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German Pages 326 [327] Year 2010
Schriften zur Rechtstheorie Heft 157
Juristische Semantik Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht
Von Dietrich Busse
2. Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
DIETRICH BUSSE
Juristische Semantik
Schriften zur Rechtstheorie Heft 157
Juristische Semantik Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht
Von Dietrich Busse
2. Auf lage
Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Technischen Hochschule Darmstadt hat diese Arbeit im Jahre 1991 als Teil einer Habilitationsleistung angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 1993 Alle Rechte vorbehalten
© 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13427-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort zur zweiten Auflage Zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Auflage dieses Buches waren Arbeiten zum Thema „Sprache und Recht“, die sich gezielt die semantischen Aspekte dieser Problemstellung vorgenommen haben, ziemlich rar gesät. Zwar hat sich die allgemeine Forschungslage auf dem Gebiet „Sprache und Recht“ seitdem deutlich verbessert, doch wird man immer noch feststellen müssen, dass in dem Bereich, der durch den Titel dieses Buches umrissen wird, nämlich „Juristische Semantik“ im allgemeinen wie im sprachwissenschaftlichen Verständnis dieses Begriffs, noch immer vergleichsweise wenig Neues geschehen ist, so dass aus Sicht des Autors die zusammenfassende Darstellung und kritische Diskussion in diesem Band nach wie vor Aktualität hat, was (außer der unveränderten Nachfrage nach diesem Buch) eine Neuauflage auch nach so langer Zeit rechtfertigen mag. Insbesondere die Sprachwissenschaftler, die auf dem Gebiet „Sprache und Recht“ tätig sind, scheinen eine große Scheu davor zu haben, sich den Kernfragen der juristischen Semantik und Textauslegungslehre zu stellen, die in diesem Buch im Mittelpunkt stehen. Nach wie vor existiert eine „linguistische“ oder „linguistisch-semantische“ Analyse (im engeren Sinne) von Rechtsbegriffen und Rechtstexten nur in einer kleinen Zahl verstreuter Studien, die meisten davon nach wie vor nur in deutscher Sprache. In der englischsprachigen Welt scheint das Thema Juristische Semantik noch viel weniger etabliert zu sein als hierzulande. Jedenfalls musste der Verfasser dieser Arbeit auf internationalen Tagungen zum Thema „Sprache und Recht“ und vor angelsächsischem und internationalem Publikum überhaupt erst intensiv dafür werben, dass für Linguisten wie für Juristen die Beschäftigung mit semantischen Fragen der Rechtssprache ein lohnendes wissenschaftliches Ziel sein könnte – und zwar theoretisch wie methodisch wie empirisch. Im deutschen Sprachraum hat es, außer den Aktivitäten der Heidelberger / Mannheimer internationalen interdisziplinären Forschergruppe „Sprache und Recht“ (http://www.recht-und-sprache.de), zu deren Mitbegründern der Verfasser dieses Bandes zählt, im wesentlichen eine Reihe von Tagungen gegeben, deren Tagungsbände außer ein paar wenigen Monographien (von Juristen: Christensen 1989, Jeand’Heur 1989, Seibert 1996, Tiersma 1999; von Linguisten: Felder 2003, Rathert 2006) fast die Gesamtheit der seitdem erschienenen Forschungsliteratur zum Bereich „Sprache und Recht“ ausmachen (Müller 1989, Grewendorf 1992, Müller / Christensen / Sokolowski 1997, Sprache und Literatur 1998, Dietrich / Klein 2000, Veronesi 2000, Müller / Wimmer 2001, Lerch 2004, 2005, 2006, Müller 2007). Die wichtigsten Arbeiten zum Thema Juristische Semantik im enge-
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Vorwort zur zweiten Auflage
ren Sinne entstammen nach wie vor dem Umkreis der erwähnten Forschergruppe (siehe die Arbeiten von Christensen und Mitautoren, sowie Felder 2003 u. ö.). Lediglich der dänische Forscher Jan Engberg (einer der derzeit produktivsten Rechtslinguisten auf der Welt mit zahlreichen deutsch- und englischsprachigen Publikationen) legt auf die Behandlung juristisch-semantischer Fragestellungen ähnlich großen Wert wie diese Gruppe. Allerdings ist in allerjüngster Zeit ein erneutes (oder bei manchen Neuinteressierten: erstmaliges) Erwachen des Interesses am Thema „Semantik der Rechtsund Gesetzessprache“ feststellbar. Es zeichnet sich daher ab, dass in Zukunft der Bedarf an einer Einführung und Grundlagendiskussion, wie der vorliegenden, noch steigen könnte. Auch wenn der Wunsch nach einer Neuauflage vom Verlag und nicht vom Autor ausging, so kann doch auch dieser selbst es vor seinem Gewissen rechtfertigen, diesen Band unverändert in den Neudruck zu geben. So viel Material, dass dies im Aufbau des Buches ein zusätzliches eigenes Kapitel ergeben könnte, hat sich mit Bezug auf die im Vordergrund dieses Bandes stehenden sprachtheoretischen und rechtstheoretischen Grundlagenfragen (außer einigen neueren Arbeiten des Verfassers selbst) nämlich kaum angesammelt. Statt eines solchen Kapitels mögen daher ein paar Hinweise auf mögliche zukünftige Tendenzen der Forschung genügen. Abgesehen davon, dass es in der Zwischenzeit auch in der rechtstheoretischen Diskussion eine Zeitlang die Tendenz gab, theoretische und methodische Fragen der Juristischen Semantik mit Hinweis auf das Größere Ganze der postmodernen Theorien nach Art eines Jacques Derrida (Schlagwort: Dekonstruktivismus) wegzudiskutieren (eine Mode, die anscheinend schon längst wieder abgeflaut ist), sind es insbesondere die neuere kognitive (oder epistemologisch ausgerichtete) Semantik, aus der neue Forschungsperspektiven auch für die Juristische Semantik erwachsen könnten. Kurz gesagt geht es dabei (anknüpfend an die bereits zum Erscheinungszeitpunkt thematisierten, in der damals parallel erscheinenden Arbeit Busse 1992a näher ausgeführten und begründeten Überlegungen, siehe im vorliegenden Buch Kap 8.2, 277 ff.) darum, einen systematischen wissenschaftlichen Zugang zum Gesamtbereich des verstehensrelevanten Wissens zu einem Rechtsbegriff oder z. B. einem Gesetzesparagraphen zu gewinnen. Dies scheint, wie sich gerade in jüngerer Zeit als Erkenntnis einer zunehmend größer werdenden Zahl von Sprachwissenschaftlern allmählich durchzusetzen beginnt, insbesondere mit dem Modell der konzeptuellen oder Wissensrahmen (sog. frames) am besten zu gelingen. Da die Frame-Semantik (zuerst begründet durch Fillmore und Minsky) seit Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches entscheidende Erweiterungen und Verbesserungen erfahren hat (insbesondere angeregt durch Arbeiten von Barsalou 1992, 1993), scheint es jetzt möglich zu sein, eine neue und präzisere Theorie der Wissenshintergründe zu liefern, die für die Bedeutung eines Gesetzesbegriffs oder -Paragraphen notwendig von den Rechtsanwendern aktiviert werden müssen. Insbesondere
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deren innere Struktur kann mit einem Frame-Modell der Semantik präziser und systematischer erfasst werden als mit anderen (eher intuitiven oder hermeneutischen) Methoden. Dabei stellt gerade die Auslegung von Gesetzesbegriffen einen besonderen Glücksfall für eine frame-semantische Analyse dar, da über die Gerichtsurteile und Gesetzeskommentare zahlreiche Frame-Elemente explizit benannt sind, die ansonsten (bei Alltagstexten) erst mühsam durch linguistische Analyse festgestellt werden können. Da die drei bedeutendsten Begründer der Frame-Theorie, Fillmore, Minsky und Barsalou, jeweils unabhängig voneinander Rechtsbegriffe als ideale Beispiele für frame-semantische Analysen benannt haben (ohne dass dies bislang bei ihnen selbst oder ihren Anhängern Folgen hatte) würde die Entwicklung einer frame-semantisch reflektierten Theorie und Methode der juristischen Semantik vermutlich vielversprechend sein. Erste Ansätze dazu sind formuliert worden (Busse 2008a und 2008b), weitere Arbeiten in dieser Perspektive werden folgen. So gesehen hat eine Juristische Semantik, die diesen Namen überhaupt erst verdient (verstanden nicht nur als theoretisches Programm, sondern als empirische Praxis), ihre Zukunft möglicherweise allererst vor sich. Düsseldorf, im September 2010
Dietrich Busse
Im Vorwort erwähnte Literatur und neuere Arbeiten zum Bereich „Sprache und Recht“ mit Bezügen zur Juristischen Semantik Barsalou, Lawrence W. (1992): Frames, concepts, and conceptual fields. In: Lehrer Adrienne / Eva. F. Kittay (eds.): Frames Fields and Contrasts (Hillsdale, N.J.: Erlbaum). – (1992): Perceptual symbol systems. In: Behavioral and Brain Sciences (1999) 22, 577 – 660. Busse, Dietrich (1994a): Verständlichkeit von Gesetzestexten – ein Problem der Formulierungstechnik? Zu Möglichkeiten und Grenzen einer semantischen Optimierung der Rechtssprache. In: Gesetzgebung heute, Heft 2, 1994, S. 29 – 37. – (1994b): La comprensibilitat de les lleis: un problema juridic des del punt de vista lingüistic. In: Revista de Llengua i Dret (Barcelona), no. 22, 1994, S. 7 – 24. – (1998): Rechtssprache als Problem der Bedeutungsbeschreibung. Semantische Aspekte einer institutionellen Fachsprache. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 29, Heft 81, 1998, S. 24 – 47. – (1999): Die juristische Fachsprache als Institutionensprache (am Beispiel von Gesetzen und ihrer Auslegung). In: Lothar Hoffmann / Hartwig Kalverkämper / Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.): Fachsprachen – Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Band 2 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.2). Berlin / New York: de Gruyter, 1999, S. 1382 – 1391. – (2000a): Textsorten des Bereichs Rechtswesen und Justiz. In: Gerd Antos / Klaus Brinker / Wolfgang Heinemann / Sven F. Sager (Hrsg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Band 16.1). Berlin / New York: de Gruyter, 2000, 658 – 675. – (2000b): Textlinguistik und Rechtswissenschaft. In: Gerd Antos / Klaus Brinker / Wolfgang Heinemann / Sven F. Sager (Hrsg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbband (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Band 16.1). Berlin / New York: de Gruyter, 2000, 803 – 811. – (2001): Semantik der Praktiker: Sprache, Bedeutungsexplikation und Textauslegung in der Sicht von Richtern. In: Friedrich Müller / Rainer Wimmer (Hrsg.): Neue Studien zur Rechtslinguistik. Dem Gedenken an Bernd Jeand’Heur (= Schriften zur Rechtstheorie, Bd. 202). Berlin: Duncker & Humblot, 2001, 45 – 81. – (2002): Bedeutungsfeststellung, Interpretation, Arbeit mit Texten? Juristische Auslegungstätigkeit in linguistischer Sicht. In: Ulrike Haß-Zumkehr (Hrsg.): Sprache und Recht (= Institut für deutsche Sprache, Jahrbuch 2001). Berlin / New York: de Gruyter, 2002, 136 – 162
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Im Vorwort erwähnte Literatur
– (2004): Verstehen und Auslegung von Rechtstexten – institutionelle Bedingungen. In: Kent D. Lerch (Hrsg.): Die Sprache des Rechts. Band 1: Recht verstehen. Verständlichkeit, Missverständlichkeit und Unverständlichkeit von Recht. Berlin / New York: de Gruyter, 2004, 7 – 20. – (2005): Ist die Anwendung von Rechtstexten ein Fall von Kommunikation? Rechtslinguistische Überlegungen zur Institutionalität der Arbeit mit Texten im Recht. In: Kent D. Lerch (Hrsg.): Die Sprache des Rechts. Band 3: Recht vermitteln. Strukturen, Formen und Medien der Kommunikation im Recht. Berlin / New York: de Gruyter, 2005, 23 – 53. – (2007): Applikationen. Textbedeutung, Textverstehen, Textarbeit (am Beispiel der juristischen Textauslegung) In: Fritz Hermanns / Werner Holly (Hrsg.): Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens (Reihe Germanistische Linguistik 272). Tübingen: Niemeyer 2007, S. 101 – 126. – (2008a): Interpreting law: text understanding – text application – working with texts. In: Frances Olsen / Alexander Lorz / Dieter Stein (eds.): Law and Language: Theory and Society. Düsseldorf: Düsseldorf University Press, 2008, 239 – 266. – (2008b): Semantische Rahmenanalyse als Methode der Juristischen Semantik. Das verstehensrelevante Wissen als Gegenstand semantischer Analyse. In: Ralph Christensen / Bodo Pieroth (Hrsg.): Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht. Freundesgabe zum 70. Geburtstag von Friedrich Müller (Schriften zur Rechtstheorie 235). Berlin: Duncker & Humblot 2008, 35 – 55. – (2009): Vorletzte Gründe. Begriffs- und disziplinengeschichtliche Studien zum Diskurs des Rechts. Rezension: Friedrich Müller (Hrsg.): Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts. Berlin: Duncker & Humblot 2007. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Heft 1, 2009. Christensen, Ralph (1989): Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung. Berlin. Christensen, Ralph / Kudlich, Hans (2001): Theorie richterlichen Begründens. Berlin 2001. Christensen, Ralph / Sokolowski, Michael (2004): Juristisches Entscheiden unter der Vorgabe von Mehrsprachigkeit. In Müller / Burr (Hrsg.): Rechtssprache Europas. Berlin 2004, Seite 113 ff. – (2005): „Die Worte hör ich wohl . . .“ – Die Linguistik des juristischen Wortlautarguments. In: Busse u. a. (Hrsg.): Brisante Semantik. Tübingen 2005, 87 ff. Dietrich, Rainer / Klein, Wolfgang (Hrsg.) (2000): Sprache des Rechts. Themenheft der ,Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik‘, Jahrgang 30, Heft 118. Stuttgart: Metzler. Engberg, Jan (1997): Funktionen von Fachtextsorten. Tübingen. Engberg, Jan u. a. (Hrsg.) (2005): Vagueness in normative texts. Bern. Felder, Ekkehard (2003): Juristische Textarbeit im Spiegel der Öffentlichkeit. Berlin / New York. – (2005): Grenzen der Sprache im Spiegel von Gesetzestext und Rechtsprechung. In: Jörg Kilian (Hrsg.): Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat. Mannheim: Dudenverlag, S. 99 – 113.
Im Vorwort erwähnte Literatur
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– (2008): Das Konzept der juristischen Textarbeit. In: Eichhoff-Cyrus, Karin M. / Antos, Gerd (Hrsg.): Verständlichkeit als Bürgerrecht? Die Rechts- und Verwaltungssprache in der öffentlichen Diskussion. Mannheim: Dudenverlag, S. 96 – 116 („Thema Deutsch“ Bd. 9). Fillmore, Charles (2006): Frame Semantics. In: Brown, Keith (Hrsg.): Encyclopedia of Language and Linguistics. 2nd Edition. Amsterdam: Elsevier, S. 613 – 620. Fillmore, Charles J. (1971a): Verbs of judging: an exercise in semantic description. In: Charles J. Fillmore / D. T. Langendoen (eds.): Studies in Linguistic Semantics. New York: Holt, Rinehart and Winston 1971, 272 – 289. – (1977a): Scenes and Frames Semantics. In: A. Zampolli (ed.): Linguistic Structure Processing. Amsterdam, 55 – 81. – (1982): Frame Semantics. In: The Linguistic Society of Korea (ed.): Linguistics in the Morning Calm. Seoul: Hanshin Publishing Corp., 111 – 137. Grewendorf, Günter (Hrsg.) (1992): Rechtskultur als Sprachkultur. Zur forensischen Funktion der Sprachanalyse. Frankfurt / Main: Suhrkamp. Haß-Zumkehr, Ulrike (Hrsg.) (2002): Sprache und Recht (= Institut für deutsche Sprache, Jahrbuch 2001). Berlin / New York: de Gruyter. Jeand’Heur, Bernd (1989): Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit. Berlin. Kudlich, Hans / Christensen, Ralph (2004): Die Kanones des Auslegung als Hilfsmittel für die Entscheidung von Bedeutungskonflikten. In Juristische Arbeitsblätter 2004, S. 74 ff. Lerch, Kent D. (Hrsg.) (2004): Recht verstehen. Verständlichkeit, Missverständlichkeit und Unverständlichkeit von Recht. (= Die Sprache des Rechts, Band 1). Berlin / New York: de Gruyter. – (Hrsg.) (2005): Kommunikation im Recht (= Die Sprache des Rechts, Band 2). Berlin / New York: de Gruyter. – (Hrsg.) (2006): Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts (= Die Sprache des Rechts, Band 3). Berlin / New York: de Gruyter. Minsky, Marvin (1974): ‘A Framework for Representing Knowledge.’ In: Artificial lntelligence Memo No. 306 (M.I.T. Artificial Intelligence Laboratory) [Reprint in: Patrick H. Winston (ed.): The Psychology of Computer Vision (New York: McGraw-Hill, 1975, 211 – 277)]. Müller, Friedrich (Hrsg.) (1989): Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen Methodik. Berlin. – (Hrsg.) (2007): Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts. Berlin. Müller, Friedrich / Christensen, Ralph / Sokolowski, Michael (1997): Rechtstext und Textarbeit. Berlin. Müller, Friedrich / Wimmer, Rainer (Hrsg.) (2001): Neue Studien zur Rechtslinguistik. Berlin. Olsen, Frances / Stein, Dieter et al. (eds.) (2007): Language and Law / Law and Language. Düsseldorf: düsseldorf university press.
4
Im Vorwort erwähnte Literatur
Rathert, Monika (2006): Sprache und Recht. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Seibert, Thomas-M. (1996): Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts. Berlin. Somek, Alexander (1996): Der Gegenstand der Rechtslinguistik. Epitaph eines juristischen Problems. Baden-Baden 1996. Sprache und Recht. Sonderheft von: Sprache und Literatur, Jg. 29, H. 81, 1998. Tiersma, Peter M. (1999): Legal Language. Chicago / London: University of Chicago Press. Veronesi, Daniela (Hrsg.) (2000): Linguistica giuridica italiana e tedesca / Rechtslinguistik des Deutschen und Italienischen. Padova: Unipress 2000.
Inhalt Einleitung ........................................................................................................................................
7
Kapitell: Die Rolle der Sprache im Recht ................................................................................
18
1.1 Der Stellenwert der Sprach theorie in der juristischen Methodenlehre .....................
18
1.2 Berührungspunkte zwischen Jurisprudenz und Linguistik: Aufgaben und Themen einer möglichen "Rechtslinguistik" ..................................................................................
43
Kapitel 2: Die "klassische" Auslegungslehre und frühe Überlegungen zur Sprache ..........
54
2.1 "Recht und Sprache": Frühe Ansätze ..............................................................................
54
2.2 Die "Klassische Hermeneutik" und ihr Verhältnis zur Sprache ..................................
66
Kapitel 3: Die Wende zur "Neuen Hermeneutik" ........ .............................................................
76
Resümee (I) .....................................................................................................................................
99
Kapitel 4: Die sprachphilosophische Wende .............................................................................
101
4.1 Logische Semantik ..............................................................................................................
104
4.2 Analytische Rechtstheorie: Die erste Wittgenstein-Rezeption ...................................
135
Kapitel 5: Sprachtheoretische Ausfacherungen ........................................................................
140
5.1 Ein interdisziplinärer Versuch: Das Darmstädter Programm einer Textanalyse juristischer Sprache mit linguistiSChen Mitteln ..............................................................
140
5.2 Kommunikationstheorie, Semiotik und Anderes ..........................................................
162
5.3 Die Theorie der juristiSChen Argumentation .................................................................
172
Kapitel 6: Die Rezeption der Linguistischen Pragmatik .........................................................
189
6.1 Die zweite Rezeption Wittgensteins ................................................................................
190
6.2 Linguistische Pragmatik ....................................................................................................
201
6.3 Referenzsemantik ...............................................................................................................
211
Resümee (II) ...................................................................................................................................
225
Kapitel 7: Theorie der Praxis: Perspektiven einer juristischen Pragmatik aus linguistischer Sicht ...........................................................................................................
228
7.1 Gesetzesauslegung als Normkonkretisierung ................................................................
228
7.2 Normkonkretisierung als Praxis juristischer Textarbeit ...............................................
239
Resümee (111) ...................... ............................................................................................................
250
6
Inhalt
Kapitel 8: Ausgangslragen, Aufgaben und Grundbegrill'e der jurististhen Semantik .......
253
8.1 Ausgangsfragen und Aufgaben der juristischen Semantik ...........................................
253
8.2 Grundbegriffe einer anwendungsbezogenen Semantik (für juristische Zwecke) .....
26S
Kapitel 9: Gesetzesauslegung: Eine semantisthe Arbeit? .......................................................
282
Literaturverzeidmis .......................................................................................................................
301
Namenregister ................................................................................................................................
312
Sachregister .....................................................................................................................................
315
Einleitung Vor kurzem erreichte die "Gesellschaft für deutsche Sprache", deren Geschäftsstelle in Wiesbaden Sprachauskünfte aller Art gtbt, die Anfrage eines Rechtsanwaltes, der von den Sprachwissenschaftlern anhand eines konkreten Problemes Auskunft darüber begehrte, ob Gegenstand der Auslegung eines Gesetzes der "Begriff' oder das "Wort" sei. Ein studierter Jurist erwartete also Rat über eines der Kernprobleme der juristischen Tätigkeit, nämlich die Art und Weise der Gesetzesauslegung, nicht von der Theorie und Methodenlehre seiner eigenen Disziplin (deren Existenz ihm möglicherweise gar nicht bekannt war), sondern von einer sprachwissenschaftlich ausgewiesenen Stelle. Dieser Vorgang wirft ein Schlaglicht darauf, daß elementare Bedingungen der juristischen Arbeit, die mit der Sprachlichkeit des Rechts zusammenhängen, vielen juristischen Praktikern offenbar kaum geläufig sind. Zugleich offenbart die gestellte Frage, daß Rudimente klassischer (begriffsjuristischer) juristischer Methodenlehre offenbar insoweit in das Alltagsbewußtsein des Praktikers durchgesickert waren, daß er im Ernst einen als unsprachlich aufgefaßte "Begriff' als möglichen Auslegungsgegenstand der Gesetzesinterpretation vermuten konnte. Das Verhältnis von Begriff und Wort als eines der Kernprobleme nicht nur der juristischen Semantik verweist auf das enge Verhältnis, das zwischen Recht und Sprache besteht. Dieses Verhältnis ist nicht erst heute Gegenstand rechtstheoretischer Betrachtungen. Wenn der in der Nachkriegsjurispmdenz einflußreiche RechtswissenschaftIer Ernst Forsthoff in seinem berühmten Traktat "Recht und Sprache" eine "nicht nur zufällige, sondern ins Wesen treffende Verbindung des Rechts zur Sprache" feststellt, 1 dann greift er damit zwei seit Entstehen der modemen Rechtswissenschaft in Deutschland gängige Einschätzungen auf. Die eine formulierte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts F.K.von Savigny in seiner (in der Einteilung der Auslegungs-Kanones) bis heute nachwirkenden juristischen Methodenlehre: 2 "Die Jurisprudenz ist eine philologische 1 Forsthoff 1940, 1. (Die Zitierweise folgt den in der Sprachwissenschaft üblichen Gepflogenheiten: Name des Autors, Erscheinungsjahr des Buches oder Aufsatzes, zitierte Seite. Die vollständigen Angaben können dann dem entsprechend aufgeschlüsselten Literaturverzeichnis entnommen werden.) 2 Savigny 1802, 15.
8
Einleitung
Wissenschaft." Sie betrifft mehr die methodische Seite der Rechtswissenschaft und der richterlichen Gesetzesauslegung. Die andere betrifft den Gegenstand Recht selbst, von dem Weck zu Anfang dieses Jahrhunderts sagt: "In dem Urgrund der Sprache liegt also der Begriff des Rechts. Sprache ist Recht. w3 Rechtswissenschaftliche (Auslegungs-)Methodik stand also schon seit Entstehen des modemen Rechtssystems in großer Nähe zu den anderen philologischen Disziplinen: der theologischen Bibel-Exegese und der literaturwissenschaftlichen Interpretationslehre. Hat die theologische Interpretationslehre den anderen Disziplinen ihr Alter voraus, was sie zum natürlichen Vor- und Urbild sämtlicher Auslegungslehren machte, so ist die Rangnachfolge durchaus umstritten. Juristische Auslegungslehre und literarische Philologie haben sich im 19. Jahrhundert gemeinsam und in steter wechselseitiger Befruchtung entwickelt. Stand einerseits die Rechtswissenschaft, als Lehre von den Rechtsaltertümern, Pate bei Entstehung der Germanistik (wie die juristischen Forschungen der Gebrüder Grimm zeigen), so hatte andererseits die im 19. Jahrhundert neuentstandene geisteswissenschaftliche Philologie zu Anfang durchaus mehr im Blick als nur die Interpretation literarischer oder philosophischer Texte. Noch für Boeckh ist die Philologie "Nachconstruction der Constructionen des menschlichen Geistes in ihrer Gesammtheit".4 Jurisprudenz als Philologie aufzufassen lag nahe bei einer entstehenden hermeneutischen Theoriebildung, für welche der Charakter zu interpretierender Texte als Emanationen menschlicher Geistestätigkeit zunächst wichtiger war als deren Sprachlichkeit.s Die wurde zwar stets vorausgesetzt, jedoch nur selten zum Gegenstand eigener, sprachtheoretischer Bemühungen gemacht. Hatte die juristische Interpretationslehre in ihrer auf praktische Zwecke gerichteten anwendungsorientierten Methodik Vorbildfunktion für die literarische und philosophische Hermeneutik bis hinein noch in Gadamers Hermeneutik,6 so konnten umgekehrt die Juristen lange Zeit nicht auf einen ausdifferenzierten sprachtheoretischen Beitrag der Philologien bauen. Die Sprachwissenschaft hat bis heute das starke Bedürfnis nach Sprachtheorie in der Jurisprudenz verkannt, welches aus der engen Verflechtung des Rechts mit Sprache entsteht. Für Heck "braucht die Jurisprudenz eine besondere 'Juristenphilosophie', eine für ihre Zwecke geschaffene Philosophie der Sprache"? Juristische Methodenlehre, bei einigen sogar das Selbstverständnis der 3
Weck 1913, 7.
4 Boeckh 1886, 16.
S Diese Herangehensweise der philologischen Hermeneutik wirkt bis in unser Jahrhundert nach; so z.B. bei dem von Juristen auch jetzt noch oft zitierten Hermeneutiker Betti (1955, 613 u.ö.).
6 Im Begriff der "Applikation"; vgI. Gadamer 1960, 330 ff. 7 Heck 1932, 133 (zit. nach Qauss 1963,400).
Einleitung
9
Jurisprudenz als Wissenschaft, ist an die je spezifische Ausformung des Begriffs der Auslegung gebunden; und dieser ist abhängig davon, wie Sprache in ihrem Funktionieren von Juristen aufgefaßt wird. So kommt es nach Forsthoff für die Rechtswissenschaft und ihr methodisches Selbstverständnis entscheidend darauf an, "ersichtlich zu machen, wie eng die juridische Methode und das Sprachverständnis miteinander verbunden sind".8 Wenn in der vorliegenden Arbeit juristische Methodologie und Sprachtheorie in eine enge Beziehung gesetzt werden, so reagiert das auf die von Juristen vorgezeichnete Abhängigkeit des Rechts von Sprache. Es ist jedoch ein Blick von außen, den ein Sprachwissenschaftler auf den sprachtheoretischen Gehalt der juristischen Semantik und Interpretationstheorie mit dem Ziel wirft, zu einer stärkeren Vemetzung von juristischer und sprachwissenschaftlicher Semantik beizutragen. Schon Hume postulierte im 'Treatise on Human Nature' "eine Auffassung des Rechts als Sprachform".9 Die Nähe des Rechts zur Sprache liegt angesichts der sprachlichen Niederlegung rechtlicher Bestimmungen und Entscheidungen in Gesetzes-, Kommentar- und Urteilstexten auf der Hand. Charakterisierungen der Funktion der Sprache werden dann auf das Recht übertragen. So wird immer wieder die kommunikative Funktion des Rechts hervorgehoben. 10 Für Baden z.B. fungiert das "Gesetz als Kommunikationsmedium im Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Gesetzesanwender."ll Dies ist die Tatsache, daß das Recht der Sprache als eines Mediums bedarf, um seine verhaltensregulierende, vorschreibende, d.h. normative Funktion im Leben sozialer Gemeinschaften erfüllen zu können. Recht muß mitteilbar sein, um als allgemeingültige Regel fungieren zu können: "Damit ist die Sprache die erste und wesentliche Voraussetzung für das Gelten des Rechts: u In dieser Hinsicht kann Recht als das Gelten von Sprache, von in Sprache gefaßten rechtlichen Regeln und Normen aufgefaßt werden. Diese sprachlichen Norm-Formulierungen müssen, um von den Rechtsanwendern angewendet werden zu können, zuvor ausgelegt, interpretiert werden. Daher ist alles Recht zugleich Sprach-Auslegung, Verstehen von sprachlichen Äußerungen. So formuliert Larenz in seiner weitverbreiteten Methodenlehre: "Es geht in der Jurisprudenz weithin um das Verstehen von sprach8 Forsthoff 1940, 16. 9
So Vernengo 1965, 293.
10 Weck 1913, 7: "Gewiß kann man alles Recht auf Verständigung zurückführen." - Vernengo 1965, 295: "Als Sprache ist das Recht eine Kommunikationstechnik, die zur Überbrükkung von Divergenzen und zur Verständigung von Gegnern dient." - Horn 1966, 7: Sie [die Rechtswissenschaft] hat sich aus einer Urfunktion der sprachlichen Verständigung entwickelt."
11 Baden 1977, 264. U Kramm 1970,5.
10
Einleitung
lichen Äußerungen, des ihnen zukommenden normativen Sinnes."13 Doch nicht nur die in Schriftform vorliegenden gesetzlichen Normen sind Sprache und damit an deren Möglichkeiten gebunden, sondern auch die richterliche Aufbereitung eines zu entscheidenden Sachverhaltes bedarf der Formulierung, der Übersetzung alltäglicher Lebensereignisse in die ·Sprache des Gesetzes". Daher ist für die juristische Auslegungslehre, d.h. für die Lehre von den Methoden der Gesetzesanwendung, wichtig, "daß Gegenstand rechtlicher Überlegungen nie Sachverhalte sind, sondern sprachlich gefaßte Beschreibungen von Sachverhalten".14 Für die Gesetzesanwender (Richter, Rechtsanwälte) liegt also nicht nur die Rechtsnorm, sondern auch der zu entscheidende Fall stets als Text vor. Aufgabe der Richter ist es geradezu, z.B. die durch die unmittelbare Erfahrung und Betroffenheit (auch Emotionalität) angereicherten Zeugenaussagen in einen rechtlich verwertbaren Text umzuwandeln. (Daher rühren viele der Schwierigkeiten in der Kommunikation vor Gericht, etwa wenn der endgültige Text des Protokolls vom Richter in einer für den Aussagenden oft unverständlichen Sprache formuliert wird. Streitigkeiten über einzelne Formulierungen zwischen Aussagendem - bzw. dessen Anwalt - und Richter haben so stets rechtliche Bedeutung, da der Sachverhalt auf die Begrifflichkeit der im Gesetz fixierten Tatbestände gebracht werden muß.) Recht als Kommunikationsvorgang aufzufassen reflektiert nur die eine Facette des Verhältnisses von Recht und Sprache: die notwendig sprachliche Fassung von Rechtsnorm wie Sachverhaltsbeschreibung. Wenn Friedrich Müller schreibt: "Recht ist [...] notwendig an Sprache gebunden und damit an deren allgemeine Bedingungen",15 dann deutet er darin eine engere Beziehung zwischen Recht und Sprache an, als es die auch als äußerliches Verhältnis zwischen Recht und einer als Kommunikationsmedium aufgefaßten Sprache verstehbare Verbindung zunächst vermuten läßt. Es stellt sich die Frage, ob die "allgemeinen Bedingungen" der Sprache, an die das Recht gebunden ist, nicht in die Eigenart des Rechts selbst eingreifen (unabhängig von der Angewiesenheit von Recht und Gesetz auf die sprachliche Formulierung, d.h. über ihre pure Textualität hinaus). So fragte schon Forsthoff "was die besondere Verwiesenheit auf die Sprache für das Recht und die Rechtswissenschaft überhaupt bedeutet".16 Die seit der linguistischen Wende in den Geisteswissenschaften Anfang der siebziger Jahre zunehmende Beschäfti-
13 Larenz 1979, 181.
14 Podlech 1975, 171; vgl. auch BrinckmannjRieser 1971,153 und Rodingen 1977, 51. 15 Müller 1975, 9. Hatz 1963, 66 spricht von der "Wahrheit, daß das Recht nicht mit oder neben, sondern in der Sprache ist.·
16 Forsthoff 1940, 2.
Einleitung
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gung mit dem Verhältnis zwischen Recht und Sprache gründet sich nicht zuletzt auf die Vermutung, daß "zwischen Recht und Sprache eine enge Strukturverwandtschaft [besteht)".17 Eine Strukturanalogie wurde auch von linguistischer Seite vermutet, wenn der von Juristen zu Rate gezogene Sprachwissenschaftler Hartmann "Bindungen bzw. Vergleichbarkeiten zwischen den Regionen des Rechts und der Sprache, wie gruppensrazifische Normativität, [...) Rolle von Interpretation und Bedeutung u.a.m." 8 zu erkennen glaubte. Mit Normativität, Bedeutung und Interpretation benennt Hartmann jene drei Begriffe, welche bis heute das Zentrum der juristischen Überlegungen zum Verhältnis von Recht und Sprache bilden und die rechtslinguistische Diskussion beherrschen. Wenn Normativität als Vergleichsmaßstab zwischen Recht und Sprache genommen wird, dann ist damit zunächst nicht mehr als eben jene "Strukturverwandtschaft" gemeint: Recht wirkt in Form von Rechtsregeln bzw. Normen; Sprache beruht ebenfalls auf Regeln, man redet von Sprachnormen. Die Vergleichbarkeit liegt im GeltunSJaspekt von Regeln. "In dieser Regelgeltung haben Sprache und Recht etwas Gemeinsames: So wie Recht gilt, so bedeutet ein sprachlicher Ausdruck etwas gemäß seiner Gebrauchsregel. "19
Die Behauptung einer Strukturverwandtschaft zwischen Recht und Sprache bleibt aber den beiden Gegenstandsbereichen oft nur äußerlich. Dahinter steht dann etwa nur die Idee, Methoden der Sprachwissenschaft (etwa den Strukturalismus) auf das Gebiet des Rechts zu übertragen. Diese Haltung entspricht der juristischen Gewohnheit, andere Wissenschaften als Hilfsmittel bei der eigentlichen juristischen Tätigkeit zu benutzen (wie es etwa in der Gutachtertätigkeit der forensischen Medizin und Psychiatrie geschieht). Die juristische Literatur zum Zusammenhang von Sprache und Recht ist durchdrungen von dieser instrumentalistischen Haltung, die sprachtheoretische Erkenntnisse nur selten an den Kern des juristischen Selbstverständnisses heranläßt. Deshalb liegt es nahe, daß der rechtsphilosophische Fragen berührende Aspekt der Normativität in der juristischen Diskussion sprachwissenschaftlicher Theorien zurücktritt gegenüber der Beschäftigung mit den eher die praktische juristische Tätigkeit betreffenden Aspekten der Bedeutung und Interpretation juristischer Normtexte. Die rechtstheoretischen Implikationen auch dieser Konzepte wurden oft nicht gesehen, auch wenn die Begriffsbildungen unterschiedlicher sprachwissenschaftlicher Theorien hierzu als Hilfstruppen in die Bataille juristischen Methodenstreits geführt wurden. Das Problem der juristischen Semantik 17 Lampe 1970, 17; vgl. auch Großfeld 1984, 1. 18 Hartmann 1970,47. 19 Wank 1985, 12.
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- oder besser: der Semantik juristischer Begriffe und Texte - ist mehr als nur ein technisch zu lösendes Auslegungsproblem; es betrifft das schwierige, mit sprach- und erkenntnistheoretischen ebenso wie mit rechtstheoretischen Grundüberzeugungen verflochtene Problem des Zusammenhangs von Sprache und in ihr ausgedrückter Wirklichkeit: "Die Rechtsbegriffe und Rechtsvorstellungen haben in der realen Welt kein Gegenstück, lassen sich ohne Sprache zumeist nicht darstellen. Sie existieren durch Sprache und in Sprache..20 Juristische Semantik darf das Verhältnis der Sprache zur Welt nicht außer Acht lassen, wenn sie im juristischen Methodendiskurs eine hilfreiche Funktion haben soll. Juristische Tätigkeit hat die Herstellung einer Beziehung zwischen (sprachlich gefaßter) Rechtsnorm und (außersprachlichem, d.h. zunächst auch außerrechtlichem) Sachverhalt zur Grundlage. Rechtsanwendung besteht in der Anwendung von Texten auf Wirklichkeitsausschnitte. Insofern enthält jede Rechtsanwendung ein Stück Semantik, indem Sachverhalte, von denen ausgesagt wird, daß sie unter eine bestimmte Norm fallen, zugleich als semantische Spezifikationen des Bedeutungsbereichs der Norm fungieren können. So gesehen ist Rechtsprechung (sie!) nur ein Spezialfall von Sprachverwendung?1 Rechtslinguistische Forschung auch von sprachwissenschaftlicher Seite aus ist, bis auf wenige Ausnahmen, bisher Desiderat geblieben. "Recht und Sprache" ist zwar schon ein recht altes Thema ~B. zahlreiche Veröffentlichungen vor und nach Verabschiedung des BGB ), doch bewegte sich seine Abhandlung lange nur im Bereich der Kritik der Rechtssprache, etwa an Fremdwortgebrauch, unverständlichen Wort-Neuschöpfungen oder -Wiederbelebungen und kompliziertem Satzbau. Nach Ausbreit~ der Fachsprachen-Diskussion wurden solche Aspekte ab den 60er Jahren wieder aufge-
20 Großfeld 1984, 3 - VgI.auch Hegenbarth 1982, 12: "Der Jurist kommt aus dem Zirkel von Sprache und Wirklichkeit nicht heraus". 21 Vgl. Haft 1978, 15: "Sie [die juristische Rhetorik, D.B.] unterscheidet sich von ihr [der traditionellen juristischen Methodenlehre, D.B.] aber dadurch, daß sie den Prozeß der Herstellung einer Entsprechung von Norm und Sachverhalt als einen rhetorischen Vorgang begreift, bei dem nichts anderes als eine methodenbcwußte Sprachverwendung stattfindet. Dieser prozeß unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderen Fällen der Sprachverwendung." Ob diese Analogie von Recht zu (normaler). Sprachverwendung tatsächlich hergestellt werden kann, müßte einer näheren empirischen Uberpriifung unterzogen werden. Einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage, nämlich ob Rechtsprechung, juristische Entscheidung und Gesetzcsanwendung, tatsächlich als ein in erster linie sprachlicher bzw. interpretativer Vorgang gesehen werden kann, soll meine Arbeit "Recht als Text" (Busse 1992) leisten. 22 Vgl. statt anderer: Günther 1988; Weck 1913; 5.a. Dölle 1949 und Neumann-Duesberg 1949. 23 Vgl. Müller-Tochtermann 1959; Oksaar 1967 und 1979. Diese Diskussion hält (in sporadischen Wellen) bis heute an. Vgl. Spcchtler 1980; Gerhardt 1981; Fotheringham 1981a und 1981b; Raible 1981; Radtke 1981; Otto 1981; Daum 1981; Dobnig-Jülch 1982.
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nommen. Die 70er Jahre brachten eine Verflechtung von Rechtskritik als Sprachkritik mit den Reformbestrebungen in Richtung auf eine ''bÜTgerfreundlichere Justiz".24 Erstmals auch in die Kernbereiche eigentlich juristischer Tätigkeit drang die (fast ausschließlich von Juristen betriebene) Diskussion um Möglichkeiten zur "Präzision der Rechtssprache" ein, etwa wenn es um die Formalisierung juristischer Argumentationstechnik ging, welche Ziel einer ab den siebziger Jahren tätigen interdisziplinären Darmstädter Arbeitsgruppe war.25 Die mit diesen Forschungsansätzen verknüpften Erwartungen konnten jedoch nicht im erwünschten Umfang erfüllt werden. Das Interesse an einer Zusammenarbeit von Juristen und Linguisten ging danach stark zurück. Ohnehin war das Interesse am Thema "Sprache und Recht" von jeher bei Sprachwissenschaftlern weitaus geringer ausgeprägt als auf juristischer Seite (von Ausnahmen - v.a. gesprächsanalytischer Art - abgesehen26). Dieser Umstand ist angesichts des bis in die siebziger Jahre hinein vorwiegend philologischen Charakters der deutschen Sprachwissenschaft einigermaßen erstaunlich, wenn man sich daran erinnert, daß der "Urvater" der Juristischen Methodenlehre von Savigny die Jurisprudenz schon Anfang vorigen Jahrhunderts als "Philologie" bezeichnete. Auf juristischer Seite war das Bewußtsein der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung von Rechtswissenschaft und Sprachwissenschaft (vor allem der Semantik) schon lange vorhanden27 und wird in letzter Zeit zunehmend betont.28 Sprachtheorie für Juristen ist deshalb, so deute ich die Aufforderungen zur Zusammenarbeit, die von Juristen immer wieder an die Sprachwissenschaft gerichtet werden, kein Aufsetzen fremder Erklärungsmodelle auf immer neue Anwendungsgebiete, sondern ist ein Bedürfnis, welches aus der tiefen Bindung des Rechts an Sprache, aus dem sprachlichen Charakter des Rechts selbst, von Rechts-
24 vgl. v.a. Wassermann 1979, 1981a, 1981b u.ö.; Grosse 1983 im Rahmen einer nordrheinwestfälischen "Kommission zur Gesetzes- und Verwaltungsvereinfachung"; Joisten 1985 im Rahmen der Sprachberatung bei der Gesetzeserstellung durch die "Gesellschaft für deutsche Sprache" (Wiesbaden); Stickel 1984 u.v.a.m. 25 Podlech 1971, 1m, 1975,1976; Rave/Brinckmann/Grimmer 1m; Brinckmann/petöfi/ Rieser 1974; Brinckmann/Rieser 1974; Hartmann 1974; Petöfi 1974; Petöfi/podlech/v.Savigny 1975. 26 Oksaar 1967, 1979; Hartmann 1970; Dobnig-Jülch 1982; Grosse 1983; und, für die Spezialfrage der Kommunikation vor Gericht, Hoffmann 1980; zur sog. "forensischen Linguistik" vgI. Kniffka 1990. Einen guten Überblick über die relevante Literatur gibt die kommentierte Bibliographie von Reitemeier 1985; vgI. auch Bülow/Schneider 1981. 27 Vgl. Williams 1945, 73: "Semantics touches 1aw and jurisprudence at many points." Oauss 1963, 400, mit Bezug auf das oben (Anm. 7) wiedergegebene Zitat von Heck: "Die Semantik ist diejenige Sprach theorie, die Heck zwar nicht geschaffen, wohl aber geahnt und vorbereitet hat."
28 Garstka 1979, 101: "Die vorgelegten Andeutungen zeigen meines Erachtens, daß die Linguistik für den reflektierten Juristen in Zukunft große Bedeutung haben wird."
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setzung, Rechtsauslegung und Rechtsprechung, entspringt: "Und eben wegen dieser als existentiell erkannten Bindung des Rechts an die Sprache muß die Rechtswissenschaft auch die Sprache zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen, denn wenn es ihr nicht gelingt, die Gegebenheiten der Sprache zu erkennen und zu berücksichtigen, vermag sie auch ihren speziellen Erkenntnisgegenstand, das Recht in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, nicht in einer Art zu bewältigen, die die Bezeichnung Wissenschaft verdienen würde. n29 Die Erwartungen an die Leistung der Sprachtheorie für die Rechtswissenschaft gehen teilweise so weit, daß etwa von Kaufmann eine "Rechtstheorie als Sprachtheorie des Rechts,.30 gefordert wird. Die Erwartungen an die linguistik sind demnach hoch; und zwar sowohl, was den Beitrag der Linguistik zur Klärung juristischer Methodenprobleme angeht, als auch (durchaus selbstbewußt) hinsichtlich dessen, was Sprachwissenschaftler etwa von der Jurisprudenz lernen könnten.31 Die Einschätzung der interdisziplinären Forschungslage ist dabei durchaus unterschiedlich. Stellt z.B. Heinz fest, daß "die stete Entwicklung der Linguistik [...] Anlaß genug [ist], eine engere Kooperation zwischen diesen Wissenschaften und der Rechtswissenschaft im Hinblick auf das Problem der Sprache im Rechtsbereich zu fordem",32 so fordert Podlech noch vier Jahre später, daß man sich klarmachen müsse, "daß es weder der Stand der Rechtstheorie noch der Stand der Linguistik gestatten, die Lösung aller derzeit angebbarer rechtswissenschaftlich relevanter Sprachprobleme von der Linguistik zu erwarten".33 Auch die Einschätzung der Rolle, welche sprachwissenschaftliche Gesichtspunkte in der eigenen Disziplin spielen, ist durchaus unterschiedlich. Während einerseits eine seit Anfang der siebziger Jahre zunehmende Frequenz von Veröffentlichungen das Interesse der Juristen an der Sprache beweist, wird andererseits immer wieder die geringe Resonanz dieser Annäherungsbemühungen innerhalb der Jurisprudenz beklagt.34 Diese Klage verwundert angesichts der Tatsache, daß 29
Kramm 1970, 6.
30 Kaufmann 1984, 102. 31 Vgl. dazu Larenz 1979,475: "In sie [die juristische Methodendiskussion, D.B.] spielen allgemeine wissenschaftstheoretische und sprachphilosophische Erwägungen hinein. Grundsätzlich ist zu bedauern, daß sich zwar Rechtstheoretiker zunehmend mit jenen anderen Wissenschaften befassen, deren Vertreter aber bisher kaum Notiz von dem Material nehmen, das ihnen die juristischen Denk- und Argumentationsweisen zu liefern vermögen."
32 Heinz 1972, 29. 33
Podlech 1976, 108.
34 So z.B. Koch 1975, 28: "Die Semantik wird in der juristischen Methodendiskussion weitgehend ignoriert." und Wassermann 1979, 117: "Die linguistische Ebene wird [...] zweifellos unterschätzt, wenn sie nicht überhaupt unerkannt bleibt."
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Überlegungen zum Verhältnis von Recht und Sprache (zum Beitrag, den Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie zur Lösung innerjuristischer Probleme leisten können) mit ihrer Konzentration auf das Problemfeld der juristischen Methodenlehre in einen der Kernbereiche der juristischen Tätigkeit und damit des juristischen Selbstverständnisses eingedrungen sind. Die geringe Resonanz dieser, ausschließlich von Rechtswissenschaftlern ausgehenden, Bemühungen in der praktischen Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung mag allerdings aus dem Schicksal jeglicher theoretischer Ansätze herrühren, von den Praktikern der eigenen Disziplin in ihrer Relevanz verkannt und darum (nur darum?) ignoriert zu werden. Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, aus der spezifischen Sicht der gegenwärtigen Sprachwissenschaft eine Bestandsaufnahme, Analyse und Kritik der juristischen Sprachauffassungen und Interpretationstheorien vorzunehmen, wie sie in der juristischen Methodenlehre diskutiert werden. Dabei geht es sowohl um die Kritik fehlgehender Adaptationen von linguistischen oder philosophischen Sprachtheorien, Begriffen und Erklärungsmodellen (vor allem im Bereich der Semantik), es geht aber auch um eine Kritik an den sprachwissenschaftlichen und -philosophischen Positionen selbst, die von Juristen adaptiert werden, insofern sie selbst die Ursache irreführender Sprachauffassungen sind. Den beeindruckenden Versuchen von Juristen, sprach- und interpretationstheoretische Elemente ihrer Methode der Textbearbeitung aus eigener Kraft unter Rezeption gängiger Sprachtheorien zu klären, soll mit dieser Kritik eine Unterstützung von linguistischer Seite erwachsen, auf die die Juristen bislang wegen des Desinteresses der Linguisten an Fragen der Sprachlichkeit des Rechts meist verzichten mußten. Nach einer vor allem auch für die nicht-juristischen Leser wichtigen Einführung in das juristische Denken und die klassischen Topoi der juristischen Auslegungslehre (Kap. 1), werden verschiedene neuere Schulen der juristischen Methodenlehre, insofern sie Sprache und Sprachliches explizit zum Thema machen, auf ihre sprachtheoretischen Grundlagen hin diskutiert. Dies reicht von der klassischen juristischen Hermeneutik (Kap. 2) über die Adaptation der "Neuen Hermeneutik" Gadamers (Kap. 3), über die Wende zur Sprachphilosophie - zunächst vor allem zur Logischen Semantik - (Kap. 4) und einem singulären Versuch interdisziplinärer rechtslinguistischer Forschung zu Anfang der siebziger Jahre (Kap. 5) bis zur Rezeption neuester linguistischer Theorien in der Nachfolge Wittgensteins (Kap. 6) durch die juristische Methodenlehre und zu eigenständigen Ansätzen innerhalb der Rechtswissenschaft, die juristische Tätigkeit der Normkonkretisierung als spezifische Form von (nicht nur) sprachlicher Praxis zu charakterisieren, die möglicherweise den hergebrachten Begriff der "Textinterpretation" übersteigt (Kap. 7).
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Am Ende der Arbeit steht zunächst eine Zusammenfassung derjenigen sprachtheoretisch relevanten Begriffe, Aspekte und Problemkomplexe der juristischen Textarbeit, welche sich in den verschiedensten Formen juristischer Sprach- und Interpretationstheorie als die rechtssemantischen Kernfragen herausgestellt haben (Kap. 8.1), sowie der Versuch, wenigstens in Ansätzen eine erste linguistische Antwort auf die semantischen und interpretationstheoretischen Hauptfragen der juristischen Methodenlehre zu geben (Kap. 8.2). Dabei greife ich auf zwei Arbeiten zurück, die mit dem vorliegenden Buch insofern in einem engen und organischen Zusammenhang stehen, als sie ursprünglich drei Schritte der Abarbeitung eines umfassenden rechtslinguistischen Arbeitsvorhabens darstellte. Die eine Arbeit3S geht ausführlich auf die semantischen Grundfragen einer sprachwissenschaftlichen Theorie der Textinterpretation ein und ist die ausführliche linguistische Antwort auf die im vorliegenden Buch entwickelten GrundfrllB..en der juristischen Semantik und Interpretationslehre. Die andere Arbeit'" untersucht mit spezifisch sprachwissenschaftlichen Mitteln, ob juristische Gesetzesauslegung tatsächlich in ihrer alltäglichen Praxis so sehr Semantik ist, wie dies in den meisten neueren juristischen Methodenlehren behauptet wird. Anband einer Analyse juristischer Textarbeit (einmal mit dem Schwerpunkt auf der Gesetzesauslegung und einmal mit dem Schwerpunkt auf der Fallentscheidung) wird der Anteil und die Eigenart semantischer Argumente im juristischen Alltagsgeschäft ausgemessen sowie der sprachliche Charakter der juristischen Arbeit unter einer linguistischen (v.a. textlinguistischen) Perspektive betrachtet, welche nicht nur die semantischen Elemente, sondern die Sprachlichkeit dieser spezifischen Form von Spracharbeit schlechthin erhellen soll. Dabei kommt auch die Eigenart der Institutionalität juristischer Textarbeit zur Geltung. Beide Arbeiten sind denjenigen Leserinnen und Lesern, welche einen tieferen Einstieg in rechtslinguistische und -semantische Fragen nehmen wollen, zur Lektüre empfohlen. Das abschließenden Kapitel (Kap. 9) des vorliegenden Buches kann für die dort angestellten umfangreichen Betrachtungen und Untersuchungen nur eine äußerst knappe Zusammenfassung sein.
Eine interdisziplinäre Arbeit (wie das vorliegende Buch und die konkrete Analyse der juristischen Textarbeit in Busse 1992) stellt insofern ein schwieriges Unterfangen dar, da sie die umfassende Einarbeitung in ein neues und in den Denk- und Arbeitsstrukturen zunächst sehr fremdes Fach erfordert, um überhaupt erst die zentralen Probleme erkennen zu können, zu deren Analyse und Bearbeitung man als Vertreter einer fremden Disziplin einen 3S Dietrich Busse: Textinterpretation. Sprach theoretische Grundlagen einer explikativen Semantik. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991. 36 Dietrich Busse: Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1992.
