bespricht er zwei Pariser Dissertationen, in denen A. J . Greimas und B. Quemada die gleiche Methode anwenden. Vgl. auch B. Quemada, Introduction à l'étude du vocabulaire médical, 1600—1710 (Paris/Besançon, 1955); P. J. Wexler, La Formation du vocabulaire des chemins de fer en France, 1778—1842 (Genf/Lille, 1 9 5 5 ) ; und einen mehr allgemeinen Aufsatz zur Sprachwissenschaft und Soziologie von A. J. Greimas, „L'Actualité du saussurisme" (FM, 24, 1956, S. 191—203).

579

La Méthode

580

La Méthode en lexicologie, S. 67 ff. Zur stilistischen Verwendung dieses Begriffs vgl. mein Buch Style in the French Novel, S. 35.

en lexicologie,

Linguisticum,

4, 1952, S. 182—184.

S. 65 ff. ; zu 'magasin' auch Le Vocabulaire,

S. 30 ff.

Neuere Strömungen in der Semantik

289

Prinzip von Matorés Lexikologie ist, daß er zwischen „la stylistique, fait individuel, et la lexicologie, fait social" 581 sorgfältig trennt; so hat er in seinem ersten Buch systematisch zwischen den persönlichen Idiosynkrasien im Stil Théophile Gautiers und der Sprache seiner Zeit zu unterscheiden versucht. In letzter Zeit ist nodi ein anderer Feldbegriff vorgeschlagen worden: das „morpho-semantische Feld" von P. Guiraud.582 Dies ist eine neue, treffende Bezeichnung für das Geflecht der Laut- und Sinn-Assoziationen, die zuerst Saussure für jedes Wort angenommen hat (s. o. S. 72 ff.). Guiraud studiert sehr scharfsinnig das Ineinandergreifen der synonymischen Beeinflussung, der Volksetymologie, der Homonymen-Assoziationen und ähnlicher Faktoren in diesen Feldern. Auf diese Weise gelingt es ihm, etymologische Probleme wie die Bedeutungsgeschichte von frz. 'maroufle' 'Katze'; 'Flegel', 'Schlingel', was auch die davon grundverschiedene Bedeutung 'Malerleim' haben kann, zu klären. Guiraud hat überzeugend nachgewiesen, daß das Zwischenglied in dieser Entwicklung die Homonymie von 'chat' und 'chas' 'Stärke', 'Appretur' war. Über die formale Identität dieser beiden Wörter ist es dazu gekommen, daß ein Synonym von 'diat', nämlich 'maroufle', in der Bedeutung 'dias' verwendet wurde. Diese Art der Beweisführung wird den Schülern Gilliérons und insbesondere Orr zusagen, dessen Aufsatzsammlung Words and Sounds in English and French585 genau diese Laut-Sinn-Assoziationen zum Hauptthema hat. 4. D i e G l i e d e r u n g d e s W o r t s c h a t z e s . Wie wir gesehen haben 684 , stellt sich die Feldtheorie den Wortschatz als ein riesiges Mosaik vor, das sich aus Feldern und größeren Teilganzen in der gleichen Weise wie das Feld sich aus Wörtern zusammensetzt. Matoré stellt sich in seiner lexikologischen Theorie den gesamten Wortschatz als in drei große Gruppen geteilt vor: „les tendances" („Le mouvement et le Biologique; les sensations; les sentiments; le rationnel"), „les techniques" („métiers; activités esthétiques; les sciences") und „le social" („argot; populaire; grossier; familier; académique; littéraire"). 585 Das alles ist aber nicht weiter ausgebaut worden, und der Anstoß zu einem den ganzen Wortschatz erfassenden Begriffssystem ist aus einer ganz anderen Richtung gekommen. In erster Linie waren praktische Gründe dafür maßgebend. Für Begriffswörterbücher wie die von Dornseiff, Buck und Casares brauchte man einen allgemeinen Rahmen, um das Material anordnen zu können (vgl. o. S. 106). 588 Dieses Problem, das Roget vor hundert Jahren als erster gesehen hat, 581 582

583 5M

685 686

Le Vocabulaire, Avertissement.

„Les champs morpho-sémantiques. (Critères externes et critères internes en étymologie)" (BSL, 52, 1956, S. 2 6 5 — 2 8 8 ) . Oxford, 1953; rez. in MLR, 49, 1954, S. 356 f. Siehe oben S. 147 u. S. 153.