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Beitrag leisten könnte. Es ist deshalb vielleicht kein Zufall, daß Linguisten bisher so selten auf den von juristischer Seite aus geäußerten Wunsch nach interdisziplinärer Forschung auf dem Gebiet der Rechtslinguistik bzw. -semantik reagiert haben. Diese Einarbeitung ist nur möglich in intensiver fachübergreifender Zusammenarbeit von Linguisten und Juristen; deshalb ist die vorliegende Untersuchung auch nicht denkbar gewesen ohne den interdisziplinären Forschungs- und Diskussionszusammenhang, aus dem heraus sie entstanden ist. Erst die langjährige Zusammenarbeit von Juristen und Sprachwissenschaftlern in der Heidelberger Arbeitsgruppe Rechtslinguistik hat mir das Wissensfundament verschafft, das die vorliegenden Untersuchungen möglich gemacht hat.37 Den Mitgliedern dieser Forschergruppe gilt deshalb mein Dank für ihre Hilfe bei der Einarbeitung in juristisches Denken und beim Verstehen dessen, was den Kern der juristischen Arbeitsweise und des Funktionierens der Institution "Recht" ausmacht: es sind dies - neben den linguistischen Mitgliedern Rainer Wimmer (der einer der Initiatoren der Arbeitsgruppe gewesen ist und ohne dessen Anregungen die vorliegende Arbeit wohl kaum entstanden wäre) und Michael Sokolowski - die Juristen Friedrich Müller, Ralph Christensen und Bernd Jeand'Heur; neben ihrer Unterstützung und Kritik konnte ich von dem fachlichen Rat profitieren, den mir die Juristen Michael Kromer (in der Anfangsphase der Arbeit) und Elisabeth Saenz gewährt haben. Diesen sei hier ebenso gedankt wie Rudolf Hoberg (Linguistik) und Adalbert Podlech (Rechtswissenschaft); sie alle haben mir wichtige Ratschläge für die Druckfassung gegeben, die ich vielleicht (wegen des Umfanges der durch sie angeregten Erweiterungen) nicht alle berücksichtigen konnte, die mir aber dennoch geholfen haben, manches Detailproblem besser zu verstehen.
37 Aus der Arbeit dieser Forschergruppe sind neben der vorliegenden Arbeit und meinen Untersuchungen "Recht als Text" (Busse 1992) und "Textinterpretation" (Busse 1991a) sowie den Aufsätzen Busse 1988a, 1988b, 1988c, 1989, 1991b und 1991c, die juristischen Monographien von Ralph Christensen "Was heißt Gesetzesbindung?" (1989) und Bemd Jeand'Heur "Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit" (1989) hervorgegangen, sowie der von Friedrich Müller herausgegebene Sammelband "Untersuchungen zur Rechtslinguistik" (1989) mit Aufsätzen aller hier genannten Autoren einschließlich Rainer Wimmers und der Dokumentation eines Abschlußgesprächs der Arbeitsgruppe einschließlich Michael Sokolowskis.
2 Busse
Kapitell
Die Rolle der Sprache im Recht 1.1 Der Stellenwert der Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre Seit Anfang der siebziger Jahre gibt es eine nicht mehr nachlassende Diskussion über die Rolle sprachtheoretischer (v.a. semantischer) Konzepte im Rahmen der juristischen Auslegungslehre, welche sich in einer Reihe von gründlich erarbeiteten Monographien und Dutzenden von Aufsätzen niedergeschlagen hat. Allerdings begreift sich diese Diskussion oft nicht in erster Linie als "linguistisch" sondern läuft häufig unter den Überschriften Hermeneutik, Logik oder Sprachphüosophie, wobei zudem Hermeneutik und Logik meist als Erkenntnisbereiche aufgefaßt werden, die mit "Sprache" im sprachwissenschaftlichen Sinne kaum etwas zu tun haben. Anleihen werden in diesem Diskussionsfeld also seltener bei Linguisten direkt gemacht als vielmehr bei den verschiedenen Spielarten spracbphilosophischer Sprachtheorien oder philologischer Hermeneutik. Allerdings handelt es sich dabei fast durchgängig um Sprachtheorien, welche auch in der Linguistik rezipiert wurden und dort große Wirkungsmacht entfalteten. Dies gilt B. für die Logische Semantik Camap'scher Spielart, welche HJ.Koch1 für die juristische Methodik nutzbar zu machen versucht; für die Linguistische Pragmatik, welche von R.Hegenbarth2 ins Feld geführt wird; und für L.WiUgensteins Sprachauffassung, welche P.Schiffauer3 zu Rate zieht. Unterschiedliche Be1 Koch 1975, 1m; Koch/Rüßmann 1982; Herberger/Koch 1978; vgI. auch Rüßmann 1978; Zimmermann 1977; Herberger/Simon 1980. 2 Hegenbarth 1982. Vgl. auch Haft 1977a, 117: "Die Linguistik. des sprachlichen HandeIns könnte sich als ein sehr nützliches Instrument der juristischen Methode erweisen." Auf die linguistische Pragmatik beruft sich auch Baden 1m, 180 ff. 3 Schiffauer 1982. Vgl. zu Koch, Hegenbarth und Schiffauer die Darstellung und Kritik in Busse 1989 und zu Schiffauer auch in Busse 1988a. Die Rolle des Wittgensteinschen Regelbegriffs für die juristische Methodenlehre wird in Busse 1988b beleuchtet. - Wittgenstein hat über die Vermittlung des sprachanalytischen Philosophen H.L.A.Hart (1961) eine große Rolle in der Norm-Diskussion gespielt, so daß er in der Rechtstheorie fast so etwas wie eine ZitierAutorität geworden ist, die zwar jeder nennt, aber kaum einer kennt (in diesem Tenor auch Roellecke 1970, 323). In dieser Diskussion spielen allerdings sprachwissenschaftliche Argumente im engeren Sinne keine Rolle, so daß ich auf die Hart-Rezeption (die zudem gut aufgearbeitet ist) in dieser Arbeit nicht eingehen werde.
1.1 Der Stellenwert der Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre
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deutungsauffassungen sollen in der juristischen Methodenlehre (auch - aus wechselnden Perspektiven - als Methodik, Auslegungslehre, Begründungslehre bezeichnet) Beistand leisten in rechtstheoretischen Grundlagenstreitigkeiten. Es besteht nämlich unter Juristen (zumindest aber unter Rechtswissenschaftlern und dort unter den Rechtstheoretikern und Methodikern) alles andere als Einigkeit darüber, worin der Kern bzw. die Eigenart der juristischen Tätigkeit eigentlich besteht. Linguistische und philosophische Sprachund Interpretationstheorien, die in einer für den Nichtjuristen (aber Sprachwissenschaftler) zunächst verblüffenden Beliebigkeit herbeizitiert werden,4 werden als Hilfstruppen in einem Kampf der Schulen und Richtungen eingesetzt, dessen champ de bataille ich im folgenden umreißen will, um den Stellenwert deutlich zu machen, der der Sprachtheorie in der Jurisprudenz zugemessen wird. Anders als im stark an Präzedenzen orientierten angelsächsischen Recht ist die Rechtsfindung im kontinentalen Rechtssystem an vom Gesel7geber verbindlich gesetzte Normen in Gesetzestexten gebunden. Verfassung und Gesetze legen (so die Rechtsfiktion des Bonner Grundgesetzes) das Recht durch schriftlich niedergelegte Normen fest. Rechtliche Tätigkeit ist daher zunächst einmal zu einem großen Teil Auslegung von Gesetzestexten und ihre Anwendung auf zu entscheidende Fälle. Wenngleich dieses Verfahren der Rechtsprechung als Auslegung von Rechtstexten älter ist als unser demokratisches Staatswesen,s so ist es doch vom Verfassungsgeber gewollt und aus Gründen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit mit Verfassungsrang aufgenommen und näher bestimmt worden. So setzt Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes fest: "Die Geset7gebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.,,(j Mit der starken Orientierung auf positive, d.h. gesetzte Normen ist in der Geschichte der juristischen Methodik der Rechtspositivismus als vorherrschende Methode' begründet worden, d.h. eine Rechtstheorie, die die juristische Tätigkeit einzig und allein in der Anwendung von aus dem Gesetzestext direkt entnommenen Fallregulierungen sieht. Der Rechtspositivismus "sieht die Positivität des Rechts in der Tatsache seiner Setzung und zwangsgestützten Garantie durch eine staatliche Machtinstanz. Recht ist identisch mit den korrekt zustande gekommenen staatlichen 4 Horn 1966, 23: "Da die Richter seit langer Zeit hauptsäChlich auf die schriftlich fixierten Sätze des Gesetzes angewiesen sind, haben sie seit jeher jede ihnen möglich erscheinende Theorie der Sprache den Auslegungslehren einverleibt." 5 Vgl. Savigny 1802, 17.
6 Vgl. auch Art. 97 Abs. 1 GG: "Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unter-
worfen." , So Müller 1986a, 1.
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1. Die Rolle der Sprache im Recht
Gesetzen."s Dahinter steht der Gedanke, rechtliche Regelungen könnten durch ihre schriftliche Fixierung in Gesetzestexten das gesprochene Recht antizipatorisch und eindeutig festlegen. Begründet wird dies mit der Fiktion vom ''Willen des Gesetzgebers", der auf alle rechtlichen Entscheidungen durchschlagen müsse. Wenngleich diese Idee auch heute noch in vielen Formulierungen aufscheint, wird sie doch als eine "rechtswissenschaftsgeschichtlich überholte Metapher" angesehen.9 Die Vorstellung vom "Willen des Gesetzgebers", den der Richter zu erkennen und ohne Abstriche und Veränderungen auszuführen habe, ging in der neuzeitlichen Rechtsphilosophie einher mit der Metapher vom Richter als "bouche de Ja loi" (Mund des Gesetzes). Diese Formulierung geht auf Montesquieu zurück, der in seinem für die neuzeitliche Rechts- und Staatstheorie überaus einflußreichen Buch "Oe l'Esprit des Lois" schrieb, die Richter sollten nichts anderes sein als "la bouche qui prononce les paroIes de la lo~ des etres inanimes, qui n'en peuvent moderer ni la force ni la rigueur".lO Gesetzesanwendung bestünde dann in der durch keinen menschlichen Willen, keine Interpretation beeinflußten Anwendung eines direkt aus dem Gesetzestext zu entnehmenden abgeschlossenen Rechtsbefehls. 11 Diese Rechtstheorie impliziert notwendig, daß der Sinn oder die Bedeutung der Gesetzesformulierungen ebenfalls als abgeschlossen und eindeutig aufgefaßt wird; d.h. aus der Eigenart der Grundthesen des Rechtspositivismus folgt eine bestimmte Sprachauffassung. Nicht das Erkennen der Funktionsweise von Sprache und das Ziehen von Schlußfolgerungen daraus für die juristische Methodenlehre steht dann im Mittelpunkt der juristischen Sprachtheorie, sondern ihre Verwendbarkeit für das schon vorausgesetzte Rechtsmodell. 12 8 Müller 1986a, 1. 9 Müller 1990, 160. Schon Hatz 1963, 69 zieht den Schluß, "daß Positivismus und Naturrecht 'schon rein aus der sprachlichen Sphäre betrachtet' sich als undurchführbar erweisen [...], weil sie den Anspruch andauernder und unveränderlicher Geltung einmal gewonnener Sätze erheben". 10 Montesquieu: De I'Esprit des Lois, 11. Buch, 6. Kap. Zit. nach Jesch 1957, 169. 11 Christensen 1987, 76: "Das Bild vom Richter als Mund des Gesetzes setzt dabei voraus, daß der tragende Leitsatz einer konkreten Entscheidung direkt aus dem Text des Gesetzes entnommen werden kann. Allein auf der Grundlage des Gesetzestextes soll der Richter seine Entscheidung treffen können. Das Gesetz ist damit im Sinne des klassischen Positivismus als ein anwendungsbereiter und abgeschlossener Befehl verstanden, höchstens aber als Summe anwendungsbereiter Regeln, die eine Subsumtion unter die Begriffe des Gesetzes ohne weiteres gestatten." - Schon Savigny (1802,14) formulierte: "Das Gesetz [...] sollte also seinem ursprünglichen Zweck nach völlig objektiv sein, d.h. so vollständig, daß der, der es anwendet, nichts von sich selbst hinzuzutun braucht." 12 Vgl. Hruschka 1m, 18: "Ein folgerichtiger Rechtspositivismus muß das 'Rechtliche' nicht nur als vollständig, sondern auch als selbständig durch das 'positive Recht' bestimmt sehen, wenn das 'Naturrecht' wirklich völlig eliminiert werden soll, und daraus ergibt sich der hermeneutische Grundgedanke, der in allem Rechtspositivismus notwendig mitenthalten ist:
1.1 Der Stellenwert der Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre
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Dem Rechtspositivismus verhaftet ist demnach die gängige Auffassung (in Juristenkreisen als "hemchende Meinung', häufig abgekürzt als ohM", zur meistzitierten Berufungsinstanz geworden13), die Aufgabe der Gesetzesanwendung als "Subsumtion" zu beschreiben. Als Subsumtion wird in der gängigen Methodenlehre die Unterordnung eines einzelnen, zu entscheidenden Falles unter den im Gesetzestext formulierten Tatbestand verstanden;14 in der reinen Lehre des Positivismus werden die Richter zu "Subsumtionsautomaten" (Max Weber15) degradiert. Da es so schön klar und einfach klingt, ist die Metapher der "Subsumtion" bis heute nicht aus dem juristischen Alltagsverständnis verschwunden. Indes ist die tatsächliche Tätigkeit der Gesetzesanwendung komplexer als die Rede von der Subsumtion erkennen läßt. Dies erfordert, einen kurzen Blick auf die Struktur der juristischen Tätigkeit zu werfen. Den Juristen wird ein "Fall" präsentiert, der einer richterlichen Entscheidung bedarf (oder der Beratung von Klienten in Vorbereitung einer solchen). Lebenssachverhalte (als die ich, abgekürzt, all das bezeichne, was einer juristischen Würdigung - von wem auch immer - unterworfen werden soll) kommen in Form von sprachlichen Texten vor: als Schilderungen eines Klienten, Klägers, Zeugen; als Schriftsätze von Justitiaren, Anwälten, Staatsanwälten etc. Sie enthalten, zumindest soweit sie von juristischen Laien geäußert wurden, eine Fülle rechtlich irrelevanter Elemente und einen Kern rechtlich relevanter Aspekte, die in Bezug zu einem gesetzlichen Tatbestand gesetzt werden können. Als "Tatbestand" wird ein Sachverhalt insofern verstanden, als an ihn durch das Gesetz bestimmte "Rechts/olgen" (Rechte, Pflichten, Sanktionen) geknüpft sind!6 Gesetzliche Tatbestände unterscheiEs darf in Konsequenz des rechtspositivistischen Ansatzes keinen irgendwie gearteten Rückgriff geben auf irgendwelche außerpositiven Momente, wenn das erfaßt wird, was man umgangssprachlich ungenau den 'Sinn' oder die 'Bedeutung' der Sätze des 'positiven Rechts' nennt. Der Rechtspositivismus ist zu der Annahme gezwungen, daß der rechtliche 'Sinn' die jeweils als 'positives Recht' bezeichneten Sätze nicht transzendiert, sondern ausschließlich entweder in ihnen enthalten ist oder ihnen doch wenigstens anhängt." - Vgl. auch Haft 1977b, 30: "Es hat im Recht eine Auffassung gegeben, wonach das Gesetz den Richterspruch vollkommen determinieren sollte (und sie beherrscht weithin noch das Methodenverständnis der juristischen Praxis); diese Auffassung impliziert eine Vorstellung von Sprache, die davon ausgeht, es sei möglich, eine Norm als sprachliche Handlungsanweisung aus sich heraus vollständig zu erklären. Je dezidierter sie vertreten wurde, desto mehr forderte sie zum Widerspruch heraus." 13 Deren Funktion kann allerdings - wenn man will - auch positiv gesehen werden: "Zur Einschränkung der Interpretationsmöglichkeiten hat die Jurisprudenz verschiedene Mechanismen entwickelt. Da ist zunächst an die Institutionen 'herrschende Lehre' und 'höchstrichterliche Rechtsprechung' zu denken. Bei entsprechender Ausbildung ermöglichen sie es dem Richter, bestimmte Argumente als 'irrelevant' auszusondern und so zu einer eingeschränkten Interpretation zu gelangen, die eine Entscheidung in vertretbarer Zeit überhaupt erst ermöglicht." Cattepoell979,244.
14 Engisch 1956, 55. 15
Weber 1967, 336 C.; vgl. auch Jesch 1957, 169.
16 Siehe hierzu und zum Folgenden Engisch 1956, 15 Cf.
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1. Die Rolle der Sprache im Recht
den sich von Lebenssachverhalten insofern, als sie im. Gesetz einer näheren, einschränkenden Definition (oder Umschreibung) unterworfen werden. So kann z.B. der Lebenssachverhalt "Verwandtschaft" im. Gesetz in einer Definition vorkommen, die von der überwiegenden Auffassung der Rechtsunterworfenen (ausgewiesen durch den Bedeutungsumfang der Wörter "Verwandtschaft" bzw. "verwandt") abweichtP Die Zuordnung eines Lebenssachverhaltes zu einer Tatbestandsformulierung ("Subsumtion") setzt also stets das Verstehen der Bedeutung des Gesetzestextes (bzw. der Sprachzeichen, aus denen er besteht) voraus, d.h. die Gesetzesformulierung muß "ausgelegt" werden. Auslegung ist eine logische Voraussetzung jeder Gesetzesanwendung (ob man sie nun als Subsumtion versteht oder nicht). Auch eine im. traditionellen Verständnis positivistische Rechtstheorie kommt also nicht um die Tatsache herum, daß Rechtsanwendung etwas mit Interpretation, mit sprachlichem Verstehen und sprachlicher Auslegung von Texten zu tun hat. Die Fiktion der einfachen Subsumtion suggeriert, daß das Auffinden einer Tatbestandsformulierung im. Gesetz im. schlichten Nachschlagen des vom Gesetzgeber Gewollten besteht.18 Indes sind entscheidungsrelevante Tatbestände selten nur in einem einzelnen Paragraphen als abgeschlossener Formulierung aufzufinden; vielmehr besteht die Aufgabe der Juristen in den meisten Fällen darin, einen auf den Lebenssachverhalt treffenden "Tatbestand" erst durch Verknüpfung verschiedener Gesetzestextstellen zu einem "Obersatz" quasi "herzustellen". Ein "Obersatz" kann Textstellen aus mehreren Paragraphen, ja sogar aus Paragraphen unterschiedlicher Gesetze enthalten. 19 D.h., die eine Entscheidung erst ermöglichenden Tatbestände werden in aktiver Leistung der Gesetzesanwender konstruiert. In dieser Leistung ist schon eine Interpretation sowohl der Sachverhaltsschilderungen, als auch der herangezogenen Paragraphen enthalten. Die Fiktion der automatischen Subsumtion hat also nie auf die juristische Praxis gepaßt; inwiefern sie sich heute noch im. Alltagsbewußtsein und der Selbstdarstellung von Juristen bzw. in der rechtstheoretischen Methodik hält, ist umstritten. Während Hassemer sie für überwunden hält,20 sieht Haft sie durchaus noch wirksam: "An dieser Grundvorstellung [Auslegung als Subsumtion, D.B.] wird trotz vielfach geübter Kritik im. allgemeinen bis heute festgehalten. Tatsächlich bietet das Verfahren viele Vorzüge (man kann den Eindruck eines rationalen, streng 17 Dies war z.B. bis 1970 in der alten Fassung des § 1589 BGB der Fall, der bestimmte: "Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt." 18 "Der Vorgang richterlicher Entscheidung wird als logisches Schlußverfahren, Rechtsverwirklichung insgesamt als ausschließlich kognitives Problem vorgestellt." Müller 1990, 31. 19 "Die Vervollständigung des Obersatzes reicht dabei von Fall zu Fall so weit, wie es zur Beurteilung des Sachverhalts erforderlich ist." Engisch 1956, 64.
20 "Das Tabu der vollständigen Determination der Gesetzesauslegung durch das Gesetz [...] ist gebrochen - falls es für die Praxis jemals gegolten haben sollte." Hassemer 1972, 468.
1.1 Der Stellenwert der Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre
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logischen Verfahrens erwecken und dabei so tun, als sei es dem Entscheidenden möglich, seine Person aus dem Spiel zu bringen; auch kann man auf diese Weise jedes gewünschte Ergebnis methodengerecht absichern) ...21 Wenn sich eine Fiktion trotz differenzierender Theorien hartnäckig hält, dann muß dies externe Gründe haben; in der juristischen Methodik liegen diese Gründe bei den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, welche eine "bauche de la loi" -Theorie der Gesetzesanwendung zwingend zu erfordern scheinen. Das Gesetzesbindungspostulat und seine Einlösung ist daher organisierendes Zentrum aller juristischen Methodendiskurse. Die Formulierungen des Gesetzesbindungspostulats im Grundgesetz sagen über die Methodik der Gesetzesanwendung nichts aus; während es in Art. 20 m heißt, daß die Rechtsprechung "an Gesetz und Recht gebunden" se~ so sind nach Art. 97 I die Richter "nur dem Gesetze unterworfen".'12 Das Gesetzesbindungspostulat gehört zu den Kernsätzen demokratischer Verfassung und ist (nach den Erfahrungen der NS-Zeit) nicht ohne Grund in das Zentrum der Rechtsstaatlichkeit gestellt worden; dazu gehört auch das strafrechtliche Gebot "nulla poena sine lege" (keine Strafe ohne Gesetz), welches in § 1 StGB formuliert ist. Genaueres über die Bindung an das Gesetz ist in unserer Verfassung nicht aufzufinden. Andere Bestimmungen, etwa Überlegungen des Bundesverfassungsgerichtes zu Auslegungsfragen,LI sind selbst schon Ergebnis von Grundgesetz-Auslegungen. Dies alles könnte darauf hindeuten, daß über die Tätigkeit der Richter und die Art und Weise, wie sich die Gesetzesbindung darin auswirkt, ein vor-konstitutioneller Konsens innerhalb der Zunft besteht; nur wo ohnehin klar ist, was Anwendung (bzw. Auslegung) von Gesetzen heißt, bedarf es (so könnte man meinen) keiner genaueren Bestimmungen darüber, wie Gesetze auszulegen seien. Ein solcher Konsens ist tatsächlich aber nicht vorhanden; vielmehr ist der Begriff der Gesetzesbindung selbst schon Gegenstand juristischer Methoden-Kontroversen und alles andere als unstrittig. Wenn es trotz dieser rechtstheoretischen Kontroversen dennoch so etwas wie einen Konsens der Praktiker gibt, dann liegt das an der in der Jurisprudenz außerordentlich wirkungsmächtigen "herrschenden Meinung" über Methoden der Gesetzes-Auslegung, welche in der Tat vor-konstitutionell ist, d.h. das Selbstverständnis der deutschen Richter seit dem letzten Jahrhundert bestimmt, zu einer Zeit also, als das Grundgesetz und die Bundesrepublik noch gar nicht existierten. Teil dieses common-sense ist, daß jede Gesetzes-Auslegung beim "Wortlaut des Gesetzes" zu beginnen habe. 21 Haft 1978, 87.
'12 vgl. Anm. 6. Ähnlich § 1 Gerichtsverfassungsgesetz: "Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeführt." 23 Vgl. Müller 1990, 31 f. Zum Problem der Gesetzesbindung aus einer sprachtheoretisch reflektierten Position der Rechtstheorie vgl. Christensen 1989.
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1. Die Rolle der Sprache im Recht
Wenn der Verweis auf den Wortlaut immer wieder mit dem u.a. aus dem
"Rechtsstaatsprinzip" hergeleiteten Gesetzesbindungspostulat begründet wird, andererseits aber die juristische Methodenlehre, welche die Wortlaut-Auslegung in den Mittelpunkt der juristischen Tätigkeit rückt, schon im vorigen Jahrhundert begründet wurde, und mit der zentralen Stellung des Wortlauts Traditionen fortführt, die bis ins germanische Recht zuruckreichen, dann wird deutlich, daß im Gesetzesbindungspostulat Grundauffassungen zum Tragen kommen, welche ihre Wurzeln in vordemokratischer Zeit haben. Damit wird aber auch die unreflektierte Gleichsetzung des positivistisch gedeuteten Gesetzesbindungspostulats mit demokratischer Rechtsstaatlichkeit fragwürdig und zumindest begründungsbedürftig. Nur so wird auch verständlich, warum sich die Metapher vom "Willen des Gesetzgebers", welche im Absolutismus den tatsächlichen Willen eines konkreten Monarchen meinte, auch im demokratischen Staatswesen so hartnäckig halten konnte, wo die Frage nach dem "Autor" dessen "Willen" im Gesetzeswortlaut angeblich substantiiert sei, nicht mehr so einfach zu beantworten ist.24 Was "Gesetzesbindung" heißen kann, ist deshalb ein in der rechtsstaatlichen Demokratie nicht sehr einfach zu lösendes Problem;2S die - indes ältere - juristische Methodenkontroverse wird daher immer wieder mit verfassungstheoretischen Aspekten aufgeladen, was die Sache - gerade für den juristischen Laien nicht gerade einfacher macht. Die herrschende Meinung der juristischen Auslegungslehre kennt vier Methoden (oder besser: Aspekte; bei Larenz "Kriterien der Auslegung.26), nach denen ein Gesetz ausgelegt werden kann. Sie werden als "Kanones" bezeichnet und gehen auf die 1802 verfaßte Methodik von F.K. von Savigny zurück. Dieser kannte neben der "philologischen" Auslegung nach den "Regeln der Sprache" (auch als "grammatische" Auslegung bezeichnet) noch eine "historische" und eine "systematische" Auslegung (letztere auch als "logische" Ausle~ bzw. als "genetische Darstellung des Gedankens im Gesetz" bezeichnet). 7 Diese methodologischen Aspekte stehen in engem Zusammenhang mit der dem Rechtspositivismus verpflichteten sog. "objektiven" Auslegungstheorie.28 In der heutigen Auslegungs-Methodik werden folgende Kanones unterschieden:29 24
Vgl. zum Problem der Autorschaft auch Busse 1991a, Kap.l, 13 ff.
2S Vgl. etwa die Überlegungen von Müller 1984 und 1990 passim. 26 Larenz 1979, 307 - Vgl. auch Müller 1990, 212: "Die herkömmlichen Auslegungsregeln können somit als für sich selbständige 'Methoden' nicht vereinzelt werden."
27 Savigny 1802,17.
28 Vgl. das Zitat von Savigny 1802, 14 in Anm. 11. 29 Nach Engisch 1956,77.
1.1 Der Stellenwert der Sprach theorie in der juristischen Methodenlehre
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(a) Auslegung nach dem Wortlaut ("grammatische Auslegung") (b) systematische Auslegung (auch "logische" Auslegung, d.h. Auslegung eines Paragraphen nach der Stellung im "System" des Gesetzes oder aller Gesetze) (c) Auslegung nach der Entstehungsgeschichte ("genetische" bzw. "historische", auch "genetisch-historische" Auslegung genannt) (d) Auslegung nach dem "Zweck des Gesetzes" ("teleologische Auslegung") Zu (a): "Grammatische" Auslegung meint zunächst nichts anderes als die Orientierung am "Buchstaben des Gesetzes":3O "Jede Auslegung eines Gesetzes wird mit dem Wortsinn beginnen."31 Dazu Engisch: "Mit der nicht sehr präzisen, aber nun einmal üblichen Vokabel 'grammatische Auslegung' ist jedoch offenbar nur gemeint jene spezifische Methode der Sinnermittlung, die sich (zumindest fürs Erste) orientiert an der sprachgebräuchlichen (häufig lexikalisch zu erschließenden) Bedeutung der Worte und ihrer syntaktischen Zusammenfügung."32 Es liegt auf der Hand, daß die Diskussion darüber, was der "Wortlaut" einer Gesetzesnorm sei und wie er auszulegen ist, den Punkt bezeichnet, wo linguistische Theorien Eingang in die juristische Methodik gefunden haben. Die allgemein verbreitete Auffassung, daß Gesetzesanwendung als eine (wie auch immer verstandene) Subsumtion eines Falles unter den Wortlaut einer Rechtsnorm funktioniere, zieht die Berufung auf alle denkbaren Theorien sprachlicher Bedeutung quasi notwendig nach sich. Die Frage nach dem "Wortlaut", d.h. die Frage, wie die Bedeutung einer Normformulierung herausgefunden werden kann und in welchem Verhältnis solcherart Bedeutungsfmdung zur eigentlichen Aufgabe der Juristen, Recht zu fmden bzw. zu sprechen, steht, bilden das Zentrum aller rechtssemantischen Überlegungen. Das Zitat von Engisch belegt zwei übliche Herangehensweisen von Juristen an das "Bedeutungsproblem" der grammatischen Auslegung: Die Orientierung an der "sprachgebräuchlichen Bedeutung" der Worte und Syntagmen einer Normformulierung meint tatsächlich die Befragung der eigenen Sprach-Kompetenz des Interpreten, ironisch auch als "Lehnstuhl-Methode" bezeichnet. Der Griff zum Lexikon, den Engisch daneben erwähnt, fmdet wohl seltener statt als zu vermuten wäre. Die eigene Sprachfähigkeit als Bedeutungsverständnis eines "normalen, unverbildeten Sprechers der deutschen Sprache", als "natürliches Sprachempfinden" (oder wie auch immer die Umschreibungen lauten mögen) auszugeben und zur 30 Die für linguisten verwirrende Vokabel "grammatisch" meint wohl das griechische UJ gramma = 'Buchstabe, Schrift, Geschriebenes' und nicht die Grammatik im linguistischen Sinn
(als Syntax). Die Vokabel "grammatische Auslegung" ist anscheinend in der frühen Hermeneutik üblich gewesen, da sie u.a. auch bei Schleiermacher verwendet wird.
31 Larenz 1979,:>n7. 32
Engisch 1956,233.
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1. Die Rolle der Sprache im Recht
Begründung der eigenen Entscheidung heranzuziehen, ist auch heute noch gängige wenn nicht gar vorherrschende Praxis.33 Nach Wank "verfährt der Jurist meist so, daß er sein natürliches Sprachempfinden stellvertretend für den allgemeinen Sprachgebrauch antworten läßt", was u.a. die bedenkliche Folge nach sich zieht, "daß der Jurist dabei im allgemeinen weder repräsentativ noch nach semantischen Kriterien vorgeht, sondern im Rahmen seiner juristischen Arbeit seine Rechtsauffassung hinter dem Verweis auf den allgemeinen Sprachgebrauch verbirgt."34 Von Juristen wird deshalb öfters erwogen, welche Formen der empirischen Bedeutungsfeststellung der Normtext-Auslegung ein stabileres Fundament geben könnten.3S Die anvisierte Tätigkeit der Gesetzes-Interpreten würde sich dabei stark linguistischen Forschungsmethoden annähern. Das wirft die Frage auf, ob mit "Auslegung einer Rechtsnorm" überhaupt ein empirisches Verfahren der Bedeutungsfeststellung gemeint sein kann, oder ob die juristische Tätigkeit sich zwar der Normtexte bedient, aber über Interpretation im textwissenschaftlichen Sinn hinausgeht; d.h. es steht in Frage, ob Savignys Charakterisierung der juristischen Tätigkeit als "philologische Methode" gerechtfertigt ist und den Anforderungen an die Rechtsprechung gerecht wird. Die Indizien sprechen dafür, daß mit dem Verweis auf den "allgemeinen Sprachgebrauch" eben nicht der empirische Sprachgebrauch der Sprecher der deutschen Standardsprache gemeint ist, sondern daß es rechtswissenschaftliche und höchstrichterliche Interpretationen und Definitionen sind (die sich - wie etwa beim Begriff "Gewalt" - sehr weit vom alltäglichen Sprachempfinden entfernen können), auf welche bei rechtlichen Entscheidungen zurückgegriffen wird.36 "Grammatische" Auslegung wäre dann im besten Fall37 - wenn sie weiterhin als Methode der Bedeutungsfest33
Vgl. etwa BVerfGE 1, 117 ff., 1305 f.; 13, 32 ff., 34; 14, 293 ff., 296; 17,67 ff., TI. "Bemerkenswert selten findet man Begründungen für Behauptungen über den möglichen Wortsinn einer gesetzlichen Vorschrift. Bisweilen werden Wörterbücher zitiert, zumeist aber scheinen sich die Juristen auf ihr eigenes Sprachgefühl zu verlassen." Herberger/Koch 1978, 811.
34 Wank 1985, 21 f. 3S "Der Jurist müßte, wenn er es damit ernst meinte, auf Sprachbücher und Sprachuntersuchungen [...] zurückgreifen, oder er müßte [...] Meinungsbefragungen veranlassen oder Beobachtungen über den Sprachgebrauch anstellen. All dies geschieht meist nicht." Wank 1985, 21 Vgl. auch Hegenbarth 1982, 168 ff. u.ö. 36 "Zu prüfen wäre in jedem Falle eines Verweises auf den allgemeinen Sprachgebrauch, inwieweit dieser für die Gesetzesauslegung oder die Vertragsauslegung verbindlich sein kann und soll. [...] Was der Durchschnittsbürger unter 'Gewissen' versteht, kann nicht durch einen Hinweis auf das Sprachempfinden von Verfassungsrichtem ermittelt werden." Wank 1985, 21. Zur Wandlung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs vgI. die Rechtsprechungsanalysen bei Busse 1991c und Röthlein 1986. 37 "Bereits mit der Anerkennung der Tatsache, daß es eine juristische Wortbedeutung gibt und daß diese der natürlichen Wortbedeutung vorgeht, wird die Wortlautargumentation ent-
1.1 Der Stellenwert der Sprachthcorie in der juristischen Methodenlehre
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stellung begriffen werden soll - eine Aufklärung der Semantik fachsprachlicher Termini der Juristensprache. Begreift man die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke als Resultate des in einer Sprachgemeinschaft herrschenden Sprachgebrauchs, dann müßte aufgeklärt werden, was alles zum "Sprachgebrauch" der juristischen Fachsprache hinzugerechnet werden soll. Sind es nur die Gesetzestexte, sind es Urteile, Kommentare, Fachliteratur (die ja selbst stets schon Interpretation der Ursprungstexte sind)? Sind es Definitionen, oder sind es gar systematische Aspekte, welche die Interpretation schon steuern? All diese Fragen nach der Bedeutung von Gesetzestexten - dem "Wortsinn" - und den Methoden, mit denen sie herausgefunden werden kann, setzen voraus, daß schon geklärt ist, was "Bedeutung" sprachlicher Texte eigentlich sei. Wenngleich e~e Juristen diese Frage als (in der Jurisprudenz) gänzlich ungeklärt ansehen, spricht doch mehr für die Vermutung, daß in allen Methodenlehren schon eine - wenn auch implizite - Bedeutungsauffassung enthalten ist.39 Diese Bedeutungsauffassungen aufzuspüren und sie zu formulieren ist eines der Ziele der vorliegenden Arbeit. Damit betreffen sprachwissenschaftlich relevante Aspekte, wie sie etwa die bedeutungstheoretischen Grundfragen der juristischen Methodenlehre darstellen, den Kern der juristischen Tätigkeit, solange die Orientierung der Rechtsprechung "an dem Gesetzeswortlaut", und damit der Vorrang der (wie auch immer aufgefaßten) "grammatischen Auslegung", Verfassungsgebot ist.4O Zu (b): Als ''systematische'' Auslegung wird die Berücksichtigung der Stellung einer einzelnen Rechtsnorm im Gesamtzusammenhang des Gesetzes (bzw. aller Gesetze, d.h. der "Rechtsordnung" schlechthin) bezeichnet. Da die einzelnen Paragraphen nicht gleichwertig nebeneinander stehen, sondern zwischen ihnen hierarchische Über- oder Unterordnungsbeziehungen bestehen können (z.B. "Subsidiarität", d.h. eine bestimmte gesetzliche Regelung greift erst dann, wenn eine andere, ihr vorgeordnete, nicht auf den Sachverhalt paßt), woraus sich komplizierte systematische Verflechtungen ergeben können, wird diese Auslegung oft auch als "logische" Auslegung bezeichnet. wertet. Denn bereits die erste Auslegung eines Rechtssatzes ist juristische Auslegung und kann zur Einführung einer juristischen Wortbedeutung führen, die eine natürliche Wortbedeutung verdrängt." Wank 1985, 30. 38 "Generationen von Juristen haben sich daran gewöhnt, ihre Tlitigkeit mit der 'Auslegung nach dem Wortsinn' zu beginnen - obwohl vollkommen unbekannt ist, was der Wortsinn ist." Haft 1977a, 118. 39 "Den Anweisungen der juristischen Methodenlehre liegen jedoch einige, zum Teil implizite Annahmen über Semantik zugrunde, die zwar weder systematisiert noch nomologisiert werden, aber als 'Hintergrundthcorie' die Konstruktion der Kunstrcgeln steuern." Hegenbarth 1982,37.
40 "In einem Gemeinwesen mit weitgehend kodifiziertem Verfassungsrecht ist bereits vorentschieden, daß die Aspekte grammatischer Auslegung im Geschäft der Verfassungskonkrctisierung herausgehobene Funktionen innehaben." Müller 1990, 182.
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"Der logisch-systematische Zusammenhang betrifft nicht nur die Bedeutung der Rechtsbegriffe im jeweiligen konkreten Gedankenzusammenhang [.•.J. Er betrifft vielmehr letztlich die Fülle des im einzelnen Rechtssatz geborgenen Rechtsgedankens in seiner mannigfal~en Bezüglichkeit auf die anderen Bestandteile des gesamten Rechtssystems. 1 Die Auffassung des Rechts als eines in sich strukturierten, vollständigen und systematischen Zusammenhangs, der mit Mitteln der Logik aufzuklären se~ steht in enger Beziehung zur sog. "Begriffsjurisprudenz", welche das Recht ausschließlich als System von Rechtsbegriffen auffaßt, welche zu definieren und gegeneinander abzugrenzen seien.42 Wenngleich diese Schule heute nicht mehr die herrschende Lehre bestimmt, so werden logische Theorien in der Methodenlehre auch heute noch häufig als Hilfsmittel herangezogen und anderen (z.B. nicht an der Logik orientierten Sprachtheorien) vorgezogen.43 Larenz bezeichnet den systematischen Aspekt auch als "den Bedeutungszusammenhang des Gesetzes".44 Dies wirft die Frage auf, in welcher Beziehung die "systematische" Auslegung zur "grammatischen" Auslegung steht. Werden zwei verschiedene Aspekte angenommen, wonach zur Feststellung der Bedeutung eines Normwortlauts die Einordnung der Norm in ihrer festgestellten Bedeutung in den systematischen Zusammenhang anderer Normen tritt (die dann folgerichtig auch schon in ihrer Bedeutung festgestellt sein müßten)? Oder ist die Berücksichtigung der systematischen Stellung einer Norm im Gesamtzusammenhang Bestandteil der Feststellung ihrer Bedeutung, wie es Larenz' Formulierung nahelegt? Eine strenge Trennung beider Auslegungs-Kanones kann wohl nicht gedacht werden, da jede systematische Überlegung bereits die Kenntnis der Bedeutung der herangezogenen Gesetzestexte voraussetzt; "grammatische" Auslegung geht der "systematischen" Auslegung notwendig voran, weshalb die Beziehung der Kanones untereinander auch meist als hierarchische Ordnung bzw. als Schrittfolge bei der Auslegung angesehen wird. Umgekehrt ist aber nicht so klar, ob eine "grammatische" Auslegung auch auf systematische Aspekte zurückgreift (zurückgreifen darf). Im linguistischen Sinne könnte der systematische Gesetzes-Zusammenhang als ein Bedeutungshorizont bezeichnet werden, der bei jeder Auslegung einer einzelnen Normformulierung stets schon vorhanden ist und ihr Ergebnis mit beeinflußt. In der alltäglichen Rechtspraxis wird dies wohl auch der Fall sein, da die Rechtsanwender die
41 Engisch 1956,79.
42 So Jcsch 1957, 169: "Das Gerüst der Rechtsordnung wird durch die Gesctzcsbegriffe gebildet."
43 Vgl. die Arbeiten von Koch (siehe Anm 1).
44 Larenz 1979, 311.
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heranzuziehenden Rechtsnormen, zu denen eine auszulegende Normformulierung in systematischer Beziehung steht, stets schon wissen oder zumindestens ahnen (wäre dies nicht so, dann könnten sie die bezogenen Normen im Wust der Gesetze gar nicht finden). D.h. daß, wenn konkurrierende oder verwandte Rechtsnormen existieren, ihre Kenntnis auch auf die Auslegung einer Normformulierung "nach dem Wortsinn", d.h. auf die "Feststellung ihrer Bedeutung" zurückwirken kann. Fragen der systematischen Beziehung von Normen untereinander sind Gegenstand der juristischen "Dogmatik", d.h. der Lehre von der Auslegung und Ordnung der Rechtsnormen, und damit selbst schon Gegenstand wechselnder Lehrmeinungen, welche wiederum vermutlich auf abweichenden Interpretationen einzelner Normen beruhen. Es ist fragwürdig, ob solche Gesichtspunkte schon in die Auslegung "nach dem Wortsinn" eingehen dürfen, wenn man die Fiktion der puren "Feststellung" der Bedeutung einer Normformulierung aufrechterhalten will. Ist die Beziehung der "systematischen" Auslegung zur Seite der "grammatischen" Auslegung ungeklärt, so besteht andererseits auch eine enge Beziehung zum vierten Kanon, der "teleologischen" Auslegung, wie Engisch betont: "Da diese Sinnbezüglichkeit jedes Rechtssatzes auf die Gesamtrechtsordnung zum guten Teil eine teleologische ist, indem ja die Rechtssätze großenteils die Aufgabe haben, im Zusammenhang mit anderen Normen bestimmte Zwecke zu erfüllen, diese anderen Normen final zu ergänzen, läßt sich die systematische Auslegung von der teleologischen kaum trennen..45 Zu (c): Unter ''genetisch-historischer'' Auslegung wird die Auslegung "nach der Entstehungsgeschichte.46 einer Norm, bzw. nach der "Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebersn47 verstanden. (Die "genetische" Auslegung bezieht sich auf die Gesetzes-Materialien, während die "historische" Auslegung die vorherige Rechtslage mit einbezieht.) Dahinter steht deutlich die Fiktion vom "Willen des Gesetzgebers", welchen die Rechtsanwender zu verwirklichen hätten, als der die Norm (das Recht) tragenden Kraft, welche ihr in einem Akt der Autorschaft quasi eingehaucht sei. Historisch leitet sich die Auffassung, daß das Recht dem Willen des Geset~ebers zu folgen habe, aus den absolutistischen Monarchien der frühen Neuzeit ab, in denen der "Wille des Gesetzgebers" (selbst wenn auch das schon angesichts der damals herrschenden Realität eine FIktion gewesen sein mag) wenigstens noch als "Wille" einer einzelnen, greifbaren, real existierenden Person verstanden werden konnte. Diese Erklärungsfigur wurde mit in das Rechtssystem der 4S
..
Engisch 1956, 79 - AhnIich auch Latenz 1979, 314: "Der Bedeutungszusammenhang des Gesetzes und auch die ihm zugrundeliegende begriffliche Systematik erschließt sich dem Verständnis erst dann, wenn man auch die Regelungszwecke beachtet."
46 Engisch 1956, 77. 47 Larenz 1979, 314.
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demokratischen Staatsverfassung übernommen, in der indes nicht mehr so ohne weiteres auszumachen ist, welche Person bzw. Personengruppe der "Gesetzgeber" ist und was angesichts einer möglichen Vielzahl von Motiven, Absichten, Zwecken als deren "Wille" aufzufassen ist. Ist das Konzept vom "Willen des Gesetzgebers" als zu verwirklichendem Inhalt der Rechtsnormen also schon von seinen staatstheoretischen Grundlagen her ein fragwürdiges Modell, so ist seine Eignung für demokratisch verfaßte Staatswesen - nähme man es ernst - auch an der Realität der Gesetzgebungspraxis kaum zu verifizieren. Betrachtet man den "genetischen" Aspekt dieses Auslegungskanons näher, dann wird darunter in der Regel die Entstehungsgeschichte einer Norm verstanden, wie sie in den Gesetzesmaterialien, z.B. den Protokollen von Parlamentsdebatten, den Anträgen, Kommentaren zu Gesetzesvorhaben etc. dokumentiert ist. Semantisch gesehen könnten all diese Texte als Kontext zum Bedeutungshorizont der auszulegenden Norm gerechnet werden, da einzelne Ausdrücke der Norm bzw. ganze Syntagmen und Sätze darin erläutert werden, oder wenigstens in differenzierenden Verwendungen den Sprachgebrauch zu interpretierender Ausdrücke exemplifizieren und damit paradigmatischen Charakter für die "Feststellung" von deren Bedeutungen bekommen. Es steht indes zu vermuten, daß das (rechtspositivistisch gesehen) eigentliche Auslegungsproblem, nämlich die Feststellung der einen, gültigen Bedeutung (bzw. Auslegung), mit Heranziehung der "Entstehungsgeschichte" nicht gelöst wird. Die Absichtserklärungen, welche in den Parlamentsmaterialien evtl. abgegeben werden, können selbst widersprüchlich, unklar oder rechtlich irrelevant sein. Zudem wird in Parlamentsdebatten selten in juristisch verwertbarer Weise über den Ziel und Zweck von GesetzenjNormen debattiert; die allermeisten Gesetze werden vom "Gesetzgeber", dem Parlament, nach Vorlagen aus den Ministerien ohne Debatte abgestimmt; und ob die Kommentare/Erklärungen von Ministerialbeamten, die qua Verfassung Teil der Exekutive (und eben nicht der Legislative) sind, bindenden Charakter für die Rechtsprechung haben können, ist äußerst fraglich. Es ist also ausgesprochen fraglich, ob mit den Mitteln der "genetischen Auslegung" der "Wille des Gesetzgebers" im Sinne der Bedeutungsabsicht eines Textautors zweifelsfrei festgestellt werden kann. Es wäre schon eine umfangreiche Leistung historischer Bedeutungsforschung, die in den Gesetzesmaterialien enthaltenen Sprachdaten auf ihre Verwertbarkeit für die Interpretation der auszulegenden Normformulierung zu überprüfen. "Der 'Wille des Rechtssetzers' müßte, wenn überhaupt, mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft weit über die Gesetzesmaterialien hinaus erforscht werden...48 Das für die Auslegungsmethodik wichtigste Problem besteht aber darin, daß alle heranziehbaren Materialien als Texte selbst wie48 Müller 1990, 162.
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derum auslegungsfähig und -bedürftig sind, der Rechtsanwender also auch hier wieder auf die "grammatische Auslegung" angewiesen ist. Der "genetischen" Auslegung wird innerhalb dieses Kanons gelegentlich der Aspekt der "historischen Auslegung" gegenübergestellt. Zwar sind beide Aspekte Bestandteil historischen Rückgriffs, doch bezieht sich die "genetische" Auslegung eher auf die Gesetzesmaterialien im engeren Sinne, mit deren Hilfe die Sinn-Intention des historischen "Geset7gebers" herausgefunden werden soll, während die "historische" Komponente eher auf die historische Entscheidungssituation, z.B. vorhergehende Normtene und Gründe für ihre Änderung, zielt. Nach Engisch geht das historische Verstehen eines Gesetzes so vor: "einsetzend beim faktisch gemeinten und gewollten Sinn, sodann die nächsten geschichtlichen Zusammenhänge aufldärend, die 'Motive' ergründend, die Ansichten der Autoren befragend, schließlich den ganzen historischen Wurzelboden und die geistige Atmosphäre der gesetzlichen Entwicklung erforschend.049 Diese Beschreibung der Erforschung des Willens des historischen Geset2'gebers erinnert stark an ein Ondit eines Jura-Professors, der seinen Studenten bei Einführung der Kanones die "tele-ologische Auslegung" so erklärte: "von ganz weit her geholt". Die "historische Auslegung" wird wegen ihrer z.T. teleologischen Zielrichtung auch als "subjektiv-teleologische" Methode bezeichnet, um sie vom vierten Kanon, der "objektiv-teleologischen" Auslegung, zu unterscheiden. Zu (d): Der vierte und umstrittenste Kanon der Gesetzesinterpretation ist die "teleologische Auslegung'~ d.h. die Auslegung ''nach dem Zweck des Gesetzes". Eine solche Auslegung liegt z.B. dann vor, wenn in einem höchstrichterlichen Urteil der Diebstahl von Gas nach dem Diebstahl-Paragraphen des StGB abgeurteilt wird, obwohl die Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal ''fremde bewegliche Sache" fragwürdig erscheint. Will man die semantische Beschreibung von "Sache" und "beweglich" nicht über Gebühr ausdehnen und vom alltäglichen Sprachgebrauch entfernen, dann kann man nach der "Regelungsabsicht" fragen und als "Diebstahl" all das bestrafen, was wie die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache anzusehen ist und auch von den Rechtsunterworfenen so angesehen wird. Teleologische Auslegung ist, da sie der Spekulation und damit der Willkür Tür und Tor öffnet, in demokratischen Staatswesen ausgesprochen fragwürdig. Schon bei F.K.v.Savigny, aus dessen Methodenlehre die übrigen drei Kanones stammen, fehlt die teleologische "Methode". Das Fragen nach dem ·Zweck des Gesetzes" (der Norm) kann dann wichtig werden, wenn eine Auslegung nach der "Regelungsabsicht des historischen Geset7gebers",so am "Bedeutungswandel" der
49 Engisch 1956, 87.
50 Larenz 1979, 314.
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Normformulierung scheitert. Ob sich hinter dem viel zitierten Bedeutungswandel von Rechtsnormen ein in erster Linie semantisches Phänomen verbirgt, ist noch nicht ausgemacht; der Wandel von Normen (d.h. tatsächlich: von Akten der Norm-Anwendung) ist ein Ergebnis der Rechtspraxis, das mit rechtssystematischen Gesichtspunkten, mit dem Wandel des Alltagslebens, der Veränderung von moralischen und sittlichen Werthaltungen und politischen Anschauungen mindestens ebensoviel zu tun hat, wie mit dem Bedeutungswandel von Wörtern in Normtexten. Nur eine pragmatische Bedeutungstheorie könnte all diese Aspekte in Beziehung zur Bedeutung sprachlicher Zeichen setzen; in einer genauen Überprüfung der Umgangsweise von Juristen mit sprachlichem Material, d.h. in einer Analyse der juristischen Semantik, muß erst der Frage nachgegangen werden, ob das Arbeiten der Juristen mit Texten in Termini der Linguistik und einer linguistischen Semantik überhaupt zureichend erfaßt werden kann. Dem Linguisten stellt sich die sprachliche Vermitteltheit aller vier Auslegungs-Kanones als unumgehbar dar; für die Juristen ist die Bindung der Rechtsprechung "an den Wortlaut des Gesetzes" oberstes verfassungsrechtliches Gebot. Insofern stellt sich die Frage nach einer Rangfolge der vier Kanones gar nicht; laut Friedrich Müller konnte sie in der herkömmlichen Methodenlehre auch gar nicht festgelegt werden,da die Kanones keine abgrenzbaren "Methoden" der Gesetzesinterpretation darstellen, sondern ''vielmehr unterschiedliche, aufeinander angewiesene Teilmomente des Auslegungsgeschäfts.',s1 Jede Auslegung, auch diejenige nach dem "Zweck des Gesetzes" endet nach herrschender juristischer Auffassung an der "Grenze des Wortlauts". Wo diese zu ziehen ist, und ob sie überhaupt unstrittig gezogen werden kann, darüber gehen indes die juristischen Lehrmeinungen ebenso auseinander wie über den Vorrang der einzelnen Auslegungskanones. Wenn auch die vier Auslegungs-Kanones Gemeingut der juristischen Methodenlehre sind, so wird ihre unterschiedliche Definition doch überschattet vom grundsätzlicheren Streit zwischen "subjektiver' und "objektiver' Schule der Gesetzesinterpretation. Auf diesem Feld werden all die Differenzen über Rechtsanwendung vs. Rechtsfortbildung, Auslegung vs. Analogie, Bedeutungsfeststellung vs. Bedeutungsfestsetzung ausgetragen, zu deren Begründung wechselnde semantische Theorien herangezogen werden, deren Kern aber nicht nur ein methodisches Problem ist, sondern ebensosehr das möglicherweise differierende Verfassungsverständnis und Bild über die Aufgaben aber auch Grenzen der Jurisprudenz. Der Streit geht vordergründig darum, ob der "Wille des Gesetzgebers" in einer Art historischer Analyse der Bedeutungsintentionen der ursprünglichen Autoren des Gesetzes festgestellt werden muß (subjektive Auslegung), oder ob die "Intention" der Rechts51 Müller 1990, 248.
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quelle "bie et nune" zu entnehmen se~ ihr als "objektiver Sinn" überzeitlich inneliegt (objektive Auslegung).S2 Mit Engischs Worten: "Wird der Sachgehalt des Gesetzes und damit das letzte 'Auslegungsziel' durch den vormaligen und einmaligen 'Willen' des historischen Gesetzgebers derart bestimmt, daß der Rechtsdogmatiker in die Spuren des Rechtsbistorikers treten muß, oder aber ruht der sachliche Gehalt des Gesetzes in ihm selbst und in seinen 'Worten', als 'Wille des Gesetzes', als objektiver Sinn, der unabhängig ist von dem 'subjektiven' Meinen und Willen des historischen Gesetzgebers, dafür aber auch notfalls frei beweglich, entwicklungsfähig wie alles, was am 'objektiven' Geist tei1hat?"s3 Die Anhänger der objektiven Ausle~theorie, die Engisch zufolge heute immer noch herrschende Meinung ist, glauben, so jedenfalls Larenz, "das Gesetz sei 'vernünftiger' als seine Urheber, und, einmal in Kraft getreten, stehe es gleichsam für sich selbst. [...] Die 'Vernünft~ keit' des Gesetzes verstehen die Genannten [...] als immanente Teleologie. Eine "immanente Teleologie" kann - was auch immer sich die einzelnen Juristen darunter vorstellen mögen - jedenfalls dazu dienen, für die dem Gesetz (der Norm bzw. Normformulierung) dureh die Auslegungstätigkeit des Rechtsanwenders zugesprochene (unterschobene?) Zwecksetzung das Walten eines "objektiven Geistes0S6 verantwortlich zu machen. Löst man das Grundanllegen der "objektiven" Auslegungstheorie von der fragwürdigen Rede über "objektiven Geist" und ähnliches, dann wird als realer Kern das Grundproblem jeder Textlnterpretation sichtbar: Ist die Bedeutung eines sprachlichen Textes in einer Bedeutungsintention des realen Autors zu suchen, oder enthält jeder Text nicht die Möglichkeit einer Sinnerfiillung in sich, die über das Meinen seines Urhebers hinausgeht? Ist das "Übersteigen" einer "ursprünglichen Sinnintention" ein Phänomen, das besonders bei zeitli52 D.h. es geht auch darum, ob Rechtsauslegung auch "Philologie" ist, oder nicht: "Indem sie [die deutsche Jurisprudenz, D.B.] die philologische Methode des Verstehens auf alle Rechtstexte, auch die des geltenden Rechts, zur Anwendung brachte, drohte sie ihren dogmatischen Beruf zu verfehlen. Denn während der Philologe die Rechtsquelle daraufhin befragt, was sie nach dem Willen ihres Urhebers zur Zeit ihres Entstehens ausdrücken wollte, prüft der Jurist, welche Intention ihr hic et nunc zu entnehmen ist, und wie sie einer gerechten Entscheidung dienstbar gemacht werden kann." Forsthoff 1940, 2. 53 Engisch 1956, 88 - Vgl. auch Larenz 1979, 35: "Die 'objektive' Auslegungstheorie besagt [...], daß nicht die vom Urheber gemeinte, sondern eine unabhängig davon zu ermittelnde 'objektive', dem Gesetz immanente Bedeutung die rechtlich maßgebende sei. Sie behauptet daher vor allem einen grundsätzlichen Gegensatz der juristischen Auslegung zur philologisch-historischen." 54 Engisch 1956, 89. 55 Larenz 1979, 35 f. - "Mit dem Akt der Gesetzgebung, so sagen die Objektivisten, löst sich das Gesetz von seinem Urheber los und wird in ein objektives Dasein erhoben. Der Urheber
hat seine Rolle ausgespielt, er tritt hinter seinem Werk zurück." Engisch 1956, 89. 56 "Das in Anwendung stehende Gesetz gehört der Seinsschicht des objektiven Geistes [...] an. Diesem Sachverhalt wird eine rein subjektive Theorie nicht gerecht." Larenz 1979, 303 f.
3 Busse
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1. Die Rolle der Sprache im Recht
chem Abstand der Text-Interpretation zur Texterstellung (zum "Äußerungsakt" durch den Autor) notwendig eintritt, oder handelt es sich um eine prinzipielle, sprachtheoretisch als notwendig zu beschreibende Differenz jeglichen Textverstehens (Sprachverstehens) zu den möglichen Sinn-Intentionen eines Text-Autors (oder Sprechers)? Dieser Gedanke der Eigenständigkeit eines sprachlich verfaßten Werks ist aus der poetisch orientierten Interpretationslehre der literaturwissenschaftlichen Philologie geläufig. Er korrespondiert mit einer traditionellen Bedeutungsauffassung, derzufolge Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke (und damit auch der "Sinn" eines Satzes oder gar Textes) objektive Entitäten sind, welche vom Autor in jeweils unterschiedlicher Weise (kontextgebunden) mit seinem Äußerungsakt "realisiert" werden. Die objektive Lehre der Hermeneutik geht davon aus, daß es für jeden Text eine einzige wahre Bedeutung gebe, der man sich durch die Tätigkeit der Interpretation annähern und die man möglicherweise auch objektiv "feststellen" könne. Dieser objektive Inhalt eines Textes sei vom Meinen seines Autors unabhängig, und einzig von der (objektiven) Bedeutung der sprachlichen Formulierungen abhängig. Juristisch gewendet: "Das Werk ist der 'mögliche und wirkliche Inhalt der Gesetzesworte'. Dieser dem Gesetz immanente Gedanken- und Willensinhalt ist fürderhin allein maßgeblich. Denn er allein ist verfassungsmäßig in Erscheinung getreten und legalisiert."s7 Wer von einem "wirklichen" Inhalt redet, der setzt voraus, daß es für jede sprachliche Äußerung (mündlich oder schriftlich) eine einzige richtige Bedeutung (und damit Interpretation) gebe. Wer für einen Text aber "mögliche" Inhalte offenhält, der eröffnet einen Interpretationsspielraum, innerhalb dessen verschiedene konkurrierende Deutungen existieren können; er müßte auf den Anspruch, daß es eine richtige Bedeutung gibt, verzichten. Wer aber zugleich von "möglichem und wirklichem" Inhalt redet, der gibt zu erkennen, daß er einer bestimmten unter vielen möglichen Deutungen den Charakter - und damit Legitimität und wissenschaftliche "Härte" - des "wirklichen" Inhalts zusprechen möchte. Eine ähnliche Zweideutigkeit enthält das Zitat in der Dualität von "Gedankeninhalt" und "Willensinhalt"; kann man "Gedankeninhalt" wohlwollend noch mit "Bedeutung des Normtexts" wiedergeben, wobei noch nicht vorentschieden ist, ob man die (subjektive) Autor-Bedeutung oder einen (objektiven) "Gedanken" (etwa im Sinne von Platons "Ideenhimmel" oder Freges "Drittem Reich der Gedanken") meint, so verweist "Willensinhalt" auf eine Teleologie, deren Status erst noch geklärt werden muß. Der Willens-Begriff verweist auf den sprachpragmatischen Begriff der Autor-Intention, welcher (für die Bedeutungsseite eines sprachlichen Ausdrucks) gleichfalls den Aspekt einer Zweckbestimmung enthält. Es ist in der neueren pragmatischen Semantik
r...]
57 Engisch 1956, 89.
1.1 Der Stellenwert der Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre
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(seit Grice) aber außerordentlich umstritten, ob man den Begriff der AutorIntention im Sinne einer realen, personengebundenen Absicht verstehen kann, oder ob er nicht vielmehr ein analytischer Begriff ist, der eine Struktur sprachgebundener Kommunikation beschreibt, in der sich die Kommunikationspartner (Sprecher/Schreiber wie Hörer/Leser) verhalten, als ob eine rekonstruierbare Autor-Intention vorläge.58 Dabei ist von der Seite des TextInterpreten her stets nicht mehr möglich als das (an den eigenen HandlungsSprach- und Lebenserfahrungen orientierte) Unterstellen einer AutorIntention; dieses Unterstellen ist aber aufgeladen mit den eigenen Erfahrungen, aber auch Intentionen des Interpreten: "Objektivität" (im strengen Sinne) wird dabei nicht erzielt. Unterstellt man einem Gesetzestext einen objektiv feststellbaren "Willensinhalt", so verdeckt man dabei den subjektiven Charakter jeder Interpretation;59 ist Subjektivität bei rein sprachlichem Bedeutungsverstehen noch durch die Macht von Verständigung erst ermöglichenden Konventionen gestützt, so entfernt sich die Auffassung von im Gesetzestext enthaltenen "Willensinhalten" (qua Regelungsziele) doch schon um einiges vom "Wortlaut" im engeren Sinne. Verstandene "Wortlaute" (die, wie gezeigt, als Interpretations-Resultate selbst schon den Charakter von Unterstellungen tragen) können die Unterstellung weitergehender Absichten stützen - mehr nicht (insbesondere nicht eine wie auch immer geartete "Objektivität" begründen). Nicht der "Gedanken- und Willensinhalt" eines Gesetzestextes ist "verfassungsmäßig in Erscheinung getreten und legalisiert", sondern allein der Normtext ist, als Buchstaben- und damit sprachliche Zeichenfolge, schriftlich fixiert und durch Verabschiedungs-Akt kanonisiert worden und damit "allein maßgeblich". Wie wenig es den Vertretern der "objektiven Auslegungslehre" um die 'wirkliche' Bedeutung des Gesetzestextes geht, zeigt die Darstellung Engischs, wenn er fortfährt: "Der dem Gesetz einverleibte Sinn kann auch reicher sein als alles das, was sich die Gesetzesverfasser bei ihrer Arbeit gedacht haben. [...] Das Gesetz selbst und sein innerer Gehalt ist auch nicht statisch wie alles historisch Vergangene [...], sondern lebendig und wandelbar und daher anpassungsfähig. Der Sinn des Gesetzes wandelt sich schon deshalb, weil das Gesetz Bestandteil der gesamten Rechtsordnung ist und daher an deren ständiger Umbildung Kraft der Einheit der Rechtsordnung teil58
Vgl. Busse 1987, 145 ff.
59 So spricht Müller 1984,48 von der "Allgegenwart von Interpretation in der Jurisprudenz [...], sei sie unreflektiert, verschwiegen oder in den rationalen Begründungszusammenhang eingeführt" und fordert: "Auch die Methodik [...] muß die Tatsache widerspiegeln, daß Interpretation im Recht nicht nur okkasionell als Kunstgriff in besonders schwierigen Fällen aufgefaßt werden kann. Die überwiegende Meinung in Lehre und Praxis steht anscheinend auf diesem Standpunkt. Als Aufgabe von Interpretation wird die Beseitigung von Unklarheiten angesehen."
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1. Die Rolle der Sprache im Recht
nimmt. Neu hinzukommende Bestimmungen strahlen ihre Sinnkraft auf ältere aus und gestalten sie um.,.60 Diese - möglicherweise aus juristischen Notwendigkeiten geborene - Einschätzung der Funktion von Texten entspricht erstaunlich genau der poetologischen Position der hermeneutischen Literaturwissenschaft - und doch könnten Zwecke und Aufgaben beider Interpretationslehren auf den ersten Blick nicht verschiedener sein. Bei näherem Betrachten ergibt sich allerdings eine erstaunliche Strukturverwandtschaft; beiden Bereichen kommt es bei der Interpretation von Texten auf eine den puren Verständigungsbedarf der Alltagssprache übersteigende "höhere" Form der Bedeutungserfüllung an: den Literaturwissenschaftlern auf eine ästhetisch-poetische "Wahrheit", welche jenseits allfälliger "SinnintentionenN des Autors und deren situativen, kontextuellen und historischen Beschränkungen liegt; der Jurisprudenz auf einen "Regelungszweck", der auf neue rechtliche Rahmenbedingungen ebenso wie auf neue technische, wirtschaftliche, soziale, politische, kulturelle und moralische Phänomene eingestellt werden muß, die der historische Gesetzgeber nicht voraussehen konnte. Dabei sind für die Grundfrage nach der Textbedeutung ("Autorintention" oder "objektiver Inhalt") zwei Aspekte zu unterscheiden: Juristen, die der "objektiven Lehre" anhängen, verweisen stets auf den systematischen Zusammenhang der Gesetzesnormen, womit unter der Forderung nach der Geschlossenheit und "Einheit der Rechtsordnung" sämtliche gültigen Gesetze zu einem imaginären "Gesamttext" hypostasiert werden. Dieser Gesamttext wird - ähnlich einem System kommunizierender Röhren - dergestalt als ein systematischer Zusammenhang begriffen, daß eine Veränderung an einer Stelle vielfältige Auswirkungen ("Ausstrahlen") auf andere Stellen haben kann. Richterliche Rechtsfortbildung kann dann legitimiert werden als notwendige "Füllung von Lücken", die durch von anderen Normen geschaffene Regelungen entstanden sind. Sprachtheoretisch wäre dieses Phänomen (wenn es denn unumstritten eines sein sollte) nur schwer zu fassen. Die Linguistik hat sich lange Zeit allenfalls noch mit Sätzen beschäftigt; die Kategorie "Text" kommt erst in allerletzter Zeit ins Blickfeld. Selbst unter den weitesten denkbaren Definitionen von "Text" würde es schwerfallen, die gesamte Rechtsordnung als solchen zu bezeichnen. Selbst bei einem geschlossenen Text (wie es etwa eine Erzählung, ein Roman, ein wissenschaftlicher Aufsatz sind) wäre es problematisch, die Interpretation einzelner Formulierungen systematisch und notwendig mit weit entfernten TextsteIlen zu begründen. Der Text als Ganzer könnte allenfalls als ein Kontextphänomen unter anderen aufgefaßt werden. Allerdings geht die literaturwissenschaftliehe Interpretationslehre durchaus so vor, doch zielt sie nicht in erster Linie auf Sprachda-
60 Engisch 1956, 90.
1.1 Der Stellenwert der Sprach theorie in der juristischen Methodenlehre
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ten im engeren Sinne, sondern auf die Konstitution einer höheren, poetischen "Bedeutung". Sprachwissenschaftlich wäre also zu klären, welche Rolle Kontexte für Produktion, Kommunikation und Rezeption von sprachvermitteltem Sinn spielen können. Während hier der Kontext als ÄuBerungskontext bzw. als textueller Kontext den Gegenstand der Interpretation umgibt, betrifft das zweite Phänomen mehr den Kontext der Interpretations-Tätigkeit bzw. der Interpreten; unter Literaturwissenschaftlern ist dieser Aspekt als "Rezeptionsästhetik" bekannt: Jede Interpretation geschieht in einem aktuellen geistigen (und damit auch semantischen) Umfeld (der Begriff "Öffentlichkeit" z.B. kann heute nicht mehr dasselbe bedeuten wie Anfang des letzten Jahrhunderts). In diesem Sinne kann eine Textinterpretation die Intentionen des Autors notwendig überschreiten, weil in der Lebenswirklichkeit Momente eingetreten sind, die er gar nicht voraussehen konnte. Dieser Aspekt ist charakteristisch für das Grundproblem der Jurisprudenz (und jeder auf kanonischen Texten beruhenden Disziplin): Texte, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt verabschiedet worden sind, sollen über einen langen, unbestimmten Zeitraum hinweg normativ wirken. Der ständigen Veränderung der als Interpretationshorizont fungierenden Alltagswirklichkeit könnte auf zweierlei Weise Rechnung getragen werden. Zum einen könnten alle Gesetze von Zeit zu Zeit in ihren Formulierungen aktualisiert werden. Das ist aus vielerlei Gründen unpraktikabel (so spricht nicht nur die nicht mehr überschaubare Fülle von Gesetzestexten dagegen, sondern auch die Probleme, die dann entstehen, wenn man mühsam errungene FormulierungsKonsense ständig wieder politisch zur Disposition stellt). Zum anderen könnte die Hauptlast der Rechtsetzung den Rechtsanwendern zugestanden werden, die auf nur wenigen Grundnormen und Verfahrensrichtlinien aufbauen; dies ist im angelsächsichen "case law" der Fall und widerspricht fundamental dem System des positivierten (gesetzten) Rechts bei uns. Das Problem ist also in einem positivistisch gedeuteten Rechtssystem "hausgemacht". Die Rechtsprechungspraxis zeigt, daß in der Gesetzesanwendung ein gerüttelt Maß an Rechtlifeaung und "Rechtrfortbildung" steckt. Da die Setzung von Recht in unserem Rechtssystem aber dem Gesetzgeber vorbehalten ist, ergeben sich für die Praxis der Jurisprudenz erhebliche Legitimations-Probleme und -Zwänge. Bei dieser Problemlage wird der erbitterte juristische Methodenstreit über die Abgrenzung der Rechtsanwendung von der Rechtrfortbildung, der den Grund für die Auseinandersetzung zwischen "subjektiver" und "objektiver" Interpretations-Theorie bildet, verständlich. Es sind letztlich verfassungstheoretische Motive, die ihren Motor bilden.61 61 "Die Geschichte des Streits zwischen subjektiver und objektiver Auslegungslehre zeigt m.E., daß verfassungstheoretische Erwägungen eine zentrale, bedeutungstheoretische Hypo-
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1. Die Rolle der Sprache im Recbt
Für Linguisten und Literaturwissenschaftler ist die Tatsache, daß Interpretation von Texten immer von subjektiven Sprachkenntnissen, Kommunikationserfabrungen, Sinnhorizonten und vielleicht auch Bedeutungsintentionen der Interpreten geprägt wenn nicht sogar bestimmt ist, kein gewichtiges Problem. Zwar zielt auch die Theorie und Methodik dieser Disziplinen auf die Erreichung eines möglichst großen Grades an Objektivität bei Bedeutungsdefinitionen und Textauslegung, doch ist die Erkenntnis herrschend, daß "objektive" Auslegung im strengen Sinne (also die Freilegung einer "wirklichen Bedeutung") nicht zu erreichen ist. Ob der Sinn eines Textes im Zuge seiner Interpretation "fortgebildet" wird (also den veränderten Deutungshorizonten und Sprachgebräuchen der Jetztzeit der Interpreten angepaßt wird) ist ein Problem allenfalls für historisch interessierte Forscher; zumindest besteht nicht das Bedürfnis, zwischen der Interpretation des "wirklichen historischen Textsinns" und "abweichender rezeptionsbedingter Sinnkonstitution" eine scharfe Grenze zu ziehen. Dieses Bedürfnis ist aber - wie gesehen aus positivistischen Gründen - in der juristischen Methodenlehre Grundlage aller Auseinandersetzungen.62 Da die Setzung des Rechts Aufgabe allein des Gesetzgebers ist, wurde die tatsächlich stattfindende richterliche Rechtsetzung als "Rechtsfortbildung" bezeichnet, um dadurch auszudrücken, daß Richter stets nur dann den vorhandenen gesetzlichen Regelungen Neues hinzufügen, wenn das bestehende Recht "Lücken" oder Unklarheiten aufweise. Die Rede von den "Gesetzeslücken" soll suggerieren, daß die richterliche Rechtsfortbildung quasi notwendig etwas ergänze, was vom System zwar vorgesehen gewesen sei, was der Gesetzgeber aber "vergessen" oder "übersehen" habe. Die Zulässigkeit dieses "Richterrechts" ist heftig umstritten. Anhänger der "subjektiven Lehre", die als Auslegungsziel den tatsächlichen Regelungswillen des konkreten historischen Gesetzgebers herausfinden wollen, begründen ihre Position stets mit dem Gesetzesbindungspostulat. Indes kann dieses verfassungsrechtliche Gebot nur dann als Argument für die subjektive Theorie dienen, wenn man an die FeststeIlbarkeit der historischen Textbedeutung glaubt. Anhänger der subjektiven Lehre tun also (aus linguistischer Sicht) das Richtige (Betonung des Gesetzesbindungspostulats, Infragestellung der richterlichen Rechtsfortbildung) mit den falschen Mitteln. Daraus folgt nun aber nicht, daß Anhänger der objektiven Lehre das Falsche (ungehemmtes Richterrecht) mit den richtigen Mitteln täten. Konsequent wäre es, als Gegenposition zur autorbezogen "subjektiven" Lehre, tbesen demgegenüber eine marginale Rolle gespielt haben.· Koch (in einer Rezension zu Hegenbarth 1982),2. 62 Nicht alle Juristen teilen dieses Bedürfnis; so Williams 1945, 302 (allerdings im angelsächsischen Rechtssystem): "Tbe distinction between tbe mechanical administration of fJXCd rules and free judicial discretion is thus a matter of degree, not the sharp distinction that it is sometimes assumed to be.·
1.1 Der Stellenwert der Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre
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eine intepretenbezogen subjektive Lehre zu formulieren. Eine solche Auslegungstheorie müßte dem Umstand Rechnung tragen, daß Textausle~ stets den subjektiven Bedeutungsintentionen der Interpreten ausgesetzt ist, und unter diesen Voraussetzungen das Postulat der Gesetzesbindung neu formulieren. 64 Stattdessen wird weiterhin die "objektive" Lehre vertreten, welche die subjektiven "Beigaben" der Interpreten zu negieren sucht,6S indem sie das Phantom der "objektiven Textbedeutung" kreiert; mit diesem Kniff gelingt es, Gerichtsentscheidungen, welche de facto über den Gesetzestext hinausgehen, als "Auslegungen" auszugeben, aus naheliegenden Gründen: "Die Vorgehensweise, materielle Rechtsfortbildungen als bloße Auslegung firmieren zu lassen, entbindet den Interpreten von der Aufgabe, seine Befugnis zur Rechtsfortbildung darzutun und den Vorschlag zur allgemeinen Diskussion zu stellen.,.66 Der Vorwurf der Verschleierung wird denn auch nicht selten erhoben.67 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die Auseinandersetzung um Rechtsauslegung und -fortbildung dort von besonderem Interesse, wo die Grenze zwischen ihnen mit linguistischen (oder auch für Linguisten interessanten) Begriffen bestimmt werden soll. "Die herrschende Meinung in der Methodenlehre macht einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Auslegung und Analogie (Rechtsfortbildung). Abgrenzungskriterium ist die 'Grenze des möglichen Wortsinns'. Die Schwierigkeiten, diese Grenze zu bestimmen, werden erklärt durch die Lehre vom Begriffskem und Begriffshof.,,68 Der Begriff der Analogie, der bisher in der Sprachwissenschaft - im Gegensatz zu ihren Anfängen im 18. Jahrhundert - noch kaum eine Rolle spielt, wird dort von Interesse,69 wo das Befolgen von Regeln des Sprachge63 "Fragwürdig ist allein die Unkontrolliertheit [von Abweichungen der Gesetzesauslegung vom Gesetz, 0.8.]. Dies ist in erster Linie ein Problem der Abgrenzung von 'Auslegung' und 'Rechtsfortbildung', einer Abgrenzung, deren grundlegender Charakter, so scheint es jedenfalls, nicht immer hinlänglich gewürdigt wird." Baden 1m, 17. 64 In diese Richtung geht Müller 1984 und 1990. 6S "Die Sache kann niemals für sich selbst sprechen. Der lapidare Verzichtstil in der dritten
Person hat wesentlich dazu beigetragen, daß Generationen von Juristen glaubten, das Geschäft der Subsumtion funktioniere als rein logischer Vorgang, ohne zu erkennen, wieviel an Vor-Urteilen, Vor-Verständnis, schöpferischer Gestaltung, aber auch blanker Willkür in diesen Vorgang - notwendig - einfloß und weiter einfließen wird." Haft 1978, 19. 66 Baden 1m, 17. 67 "Meist aber verschleiern sie [die Gesetzesausleger, 0.8.], teils bewußt, teils unbewußt, ihren eigenen Willen: Sie überdecken ihn durch kühne Begriffskonstruktionen oder geben ihn als den Willen des Gesetzgebers aus. Scheinbegründungen [...]." aauss 1963, 392.
68 Schiffauer 1979, 36 - Vgl. auch Baumann 1958,395: "Auch wenn man sich zur Grenze der natürlichen Wortbedeutung bekannt hat, ist noch nicht klar, wie diese Grenze näher zu bestimmen ist." 69 So in der Konventionstheorie von Lewis 1975; vgl. dazu Busse 1987, 176 ff.
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1. Die Rolle der Sprache im Recht
brauchs (d.h. auch von Bedeutungsregeln) als das Handeln nach Analogien beschrieben werden kann. Im Zentrum steht allerdings der Begriff der "Wortlautgrenze" und damit die für Sprachwissenschaftler ungewöhnliche Behauptung, es könne eine solche Grenze (gegenüber den Text "übersteigenden" Interpretationen) auch tatsächlich und trennscharf gezogen werden. Der Terminus "Wortlautgrenze" ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen würde das Feststellen einer "Grenze des möglichen Wortsinns", die ja als "Grenze der Auslegung", die nicht überschritten werden darf, fungieren soll, selbst bereits die Kenntnis des festgestellten Wortsinns voraussetzen; was erst herausgefunden werden soll, die Bedeutung in ihren "Grenzen", würde also implizit bereits vorausgesetzt, was eine logische Unmöglichkeit darstellt. Hier wird selbst schon im Grundbegriff der Position, welche die Einwirkungen der Interpretation auf das zu Interpretierende gerade negieren will, deutlich, daß Vor-Urteile, Vor-Meinen stets schon in die "Feststellung des Wortsinns" eingehen. Zum anderen fehlt es aus linguistischer Sicht an eindeutigen Kriterien, nach denen beurteilt werden könnte, wo eine "Grenze des Wortsinns" gezogen werden müßte; d.h. die eindeutige FeststeIlbarkeit des Wortsinns, wenigstens aber die Möglichkeit einer starren Grenzziehung, steht in Zweifel. Es verwundert deshalb nicht, daß Rechtstheoretiker, die an die FeststeIlbarkeit des Wortsinns glauben, weniger auf linguistische als vielmehr auf logisch orientierte Sprachtheorien zurückgreifen, welche den Anschein vermitteln, bessere Abgrenzungskriterien bereitstellen zu können. Wie wir bei der Erläuterung der "grammatischen Methode" gesehen haben, ist dieser Glaube an die eindeutige FeststeIlbarkeit sprachlicher Bedeutungen auch in neueren Methodiken noch vorhanden; so z.B. bei Koch und Rüßmann, für die es "nur zwei Alternativen der Interpretation gesetzlicher Ausdrücke" gibt: "In Betracht kommt entweder eine empirische Feststellu1l.ß des eingespielten Sprachgebrauchs, oder eine Festsetzung der Bedeutung." Allerdings geht Koch zwar von der prinzipiellen FeststeIlbarkeit von Wortbedeutungen aus, rechnet aber damit, daß dies in vielen Fällen aufgrund der Vagheit (Mehrdeutigkeit ete.) von Gesetzesformulierungen nicht gelingen könne: "Da die Richter trotz der mit Vagheit und Porosität verbundenen Probleme keine Fälle als unentscheidbar zurückweisen, entscheiden sie in den semantisch gesehen unentscheidbaren Fällen nicht in Bindung an das Gesetz; sie setzen vielmehr die Bedeutung des Gesetzes, dem entsprechend sie dann entscheiden, allererst fest."71 Ob diese Entgegensetzung von Bedeutungsfeststellung und Bedeutungsfestsetzung so aufrechterhalten werden kann, wäre linguistisch noch näher zu untersuchen; festzuhalten bleibt an dieser Stelle, daß aus Sicht einiger juristischer Methodiker Gesetzesausle70 Koch/Rüßmann 1982, 163.
71 Koch 1975,41.
1.1 Der Stellenwert der Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre
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gung zwar notwendig Bedeutungsinterpretation voraussetzt, aber sich auch nicht darin erschöpft. Wenn Juristen wie Koch also die Semantik zu Rate ziehen, so tun sie dies, um zu unterstreichen, daß Aussagen über den "Wortlaut" von Gesetzestexten semantische Argumente voraussetzen;72 damit richten sie sich gegen diejenigen Kollegen, die das Erschließen des "Wortsinns" als unproblematisch voraussetzen, indem sie ohne semantische Begründungen im echten Sinne von einer vorgängigen Verständlichkeit des Normtextes ausgehen, hinter der sich lediglich das persönliche Sprachverständnis der Auslegenden verbirgt. (Für diese Juristen ist eine Norm eigentlich, wenn die "Auslegung" beginnt, immer schon verstanden; Rechtsanwendung hat dann nichts mehr mit "Interpretation" zu tun.) Semantik würde in dieser Konzeption ZU einem wichtigen Teil des juristischen Geschäfts, ja, Rechtsauslegung unterschiede sich kaum von linguistischer Forschung, wenn die Tätigkeit der Juristen so beschrieben wird: "Der Richter sucht nach den semantischen Regeln, welche die im gesetzlichen Tatbestand und in der Sachverhaltsschilderung verwendeten sprachlichen Ausdrücke (Prädikate) so miteinander verbinden, daß die Rechtsfolge eine logische Folge aus Gesetzen, semantischen Regeln und der Sachverhaltsbeschreibung ist. Die Juristen pflegen diese Suche als Auslegung zu bezeichnen:73 Ganz abgesehen von der noch unentschiedenen Frage, ob semantische Aussagen (Aussagen über Bedeutungsregeln) überhaupt in der Eindeutigkeit zu treffen sind, daß aus ihnen die "Rechtsfolge logisch folgt", wird hier an dem Subsumtionsautomatismus des Rechtspositivismus und der "objektiven Auslegung" festgehalten, der von anderen Autoren gerade mit semantischen Argumenten erschüttert wird. Die Rolle der Semantik in der juristischen Auslegungspraxis ist also noch durchaus unklar und wird erst nach ausführlicher Analyse der linguistisch argumentierenden Arbeiten zur Auslegungsmethodik näher einzuschätzen sein. Daß bei den Juristen selbst noch keine volle Klarheit über die Aufgaben linguistischer Argumente im Methodenstreit besteht, wird z.B. klar, wenn selbst der Autorenkollege des zuletzt zitierten Autors die Grenzen semantischer Verfahren im Akt der Rechtsanwendung betont: "Die Feststellung des Bedeutungsgehalts des Gesetzes läßt grundsätzlich keine Prognose über zukünftiges richterliches Entscheiden zu."74 Wenn also der Aspekt der Bedeutungsfeststellung zwar das Interesse des Linguisten erregt, sein Stellenwert für die Juristen aber durchaus noch ungeklärt ist, ist der Gesichtspunkt der Bedeutungsfestsetzung bei Juristen unumstritten, für den Linguisten aber durchaus neu bzw. linguistisch 72 So könnte nach Koch 1m, 58 "Gesetzesbindung" heißen: "Eine Entscheidung soll im Einklang mit dem semantischen Gehalt des Gesetzes stehen." 73 Rüßmann 1978, 222.
74 Koch 1m, 56.
1. Die Rolle der Sprache im Recht
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wenig erforscht. Zwar ist in der politischen Semantik7S schon viel über semantische Kämpfe und Durchsetzungsgefechte von Begriffsbedeutungen in der Politik nachgedacht und geschrieben worden, noch kaum aber auf die juristischen Bedeutungsfestsetzungen eingegangen worden, die für Juristen anscheinend selbstverständlich sind: "Gleichgültig ob der Richter mehr feststellt oder festsetzt, ihm steht die Definitionsmacht zu, also die Kompetenz, die Bedeutung der Gesetzesausdrücke verbindlich festzulegen. "76 Von dieser Kompetenz wird, so scheint es, fleißig und selbstbewußt Gebrauch gemacht. Wenn unsere Überlegungen über die Rolle der Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre eine erstaunliche Fülle von Berührungspunkten entweder in der Sache oder dort, wo Juristen selbst diese Überschneidungen behaupten, ergeben haben, so zeigt dies zur Genüge, daß die Jurisprudenz als Ganze und die juristische Methodenlehre im Besonderen es wert sind, die Aufmerksamkeit der Linguistik zu finden. Dieses Ergebnis erscheint auf den ersten Blick für die Linguisten schmeichelhaft, können sie doch mit ihren Arbeitsergebnissen und ihrem begrifflichen Instrumentarium einer Disziplin zur Seite treten, in der nicht nur mit und an Sprache gearbeitet wird, sondern in der auch sprachliche Fakten gesetzt werden. Doch sei vor einer vorschnellen Euphorie gewarnt; noch ist nämlich in der juristischen Methodenlehre keineswegs ausgemacht, ob sprachbezogene Argumente überhaupt den Kernbereich juristischer Rechtsanwendung ausmachen können: "Unter 'Methoden' des Verfassungsrechts werden bis heute nicht die tatsächlichen Arbeitsweisen verfassungsrechtlicher Normkonkretisierung im umfassenden Sinn verstanden, sondern allein die überlieferten Kunstregeln der Normtextinterpretation. Methodik gilt als Methodik der Auslegung von Sprachtexten. Doch ist eine Rechtsnorm mehr als ihr Wortiaut."77 Wenn also in dieser Arbeit sprachtheoretische (d.h. v.a. semantische) Argumente im juristischen Methodenstreit aus linguistischer Sicht auf ihre korrekte Anwendung und Haltbarkeit geprüft werden, dann darf dieses "mehr" nicht aus dem Blick geraten; nur dann kann linguistische "Hilfestellung" den juristischen Auslegungsproblemen wirklich gerecht werden und als solche auch von der Rechtswissenschaft angenommen werden.
7S vgl. dazu den Überblick in Heringer 1982 und Straßner 1987; 5.a. Busse 1988d, 93 ff., 1991b und 1991c. 76
Wank 1985, 66.
77 Müller 1990, 73f.
1.2 Berührungspunkte zwischen Jurisprudenz und Linguistik
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1.2 Berührungspunkte zwischen Jurisprudenz und Linguistik: Aufgaben und Themen einer möglichen "Rechtslinguistik"
Die Darstellung der sprachlichen Implikationen von juristischer Auslegungstätigkeit und ihrer Methodik hat gezeigt, daß es vielfältige Punkte gibt, an denen sprachwissenschaftliche oder sprachwissenschaftlich relevante Begriffe, Phänomene und Probleme in der rechtswissenschaftlichen Diskussion eine zentrale (oder wenigstens unumgängliche) Stellung einnehmen. Angesichts dieser Tatsache und derjenigen, daß sprachwissenschaftliche und sprachphilosophische Argumente seit beinahe zwei Jahrzehnten in der juristischen Methodenlehre einen beachtlichen Raum einnehmen, erstaunt es, daß Sprachwissenschaftler auf dieses Angebot der Zusammenarbeit bisher kaum eingegangen sind. Von einer existierenden "Rechtslinguistik" (wenn man denn diesen anspruchsvollen Terminus überhaupt verwenden will) kann man auch anderthalb Jahrzehnte, nachdem zum ersten Mal dieses Wort gefallen ist, nicht sprechen. Nach Adalbert Podlech, der 1976 das erste Mal von ihr sprach, kann man "als Rechtslinguistik die Gesamtheit der Untersuchungsmethoden und -ergebnisse bezeichnen, die die sich aus der notwendigen Sprachgebundenheit rechtlicher Regeln ergebenden Probleme betreffen und die den Anforderungen der heutigen Linguistik [...] genügen.H78 Wenn ich diese Definition hier versuchsweise übernehme, dann muß ich gerechterweise darauf hinweisen, daß ich unter "Anforderungen der heutigen Linguistik" nicht dasselbe verstehe wie Podlech im Jahr 1976. Podlech hatte sehr konkrete Vorstellungen darüber, in welcher Weise die damals in der Linguistik herrschende "Generative Transformationsgrammatik" (bzw. ihre Weiterführung in einer "generativen Textgrammatik") und verwandte Ansätze der strukturalistischen Linguistik bei der Formalisierung und Automatisierung juristischer Subsumtionsprozesse behilflich sein sollten. Die deutsche Sprachwissenschaft hat sich seither durch die Kritik an den Verkürzungen des Strukturalismus und die neuentstandenen pragmatischen Strömungen so sehr weiterentwickelt und verändert, daß das Verhältnis von Rechts- und Sprachwissenschaft in einem völlig neuen Licht gesehen werden muß. Podlech beurteilte die Ausgangslage noch skeptisch: "Eine Rechts1inguistik im beschriebenen Sinn gibt es noch nicht. Weder gibt es einen rechtswissenschaftlich anerkannten Kanon linguistischer Methoden zur Diskussion und Lösung rechtlicher Probleme, noch gibt es einen Bestand von wissenschaftlichen Ergebnissen, auf die Rechtswissenschaftier bei ihrer Arbeit zurückgreifen können."79 Dieses Urteil hat allerdings eine Crux. Wie und an-
78 Podlech 1976, 108.
79 Podlech 1976, 108.
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1. Die Rolle der Sprache im Recht
hand welcher Kriterien soll beurteilt werden (können), welche sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse, Modelle, Theorien einen "rechtswissenschaftlich anerkannten Kanon linguistischer Methoden" bilden? Die modeme Sprachwissenschaft ist in sich viel zu heterogen, als daß von einem für alle Strömungen gleichermaßen gültigen "Kanon" an Methoden (die ja immer petrefizierte Theorien sind) gesprochen werden könnte; auch widerspricht es dem pluralistischen Selbstverständnis der Linguistik (wie anderer Geisteswissenschaften) die Vielfalt ihrer Ergebnisse und Sichtweisen in das Prokrustesbett einer umfassenden und systematisierten Gesamtschau zu pressen. Wenn also schon von linguistischer Seite aus dieser Kanon nicht bereitsteht und nicht bereitstehen kann, dann könnte noch die Schlupftür einer "rechtswissenschaftlich anerkannten" Auswahl linguistischer Methoden und Konzepte offen sein, welche als Grundlage einer Rechtslinguistik in Podlechs Sinn dienen könnte. Die rechtswissenschaftliche Literatur zu sprachwissenschaftlich relevanten Fragen zeigt indes, wie ich in dieser Arbeit nachweisen möchte, daß Juristen unter "rechtswissenschaftlich anerkannten" linguistischen Theorien und Methoden etwas jeweils sehr Verschiedenes verstehen, wobei sie die Konkurrenz der sprachwissenschaftlichen und -philosophischen Strömungen, Schulen und Modelle getreulich abbilden. Die Rezeption linguistischer Erkenntnisse in der juristischen Diskussion folgt den Vorgaben der jeweils eingenommenen rechtstheoretischen und methodischen Position, nicht umgekehrt (verständlicherweise). Daß es jemals zu einer Einigung auf einen "rechtswissenschaftlich anerkannten Kanon linguistischer Methoden" kommen könnte, glaube ich nicht; zuerst müßte es auf juristischer Seite zu einer Einigung darüber kommen, was die gültige theoretische Konzeption von Recht, Nonn, Rechtsauslegung und Auslegungsmethodik ist. Die Beurteilung der Chancen, ob es jemals zu einer solchen einheitlichen Rechtstheorie kommt (deren Wünschbarkeit ich bezweifle) möchte ich den juristischen Leserinnen und Lesern überlassen. Die Erwartungen, welche aus der Rechtswissenschaft an Linguistik und Sprachphilosophie gerichtet werden, sind durchweg hoch. Die Bindung des Rechts an Sprache und die Vermutung von "Strukturanalogien" haben, wie wir gesehen haben, zu der Behauptung geführt, daß der Prozeß der RechtsAuslegung sich nicht prinzipiell von anderen Fällen der Sprachverwendung unterscheide. Wenn im folgenden die juristische Rezeption von sprachtheoretischen Erkenntnissen und Erklärungsansätzen einer genauen Analyse aus sprachwissenschaftlicher Sicht unterzogen wird, dann steht diese Behauptung stets im Hintergrund; dann dient die Analyse auch dazu, möglichen Strukturanalogien ebenso nachzuspüren, wie den möglicherweise gravierenden Unterschieden, die das Recht doch ZU einem ziemlich eigenständigen Bereich der "Sprachverwendung" machen könnten. Zudem gilt es, die linguistischen Theorien und Termini auf die rechtswissenschaftliehe Problematik und
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4S
ihre Begrifflichkeit abzubilden. Schon in diesem Übertragungsprozeß, einige sprachgebundene Aspekte der juristischen Aufgabe und Tätigkeit mit sprachwissenschaftlichen Begriffen neu zu formulieren, könnte ein Erkenntnisgewinn stecken, der über die bisherigen Bemühungen von Seiten der Juristen hinausreicht. Denn "Linguistik in der Rechtswissenschaft" oder "linguistische Untersuchung der Sprache im Recht" (wenn man eine dieser etwas bescheideneren Formulierungen wählen will) ist bisher fast nur von Juristen betrieben worden; von Seiten der Sprachwissenschaft steht ein Beitrag noch aus. Er soll in dieser Arbeit in einer ersten Annäherung geleistet werden. Als Berührungspunkte zwischen Linguistik und juristischer Methodenlehre waren die Begriffe Normativität, Bedeutung und Interpretation genannt worden. Bildet man die bei der Darstellung der juristischen Methoden-Kontroversen deutlich gewordenen Aspekte auf sprachwissenschaftliche Problemstellungen ab, dann kommt man zu einer etwas differenzierteren Aufschlüsselung der mit linguistischen Mitteln bearbeitbaren Phänomene. Der Aspekt der Normativität, den schon Hartmann auf den linguistischen Regelbegriff bezogen hat, umgreift als juristischer Grundbegriff den Charakter und das Wesen des Rechts selbst. Es ist nicht zu hoffen, daß auf der derzeitigen Ebene einer ersten Annäherung die Linguistik dazu einen entscheidenden Beitrag liefern kann. Wenngleich aus Überlegungen zum Regelbegriff in der Sprachtheorie wichtige Rückschlüsse auf das Phänomen der Regelhaftigkeit menschlichen Verhaltens schlechthin, und damit auch für den juristischen Normbegriff, gezogen werden könnten,80 will ich dieses Problem in dieser Arbeit ausklammern, da es in komplizierte rechtsphilosophische Zusammenhänge führt, die einer eigenen Monographie wert wären und die allein mit linguistischen Mitteln nicht mehr bearbeitet werden können. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, daß auch linguistische Überlegungen zum Problem der Normtextauslegung zu einer neuen Sicht dessen beitragen könnten, was Rechtsnorm und v.a. Normanwendung heißen kann. Dies gilt z.B. für die Frage, ob eine Norm mit ihrer sprachlichen Formulierung schon fertig und anwendungsbereit vorliegt oder ob sie sich im Prozeß der Normtextauslegung erst konstituiert; d.h. ob man zwischen Normtal und daraus zu erschließender Norm einen Unterschied machen muß.81 Argumente dafür sind aus der linguistischen Analyse des Vorgangs der "Auslegung" gewinnbar; was Juristen Auslegung nennen, fassen Sprachwissenschaftler unter den Begriffen Verstehen und Interpretation. Die Hermeneutik hatte82 in ihren Ver80 Ich habe dies in Busse 1988c zu zeigen versucht, wo ich Wittgensteins Regelbegriff auf seine Verwendbarkeit für die juristische Auslegungslehre, aber auch für den Normbegriff schlechthin überprüft habe. 81 Dies fordert z.B. Müller 1976, 73f., 125, ISS u.ö.; vgi. auch Müller 1984, 147ff.
82 Gadamer 1960, 312 ff.
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stehensbegriff schon das Phänomen der "Applikation" aufgenommen. Faßt man den Begriff des Verstehens unter Rückgriff auf jüngere sprachtheoretische Erkenntnisse neu, dann kommt der aktive Zug, der jedem Verstehen anhaftet, d.h. mit Bedeutungswissen oder -intentionen des Interpreten geladen zu sein, zum Vorschein. "Interpretation" hat für die Philologen diesen Aspekt immer schon in sich getragen, doch wurde er im Begriff der "Auslegung" in der Jurisprudenz häufig negiert. Faßt man "Interpretation" als das aktive Herstellen einer Textbedeutung im Rahmen einer methodisch geregelten (Auslegungs-)Praxis, dann ist die anzuwendende "Norm" tatsächlich mehr als ihre pure Formulierung. Ein solcher Verstehensbegriff verweist notwendig auf den Begriff der Be-
deutung, welcher auf juristischer Seite durch "Wortlaut, Wortsinn" ersetzt wird. Anleihen bei den verschiedensten Bedeutungstheorien machen deshalb auch den Großteil rechtslinguistischer Überlegungen aus. Daher sollen die verschiedenen von Juristen übernommenen Bedeutungsbegriffe in dieser Arbeit dargestellt und einer Kritik aus neuerer sprachwissenschaftlicher Sicht unterzogen werden. Dabei wird der aktive Zug jeder Bedeutungskonstitution im Mittelpunkt stehen und besonders das Konzept der "Wortlautgrenze" auf seine Haltbarkeit aus bedeutungstheoretischer Sicht zu prüfen sein; es steht in Frage, ob eine Grenze zwischen dem sog. "Bedeutungskem" und "Bedeutungshof überhaupt gezogen werden kann, wie es Juristen behaupten und fordern. Wenn sich sprachlich vermittelter Sinn nämlich stets aufgrund einer sinnaktivierenden Leistung der verstehenden/interpretierenden Subjekte konstituiert, wobei die "Bedeutung" aufgrund der Geder Regelbefolgung innewohnenden) Analogiebildung je verschieden realisiert wird, wenn also die Auffassung von der Existenz fester, "objektiver" Bedeutungen als irreführend herausgestellt wird, dann kann von einer festen, eindeutig benennbaren "Grenze des Wortlauts" nicht mehr gesprochen werden. Damit würde aber auch die Unterscheidung zwischen Bedeutungsfeststellung und Bedeutungsfestsetzung, mit welcher Rechtstheoretiker auf das Verschwinden des festen Halts der "Wortlautgrenze" reagieren, problematisch. Um diese Unterscheidung mit den mit ihr verfolgten Intentionen zu verstehen, müßte der Frage nachgegangen werden, was "Bedeutungsfeststellung" im sprachwissenschaftlichen Sinn heißen kann und welcher Methoden sie sich zu bedienen hätte. Dies wirft zwangsläufig die Frage auf, ob es bei der "Bedeutungsfeststellung" einer Rechtsnorm-Formulierung um die sog. "sprachgebräuchliche" Bedeutung geht, oder ob es sich um eine fachsprachliche Bedeutung einer ausdifferenzierten juristischen Fachsprache handelt, deren Bedeutung nur noch innerfachlich festgestellt werden kann. In diesem Zusammenhang wären auch Bemühungen um eine "Präzisierung" der Rechtssprache zu prüfen, die sich auch heute noch an einem Ziel ausrichten, welches Weck zu Anfang des Jahrhunderts so formulierte: "Jede Verbesserung der Gesetzesspra-
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che bedeutet also nicht nur eine Klärung des Rechts, sondern auch eine Entlastung des Richters von der Arbeit der Auslegung.,,83 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht sind solche Wünsche, welche zum Richter als "Mund des Gesetzes", als "Subsumtionsautomat" zurückführen sollen, zwar verständlich, aber in ihrer Realisierbarkeit illusionär. Ein Textverstehen, das Argument in einem mit erheblichen Rechtsfolgen belasteten Rechtsprechungsverfahren sein soll, lädt sich erhebliche Begründungslasten auf; von dieser "Arbeit der Auslegung" kann kein sprachwissenschaftliches Argument entlasten. Im Gegenteil sieht es eher so aus, als würde ein Emstnebmen sprachwissenschaftlicher Einsichten über den Charakter der Rechts-Anwendung den Auslegenden zusätzliche Begründungslasten aufbürden. Der in der neueren, pragmatischen Linguistik gebräuchlich gewordene Begriff der (Sprecher- )Intention verweist auf den juristischen Zielbegriff "Wille des Gesetzgebers", als dem zu verwirklichenden Auslegungsresultat. Gerade weil auch in der sprachtheoretischen Diskussion die Sprecher-Intention oft mißverstanden wird als etwas Greitbares, das mit sprachanalytischen Mitteln exakt beschrieben werden könne, ist eine Klärung des Intentionsbegriffs notwendig, um falsche Analogiebildungen zwischen "Wille des Gesetzgebers" und "Sprecher-Intention" zu vermeiden. Dabei wäre auch die Rolle zu klären, die der Rückgriff auf Autor-Intentionen im Akt des Verstehens (der Interpretation) generell spielt. Wenn "Autor-Intentionen" bei Interpreten nämlich lediglich in Form von Unterstellungen fungieren, die als Resultat ihres je subjektiven Sprach- und Weltwissens ebenso wie die daraus abgeleiteten Textbedeutungen relativ zu Kontexten, Deutungshorizonten und Verstehens-Intentionen sind, dann verliert auch der "Wille des Gesetzgebers" als Auslegungsziel und Rechtfertigungsgrund seine Funktion. Die linguistische Beschreibung des (Norm-)Textverstehens greift damit notwendig ein in die juristische Auseinandersetzung zwischen "subjektiver" und "objektiver" Auslegungslehre, nämlich in das Problem, ob unter der durch die Interpretation zu erzielenden "Textbedeutung" die "ursprüngliche Autor-Intention", oder ein "objektiver Textsinn" zu verstehen ist. Die "objektive Lehre" wirft das in den Philologien und der Hermeneutik geläufige, aber aus linguistischer Sicht bisher wenig behandelte Problem der Eigenständigkeit eines Textes als Auslegungssubstrat, d.h. des Werk-Charakters aller verschriftlichten sprachlichen Äußerungen, auf. Darüber hinaus legt der Aspekt der "systematischen Auslegung" eine Bezugnahme auf die Ergebnisse und Theoreme der in der Sprachwissenschaft noch neueren Textlinguistik nahe; Begriffe wie Textstruktur, Textkohärenz, Textbedeutung, Kotext wären auf ihre Verwendbarkeit bei der Lösung rechtslinguistischer Probleme zu prüfen. Insbesondere wäre der Frage nachzugehen, ob Gesetze als kohärente "Texte" im Sinne der Textwis83 Weck 1913, 76.
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senschaften aufgefaßt werden dürfen, wobei es v.a. darum geht, welche Strukturen (etwa der wechselseitigen semantischen Beeinflussung) noch mit textlinguistischen Mitteln beschreibbar sind, und welche (systematischen) Zusammenhängen den sprachwissenschaftlich faßbaren Bereich übersteigen. In diesem Problemkomplex spielt auch der Begriff des (Äußerungs- bzw. Verstehens- )Kontexts eine Rolle, dessen Funktion innerhalb einer Analyse der sprachlichen Prozesse in der Rechtsanwendung untersucht werden müßte. Der traditionelle Bedeutungsbegriff schränkte die "Bedeutung" sprachlicher Zeichen und Syntagmen auf einen engen Ausschnitt merkmalsemantisch beschreibbarer Sinnmomente ein. Dieses Verfahren, welches in der Lexikographie noch funktional sein mag, blendet eine Menge sinnrelevanter Faktoren aus der "Bedeutung" aus, die in der faktischen sprachlichen Verständigung von den Beteiligten als selbstverständliches Wissen vorausgesetzt werden, das gerade darum selten ins volle Bewußtsein dringt. Solche Wissensmomente bilden historisch gesehen (d.h. auf den Zeitpunkt der Texterstellung bezogen) Äußerungskontexte, welche auf die sprachliche Form des historisch Gemeinten einwirken; jetztzeitlich, d.h. auf den Zeitpunkt der Interpretation bezogen, bilden sie Deutungshorizonte, welche das Textverstehen steuern bzw. beeinflussen. Schon auf Individuen bezogen und zeitgleich sind Deutungshorizonte niemals hundertprozentig deckungsgleich; fallen Äußerungskontext und Interpretationskontext aber zeitlich stark auseinander, dann kann u.U. noch nicht einmal von einer Konvergenz die Rede sein. Die "objektive Auslegung" will diesem Gesichtspunkt gerecht werden, indem sie dem Interpretationskontext den Vorrang einräumt (den sie freilich hinter der Rede von der "objektiven" Textbedeutung versteckt). Die "subjektive Lehre" will die historischen Äußerungskontexte auswerten und setzt sich damit der Frage aus, ob historische Sinnhorizonte überhaupt noch einigermaßen verläßlich rekonstruiert werden können. Dies ist eine Frage, welche auch in der historischen Semantik eine große Rolle spielt, deren Methodenverständnis zur Beantwortung der Frage herangezogen werden kann, ob sich praktische Rechtsanwendung solcher bedeutungsgeschichtlichen Arbeitsweisen unterziehen kann. Wenn bei allen auslegungsmethodischen Diskussionen der Rechtswissenschaft das Problem der Unterscheidung von Rechtsauslegung und Rechtsfoltbildung die zentrale Rolle spielt, dann wäre auch dies ein Thema für die sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rechtswissenschaft. Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß der Begriff der Analogie auch in der Sprachwissenschaft eine Rolle spielt. Unter Rückgriff auf sprachtheoretische Definitionen des Regelbegriffs würde es vor allem darum gehen, ob der Bezug auf "Präzedenzen" (hier nicht im juristischen Sinne gemeint), d.h. auf Analogiebildung, im sprachlichen Verstehen überhaupt umgangen werden kann. Der juristische Analogie-Begriff könnte dann einer Neubewertung unterworfen werden, welche das Aufweichen der stren-
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gen Trennung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung zum Ergebnis haben kann. Die bisher dargestellten Berührungspunkte zwischen Rechtswissenschaft und Sprachwissenschaft betreffen vor allem die Probleme, welche im Rahmen der juristischen Auslegungslehre angesprochen wurden. Damit sind bei weitem nicht alle Punkte erschöpft, welche aus linguistischer Sicht in der Jurisprudenz von Interesse sind. Genannt sei hier stellvertretend nur das vom Standpunkt der Sprechakttheorie interessante Problem der Rechtsakte; schließlich hatte die heutige Sprechakttheorie einen ihrer Ursprünge in rechtstheoretischen Überlegungen.84 Relevant könnte die Sprechakttheorie z.B. bei der juristischen und linguistischen Bewertung von Äußerungsdelikten werden. - Eine "Rechtslinguistik", die diesen Namen verdiente, müßte sich mit all diesen (und möglichen weiteren, bisher nicht in den Blick geratenen) Problemfeldern auseinandersetzen. Dafür kann im Rahmen dieser Arbeit nur ein erster orientierender Einstieg geliefert werden.85 Der Sprachwissenschaft und der Sprachphilosophie wurde von juristischer Seite, wie wir gesehen haben, eine hohe Relevanz eingeräumt. Sehr weit geht dabei Wittmann: "Die Rechtswissenschaft ist daher nicht nur für die Handhabung einzelner Begriffe, sondern auch für die Rationalitätskontrolle ihrer Entscheidungsverfahren auf den Dialog mit der modemen Sprachphilosophie angewiesen."86 Ich vermag an dieser Stelle noch nicht auszumachen, ob die vorliegende Arbeit solchen Ansprüchen gerecht wird; ich kann nur anmerken, daß "Rationalitätskontrolle" ein Ziel ist, dem ich meine Bemühungen um Klärung rechtslinguistischer Fragen gerne und vor allem unterordnen würde. Wenn im folgenden den Sprachauffassungen nachgespürt werden soll, die in der juristischen Diskussion über das Verhältnis von Recht und Sprache eine Rolle gespielt haben und spielen, so sind dazu zwei einschränkende Bemerkungen zu machen. Zum einen beschränkt sich die Darstellung in dieser Arbeit (aus den eingangs dargelegten Gründen) weitgehend auf Beiträge, die im Zusammenhang der juristischen Methoden- bzw. Auslegungslehre stehen, d.h. auf Fragen der Guristischen) Semantik. Andere Beiträge, die sich etwa den Themen Stil der Rechtssprache, Rechtssprache als Fachsprache, Verständigungsprobleme der Rechtssprache widmen, werden hier ausge-
84 Dies gilt nicht nur für den heute als Erfinder der Sprechakttheorie geltenden J.L Austin (1962), der zur Erläuterung seines Sprechakt-Begriffs öfter auf juristische Beispiele zurückgreift, sondern schon für den Rechtstheoretiker Adolf Reinach, auf dessen Theorie der sozialen Akte Burkhardt (1986) in seiner Arbeit zur Sprechakttheorie hinweist. 85 Vgl. aber meine Arbeiten Busse 1991a und 1992, in denen versucht wird, Antworten auf die in der vorliegenden Arbeit aufgeworfenen rechtssemantischen und auslegungstheoretischen Fragen zu geben.