La Méthode en lexicologie, S. 70 ff.

Auf die Entwicklung dieser Problematik geht K . Baldinger ausführlich ein in seinem Aufsatz „Die Gestaltung des wissenschaftlichen Wörterbuchs" ( R o m a n i s t i sches Jahrbuch, 5, 1952, S. 6 5 — 9 4 ) . Ders., „Grundsätzliches zur Gestaltung des

19 Ullmann

290

Nachtrag

zur zweiten

Auflage

ist a u f dem L o n d o n e r K o n g r e ß 5 " diskutiert w o r d e n , dem ein v o n R . H a l l i g und W . v. W a r t b u r g 5 8 8 entwickeltes Begriffssystem v o r l a g . Dieses O r d n u n g s schema, das erste seiner A r t , w a r aus dem gleichen N ä h r b o d e n erwachsen wie die F e l d t h e o r i e : es soll die „ Z w i s c h e n w e l t " der B e g r i f f e zwischen Mensch und U n i v e r s u m spiegeln und sie als ein gegliedertes S y s t e m

ineinandergreifender

E l e m e n t e a b b i l d e n . W ä h r e n d aber die F e l d t h e o r i e m e h r die m a l i g e n Z ü g e einer jeden Sprache aufzudecken

individuell-ein-

sucht, h a t das Schema

von

H a l l i g und v. W a r t b u r g mehr allgemeinen C h a r a k t e r : es soll als Begriffssystem f ü r die Beschreibung einer jeden Sprache dienen. D i e Begriffe werden aus der Sicht des „naiven R e a l i s m u s " klassifiziert, aus der Sicht „des begabten Durchschnittsindividuums, dessen W e l t b i l d durch die sprachlich bedingten vorwissenschaftlichen Allgemeinbegriffe b e s t i m m t ist" ( 2 1 9 6 3 ; S. 6 4 ) . D a s Gliederungssystem u m f a ß t drei große G r u p p e n : a) L ' U n i v e r s , b) L ' H o m m e und c) L ' H o m m e et L ' U n i v e r s , v o n denen jede wieder zahlreiche K l a s s e n und U n t e r k l a s s e n hat, die, soweit wie möglich, r a t i o n a l angeordnet sind. Dieses Schema h a t sich folgerichtig aus v. W a r t b u r g s dauernden

Bemü-

hungen — a u f die wir im dritten K a p i t e l unseres Buches eingegangen sind ergeben, die K l u f t zwischen

deskriptiver und historischer



Sprachwissenschaft

zu überbrücken und eine echte Strukturgeschichte des Wortschatzes a n z u b a h n e n . E i n e solche Geschichte k a n n n u r a u f einer V i e l z a h l deskriptiver Untersuchungen, die alle einheitlich aufgezogen sind, a u f g e b a u t wenden. Zu diesem Zweck ist das Begriffssystem J a h r e v o r seiner V e r ö f f e n t l i d i u n g eigentlich aufgestellt w o r d e n , und es b i l d e t e die gemeinsame Ausgangsbasis f ü r eine R e i h e lexikographischer A r b e i t e n , die v. W a r t b u r g b e t r e u t hat. 5 8 9 N a c h d e m es gedruckt vorlag, ist es dann leicht modifiziert in einer synchronischen Wortschatzstudie zu dem a n g l o normannischen D i c h t e r W a c e 5 9 0 und in einer M o n o g r a p h i e über eine

Evan-

gelienübersetzung des 16. J a h r h u n d e r t s ins R ä t o r o m a n i s c h e 5 8 1 angewendet w o r den. Es w ä r e natürlich ganz falsch, in dem Schema v o n H a l l i g und v. W a r t b u r g irgendwelche besonderen V o r z ü g e sehen zu w o l l e n ; es ist ein in sich geschlos-

587 588

589

590 591

wissenschaftlichen Wörterbuchs" (Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin 1946—1956; Berlin, 1956, S. 379—388). Uber semantische Probleme in der Lexikographie insbes. J . Casares, Introducción a la lexicografía moderna (Madrid, 1950), T. 2, Kap. 2 — 4 ; F. Hiorth in Lingua, 4, 1954/55, S. 413—424 u. in Studia Lingüistica, 9, 1955, S. 57 bis 65; A. Sommerfeit, „Semantique et lexicographie" ( N o r s k Tidsskrifl, 17, 1954, S. 485—489); vgl. auch „Principies of Unilingual Dictionary Definitions" ( R e p o r t s for the 8