86 Wittmann 1986, 371.
4 Busse
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klammert. Zum anderen werden in dieser Arbeit nur solche Auffassungen, Theorien und Modelle behandelt, welche Sprache als Sprache mehr oder weniger explizit zum Thema haben. Ausgeklammert bleiben daher u.a. auch rein logisch (syllogistisch) orientierte Ansätze, da in ihnen nicht erkennbar ist, daß die Sprache - d.h. vor allem das Problem der Bedeutung - auch als solche(s) zum Thema wird. Der damit eingenommene Standpunkt beruht auf der Überzeugung, daß sich Sprache nicht auf formale Logik reduzieren läßt, daß rein logische Theorien also nicht Reflexionen über die Rolle der Sprache in der juristischen Auslegung ersetzen können. Sofern logisch orientierte Ansätze als Sprachtheorien intendiert sind (dies gilt für die Logische Semantik, welche in der juristischen Rezeption der Sprachphilosophie eine zentrale Stellung einnimmt), werden sie selbstverständlich ausführlich gewürdigt. Abweichend vom vorher Gesagten werden hermeneutische Ansätze auch dann behandelt, wenn ihr sprachtheoretischer Beitrag nicht immer deutlich zu Tage liegt. Dies reagiert zum einen auf die vorrangige Bedeutung der Hermeneutik in der älteren wie neueren juristischen Methodenlehre und trägt zum anderen dem Umstand Rechnung, daß Hermeneutik nicht nur praktisch, sondern auch in ihren theoretischen Fundamenten stets auf Sprache und die explizite Beachtung ihrer Bedingungen verwiesen ist (wenngleich dies in ihren theoretischen Entwürfen nicht immer hinreichend deutlich gemacht wird). Mit den genannten Einschränkungen ist ein möglichst vollständiger Überblick über diejenigen Sprach- bzw. Bedeutungsauffassungen, welche in der Auslegungslehre eine Rolle spielen, angestrebt und, wie ich hoffe, auch weitgehend verwirklicht. Vollständigkeit kann indes nicht heißen, daß alle einzelnen eigenständigen juristischen Ansätze und Überlegungen zur Sprache und alle Rezeptionen linguistischer/philosophischer Theorien in all ihren Verästelungen, Ideosynkrasien und Irrtümern hier nachvollzogen und dargestellt werden können; eine Schwerpunktbildung mußte allein schon deshalb erfolgen, um die Darstellung nicht zu überfrachten. Das Darstellungsproblem bei einer solchen Stoffülle ist nicht zu unterschätzen: zur Wahl standen eine chronologische Darstellung und die systematische Gliederung. Wenngleich eine Chronologie der juristischen Sprachtheorie die Sympathie des wissenschaftshistorisch Interessierten für sich gehabt hätte (die Darstellung von Anachronismen bzw. Parallelen zur linguistischen Theoriebildung wäre eine reizvolle Aufgabe), so ist die Entscheidung doch zugunsten einer systematischen Darstellung ausgefallen, wobei Gliederungskriterium die sprachtheoretische Richtung (oder "Schule") ist. Die Gliederung nach linguistischen Gesichtspunkten liegt nicht nur deshalb nahe, weil ein Linguist diese Arbeit verfaßt hat, sondern auch, weil der Hauptakzent der Arbeit auf den juristischen Sprach- bzw. Bedeutun&\"auffassungen liegt, und nicht auf den juristischen Methodenproblemen, wenngleich beide Aspekte eigentlich, wie die
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Lektüre gezeigt hat, untrennbar verknüpft sind. Diese Divergenz zwischen linguistischem Interesse und den juristischen Bedürfnissen (für die Sprachtheorie ja nur Mittel zum Zweck, zur Lösung von Methodenproblemen ist), kann nicht aufgelöst werden; sie ist der Reibungsverlust, der bei einem solchen fachübergreifenden Projekt gezahlt werden muß. Probleme der Einordnung ergeben sich z.B. dort, wo ein Autor eine Fülle verschiedenartiger Ansätze (z.B. Kommunikationstheorie, Semiotik, Pragmatik, Rhetorik) zugleich abhandelt, um zu einem für seine Auslegungstheorie schlüssigen Gesamtkonzept von Sprache zu kommen. Da in der juristischen Rezeption von Sprachtheorie ein munterer Pluralismus herrscht, der mitunter Theorien zusammenwirft, welche aus linguistischer jphilosophischer Sicht inkompatibel sind, und dortige Schulenbildungen fast grundsätzlich nicht zur Kenntnis nimmt, mag die Rückführung solcher Ansätze auf die sprachtheoretischen Strömungen, denen sie entstammen, für die juristischen Leser etwas Gewaltsames haben; sie ist aber notwendig, um im Dickicht juristischer Sprachreflexion überhaupt etwas Übersicht zu gewinnen. Daß dabei Ansätze, welche sich aus linguistischer Sicht nicht so recht einordnen lassen (wohl auch manches, was Sprachwissenschaftler unter "Kuriosa" abhandeln würden) etwas an den Rand gedrängt werden, ist der bedauernswerte Preis, der für eine systematische (an Stelle einer wissenschaftshistorischen) Darstellung gezahlt werden muß. Ich denke jedoch, daß die sprachbezogenen Ausgangsprobleme und sprachtheoretischen Grundbegriffe der juristischen Auslegungslehre trotz der genannten Abstriche in der Darstellung der sprachtheoretischen Hauptströmungen ausreichend an Profil gewinnen. Die Geschichte der juristischen Beschäftigung mit dem Thema "Sprache", d.h. vor allem mit dem Problem "Bedeutung", zeigt, daß die Rezeption linguistischer Theorien durchaus linguistische Schulenbildung widerspiegelt. Auf diesem indirekten Wege kommt dann wieder eine gewisse chronologische Ordnung in die systematische Darstellung, da diese sich an der Aufeinanderfolge linguistischer Strömungen orientiert, welche sich zum Teil auf die juristische Rezeption übertragen hat. In den 50er und frühen 60er Jahren ist noch eine überkommene und durch common sense der Disziplin getragene Hermeneutik (damals als Allgemeinbegriff und nicht als Schulen-Name verwendet) wirksam, welche ich (abkürzend) die "Klassische Lehre" nennen möchte. Sie geht auf v.Savigny und die Hermeneutik des 19. Jhds. zurück und findet sich etwa in den Darstellungen von Engisch und Coing (der sich auf Betti beruft).87 Daneben gibt es vereinzelt frühe Überlegungen zum Verhältnis von Recht und Sprache, so als locus classicus der als Zitierautorität auch 87 Savigny 1802, Engisch 1956, Coing 1959 und 1976, Betti 1955 und 1962. Eine knappe, aber informative Darstellung der Geschichte der traditionellen juristischen Hermeneutik fmdet sich bei Frommet 1981, 22 - 37.
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heute noch verwendete Aufsatz von Forsthoff, sowie die Arbeiten von Neumann-Duesberg, Jesch und (als erster Versuch einer umfassenden Darstellung) Hatz.88 Rudimente dieser klassischen Hermeneutik wirken als juristisches Grundwissen (etwa in Form der oben dargestellten vier AuslegungsKanones) bis heute fort. Diese klassische Lehre wird Ende der 60er Jahre in der Auslegungstheorie abgelöst durch die Wende zur "Neuen He17neneutik", welche mit der Rezeption der philosoghischen Hermeneutik Gadamers durch Esser und Larenz verbunden ist. Zeitgleich mit der "hermeneutischen Wende" setzt auch die zunehmende Rezeption unterschiedlichster Erklärungsansätze zur Sprache ein. Zunächst - zeittypisch - die sog. "Kommunikationstheorie" ,90 dann aber massiv die Rezeption der angelsächsisch geprägten Sprachanalytischen Philosophie, in der weniger die durch H.LA.Hart geprägte Wittgenstein-Exegese im Vordergrund steht,91 als vielmehr die"Logische Semantik" unter Berufung auf Carnap.92 Die Logische Semantik wird - v.a. angeregt durch HJ.Koch - in einer solchen Breite und Intensität rezipiert, daß es nicht übertrieben ist, hier von einer "sprachphilosophischen Wende" zu reden, welche der Hermeneutik-Diskussion (wenigstens auf dem Gebiet Recht und Sprache) den ersten Rang streitig macht. Daneben spielen semiotische Ansätze, wenngleich der Begriff "Semiotik" von Vielen im Munde geführt wird,93 ebenso nur eine marginale Rolle wie der juristische Niederschlag von Habermas' Theorie der rationalen Argumentation bei RAlexy.94 Als Antwort auf den massiven Einfluß der Logischen Semantik kann die ab Ende der 70er Jaltre einsetzende Rezeption der "Linguistischen Pragmatik" gewertet werden. Trotz einiger gründlicher Monographien hat sie noch nicht eine solche Breite erreicht, daß schon von ei88
Forsthoff 1940, Neumann-Duesberg 1949, Jesch 1957, Hatz 1963; vgI. auch verstreute Artikel wie Baumann 1958, Oauss 1963 und Vernengo 1965. 89 Gadamer 1960, Larenz ab 1975/111; zu Esser siehe die Nachweise in Frommel 1981. Durch Larenz inspiriert ist Hruschka 1972. Die Einteilung in "K1assische" und "Neue Hermeneutik" findet sich bei Rottleuthner 1976, 7 ff. 90 Horn 1966, 1967; kommunikationstheoretische Überlegungen nehmen auch bei Baden 1977 und Hegenbarth 1982 eine gewichtige Stellung ein. (Selbst-)Kritisch dazu dann Horn 1975.
91 Hart 1961, Eckmann 1969, Roellecke 1970. 92 Zuerst bei Lampe 1970, vor allem aber bei Koch 1975, 1976, 1977, Koch/Rüßmann 1982, Rüßmann 1978, HerbergerjKoch 1978, Herberger/Simon 1980 und Simon 1977; dazu gehören auch die Arbeiten von Schmidt 1972, Zimmermann 1977, Thaler 1982, Bund 1983 und, als neuester Ansatz mit umfassendem Anspruch, Wank 1985. 93 Ernsthaft Baden 1977, Seibert 1972, 1979, 198Oa, 198Ob; kritisch Hegenbarth 1982; kurios Schreckenberger 1977, 1978.
94 Alexy 1978; als Argumentationstheorie versteht auch Neumann 1979 seine Überlegungen.
1.2 Berührungspunkte zwischen Jurisprudenz und linguistik
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ner "Wende" gesprochen werden kann. Während die Spätphilosophie Wittgensteins in einer zweiten (nunmehr nicht mehr durch Hart gefilterten) Rezeption bei P.Schiffauer im. Zentrum steht, setzt sich R.Hegenbarth mit der linguistischen Pragmatik im. engeren Sinne auseinander.9S Die durch Wittgenstein wesentlich beeinßußte Linguistische Pragmatik wird in der juristischen Sprach-Debatte auch von den Vertretern der Logischen Semantik als eigentlicher Widerpart angesehen, wie ausführliche Widerlegungsversuche etwa von Koch zeigen.96 Nach Abschluß der Darstellung der bis auf den aktuellsten Stand verfolgten juristischen Sprach-Diskussion möchte ich nach den Perspektiven der "juristischen Sprachtheorie" fragen. Nachzutragen bleiben Aspekte der kaum rezipierten Textlinguistik97 wie auch Ansätze der juristischen Methodenlehre, welche der sprachtheoretischen Pragmatik avant la lettre möglicherweise gerechter werden als diejenigen Bemühungen, welche lediglich eine Wortsemantik durch eine Intentionssemantik ersetzen wollen. Mit anderen Worten: die Sprachgebundenheit des juristischen Auslegungsprozesses steht (erneut) zur Diskussion. Deshalb sollen am Ende dieser Arbeit alle in der Darstellung der juristischen Sprachauffassungen vorgefundenen Ausgangsfragen und Grundprobleme zusammengetragen werden, die linguistische und sprachtheoretische Fragen berühren.
9S Schiffauer 1982, vgl. auch Kindhäuser 1980, 1981 und Aamio 1979; Pragmatische Gesichtspunkte greift neben Hegenbarth 1982 auch Baden 1m auf.
96 In Koch/Rüßmann 1982. 97 Mit Ausnahme vielleicht von Broekman 1984.
Kopitel2
Die "klassische" Auslegungslehre und frühe Überlegungen zur Sprache 2.1 "Recht und Sprache": Frühe Ansätze
Sprachbetrachtung von juristischer Seite aus hat eines ihrer (aus dem Wunsch nach Verläßlichkeit bei der Interpretation von Gesetzes-Begriffen entspringenden) Motive in dem Bestreben, in der Sprache und, wenn möglich, auch in der tatsächlich gesprochenen "Alltagssprache" jene Präzision und Genauigkeit zu finden, die von eigener Verantwortung für die Interpretationsergebnisse entlastet. Im Wege der Wunsch-Projektion werden diese Bedürfnisse der Sprache als reale Mechanismen unterschoben. Dies wird schon in den ersten Überlegungen zum Thema "Recht und Sprache" deutlich, wenn etwa Weck behauptet: "Verständigung durch Worte ist nur dann möglich, wenn alle Glieder der Sprachgemeinschaft gezwungen sind, für den gleichen Sinn das gleiche Wort zu gebrauchen."1 Diese Hoffnung auf Präzision der Sprache steht bei manchen (vor allem logisch orientierten) Überlegungen zur juristischen Semantik auch heute noch im Hintergrund. Beherrschend für die Auslegungstheorie ist allerdings eher der hermeneutische Gedanke der Offenheit und Ausfüllbarkeit sprachlich vermittelten Sinns geworden. Damit wird der in der juristischen Sprachtheorie immer wieder durchscheinende Bezug auf Kommunikation als zugrundeliegender (und auch für die Sprachtheorie fundamentaler) Funktion von ~rache, mit dem Weck noch "alles Recht auf Verständigung zurückführen wollte, aus juristischer Sicht zurechtgerückt. Diesen Topos, daß die Funktion der Sprache im Recht "mehr" sei als pure Verständigung, führt in der neueren Diskussion Forsthoff ein, der ausdrücklich die Jurisprudenz "dieses wesentlichen Berufs ihrer selbst, hermeneutische Wissenschaft zu sein"3 wieder erinnern will: "Die Sprache des Umgangs I Weck 1913, 8; die Haltbarkeit bzw. Fragwürdigkeit einer solchen Aussage hängt völlig davon ab, was mit "gezwungen" und "gleicher Sinn" gemeint ist. 2 Weck 1913, 7. 3 Forsthoff 1940, 3.
2.1 Recht und Sprache: Frühe Ansätze
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unter den Menschen geht auf Verständigung. [...] Der sprachliche Ausdruck des Gesetzes ist jedoch damit noch nicht getroffen. Nicht, daß er auf Verständigung verzichtete. Aber er erschöpft sich nicht darin.'04 In einem platonischen Gedankengang wird das Ga immer sprachlich niedergelegte) Recht zu einer Entität eigener Provenienz und seiner Sprachlichkeit Schritt für Schritt entkleidet, indem ihm die Adressaten, und damit die kommunikative Funktion, abgesprochen werden: "Das Gesetz, sofern es Ausdruck des Rechtes als etwas unbedingtem ist, existiert aus sich selbst und für sich, nicht in Relation zu einem Adressaten:,s Wir werden noch sehen, daß später daraus die "Sache Recht" als höchstes interpretationsleitendes Prinzip gemacht worden ist. Wir finden hier bei Forsthoff eine Parallele zu Engisch, wenn die Freisetzung von Sinnmöglichkeiten durch den hermeneutischen Standpunkt wieder eingefangen werden soll durch eine Einbindung durch Gleichrichtung, die vor aller Sprache und Interpretation immer schon die Interpreten und den Kontext ihrer Auslegungstätigkeit umfaßt: "Das Verstehen setzt eine vorsprachliche gleiche Gestimmtheit voraus.,,6 Das meint: wegen der faktischen Macht und Kohärenz des Systems Recht ist eine "gleiche Gestimmtheit" in den Zielen und Auslegungsergebnissen immer schon gegeben (oder zu erwarten). Mit Sprache und ihrer theoretischen Durchdringung hat das (entgegen dem Titel dieses immer wieder zitierten Aufsatzes) nichts mehr zu tun. Etwas näher den wesentlichen Sprachfunktionen auf den Grund zu gehen versucht Neumann-Duesberg, wenngleich seine Ausführungen zur Sprache (die sich wieder fast nur in Fußnoten verstecken) kaum die Bezeichnung "Theorie" verdienen. Das "Mehr" der Sprache über die Verständigungsfunktion hinaus meint bei ihm die in Sprache ausgedrückte "Weltauffassung", d.h. die konstitutive Funktion, die Sprache für Erkenntnis und Welterfahrung hat? Wenn Begriffe in dieser Sicht "nicht Abbilder der Natur, sondern oft willkürliche Zusammengriffe" sind,8 dann kann die sprachliche "Bedeutung" nicht in einer naturalistisch aufgefaßten Gegenstandsbeziehung erschöpft sein. In Anlehnung an den Sprachwissenschaftler Erdmann sieht NeumannDuesberg sie als "Gesamtbedeutung", die emotionale und konnotative 4 Forsthoff 1940, 8. 5 Forsthoff 1940, 8. 6 Forsthoff 1940, 11; vgl. auch S.12: "Die Begegnung des Interpreten mit dem Text geschieht nicht unvermittelt. Sie wird vermittelt durch das ansprechbare Rechtsempfinden und die Tradition des Rechtsdenkens." Zu Engisch vgl. den folgenden Abschnitt 2.2, S. 71 ff. 7 "Zum richtigen Verhältnis von Recht und Sprache kommt man erst, wenn man einsieht, daß die Sprache nicht bloß ein Verkehrsinstrument ist, sondern nach ihrem Wesen und ihrer Leistung viel mehr bedeutet: eine (zugleich die Grundlagen der Verständigung schaffende) wirkende Kraft, die eine in der Sprachgemeinschaft entwickelte Weltauffassung darbietet." Neumann-Duesberg 1949, 60. Er verweist auf Humboldt, Trier und Weisgerber. 8
Neumann-Duesberg 1949, 66.
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2. Die klassische Auslegungslehre
Momente umfaßt.9 Trotz dieser Einsicht legt er das Schwergewicht - vor allem der Rechtssprache - auf die denotative Sprachfunktion. "Bedeuten" ist ihm dann die Beziehung eines Wortes nicht auf Einzeldinge (dies sieht er als "Meinen" an den einzelnen Äußerungsakt gebunden), sondern auf eine "Klasse von Einzeldingen und -wesen".10 Die Vielschichtigkeit der Bedeutung, neben der "Gegenstandsbeziehung" auch "Nebensinn und Gefühlsgehalt" zu umfassen, möchte er dann auf die "Umgangssprache" beschränkt sehen. Die Rechtssprache habe sich der Präzision zu befleißigen: "Was der Jurist aber korrigieren kann, ist die Ungenauigkeit des Ausdrucks. [... ] Der Jurist muß sich also eine Sondersprache, [...] eine juristische Terminologie schaffen".l1 Mit dem Ziel einer "Kalkülsprache,,12 spricht er eines der Themen an, welches bis heute die Gegenposition zur hermeneutischen Sichtweise von Sprache kennzeichnet: "Es ist also ein Umwandlungsprozeß nötig. Die vieldeutigen Wörter der Umgangssprache müssen zu eindeutigen der Wissenschaft präzisiert werden."13 Wie, das kann auch er nicht angeben; mit der Unterscheidung von "Kern" und "Grenzgebiet" deutet er die Richtung an, die dem gleichen Ziel verpflichtete Ansätze seitdem nicht mehr verlassen haben. Dem Topos von "Kern und Hof' von Begriffen versucht ausführlich erstmals Jesch zu Leibe zu rücken. 14 Der Antrieb dazu scheint in einer begriffsjuristischen Reminiszenz zu liegen: "Das Gerüst der Rechtsordnung wird durch die Gesetzesbegriffe gebildet." - "Ohne Begriffe können wir nicht denken, also müssen wir auch aus Begriffen deduzieren.,,15 Diese "Deduktion" (auf die in schönster Tradition der Begriffsjurisprudenz die Auslegung reduziert wird) scheint, zumindest wenn man Jesch folgt, problemlos zu sein: 16 "Alle Rechtsbegriffe haben einen Begriffskern, in den die 'unzweifelhaften Fälle' gehören. Beim ursprünglichen Begriffskern decken sich gesetzgeberischer Wille, sprachliche Formulierung und unmittelbares Bedeutungsver-
9 "Begriff wird hier im weitesten Sinne verstanden. Er umfaßt nicht nur den objektiven (rein verstandesmäßigen) Sachbegriff, sondern auch den Wertbegriff, Gefühlsgehalt des Wortes, kurz, das Wort in seiner Gesamtbedeutung." Neumann-Duesberg 1949,40 - Er bezieht sich hier auf K.O.Erdmanns in den 20er Jahren erschienenen Aufsatz "Vom Nebensinn und Gefühlswert der Wörter". 10 11
Neumann-Duesberg 1949,45. Neumann-Duesberg 1949, 120f.
12 Neumann-Duesberg 1949, 124. 13 Neumann-Duesberg 1949, 123. 14 "Die Gesetzesbegriffe bestehen aus einem Begriffskern und einem Begriffshof. Durch den Begriffskem wird die Stabilität der Rechtsordnung garantiert, im Bereich des Begriffshofs besteht eine gewisse Freiheit der richterlichen Rechtsfindung." Jesch 1957, 171 f.
15 Jesch 1957, 176, 174. 16 Jesch 1957, 176.
2.1 Recht und Sprache: Frühe Ansätze
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ständnis." Es leuchtet ein, daß der "Begriffskern" in dieser Sichtweise keine Interpretationsprobleme bereitet,t' wenn man ihn zuvor als Bereich eben der Fälle von Zeichenverwendung definiert hat, die keine Interpretationsprobleme bereiten. Diese "relative" Definition (die auch bei Engisch gefunden werden kann) ist redundant und verfehlt, das zu erklären, was das eigentliche sprachtheoretische Problem ist: nämlich anband welcher Kriterien man feststellt, welche Begriffsverwendungen (und Interpretationen) zum "Kern" gehören und welche nicht. Ebenso wenig klar ist die Bestimmung des "Begriffshofes": "Der Begriffshof ist ein diffuser Bereich, der am Rande des Begriffskernes beginnt. Er ist nach außen nicht fest abgrenzbar sondern wird erst durch jede Subsumtion oder Exzeption an der betreffenden Stelle näher bestimmt. Begriffshöfe können sich auch überschneiden, so daß der gleiche Sachverhalt einmal diesem, ein andermal jenem Begriff zugerechnet wird. "18 Nicht nur der "Begriffshof', sondern die ganze Dichotomie ist "diffus": wenn man die Unterscheidung zwischen "Kern" und "Hof' vorgängig, ohne Begründungen für sie aufweisen zu können, trifft, dann ist es eine Aussage ohne jeden Inhalt, daß der "Hof' da anfängt, wo der "Kern" aufhört. Die Frage ist ja gerade, wo (wenn überhaupt) und mit welchen Kriterien eine solche Grenze gezogen werden könnte. Auch die Festlegung des "Begriffshofes" auf die durch Subsumtion zugeordneten Fälle hilft nicht weiter, da das Auslegungsproblem ja gerade ist, welche Fälle subsumiert werden dürfen und welche nicht. Im Klartext versteckt sich hinter Jeschs Ausführungen das Verfahren, unangesehen der sprachlichen Vernünftigkeit jedweden einem Rechtsbegriff subsumierten Fall dem "Begriffshof' und damit der Begriffsbedeutung zuzurechnen.19 D.h. eine Ausleguni° wird post festum zum Bestandteil der
17 "Die Interpretation des Begriffskernes bereitet kaum Schwierigkeiten. Im ursprünglichen Kernbereich decken sich Vorstellung des Gesetzgebers und gewöhnlicher Sprachgebrauch mit den Fällen, die der Rechtsanwender als zweifelsfrei unter den Begriff fallend ansieht." Jesch 1957,182. 18 Jesch 1957, 177; er ergänzt: "Im Bereich des Begriffshofes hilft der eindeutige Wortsinn [...] nicht weiter." Was Wunder, ist der "Begriffshof" doch gerade als der Bereich definiert, wo der "eindeutige Wortsinn" gerade nicht eindeutig ist.
19 "Mit seiner Entscheidung (Subsumtion) interpretiert er [der Richter, 0.8.] jedoch gleichzeitig den in Frage stehenden Rechtsbegriff (oder mehrere Begriffe). Bezieht er einen Fall in einen bestimmten Begriff ein, oder schließt er ihn davon aus, so konkretisiert er damit den Begriffshof. Jetzt steht fest - wenigstens für diese Entscheidung, jedoch häufig auch für die Zukunft -, ob der betreffende Fall zum Begriffsinhalt gehört, oder nicht. Es handelt sich daher um Begriffsbestimmung." Jesch 1957, ISS. Es geht mir nicht darum, dieses Verfahren als solches zu kritisieren, sondern um die Frage, warum es irreführend als "Inhaltsbestimmung" kaschiert wird. Hier liegt kein Fall von Bedeutungsfeststellung vor, sondern eindeutig eine Festsetzung des "Begriffsinhalts" kraft richterlicher Entscheidungskompetenz (Dezision, wie Jesch selbst zugibt).
20 Auch für die "Überschneidungen" fehlt jedes Argument, warum sie nicht ebenso gut bei "Begriffskernen" vorkommen können. Ich vermute auch hier wieder einen zirkulären Gedan-
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2. Die klassische Auslegungslehre
"Bedeutung" erklärt, statt nach Feststellung der Bedeutung zu klären, ob die gewünschte Auslegung auch dem Normtext "subsumierbar" ist. Sucht man hinter solcherart zirkulären "Definitionen" eine Rationalität, so ist sie vermutlich darin zu finden, daß auch hier jene "vorsprachliche gleiche Gestimmtheit" des Juristenstandes zu Buche schlägt, von der schon ForsthotI geredet hatte. Allein eine aus hermetischer Homogenität der Interpretationsgemeinschaft entspringende, vor jeder Auslegung liegende Übereinstimmung kann bewirken, eben diese Gleichrichtung zum einzigen definitorischen Kriterium der Abgrenzung von "Begriffskern" und "Begriffshor zu machen. Diese Übereinstimmung zu sichern und als Konstante selbst in die Auslegungstheorie einzubringen hat als Ziel Vorrang vor jeder sprachtheoretischen Reflexion, die diese nur erschüttern könnte. Es wird hier sichtbar, warum Gadamers Begriff des "Vorverständnisses· über die Grenzen der Auslegungsschulen hinweg bei den Juristen solche Furore machen konnte. Da die apostrophierte "Gleichstimmung" tatsächlich jedoch keineswegs vorhanden ist, ist der Sinn ihrer Anrufung für den Außenstehenden mit auslegungstheoretischen Gesichtspunkten nicht mehr erklärbar. Der erste Jurist, der in neuerer Zeit die sprachtheoretischen Grundfragen der juristischen Auslegungslehre mit einem Gesamtansatz zu klären versucht, ist Hatz.21 Wie schon bei Engisch und den anderen genannten Autoren ist auch sein Erklärungsansatz - trotz der auch bei ihm obligatorischen Distanzierung von der Begriffsjurisprudenz - vorwiegend an "Begriffen" orientiert.22 Wenn er zugleich seinen Ansatz als hermeneutisches Konzept stark kengang: wo immer "Uberschneidungen" vorkommen, handelt es sich um den "Begriffshof". Was dann überhaupt noch als "Kern" übrigbleiben kann, ist fraglich. 21 Hatz 1963. Erstmals von "Semantik" ("im Dienste des Rechts") redet C1auss 1963 in seinem gleichnamigen Aufsatz. Er gibt einen Überblick über bis dahin gängige semantische Theorien und räumt der Semantik insgesamt einen hohen Stellenwert für die juristischen Bedürfnisse ein: "Die Semantik wird ein solches Verstehen [von Gesetzestexten, D.B.] dadurch fördern, daß sie Mißverständnisse beseitigt." (390) Ohne ein einziges Mal auszuiühren, was er darunter versteht, propagiert C1auss laufend eine "pragmatisch orientierte Semantik". Offensichtlich verwendet er den Terminus "Semantik" für jede Analyse, die (common-sensehaft) versucht, Bedeutungen zu explizieren. - Als "Zeichengruppe" versteht Vemengo 1965, 294 das Recht. Er setzt den "obligatorischen Charakter" von Rechtsnormen gleich mit der "Verbindlichkeit, die die Regeln einer akzeptierten Sprache besitzen" (296), wobei er diese angebliche ·Verbindlichkeit" der Alltagssprache im Sinne des Gedankens der Präzisierung der Rechtssprache interpretiert: "Als Sprache erfordert das Recht, daß sein Vokabular und seine Gebrauchsregeln ausdrücklich festgestellt werden." (295) - Ganz im Gegensatz dazu möchte Baumann 1958, 395 f. die "Wortlautgrenze" auf die "allgemeinverständliche natürliche Wortbedeutung" beschränken: "Es ist aber nicht so, daß jede philologisch gerade noch haltbare Wortbedeutung die Grenze der Auslegung bildet. [...] Die allgemein verständliche natürliche Wortbedeutung ist Auslegungsgrenze, denn für die Allgemeinheit der Rechtsunterworfenen besteht der ausschließliche Strafrechtskatalog des StGB."
22 Er geht davon aus, "daß die Behandlung der Begriffsstruktur in die Mitte der Verstehens- und Rechtssprachproblematik zu rücken ist." Hatz 1963, 9.
2.1 Recht und Sprache: Frühe Ansätze
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machen will, dann folgt er der in der "Klassischen Auslegungslehre" vor allem zu seiner Zeit vorherrschenden Strömung einer Hermeneutik, die begriffsverhaftet ist, sich als Auslegungslehre von "Begriffen" und nicht von Taten versteht. Dies spiegelt sich in den zwei Hauptteilen der Arbeit wider, die eine juristische "Verstehenslehre" mit einer "Begriffstheorie" verknüpfen sollen. In hermeneutischer Tradition (mit Berufung auf FrA.Wolf, FrAst, Schleiermacher, Savigny und Forsthoft) versteht er Begriffe als "geistige Gebilde", für die ihre (sprachliche) Ausdrucksseite lediglich "erste Angriffsfläche" ist.23 Getreu seinen Vorbildern steht auch bei Hatz die "Korrespektivität von Produktion und Interpretation" bei der Auslegung im Vordergrund.24 Dennoch wird der produktive Aspekt des Verstehens auch bei ihm eher unterdrückt, ist es doch "ein und dieselbe Sache" (also eine subjekt-unabhängige platonische Entität, für welche Autor und Ausleger nur Medium sind), "die vom ersten verwirklicht und vom zweiten nur wieder aufgenommen wird", wie er im Anschluß an Bollnow formuliert.2S Nur wegen dieser EntSubjektivierung kann laut Hatz überhaupt von einer "Hermeneutik des Rechts" die Rede sein: "Während das Anliegen allgemeiner Hermeneutik darin besteht, den Autor und dessen Individuation ZU verstehen, gibt es beim juristischen Begriff keinen Autor, der juristische Begriff ist nicht individuiert, er ist objektiviert. oo26 Wäre eine solche Formulierung nicht Ausdruck einer sich als objektivistisch mißverstehenden und darum sprachvergessenen Auslegungslehre, könnte man darin auch Positives sehen: Nicht nur Juristen, jeder Interpret von Texten hat nichts anderes als den Text selbst, nackte Ausdrucksform; ein Unterschied zur allgemeinen Hermeneutik kann mit diesem Aspekt des Textverstehens also nicht begründet werden. Mit heute nicht mehr nachvollziehbarer Akribie widmet sich Hatz dem "Vorgang der VerkÜDdung" juristischer Normen; es gilt, den "objektiven" Charakter der Rechtsnormen zu begründen:27 "Mit der vollzogenen Setzung bereits hat die Norm einen so weitgehend objektiven Charakter, daß auf den 23
Hatz 1963, 13, 17.
24 Hatz 1963, 16. 2S Hatz 1963, 17. Er zitiert aus F.O.Bollnow: Das Verstehen. Mainz 1949, 57. 26 Hatz 1963, 17; Hatz ist folgerichtig Anhänger der objektiven Auslegungslehre, derzufolge "der Interpret nicht zu fragen hat, welchen Sinn ein juristischer Begriff zur Zeit seiner Setzung, sondern nur, welchen Sinn er im Zeitpunkt der Interpretation hat" (23). Dem "Recht in sprachlicher Gestalt" wird platonisch ein "eigenes Sein" bzw. "objektives Sein" zugesprochen (28 f.). Jedoch ist die Unterdrückung des produktiven Aspekts des Verstehens nur scheinbar, wie wir weiter unten sehen werden.
27 Hatz 1963, 28; vgI. auch: "Mit der Verkündung der juristischen Begriffe in der Sprache sind sie 'gesetzt'." Hier schlägt voll die begriffsjuristische Vorliebe durch. Dem niCht-juristischen Sprachbetrachter schien es bislang immer noch so, daß T/!Xle (bzw. SiJtze, bzw. Äußerungen) verkündet werden und nicht "Begriffe".
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2. Die klassische Auslegungslehre
Willen ihrer Schöpfer, auf deren individualpsychologisch zu erfassende 'Meinung' nicht mehr zurückgegriffen werden kann. Der 'Wille des Gesetzes' [...] ist an die Stelle des Willens der Gesetzesschöpfer getreten." Zwar wird zu Recht von einer psychologistischen Deutungsweise des Textverstehens abgerückt,28 doch wird an ihre Stelle mit dem Willen des Gesetzes" eine umso irreführendere Mystifikation gesetzt. Das Verstehen der in "sprachlicher Gebundenheit" "objektivierten" Rechtsnormen scheint für Hatz kein relevantes Problem zu sein; es ist "die schlichte Fähigkeit zu lesen",29 derer es bedarf. Da der Verweis auf das "schlichte Lesen" alles ist, was er für das Problem des sprachlichen Verstehens anzubieten hat, fehlt ihm für diese zentrale Frage der Auslegungslehre jegliches sprachtheoretische Konzept. Zu Recht verwirft er zwar "eine reinliche Scheidung zwischen dem Lesen der Buchstaben und dem Auffassen der Worte als solchen" als unmöglich,30 doch entzieht er das beide verbindende Grundproblem der theoretischen Begründung, indem er es zur Seite des "schlichten Lesens" schlägt, statt das "Lesen" als sekundären Aspekt des Textverstehens zu erklären. Die in der hermeneutischen Tradition noch zentrale Frage, ob Verstehen eher ein "Nachbilden" oder eher ein "sich-in-den-Autor-Hineinversetzen" sei, ist für Hatz von seinem objektivistischen Standpunkt aus vorentschieden: "Ein Hineinversetzen kommt schon mangels einer realen Psyche, in die sich der Interpret hineindenken könnte, nicht in Frage. Eine psychologische Betrachtungsweise ist für den Interpreten eines objektiv vorliegenden Begriffs nicht vollziehbar."31 Er spricht hier ein sprachtheoretisch relevantes (und bis heute unterschiedlich gelöstes) Problem an, für dessen Behandlung ihm allerdings die konzeptuellen Mittel fehlen. Es ist ein gängiges Mißverständnis, das sowohl jede Kommunikationstheorie, die einem falsch verstandenen (radikalen) Intentionalismus folgt, als auch ihre kritische Gegenposition hat, daß der zu verstehende "Andere" als reale Psyche, und das Verstehen als fremd-psychologisches Phänomen aufgefaßt wird. Diese Position nimmt nicht zur Kenntnis, daß schon G.H.Mead gezeigt hat, daß es bei dem "Anderen" keineswegs um einen "realen Anderen" (also eine "reale Psyche") geht, sondern um einen ge28 Vgl. auch Hatz 1963,30 f., wo er den als "philosophisch" klassifIZierten Gedanken des "Verstehens des Fremdseelischen" für die Jurisprudenz ausschließt: "Es handelt sich beim juristischen Verstehen um ein Verstehen des gegebenen sprachlichen Textes, es wird allein auf die hervorgegangene Sache geachtet, und nicht auf ein seelisches Erleben." 29 Als "theoretisch zu erhebende Anforderungen an die Fähigkeiten des Interpreten" nennt er: "Als unterste Stufe kommt wohl die schlichte F"ahigkeit zu lesen in Frage, eine praktisch geübte Technik, über deren durchaus komplizierte psychologische und logische Theorie sich der juristische Interpret keine Gedanken zu machen braucht." (Hatz 1963, 32) Hatz suspendiert damit aber nicht nur die Interpreten, sondern auch die Methodiker (und damit sich selbst) von der Frage (und ihrer Beantwortung), was sprachliches Verstehen eigentlich ist. 30 Hatz 1963, 36.
31 Hatz 1963, 32.
2.1 Recht und Sprache: Frühe Ansätze
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neralisienen Anderen, dem vom Verstehenden das als Intentionen unterstellt wird, was er selbst in der entsprechenden Situation haben würde.32 Der Ausweg, den Hatz geht, nämlich das Problem des Verstehens mit hilflosem Verweis auf den "objektiv vorliegenden Begrifr schlicht zu umgehen, verbleibt (wie mit ihm die ganze juristische Methodendiskussion im Streit zwischen "subjektiver" und "objektiver" Schule) zu sehr in der Dichotomie "subjektiv" (= realpsychisch) vs. "objektiv" (= außerpsychisch) befangen. Ihm fehlt, wie das unentschiedene Suchen ("teils objektive, teils subjektive Rollett33) zeigt, der Begriff des Intersubjektiven. In völligem Widerspruch zur angeblich "objektiven" Orientierung der Interpretation von Rechtstexten scheint zunächst die Charakterisierung des juristischen Verstehens als "schöpferisches Fortbilden des Geschöpften" bei Hatz zu stehen: "Die Hauptbeschäftigung des Juristen liegt in der interpretierenden Ausweitung der juristischen Begriffe".34 Noch verwirrender für den außerhalb des juristischen Denkens stehenden Linguisten ist es, wenn mit derselben Formulierung für vereinbar gehalten wird, daß "der ganze Juristenstand als reproduktiver Stand gewürdigt wird", und gar in der Darstellung des juristischen Verstehens als "einer schöpferischen Fortführung des objektivierten Rechts" eine Vereinbarkeit von "objektiver Interpretation" und "interpretierender Ausweitung der juristischen Begriffe" behauptet wird. Es ist eine verdächtige Metapher, welche die Intention enthüllt, der "schöpferischen Fortbildung" den Status "objektivierten Rechts" zu verleihen und damit den Interpreten von der Verantwortung für seine Auslegungsergebnisse zu entlasten. Dem Anspruch der Unveränderlichkeit (vom Interpreten her gesehen) des Rechts, welcher im Gesetzesbindungspostulat enthalten ist, soll die tatsächlich ständig stattfindende Veränderung (durch "ausweitende" Interpretation) unmerklich unterschoben werden - anders können solche ansonsten widersprüchlich erscheinenden Metaphern nicht verstanden werden.3S Es bleibt ein Geheimnis des Autors, wie mit diesem Impetus des "schöpferischen Verstehens" vereinbar sein soll, daß es für einen juristischen Begriff "hic et nunc immer nur einen eindeutigen, notwendig beweisbaren Sinn geben [kann)".36 Nachdem er im folgenden die klassischen vier Ausle32 Mead 1934, 152 ff. Vgl. auch A Schütz 1971, 13 f., der von einer "Reziprozität der Perspektiven" spricht, welche die hermeneutischen Beschränkungen des Produktions-Gedankens des Verstehens vermeidet. 33 Hatz 1963, 32.
34 Hatz 1963, 35. 3S Die Widersprüchlichkeit in Hatz' Formulierungen ist umso merkwürdiger, da er an anderer Stelle das "teleologische Element" als "dem reinen Verstehen fremd" und von ihm klar zu unterscheiden bezeichnet (Hatz 1963, 42).
36 Hatz 1963, 39.
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2. Die klassische Auslegungslehre
gunsWanones entwickelt hat, vollzieht Hatz, deutlicher und nachdenklicher als andere Autoren seiner Zeit, aber im Einklang mit dem Vorrang der "grammatischen" Auslegung in der klassischen Lehre, die Wende zur sprachlichen Seite der juristischen Auslegung, die er jedoch eng an das seiner Auffassung nach "begriffliche Denken" der Jurisprudenz bindet: "Der Inhalt des Begriffs liegt in - oder hinter - seinem Ausdruck verborgen".37 Zunächst jedoch ist seine Begriffstheorie entgegen seiner Zielsetzung nicht vorrangig am Sprachlichen (der Funktion der Ausdrucksebene) orientiert. Wenn er auch davon ausgeht, "daß es eine echte Begriffsrealität nicht gibt.38 (also einen platten Platonismus - trotz oben zitierter gegenteiliger Formulierungen - verwirft), so definiert er die Kategorie "Begriff" doch allein auf logisch-erkenntnistheoretischer Ebene als "stehendes Urteil" bzw. "Definition".39 In (wie wir sehen werden: scheinbarer) Abgrenzung zur Merkmalstheorie der Semantik verwirft er die Möglichkeit der eindeutigen Begriffsbestimmung durch Merkmalsbestimmung und behauptet (in einem erstaunlichen Vorgriff auf neueste Begriffstheorien) "daß eine totale Ausspiegelung des Begriffs in seinen Merkmalen nicht praktisch vollziehbar ist, da auch diese wieder in begrifflicher Form vorliegen und so eine unüberschaubare Definitionskettenreaktion erforderlich wäre, um zur Ausführung eines einzigen Begriffs zu kommen. o4O Die sprachliche Ebene führt Hatz dann mit einer Adaption des (nicht als solchen bezeichneten und mit keinerlei Quellenangabe belegten) klassischen Zeichendreiecks ein: "Ausgangspunkt der Betrachtung des Begriffs [ist] die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Gegenstand (dem vom Begriff selbst nicht berührten, denkunabhängigen Objekt), dem Inhalt und dem Ausdruck des Begriffs.""1 Die Kategorie "Begriff" wird hier also eindeutig als sprachliches Zeichen mit Inhalts- und Ausdrucksseite eingeführt. Die von ihm stets hervorgehobene Bindung der kognitiven Funktion sprachlicher Zeichen an ihre Ausdrucksgestalt42 ("Immerhin ist das, was den Begriff zum Begriff macht, das Wort und die logische
37 Hatz 1963, 36. 38 Hatz 1963, 45.
39 "Die Bildung des Begriffs [kann] mit sciner Definition g1eichgcsczt werden. In Konsequenz dieses Gedankens stellt der Begriff sclbst dann eine ruhende oder potentielle Definition oder ein ruhendes oder potentielles Urteil dar." Hatz 1963, 46. 40 Hatz 1963, 46. Wenn Hatz (1963, 44) davon ausgeht, daß der Begriff "sclbst wieder in scinen Merkmalen eine Summe von Begriffen (oder Urteilen) darstellt", dann liegt darin eine Parallele zur Begriffsthcorie von Hans Bickes, der u.a. schreibt: "Durch Anwendung von Begriffsclementen wird bereits Begriffenes unter neuen Aspekten zusätzlich begriffen.· Bickes 1983,124. 41 Hatz 1963,48.
42 Hatz 1963, 50 f.
2.1 Recht und Sprache: Frühe Ansätze
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Bindung des Bewußtseinsinbalts an dasselbe.") wird konterkariert durch das Festhalten an für die objektivistische Sicht der klassischen juristischen Auslegungslehre typischen Klischees: "Die juristischen Begriffe sind keine Produkte individueller 'Psychen', sondern besondere objektive Manifestationen des Rechtsgeistes. 043 Hatz scheint nicht zu bemerken, daß er seine oben zitierte Ablehnung des Begriffs-Realismus (mit all ihren ontologischen Implikationen) hiermit widerruft. Dies wird auch deutlich, wenn er den "Gegenstand" des Begriffs (also linguistisch gesprochen die Referenzfunktion sprachlicher Zeichen) als "vom Begriff selbst nicht berührtes, denkunabhängiges Objekt" bezeichnet. Es ist unklar, warum ausgerechnet ein Analytiker juristischer, auf abstrakte Gegenstände verweisender Begriffe, der gerade erst hervorgehoben hatte, daß die Begriffe erst durch "das Wort" zu dem werden, was sie sind, die objekt-konstituierende Funktion des begrifflichen Zugriffs (die zudem in seiner Darstellung der "Urteils-" bzw. "Definitions"Funktion von Begriffen aufgehoben ist) negieren kann. Die Kategorie "Begriff' wird dadurch ihrer gerade hervorgehobenen sprachlichen Bindung wieder entkleidet.44 Doch ist dies nicht der einzige Widerruf. Hatte Hatz bei der allgemeinen Verstehenslehre noch die Unmöglichkeit der eindeutigen Bestimmung eines Begriffs durch Merkmals-Definition hervorgehoben, so korrigiert er dies angesichts der "Probleme der juristischen Begriffsinte!fretation insbesondere" durch Rückgriff auf die reinste Merkmalssemantik. Wenn schon die Analyse des Begriffs"inhalts" durch Merkmalsbestimmung zu keinem exakten Ergebnis kommt, dann "wendet sie sich dem Wesentlichen des Begriffs zu den elementaren Begriffsmerkmalen".46 Wenn der Jurist Hatz dem "Begriff" schon nicht per exhaustiver Merkmalsbestimmung näher kommt, dann strebt er wenigstens dahin, "mit möglichster Schärfe die Grenzen des Begriffs zu ziehen...47 Dieses Verfahren ist uns schon als unter Juristen üblich bekannt:
43 Hatz 1963, 53. Der "objektive Rechtsgeist" wird uns später als über allen Auslegungen schwebende "Sache Recht" wieder begegnen. 44 Ähnliches geschieht auch, wenn Hatz den "Begriff" von der Zeichen- auf die Satz-Ebene ausdehnt: "Auch im Bereich des juristischen Begriffslebens können unter dem Begriffsausdruck nicht nur Begriffswone, sondern auch dcfmierendc SäJze verstanden werden. Die juristischen Begriffe treten rein äußerlich in vielfältiger Gestalt, nicht bloß in Wort-, sondern auch in Satzform auf." (52) "Begriffe" werden hier wieder zu jenen rein "geistigen", zcichen-cntbundenen Entitäten, die sie in der (platonistisch orientierten) klassischen Begriffslehre immer schon waren. 4S "Ein Begriff wird definiert (und gebildet) durch die Summe seiner Merkmale. Die Merkmale des Begriffs grenzen ab, was unter den Begriff fällt, oder was außerhalb seines Gebietes liegt." Hatz 1963, 59
46 Hatz 1963,58. 47
Hatz 1963,59.
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2. Die k1assische Auslcgungslehrc
zwar weiß man nicht, was ein "Begriff', ein "Wortsinn", ein "Wortlaut" ist, man weiß nicht wie man seine Bedeutung erscb1ießen soll, doch eines kann man: man kann eine "scharfe Grenze" ("Wortlautgrenze") ziehen. Hier wird unwiderlegbar deutlich, daß das Streben nach "Begrenzung", nach "festen" Bedeutungen, nach "exakter" Begriffsbestimmung stets und ständig vorgängig ist vor allen sprachtheoretischen Überlegungen. Die Frage, ob solche Grenzen (sprachtheoretisch gesehen) überhaupt existieren können, ist für die zitierten Juristen zweitrangig gegenüber dem Bedürfnis, sie festzulegen. Sprachtheoretische Reflexion findet so nicht wirklich Eingang in die juristische Methodik und ihr theoretisches Selbstverständnis, sondern wird, so hat es bis jetzt den Anschein, zum Ornament, zur aufgesetzten Legitimationsfigur degradiert. Auch das Verfahren der Auslegung schlechthin gerät schließlich bei Hatz zu einem marginalen Problem: "Welche Merkmale als wesentlich und welche als unwesentlich zu betrachten sind, ist die nächste, uns jedoch nur am Rande berührende Frage.048 Hatte man, als juristisch unbeleckter Laie, bisher die Unterscheidung zwischen "wesentlichen" und "unwesentlichen" Begriffsmerkmalen als letztes Residuum von sprachlich noch irgendwie faßbaren (oder so gemeinten) Kriterien in der Argumentation juristischer Textauslegung angesehen, so wird am Ende jede Bindung der Interpretation an Kriterien ( oder Argumente), welche ausdrücklich an Sprache gebunden sind (und auch als solche reflektiert werden), aufgehoben. Was entscheidet, ist, laut Hatz, die vor aller Interpretationsanstrengung für den Begriff immer schon gegebene "Handgreiflichkeit seiner Merkmale".49 Auslegung reduziert sich bei ihm so auf das "schlichte Lesen" (s.o.), wenn als einzige Anforderung an die Interpretation angeboten wird, "daß beim Aufsuchen der Begriffsmerkmale in erster Linie von der allgemein sprachlichen Begriffsbedeutung ausgegangen wird" (von was sonst ?), mit der Begründung: "denn in der Sprache selbst - und nur in ihr - liegen die ersten Hinweise auf den Sinn des Begriffs".so Sprache wird hier zur black box, zum deus EX machina, deren Wirken als gegeben hingenommen wird, ohne (wie es eine Auslegungslehre, 48
Hatz 1963, 62.
49 Hatz 1963, 63. Die "allgemeine Anerkanntheit" der Begriffsmerkmale ist (laut Hatz) "erzielt, wenn zwangsläufig für jeden die gleichen Merkmale aus dem Begriff herauswachsen. Das ist nur zu erreichen, wenn die anerkannten Begriffsmerkmale sich aus dem Ausdruck des Begriffs organisch heraus entwickeln, wenn sie sprachlich im Begriffswort bereits verankert und bedingt sind." (Hatz 1963, 63) Die Hilflosigkeit des Autors vor dem Phänomen Sprache liegt in solchen Formulierungen auf der Hand. Merkmale "wachsen" nicht "aus dem Begriff heraus" (was auch immer das heißen soll), sondern werden durch die Auslegung allererst festgelegt. Die "sprachliche Verankerung" ist ein Scheinargument, geht es in aller Auslegungsthcorie doch gerade um das Problem, wie einzelne Bedeutungsmomente aus der Ausdrucksform erschlossen werden können. SO Hatz 1963, 63.
2.1 Recht und Sprachc: Prühc Ansätze
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die den Namen "Theorie" verdiente, erforderte) noch einer sprachtheoretischen Reflexion gewürdigt, geschweige denn konsistent erklärt zu werden; dies exemplifiziert zudem wieder die Sprachvergessenheit, welche eine solche Art von "Begriffstheorie" kennzeichnet. Wenn Hatz als Fazit all seiner Ausführungen zur "Sprachgebundenheit der Begriffe" am Ende mit der - dick unterstrichenen - Forderung schließt, "bei der Interpretation zuerst von der Sprache auszugehen, da die Sprache den Zugang zu den Merkmalen eröffnet",S1 dann hat er mit großem Pomp, mit viel Begründungsaufwand ein Mäuslein geboren, nämlich das uralte Prinzip, daß jede Auslegung beim W0l11aut zu beginnen habe, wieder hervorgekramt. Die Frage, die sich hier dem Außenstehenden stellt, ist, ob Hatz dabei nicht einen großen Kreis gedreht hat, bei dem er am Ende wieder dort angelangt ist, wovon er ausgegangen ist, nämlich beim Auslegungsproblem sprachlicher Texte, oder ob solche "Erklärungen" zu seiner Zeit wirklich etwas Neues boten (etwa gegenüber einer vollständig sprachentfremdeten Begriffsjurisprudenz)? Wenn Hatz am Schluß seines Büchleins wiederholt die Sprachgebundenheit juristischer Begriffe heraushebt, so zeigt das, daß das Problem der Sprache als Fundament juristischer Auslegungstheorie bei ihm Programm bleibt, statt, wie der Titel "Rechtssprache und juristischer Begriff" verspricht, selbst schon Erklärungsansätze zu liefem.S2 Seine Kritik am Positivismus, welchem er vorwirft, "die Ratio des Gesetzes [...] im Wortlaut festzunageln",S3 rührt weniger aus der Erkenntnis, daß eindeutige und automatische Gesetzesinterpretation eine Schimäre ist (die hält Hatz mit seinem Verweis aufs "schlichte Lesen" selbst für möglich), als aus der Vorliebe "für das metaphysische Eigenleben dieses Mediums" (Sprache), für das "der Positivismus keine Augen" habe.54 Wenn diese Metaphysik auf den "objektiven Rechtsgeist" zielen sollte, den Hatz bemüht hat, dann wären seine Ausführungen allerdings ein Rückschritt gegenüber einem Positivismus, der streng am "Wortlaut" festhält. Wenn in dieser ersten Monographie mit umfassendem S1 Hatz 1963, 64. Das Phänomcn "Sprachc" wird bei Hatz auf dic pure Ausdrucksscitc reduzicrt, während dic "Inhaltsscitc" für das "Recht" reservicrt wird: "Der juristischc Begriff ist dcm Bereich des Rechts durch seincn Inhalt, dcm Bereich der Sprachc durch seincn Ausdruck verhaftct." (68) Sprachc gerät so zum reincn Instrumcnt, und zuglcich wird die Sprachtheorie vom Innersten, nämlich dcn rechtlichcn Inhalten, änptlich ferngehaltcn. S2 Ausführungen zur Bezcichnungsfunktion der Sprache (im Anschluß an linguistische Tcrminologien mit Vcrweis auf K. Bühlcr) am Ende des Bandes (SO) wirken aufgesetzt, da sie an an~erer Stelle in den Kern dcr Argumcntation hätten cingehcn müssen. Daß Hatz mit seinen Ubcrlcgungen erst am Anfang (bzw. vor) ciner sprachtheoretischen Grundlegung des Rechts stcht, sieht er selbst, wenn er feststellt, daß es "cinc abgeschlossene Philosophic der juristischcn Sprache noch nicht gibt" (Hatz 1963, 71). S3 Hatz 1963, 87. "Er strebt danach, dcn Sinn, dcr hinter dem Wortlaut liegt, zu betonieren mit dem Zicl, daß cinc Wandlung dieses flXiertcn Sinns ausgeschlossen sein soll."(87f.)
54 Hatz 1963, 88.
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2. Die klassische Auslegungslehre
Anspruch das Problem der Sprache lediglich als Zielbestimmung am Ende steht, statt einer ernsthaften und auf der Höhe der Sprachwissenschaft jener Zeit stehenden Reflexion unterworfen zu werden, dann macht dies deutlich, daß von einer "Sprachtheorie" im eigentlichen Sinne in der juristischen Auslegungslehre vor der sprachphilosophischen Wende der 70er Jahre keine Rede sein kann.
2.2 Die "Klassische Hermeneutik" und ihr Verhältnis zur Sprache Die klassische juristische Hermeneutik verstand sich nicht in erster Linie als eine sprachbezogene Auslegungslehre. Zwar enthalten etwa die Schriften von Schleiermacher und später auch Boeckh55 sprachtheoretische Reflexionen, wenn die sog. "grammatische Auslegung" näher untersucht wird, doch geht das höhere Ziel der Auslegung auf die Produktionen des menschlichen Geistes schlechthin, zielt auf "das Geistige" (Ast), "das Denken" (Schleiermacher), auf "Erkenntniss des Erkannten" (Boeckh),56 also auf Ideen und Gedanken. Dies schlägt sich auch bei Savigny nieder: "Wer ein Gesetz also interpretiert, muß den im Gesetz liegenden Gedanken nachdenken, den Inhalt des Gesetzes nachfinden..s7 Noch eineinhalb Jahrhunderte später steht Bett~ auf den sich die juristischen Hermeneutiker vor Gadamer vor allem beziehen, in derselben Tradition, wenn er die hermeneutische Tätigkeit charakterisiert: "Wo immer wir wahrnehmbare Formen antreffen, durch die ein in ihnen objektivierter fremder Geist zu uns spricht, indem er sich an unseren Verstand wendet, dort beginnt unsere Auslegungstätigkeit..s8 Die "wahrnehmbaren Formen" hinter denen wir beim Juristen Betti wohl vor allem sprachliche Texte vermuten dürfen, spielen hier allenfalls die Rolle eines Transportmediums, das eigener theoretischer Reflexionen nur am Rande gewürdigt wird. Zwar ist es kein plumper Instrumentalismus, der dahinter steht (wie es Bettis Berufung auf W.v.Humboldt und seine Ablehnung semiotischer Ansätze zeigen5'), doch verhindert die Schwerpunktsetzung auf den aktiven, konstruktiven Zug des hermeneutischen Verstehens60 eine explizite Reflexion auf Sprache und die Bedingungen ihres Funktionierens, 55 Schleiermacher 1938, 101 ff.; Boeckh 1886, 79 ff.. Eine Aufarbeitung der hermeneutischen Tradition aus aktueller linguistischer Sicht leistet die Arbeit von Biere 1989.
56 Ast 1808, 32; Schleiermacher 1838, 75 ff.; Boeckh 1886, 11. 57 Savigny 1802, 18. 58 Betti 1955, 42. 59 Betti 1955,45 mit Verweis auf Humboldt 1963; zur Semiotik vgl. S. 45, 60. 60 Das zustande kommt, "indem jeder seine eigenen Vorstellungen oder Begriffe in Bewegung setzt". Betti 1955,45; vgl. auch Betti 1962, 13.
2.2 Die "Klassische Hermeneutik" und ihr Verhältnis zur Sprache
67
welche den Namen "Sprachtheorie" oder "Semantik" verdienen würde. Bettis Ausführungen beschränken sich auf die Ablehnung behavioristischer und semiotischer Bedeutungstheorien, ohne ihnen einen eigenen Erklärungsansatz entgegenzustellen. Völlig in der Diktion Boeckhs, der das Verstehen als "Nachconstruction der Constructionen des menschlichen Geistes" bezeichnete, bestimmt Betti die Gesetzesauslegung als "eine Geistesbeschäftigung, die darauf abzielt, den Sinn zu erkennen und nachzukonstruieren, in dem sinnhaltige Formen - im Rahmen einer gegebenen Rechtsordnung - zu verstehen sind".61 Nirgends wird ausgeführt, in welcher Weise die "sinnhaltigen Formen" (also Wörter und Sätze) ihre Bedeutung "enthalten". Zwar hält Betti Auslegungstheorien, welche abstrakt auf den "Willen" rekurrieren, entgegen: "ausgelegt wird das, was gesagt wird",62 worunter man den Text einer Norm, Willenserklärung etc. verstehen könnte, doch beschränkt er den Auslegungsgegenstand später wieder auf die reine Ausdrucksseite der sprachlichen Zeichen, wenn er fordert, "daß allein der Buchstabe des Gesetzes - nicht etwa der ursprüngliche Sinngehalt - von der normativen Kraft der Gese~ebung durchdrungen wird".63 Betti versteht seinen Ansatz als Gegenposition zum juristischen Positivismus, wobei er an diesem kritisiert (ob zu Recht, kann ich nicht beurteilen), er ziele auf Feststellung der Bedeutung von Gesetzesbegriffen und -sätzen bzw. von "Regeln des Sprachgebrauchs der Gesetze".64 Solche Ausführungen stehen exemplarisch für die Sprachfeme des hermeneutischen Ansatzes; daß diese möglicherweise eine Reaktion auf eine übersteigerte Begriffsjurisprudenz ist, kann das Fehlen sprachtheoretischer Reflexionen nicht entschuldigen. Mit der Orientierung am "Buchstaben des Gesetzes" (nicht: am auktorialen Sinn) schlägt sich Betti auf die Seite der "objektiven Auslegungstheorie", wobei er zugleich (und das mag charakteristisch für diese Auslegungstheorie sein) die Auslegung als "Einordnung des Ausdrucks des Textes in einen höheren übergreifenden Zusammenh~ delimitiert oder gar die Normen als "Geräte des Lebens [...] mit der Zielsetzung eines sozialen Zusammenseins" tendenziell von den Beschränkungen einer strengen Normtextorientierung freisetzt." Mit der Notwendigkeit, aus der 61 Boeckh 1886, 16; Betti 1955, 613. 62 Betti 1955, 59. 63 Betti 1955, 633.
64 Betti 1955, 609. 6S Betti 1955, 601. Nach Frommel 1981, 42 basiert Bettis Hermeneutik "auf einer philosophischen Werttheorie, welche in den ethischen und ästhetischen Werten eine zweite Dimension der Objektivität sieht, eine Art intuitiv erfaßbare ideale Objektivität materialer Werte." " Betti 1955, 609. Es ist bezeichnend, daß Betti den von ihm kritisierten Positivismus auch mit der Vokabel "Normativismus" belegt (608 f.).
2. Die klassische Auslegungslehre
68
Normtextauslegung "Richtlinien für ein praktisches Verhalten oder für eine Entscheidung zu gewinnen",67 rechtfertigt Betti die Bevorzugung des Aspekts der applicatio gegenüber der explicatio - ein Gesichtspunkt, der bei Gadamer wiederkehren wird. Der dem Juristen genehme Gedanke der Applikation68 geht bei Betti mit der von Schleiermacher entlehnten Auffassung, daß "jeder sprachliche Ausdruck [...] vom Gesprächspartner-Interpreten fordert, ergänzt zu werdenw69 insofern eine unheilvolle Verbindung ein, als das Funktionieren sprachlicher Bedeutungsvermittlung, welches bei Schleiermacher noch sehr viel differenzierter als Dialektik von sprachseitiger Objektivität und subjektivem Beitrag des Individuums konzipiert war, hier durch Mißachtung der Erldärungskraft neuerer sprachtheoretischer Erkenntnisse im Nebel höherer Zusammenhänge und Zweckausrichtungen verschwindet. Hauptmerkmal der Klassischen Hermeneutik ist es, daß als Modell der Auslegungstätigkeit eine Umkehrung des schöpferischen Prozesses (d.h. der Autor-Perspektive) angenommen wird. Dies geht auf Schleiermachers "divinatorische Methode" zurück: "Der Interpret, der auslegende Geist, bildet in sich den Prozeß des sich in sinnhaltigen Formen objektivierenden Geistes nach."70 Dieser oft auch als "psychologistisch" kritisierte Ansatz radikalisiert in einer Gegenbewegung zur radikalen Interpretationsfeindschaft des Positivismus den subjektiven und aktiven Aspekt des Verstehens, ohne jedoch den objektivistischen Standpunkt des Positivismus völlig aufzugeben. Auf Schleiermacher und Betti führt auch Helmut Coing seine juristische Hermeneutik zurück, wenn er - voll in deren Diktion - als ihren Gegenstand die "Interpretation von Texten, von sprachlich fixierten Geisteswerken" benennt.71 Wenn er an den Anfang seiner Überlegungen mit Berufung auf Schleiermacher die vier (zuletzt von Betti formulierten) "Kanones" der hermeneutischen Methode stellt (nicht zu verwechseln mit den oben dargestellten Kanones v. Savignys), deren erster die "Objektivität" bzw. die "Autonomie des zu interpretierenden Werkes"72 heraushebt, dann scheint dies zunächst nicht sehr weit vom Objektivismus der positivistischen Auffassung entfernt zu sein. "Autonomie des Werkes" (der sprachlichen Formulierung) wird zunächst als Eigenständigkeit gegenüber dem Hineintragen interpretatorischer (subjekti-
67 Betti 1955, 614. 68 Betti 1955, 602. 69 Betti 1955, 642. 70 Rottleuthner 1976, 9. 71 Coing 1959, 13. Laut FrommeI1981, 41 ist es Coing, der als erster den Begriff der juristi-
schen Hermeneutik in Richtung einer allgemeinen Methodik der Geisteswissenschaften erweitert hat.
72 Coing 1959,13; Coing 1976, 309.
2.2 Die "Klassische Hermeneutik" und ihr Verhältnis zur Sprache
69
ver) Sinnmomente verstanden. Andererseits kann "Autonomie" hier aber auch die Eigenständigkeit des Werkes gegenüber den Sinnintentionen des Autors meinen. Nur der "Text selbst", der "Buchstabe des Gesetzes" soll ausgelegt werden. Die Rolle der Sprache wird hier nicht zum Thema. Der zweite Aspekt ist "der Gesichtspunkt der Einheit. Das Werk muß als Einheit verstanden werden, der einzelne Satz im Blick auf die Gesamtheit die Gesamtheit aus der Interpretation der einzelnen Sätze begriffen werden."73 Hierin ist deutlich der idealistische Topos der Dialektik von Teil und Ganzem zu erkennen, dessen Nutzen für die Bedürfnisse der juristischen Hermeneutik jedoch nicht so ohne weiteres auf der Hand liegt. Mag er bei geschlossenen literarischen Werken noch einen Sinn machen, so muß für die Gesetzesinterpretation erst bestimmt werden, was überhaupt als "das Werk" anzusehen ist, dessen Einheit hier zur methodischen Richtschnur gemacht wird. Coing läßt offen, welche Konsequenzen der Aspekt der Einheit für die juristische Auslegungspraxis haben soll. In der Rechtspraxis entspricht dieser Topos dem "systematischen" Aspekt der Auslegung (nach Savigny). Die Nähe dieses Topos zur deduktiven Methodik der Begriffsjurisprudenz ist dort noch deutlicher zu erkennen.74 Indes dürfte Schleiermacher bei der "Einheit des Werkes" kaum an die Einheit von Begriffssystemen gedacht haben. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß der Beitrag von Kotext-Elementen zum Verstehen eines Textbestandteils linguistisch keineswegs als allein sinnverbÜfgendes Moment angesehen werden kann; schon gar nicht kann die Bedeutung eines Ausdrucks/Satzes an einer TextsteIle ohne zusätzlichen Begründungsaufwand als systematisches Argument für die Interpretation einer anderen TextsteIle verwendet werden. Der hermeneutische Topos der Texteinheit bedarf zum einen einer ausführlichen textlinguistischen Überprüfung, zum anderen muß die Frage nach dem "Gegenstand" der Einheit, und danach, ob es einen solchen in der Jurisprudenz überhaupt geben kann, für die juristische Methodik allererst beantwortet werden. Der einzige der vier Aspekte, in dem Sprache explizit zum Thema wird, ist "der Gesichtspunkt der genetischen Auslegung, der Auslegung des Textes aus seinem Ursprung her". Er wird SO verstanden,7s daß die "Individualität", die "Persönlichkeit des Autors", seines "individuellen Denkens und Geistes" einen Zusammenhang eingeht mit der "geschichtlich gewordenen, objektiv festliegenden Sprache" bzw. den "objektiven Gegebenheiten, die dieser Autor 73 Coing 1976, 309; Coing 1959, 14. Coing verweist hier auch auf den UteraturwissenschaftIer Emil Staiger. 74 Auch Coing 1959, 9f. möchte den Gesichtspunkt der Begriffssystematik noch für die heutige Auslegungsmethodik retten. Die Forderung nach "Einheit der Rechtsordnung" wird bei Engisch 1956, 65 beschrieben. 75
Coing 1976, 310; Coing 1959, 14.
70
2. Die klassische Auslegungslehre
in der Sprache schon vorland". Autorseitig kommt hier der Psychologismus der klassischen Hermeneutik zum Tragen. Der Individualität des Autors wird ein hoher Rang eingeräumt, ohne daß das Verhältnis, welches Individualität und "Objektivität" im regelhaften Gebrauch der Sprache haben, näher untersucht wird. Wie die Sprache, vor allem die Bedeutungskonstitution und das Bedeutungsverstehen, funktioniert, bleibt unanalysiert. Sprache wird vage als Geistesreservoir bezeichnet, wohinter wir die Konventionalität bzw. Regelhaftigkeit von Wortverwendungen bzw. Bedeutungsrealisierungen vermuten dürfen. Wenn Konventionalität als "objektives Festliegen" mißverstanden wird, dann kommt hier wieder der latente Instrumentalismus der klassischen Hermeneutik zum Vorschein, welche die dialektische Beziehung zwischen Autor-Intentionen und Sprachregeln zwar im Munde führt, aber daraus nicht die notwendigen sprachtheoretischen Konsequenzen zieht. Sprache wird quasi als "Gefäß" mißverstanden, das seinen "Inhalt" irgendwie auf undefmierte Weise mit sich trägt. Dem subjektiven Moment, welches die klassische Hermeneutik mit dem Modell des "NachbiIdens eines Geisteswerkes durch den Interpreten" in die Auslegungsmethodik eingebracht hat, werden durch dieses objektivistische Verständnis der Sprache enge Mauern gezogen. Den vierten Aspekt bezeichnet Coing als "Auslegung aus der Sachbedeutung"; er enthält die teleologischen Momente und gilt vor allem für die Auslegung normativer Texte. Dieser Aspekt eröffnet damit zugleich all den Entgrenzungen der Auslegung ihren Spielraum, die wir schon bei Betti bemerkt hatten. Die Methode der klassischen juristischen Hermeneutik steht mit den dargestellten vier Aspekten in einem merkwürdigen Spannungsfeld: Zum einen begrenzt sie mit dem Verweis auf die "Autonomie des Textes" und die "Objektivität der Sprache" den Auslegungsspielraum durch Anleitung zu einer möglichst "objektiven" Haltung des Interpreten; diese Intention wird in Coings Entgegensetzung von Rechtsschöpfung und hermeneutischer Interpretation deutlich. 76 Zum anderen öffnet sie mit der - vor allem für die Auslegung von Rechtstexten fragwürdigen - Behauptung der "Einheit des Textes" und der "Auslegung aus der Sachbedeutung" Raum für systematische Spekulationen und teleologische Willkür. Es fällt auf, daß die vier dargestellten Aspekte sich vor allem in einem Punkt von den Kanones v. Savignys unterscheiden: daß die "grammatische" Auslegung hier (zumindest dem Wort nach) nicht mehr im Vordergrund steht, sondern hinter dem Aspekt der "Autonomie des Werkes" verschwindet; und mit ihr wird entgegen dem Verdienst Schleiermachers, Sprache zum expliziten Thema der Hermeneutik gemacht zu haben, die Sprachgebundenheit der Auslegung an den Rand ge-
76 Coing 1959,18.
2.2 Die "Klassische Hermeneutik" und ihr Verhältnis zur Sprache
71
drängt. Hermeneutik im Verständnis Bettis und Coings läßt die entscheidenden sprachtheoretischen Fragen außer Betracht und damit offen. Der Vorrang teleologischer Aspekte bei der Auslegung von Rechtstexten in der zeitgenössischen Jurisprudenz wird ausdrücklich zugestanden von Engisch in seiner "Einführung in das juristische Denken",n welche vielleicht am besten dasjenige widergibt, was man den "common sense" des juristischen Auslegungshandwerks nennen könnte. Da die Erläuterung der klassischen vier Auslegungs-Kanones im Einleitungskapitel, auf welche sich Engisch im wesentlichen beruft, vor allem auf dessen Darstellung fußt, können weitere Ausführungen hierzu an dieser Stelle unterbleiben. Stattdessen möchte ich der Einstellung zur Rolle der Sprache im Auslegungsprozeß nachspüren, welche sich in diesem wichtigen Einführungswerk eher in den Fußnoten und zwischen den Zeilen versteckt, als daß sie offen ausformuliert ist. Merkmal des traditionellen Konzepts juristischer Auslegungstätigkeit bis weit in die 70er Jahre hinein ist, wie bei Engisch deutlich wird, die immer noch zentrale Stellung, die den eher als Gedankenkonstruktionen78 denn als sprachliche Entitäten aufgefaßten "Rechtsbegriffen" zugemessen wird. Es ist die "Auslegung des Rechtsbe~s" welche er als die "logische Voraussetzung der Subsumtion" ansieht. In klassischer begriffslogischer Terminologie wird die Aufgabe der Begriffs-Explikation als Feststellung von Extension und Intension verstanden: "Was die Auslegung für die juristischen Deduktionen logisch bedeutet, können wir auch so ausdrücken: es ist die Aufgabe der Auslegung, dem Juristen Inhalt und Umfang der Rechtsbegriffe zu vergegenwärtigen. Die Angabe des Inhalts geschieht dabei durch Definition, also durch Anführung von Begriffsmerkmalen [...]. Die Angabe des Umfangs geschieht durch Vorführung von Fallgruppen und einzelnen Fällen, die dem Rechtsbegriff zu subordinieren bzw. zu subsumieren sind...so Der Terminus "Deduktionen" weist darauf hin, daß begriffsjuristisches Denken (die Ableitung von Auslegungsergebnissen aus Begriffssystemen) als Bodensatz juristischen Methodenverständnisses auch dann noch weiterwirkt, wenn, wie bei Engisch,81 die "begriffsjuristischen Folgerungen" als "Sünde wider den Geist der modemen Jurisprudenz" gegeißelt werden. "Begriffe" werden dabei als abstrakte, logisch-ideelle Entitäten verstanden, welche, abgelöst von der materiellen Ausdrucksseite sprachlicher Zeichen, eine eigenständige Existenz haben;
n
Engisch 1956, 74; er schließt: "Hier wird also der 'Sinn' zum Zweck."
78 So wenn Engisch den Obersatz als "inneren Zusammenhang der Rechtsgedanken" bezeichnet (68). 79 Engisch 1956, 57. 80 Engisch 1956, 70. 81 Engisch 1956, 38.
72
2. Die klassische Auslegungslehre
Sinnträger sind diese "abstrakt ~chen Gebilde" und nicht die Ausdrucksseiten sprachlicher Zeichen. Die Rolle der Sprache selbst im Verhältnis von Ausdruck, Begriff und Auslegung wird bei Engisch nicht so recht klar, da seine Ausführungen dazu widersprüchlich sind. Zwar unterscheidet er deutlich "den sprachlichen Ausdruck (den 'Text', den 'Wortlaut') und den darin geborgenen 'Sinn' ('Gedankeninhalt')", bestimmt deren Stellung: "der erstere ist Gegenstand, der letztere Ziel der Auslegung083 und moniert am bei Juristen üblichen Ausdruck "Wortlaut" an anderer Stelle "das Fehlen der Unterscheidung und Trennung von sprachlichen Zeichen und sprachlicher Bedeutung";84 andererseits wird der (dann nach den anderen drei Kanones) auszulegende "Sinn" einer Rechtsnorm als etwas verstanden, das von der "grammatischen" Bedeutung schon abgelöst ist: die "abstrakt-begriftlicben Gebilde", welche den Rechtssatz ausmachen und eher nach begriffslogischen Verfahren auf den zu entscheidenden "Fall" angewandt werden denn mithilfe semantischer Operationen. Engisch unterscheidet implizit den "Wortsinn" vom "Begriff, wenn er zwei verschiedene Arten von "Unbestimmtheit von Rechtsbegriffen" auszumachen glaubt: nämlich einmal eine "Mehrdeutigkeit des Begriffswortes", und zum anderen eine "unscharfe Grenze des Begriffs".85 Entgegen seiner ausdrücklichen Behauptung versteht er als "Gegenstand der Auslegung" eben nicht nur den "Wortlaut" als materiellen Sinnträger sprachlicher Zeichen, sondern den anband der Ausdrucksseiten festgestellten "Wortsinn" (oder vielleicht auch "Begriff" 1), wenn er sich gegen die "sens-clair-Doktrin" wendet, die behauptet, "eine dem Wortlaut nach eindeutige Bestimmung bedürfe keiner Auslegung".86 Zwar stellt er die Möglichkeit eines "eindeutigen" Wortsinns selbst in Frage, doch hält er die These für "diskutabe~ daß die Problematik der Auslegung bei der Divergenz von Ausdruck und Gedanken einsetzt.,,87 Eine "Divergenz zwischen Ausdruck und Gedanken" kann nur dann eintreten, wenn mit "Ausdruck" hier das volle sprachliche Zeichen mit Aus-
82 Engisch 1956, 34; "Die eigentlichen Sinnträger der Rechtsordnung sind die aus den grammatischen Sätzen des Gesetzbuches herauspräparierten und herauskonstruierten Verbote und Gebote an die Rechtsunterworfenen. " (23) 83 Engisch 1956, 215 (Anm. 52c zu S. 63).
84 Engisch 1956, 233 (Anm. 74a zu S. 78). 85 Engisch 1956, 258 (Anm. Hc zu S. 1~). Die dort gegebenen Beispiele können diese Unterscheidung nicht stützen. "Sache" als Wort, das "natürliches Ding", aber auch "Verhandlungs. gegenstand" bedeuten kann, wird gegenübergestellt eine Notengebung wie "glatt zwei", die angeblich einen "Exakten Zahlbegriff" enthielte. Wieso es - in Engischs Terminologie gedacht bei "Sache" nicht genausogut der "Begriff' sein kann, der mehrdeutig ist, wird nicht begriindet.
86 Engisch 1956, 232 (Anm. 74a zu S. 78). 87 Engisch 1956, 233 (Anm. 74a zu S. 78).
2.2 Die "KIa&sische Hermeneutik" und ihr Verhältnis zur Sprache
73
drucksseite und Inhaltseite bezeichnet wird. Der "Gedanken" wird damit automatisch zu einer Art "höherem Inhalt" eines Normtextes, der nur dann zustandekommen kann, wenn die Zeichen in ihrer Bedeutung, die schon verstanden ist, nochmals Gegenstand einer "Auslegung" geworden sind. Engisch ist hier also nicht entschieden, für welchen Aspekt der Interpretation von Gesetzestexten er den Terminus "Auslegung" reservieren soll: für die "Feststellung" der Bedeutung der Gesetzesausdrücke oder für die Bestimmung der weitergehenden juristischen Konsequenzen, welche einer in ihrer "grammatischen" Bedeutung "festgestellten" Gesetzesnorm folgen. Die (durch die vier Kanones unterschiedenen) vier Arten der Gesetzesinterpretation werden trotz ihres - sprachtheoretisch gesehen - durchaus unterschiedlichen Status unter den Oberbegriff "Auslegung" subsumiert. Nur indirekt läßt sich dann erschließen, welche bedeutungstheoretische Auffassung hinter Engischs widersprüchlichen Formulierungen steht. Die "grammatische Auslegung" bzw. "Auslegung nach dem Wortsinn" beschreibt er als "jene spezifische Methode der SinnermittIung, die sich (zumindest fürs Erste) orientiert an der sprachgebräuchlichen (häufig lexikalisch zu erschließenden) Bedeutung der Worte und ihrer syntaktischen Zusammenfügung; nichts anderes ist unter dem 'Wortsinn' verstanden; daß dieser dann meist nicht eindeutig ist, wurde bereits gesagt.088 "Wortsinn" bzw. "lexikalische Bedeutung" wird also nicht verstanden als die konkrete Textbedeutung, die ein Normtext und seine sprachlichen Bestandteile ("Wörter", "Begriffe") im jeweiligen Kontext ihres Vorkommens spezifisch und einmalig haben, sondern als "Abstraktbedeutung", welche man für ein Sprachzeichen in Form eines Wörterbucheintrages ("lexikalische Bedeutung") beschreiben kann. Die auszulegenden Sprachzeichen werden also nicht als solche verstanden, die ihre Bedeutung in Akten ihrer konkreten, kontextbezogenen Anwendung jeweils erst realisieren, sondern als statische Entitäten, die auch eingebunden in Zeichenketten (Syntagmen) und Kontexte immer dieselbe abstrakte "Bedeutung" haben. Nur mit diesem Mißverständnis kann erklärt werden, weshalb bei Engisch und in den Diskussionen der klassischen juristischen Hermeneutik das Verhältnis zwischen Rechtsbegriffen (bzw. ihrer juristischen Auslegung) und alltagssprachlicher Bedeutung eine solche herausgehobene Rolle spielt.89 Wenn man in ein Wörterbuch schaut, den Wortsinn "lexikalisch erschließt", dann findet man dort meist eben eine alltagssprachliche Definition der Wortbedeutung; nur wenn man den "Wortsinn" (in engerem Sinn), den ein Terminus in einer Normformulierung hat, als die Zusammenfassung der aus allgemeinsprachlichen Lexika erschlossenen Bedeutungserklärungen mißver88 Engisch 1956, 233 (Anm. 74b zu S. 78). 89 Engisch (1956, 78) spricht beim "Wortsinn" von einer "Spannung" zwischen dem "natürlichen alltäglichen Sprachsinn" und dem "technisch-juristischen Sprachsinn".
74
2. Die klassische Auslegungslehre
steht, kann jener oft abgehandelte Konflikt entstehen, wie man von dieser "Bedeutung" abweichend die (korrekte, übliche und notwendige) juristische Auslegung rechtfertigen kann. Erst wenn der Terminus "Bedeutung" in dieser Weise falsch angewendet wurde, kann es auch möglich werden, daß der "Wortsinn" als selbst noch einmal einer zusätzlichen (auf die "Gedanken" zielenden) "Auslegung" bedürftig angesehen wird. Zunächst wird der Begriff "Bedeutung' (bzw. "WOItsinn") unnötig ausgeweitet auf die "Lexikonbedeutung" (statt auf die konkrete Kontextbedeutung bezogen zu werden), dann muß der dadurch eingeräumte Spielraum wieder eingeschränkt werden, indem man die so gewonnene "Bedeutung" durch juristische (systematische, historische, teleologische) Auslegung wieder auf ihren konkreten Textsinn zurückführt. Nur dann kann auch "die Auslegung nach dem Wortsinn und die Auslegung nach dem sonstwie zu bestimmenden Sinn" als "Gegensatz" angesehen werden. 90 Die Ausweitung der Auslegung über die sprachliche Bedeutung in engerem Sinne hinaus hat in der juristischen Auslegungslehre zu dem klassischen Topos der "Wortlautgrenze" geführt. So betont auch Engisch, "daß die Auslegung sich immer noch irgendwie in den Grenzen des 'Wortsinns' halten muß, also allenfalls an diese Grenzen 'stoßen', nicht aber über sie hinausschreiten darf".91 Das "irgendwie" spricht für sich selbst, sind doch alle Bemühungen, näher zu definieren und - wenn möglich - exakt zu bestimmen, was unter der "Grenze des Wortsinns" verstanden werden soll, bislang mehr oder weniger erfolglos geblieben; man kann dieses Bestreben sogar als die bis heute eigentliche Triebkraft aller juristischen Bemühungen um Sprachtheorie ansehen. Die "Wortlautgrenze" wird stets mit der (seit Philipp Heck) ebenso klassischen Metapher vom "Begriffskem" und "Begriffshof verknüpft, die Engisch so erläutert: "Soweit wir UDS über Inhalt und Umfang der Begriffe im Klaren sind, haben wir es mit dem Begriffskem zu tun. Wo die Zweifel sich einstellen, beginnt der Begriffsho[."92 Bisher konnte noch niemand genau sagen, was unter den - in der Sprachwissenschaft unüblichen - Ausdrücken "Begriffskern" und "Begriffshor eigentlich verstanden werden soll. Im Gegensatz zu neueren Versuchen (vor allem der an der logischen Semantik orientierten Juristen), die Grenze zwischen beiden (die sprachtheoretisch zu bestimmen wohl mißlingen dürfte) exakt zu bestimmen, hat die Formulierung des Problems durch den Praktiker Engisch den Vorzug, offen zu sein. "Kern" und "Hor werden bei ihm nämlich zu relativen Begriffen, die relativ zur Gruppe der Interpreten eines Normtextes (also relativ zu einer begrenz90 Engisch 1956,78. 91 Engisch 1956, 104; er fährt fort: "Jenseits der Grenzen gibt es keine ausdehnende Auslegung mehr, sondern allenfalls 'Analogie'."
92 Engisch 1956, 108.
2.2 Die "Klassische Hermeneutik" und ihr Verhältnis zur Sprache
75
ten Gruppe von Sprachteilhabern und damit zu einer bestimmten (fachlichen) Situation der Textinterpretation) bestimmen, was unter Kern und Hof verstanden werden soll. Wenn Engisch zugesteht, daß der "Begriffskern" und "-hof' je nach Interpretations-Situation ("soweit wir uns im klaren sind", "wo die Zweifel sich einstellen") und -Kontext etwas sehr Verschiedenes sein kann, dann wäre es konsequent, diese Einsicht in die Kontextgebundenheit jeder Sinnkonstitution und jedes Sinnverstehens auch auf den Begriff der "Bedeutung" (des "Wortsinns") als solchen auszudehnen. Diese sprachtheoretische Konsequenz, welche die Einsichten des Rechtspraktikers in eine pragmatische Betrachtungsweise der Sprache überleiten würde, kann Engisch wegen seines Verharrens in begriffsjuristischen Denkschemata nicht vollziehen. Jedes Reden von Bedeutungs"kernen", dies zeigen auch die Ausführungen von Engisch zur Extensions-Bestimmung von Rechtsbegriffen,93 hat sich dem Problem zu stellen, welche Bedeutungs"merkmale", bzw. welche "Subsumtionen" unter die "Klasse der Extensionen eines Begriffs" als "wesentlich" bzw. "zum Kern gehörig' klassifiziert werden, und mit welchen Kriterien das geschieht. Laut Engisch ist es die "Auslegung", welche diese Kriterien liefern soll; zugleich soll aber die Zuordnung zum "Kern" (bzw. zur "Extension") eines Begriffs selbst der Vollzug der Auslegung sein. Wenn dasjenige, was als Ergebnis der Interpretation dastehen soll (die Auslegung) aber gleichzeitig zu seiner eigenen Voraussetzung gemacht wird (nur die Auslegung kann bestimmen, mit welchen Kriterien der Bedeutungskern abgegrenzt wird), dann hat die Begründung sich im Kreise gedreht; mit anderen Worten: es hat überhaupt keine Begründung stattgefunden; die sprachtheoretische Bestimmung des Prozesses der "Auslegung" muß erst noch gefunden werden. Wir finden diese Zirkularität der Begründung, wie sie charakteristisch für alle Semantiken ist, die auf dem Modell der Extension und Intension beruhen, also schon früh bei Engisch als Vertreter der "Klassischen Lehre" der juristischen Auslegungstheorie. Auch das bei ihm vorgefundene Weiterleben der begriffstheoretischen Orientierung der juristischen Auslegungslehre (ob es sich dabei um eine modeme Variante der "Begriffsjurisprudenz" handelt, wäre noch zu beurteilen) setzt sich bis in die jüngsten sprachtheoretischen Bemühungen der juristischen Auslegungslehre fort.
93 Engisch 1956, 57.
Kapitel 3
Die Wende zur "Neuen Hermeneutik" Bevor der Linguistik-Boom der End-Sechziger und frühen Siebziger Jahre auch in der Jurisprudenz mit neuartigen Titeln wie "Juristische Semantik" nachhaltige Wirkung entfalten konnte, fand in der juristischen Methodendiskussion seit Mitte der Sechziger Jahre die neue Philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers Eingang, deren erstaunlicher Breitenwirkung in allen "Text- und Buchwissenschaften" sich auch die Juristen nicht entziehen konnten. Angesichts der Tatsache, daß die Jurisprudenz auf eine lange und (anders als in den Philologien) ungebrochene Tradition hermeneutischen Denkens zurückblicken konnte, ist die Durchschlagskraft der wenigen Bemerkungen, welche der Philosoph Gadamer den spezifisch juristischen Auslegungsproblemen widmete, erstaunlich.l Erstaunlich ist sie um so mehr, als zum einen Gadamer seine Theorie ausdrücklich nicht als Beitrag zu einer philologischen Methodologie verstand,2 und zum anderen der für die juristischen Belange zentrale Begriff der "Ap~likation" von Gadamer selbst der juristischen Problemlage entlehnt wurde, die an Methodenfragen interessierten Juristen sich also nur ihrer facheigenen Tradition hätten zu erinnern brauchen, statt einen ihren Zielen äußerlichen philosophischen Ansatz aufzugreifen.4 Eigentlicher Anlaß für die Breitenwirkung der philosophischen Hermeneutik in der juristischen Auslegungslehre war daher auch nicht der juristische Begriff der Applikation, sondern der neue Terminus des "Vorverständnisses", der als "Zauberformel"s all die Wünsche bündelte, welche die 1 Tatsächlich ist die für luristenohren so schmeichelhafte Überschrift "Die exemplarische
Bedeutung der juristischen Hermeneutik" (Gadamer 1965, 3(7) irreführend, da Gadamer in diesem Abschnitt kaum etwas zur juristischen Hermeneutik sagt. Zur Rolle von Gadamers Hermeneutik in der Rechtstheorie und zu seinem Sprachbegriff vgl. auch Alwart 1987, 92 ff. 2 Gadamer 1965, XXIX f. 3 Gadamer 1965, 312. 4 Rottleuthner 1976, 10 ordnet daher die juristische Wende zur "Neuen Hermeneutik" (von ihm stammt auch die Benennung) in die Modeerscheinungen ein. S Rottleuthner 1976, 11; er fährt fort: "Das Vorverständnis wurde zum Sammelbecken für alle nur möglichen 'Wertungsgesichtspunkte' im richterlichen Handeln; es avancierte zum geheimnisvollen, eigentlichen Akteur in der Rechtsanwendung, gleichsam zum hermeneutischen Doppelgänger des Richters."
3. Die Wende zur "Neuen Hermeneutik"
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geschilderte Entgrenzung der Auslegung, d.h. ihre Öffnung für alle Arten von Wertungsgesichtspunkten und Entscheidungsinteressen, unter dem Titel einer Theorie bzw. Methodik der Normten-"Auslegung" gegenüber dem Gesetzesbindungspostulat legitimieren wollten. Der Begriff des Vorverständnisses erlaubte es, die faktisch immer schon wirkungsmächtigen Vorurteile, Überzeugungen und Wertvorstellungen der Richter explizit zu machen und offen zuzugestehen, indem man sie auf die Ebene eines hermeneutischen Prinzips erhob. Es war nicht nur ein auslegungstechnisches Problem, das damit formuliert und zur rechtsmethodischen Diskussion gestellt wurde, sondern, wie Frommel es beschreibt, "eine Frage des juristischen Selbstbildes".6 Mit anderen Worten: der Charakter von Recht, Rechtsanwendung und Rechtsprechung selbst stand zur Diskussion. Ziel dieser Diskussion war es aber nicht etwa, eine neue Selbstverständigung der Jurisprudenz in ihrem Handeln einzuleiten, sondern die überkommenen Praktiken (und auch Freiheiten) der Gesetzesanwendung, wie sie in der Hervorhebung der "gleichen Gestimmtheit" als Grundlage der Normtextauslegung bei Forsthoff zum Ausdruck kamen, zu den Weihen einer philosophischen Begründung zu erheben. Nur deshalb, weil die "neue" Hermeneutik ein Festhalten an der überkommenen Praxis zu erlauben schien,7 konnte ihre Rezeption eine solche Breitenwirkung annehmen, daß es gerechtfertigt ist, von einer "Wende" der ganzen juristischen Methodenlehre zu sprechen, an der niemand, der auf diesem Feld Gehör finden will, mehr vorbeikommt - sei es, daß er affirmativ zu ihr steht, sei es, daß er ihr zu widersprechen gezwungen ist.8 Wenn die "Hermeneutik einen Ausweg aus der Alternative 'Rechtspositivismus oder Naturrecht' anzubieten [schien]",9 dann betrifft dies eher den Abschied von positivistischen Legitimationsfiguren als ein von Grund auf
6 "Welche Rolle spielen allgemeine und individuelle Wertvorstellungen, Überzeugungen und Vorurteile des Richters im Rechtsanwendungsprozeß? Wie kann man die rechtsstaatliehe Forderung der Bindung des Richters an Gesetz und Recht und die unumgängliche Tatsache der richterlichen Auslegungsspielräume realistisch formulieren? Die Fülle der Literatur und die Flut der Aufsätze zu diesem Themenkreis signalisieren, daß es sich nicht nur um ein akademisches Problem handelt, sondern um eine Frage des juristischen Selbstbildes. Zur Diskussion stehen divergierende Leitbilder der Rolle des Juristen in der Gesellschaft." Frommel 1981, 1. 7 Diese Ursachen für die hermeneutische Wende beschreibt mit der wissenschaftstheoretischen Distanz, die mit einem Zeitabstand von zwei Jahrzehnten möglich geworden ist, recht drastisch Gizbert-Studnicki 1987, 345; das vollständige Zitat ist unten S. 94 f. wiedergegeben. 8 "Jeder, der sich mit der juristischen Methodenlehre befaßt, sieht sich veranlaßt, sich mit der Hermeneutik auseinanderzusetzen, d.h. sich entweder zu ihr zu bekennen oder sie ausdrücklich abzulehnen. Die Hermeneutik bestimmt also heute eine der grundsätzlichen Demarkationslinien innerhalb der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie. " Gizbert-Studnicki 1987, 344. Dies gelte fast ausschließlIich im deutschsprachigen Raum, während sonst die analytische Rechtsphilosophie in Anknüpfung an Wittgenstein vorherrschend sei. 9 Gizbert-Studnicki 1987, 345.
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neues Verständnis der juristischen Auslegungs-Arbeit. Dies zeigt sich z.B. daran, daß die juristische Hermeneutik an dem aus dem Positivismus übernommenen "Objektivitätsideal der juristischen Interpretation orientiert" bleibt.1o Rechtstheoretischer und -methodischer Widerpart der neuen Hermeneutik ist deshalb auch weniger der mit Positivismus und Begriffsjurisprudenz durchaus vereinbare Objektivismus,11 als vielmehr "das analytische Instrumentarium der modemen Semantik und Sprachphilosophie. Im Streit zwischen Szientismus und Antiszientismus nimmt diejuristische Hermeneutik eine entschieden antiszientistische Haltung ein." Betrachtet man das zeitliche Aufeinanderfolgen von "hermeneutischer Wende" und "sprachphil0sophischer Wende" in der Rechtstheorie, dann stellt sich erstere als eine vorauseilende Reaktion (vor Entstehen des Phänomens selbst) auf die Forderungen der letzteren heraus; es verwundert deshalb nicht, daß beide Positionen die beherrschenden Antipoden des gegenwärtigen Methodenstreits der juristischen Auslegungslehre ausmachen. Wenn man den Gegensatz zwischen szientistischer und hermeneutischer Sichtweise an den Begriffen "Bedeutun&ifeststellunlf und "Verstehen" des Normtextes festmacht, dann ist schon der (meist als Allgemeinbegriff verwendete) Ausdruck "Auslegunlf (hermeneutisches) ProgrammY Der dem Verstehensbegriff inhärente Begriff "Interpretation" legt den sprachlichen Aspekt der juristischen Normanwendungstätigkeit nahe. Wenn die "Neue Hermeneutik" (linguistisch gesehen) gegen die sich explizit als ·Semantik" verstehenden Positionen der "Sprachphilosophischen Wende" bestehen will, dann muß sie einen Beitrag zur Erklärung des spezifisch Sprachlichen im Umgang der Juristen mit den Rechtstexten leisten können. Wenn im folgenden die Beiträge der führenden Hermeneutiker Esser, Kaufmann, Hruschka und (seit der 3. Auflage seiner Methodenlehre) Larenz näher untersucht werden,14 dann soll herausgefunden werden, ob ein solcher Beitrag von der 10 Gizbert-Studnicki 1987, 351. 11 An diesem wird letztlich immer festgehalten, auch wenn mit "Vorverständnis" und subjektiver Interpretenhaltung scheinbar widersprechende Momente in die Methodik Eingang fmden. Bis zum offenen Eingeständnis, daß auch eine "Sache Recht" (Hruschka) letztlich keinen Schutzwall der Objektivität verbürgen kann, reicht die "Liberalisierung" der juristischen Austegungstheorie bei den meisten Hermeneutikern nicht. U Gizbert-Studnicki 1987, 351. 13 Vgl. die Definition bei Schroth 1m, 188. Zum (unterschiedlich bestimmten) Verhältnis von "Auslegung" und "Verstehen" bei Gadamer und Betti vgl. aus Sicht einer linguistischen Aufarbeitung der Hermeneutik Biere 1989, 12 ff. 14 Zu nennen wäre noch Winfried Hassemer. M.Frommel 1981, 2 zählt außerdem noch Friedrich Müller zu den tragenden Kräften der Hermeneutik-Diskussion. Müller versteht seinen Ansatz heute jedoch nicht in dem Sinne als Hermeneutik, wie dieser Terminus seit der durch Gadamer inspirierten Wende meist verstanden wird. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch, weil Müllers 'Strukturierende Rechtslehre" den Rahmen der auf den Normtext furier-
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Neuen Hermeneutik auch tatsächlich geleistet wird. Der Weg der Rezeption von Gadamers Hermeneutik in der rechtsmethodischen Diskussion zeigt indes, daß sprachtheoretische Gesichtspunkte des Auslegungsproblems dabei eher im Hintergrund standen. Einer der ersten Rechtstheoretiker, der (noch im Erscheinungsjahr der zweiten, erweiterten und eigentlich wirkungsmächtig gewordenen Auflage von "Wahrheit und Methode") auf Gadamer verweist, ist der Larenz-Schüler Hruschka. Am Problem der Konstitution des Rechtsfalles arbeitet er (eher tastend) heraus, daß schon das Herangehen des Richters an den zu entscheidenden Fall mit "Vorstellungsbildern" und "Erfahrungen" ein aktives, konstitutives Verfahren ist und keine bloße Rezeption von unberührt bleibenden "Tatsachen": "Der Gebrauch der Sprache aber bringt eine Stellungnahme zum gedeuteten Phänomen mit sich.·IS Mit seiner Auffassung, daß schon die Konstitution des Sachverhalts (als Deutung des vor dem Erkenntnisakt liegenden "Lebensverhalts") als Antwort auf eine "Grundfrage" des Richters subjektive Implemente trägt,t6 liegt Hruschka näher an der philosophischen Grundidee Gadamers (daß die Welt selbst durch an sie herangetragene Fragen erst gedeutet werden mußI7), als die sich fast ausschließlich auf Textauslegung beschränkende spätere Hermeneutik-Diskussion. Diese hermeneutische Grundhaltung wird erst sekundär und eher beiläufig auf das Problem der Textauslegung übertragen, ohne daß die spezifisch s~rachlichen Probleme, die damit verbunden sind, schon ins Blickfeld geraten. 8 Auslegung ist hier noch eher Auslegung von Welt als Auslegung von
Texten. Erst in einer späteren Arbeit rückt Hruschka "das Verstehen von Rechtstexten" in den Mittelpunkt.19 Er unterscheidet dort die20 "Auslegung und Interpretation" von Rechtstexten einerseits, die "stets ein sprachlicher Akt" sei, ten juristiSChen Auslegungstheorie transzendiert und damit auch sprachtheoretisch gesehen über die gegenwärtige Diskussion hinausführt, werde ich sie an späterer Stelle gesondert behandeln. IS Hruschka 1965, 21. Das im selben Jahr erschienene Buch von Kaufmann (1965) '~nalogie und 'Natur der Sache'· enthält keinen Verweis auf Gadamer, obgleich der Autor es (in der Neuauflage von 1982, S. Tl) als frühen Beitrag zur Neuen Hermeneutik umzudeuten versucht. 16 "Der Sachverhalt als ordnende und gliedernde Darstellung des Lebensverhalts wird s0mit inhaltlich von der Grundfrage ganz vorweggenommen." Hruschka 1965, 29; zur Subjektivität der Sachverhaltskonstitution vgI. 73, zur Unterscheidung von "Sachverhalt" und "Lebensverhalt" 12. 17 Vgl. Gadamer 1960, 345 Cf. Hruschka bezieht sich, stärker als auf Gadamer, auf Collingwood, auf den sich auch Gadamer selbst beruft. 18 Hruschka 1965,31 (mit Verweis auf Gadamer): "Die allgemeine Hermeneutik lehrt, daß einen Text nur versteht, wer ihn als Antwort auf die zu ihm gehörige Frage versteht." 19 Hruschka 1972. Zu Hruschkas Hermeneutik vgI. kritisch Alwart 1987,97 Cf. 20 Hruschka 1972, 3, 6 f.
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von dem "Verstehen" andererseits, das sich eher auf die "im Verstehen des Textes verstandene Sache" richte als auf den Rechtstext im engeren Sinne. Das Bemerkenswerte an dieser Unterscheidung ist, daß hier der sprachliche Aspekt jedes juristischen Auslegungsvorgangs herausgehoben wird, jedoch nur zu dem Zweck, ihn sofort aus dem Bereich des für die juristische Methodik Wesentlichen auszugrenzen.21 Die Sprachfeme von Hruschkas Hermeneutik-Begriff ist als Gegenposition zu der als "hermeneutische Grundthese des Rechtspositivismus" bezeichneten Auffassung gedacht, daß der "Sinn" einer Rechtsnorm in den "Sätzen des positiven Rechts" schon enthalten sei,22 d.h. "als eine faktische oder quasi-faktische Eigenschaft des Textes aufgefaßt" werde.23 In der Entfaltung seiner (sicher notwendigen) Kritik am Auslegungs- und Sprachbegriff des reinen Rechtspositivismus24 gibt Hruschka seinerseits eine Sprachauffassung bekannt, welche das sprachseitige Problem jeder Textauslegung zwar bannt, aber nicht einer Erklärung zuführt. "Das Wort 'Sinn' läßt sich daher 'sinnvoll' nur als Kennzeichen für die spezifische Relation zwischen dem jeweiligen Wort und der jeweiligen Sache begreifen, die durch die Definition festgestellt worden ist.;,2S Indem der Bezug zwischen Textausdruck und bedeutetem Inhalt auf die "Herstellung der Wort-Sache-Relation" reduziert wird, enthüllt sich ein simpler Nominalismus, der gerade bei der Behandlung von abstrakten Rechtsgegenständen in Normtexten besonders unangemessen erscheint. Wenn das Verstehen von Rechtstexten reduziert wird auf ein "(Wieder-)Erkennen des Wort-Sache-Zusammenhangs",26 dann fragt sich, worin eigentlich noch die spezifische Leistung des "Verstehens" besteht; ein "Wiedererkennen" ist ein automatischer Vorgang, der keiner subjektiven Erkenntnisleistung bedarf. Hatte Hruschka die Subjektivität schon der Fallkonstitution in seinem ersten Buch gerade hervorgehoben, so kritisiert er nun den "romantischen 21 Hruschka 1972, 11 formuliert dies verstcckt: "Es geht nicht um die Kriterien der Richtigkeit von 'Auslegungen', sondern um die Bedingungen der Möglichkeit des Vemehens von Rechtstexten schlcchthin." Diese Äußerung entschlü&sclt sich erst, wenn sich gegenüber den eher als "Sprachgründe" faßbaren "Kriterien der Richtigkeit von Auslegung" die "Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens" als "Relation auf die (außersprachlichen) Sachen" herausstellt (31,48). Vgi. dazu (von der Gegenposition her) Rottleuthner 1976, 16, der das Urteil fällt, "daß Hruschka die Probleme, die von der Semantik seit langem präzise formuliert und untersucht werden, durch eine hermeneutische Terminologie (fcxt, Sache, Verstehen) in einer Weise verunklart, die seine Arbeit weit hinter den Stand der semantischen Diskussion zurückfallen läßt." 22 Hruschka 1972, 18. Das vollständige Zitat ist oben (Kap. 1.1, Anm. 12) wiedergegeben. 23 Hruschka 1972, 28. 24 Hruschka 1972, 29 u.ö. 25 Hruschka 1972, 39. 26 Hruschka 1972, 43. "Ohne Rückgriff auf die außersprachlichen, in den zu verstehenden Texten zur Sprache gebrachten Sachen können diese Texte nicht verstanden werden." (48)
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Subjektivismus etwa Schleiermachers".27 Die "Erkenntnis" der "Sache" (welche in Hruschkas semantischem Realismus mit der Bedeutung des sie bezeichnenden Wortes gleichgesetzt wird), also die eigentliche sprachtheoretisehe Grundfrage aller Auslegungstheorie, wird in diesem Ansatz als unproblematisch vorausgesetzt. Das Problem des "Verstehens", um das es Hruschka geht, ist nicht dasjenige des Verstehens von Sprache (dieses nimmt er einfach als gegeben an); vielmehr geht es ihm um eine "Sache Recht", die zum ermöglichenden Prinzip jeder Auslegung von Rechtstexten hypostasiert wird: "Die extrapositive 'Sache Recht' wird gerade als die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens von Rechtstexten ins Auge gefaBt.,.28 Nicht die Frage, wann eine Normtextauslegung noch mit dem Normwortlaut vereinbart werden kann, ist bei Hruschka der Kern der juristischen Hermeneutik, sondern die Möglichkeit, eine Auslegung unter Rückgriff auf das Konstrukt der "Sache Recht" noch für zulässig zu erklären. Einer Hermeneutik in diesem Verständnis geht es weniger um die Begrenzung von Auslegungen durch Präzisierung sprachseitiger Argumente, als um die Eröffnung von Möglichkeitsspielräumen der Normtextinterpretation, die es einem Richter ermöglichen, jegliche Entscheidung unter Vetwcis auf "einen Zugriff auf die 'Sache Recht'" zu rechtfertigen, "solange er es überhaupt noch als sachgerecht empfindet".29 Bemüht und zum eigentlichen Rechtfertigungsgrund gemacht wird hier das vorgängige (vor jeder Normtextinterpretation liegende) Einverständnis der juristischen Interpretengemeinschaft. Es ist deutlich, weshalb Gadamers Begriff des "Vorverständnisses" eine ausfüllungsbedürftige Lücke in der Selbstrechtfertigung juristischer Entseheidungspraxis schloß und deshalb solche Furore in der Rechtstheorie machen konnte. Auf die "Sache Recht" bezieht sich auch Hruschkas Lehrer Karl Larenz,30 der seit der dritten Auflage seiner "Methodenlehre" die Hermeneutik Gadamers in seine Konzeption mit einbezieht.31 Larenz rechtfertigt diesen Bezug 27 Hruschka 1972, 48. 28 Hruschka 1972, 56. Alwart 1987, 9S ff. sieht deshalb die Hermeneutik als eine Neuauflage der Naturphilosophie.
29 Hruschka 1972, 70 f. Auf die Problematik einer solchen Entgrenzung der Hermeneutik weist Nörr 1981, 241 mit Hinweis auf Hruschka hin. 30 "In einer Sprache wird immer über etwas gesprochen; Verständigung durch das Medium der Sprache ist Verständigung über eine Sache, die 'zur Sprache gebracht' wird. Die Sache, von der in der normativen Sprache der Jurisprudenz gesprochen wird, ist 'die Sache Recht'. Auf die Frage, was diese 'Sache Recht' sei, ist m.B. zu antworten: es ist das 'geltende Recht' gerade in seinem normativen Sinn, als 'Recht'." Larenz 1979, 180. 31 Die hermeneutischen Einflüsse in der Methodenlehre von Larenz werden bei Frommel 1981 ausführlich dargelegt. Ihr zufolge trim dessen Hermeneutik-Rezeption "auf eine ausgearbeitete Typuskonzeption, mit der Folge, daß hegelianische und hermeneutische Elemente eigenwillig verknüpft werden" (4). Frommel weist eindrucksvoll nach, wie bei Latenz die Fortschreibung begriffsjuristischer Anschauungen immer den Vorrang behält vor den eher ober-
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mit einem Verweis auf Wittgensteins "Gebrauchstheorie der Bedeutuntt und Sprachspiel-Begriff. Diese müssen dazu herhalten, die Bedeutung der Rechtsbegriffe "aus ihrer Rolle, ihrer Funktion im Sinnzusammenhang der normativen Sphäre des Rechts, ihrem dadurch festgelegten Gebrauch im 'Sprachspiel'" herzuleiten.32 Der "Sinnzusammenhang der normativen Sphäre des Rechts", das, "worüber" mit den Rechtsbegriffen gesprochen wird, ist dann die "Sache Recht". Indem das Recht als "Sprachspiel" gefaßt wird, soll den Rechtsausdrücken ein fester Sinn ("festgelegter Gebrauch") eingeschrieben werden. Der Sinnzusammenhang, auf den Larenz mit dieser oberflächlichen Adaption von Wittgensteins Begriffen anspielt, ist aber eher als die vorgängige "gleiche Gestimmtheit" der juristischen Interpretengemeinschaft im Sinne von Forsthoff zu verstehen, denn als Handlungszusammenhang im Sinne Wittgensteins. "Sprachspief steht hier bei Larenz u.a. für das, was in der "Neuen Hermeneutik" ansonsten unter dem Begriff des "Vorverständnisses" versammelt wurde.33 Unter dieses "Vorverständnis" subsumiert Larenz nicht nur die "Sache Recht", sondern außerdem noch "die Sprache, in der von ihr die Rede ist", den "Überlieferungszusammenhang der Rechtstexte" und die "sozialen Zusammenhänge und Interessenlagen", auf die sich die Rechtstexte beziehen.34 Der Begriff des Vorverständnisses wird hier also zur freudig aufgenommenen Sammelkategorie, in die all das zusammengefaßt werden kann, was (aus den verschiedensten praktischen, sprachlichen, ethischen, traditionellen, philosphischen, rechtspolitischen Gründen) als Bestimmungsfaktoren der Rechtsanwendung gegenüber der Methodengewißheit eines puristischen Positivismus gerettet werden soll.3S Wenngleich die Bedeutung rechtlicher Termini für Larenz im normativen Sinnzusammenhang "festgelegt" ist, so bedarf es zu ihrer Feststellung dennoch der "Auslegung", wo sie nicht "durch das unmittelbare Innewerden des Sinnes der Äußerung" verstanden wird.36 Worin besteht die (als "vermittelnflächlichen Bekenntnissen zur Hermeneutik. Dort findet sich auch eine Darstellung der Typuslehre, die hier nicht ausführlich behandelt werden kann, da es in unserem Zusammenhang nicht um eine Darstellung von Larenz' Gesamtkonzeption geht, sondern um eine Würdigung von deren sprachtheoretischen Implikationen im engeren Sinne. 32 Larenz 1979, 179. 33 Es verwundert daher nicht, daß Larenz den Terminus "Vorverständnis" nur selten verwendet; laut Frommel 1981, 83 zieht er die neutralere Formulierung "Sinnerwartung" vor. 34 Larenz 1979, 187.
3S Frommel 1981, 83. 36 Larenz 1979, 181. Diese Gegenüberstellung von "unreflektiertem Verstehen" und "reflektierter Auslegung" zeigt den für Juristen typischen unreflektierten und in seiner Voraussetzungshaftigkeit nicht durchschauten Bezug auf das intuitive Verstehen der Alltagssprache. Sprache wird erst dann zum Problem und Gegenstand der Methodendiskussion, wenn die unhinterfragte Selbstverständlichkeit ihrer Sinnkonstitution durch Verstehens- und Auslegungsprobleme gebrochen ist. Daß auch und gerade das "unmittelbare Innewerden des Sinns" einer
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des Tun" charakterisierte) Auslegung? "Der Auslegende vergegenwärtigt sich die verschiedenen möglichen Bedeutungen eines Ausdrucks oder einer Wortfolge und fragt sich, welche hier die 'richtige' sei. r037 Dies wirft die Frage auf, wie die "verschiedenen möglichen Bedeutungen" dem Interpreten gewärtig sind; ob sie ihm "unmittelbar" gegeben sind, oder ob er sie durch interpretative Bemühungen erst feststellen muß. Die Antwort, die Larenz gibt, ist eindeutig, und geht deutlich über bisherige auslegungstheoretische Positionen hinaus: "Es wäre also ein Irrtum, anzunehmen, Rechtstexte bedürften nur dort der Auslegung, wo sie besonders 'dunkel', 'unklar' oder 'widersprüchlich' erscheinen; vielmehr sind grundsätzlich alle Rechtstexte der Auslegung sowohl fähig als auch bedürftig."38 Man kann hierin mit Recht eine Übernahme von Positionen der Hermeneutik sehen, die ja jeden Verstehensakt als aktives, sinngebendes Deuten konzipiert hat. Der mit dem hermeneutischen Begriff des Vorverständnisses angespielte Sinn- und Deutungszusammenhang, in dem jeder zu deutende Text und jede Deutungstätigkeit steht (bei Larenz mit Wittgensteins Sprachspiel-Begriff bezeichnet) gibt auch den notwendigen Rahmen jeder Bedeutungsfeststellung einzelner Gesetzes-Ausdrücke. Larenz erwähnt die textuelle Konkretisierung jeder Einzelwort-Bedeutung und schließt daraus auf einen wechselseitigen Konkretisierungsvorgang zwischen Einzelbedeutung und Gesamtsinn eines Textes (bzw. dem textübergreifenden "gesamten Sinnzusammenhang").39 Der "Hermeneutische Zirkel" Gadamers wird damit eingeengt auf den Zirkel zwischen "Gesamtsinn" eines Textes und "Wortsinn" seiner einzelnen Bestandteile und damit eher im Sinne der Teil-Ganzes-Relation der traditionellen Hermeneutik gedeutet.4O "Auslegung" vollzieht sich bei Larenz dann als Prozeß, in dem eine Sinn-Hypothese des "unmittelbaren Verstehens" sich im Auslegungsprozeß (als der Prüfung und gegenseit~en Abwägung mehrerer Deutungsmöglichkeiten) bestätigt oder verändert.4 Die Auslegungsbedürftigkeit und -fähigkeit, die Larenz hier als Grundkonstante jedes Textverstehens bezeichnet, steht in scheinbarem Widerspruch zu seiner Auffassung des "unmittelbaren Innewerdens des Sinns"; wenn ein Interpret mehrere Deutungsmöglichkeiten vergegenwärtigt und abwägt, dann sind diese Deutungsmöglichkeiten wohl kaum auf dem Wege kritischen Befragung (und zwar sowohl in der Rechtstheorie wie auch in der Praxis der Rechtsauslegung) bedarf, gerät so kaum in den Blick. 37 Larenz 1979, 18t.
38 Larenz 1979, 182. 39 Larenz 1979, 183. 40 Larenz 1979, 183. So auch Frommell981, 89. 41 "Die Sinn-Erwartung hat den Charakter einer Hypothese, die durch eine gelungene Auslegung bestätigt wird." Larenz 1979, 184. Vgl. auch Frommell981, 83.
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des "unmittelbaren Innewerdens", also des selbstverständlichen intuitiven und unhinterfragten Sprachverstehens, in den Blick gekommen. Gegenstand der Auslegung ist (im grammatischen Kanon) der "Wortsinn", d.h. nach Larenz "die Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Wortverbindung im allgemeinen Sprachgebrauch oder [...] im besonderen Sprachgebrauch [...] des betreffenden Gesetzes...42 Da Larenz nicht angibt, auf welche Weise die Bedeutung des "allgemeinen Sprachgebrauchs" eruiert werden soll, vielmehr zu vermuten ist, daß er auf dem Wege des "unmittelbaren Innewerdens" gewonnen wird, kann die Formel nichts anderes meinen als die Befragung der eigenen Sprachkompetenz des Interpreten, welche mit dem "allgemeinen Sprachgebrauch" unhinterfragt gleichgesetzt wird. Wenn Larenz den Richtern aufgibt, die Wortbedeutungen in dem Sinne zu deuten, "in dem sie gemeinhin verstanden werden",43 dann macht er sie zugleich zu Richtern über das, was man dann wohl als "gesundes Sprachempfinden" bezeichnen müßte. Jedoch hat die "allgemeine Sprache" den offensichtlichen Nachteil "des Nuancenreichtums", und dieser "hat zur Folge, daß sich aus dem Sprachgebrauch allein ein eindeutiger Wortsinn nicht ergibt".44 Das Verfahren des "unmittelbaren Innewerdens" ist also anscheinend für juristische Zwecke ungeeignet, da die unproblematisch verstandene Wortbedeutung auch in der Alltagssprache kaum existiert. Juristische Textauslegung hat es stets mit "problematischen" Fällen zu tun, d.h. solchem Textverstehen, das der Entscheidung zwischen verschiedenen Bedeutungsvarianten bedarf. Indes ist diese Entscheidung nach der Theorie von Larenz zumeist schon vorgegeben; sie ergibt sich "aus dem Zusammenhang der Rede, der Sache, von der sie handelt, oder den begleitenden Umständen..45 Sprachwissenschaftlich entsprechen diese Faktoren dem Kotext (bzw. der Textkohärenz), dem Fokus und der Situation, welche v.a. in der Linguistischen Pragmatik eine Rolle spielen. Ist Larenz also, linguistisch gesehen, ein Pragmatiker (s.a. die Wittgenstein-Zitate)? Wenn er die drei Kriterien näher erläutert als "Bedeutungszusammenhang des Gesetzes", "Regelungsabsicht des Gesetzgebers" und "erkennbarer Gesetzeszweck",46 dann enthüllt sich hinter dem hermeneutischen Reflexionsaufwand nichts anderes als die klassischen vier Kanones der Auslegung. Textauslegung gestaltet sich so als wechselseitige Erklärung der Ausdrucksbedeutung(en) durch den sy42
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Larenz 1979, 307. Larenz 1979, 307; vgl. auch Larenz 1958, 309.
44 Larenz
1979, 307; vgl. auch 183: "Indessen ist die Bedeutung der einzelnen Worte in der allgemeinen Sprache regelmäßig nicht in solcher Weise festgelegt, daß sie stets in genau der gleichen Bedeutung gebraucht werden." 45
Larenz 1979, 307.
46 Larenz 1979, 308.
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stematischen Zusammenhang und intentionale und teleologische Aspekte einerseits und des systematischen Aspekts, der Absicht des Geset7gebers und des Regelungszwecks durch die Textbedeutung andererseits. Wenn dieses Wechselverhältnis als der "hermeneutische Zirkel" bezeichnet wird, dann besteht die Wirkung der "Neuen Hermeneutik" bei Larenz in nicht mehr als darin, für das "Hin- und Herwandem des Blicks zwischen Sachverhalt und Tatbestand" (Engisch) eine neue, zeitgemäße Benennung gefunden zu haben.47 Für diese klassischen Aspekte gibt die juristische Dogmatik die argumentative Ausfüllung. Es verwundert deshalb nicht, wenn für Larenz mit der Feststellung dogmatischer Argumente die Auslegung schon zuende ist: "Mit der KlarsteIlung des präzisen juristischen Sprachgebrauchs kann die Auslegung mitunter schon am Ende sein.,,48 Larenz setzt hier an zentraler Stelle seines Auslegungskonzepts die in der traditionellen juristischen Methodenlehre verbreitete Dichotomie zwischen (meist als vage bezeichnetem) "allgemeinem Sprachgebrauch" und angeblich eindeutigem "juristischem Sprachgebrauch" ein. Die Formel vom "besonderen Sprachgebrauch des Gesetzes" (die stets dem "allgemeinen Sprachgebrauch" zugesellt wird) scheint als Stellvertreter für (versteckte?) systematische, historische oder teleologische Argumente zu fungieren. Neben dem "allgemeinen Sprachgebrauch" und dem "besonderen Sprachgebrauch des Gesetzes" nennt Larenz als dritte Instanz noch den "allgemeinen juristischen Sprachgebrauch".49 Man kann diesen einmal als juristische Fachsprache deuten (dann müßte geklärt werden, ob sich Auslegungsprobleme auch tatsächlich in bestimmten Fällen schon mit der "KlarsteIlung des juristischen Sprachgebrauchs" erledigen, d.h. ob es Fälle gibt, wo die Berufung auf einen fachsprachlichen Konsens Deutungsmöglichkeiten entscheidet, die sich aus dem "allgemeinen" Sprachgebrauch ergeben haben), man kann ihn aber auch als Ersatzkategorie für die genannten kanonischen Momente deuten. Es dürfte fraglich sein, ob eine Berufung auf die Fachsprache der Jurisprudenz allein geeignet ist, Entscheidungen herbeizuführen. Weiter ist fraglich, ob die drei Arten von "Sprachgebrauch" im juristischen Auslegungsgeschäft als drei distinkte Kategorien überhaupt unterschieden werden können. Näher liegt die Vermutung, daß gerade der Einbezug systematischer, historisch-genetischer und teleologischer Argumente Auslegungsfragen überhaupt erst auf47 Siehe dazu auch Frommell981, 2. 48 Larenz 1979, 308.
49 "Der dem allgemeinen Sprachgebrauch oder, soweit ein solcher vorliegt, dem besonderen Sprachgebrauch des Gesetzes oder dem allgemeinen juristischen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn dient der Auslegung also einmal zur ersten Orientierung, zum anderen bezeichnet er, als möglicher Wortsinn sei es nach dem damaligen, sei es nach dem heutigen Sprachverständnis, die Grenze der eigentlichen Auslegung. Er steckt gleichsam das Feld ab, auf dem sich die weitere Tatigkeit des Auslegenden vollzieht." Larenz 1979, 311.
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wirft, statt sie zu entscheiden. Der eigentlich sprachliche Aspekt der Auslegung bleibt bei alledem merkwürdig blaß. Der Ansatz von Larenz zeigt damit die gleiche Sprachfeme, welche sowohl für die traditionelle juristische Hermeneutik als auch für die "Neue Hermeneutik" im Gefolge Gadamers kennzeichnend ist. Redeweisen wie die von dem (den drei "Sprachgebrauchs"-Arten) "zu entnehmenden" Wortsinn bzw. dem "unmittelbaren Innewerden des Sinnes" zeigen, daß der sprachseitige Aspekt des Auslegungsproblems in dieser Art Auslegungslehre (bei aller Breite der Darlegungen) nie wirklich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät. Eine "Hermeneutik" dieser Spielart enthält deshalb auch keine (oder nur versteckte) Argumente, die im Sinne einer (latenten) Bedeutungstheorie interpretiert werden könnten.so Vorzug der Hermeneutik ist es sicherlich, daß sie von der Theorie der Einzelwort-Bedeutung dadurch fortzukommen sucht, daß sie stets den Vorrang textueller oder textübergreüender (kontextueller) Sinnzusammenhänge betont.S1 Es darf jedoch mit Recht bezweüelt werden, ob darunter die genannten text1inguistischen Aspekte von Textkohärenz, Fokus und Situationsbezug zu verstehen sind. Es bleibt Anlaß zu der Vermutung, daß der "Sinnzusammenhang des Gesetzes", auf den Larenz in diesem Zusammenhang anspielt, eher einem Begriffssystem hegelianischer Prägung, wie es für die traditionelle Rechtstheorie maßgebend war, nahe kommt. Frommel weist darauf hin, daß Larenz noch in der zweiten Auflage seiner "Methodenlehre" den "Gedanken eines umfassenden systematischen Zusammenhangs der Rechtsbegriffe untereinander" betont.S2 Hegelsches Gedankengut spiegelt sich auch dort wider, wo Larenz den "rechtlichen Sachverhalten und Beziehungen" eine "eigene Seinsebene" zuschreibt im Sinne eines "objektivierten Geistes".s3 Der Gedanke der Objektivität (auch des Textverstehens) bleibt trotz Aufgreüens hermeneutischen Gedankenguts für Larenz' Methodenlehre konstitutiv. Zwar ist Textauslegung Deuten, indem der Textsinn "zur Sprache gebracht" wird, d.h. "mit anderen Worten deutlicher und genauer ausgesagt und mitteilbar gemacht" wird;54 doch wird dieses "wieder-Sprechen des gesprochenen Textes" durch
so Andeutungen finden sicb nur dort, wo Larcnz (1979, 157) für Bcgriffsdefinitionen das Verfabren der Merkmalsbcstimmung VOISiebt. Dies gebt jedocb nicbt über den Rabmen der traditionellen Bcgriffstbcorie hinaus, wie sie etwa bei Engiscb 1956 zu finden war. 51 Siebe jedocb Frommel 1981, 4, 15, SS f. u.ö., die Larcnz vorwirft, bei aufgesetzter Adaption an die neue Hermeneutik letztlicb immer seinem früberen Bcgriffs-Hegclianismus verpflichtet zu sein. 52 Frommel 1981, 56. Daneben scheint Larenz Gesetze tatsächlich als konsistente, geschlossene Texte im Sinne der Texttbcorie zu verstehen (vgl. S. 249).
53 Larenz 1979, 239.
54 Larenz 1979, 299.
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den Interpreten - trotz dieses aktiven Zugriffs - nicht im Sinne einer subjektiven Implementierung des Deutungsinhalts konzipiert, sondern als zur-Sprache-bringen dessen, was der Text: "gesprochen hat": "Dabei ist für den Vorgang der Auslegung kennzeichnend, daß der Ausleger nur den Text selbst zum Sprechen bringen will, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen..ss Wenn Larenz derart auf der ObjektivitlJt des Verstehens insistiert und damit am Objektivitätsideal der traditionellen Hermeneutik festhält,S6 dann ist es auf den ersten Blick überraschend, daß er mit seiner Orientierung der Auslegung am "Sinnzusammenhang der Gesetze" ein Erkenntnisziel formuliert, das "einer Objektivierung nur schwer zugänglich ist", wie Frommel anmerkt.s7 Das eigentliche auslegungstheoretische Credo findet sich bei Larenz weniger in seiner Entfaltung der Auslegungsmethode (die sich im wesentlichen auf die klassischen Kanones beschränkt), als in seinen Überlegungen zur "Rechtsfortbildung". Schon der Konkretisierungsakt, der in jeder Normtextauslegung notwendig enthalten ist, ist für ihn mehr als schlichte Anwendung eines vorgegebenen Rechtsbefehls, er ist "F01tbildung': "Die erstmalige Auslegung [...] stellt insofern bereits eine 'Fortbildung' der Gesetzesnorm dar, als sie eine unter mehreren dem Wortsinn nach möglichen Bedeutungen als die hier zutreffende kennzeichnet und damit eine vorher bestehende Ungewißheit beseitigt..sB Folgerichtig bezeichnet Larenz "Gesetzesauslegung und richterliche Rechtsfortbildung" als "Stufen desselben gedanklichen Verfahrens".S9 Kreativität sei Merkmal aller Interpretation, so daß der Übergang von Auslegung zur Rechtsfortbildung nur "graduelle Unterschiede" aufweise.60 Wenn die Rechtsordnung und die von ihr zusammengefaßten Rechtsnormen in ihren Anwendungsmöglichkeiten derart entgrenzt werden, dann bedarf es, wenn gleichzeitig der Gedanke ihrer Objektivität aufrechterhalten werden soll, einbindender Faktoren. Diese Bindungswirkung sieht Larenz "im Verständnis der zu ihrer Anwendung und Fortbildung Berufenen" gegeben.61 Die "eigene Seinsebene" welche die Rechtsordnung darstelle, und welche der Normtext-Interpret zur Wirkung kommen lasse, wenn er mit seiner Auslegung "nur die Norm sprechen lasse" ,62 hat ihre konkrete Existenz in SS Larenz 1979, 299. Kritisch zu dieser Figur Christensen 1988a, 47 ff. S6 Frommel 1981, 3, 88.
57 Frommel 1981, 87. S8
Larenz 1979, 351.
S9
Larenz 1979, 350.
60 "Wir wissen, daß jede Interpretation bis zu einem gewissen Grade auch eine schöpferische Leistung des verstehenden Subjektes ist." Larenz 1979, 351. 61 Larenz 1979, 392.
62 Larenz 1979, 300.
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der Beständigkeit und Kohärenz einer vor Beginn jeder Auslegungstätigkeit "gleich gestimmten" Interpretengemeinschaft, welche immer dann, wenn sie selbst (das Recht, die Auslegung) spricht, kraft Berufung die "Sache Recht" zum Sprechen bringt (und nicht etwa irgendwelche subjektiven Interessen, Werthaltungen, rechtspolitische Zielsetzungen, oder was man sich noch als säkulare Aspekte vorstellen könnte). "Der Text [...] antwortet nur dem, der ihn richtig befragt.063 Daß er ihn "richtig" befragt, garantiert die durch Ausbildung, Dogmatik und (instanzliche) Deutungshierarchie hergestellte "gleiche Gestimmtheit" der Jurisprudenz als Ganzer (die vielleicht heute, mit zunehmender Demokratisierung und damit zunehmendem Pluralismus langsam im Verschwinden begriffen ist). Es wird jetzt deutlicher, weshalb der hermeneutische Terminus VOTVer-
ständnis in der juristischen Interpretationstheorie eine solch große Verbreitung finden konnte, "daß man von einer Popularisierung innerhalb der interessierten fachlichen Kommunikation sprechen kann...64 Unter "Vorverständnis" als 'Sammelbegriff' konnten die verschiedensten Faktoren zusammengefaßt werden, welche nach gängiger Auffassung die richterliche Auslegungstätigkeit faktisch beeinflussen und U.U. auch lenken sollen. In einer merkwürdigen begrifflichen Vermischung werden dabei zum einen kanonische und dogmatische Momente (also Interpretationslinien und -traditionen, Auslegungsregeln, faktischer Konsens bis hin zum unhinterfragten standesbezogenen common-sense) und zum anderen die Sach- und Fall-Orientierung jeder rechtlichen Entscheidung zusammengebracht. Die "Sinnerwartung", welche Larenz sicher nicht zu Unrecht in jeder richterlichen Auslegungstätigkeit wirken sieht, wird mit der Adaption der philosophischen Hermeneutik zum berechtigten Faktor juristischer Gesetzesinterpretation gemacht. Dies betrifft vor allem die Rechtfertigung intuitiver Wertungsgesichtspunkte.6S Dabei werden Einflüsse, welche man unter 'Vorverständnis' subsumieren kann, indirekt dadurch gerechtfertigt, daß sie durch die Orientierung an einer sinnvollen und praktikablen Sachentscheidung quasi geboten seien. Dieser Aspekt der "Sachorientierung" der Hermeneutik (im Gegensatz zu einer "Sprachorientie~ der juristischen Semantik) tritt stärker noch als bei Larenz bei Josef Esser in den Vordergrund.
63 Larcnz 1979, 300.
64 Frommel 1981, 83. 6S "Im Unterschied zu Esser rezipiert Larcnz die philosophische Hermeneutik nicht, um die
Standpunktbczogcnheit des Verstehens aufzuzeigen, sondern um die intuitiven juristischen Wertungen einer angeblich 'positivistischen' Kritik zu entziehen." Frommel 1981, 3; vgI. auch 88. 66 Esser 1970.
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Während die "Sinnerwartung" sich bei Larenz auf den "Sinnzusammen-
bang des Textes" bezieht und auf "die Strukturen der Lebensverhältnisse, auf die sich die Rechtsnormen beziehen", das 'Vorverständnis' also eine heuristische Funktion als "Einstieg" in den Verstehensprozeß bekommt, ist die Sinnerwartung bei Esser vorrangig be~en auf ein Anwendungsziel, als Vorgriff auf eine gerechte Fallentscheidung. Auslegungsprobleme sind dann nicht in erster Linie text- und sprachbezogene Interpretationsprobleme, sondern ergeben sich aus der Eigenart jedes zu entscheidenden neuen Rechtsfalles: "Die Vorstellung, Textunklarheiten, Interpretationsschwierigkeiten des Textes, also reine Auslegungsprobleme seien Grund und Anlaß dieses permanenten Prozesses der Neuformulierung und des Neuverständnisses der Gesetze, weist Esser sehr entschieden zurück und betont die innovatorische Rolle des problematischen Falles.,,68 Der sprachliche Aspekt der NormtextInterpretation wird demnach bei Esser noch stärker zurückgenommen als bei Larenz, und letztlich für irrelevant erklärt; zur Begründung dieser Zurücknahme benutzt Esser den Begriff des Vorverständnisses in seiner spezifischen, fallbezogenen Auslegung dieses hermeneutischen Terminus. Im Zusammenhang mit seiner entscheidungsbezogenen (im Gegensatz zu einer interpretationsbezogenen) Rechtsfindungstheorie führt Esser dann auch Gadamers Begriff des "Horizontes" als "Erwartungshorizont um den Rechtsanwender" ein, um schließlich mit Berufung auf dessen Terminus der "Applikation" seine Theorie mit einem "Anwendungszirkel einer dogmatischen Interpretation" abzurunden. Esser expliziert dabei die bei Larenz nur latent unterstellte Verteidigung des rechtsmethodischen status quo, um diesen zur Instanz einer rechtstheoretischen Maxime zu erheben. Letztbegründendes Prinzip ist dabei der Nonnzweck, der offenbar als vor aller Interpretationstätigkeit schon aus der "Sache" gegeben aufgefaßt wird. Esser entwickelt seine Hermeneutik aus einer verständlichen Kritik am Norm-Positivismus, der die Rechtsnorm als einen "gleichbleibenden imperativen Akt im Sinne einer schematischen Vorschrift" begriffen habe, indem er diesem sein Verständnis der Norm "als ein des Sinnverstehens fähiges objektives Regelungsmuster" entgegenhält.69 Als dieses "Regelungsmuster" kommt es für die Norm und ihre Anwendung weniger auf sprachliche Interpretation an, als vielmehr auf den "Regelungszweck" der Norm bzw. die "Ordnungsbedürftigkeit" des zu entscheidenden Sachverhalts. Die Rechtsnormen "sind daher auch nicht schlechthin 'als solche' anwendbar, vielmehr muß sich schon ihre 'buchstäbliche' Anwendung nach dem geltenden Vorverständnis
67 So Frommell981, 74. 68 Frommel 1981, 79.
69 Esser 1970, 41.
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und nach der jeweiligen Auffassung von der Ordnungsbedürftigkeit der hier gemeinten Konfliktsfragen richten. Die Rechtsnormen bestehen mit anderen Worten nicht aus semantisch voll vorgezeichneten Regeln, sondern aus dem Inbegriff der an solchen Regeln erprobten Positivie~e."70 Es ist also nicht in erster Linie ein sprachliches Vorverständnis, auf das es Esser hier ankommt,71 sondern eine Übereinstimmung des luristenstandes im Umgang mit zu regelnden Sachverhalten, die sich aus dogmatischer Tradition und Präjudizien ergibt. Die "Grenzen tatbestandlicher Begriffe", die Esser unter Rückgriff auf die Metapher vom Begriffs'kern' gleichwohl nicht verwischen möchte, sind weniger Grenzen sprachlich-semantischer Interpretationsfähigkeit, als vielmehr Grenzen der Begriffsanwendung auf einen Fall.72 Daß eben in der Nonnanwendung schon ein Interpretationsakt enthalten ist, der die Semantik der fraglichen Rechtsbegriffe nicht unangetastet läßt, das unterschlägt Esser hier in Widerspruch zu seiner sonst vorzufindenden Betonung der Vorurteilshaftigkeit jeder Rechtsentscheidung. Kriterium der AuslegungsR.enze ist, ähnlich wie für Larenz, auch für Esser die "Alltagssprache". Eine "Auslegung" im Sinne sprachlich-semanti~her Interpretation ist für Esser unbedeutend bzw. lehnt er sie mehr oder weniger deutlich ab: "Seine [des Juristen] Subsumtion umfaßt jeweils die mit diesen Begriffen verbundene herrschende Auffassung von der Begriffsbedeutung, genau so wie er bei der Beurteilung nach wertausfüllungsbedürftigen Begriffen und Standards den Maßstab einbezieht, den die höchstrichterliche Judikatur an diese Begriffe derzeit anlegt."74 Esser spricht hier ein Auslegungsverbot aus (welches die Verfassung so nicht kennt), das nur von der "höchstrichterlichen Judikatur" durchbrocben werden darf. Auslegung findet schlicht nicht mehr statt; an die Stelle des anwendungsbereiten Rechtsbefehls des Positivismus ist nurmehr die "herrschende Auffassung von der Begriffsbedeutung" getreten. Damit entwertet Esser eigenhändig seine Kritik am Rechtspositivismus. Berufungsinstanz für Entscheidungen ist der common-sense der Disziplin bzw. das "Vorverständnis" des einzelnen Richters: "In diesem Sinne ist ein Großteil der Begriffe auch ohne reflektierte Auslegung für den Juristen nachvollziehbar, da er die Wertungszwecke und -gehalte der Begriffe kennt."7s Nicht das semantische Kriterium ist vorrangig für die Normanwen-
70 Esser 1970, 42. 71 Daß dieses existiert, gesteht er en passant zu: "Auch sie [die Sprache] ist ein Stück Vorverständnis." Esser 1970,10. 72 Esser 1970, 46 f. 73
So Esser 1970, 46.
74 Esser 1970, 53. 75 Esser 1970, 54.
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dung, sondern die Wertungszwecke der Norm, die von dem zu regelnden Sachverhalt quasi vorgegeben werden. Das semantische Kriterium der Bedeutungsinterpretation wird eingebunden in den "Regelungszweck" der Norm und die "Ordnungsbedürftigkeit" des Sachverhalts. Unter diesen Gesichtspunkten steht die Bedeutung des Normtextes auf einem minderen dritten Rang, in dessen Folge sie von jenen Aspekten überformt wird und als "eigenständiges" Kriterium der richtigen Auslegung letztlich vernachlässigbar ist. "Rechtsbegriffe in ihrer Wertungsbezogenheit sind also einerseits auf die Ausdrucksfähigkeit einer grammatischen Sprache angewiesen, andererseits in ihrer Bedeutungsbeziehung (Semantik) von spezifischen Regelungsaufgaben geprägt, im Hinblick auf deren Erfüllung sie definitorisch mit jenen Kriterien ausgestattet wurden, die als Elemente der Begriffsverwendllll8 entsprechenden Nachvollzug der Wertung durchschnittlich gewährleisten."76 Bei dieser Bemerkung (eine der sehr wenigen, in denen Esser semantische Probleme überhaupt explizit anspricht) fällt zweierlei auf. Zum einen bezieht Esser die "Regelungsaufgabe", d.h. das Normierungsziel bzw. die Normierungsfunktion einer Normtextformulierung, in die Bedeutung ("Semantik") der Normtextausdrücke mit ein, während die Auffassung der traditionellen juristischen Auslegungslehre besagt, erst müsse die Bedeutung des Gesetzestextes festgestellt sein, und dann könne aus dem "festgestellten Wortlaut" der Regelungszweck abgeleitet werden. Dieser Schritt könnte den Ansichten einer modemen praktischen Semantik entsprechen, wenn mit ihm eine entsprechende Bedeutungstheorie verbunden wäre, die "Bedeutung" als Kategorie auffaßt, welche Praxisbezüge, Situations- und Kontextmomente und Sprachspiel-Regeln mit einbezieht. Esser macht indes keinen Versuch, seine Überlegungen in Richtung einer solchen (und überhaupt einer) Semantik zu lenken. Vielmehr verwendet er (nicht nur mit dem Ausdruck "grammatische Sprache") durchgängig Formulierungen, die darauf hindeuten, daß er den "Wortlaut" im engeren sprachlichen Sinne (als anwendungsfeme lexikalische Semantik) als unproblematisch und vor aller Auslegungstätigkeit gegeben ansieht. Denn Esser betrachtet zum zweiten (und im Widerspruch zum ersten Aspekt) die Begriffsbedeutungen der Gesetzesworte (jedenfalls mindestens ihre regelungsrelevanten Momente) als vor jeder Verwendung "definitorisch" festgelegt. Es fragt sich hier, welche Instanz diese Definitionsgewalt haben sollte; nur die wenigsten Gesetzestermini sind in den Gesetzen selbst explizit definiert, und selbst bei denen, die es sind, kann die Definition innerhalb des einen Gesetzes nicht ohne weiteres auf die Verwendungen desselben Aus-
76 Esser 1970, 102 f. Siehe auch 194: "Die verbale Grenze ist voll abhängig von der Bedeutungsgrenze des Normzwecks."
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drucks in anderen Gesetzen übertragen werden, wie Juristen immer wieder betonen. Zwar gibt es eine faktische Definitionsgewalt gerichtlicher Oberinstanzen; doch abgesehen von der hier nicht zu erörternden verfassungsrechtlichen Frage, ob die Auslegungen von obersten Gerichten überhaupt eine unhinterfragbare Bindungswirkung haben sollen oder können, liegt das Interpretationsproblem ja vor jeglicher (auch der höchstrichterlichen) anwendungsbezogenen Auslegung. Auch dies kann also mit "definitorisch" nicht gemeint sein. Übrig bleibt nur, daß Esser den Formulierungsakt von Normtexten offenbar im Sinne einer "definitorischen Ausstattung mit Kriterien" mißversteht; selbst wenn man sich darunter eine attributive (oder sonstig im Kotext sprachlich ausgedrückte) Charakterisierung eines zentralen Gesetzesterminus vorstellt, dann bleibt immer noch das Problem der (auch sprachlichen) Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit solcher Kollokationen (wie selbst auch der definitorischen Formulierungen in Gesetzen). Diese Auslegungsfähigkeit eröffnet Deutungsspielräume, welche das Prädikat "definitorisch" ausschließen. Daß es auch nicht um "Festlegung" der Bedeutung durch den Textautor gehen kann (der Glauben an die Festlegbarkeit wäre ein Rückfall in längst überholte, und gerade von der Hermeneutik als Gegenposition begriffene bouche-de-la-loi-Theorien) zeigt Esser selbst, wenn er im gleichen Atemzug den Nachvollzog der Autorintention als nur "durchschnittlich gewährleistet" akzeptiert: es ist die Instanz des "Durchschnittlichen", d.h. wieder der Appell an den juristischen common sense, welche die Übereinstimmung der Auslegung mit dem Normten "definitorisch" verbürgen soll. Esser setzt die Tradition der "alten" juristischen Hermeneutik fort, wenn er das Auslegungsproblem "jenseits der Bedeutung" der Normtexte ansiedelt.77 Selbst wenn ihm darin zugestimmt werden kann, daß sich das Auslegungsproblem der juristischen Methodik nicht in der "Sprachfrage" erschöpft (schon gar nicht dann, wenn man Sprache auf das sog. "grammatische" Element verengt), so geht Esser doch mehrere Schritte zu weit, wenn er die Probleme der Bedeutnngsanalyse und damit die Semantik ganz aus der juristischen Hermeneutik ausgrenzen will. Sein Hinweis darauf, daß "Interpretationsfragen" in anderen Geistes- und Kulturwissenschaften sich vom juristischen Sprachproblem nicht unterscheiden (eine Behauptung, deren Richtigkeit erst noch nachgewiesen werden müßte), kann nicht begründen, weshalb eine Hermeneutik ohne alle sprachtheoretische und semantische Reflexion auskommen können soll. Deren pauschale Ablehnung ("Die allgemeine lin77 So Esser 1970, 134. Dort weiter: "Was die juristische Interpretation betrifft, so steht auch bei ihr bislang meist noch die Sprache im Vordergrund des analytischen Interesses und der Kritik von Interpretationsmöglichkeiten und -grenzen. Aber in dieser Sprachfrage erschöpft sich die Bedeutung der juristischen Henneneutik keinesfalls. [...] Natürlich ist die Sprache ein Schlüssel des Zugangs zu Verstehensfragen, der andere Anstrengungen verlangt als schlichte semantische Festlegungen."
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guistische Hermeneutik kann hier nichts leisten."78) rächt sich unmittelbar in solchen Formulierungen: "Es wäre hoffnungslos, auch nur einen ganz elementaren Ausdruck rein sprachlich interpretieren zu wollen."79 Statt, wie hier, alle entscheidungsrelevanten, praxisbezogenen Momente aus dem Bereich des "Sprachlichen" auszugrenzenso (was soll man sich unter einer solchermaßen sinn- und funktionsentleerten "Sprache" eigentlich noch vorstellen?), wäre es sinnvoller gewesen zu überlegen, wie der Sprach- und Bedeutungsbegriff angesichts des spezifisch juristischen Auslegungsproblems ausgeweitet werden müßte. Mit seiner Fixierung auf "Wertungsbeziehungen" und "Ordnungsfragen", die der Jurist in der Auslegung an den Normtext "heranzutragen" habe, drängt Esser die Sprachfrage (und damit eines der Kernprobleme der juristischen Methodenlehre) aus der "Hermeneutik" seiner Couleur hinaus. Dies hat einen Grund, denn dafür holt er etwas anderes in die Auslegungstheorie hinein: "Der 'hermeneutische Zirkel' liegt dabei [...] in der Tatsache, daß ohne Vorurteil über die Ordnungsbedürftigkeit und Lösungsmöglichkeit die Sprache der Norm überhaupt nicht das aussagen kann, was erfragt wird: die gerechte Lösung.,,81 Das Bedeutungsproblem, und damit der Normtext insgesamt, muß als Kriterium der richterlichen Entscheidung zurücktreten gegenüber dem, was vorgängig vor allen "Sprachdaten" immer schon wirkungsmächtig ist: die durch "Vorurteile"82 und "Ordnungsfragen,,83 stets schon nahegelegte "gerechte Lösung". Es verwundert nicht mehr, daß angesichts einer solchen normtext- und sprachfernen Hermeneutik der Wunsch anderer Juristen aufkommen konnte, deren Begründungsinstanzen ("Sache Recht", "Ordnungsfragen", "Gerechtigkeit", "Interesse") durch vermeintlich "harte" sprachphilosophische Kri78 Esser 1970,135. 79 Esser 1970, 135. so Wie unüberlegt Esser mit dem Sprachproblem umgeht, sieht man daran, daß er wenige Seiten vorher die praktiSChen "Regelungsaufgaben" von Normtexten gerade erst in die Semantik ("Bedeutungsbeziehungen") hereingezogen hatte (Esser 1970, 102 f.; s.o. das Zitat). Dieser Widerspruch scheint ihm nicht aufzufallen. 81 Esser 1970, 134.
82 Den Irrtum, die negativen Aspekte von Vorurteilsstrukturen durch Orientierung am commonsense des Juristenstandes ausgleichen zu können kritisiert zu Recht Frommel 1981, 96: "Die These, die korrekte Arbeit am Text eliminiere Vorurteile von selbst, unterschätzt die Bedeutung sozialer Regeln, welche sich innerhalb der Institution 'Justiz' bilden und welche die Rechtsprechung und damit die anerkannten juristischen Gesichtspunkte, welche eine praktische Relevanz haben, formen. Sie geht von einer Verwendung des Begriffs Vorurteil aus, welche nur den einzelnen Interpreten berüCksichtigt. Doch sind Vorurteile nicht nur das vorschnelle Urteil des Einzelnen. Sie sind sozial- und zeitbedingt." 83 "Das Herantragen einer bestimmten Ordnungsfrage [...] ist der entscheidende Akt, ohne den sich der Regelungssinn eines Ausdrucks der Gesetzessprache überhaupt nicht erschließen kann." Esser 1970, 135.
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terien ("Bedeutungsfeststel/unlt') ZU ersetzen. Die Art, wie Esser Begriffe aus Gadamers Hermeneutik im Sinne seiner eigenen Rechtstheorie umdeutet, zeigt, daß diese nicht geeignet waren, die juristische Methodenlehre mit Regulienmgsbilfen auszustatten, welche die Normanwendung besser an die Normtexte zu binden imstande sind als die herkömmliche juristische Hermeneutik. Wenn Esser den "Erwartungshorizont um den Rechtsanwender.84 zum rechtsmethodischen Kriterium erhebt, ohne das Problem aufzuwerfen, ob es nicht - unabhängig vom "Rechtsverständnis ganzer gesellschaftlicher Gruppen" - unter Umständen gerade die Aufgabe von Richtern sein kann, sich gegenüber an sie herangetragenen Erwartungen unter Berufung auf die verfassungsmäßige Bindungswirkung des Gesetzeswortlauts resistent zu zeigen, dann offenbart er sein traditionalistisches Rechtsverständnis, welches "Recht" immer gleichsetzt mit "Orientierung am Herkömmlichen". Wenn er zudem "die Rolle des Interpreten" bestimmt als die eines "Vermittler[s] zwischen gesellschaftlichem Bewußtsein und dogmatischer Ordnungstradition im System seines Rechts0t85 und eines "den Regelungsgedanken in dogmatischer und rechtspolitischer Hinsicht verantwortlich verarbeitenden Richters",86 dann ist bei dieser Fahrt zwischen Scylla ("gesellschaftliches Bewußtsein") und Charybdis ("herangetragene Erwartungen", "Ordnungsfragen", "gerechte Lösung", "dogmatische Ordnungstradition", "System des Rechts", "verantwortliche Rechtspolitik") vorentschieden, wohin der Weg geht. Diesen Effekt der "neuen" juristischen Hermeneutik hat der Jurist (!) Gizbert-Studnicki zutreffend charakterisiert, weshalb er hier auch ausführlich zu Worte kommen soll: "Indem die philosophische Hermeneutik die notwendige Verankerung jedes menschlichen Denkens in der Überlieferung betont und den Autoritätsbegriff rehabilitiert, scheint sie den Konservatismus des juristischen Denkens zu rechtfertigen. [...] Die Anziehungskraft der philosophischen Hermeneutik auf die Juristen erklärt sich daraus, daß die Hermeneutik keine Reform vorschlägt und die Juristen nicht zu einer Änderung ihrer Denkweise zwingt. [...] Gerade in dieser Hinsicht ist die philosophische Hermeneutik für die Juristen besonders attraktiv, weil diese nicht geneigt sind, ihre Denkweise zu reformieren [...]. Die Juristen suchen vielmehr nach einer Rechtfertigung ihrer Denkweise. Gleichzeitig ist ihnen daran gelegen, daß die Rechtfertigung, die es zu finden gilt, keine Änderung ihres Denkens notwendig macht. Die Hermeneutik scheint eine Lösung zu enthalten, die dieses Anliegen erfüllt.,,87
84 Esser 1970, 137.
85 Esser 1970, 137.
86 Esser 1970, 194. 87 Gizbert-Studnicki 1987, 345.
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Daß der Übergang von der traditionellen Hermeneutik zur neuen philosophischen Hermeneutik im Gefolge Gadamers jedenfalls in der juristischen Methodendiskussion mehr als Weiterführung denn als Neuanfang zu werten ist, zeigen auch die Arbeiten Arthur Kaufmanns. Dieser legt (noch vor der Rezeption Gadamers) die Intentionen seiner Hermeneutik offen: "Denn juristische Auslegung ist ja nicht bloß philologische Interpretation des Gesetzeswortlauts, das Nach-Denken eines bereits Gedachten, sondern das Weiter-Denken und Zu-Ende-Denken von Gedanken, die der Gesetzgeber überhaupt nicht gedacht hat. 088 Hier noch in der Terminologie der von Schleiermacher beeinflußten Hermeneutik Bettis, sollte die Wandlung zur "Neuen Hermeneutik" sich lediglich in Nuancen, dem Einwechseln der neuen Terminologie niederschlagen: "Ein ganz zentraler Punkt der neueren philosophischen Hermeneutik [...] liegt in der Erkenntnis, daß ein sprachlicher Text niemals aus sich heraus verstanden werden kann, daß vielmehr zum Verstehenkönnen immer schon ein Vorverständnis oder Vorurteil vonnöten ist.,.89 Diese sekundäre Formulierung der vorgängigen Ansichten in Gadamers Vokabular wird auch beim "hermeneutischen Zirkel" deutlich: Zunächst heißt es vor der Gadamer-Rezeption: "Auslegung ist nichts anderes als das richtige In-die-Entsprechung-Br,ingen von Norm und konkreter Situation.",90 sodann danach als Erläuterung des "hermeneutischen Zirkels": "Der konkrete Lebenssachverhalt ist in seiner rechtlichen Relevanz nur verstehbar im Hinblick auf die in Betracht kommenden Rechtsnormen, der Sinn der Rechtsnormen aber erschließt sich nur über das Verständnis des Lebenssachverhalts. n91 In dieser Konzeption, welche - ebenso wie Esser - den zu entscheidenden Sachverhalt in den Vordergrund der Methodik rückt, wird das Problem der sprachseitigen Auslegungsproblematik in für die neuere Hermeneutik typischer Weise an den Rand gedrückt. Ziel der Methodik ist es, die konstitutiven und rechtserweiternden Momente der richterlichen Entscheidungstätigkeit mit den Weihen einer methodischen Begründung zu versehen; deshalb verwundert es auch nicht, daß die "Analogie" im Zentrum von Kaufmanns Beitrag zur Hermeneutik steht.92 88 Kaufmann 1962, 158 f. Ähnlich argumentiert Kriele 1981, 151 f., der allerdings schon den Begriff des Verstehens transzendiert: "Die applikative Hermeneutik ist im juristischen Bereich verantwortliches Mit- und Weiterdenken des Gesetzes und deshalb nicht nur 'Verstehen des Gesetzes'." Zur Hermeneutik Kaufmanns vgI. die Beiträge in Hassemer 1984a, v.a. den Überblick von Hassemer 1984b. 89
Kaufmann 1975, 86.
90 Kaufmann 1962, 159. 91 Kaufmann 1973, 74. So auch in Kaufmann 1965/1982, 70, wo der Autor die Neuauflage seines Werkes von 1965 nachträglich zu einem Beitrag der neuen Hermeneutik umdeutet (explizit auf S. 77). 92
Kaufmann 1965/1982.
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3. Dic Wcnde zur "Ncucn Hcrmcncutik"
Kaufmann geht dabei von einem wichtigen Grundmoment sprachlicher Verständigung aus, doch gelingt es ihm nicht, es auch hinsichtlich der Sprache und des Sprachverstehens selbst begrifflich zu fassen. Sein Gedanke ist, daß in jeder Sprachverwendung ein Moment von Analogie steckt, d.h. daß der "'mögliche Wortsinn' weder ein Univokes noch ein Äquivokes und also nur ein Analoges sein kann".93 Zu Recht weist er (in einem Einwand gegen Engisch) darauf hin, daß es im strengen Sinne eindeutige Begriffe gar nicht geben könne: "Univok können nur sinnleere Begriffe sein (streng genommen nur Zahlbegriffe), sobald in sie ein Sinn 'hineingedeutet' wird, sind sie nicht mehr univok, sondern analogisch."94 Den analogischen Charakter jedes Begriffes begründet er auch mit dem prinzipiell metaphorischen Charakter abstrakter Begriffe, die als Analo;ebildungen aus Begriffen der sinnlichen Wahrnehmung entstanden seien. Er folgert daraus, daß jegliche Auslegung "immer im Bereich des Analogischen" liege und weist damit Analogieverbote zurück, da sie nichts anderes als "Interpretationsverbote" seien. Eindrucksvoll weist er nach, daß "Analogien" im rechtlichen Entscheiden tägliche Praxis sind, wenn abstrakte Rechtsbegriffe erstmals auf neue Sachverhalte angewendet werden, so z.B. der Begriff "Urkunde" auf einen Bierfilz oder der Begriff "Ehre" auf eine Aktiengesellschaft.96 Unter Verweis auf Radbruch zeigt er, daß "Gleichheit" als Kriterium der Analogie immer nur eine Abstraktion ist, die aus Ungleichem das Gleichartige herausgreift.97 Somit sei jede "gewöhnliche Subsumtion" schon das Vollziehen einer Analogie.98 An anderer Stelle arbeitet Kaufmann den wirklichkeitskonstitutiven Aspekt der Sprache heraus: "In jeder Sprache und injedem Sprechen ist schon eine bestimmte Wirklichkeitsdeutung enthalten.", Sprache wirke doppelt konstitutiv auf das Recht, einmal "durch den Akt der Normsetzung" und zum anderen "durch den Akt der Entscheidung" .100 Die im Duktus der neueren Hermeneutik mangelnde sprachtheoretische Reflexion seiner Überlegungen verhindert (trotz anderslautender Aufsatztitel und Thesen), daß Kaufmann die eigene Wirkungsmacht der Sprache in 93 Kaufmann 1965/1982, 4 f. 94 Kaufmann 1965/1982,5. 9S 96
Kaufmann 1965/1982, 31; Kaufmann 1969, 35. Kaufmann 1965/1982, 26 ff.
97 Kaufmann 1965/1982, 29. Radbruch schreibt in seincr "RechtsphiJosophie" (8. Aufl. 1973, 122): "Glcichhcit ist immcr nur Abstraktion von gegebencr Unglcichhcit untcr cincm bestimmtcn Gesichtspunkt." 98
99
Kaufmann 1965/1982, 40. Vgl. dazu auch Frommcll981, 103 f. Kaufmann 1984, 104; vgI. auch Kaufmann 1969, 33.
100
Kaufmann 1969,50.
3. Die Wende zur "Neuen Hermeneutik"
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eine Interpretationstheorie im eigentlichen Sinne überführt, welche immer auch eine Sprachtheorie zu sein hätte. Auch die hiltlose und für Sprachwissenschaftler nicht so recht nachvollziehbare Einteilung der Sprache in zwei Dimensionen (die "rational-kategoriale Dimension", die "begrifflich-abstrakt" sei, und die "intentional-metaphorische Dimension", die "symbolisch-anschaulich" seilOl) kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch Kaufmann (wie vor ihm schon Hruschka, Larenz und Esser) nicht bereit ist, aus seinen am Recht gewonnenen Einsichten über den Charakter von Textauslegung die notwendigen sprachtheoretischen Konsequenzen zu ziehen. So bleibt seine These, "daß das Verstehen von Gesetzesnormen [...] eine schöpferische Leistung des Verstehenden ist",102 an der Oberfläche des eigentlichen Problems der juristischen Interpretationstheorie, so daß es nicht verwunderlich ist, daß die in der juristischen (sprachphilosophischen) Semantik erwachsende Gegenposition daraus den Anstoß zum Vorwurf der Willkürlichkeit und Aufweichung der Gesetzesbindung gegen solcherart Hermeneutik beziehen konnte. Mit dem Festhalten an überkommenen Begründungsfiguren wie der "Natur der Sache" wendet Kaufmann seine methodischen Überlegungen fort von der Sprache hin zu den zu entscheidenden Sachverhalten: "Die Norm muß zum Lebenssachverhalt in Beziehung gebracht, sie muß sachgerecht gemacht werden. Das ist das, was man 'Auslegung' nennt: die Ermittlung des rechtlichen Sinnes der Norm. Indessen steckt dieser Sinn nicht, wie die traditionelle Methodenlehre jedoch annimmt, nur im Gesetz, in den abstrakten und darum weitgehend sinnentleerten Begriffen, man muß vielmehr, um diesen Sinn zu ermitteln, auf etwas Anschaulicheres zurückgreifen, auf die in Betracht kommenden konkreten Lebenssachverhalte. [...] Daher ist ja auch der Gesetzessinn nichts Feststehendes, er wandelt sich - trotz gleichbleibendem Gesetzeswortlaut - mit den Lebenssachverhalten."103 Kaufmann formuliert hier nichts anderes, als die in der neueren Linguistischen Pragmatik geläufige Einsicht, daß die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke immer nur in konkreten Sinn-, Situations- und Kontextbezügen entfaltet werden kann. Statt aber den Begriff der "Sprache" und der "Semantik" (wie es der in der juristischen Literatur häufig zitierte, aber meist unverstandene und nur zur Zitierautorität herabgewürdigte Wittgenstein vorgeführt hat) um die Aspekte des Handlungs- und Praxisbezugs sprachlicher Verständigung zu erweitern, reduziert Kaufmann (wie mit ihm die anderen "neuen" Hermeneutiker) die 101
Kaufmann 1969,34; Kaufmann 1965/1982, 73; u.Ö.
102 Kaufmann 1975, 88i. vgI. auch Kaufmann 1965/1982: 78: 'Textverstehen ist ein ambivalent-produktiver ProzeS". Ahnlich auch Schroth 1985, 280. 103 Kaufmann 1965/1982, 39. Vgl. auch 42: "Aber wieso wandelt sich der 'Sinn des Gesetzes' wenn der GesetzeswortJaut derselbe bleibt? Das ist doch einzig und allein deshalb der Fall, weil dieser 'Sinn des Gesetzes' gar nicht nur im Gesetz steckt, sondern ebenso in den konkreten LebenssachverhaJten, für die das Gesetz bestimmt ist."
7 Bus'ie
3. Die Wende zur "Neuen Hermeneutik"
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Sprache mit dem Topos der "sinnentleerten Begriffe" auf einen funktionslos gewordenen Kokon. Wo Sprache (auslegungstheoretisch) nur noch a1s bloße Hülle gesehen wird, da liegt es nahe, dieses "leere Gefäß" mit anderem Stoff munter aufzufüllen ("Natur der Sache", "Sache Recht", "gerechte Lösung", "Regelungszwecke", "Ordnungsfragen" usw.). Wenn Kaufmann feststellt: "Textverstehen ist also nicht etwas rein Rezeptives, sondern ein praktisches, gestaltendes Handeln",104 dann fällt diese richtige Einsicht bei ihm auf fa1schen, aber fruchtbaren Boden, indem er die in jedem Rechtsfindungsprozeß elementar und privilegiert eingehenden sprachlichen Daten (die Normtexte) auf eine beinahe vernachlässigenswerte Größe reduziert - wenn nicht praktisch, so doch im Rahmen der Auslegungstheorie.
104 Kaufmann 1975, 85.
Resümee (I) Faßt man zusammen, was die verschiedenen Ansätze der "Neuen Hermeneutik" (neben deren Vokabular) vereint, dann kann man als gemeinsames Charakteristikum das herausgreifen, was man als Vorrang der "SachorientieTUng' der juristischen Methodik bei Hruschka, Larenz, vor allem aber Esser und Kaufmann bezeichnen könnte. Frommel formuliert dies für Esser so: "Esser betont den Fallbezug der Gesetzesinterpretation. [...] Damit soll deutlich gemacht werden, daß nicht nur ein Text verstanden, sondern nach Maßgabe einer Norm reale Lebenssachverhalte geordnet werden sollen. [...] Esser betont also den praktischen Charakter der Gesetzesinterpretation. Auslegen ist praktisches Handeln. Die juristische Hermeneutik ist eine Handlungswissenschaft."l Für Kaufmann gilt, wie wir gesehen haben, dasselbe. Diese mit dem praktischen Auftrag der Jurisprudenz begründete Sachorientierung erhält in den unterschiedlichen bisher behandelten methodischen Ansätzen verschiedene Ausformungen. Für Hruschka und Larenz war sie mit der Orientierung an der "Sache Recht" gegeben. Bei Hruschka hatten wir gesehen, daß der hermeneutische Terminus "Auslegung' in seinem frühen Werk sich noch allein auf die Auslegung der "Welt" bezog, nicht auf die Interpretation von Texten. Dieser "Weltbezug" ist auch in den anderen hermeneutischen Beiträgen wirksam, indem das "Verstehen" (als der zentralen hermeneutischen Tätigkeit), als ein "Verstehen der Sache" (Hruschka), der "Ordnungsfragen" (Esser) bzw. der zur regelnden Sachverhalte (Kaufmann) gedeutet wird. In diesem (vermeintlichen) Sachbezug ist das teleologische Moment der Gesetzesauslegung stets schon enthalten. Esser spricht offen von den "Regelungszwecken", welche die eigentliche Bedeutung der Normtexte ausmachten. Die Orientierung an einer die Rechtstexte übersteigenden Entität ist das verbindende Moment zwischen "Neuer Hermeneutik" und der traditionellen juristischen Auslegungslehre. Schon bei Hatz war (vor-hermeneutisch, aber im Zeitgeist) der "objektive Rechtsgeist" als eigentlicher Bedeutungsträger der Rechtsbegriffe bezeichnet worden. Die "Auslegung aus der Sachbedeutung" wurde schon von Coing als das eigentliche Ziel der juristischen Auslegung bezeichnet, und Betti schließlich faßte als das Wesent-
1 Frommel 1981, 130 f.
100
Resümee (I)
liche der Normtextauslegung auf, "Richtlinien für das praktische Verhalten" zugeben. Alle Momente, welche für die "Neue Hermeneutik" so typisch zu sein scheinen, finden sich in der einen oder anderen Form also schon lange vor der Rezeption Gadamers wieder. Eines unterscheidet die Vertreter der "neuen" Hermeneutik jedoch von denen der "traditionellen" (mit Ausnahme vielleicht von Larenz, was wieder beweist, daß er zwischen beiden Hermeneutiken steht): Sprache und die mit ihr zusammenhängenden Probleme werden in der traditionellen juristischen Hermeneutik (zunehmend, je jünger die Arbeiten sind) noch eher zum expliziten Thema gemacht, als in der neuen Hermeneutik in der Nachfolge Gadamers. Der philosophische Gestus des Vorbildes Gadamer, Verstehen (unter Rückgriff auf Heidcgger) nicht als Textverstehen zu belassen, sondern zum zentralen philosophischen Terminus des "Weltverstehens" zu erheben, ist von den Juristen dankbar aufgenommen worden, erlaubte er doch, sich der lästigen sprachtheoretischen Fragen zu entledigen, welche in der bisherigen Methodendiskussion nie schlüssig hatten beantwortet werden können. Es lag auf der Hand, daß sich eine aus anderen theoretischen und philosophischen Wurzeln wachsende Gegenposition zur Hermeneutik mit vollem Elan auf das vernachlässigte Gebiet der Guristischen) Sprachtheorie und Semantik werfen mußte. Der "henneneutischen Wende" folgte zeitgleich mit dem Wiedererstarken des (Neo-)Positivismus in den Sozialwissenschaften die "sprachphilosophische Wende". Diese ersetzte, so scheint es, die Blindheit auf dem rechten Auge der Hermeneutik nunmehr durch eine Blindheit auf dem linken Auge, wie Esser bezüglich des für alle juristische Methodik zentralen Problems der Gesetzesbindung (in Vorwegnahme der Ergebnisse der juristischen Semantik?) formulierte: "Das Gesetz wird in seiner Bindungswirkung nicht dadurch gewahrt, daß durch irgendwelche doktrinären Anwendungs-, Interpretations- oder Konstruktionsformeln in scheinbar nicht teleologischer, sondern begrifflicher und systematischer Weise sein 'objektiver' Bedeutungsgehalt fixiert und in diesem Sinne 'kausal' angewendet wird. tt2 Während die sprachphilosophisch orientierte juristische Methodenlehre das Problem der Gesetzesbindung noch ins Zentrum der Diskussion stellt, hatte die "neue Hermeneutik" diesen Punkt schon in Richtung auf eine offen bejahte Teleologie verlassen.
2 Esser 1970, 194.
Kapitel 4
Die sprachphilosophische Wende "Die Sprachphilosophie als Freund und Helfer", so betitelte der Sprachpsychologe Hans Hörmann ironisch ein Kapitel seines grundlegenden Werkes "Meinen und Verstehen".l Er sah sich in seiner Disziplin demselben Phänomen gegenüber, das es auch in der rechtsmethodischen Sprach- und Interpretationsdiskussion erlaubt, seit Beginn der 70er Jahre von einer "sprachphilosophischen Wende" zu sprechen. Sprachphilosophie, und zwar vorwiegend in der angelsächsischen Spielart der "(sprach-)analytischen Philosophie~ schien mit einemmal die Lösung für so viele Probleme bereitzustellen, welche die mit Sprache im Allgemeinen oder Textinterpretation und Bedeutungsfeststellung im Besonderen beschäftigten Disziplinen zuvor nur unzureichend hatten behandeln können. Hinge man der Überzeugung an, daß die Abfolge wissenschaftlicher Paradigmen Resultat des stetig sich entwickelnden wissenschaftlichen Fortschritts sei, könnte man es mit dieser Erklärung des "Semantik-Booms" in der Rechtsmethodik bewenden lassen; die "Logische Semantik" und ähnliche der analytischen Philosophie verpflichtete sprachtheoretische Adaptionen der Juristen wären dann die notwendige Folge und Beitrag zur Überwindung des Erklärungsdefizits, welches die "Neue Henneneutik" der 60er Jahre hinsichtlich der Funktion von Sprache und der Möglichkeit exakter Methoden der "Bedeutungsfeststellung" hinterlassen hatte. Daß dieses Defizit akut war, haben wir im letzten Kapitel zweifelsohne feststellen müssen. Eine solche Darstellung würde auch dem Selbstverständnis der Vertreter der sprachphilosophischen Semantik entsprechen (die nicht verbergen, daß die Hermeneutik ihr Hauptgegner in der juristischen Methodendiskussion ist). Indes ist die Sachlage nicht so simpel. Vielmehr zeigt die zeitliche Parallelität der Erscheinungsdaten wichtiger Bücher aus der hermeneutischen Schule einerseits und von Anhängern der logischen Semantik andererseits, daß seit Beginn der 70er Jahre beide Hauptströmungen im edlen Wettstreit gleich stark das Feld des juristischen Methodendiskurses bestimmen; ein "Sieger" kann auch heute noch nicht ausgemacht werden. Das Aufkommen (oder, im Bereich der Jurisprudenz, Wiedererstarken) von an Idealen wie 1 Hörmann 1976, 246.
102
4. Die sprachphilosophische Wende
Exaktheit, Wahrheitsfähigkeit, empirischer Beweisbarkeit etc. orientierten wissenschaftlichen Theorien ist mit der in der allgemeinen Wissenschaftstheorie als "Neopositivismus" bekannten Orientierung der Sozial- und Geisteswissenschaften am Wissenschaftsideal der Naturwissenschaften verbunden, welche seit den 50er (Sozialwissenschaften) bzw. End-6Oer Jahren (Geisteswissenschaften) zu einer beherrschenden Strömung der modemen Wissenschaftsentwicklung geworden ist. Das Entstehen einer an diesen Idealen orientierten Schule der juristischen Methodendiskussion kann deshalb (fern vom wissenschaftlichen Fortschrittsglauben) auch als Anpassungsprozeß der Jurisprudenz an eine wissenschaftsgeschichtliche Bewegung gedeutet werden. Ergebnis dieses Anpassungsprozesses ist (wie in anderen Sozial- und Geisteswissenschaften auch), nicht etwa der Sieg einer Position über die andere(n), sondern ein an Umfang und Ausdifferenzierung ständig zunehmender Pluralismus von Positionen, Theorien, Schulen. Mit diesem Pluralismus können häufig gerade die Vertreter der im folgenden zu behandelnden sprachphilosophischen Semantik innerhalb der juristischen Methodendiskussion nur schwer leben. Daß sie (fachgeschichtlich gesehen) Wegbereiterfunktion hatten für den Blick über den Rand des eigenen Faches (und des immer schon im Blick liegenden Spektrums - wie z.B. der diversen Hermeneutiken), und somit mitverantwortlich sind für die Öffnung des Marktes der rechtsmethodischen Meinungen, das werden sie nicht gerade gerne sehen. Die "sprachphilosophische Wende" der juristischen Methodendiskussion wurde von zwei Bewegungen eingeleitet, die heide (indirekt) mit dem Namen Wittgenstein verknüpft sind. Neben einer Rezeption der (wenn auch häufig nur indirekt, über seine Schüler vermittelt) dem späten Wittgenstein verpflichteten und vor allem im angelsächsischen Bereich bis heute wirkungsmächtigen und vieldiskutierten "Analytischen Rechtstheorie" H.LA. Harts, welche in der deutschen Diskussion nur eine untergeordnete Rolle spielt (Kap. 4.2),2 ist dies die Rezeption und juristische Anwendung der "Logischen Semantik" im Anschluß an Camap, welche in der Tradition der ldealsprachen-Philosophie des "Wiener Kreises· steht, welche ebenfalls (der frühe) Wittgenstein entscheidend beeinflußt hat (Kap. 4.1). Die Logische Semantik hat lange das Feld der juristischen Sprachtheorie behauptet. Andere sprachtheoretische Ansätze, wie etwa Kommunikationstheorie, Semiotik, Rhetorik und Argumentationstheorie (Kap. 5.2) haben daneben nur eine marginale Rolle gespielt, obwohl sie z.T. zeitgleich oder sogar noch vor der logischen Semantik rezipiert wurden. Konzeptionen der Linguistischen Pragmatik (Kap. 6.2) wie auch eine Auseinandersetzung mit Wittgenstein di2 Hart 1961; vgI. dazu Eckmann 1969 und Roellecke 1970. Siehe dazu unten Kapitel 4.2. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist die "zweite" Rezeption Wittgensteins in der deutschen juristischen Methodendiskussion, siehe dazu unten Kap. 6.1.
4. Die sprachphilosophische Wende
103
rekt (anhand der Originaltexte und nicht vermittelt; Kap. 6.1) beginnen (parallel zur Entwicklung in der Linguistik selbst) erst seit Ende der 70er Jahre in die Rechtstheorie überzugreifen; ihre Adaption scheint schon eine Reaktion auf die Vereinseitigungen der Logischen Semantik zu sein, weshalb ihre Darstellung in unserer Gliederung ihren systematischen Standort an späterer Stelle hat. Den Wendepunkt zwischen "alter" juristischer Hermeneutik und der Adaption neuerer Sprachtheorien in der juristischen Methodendiskussion kann man an den Titeln der Arbeiten von Hatz und Horn festmachen. Formulierte Ersterer im Jahr 1963 noch "Rechtssprache und juristischer Begriff' und blieb mit dieser Orientierung am Begriff des "Begriffs" als zentralem sprachbezogenen ("sprachwissenschaftlich" kann man hier noch nicht sagen) Terminus noch der begriffsjuristischen Betrachtungsweise der traditionellen juristischen Hermeneutik verhaftet, so führte Letzterer mit dem Titel "Rechtssprache und Kommunikation" (1966) einen zu der Zeit vieldiskutierten sprachtheoretischen Begriff in die juristische Diskussion ein.3 Während Hatz mit dem Untertitel "Vom richtigen Verstehen des Rechtssatzes" seinen Bezug zur Hermeneutik herausstellt, wendet sich Horn mit seinem Untertitel "Grundlegung einer semantischen Kommunikationstheorie" deutlich von der Hermeneutik ab und leitet mit der erstmaligen (und, wie vermutet werden darf, programmatischen) Verwendung des Terminus "semantisch" ein neues Paradigma der rechtsmethodischen Sprachtheorie ein.4 Der eigentliche Wendepunkt zur Sprachphilosophie kann, da die Arbeit von Horn rein kommunikationstheoretisch orientiert ist, mit dem Erscheinen von Lampes Buch "Juristische Semantik" im Jahr 1970 verortet werden, in dem nicht nur der programmatische Terminus "Semantik" das erste mal in den Haupttitel eines juristischen Werkes aufrückt, sondern welches auch erstmalig die Theorie der logischen Semantik in voller Breite in die rechtsmethodische Sprach-Diskussion einführt. So programmatisch wie dezisionistisch zugleich formuliert Lampe in der Einleitung seine Auffassung von "Semantik", welche für viele Jahre in der juristischen Sprachtheorie zur beherrschenden Auffassung werden sollte: "Wir verstehen unter Semantik ein Teilgebiet der Logik. Unter Logik verstehen wir eine Theorie der Sprache...s
3
Hatz 1963; Horn 1966. Zur Darstellung von Horns Konzept s.u. das Kap. 5.2 zur Kommunikationstheorie. 4 Auch der Hauptvertreter der juristiSChen logischen Semantik Koch begreift "Semantik" als Gegenbegriff zum "Sinnbegriff der Hermeneutik" (1975, 28). 5 Lampe 1970, 11. Vgl. auch Koch 1976, 1, der eine "interdisziplinäre Kooperation mit Logik und Linguistik" für erforderlich hält.
104
4. Die sprachphilosophi&che Wende
4.1 Logische Semantik
Die sprachtheoretische Position der "Logischen Semantik" innerhalb der juristischen Methodenlehre kreist um ein aus der logisch orientierten Sprachtheorie Rudolf Camaps abgeleitetes Modell von "Begriffen", für die anband der Kriterien von Extension (Begriffsumfang) und Intension (Begriffsinhalt) durch das Verfahren der Merkmalsbestimmung eine präzise Definition gegeben werden soll. Es wird zu untersuchen sein, in welchem Zusammenhang diese begriffstheoretische Orientierung der juristischen Semantik mit der Tradition der Begriffsjurisprudenz steht. Mit der aus der traditionellen juristischen Ausl~ehre übernommenen Dichotomie von "Begriffskem" und "Begriffshof, welche in der juristischen Diskussion häufig mit den Ansätzen der logischen Semantik verknüpft wird, geht das Bemühen einher, eine reinliche Scheidung zwischen "festen" Bedeutungen des Begriffskerns und vagen "Rändern" zu treffen. Der eigentliche Beitrag der logischen Semantik zur juristischen Interpretationstheorie besteht denn auch in der begrifflichen Trennung zwischen "Bedeutungsfeststellung" (im Kernbereich eines Begriffs) einerseits und "Bedeutungsfestsetzung" (im vagen Begriffshof) andererseits. Eine wichtige Rolle nimmt dabei der Begriff der (semantischen) Regel ein. Liest man die Darstellungen zur juristischen (logischen) Semantik, dann könnte man den (falschen) Eindruck haben, die sprachphilosophische "Semantik" sei mit der logischen Begriffstheorie von Frege, Carnap und Nachfolgern identisch. Mit Ausnahme von Koch, der einige argumentative Mühen auf den Versuch der Widerlegung von Gegenpositionen verwendet,7 wird Semantik meist mit logischer Semantik gleichgesetzt. Dabei wird eine zentrale Vorentscheidung gefällt, die, da sie selten explizit erwähnt,8 geschweige denn begründet wird, in ihrem Setzungscharakter offenbar gar nicht durchschaut worden ist: nämlich daß selbstverständlich von "Wönem", "Ausdrükkenn bzw. "Begriffen" als den sprachlichen Einheiten ausgegangen wird, denen das Prädikat "Bedeutung' zukommt. Eine mögliche Problematisierung der Frage, welche Einheiten (Wörter, Sätze, Texte, Äußerungen, Begriffe, Rechtsgedanken) denn die Bezugsgrößen einer juristischen Auslegungstheorie zu sein hätten, wird so verhindert. Damit wird in einem der zentralen Punkte eine implizite Sprachtheorie (Wortsemantik) schon vorgegeben, bevor das Problemfeld, um dessen theoretische Durchdringung es ja eigentlich geht, bereits beschritten ist. Als Won- bzw. Begriffs-Semantik teilen die An6
S.o. Kap. 2, S. 56 ff., 74 f.
7 KochjRüßmann 1982, 133 ff.. Koch sieht "Intentionalismus" als Gegenposition des "Kon-
ventionalismus", dem er sich zurechnet. 8 So etwa bei Kramm 1970, 9.
4.1 Logische Semantik
105
sätze der juristischen logischen Semantik all die Probleme, die wortsemantische Modelle (wenn man sie zu den einzig möglichen semantischen Theorien hypostasiert) auch in der Linguistik und Sprachphilosophie haben. Daß der wortsemantische Charakter der von Juristen rezipierten Sprachphilosophie trotz einer ausufernden Darstellung (logisch-) semantischer Positionen nirgends erwähnt geschweige denn diskutiert wird, ist ihr entscheidender Mangel und beschränkt ihre Leistungsfähigkeit für die Lösung der in einer juristischen Sprach- und Interpretationstheorie anstehenden Fragen. Dieses Vorgehen auch bei solchen Juristen, denen es ausdrücklich um eine sprachtheoretische Begründung der juristischen Auslegungstheorie geht, zeigt den eigentlichen Widerstand, der hinsichtlich sprachtheoretischer Fragestellungen in der Jurisprudenz meist nur schwer zu überwinden ist: der Schritt von den verfestigten und hartnäckig verteidigten "Alltagstheorien" über die Sprache hin zu einer linguistisch reflektierten Sprachauffassung.9 Dazu gehört auch, daß Rechtsnormen fraglos mit den Normterten identifiziert werden, ohne das problematische Verhältnis zwischen Norm und NormformulielUng näher zu diskutieren. Diese zwei impliziten Vorentscheidungen sind einer der Gründe dafür, warum sich die neuere juristische Hermeneutik, die - wenn auch mit unzulänglichen Mitteln - diese Fragen wenigstens zum Thema gemacht hat, bis heute neben den und gegen die Ansätze der logischen Semantik behaupten konnte. In Abgrenzung zu dem als zu "hermeneutisch" empfundenen Terminus "Auslegung' bestimmt Hans-Joachim Koch, der durch die Differenziertheit
und Ausführlichkeit seiner Adaption der logischen Semantik (und ihre Verteidigung gegen Gegenpositionen) ausgewiesene Hauptvertreter der sprachphilosophischen Wende in der juristischen Methodenlehre, die Aufgabe der Juristen als "semantische Interpretation der gesetzlichen Ausdrücke. Den gesetzlichen Ausdrücken wird eine sprachliche Bedeutung zugewiesen."10 Dies soll- in den Worten von Kochs Ko-Autor Rüßmann - folgendermaßen vor sich gehen: "Der Richter sucht nach den semantischen Regeln, welche die im gesetzlichen Tatbestand und in der Sachverhaltsschilderung verwendeten sprachlichen Ausdrücke (Prädikate) so miteinander verbinden, daß die
9 Gerade Koch (als Hauptvertreter der 'logischen Semantik' innerhalb der Jurisprudenz) hatte gefOrdert, daß "die 'Alltagstheorien' [...] durch wisseJI5Chaftlich geprüfte ersetzt werden" sollten (1976, 1). Zu einer ausführlichen linguistischen Darstellung und Kritik der Wortsemantik vgl. Busse 1991a, 2S ff. 10 Koch/Rüßmann 1982, 24. Hier wird auch die implizite Orientierung auf Wortsemantik deutlich. Daß die Aufgabe des Juristen auch als Interpretation von Normtexten analysiert werden könnte, kommt Koch offensichtlich gar nicht in den Blick. (Da die Autoren von Koch/Rüßmann 1982 die einzelnen Abschnitte ihres Werkes dem jeweiligen Verfasser zugeordnet haben, verweise ich im folgenden bei Zitaten aus diesem Werk auf Koch als den Verfasser der herangezogenen TextsteIlen.)
106
4. Die sprachphilosopbische Wende
Rechtsfolge eine logische Fo~e aus Gesetzen, semantischen Regeln und Sachverhaltsbeschreibung ist.·1 Aus dem Ziel, Gesetzesauslegung als logisch kontrollierbaren Vorgang der Subsumtion konzipieren zu können, entspringt die Aufnahme der logischen Semantik in Anlehnung an den Logiker und Philosophen Rudolf Carnap.12 Mit Carnap (und unter Berufung auf Gottlob Frege13) unterscheidet Koch hinsichtlich der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens die Intension von der Extension: "Mit 'Intension' wird die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, mit Extension die Klasse der Gegenstände bezeichnet, auf die der Ausdruck qua seiner Intension anzuwenden ist."14 Zur Erläuterung gibt Koch ein Zeichendreieck wider, in das er (allerdings abweichend von der semiotischen Tradition) anstelle des Inhalts die "Intension ~= Begrift)" und an Stelle des Bezugsgegenstandes die "Extension" setzt. Koch setzt also die Termini Bedeutung, Intension und Begriff identisch. Er erweitert diese Trias noch, indem er bestimmt, "daß unter 'Intension' eines Zeichens das zu verstehen ist, was die den Gebrauch des Zeichens bestimmenden Regeln ausdrücken."16 Die Feststellung der Bedeutung eines Gesetzesausdrucks soll demnach auf dem Wege der Feststellung seiner Gebrauchsregel erfolgen (dazu s.u.). Der Begriff der "Intension" (und die Übemallme des Modells der logischen Semantik) soll nach Koch einen entscheidenden Vorteil haben: "Für Carnap sind Intensionen in einem doppelten Sinne objektiv: Sie sind erstens (bei natürlichen Sprachen) zu ermitteln durch Beschreibungen des faktischen Sprachgebrauchs und nicht durch Introspektion [...]. Zweitens beziehen sie sich inhaltlich auf z.B. Eigenschaften von Gegenständen oder Situationen." Bedeutungsregeln qua Intensionen würden "Bezug nehmen auf Bedingungen, die Gegenstände erfüllen müssen, damit der fragliche Ausdruck auf sie angewendet werden kann."17 Folgt man Kochs Absichten, dann ist mit der Bestimmung der "Intensionen" sprach-
11 Rüßmann 1978, 222.
12 Camap 1956, 19 ff. 13
Vgl. dazu Koch 1m, 30. Frege 1969.
14 Koch/Rüßmann 1982, 129. Koch schließt hiermit an die klassische Begriffstheorie Engischs an, als deren Fortführung er seinen Ansatz (ausweislich seines Schülers Hilgendorf 1991, 54 f.) offenbar versteht. 15 Koch/Rüßmann 1982, 130.
1m, 90: "Intensionales Vorgehen bedeutet zunächst einmal von einem Sprecher die Sprachregel, mit der er Intensionen festlegt, zu erfragen." Zur Gleichsetzung von Intension und Begriffsinhalt vgI. auch Bund 1983, 14. 16 Koch 1975, 34. Vgl. auch Zimmermann
17 Koch 1m, 40. Vgl. die (z.T. in Anlehnung an Koch) ähnlichen Darstellungen des IntensionfExtension-Schemas bei Lampe 1970, 30 ff.; Kramm 1970, 9; Zimmermann 1m, 18 f.; Rüßmann 1978, 222; Herberger/Koch 1978, 811 ff.; Herberger/Simon 1980, 233 ff.; Thaler 1982, 1 f.; Bund 1983, 14 ff.; Wank 1985, 35 ff..
4.1 Logische Semantik
107
licher Zeichen die Bedeutungsfeststellung abgeschlossen: "Die Intensionen gesetzlicher Ausdrücke legen die semantischen Interpretationen fest. "18 An dieser Darstellung der logischen Semantik ist mehreres bemerkenswert. Zum einen werden Bedeutungen sprachlicher Zeichen qua Intensionen umstandslos mit "Begriffen" gleichgesetzt. Begriffe werden also nicht als sprachliche Zeichen mit einer Ausdrucks- und einer Inhaltsseite definiert (dies weicht von einer Variante der logischen Begriffstheorie ab, in der die Dichotomie Intension/Extension auf Begriffe angewendet wird, womit "Intension" etwas anderes sein muß als "Begriff'), sondern als abstrakte Entitäten ähnlich der essentialistischen Ontologie des Begriffsrealismus bzw. der Begriffsjurisprudenz. Zum anderen stehen Bedeutungen sprachlicher Zeichen qua Intensionen in einer direkten Beziehung zu Bezugsgegenständen, auf deren Dingeigenschaften sie sich beziehen; intensionale Semantik ist nämlich qua definitionem Merkma/semantik. Um das Modell Intension/Extension zu einer Bedeutungstheorie zu machen, muß erst noch näher bestimmt werden, wie Intensionen erschlossen werden können. Laut Koch geschieht dies über die Bestimmung der "Eigenschaften", da "als Intensionen von Prädikaten insbesondere Eigenschaften fungieren."19 Die für die Bewertung der Leistungsfähigkeit der logischen Semantik als Beschreibungsmodell der Bedeutungen natürlich-sprachlicher Zeichen wichtige Frage ist, welchen Entitäten der (die Intensionen definierende) Terminus "Eigenschaften" zugesprochen werden soll. Herberger/Koch gehen "davon aus, daß der Ausdruck 'Eigenschaft' in der Umgangssprache sowohl für Begriffsmerkmale stehen kann als auch für die Aspekte der Wirklichkeit, auf die sich solche Begriffsmerkmale beziehen".20 Falls dies nicht nur die Position einer (naiven) "Alltagstheorie" sein sollte (die Koch durch "wissenschaftlich geprüfte Theorien zu ersetzen" versprochen hatte, s.o.), dann beinhaltet die logische Semantik in der Darstellung durch Koch eine Relation von Begriffsmerkmalen auf Dingeigenschaften. In diesem Sinne meint Koch denn auch mit "Eigenschaften" als definierendem Moment von "Intensionen" alle "Charakteristika [...], die Individuen (Menschen und Gegenstände) haben können. Mit Eigenschaften ist also nichts Geistiges, im menschlichen Bewußtsein Befindliches gemeint, sondern etwas Physikalisches, das die Dinge in der Welt haben, eine Seite oder ein Aspekt oder eine Komponente oder ein Charakterzug der Dinge...21 Nähme man eine solche Definition ernst, dann wären semantische
18 Koch/Rüßmann 1982, 130. Kritik an Kochs Übernahme des Extension/lntension-Schcmas übt sehr überzeugend auch Schroth 1983, 96 ff. 19 Koch/Rüßmann 1982, 132. 20
Herbergcr/Koch 1978,815.
21 Koch/Rüßmann 1982, 133 f.
108
4. Die sprachphilosophische Wende
Merkmale mit den Dingeigenschaften identisch; mit einer solchen Theorie könnte nicht mehr zwischen Bedeutung (Zeichen) und Ding unterschieden werden. Wenn die Bedeutung eines Zeichens mit der (vorsprachlichen) Dingeigenschaft identisch ist, dann ist die Sprache reduziert auf die reine Widerspiegelung der Welt; eine eigenständige Leistung der Sprache gäbe es nicht, Sprache und Welt wären letztlich sogar identisch (und zwar nicht im Sinne eines erkenntnistheoretischen Idealismus, demzufolge die Welt für den Menschen erst durch Sprache und Zeichengebrauch konstituiert wird, sondern im Sinne eines simpelsten Realismus, in dem die Wörter Abbilder der Dinge in der Welt sind). In Widerspruch zu seinem Verweis auf das Zeichendreieck konzipiert Koch hier eine dualistische Semantik, in der es außer dem Zeichen und den Dingeigenschaften nichts Drittes gibt; im Grunde genommen auch keine Bedeutungen. Da Koch die Eigenschaften, welche die 'Intensionen' ausmachen sollen, nicht nur mit den Dingeigenschaften, sondern auch mit den "Begriffsmerkmalen" gleichsetzt,22 sind darüber hinaus auch noch "Begriffe" und Dinge identisch; in dem von Camap entlehnten Bemühen, die Kategorie "Begriff' von allen psychologistischen Implikationen (als "Vorstellungen" oder ähnliches) zu reinigen, greift Koch zum Begriffsrealismus und identifiziert die abstrakte Entität "Begriff' mit physikalischen Dingeigenschaften; wie er mit diesem Begriffs-Begriff ausgerechnet den komplizierten Abstraktionen (und Fiktionen) der juristischen Begriffe gerecht werden will, bleibt offen. Koch versucht, diesem Problem gerecht zu werden, in dem er nach Camap den Begriff der "komplexen Eigenschaften" einführt, mit dem ermöglicht werden soll, "daß durch die logische Verknüpfung von Prädikaten, die in der Welt an bestimmten Gegenständen exemplifizierte Eigenschaften bezeichnen, komplexe Eigenschaften ausgedrückt werden können, die in der Welt bisher noch niemals anzutreffen waren".23 Damit soll der sprachlichen Möglichkeit Rechnung getragen werden, mit abstrakten Begriffen fiktive Gegenstände zu konstituieren. Diese wichtige sprachliche Funktion bereitet der logischen Semantik nämlich deshalb erhebliche Schwierigkeiten, weil diese nicht die Alltagssprache in der Vielfalt ihrer Funktionen (und der daraus entspringenden notwendigen Differenzierung des Bedeutungsbegriffs) zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht hat, sondern das Problem der Wahrheitsfähigkeit logischer Sätze. Es ist deshalb unumgänglich, an dieser Stelle darauf einzugehen, die Lösung welcher Probleme das Ziel der von Koch zugrundegelegten Theorie Carnaps war. Camap geht es um die Konstruktion einer logischen Idealsprache, mit der die vagen Begriffe der Alltagssprache durch ex-
22 Koch/Rüßmann 1982, 134. 23 Koch/Rüßmann 1982, 134.
4.1 Logische Semantik
109
akte Begriffe der Konstruktsprache ersetzt werden können.24 D.h es geht in erster Linie um die Lösung von Problemen der Logik (und nicht der Semantik natürlicher Sprachen), wenngleich Carnap wie andere Idealsprachler vom Ideal der vollständigen Übersetzbarkeit normalsprachlicher Sätze in konstruktsprachliche Sätze ausgeht, welche eine widerspruchsfreie, eindeutige und logisch durchkonstruierte Wissenschaftssprache ermöglichen soll, die als notwendige Bedingung exakter und mathematisch-logisch überprüfbarer Erkenntnis angesehen wird. Das Problem, welches Carnap lösen will, ist also dasjenige, unter welchen Bedingungen ein Ausdruck einer natürlichen Sprache durch einen Ausdruck einer Konstruktsprache dermaßen ersetzt werden kann, daß der Wahrheitswert des Satzes, in dem der Ausdruck vorkommt, unverändert bleibt. Zu diesem Zwecke formuliert er seine Theorie der Extensionen und Intensionen, welche zusammengenommen eine Theorie der Bedeutung ergeben soll.2S Während die extensionale Ersetzbarkeit logisch und definitorisch unproblematisch ist, muß zur Definition der intensionalen Ersetzbarkeit zusätzlicher Begründungsaufwand erfoJgen. Wie gesehen sollen Intensionen aus "Eigenschaften" bestehen. "Eigenschaften" sind nach Carnap dann identisch, wenn Prädikatoren, die sie bezeichnen, logisch äquivalent sind (also untereinander ausgetauscht werden können, ohne daß sich etwas am Wahrheitswert ändert); d.h. wenn mit logischen Mitteln gezeigt werden kann, daß, was immer die Eigenschaft x hat, auch die Eigenschaft y hat.26 Intensionen von Prädikatoren sind für Carnap also etwas, das logisch äquivalente Prädikatoren gemeinsam haben. Damit ist noch nichts darüber ausgesagt, worin diese Gemeinsamkeit besteht, noch, was diese Intensionen sind; d.h. logische Äquivalenz kann konstatiert werden, ohne überhaupt auf außersprachliche Tatsachen Bezug nehmen zu müssen. Mit anderen Worten: Wahrheit wird nicht als Bestimmung einer Beziehung von Aussagen zu Sachverhalten konzipiert, sondern tritt als Prädikat von Aussagen auf. Es wird definiert, wann es zulässig ist, einer Aussage Wahrheit zuzusprechen, aber nicht, wann es zulässig ist, die Aussage auf einen Sachverhalt anzuwenden.27 Gerade um die Klärung dieser Frage muß es aber einer Theorie gehen, welche das Prädikat "Semantik" verdienen will. Wenn Intensionen über "Eigenschaften" definiert sind, dann kommt es auf die Klärung dieses Begriffs an. Camap gesteht zu, daß er den Terminus "Eigenschaft" (property) sehr vage gebraucht. Er soll synonym sein "mit Worten
24 Camap 1956, 7.
2S Wenn Koch Intensionen mit Bedeutungen gleichsetzt, ist dies also nicht im Einklang mit seinem Vorbild Camap. 26
Camap 1956, 18.
27 So eindrücklich Dickes 1984, 56; vgI. auch 82 f.
110
4. Die sprachphilosophiliche Wende
wie 'Qualität', 'Merkmal', 'Charakterzug' in ihrem gewöhnlichen Gebrauch", und "in einem sehr weiten Sinne verstanden" werden.28 Eigenschaften dürfen nicht mit sprachlichen Ausdrücken gleichgesetzt werden, vielmehr sind sie das, "was durch einen Prädikator ausgedrückt wird". Wir haben gesehen, daß Carnap sodann die Eigenschaften mit den "Eigenschaften von Dingen" gleichsetzt, verstanden als "etwas Physikalisches, das die Dinge haben, eine Seite oder einen Aspekt oder eine Komponente oder ein Merkmal des Dings".29 Diese Umschreibung zieht - wie gezeigt - den Verdacht eines erkenntnistheoretischen Realismus auf sich. Zudem ist eine auf dem so gefaßten Begriff "Eigenschaft" beruhende Konzeption der Semantik in sich zirkulär. Nach Camap soll "die Methode von Extension und Intension" eine "neue Methode für die semantische Analyse von Bedeutung" darstellen.3O Unabhängig von der (von ihm offen gelassenen) Frage, was für eine Entität "Bedeutung" ist, werden Bedeutungen mehr oder weniger deutlich als Zusammenhang von Extensionen und Intensionen aufgefaßt. Die Extension eines sprachlichen Zeichens kann aber ohne Kenntnisse über seine Intension nicht ausgefüllt werden. (Aus diesem Grund hat Camap die von ihm in früheren Werken vertretene Konzeption einer rein extensionalen Semantik verworfen.) Intensionen beziehen sich auf Eigenschaften. Eigenschaften sind das, was mit einem Prädikator ausgedrückt wird. 'Was mit einem Prädikator ausgedrückt wird' nennt man landläufig seine Bedeutung.3i Das Erklärungsmodell von Camap ist also zirkulär: das, was erklärt werden sollte, die 'Bedeutung' steht als BegrüDdungsmoment (Explicandum) am Ende der Argumentationskette. Zudem enthält die Bindung der Extension an die Intension ein weiteres Erklärungsdefizit. Nur wenn ich ohnehin schon weiß, welche Begriffsmerkmale ein Ausdruck aufweist, kann ich die Gegenstände in der außersprachlichen Wirklichkeit identifizieren, auf die sich der Ausdruck bezieht (die seine Extension ausmachen). Eine Camap-Semantik ist also ungeeignet als Methode der Interpretation von Ausdrucksbedeutungen, da eine solche Methode gerade leisten müßte, herausfinden zu helfen, auf welche Extension ein Ausdruck aufgrund seiner Intension anwendbar ist. Eine Camap-Semantik setzt aber dasjenige, das gerade herausgefunden werden soll (nämlich welche Intensionen bzw. Eigenschaften eine sprachliche Ausdrucksseite - als die das Zeichen dem Interpreten zunächst gegenübersteht 28 Camap 1956, 19 f. Zur Kritik an der Merkmalscmantik (auch in der Version Camaps) vgI. Wolski 1980, 44 ff. und 9S ff. und, angeregt durch die im vorliegenden Buch diskutierten Grundprobleme der juristilichen Semantik, die Darstellung in Busse 1991a, 29 ff. 29 Camap 1956, 20.
30 Camap 1956, III. 31 Da Camap außer dieser vagen Formulierung nichts hinzufügt, bedienen wir uns des von ihm anderenorts angewandten Verfahrens, uns bei der Aufklärung des Terminus auf den common sense der Alltagssprache zu beziehen.
4.1 Logische Semantik
111
meint) schon voraus. Wie sprachliche Ausdrücke zu ihren Intensionen kommen, wird dort nämlich nicht erklärt. Vielmehr wird das WISSen darum, auf welche Dingeigenschaften sich ein Ausdruck bezieht, stillschweigend vorausgesetzt. Damit wird aber eine zentrale Bedingung für eine Bedeutungstheorie, die diesen Namen wirklich verdiente, nicht erfüllt. Mit Bickes: "Es sieht ganz so aus, als ob eine Wahrheitstheorie nur deswegen als Bedeutungstheorie auftreten kann, weil unexpliziert Wissen vorausgesetzt wird, das nicht gerechtfertigt bzw. erklärt wird."32 Offensichtlich bezieht sich Carnap auf das (naive) Modell einer vorgedeuteten Welt, in der die Beziehungen sprachlicher Ausdrücke auf die in ihren Intensionen enthaltenen Dingeigenschaften vorab bekannt sind. Allerdings betont Carnap, daß seine Umschreibung der "Eigenschaften" für die Zwecke, für die er sie benötigt, ausreichend sein soll. Und diese Zwecke sind eben, wie wir gesehen haben, zunächst solche der Logik bzw. der Formulierung einer auf logischen Operationen beruhenden Konstruktsprache, und nicht die einer Interpretations- bzw. Bedeutungstheorie natarlicher Sprachen (wenngleich auf diese implizit letztlich immer mitabgezielt wird). Auch sollen "Eigenschaften" nicht zu dinghaften, substantialisierten Entitäten (platonischer Manier) hypostasiert werden. 33 Allerdings läßt seine Definition der intensionalen "Eigenschaften" als physikalische Dingeigenschaften, als "etwas objektives, das in der Natur gefunden wird und das in der Sprache durch einen Designator ausgedrückt wird"34 die entscheidenden semantischen (und erkenntnistheoretischen) Fragen offen. Nach Carnap soll sich das Verstehen komplexer Prädikate (um die es sich bei juristischen Begriffen wohl ausschließlich handeln dürfte) aus dem Verstehen der zusammengesetzten "einfachen" Prädikate ergeben. Bedeutungen höheren Abstraktions- bzw. Komplexionsgrades werden damit als aus einfachen (Teil-)Bedeutungen zusammengesetzt aufgefaßt. Nur für die "primären Prädikatoren" soll eine "Exemplifizierung in der Erfahrung" notwendig sein. Dies deutet auf eine atomistische Bedeutungsauffassung hin (Komponentialsemantik), die gefährlich nahe dem (erkenntnistheoretischen) logischen Atomismus liegt, wie ihn der frühe Wittgenstein im "Tractatus Iogico-philosophicus" (die Einteilung der Prädikate entspricht der Einteilung der Welt) vertreten und die er später verworfen hatte. Wenn Prädikate und ihre Bedeutungen in einer direkten, unvermittelten Referenzbeziehung auf physikalische Dingeigenschaften zurückgeführt werden sollen, dann müßte die Referenzrelation (d.h. eine extensionale Bezie32 Bickes 1984, 56. 33
Camap 1956, 22.
34 Camap 1956, 21.
112
4. Die sprachphilosophische Wende
hung) die Bedeutung natürlich-sprachlicher Ausdrücke erschöpfend bestimmen können. Ausgangspunkt der Erweiterung einer rein extensionalen Theorie um eine intensionale Komponente war jedoch das Problem der Intensionsdifferenz bei identischer Extension. (Frege nannte das Beispiel der Ausdrücke "Abendstem" und "Morgenstem", die beide denselben Planeten bezeichnen.) D.h. es gibt Intensionen, die sich nicht aus den Extensionen allein erschließen lassen. Was dieses "mehr" an Bedeutung (über die Referenz auf Einzeldinge außersprachlicher Welten oder ihre Mengen hinaus) eigentlich ausmacht (und wie es, wenn - wie bei Koch el. al. - das Problem der Interpretation, d.h. der Bedeutungsfindung zu lösen ist, herausgetimden werden kann), darüber schweigen sich Carnap und andere Vertreter der Logischen Semantik aus. Das heißt aber: "In die Konstruktion der möglichen Welten geht implizit nicht referenztheoretisch explizierbares Bedeutungswissen ein, über dessen Existenz man später durch elegante extensionale Redeweise hinwegtäuschen will."35 Bickes hat eindrucksvoll gezeigt, wie sich die Ziele der Logischen Semantik wechselseitig ausschließen: "Entweder man genügt dem ursprünglichen Anspruch der Logischen Semantik in Tarskischer Tradition, eine Wahrheitsdefinition für natürliche Sprachen anzugeben, ohne dabei über eine Theorie der Referenz hinauszugehen - und muß dann auf die Behandlung intensionaler Kontexte verzichten, die aber ihrerseits unverzichtbarer Bestandteil natürlicher Sprachen sind. Oder aber man schließt solche Kontexte ein und verläßt zwangsläufig die Theorie der Referenz - wodurch [...] die Gleichsetzung 'Kenntnis der Wahrheitsbedingungen = Kenntnis der Bedeutung' aufgegeben werden muß...36 Die in der Logischen Semantik (intensionaler Spielart) zur Bezugnahme auf die Welt benutzte interpretierende Theorie ist eine reine Referenztheorie, die nicht über "Bedeutungen" funktioniert; was "Bedeutung" im Sinne natürlicher Sprachen ist, muß also erst herausgefunden werden. Dies aber zeigt, daß eine auf der Bestimmung von Extensionen und Intensionen beruhende Theorie, wie sie Koch für die Zwecke der juristischen Interpretationstheorie nutzbar machen möchte, schon bei seinen philosophischen Gewährsleuten für die Zwecke der semantischen Analyse natürlicher Sprachen (um die es sich bei der Gesetzessprache handelt) nicht ausreichen kann. Koch hat dies selbst in aller Deutlichkeit ausgesprochen: "Die Wahrheitsbedingungen-Semantik [...] vermag also keine Auskunft darüber zu geben, worin die Bedeutung sprachlicher Zeichen besteht. Die Wahrheitsbedingungen-Semantik ist gar keine Semantik, da sie nicht zu einer Erklärung dessen kommt, wie man mit Sprache über die außersprachliche Welt reden kann. Sie bleibt in einem infIniten Regreß von Übersetzungen stecken und setzt die Beziehung von sprachlichen Zeichen 35 Dickes 1984, 64. 36 Dickes 1984, 66.
4.1 Logische Semantik
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und Wirklichkeit als anscheinend unerklärlich voraus."37 Unerklärlicherweise scheint es Koch völlig entgangen zu sein, daß dieses (auf Davidson gemünzte) Verdikt im Kleingedruckten gerade auch auf seinen Gewährsmann Carnap zutrifft, der erklärtermaßen eine Semantik-Theorie anstrebt, deren tragendes (und, aus Gründen logischer Abgeschlossenheit und Widerspruchsfreiheit, einziges) Fundament die wahrheitswert-funktionale Äquivalenz logischer Sätze ist. Auch die Erweiterung von Carnaps Modell durch den Begriff der semantischen Regel (den Carnap nicht kennt), die Koch vornimmt, um dessen Modell der intensionalen Semantik zu retten, kann (wie noch zu zeigen sein wird) diesem Mangel nicht abhelfen. Nicht nur - wie gezeigt - aus dem Blickwinkel einer Semantik natürlicher Sprachen (zu der die juristische Semantik gerechnet werden muß) ist die Theorie Carnaps und mit ihm Kochs ungeeignet, sondern auch aus erkenntnistheoretischer Perspektive. In Kochs Theorie ist der Bezug von semantischen Merkmalen eines Prädikats auf die Eigenschaften seiner Bezugsgegenstände ein wesentliches Moment zur Bestimmung seiner "Bedeutung": "Auf welche Gegenstände ein Prädikat anzuwenden ist, hängt davon ab, welche Eigenschaften seine Bedeutung bilden." Dieser Zusammenhang ist auch in Kochs Augen das zentrale Moment seiner Theorie, "da die extensionsfestlegende Funktion der Intension eines Zeichens ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Akzeptanz des hier angenommenen Bedeutungsbegriffs ist".38 Sähe man von der Problematik des Carnapschen Intensions-Begriffs ab, und setzte man für "Intension" den Terminus "BedeutunI!' (wie es Koch unterschwellig tut), dann käme die akzeptable Aussage heraus: 'Die Bedeutung eines Ausdrucks bestimmt seine Extension' oder m.a.W.: 'Weiß ich, welche Bedeutung der Ausdruck hat, dann weiß ich auch, auf welche Gegenstände (Fälle) ich ihn anwenden kann'. Diese schlichte Trivialität führt uns allerdings auf den Ausgangspunkt zurück, nämlich die für die juristische Interpretationstheorie zu klärende Frage, was Bedeutung ist und wie (mit welchen Mitteln, aufgrund welcher Kriterien) Ausdrucksbedeutungen faktisch bestimmt werden können. In der popularisierten Version von Kochs Rezept bekommt diese Frage folgenden Zuschnitt: "Relativ einfach ist es, zu klären, welchen Gegenständen nach einem bestimmten Sprachgebrauch ein sprachliches Zeichen zugesprochen wird; wesentlich schwieriger ist es, herauszubekommen, welche Eigenschaft(en) Gegenstände einem bestimmten Sprachgebrauch zu37 Koch/Rüßmann 1982, 145. Koch stellt mittlerweile deutlicher als zuvor heraus, daß eine auf der Philosophie idealer Sprachen fußende Theorie für die Semantik natürlicher Sprachen (wie z.B. die Gesetzessprache) kaum geeignet ist (vgl. Koch 1992, 7 und Koch/Rüßmann 1991, 190). Allerdings geht er nicht so weit, das einzig auf logischen Interessen beruhende Modell der IntensionenfExtensionen aufzugeben, obgleich es sich für eine interpretationstheoretisch orientierte Semantik nicht eignet (wie in Busse 1991a, 29 ff. im einzelnen nachgewiesen wurde). 38 Koch/Rüßmann 1982, 145.
8 Busse
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4. Die sprachphilosophische Wende
folge haben müssen, soll ihnen das in Frage stehende sprachliche Zeichen zugesprochen werden...39 Elegant übergehen die Autoren hier das eigentliche Problem der Bedeutungsfeststellung, indem sie die Intuition des "Sprachgebrauchs" anrufen, der (in der alltäglichen Praxis) tatsächlich "relativ einfach" die Bezugsgegenstände eines Ausdrucks (besser: eines Satzes) zu identifizieren erlaubt. Dieser in der Alltagssprache problemlose Zugriff auf die Dinge der Welt dürfte jedoch gerade im juristischen Kontext seine "Einfachheit" verlieren; dort geht es nicht nur um die viel schwieriger zu "identifizierenden" abstrakten "Gegenstände" (wie z.B. "Kunst" o.ä.), sondern gerade um die schwierigen Fälle, in denen die Zuordnung von Ausdruck (bzw. Normtextformulierung) und Gegenstand (bzw. Sachverhalt) problematisch geworden ist. Für diese Fälle (und nur für diese, einschließlich jener, in denen es um die Erschütterung einer vorgeblich "einfachen" und sicheren Interpretation geht, die sich aber bei näherem Hinsehen als mit intuitiven Auslegungen/Wertungen vorbeladen erweist) ist eine juristische Bedeutungs- und Interpretationstheorie notwendig. Einer solchen Bedeutungstheorie muß es aber gerade auch um die Klärung des (philosophisch schwierigen) Verhältnisses zwischen Sprache (Ausdrücken, Texten) und "Gegenständen" (Menschen, Dingen, Sachverhalten) gehen. In der Intensionalen Semantik Carnaps war diese Beziehung als Abbildbeziehung von "physikalischen", "objektiven" Eigenschaften von Dingen der außersprachlichen Welt in die Intensionen hinein definiert worden. intensionen müßten, dieser Theorie zufolge, also dermaßen näher bestimmt werden, daß die objektiven Dingeigenschaften angegeben werden, welche die Gegenstände haben müssen, auf die der fragliche Ausdruck angewendet werden soll. Wir hatten gesehen, daß Carnaps Semantik die zentrale Frage, wie man von der Intension eines Ausdrucks auf dessen Extension schließen kann, unbeantwortet ließ, indem sie die Beziehung Intension - Gegenstand als gegeben bereits voraussetzte. Nach Koch soll jedoch die Intension eines Ausdrucks dessen Extension "festlegen". Wäre dieses Konzept eine echte Bedeutungstheorie, dann müßte sie zwischen der (Gesamt)-Intension eines Ausdrucks einerseits und den diese Intension ausfüllenden Dingeigenschaften andererseits zu unterscheiden erlauben. D.h. es müßte Kriterien und ein Verfahren geben zu bestimmen, welche Dingeigenschaften ein Ausdruck ausdrückt, um dann (in einem getrennten zweiten Schritt) nunmehr die "Gegenstände" in der Welt (bzw. ihrem fraglichen Ausschnitt) "anzuschauen" und "festzustellen", welche Dinge über die in der Intensionsbestimmung herausgefundenen Eigenschaften tatsächlich verfügen. Bei Camap werden die in39
HerbergerfKoch 1978, 811.
4.1 Logische Semantik
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tensionsseitigen "Eigenschaften" mit Dingeigenschaften gleichgesetzt; dies würde, wie gezeigt, eine Reduzierung der Zeichen-Relation (zwischen Zeicheninhalt = Intension und Bezugsgegenständen) auf eine Zeichen-Identität (Ununterschiedenheit zwischen Inhalt und Gegenstand; der Gegenstand ist der Inhalt eines Zeichens) ergeben, und mithin einen ziemlich mittelalterlichen Zeichenbegriff.4O Man kann annehmen, daß Camap, wenn er sich ernsthaft diesem Problem gestellt hätte, dessen erkenntnis-realistische Konsequenzen zu vermeiden gesucht hätte. Wählt man eine weichere Variante seiner Theorie, dann gäbe es auf der einen Seite Intensionen mit (in ihrem Status noch näher zu spezifizierenden) bestimmten "Eigenschaften" und auf der anderen Seite Dinge in der Welt, welche über physikalische, materiell gegebene Objekt-Eigenschaften verfügten. Die semantischen Eigenschaften wären dann Abbilder bzw. Widerspiegelungen der Objekt-Eigenschaften. Diese Abbild-Beziehung könnte als eine synthetisierende Leistung im Sinne von Kants Erkenntnistheorie aufgefaßt werden: Der menschliche Geist nimmt (aus der Fülle seiner Sinnesdaten ausgegrenzt) am Ding "Eigenschaften" wahr und bildet über diese Eigenschaften einen Begriff, der es ihm erlaubt, auf "dieselbe" Eigenschaft Bezug zu nehmen, wenn andere Einzeldinge sie ebenfalls tragen. Camap schemt diese Kantische Position zu vertreten, wenn er den Terminus "Eigenschaft" mit Ausdrücken wie "Qualität, Aspekt, Merkmal, Charakterzug' (wie er selbst zugibt: vage) paraphrasiert. Eine solche Theorie würde es ermöglichen, die problematische Frage zu umgehen, ob die Dinge in der Außenwelt in derselben Weise existieren, wie sie mit den Begriffen unserer Sprache synthetisiert werden. Folgte man Wittgensteins Postulat für die philosophische Methode, zuerst die Begriffe zu klären, mit denen wir über philosophische Probleme reden, dann käme es hier sehr auf die Klärung dessen an, was mit dem Ausdruck "dieselbe" (Eigenschaft) oder "dasselbe" (Ding) gemeint sein kann. Verstünde man diesen Ausdruck im Sinne von "Identität", dann würde man die Einsicht verschütten, daß niemals zwei Dinge in der Welt völlig "identisch" in allen ihren Eigenschaften sind. Schließt man diesen Sinn von "dieselbe" im Zusammenhang mit semantischen Merkmalen aus, dann bleibt ein Sinn, der mit "dieselbe in Relation auf ein Kriterium" umschrieben werden könnte. Als ein solches Kriterium käme z.B. ein kantischer Begriff (als Synthesis) in Frage. Der synthetisierenden Leistung liegt die Fähigkeit des Vergleichens zugrunde; die eine Erfahrung (Sinneswahrnehmung) ~ wird mit anderen Erfahrungen Xz-n
40 Vgl. auch Kramm 1970, 29, demzufolge "das Wort die Zuordnung eines Lautzeichens zu einem Gegenstand darstellt". Nach Lampe 1970, 27 bezeichnen Rechtsbegriffe "niemals bloß reale, sondern stets zumindest auch ideale Objekte: real gebundene Idealitäten". Was darunter zu verstehen ist, verrät uns der Autor leider nicht. - Vgl. zu mittelalterlichen Zeichenbegriffen Nöth 1985, 20 ff.
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4. Die sprachphilosophische Wende
verglichen; was als gleich wahrgenommen wird, wird mit einem Begriff bezeichnet. Hier kommt eine spezifische kantische Verkürzung des Wahrnehmungsmodells ins Spiel, die es auszugleichen gilt: die Vernachlässigung der spezifischen Leistung der Sprache als eines Systems von Zeichen. Die Identifizierung und der Vergleich von Eigenschaften (und damit die Bildung eines kantischen Begriffs) kann nur vermittels eines sprachlichen Zeichens (und das heißt: einer physischen Zeichenausdrucksseite) erfolgen. Das Problem der semantischen Interpretation wäre dann folgendes: Wie kann ich anband der Ausdrucksseite eines Zeichens feststellen, welche Synthesis (d.h. die Zusammenfassung welcher "Aspekte" an welchen Bezugsgegenständen) der Autor des Zeichens mit diesem Ausdruck ausdrücken wollte. Wollte man die in einer Zeichenbedeutung ausgedrückten "Eigenschaften" als eine eins-zueins-Relation von semantischen Merkmalen und Dingeigenschaften auffassen, dann müßte in den geistigen Akten aller ein bestimmtes Zeichen (sagen wir: "Fenster' oder "Kunst") benutzenden Personen exakt "dieselbe" Menge von Bezugsgegenständen (bzw. der von ihnen ausgehenden Sinnesdaten) gemeint sein. Eine solche Auffa..c,sung wäre aber absurd und würde verkennen, daß es die Aufgabe eines Zeichensystems ja gerade ist, sich mittels sprachlicher Ausdrücke gerade über die (raum-zeitlich) verschiedenen "Einzeldinge" verständigen zu können. Eine kantische Konzeption setzt voraus, daß die an Sprache Beteiligten aufgrund des geäußerten Zeichens schon wissen, welche konkreten Einzeldinge ihrer Welt als Bezugsobjekte dieses Zeichens/Begriffs in Frage kommen; sie setzt also (wie Carnap selbst) dasjenige voraus, was eine Theorie der Semantik natürlicher Sprachen gerade herausfinden soll: wie nämlich von den Bedeutungsmerkmalen eines Begriffs auf die Dinge, die er bezeichnet, geschlossen können werden soll. Resultat unserer Betrachtungen ist also, daß auch die "weichere" Version der In-Beziehung-Setzung von semantischen Merkmalen und Dingeigenschaften den wesentlichen Charakter von natürlicher Sprache verfehlt. Die erkenntnistheoretische Funktion von Sprache muß mit anderen Konzepten beschrieben werden; eine Abbild-Theorie (oder Widerspiegelungs-Theorie) ist ausgeschlossen. Wir sind also auch im zweiten, erkenntnistheoretischen Durchgang wieder an demselben Punkt angelangt: an der Frage, wie uns die "Intensionen" von Sprachzeichen zur Bestimmung der "Extensionen" verhelfen. Dieses Ausgangsproblem hatten wir von Koch übernommen; wir hatten daraufhin aus seiner Formulierung, daß "die extensionsfestlegende Funktion der Intension eines Zeichens ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Akzeptanz des hier angenommenen Bedeutungsbegriffs ist" (nämlich des von ihm übernommenen Camapschen), geschlossen, daß es ihm in seinen Darlegungen um die Lösung eben dieses Problems geht. Indes überrascht uns Koch weiter hinten im Buch, wo es um "Die Ermittlung des semantischen Gehalts·
4.1 Logische Semantik
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geht, mit der Mitteilung: "Die Intension eines Ausdrucks ist grundsätzlich nur über den 'Umweg' einer Extensionsermittlung bestimmbar..41 Mit anderen Worten, nur wenn ich weiß, auf welche Gegenstände (oder Eigenschaften an Gegenständen) sich ein Zeichen bezieht, weiß ich auch, welche "Eigenschaften" seine Intension bestimmen. Wir haben also das Resultat, daß die Extensionen von Zeichen durch die "Intensionen" festgelegt sein sollen, wobei die Intensionen "bestimmt" werden durch die Extensionen. Dies nennt man eine zirkuläre Erklärung; eine solche Erklärung erklärt aber überhaupt nichts. Die Unterscheidung der Bedeutung sprachlicher Zeichen in Intensionen und Extensionen (in dieser Fassung) erklärt also nichts und somit auch nicht die "Bedeutung", sie ist (in der Sprache Carnaps) "leer". Mit seinen zirkulären (aber über den Text verstreuten) Definitionen gesteht Koch implizit zu, daß das Carnapsche Modell keine Theorie der Bedeutung ist, da das, was zu erklären war, dadurch nicht erklärt werden kann. Er gibt dieses Faktum (das er explizit nicht zugesteht) auch dadurch implizit zu erkennen, daß er das Carnapsche Modell mit der Wittgensteinschen "Gebrauchstheorie" der Bedeutung "ergänzt". Bevor wir darauf eingehen, noch eine Bemerkung zum Verhältnis semantische Merkmale - Dingeigenschaften. Im Gegensatz zu den Formulierungen in der "Begründungslehre", in denen (wie gezeigt) die "Eigenschaften" der Intension mit Carnap mit den "physikalischen" Dingeigenschaften gleichgesetzt werden, äußert sich Koch einige Jaltre vorher noch vorsichtiger: "Versteht man nun unter Intension das, was durch die semantischen Regeln, nach denen ein Sprecher einen Ausdruck verwendet, ausgedrückt wird, so sind Intensionen nicht mit z.B. Eigenschaften von Gegenständen identisch [...], gleichwohl sind sie in zwei Hinsichten objektiv: Sie beziehen sich auf z.B. Eigenschaften, sie drücken potentielle Eigenschaften von Gegenständen aus, und nicht Vorstellungen, die Leute von Gegenständen haben; zweitens lassen sie sich aus dem faktischen Sprachgebrauch ermitteln...42 Doch auch diese Fassung kann nicht befriedigen; die
41 Koch/Rüßmann 1982, 189. 42 Koch 1975, 33. In Koch/Rüßmann 1982 gibt Koch nur einmal zu Beginn (129) zu erkennen, daß zwischen "Bedeutung" und "Gegenstand" unterschieden werden muß. Indem er dann jedoch Carnaps Dichotomie übernimmt und (anders als dieser) "Bedeutung" mit "Intension" und "Gegenstände" mit "Extension" gleichsetzt, verkennt er, daß (a) die Beziehung IntensionjExtension sich für Carnap innerhalb dessen abspielt, was dieser "Bedeutung" nennt, und (b) daß er mit der in Carnaps Dichotomie enthaltenen Gleichsetzung von Intension und Dingeigenschaften zugleich die "Bedeutung" (als die er die Intension deutet) mit den Gegenständen gleichsetzt. (Auf S. 137 redet Koch - in anderem Zusammenhang - noch vorsichtiger von der "Bezeichnung" von Eigenschaften und verwendet damit einen Terminus, der noch offen ist für verschiedene bedeutungs- und erkenntnistheoretische Auslegungen.) Sehr viel deutlicher als Koch weist Wank 1985, 144 die Gleichsetzung von intensionalen Merkmalen mit Dingeigenschaften zurück.
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4. Die sprachphilosophiliche Wende
Rede von "potentiellen" Eigenschaften als Bezugsobjekten von Intensionen läßt den begrifflichen und ontologischen Status dieser neuen Entitäten offen. Faßt man "potentielle Eigenschaften" als solche Eigenschaften auf, die Dinge in der Welt haben könnten, so ist damit die Funktion von Intensionen noch nicht geklärt; sprachliche Zeichen werden nur dann ihrer kommunikativen Funktion gerecht, wenn sie entweder sich (mehr oder weniger eindeutig) auf Eigenschaften beziehen, die Dinge in der Welt tatsächlich hilben (und nicht nur potentiell haben könnten) - dies wäre die bedeutungsrealistische Version der Kritik -, oder wenn sie Bedeutungen ausdrücken, die (in einer noch näher zu charakterisierenden Weise) Fähigkeiten von Menschen darstellen, sich mittels der Verwendung dieser Zeichen miteinander über die Welt, über Absichten, Ziele, Handlungen, Gedanken ete. zu verständigen und sich in der Welt (allein oder in Interaktion mit anderen) zu orientieren.43 Ich teile (mit Wittgenstein) Kochs Ablehnung einer psychologistischen Auffassung von Bedeutung (etwa als "Vorstellungen"); jedoch scheint mir Kochs Formulierung von den "potentiellen Eigenschaften" als Bezugsobjekt von Intensionen kein adäquater Ersatz im Rahmen der Begründung einer Bedeutungstheorie zu sein, wenn man platonistisch reifizierende Ausdeutungen dieser Entität vermeiden will. Die Rede von "potentiellen Eigenschaften" kann nur heißen, daß das Verfügen über die Bedeutung eines Zeichens durch Sprecher einer Sprache beschrieben werden muß in Termini der Fähigkeit (d.h. der "Potenz", des "Könnens") sich mit der Verwendung sprachlicher Zeichen in solcher Weise auf Dinge, Gegenstände, Sachverhalte zu beziehen, daß die Bezugsobjekte von den Adressaten der Äußerung in einer solchen Weise "erkannt" werden können, daß der weitere Interaktionsverlauf ermöglicht wird und ungestört bleibt. Koch nimmt auf eine solche Sichtweise von "Bedeutung" (deren Bezug zu Wittgensteins Bedeutungstheorie noch näher geklärt werden müßte) dadurch Bezug, daß er "Intensionen" durch das definiert, "was durch die semantischen Regeln, nach denen ein Sprecher einen Ausdruck verwendet, ausgedrückt wird". Damit verläßt Koch aber die Theorie Carnaps (bei dem von semantischen Regeln keine Rede ist) und führt einen neuen Gesichtspunkt in seine Überlegungen ein.44 Es wird also im folgenden darum gehen, wie Koch den Terminus "semantische Reger näher bestimmt.
43 Vgl. zur Auffassung von Zeichenverwendungsregeln als Fähigkeiten Bickes/Busse 1988 und 1989. 44 Falls Koch der Meinung sein sollte, daß der Regelbegriff schon bei Camap auftaucht (so Koch 1977, 38), sei dem entgegengehalten: Camap redet von "semantilichen Regeln" - wenn überhaupt - nur im Sinne von Regeln für die Definition einer Konstnlktsprache (1956, S, 169 u.ö.). Es wäre eine unzulä&sige Übertragung (der Camap selbst sicher nicht zugestimmt hätte), diesen Regelbegriff auf Regeln einer natiirlichen Sprache (etwa im Sinne von Wittgensteins Regelbegrift) zu übertragen.
4.1 Logische Semantik
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Um zu einer Bedeutungstheorie zu kommen, ist Koch gezwungen, dem Modell der Logischen "Semantik" eine Konventionstheorie der Sprache an die Seite zu stellen: "Welche Eigenschaft(en) ein Zeichen ausdrückt, hängt von den in einer Gemeinschaft geltenden sprachlichen Konventionen ab. Vereinfacht gesagt, stiftet der jeweils geltende Sprachgebrauch den Zusammenhang zwischen den sprachlichen Zeichen und den Eigenschaften, die die Zeichen ausdrücken.,.4S Mit dieser "Ergänzung" (die de facto eine Widerlegung der Logischen Semantik bzw. die Anerkennung ihrer Ungeeignetheit für interpretationstheoretische Fragestellungen ist) gibt Koch implizit zu erkennen, daß die Gleichsetzung von intensionalen Eigenschaften mit "Dingeigenschaften" unhaltbar ist. Denn: der Zusammenhang, den die Konventionen stiften, ist das synthetisierende Herausgreifen (man könnte auch sagen: Konstituieren) von Dingeigenschaften zu einem abstrakten, nur sprachlich faßbaren und sprachlich funktionalen Begriff. Eine solche konventionalistische Auffassung von Sprache impliziert (im Gegensatz zu Carnaps Modell) noch keine Ontologie und keine Erkenntnistheorie. Es kann (für die Zwecke der Bedeutungstheorie) nämlich offen bleiben, ob die "Eigenschaften" nur durch den sprachlich-kommunikativen Zusammenhang gestiftet werden (als sprachliche ''WeItsicht"), oder ob sie als direkte Entsprechungen zu einer materialen Realität aufgefaßt werden sollen. Wenn es der "Gebrauch" eines Zeichens ist, der die Beziehung Zeichen - Eigenschaften stiftet, dann ist (setzt man im Sinne des von Koch akzeptierten semiotischen Dreiecks "Zeichen" in der hier vorliegenden Bedeutung des Terminus mit "Zeichenausdrucksseite" gleich) die "Bedeutung', als dritte Seite des Zeichendreiecks, d.h. als Vermittlung zwischen Ausdruck und Ding(eigenschaften) identisch mit dem "Gebrauch". Wichtig für die Haltbarkeit von Kochs Konzept ist, wie der Begriff der semantischen Regel näher bestimmt wird. Laut Rüßmann geht die Interpretation von Rechtstexten ja so vor sich, daß der Richter zunächst "die semantischen Regeln sucht";46 der Regelbegriff bekäme also nicht nur für die Bedeutungstheorie, sondern auch für die Praxis der Bedeutungsinterpretation eine zentrale Stellung. Nach Koch soll es Wittgensteins Regelbegriff sein, um den die logische Semantik ergänzt werden muß:47 "Die Gebrauchs- bzw. Verwendungsregeln im Wittgensteinschen Sinne sind genau die Regeln, die nach unserer Carnap-
45 Koch/Rüßmann 1982, 7. Vgl. auch Koch/Rüßmann 1991, 189: "Unbeschadet dieser oder jener Nuancierung darf als gesicherter Stand der sprachphilosophischen Forschung gelten, daß die Konventionen einer Sprechergemeinschaft sprachlichen Zeichen Bedeutung verleihen.·
46 Rüßmann 1978, 222 (s.o. das Zitat auf S. 105 f., Anm. 11) Vgl. auch Koch 1979, 35: "Die Eigenschaften, die ein Prädikat nach dem relevanten Sprachgebrauch ausdrückt, lassen sich in sogenannten semantischen Regeln angeben.· 47 Koch 1977, 40.
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4. Die sprachphilosophi&che Wende
Interpretation die Intensionen sprachlicher Zeichen ausdrücken." Auffällig an dieser Formulierung ist das Wort "ausdrücken"; Wmter, Zeichen, Sätze können etwas "ausdrücken", aber keine Regeln (wie auch immer man sie definiert). Diese kleine aber zentrale sprachliche Ungenauigkeit zeigt, daß Koch offenbar keine Klarheit hat über das Verhältnis, welches zwischen "Regeln" und "Intensionen" besteht. Bei seinem Schüler Zimmermann kommt die Sache etwas ungeschminkter zu Wort, da ihm zufolge "man heute im Anschluß an den späten Wittgenstein die Bedeutung eines Zeichens mit seinem Gebrauch identifiziert und Intension als Sprach-'Regel' übersetzt".48 Das Verfahren ist deutlich: da die Versuche, den Begriff der "Intension" im Sinne einer methodisch operationalisierbaren Bedeutungstheorie näher zu bestimmen, mißlungen sind, wird dieser Terminus nunmehr durch den der "Regef' ersetzt bzw. mit ihm gleichgesetzt. Letztlich wird damit "Intension" über "Regel" definiert, ohne daß der unterschiedliche theoretische Status beider Begriffe (oder gar die unvermittelbaren, weil gegensätzlichen theoretischen Hintergründe bei Carnap und Wittgenstein) begriffen wird. Fragt man weiter, was denn die "semantischen Regeln" von sprachlichen Ausdrücken seien, so wird man auf Wittgensteins Terminus "Gebrauch" verwiesen: "Nichts außersprachliches, aber auch nichts subjektives, sondern die im faktischen Gebrauch einer Sprachgemeinschaft sich manifestierenden (semantischen) Regeln machen die intensionale Bedeutung eines Ausdrucks aus." Diese Begründungskette abgekürzt: "Die intensionale Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist sein Gebrauch".49 Demzufolge wären Koch und Rüßmann also Anhänger von Wittgensteins sog. "Gebrauchstheorie der Bedeutunlf. Die damit gestiftete Nähe zu einer der Carnapschen logischen Semantik diametral entgegengesetzten Theorie (hatte Wittgenstein seine Spätphilosophie doch gerade als Widerlegung der auch von ihm vorher vertretenen wahrheitswertfunktionalen idealsprachlichen Theorie konzipiert) muß auch den Autoren selbst als widersprüchlich aufgefallen sein. Jedenfalls distanziert sich Koch später deutlich von Wittgensteins Theorie: "Die These 'Bedeutung = Gebrauch' ist gerade in Bezug darauf, was man denn mit dem Gebrauch eines Zeichens sagen bzw. dem Gebrauch eines Zeichens entnehmen kann, gänzlich nichtssagend..so Sähe man diese Abgrenzung nur als Befreiung der eigenen Theorie von (in früheren Schriften enthaltenen) Widersprüchen, dann könnte man sie akzeptieren und weiterfragen, wie denn, nachdem die Erklärung von "Regel" über "Gebrauch" suspendiert worden ist, die Erklärung von "Intension" über "Regel" nun aufzufassen sei; jedoch hat Koch ja 48 Zimmermann 1971, 19. 49 Rüßmann 1978, 224. so Koch/Rüßmann 1982, 138; vgI. auch Koch 1992, 8. Im ähnlichen Tenor Wank 1985, 12.
4.1 Logische Semantik
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noch in der Einführung desselben Buches ausgeführt, daß der "Sprachgebrauch" den Zusammenhang zwischen Intension und Eigenschaften stiftet, und wir hatten dieses "Zusammenhang stiften" als diejenige Funktion des Zeichenprozesses erkannt, welche traditionellerweise mit dem Terminus "Bedeutung' oder "Inhalt" des Zeichenausdrucks benannt wird. D.h. Koch gibt zwar die seinen Interessen zuwiderlaufende direkte Gleichsetzung Bedeutung = Gebrauch auf, behält sie aber als indirekte Gleichsetzung bei. Zugleich versucht er, den Terminus "Regel" auf Carnap zurückzuführen: "Die Sätze, mit deren Hilfe die Intension, d.h. die semantische Interpretation eines sprachlichen Ausdrucks angegeben wird, also Sätze wie unsere Prämisse p3*, nennt man häufig semantische Regeln."s1 Als Beispiel nennt er den Satz "pl* Wichtiges Glied ist ein Körperteil, der eine in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesamtorganismus hat."s2 Was Koch hier als Beispiel gibt, ist eine Begriffsdefinition (bzw. Bestimmung eines "Begriffsmerkmals"), die man allenfalls als Teil einer Bedeutungsbeschreibung betrachten kann, nicht jedoch als "Reger der Verwendung von "wichtiges Gliefl'. Bedeutungsbeschreibungen bzw. -definitionen dieser Art können nicht mit der Regel selbst gleichgesetzt werden (wahrscheinlich noch nicht einmal mit der Regelformulierung). Regeln sind (in einem gewissen, näher zu spezifizierenden Sinne) mehr als Regelformulierungen; diese können noch nicht einmal als Abkürzungen von "Regeln" betrachtet werden, sondern allenfalls als (paradigmatische) Fälle des Vollzugs dessen, was die Regel regelt (d.h. als paradigmatische Fälle der Zeichenverwendung, welche gegenüber anderen Fällen der Zeichenverwendung keinerlei privilegierten Status haben). Der Begriff der "semantischen Regel", den Koch als Definiens für "Bedeutung" bzw. "Intension" einsetzt, ist im Kern unterbestimmt. Er kann nicht erklären, was er erklären soll, nämlich auf welchem Wege man von einer ZeichenausdlUcksseite zu der Zeichenbedeutung gelangt. Wertet man Kochs Beispiel als den (intendierten) Versuch, die Intension eines Ausdrucks anzugeben, so springt ins Auge, wie unsinnig es ist, Spezifikationen wie "in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesamtorganismus" als physikalische Dingeigenschaften zu behaupten; die tragenden Ausdrücke dieser Definition ("Existenz" und "Funktion") sind selbst hochabstrakte, voraussetzungsvolle und theoriegeladene Begriffe, die als "physikalisch", "materiell" zu behaupten niemand ernsthaft im Sinn haben kann. Das Ergebnis unserer Analyse von Kochs Ansatz ist, daß der zum zentralen Begriff gemachte Terminus der "Regel" unbestimmt (unausgefüllt, "leer") ist; damit wird aber das ganze Bedeutungsmodell hin-
51 Koch/Rüßmann 1982, 132. 52 Koch/Rüßmann 1982, 131.
122
4. Die sprachphilO5Ophische Wende
fällig, da weder der Terminus "Intension", noch der ersatzweise angebotene Terminus "Reger in einer sinnvollen Weise definiert werden konnte. Dies muß besonders überraschen, da der Terminus der "Regel" nicht nur im bedeutungstheoretischen Zusammenhang, sondern auch im methodischen Aspekt der Bedeutungsfeststellung eine zentrale Rolle spielt. "Bedeutungsfeststellung" wird von den Autoren der juristischen Logischen Semantik durchweg mit "Regelfeststellung" identisch gesetzt; "Regel" wird sogar zur tragenden Figur der Interpretationsmethodik gemacht: "Bei deskriptiven Zeichen nennt die Verwendungsregel die Eigenschaften, die es erlauben, das Zeichen auf einen Gegenstand anzuwenden. Bei präskriptiven Zeichen nennt die Verwendungsregel die Eigenschaften, die ein bestimmtes Verhalten haben soll..53 Nicht die Verwendungsregel "nennt" etwas, sondern ein Interpret setzt aufgrund seiner Sprachkompetenz und zusätzlicher ko- und kontextueller Informationen, von Interpretationszielen, Praxisbezügen, Vorinformationen, Wertungen und Interessen diejenigen semantischen "Eigenschaften" fest, die es ihm erlauben, das Zeichen auf den fraglichen Gegenstand "anzuwenden" oder eine Anwendbarkeit auszuschließen. Führt man die im Zitat hinter "Verwendungsregel" versteckten handelnden Personen wieder ein,54 so wird deutlich, daß die Funktion des Terminus "Regel" hier diejenige ist, das intuitive Sprachverstehen der interpretierenden Juristen zu verdecken. Solange die Begriffe "Reger und "Regelfeststellung' nämlich nicht näher definiert sind, kann vom Vorliegen einer Bedeutun8S'theorie, die diesen Namen verdient, und damit vom Vorliegen einer Methodik der Bedeutun8lifeststellung nicht gesprochen werden. Solange dies aber der Fall ist, bleibt alles beim alten, nämlich bei der methodisch nicht gestützten Befragung des eigenen (und gegenüber den "Bedeutungsregeln" einer Sprachgemeinschaft im vollen Sinne notwendig eingeschränkten) Sprachwissens. Da weder die Berufung auf die Logische Semantik Camapscher Prägung, noch die Nennung des Begriffs der Regel (bei Ablehnung der "gebrauchstheoretischen" Konsequenzen des Wittgensteinschen Regelbegriffsss) zu einem in bedeutungstheoretischer Hinsicht befriedigenden Ergebnis geführt hat, wenden wir uns der Frage zu, auf dem Hintergrund welcher Zielsetzungen, für welche Leistungen die Vertreter der juristischen Logischen Semantik ihre Sprachtheorie konzipieren wollen. In einem Widerlegungsversuch56 53
Wank 1985, 13.
54 Hebt man also die "Entagentivierung" (polenz 1985, 186 ff.) wieder auf. 55 Zu Wittgensteins Regelbegriff und seiner Rolle in der juristischen Methodenlehre vgI. Kemmerling 1975 und Busse 1988b und 1988c.
56 Daß dieser Widerlegungsversuch von Grice u.a. mißglückt ist und deren Absichten von Koch zu Unrecht auf einen naiven Intentionalismus reduziert werden, habe ich in Busse 1989 gezeigt.
4.1 Logische Semantik
123
eines sog. "intentionalistischen" Ansatzes in der Semantik hält Koch dieser Position entgegen, daß dieser Ansatz "eine Theorie der Bedeutungsverleihung, nicht eine Theorie sozusagen der Eigenschaften des Gegenstands 'Bedeutung' ist. Gefragt wird nicht 'Was sind die Bedeutungen sprachlicher Zeichen eigentlich für Gegenstände?', sondern 'Wie kommt es dazu, daß sprachliche Zeichen in bestimmten Kommunikationssituationen bestimmte Bedeutungen haben?, ...s7 Koch legt hier offen, welches die treibenden Fragen seiner Bemühungen um eine Bedeutungstheorie sind: Nicht die Frage, wie Bedeutungen im Zusammenhang der kommunikativen Funktion von Sprache begrifflich zu fassen und methodisch zu erschließen sind steht im Zentrum seines Bemühens; vielmehr gibt er die wesentlichen Eigenschaften, die die Entität "Bedeutung' haben soll, schon vor jeder theoretischen Betrachtung vor. Ohne jemals zu erläutern, was Bedeutungen seines Erachtens sein sollen, gibt er immer nur an, wie sie sein sollen: fest, beständig, dinghaft, eindeutig definierbar etc. D.h. der essentialistische, reifIZierende Charakter von Kochs Bedeutungsauffassung, der "Bedeutungen" zu dinghaften Entitäten hypostasiert, schon bevor die wichtigsten semantischen Fragen überhaupt gestellt sind, wirft die Frage auf, wie stark Koch an einer wirklichen Klärung des Bedeutungsbegriffs von der Sache her interessiert ist; zumindest konzipiert er Bedeutungen von vorneherein so, wie er als Jurist, der sich interpretationstheoretisch und -praktisch gerne an etwas Verbindlichem festhalten können möchte, sie gerne hätte. Es entspricht diesem (den Bedeutungen sprachlicher Einheiten zugesprochenen) Dingcharakter, daß Koch den Bedeutungsbegriff nur auf Einzelzeichen (Wörter, Begriffe, Prädikate) bezieht, ohne sich die vor aller Bedeutungstheorie zu klärende Frage zu stellen, ob die Einheit "Wort" überhaupt das geeignete (oder einzige) Bezugsobjekt einer Semantik juristischer Texte sein kann. Koch reduziert somit Semantik auf Wort- bzw. Begriffssemantik, bevor das Feld der bedeutungstheoretischen Diskussion überhaupt beschritten ist. Eine ähnliche Sichtweise zeigt Lampe, wenn er die semantische "Norm" mit der "Rechtsnorm" vergleicht und beide Normen von bloßen "Sprachgewohnheiten und Sprachgebrauch" dadurch abgrenzen will, daß man sie als "feste Bedeutung" begreifen müsse (wohl im Gegensatz zum "Fließenden", "Offenen" des bloßen Sprachgebrauchs).S8 Der vorgängige Wunsch nach "festen Bedeutungen" wird auch deutlich, wenn Rüßmann die Richter auf "feststellbare Sprachregeln" verpflichten möchte.59
57 Koch/Rüßmann 1982, 141. 58
Lampe 1970, 17.
59 Rüßmann 1978, 225.
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4. Die sprachphilosophische Wende
Diese Tendenz, das gesuchte Bedeutungsmodell daran auszurichten, ob es geeignet ist, den "Gegenstand Bedeutung" zu verfestigen, wird auch daran deutlich, daß die juristischen Anhänger der logischen Semantik an der traditionellen juristischen Dichotomie von "Begriffskem" und "Begriffshof festhalten, allerdings ohne dem Scheitern der Definitionsbemühungen (und Bemühungen um Auffinden von Abgrenzungskriterien) der traditionellen Methodenlehrer mit eigenen Begründungsleistungen abhelfen zu können.6O Dazu taugt auch nicht der Versuch Kochs, den Bereich der von ihm intendierten "Semantik" von pragmatischen Dimensionen der Bedeutung dermaßen freizuhalten, daß die "semantischen Regeln, die die eingebürgerten Bedeutungen der sprachlichen Zeichen ausdrücken" anderen pragmatischen Faktoren der Bedeutungskonstitution dichotomisch entgegengesetzt werden,61 etwa indem das, was "mit sprachlichen Äußerungen [...] gemeint, zum Ausdruck gebracht wird" scharf getrennt wird von dem, was "zur Bedeutung der jeweiligen Äußerung, zu ihrem semantischen Gehalt gehört."62 Auch hier finden wir wieder ein Beispiel für Kochs Vorgehen, das gewünschte sprachtheoretische Ergebnis, nämlich die Entgegensetzung von Semantik und Pragmatik, vorauszusetzen, um im nachhinein nach einer dieses Ergebnis stützenden Begründung zu suchen. Wenn Koch den "kontextspezifischen Gehalt" sprachlicher Ausdrücke "nicht zu dem rechnen [will], was wir intuitiv die Bedeutung, den semantischen Gehalt der Äußerungen nennen",63 dann enthüllt er das eigentliche Fundament seiner "Bedeutungstheorie", nämlich die vor aller sprachtheoretischen Anstrengung vorgängige juristische Intuition darüber, was Bedeutung, wie Bedeutung (und was in konkreten Fällen die Bedeutung der zu interpretierenden Ausdrücke) ist. Es ist diese auch als "Lehnstuhl-Methode" bezeichnete Art juristischer Bedeutungsfindung, welche am Ende aller bedeutungstheoretischen Bemühungen übrigbleibt: der Richter, der sich zurücklehnt, und sich auf seine eigene sprachliche Intuition beruft, um dann alles, was seinem Sprachvermögen (und der von ihm gewünschten Entscheidung) entspricht, zur "Bedeutung", zum "Begriffskern", zum "semantischen Gehalt", zur "semantischen Regel" zu rechnen, und alles, was ihm neu, unverständlich, widersprüchlich ist, als "Begriffshof' oder gar außerhalb der Bedeutung liegend auszugrenzen. In Kochs Berufung auf die "eingebürgerten Bedeutungen" als Kern seines bedeutungstheoretischen Modells erkennen wir jenen Appell an den "common sense" der juristischen 60 So Koch 1977, 44; Koch/Rüßmann 1982, 193; Herberger/Koch 1978, 813; Herberger/Simon 1980, 287.
61 Koch/Rüßmann 1982, 154. Kochs erklärtes Ziel ist die "klare Abgrenzung der Arbeitsbereiche von Semantik und Pragmatik" (151). 62 Koch/Rüßmann 1982, 152. 63 Koch/Rüßmann 1982, 153.
4.1 Logische Semantik
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Zunft wieder, welcher schon der Kern der traditionellen "objektiven" Auslegungslehre gewesen war; geblieben ist die alte Argumentationsfigur des Positivismus, der wie die logischen Semantiker nach "festen", "objektiven" Entitäten suchte, um doch wieder nur beim common sense des Juristenstandes zu landen (der allein die "Festigkeit", die "Objektivität" der Auslegungsgegenstände - seien es nun Hegelsche "Begriffe", die "Sache Recht", "feste Bedeutungen" oder "feststellbare semantische Regeln" - zu verbürgen imstande ist); neu sind die epitheta omantia sprachphilosophischer Herkunft. Das zentrale Problem der juristischen Vertreter der Logischen Semantik ist die Vagheit von Begriffen; Ziel ist die Erreichung einer semantischen Eindeutigkeit. So formuliert Lampe als "semantische Voraussetzung für die Geltung eines Rechtsbegriffs" das "Prinzip der Eindeutigkeit: Jede sprachliche Bezeichnung eines Gegenstandes hat im Rahmen desselben Kontextes als Bezeichnung eines einzigen Gegenstandes Verwendung zu finden. 064 Diesem Ideal, welches das eine Extrem der juristischen Einstellungen zum Problem der Vagheit sprachlicher Ausdrücke markiert, korrespondiert das gegenteilige Extrem, "daß eine semantische Eindeutigkeit der Sprache, die eine Identität der Bewußtseinsinhalte voraussetzen würde, nicht gegeben ist und auch nicht erreicht werden kann.,,6S Beide Positionen haben gemeinsam, daß sie von einem irreführenden Bild dessen ausgehen, was semantische ''Eindeutigkeit" heißen kann: Diese wird entweder als direkte Entsprechung (oder gar Identität) eines einzelnen Sprachzeichens zu einem Einzelding gesehen; hier kommt die Bedeutungsauffassung der Logischen Semantik zur Geltung, der zufolge die "Bedeutung" eines Zeichens in der Relation eines Zeichenausdrucks auf ein Einzelding (oder eine Klasse von Einzeldingen) besteht. Die realistische Einsicht in die Undurchführbarkeit einer solchen Sprachauffassung wird dann insofern umgesetzt, als die geforderte "Eindeutigkeit" auf identische Kontexte eingeschränkt wird. Eine solche Auffassung bleibt unbegründet, solange nicht die Kriterien genannt werden, unter denen zwei Kontexte als "dieselben" bezeichnet werden können. Dieses Ideal semantischer Eindeutigkeit spielt also mit der Unbestimmtheit des Ausdrucks "dieselben" (Kontexte), deren Klärung sie den (intuitiven?) Entscheidungen der Textinterpreten überläßt. Zudem gesteht sie indirekt den "Kontexten" eine entscheidende Rolle bei der Konstitution und Interpretation der Zeichenbedeutung zu, ohne dies auch in das bedeutungstheoretische Konzept 64 Lampe 1970, 22. Zur Kritik an diesen Vagheitskonzeptionen (aus der Theorie der idealen Sprache) vgI. die vorzügliche Arbeit von Wolski 1980, 82 ff., bes. 113 ff., und (zusammenfassend) Busse 1991a, 43 ff. 6S Kramm 1970, 83. Der Autor beruft sich allerdings zu Recht darauf, "daß Begriffe grundsätzlich nicht eindeutig sein können, weil jedes Individuum für sich sein eigenes Begriffsrepertoire erwerben muß und an diesem Erwerb mit seiner individuellen Subjektivität notwendig beteiligt sein muß" (S. 27).
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4. Die sprachphilosophische Wende
einfließen zu lassen. Die andere Auffass~ dagegen mißversteht "Bedeutung" als psychische "Vorstellungen" o.ä. und damit die Eindeutigkeit sprachlicher Zeichen psychologistisch als Identität von Bewußtseinsinhalten der sprechenden Personen und schließt aus der unhintergehbaren Privatheit und Subjektivität psychischer Gegebenheiten vorschnell auf die Unmöglichkeit sprachlicher Eindeutigkeit. Auch hier werden "Bedeutungen" wie "black boxes" als abgeschlossene in sich identische "Gegenstände" mißverstanden, die als solche "festen" Entitäten "verglichen" bzw. "identifiziert" werden können. Beide Konzeptionen sind aber vereinbar mit dem juristischen Ideal, die eigene Fachsprache (wenn schon die Umgangssprache lästigerweise durch Uneindeutigkeit gekennzeichnet ist) - ähnlich wie in der Idealsprachen-Konzeption der Wissenschaftstheorie - zu einer eindeutigen und präzisen Kunstsprache umformen zu können: "'Präzision' ist dabei eine Forderung an die Semantik einer Sprache, die darauf hinausläuft, im Sprachgebrauch die Vagheiten, Mehrdeutigkeiten und Inkonsistenzen von Prädikaten einer Sprache auszumerzen."67 Die "Vagheit" von sprachlichen Zeichen wird von Schmidt (und dann v.a., ihm folgend, Koch) mit Verweis auf einen Aufsatz des Mathematik-Philosophen Körner dahingehend bestimmt, daß zwischen "positiven, negativen und neutralen Kandidaten" eines Zeichens unterschieden wird. Ausgehend davon, daß ein Zeichen (Z) sich über seine Verwendungsregel (VR) auf Objekte (0) bezieht, liege ein "positiver Kandidat" für das Zeichen dann vor, wenn man die Verwendungsregel dadurch befolgt, daß man das Zeichen Z dem Objekt 0 zuspricht; in dem Fall, daß VR dadurch befolgt wird, daß man Z dem Objekt 0 abspricht, liege ein "negativer Kandidat" vor; und in dem Fall schließlich, daß VR sowohl befolgt wird, wenn man Z dem 0 zuspricht, als auch, wenn man Z dem 0 abspricht, liege ein sog. "neutraler Kandidat" vor.68 Koch stellt dieser Definition aus der analytischen Philosophie ein Zitat des Juristen Jellinek gegenüber, der schon zu Beginn des Jahrhunderts davon gesprochen hatte, daß bei der Anwendung eines Begriffs "zwischen dem bejahenden und dem verneinenden Urteil ein Grenzgebiet der bloßen Möglichkeit (problematisches Urteil)" liegt:69 "Der unbestimmte Begriff hat also ge-
66 So geht Kramm 1970, 81 davon aus, "daß Begriffe als Wörter Zeichen darstellen, die für einen bestimmten Bewußtseinsinhalt stehen." 67 Schmidt 1972,392. (Die verdächtige Vokabel 'ausmerzen' wäre einer eigenen sprachkritisehen Betrachtung wert.) 68.
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Schm,dt 1972, 392 f. AhnIich Koch 1975, 37; Koch 1977, 43; Koch 1979, 33; Koch 1992, 3; Koch/Rüßmann 1982, 195; Herberger/Koch 1978, 814; Thaler 1982, 4. Vgl. dagegen die Kritik an dieser Einteilung bei Schroth 1983, 96 f. 69 Walter Jellinek: Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, 1913 (Verwaltungsrecht, 3. Auf!. 1931, Neudruck 1966, S. 37 f.); zit. nach Koch 1979, 33.
4.1 Logische Semantik
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wiß zwei Grenzen, aber auch die Lage dieser Grenzen ist wieder unbestimmt." Der Versuch, auch bei Vagheit sprachlicher Zeichen "Bereiche der Gewißheit" von dem "Bereich des Zweifels" zu unterscheiden, 70 wirft also dasselbe Problem der Grenzziehung auf, das schon die Versuche der Abgrenzung von "Begriffskem und -hof' bestimmt hatte.71 Und es überrascht nicht, daß Koch der Erkenntnis seines Gewährsmanns Jellinek vehement widerspricht, daß diese Grenzen selbst wiederum unbestimmt seien. An der sprachanalytischen Version dieses Einteilungsversuchs fällt auf, daß es sich dabei um eine rein extensionale Bestimmung der "Bedeutung" eines vagen Ausdrucks handelt. Fällt ein Objekt sicher unter die Extension des Zeichens, ist es positiver Kandidat, fällt es sicher nicht darunter, ist es negativer Kandidat, ist es umstritten, ob es darunter fällt, ist es neutraler Kandidat. Wir hatten aber oben bei der Behandlung des Carnapschen SemantikModells gesehen, daß eine extensionale Bestimmung nicht die "Bedeutung" eines Zeichens erschließt; für die Angabe der "Extension" muß vielmehr die Bedeutung eines Zeichens stets schon bekannt sein. Extensionale Bestimmungen eignen sich daher auch nicht für die Definition des semantischen Terminus "Vagheit": die "Bedeutung", um deren Bestimmung es bei der Analyse vager Ausdrücke geht, wird in diesem Modell stets als mehr oder minder bekannt vorausgesetzt (in Form der block bax "Verwendungsregel" des Zeichens). Die Kömer/Schmidt/Kochsche Definition der Vagheit kann also im Rahmen einer Intepretationstheorie, der es um Methoden des Herausfindens von Bedeutungen geht, nicht ausreichen. Auch die Definition der semantischen Vagheit kommt bei Koch et al. nicht ohne Bezug auf den vorgängigen Konsens des Üblichen aus, wie der von ihm positiv zitierte Jellinek zeigt: Noch bevor der Jurist "die Quelle der genauen Begriffsbestimmung kennt, weiß er, daß es Erscheinungen gibt, die ganz sicher unter den Begriff fallen, und solche, die ganz sicher nicht darunter fallen. Dadurch entstehen die Sphären der positiven und der negativen Gewißheit und diejenigen des möglichen Zweifels."72 Indem Schmidt und Koch aus der von Jellinek hier noch ungeschönt (und ohne Ambitionen der "Präzisierung" der Rechtssprache) vorausgesetzten Berufung auf den common sense der Guristischen) Sprachteilhaber in einem Prozeß theoretischer Anverwandlung den Terminus "Zeichenverwendungsregef zaubern, verdecken sie, daß der tragende Terminus ihres Definitionsversuchs der Begriff des "Zweifels" ist. Es wäre 70 Koch 1979,34. 71 Koch 1979,40 ff. hält sein Dreier-Schema für eine Verbesserung des Kem-Hof-Schemas, wie es sich etwa bei Engisch 1956, 108 findet, dem er somit nicht grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. (Ausweislich seines Schülers Hilgendorf 1991, 54 f. versteht Koch seinen Ansatz als Weiterführung desjenigen von Engisch.) 72 Jellinek 1913, zit. nach Koch 1979, 33.
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4. Die sprachphilosophische Wende
nunmehr zu fragen, ob und in welcher Weise der Begriff des "Zweifels" geeignet sein könnte, jene von Koch behauptete feste Grenzziehung zwischen den drei Bereichen des positiven, neutralen und negativen Zuschreibens zu stützen. Wenn Koch diese Grenzen als feste, eindeutige Grenzen auffaßt, dann kann er dies nur, wenn er die "Gewißheit" im Bereich der "positiven und negativen Kandidaten" als eine feste, unumstößliche Gewißheit auffaßt; streng genommen wäre, wenn nur ein einziger Jurist einen "Zweifel" anmeldet, bereits der "Bereich des Zweifels" beschritten und der fragliche Gegenstand zu den "neutralen Kandidaten" zu zählen. Es drängt sich hier die Frage auf, ob ein solch enger Begriff der semantischen "Gewißheit" und damit einhergehend die enorme Ausweitung des "neutralen" Bereichs überhaupt der faktischen sprachlichen Situation entspricht und ob dann die behauptete Einteilung bei "vagen" Ausdrücken überhaupt noch etwas erklärt (d.h. ob die Mengen der "positiven" und "negativen Kandidaten" nicht nahezu leer sind, so daß die vermeintliche Grenzziehung bei vagen Begriffen nutzlos wird, weil sie schlechthin alles ausgrenzt). Koch kennt dieses Problem nicht: "Die Grenzen eines unbestimmten Begriffs liegen fest: alle diejenigen Kandidaten, die nach dem überwiegenden Sprachgebrauch der relevanten Sprechergruppe (Juristen, Parlament, Allgemeinheit) unzweifelhaft in die 'Sphären der Gewißheit' fallen, stehen denjenigen gegenüber, bezüglich deren Zuordnung Zweifel bestehen."73 Es überrascht, daß dem doch an Präzision interessierten Autor nicht auffällt, daß die angeblich "unzweifelhaften", "festen" Grenzen der Gewißheit schon in seiner eigenen Formulierung dadurch aufgehoben werden, daß ihnen die hochgradig unbestimmten und vagen Ausdrücke des "überwiegenden Sprachgebrauchs" und der "relevanten Sprechergruppe" zugesellt werden. Die Grenze, die Koch an der einen Stelle ziehen will, wird hier wieder aufgehoben; d.h. das Problem wird lediglich terminologisch verschoben, nicht aber geklärt. Was man sich unter dem "überwiegenden Sprachgebrauch" einerseits und der "relevanten Sprechergruppe" andererseits vorstellen soll, gibt Koch nicht an. Gehören dazu alle Juristen, alle Abgeordneten, oder gar alle Bürger der BRD? Ist die "Gewißheit" schon verlassen, wenn eine einzige Person aus dieser Schar der 80 Millionen einen "Zweifel" anmeldet? Wie will man dies überprüfen? Koch setzt hier entweder ein statisches, einheitliches, Sprachmodell voraus, das von dem Ideal der Homogenität einer Schriftsprache über alle Gruppen, Schichten, Regionen einer Nation ausgeht, welches die Linguistik schon lange als realitätsfremd erwiesen hat, oder er übergeht die mögliche sprachliche Vielfalt, indem er an den common sense einer vermeintlich homogenen Schicht von Fachleuten appelliert, hinter dem sich letztlich doch nicht mehr verbirgt als das ganz private, 73 Koch 1979, 34.
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intuitive Sprachvermögen des einzelnen Richters (oder Richterkollegiums), demzufolge in einsamer (Lebnstuhl-)Entscheidung festgelegt wird, was als "überwiegender Sprachgebrauch" und was als "relevante Sprechergruppe" anerkannt werden soll.74 Der Begriff der "VerwendungsJY!8er sprachlicher Zeichen (den wir bei Koch schon als Retter aus den Aporien der Carnap-Theorie kennengelemt haben), ist also hochgradig unbestimmt, und doch macht Koch ihn sehr stark: "Der Vagheitsbereich vager Begriffe ist dadurch definiert, daß insoweit sprachliche Konventionen nicht existieren."7S "Konventionen" bzw. "Verwendungsregeln" sprachlicher Zeichen lägen demzufolge also nur dort vor, wo wir "Gewißheit" über ihre Verwendung haben; es gäbe daneben eine Form sprachlicher Verständigung, die nicht mehr konventional wäre. Es bleibt offen, wie ein solches Sprachmodell funktionieren können soll. Menschliche Sprache ist (nach Saussure) geradezu durch ihre Konventionalität definiert bzw. konstituiert. Nicht-konventionale Sprache wäre per definitionem keine Sprache mehr, sondern nur noch leerer Schall. Jede Verständigung, auch die vage, offene, uneindeutige Verständigung ist regelgeleitet; es liegt lediglich, wenn Eindeutigkeit nicht erzielt werden kann, ein Unterschied in der Regelanwendung bzw. -verwirklichung vor, d.h. in einem verschiedenen Verständnis dessen, was die Regel ausmacht, nicht jedoch, wie Koch irrigerweise annimmt, ein völlig regelloser Zustand. Zudem macht es keinen Sinn, bei ein und demselben Zeichen Bereiche der Regelhaftigkeit von solchen der Ungeregeltheit zu unterscheiden; wenn Vagheit vorliegt, dann ist es die Regel bzw. die Konvention selbst, die vage und unbestimmt ist, bzw. sich bei verschiedenen Sprecher(gruppe)n unterscheidet. Insofern ist Vagheit ein Problem, welches sich auf die Verwendungsregel selbst bezieht, woraus folgt, daß der Terminus der Verwendungsregel ungeeignet ist, den der Vagheit zu definieren. Wank zufolge kann es dem juristischen Interpreten auch gar nicht darum gehen,76 den "tatsächlichen Sprachgebrauch" zu eruieren, vielmehr sei der "korrekte" Gebrauch "für den Juristen das Entscheidende. Er möchte nicht den üblichen Sprachgebrauch, sondern den juristisch richtigen Sprachgebrauch 74 Koch entkommt den geschilderten Problemen auch nicht dadurch, daß er die "Vagheit" von der "Inkonsistenz", d.h. der Differenz im Sprachgebrauch verschiedener Sprechergruppen, abgrenzt. So in Koch/Rüßmann 1982, 199: "Von Vagheit sprechen wir nur relativ zu einem bestimmten Sprachgebrauch. [...] Das heißt für den juristischen Entscheider, daß er zunächst einen Sprachgebrauch als den relevanten auszeichnet." Löst man diese verunklarende Hypostasierung wieder in konkrete interpretatorische Schritte auf, dann kann mit "ein Sprachgebrauch" nichts anderes gemeint sein als "eine Interpretation"; beides darf aber keinesfalls gleichgesetzt werden, da "Sprachgebrauch" sich immer auf SprechetgrUppen bezieht, während "Interpretation" auch subjektiv, einmalig sein kann. Es scheint, daß Kochs Formulierungen geeignet sind, den subjektiven Charakter von Interpretationen zu verdecken. 7S Koch/Rüßmann 1982, 200.
76 Wank 1985, 13.
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4. Die sprachphilosophische Wende
erfahren." Die Frage der "Richtigkeit" läßt sich aber nicht mehr über die "Verwendungsregel" eines Zeichens klären, sondern erfordert andere Kriterien; es stellt sich also hier die Frage, ob die Bedeutungsbestimmung von vagen juristischen Ausdrücken noch mit allein semantischen Mitteln erreicht werden kann.T7 Die Schwierigkeit, im Bereich vager Gesetzesausdrücke mit als objektivistisch gewünschten "semantischen" Argumenten Entscheidungen zu ersetzen, führt die juristischen Anhänger der logischen Semantik dazu, die Möglichkeit semantischer Feststellungen im Bereich der Vagheit schlechthin zu verneinen: "Die Schwierigkeit bei der Auslegung bzw. Anwendung gesetzlicher Normen mit unbestimmten Rechtsbegriffen besteht darin, daß letztere neutrale Kandidaten haben, hinsichtlich derer, semantisch betrachtet, über die Anwendbarkeit der Gesetzesnorm nicht entschieden werden kann. Der jeweilige Rechtsanwender muß also in anderer Art und Weise als durch Ermittlung des semantischen Gehalts der fraglichen Bestimmung eine Entscheidung über die neutralen Kandidaten treffen. Er muß insoweit die Bedeutung des gesetzlichen Ausdrucks/estsetzen".78 Diese Dichotomie von Bedeutungsfeststellung und -festsetzung durchzieht als Topos die gesamte semantisch orientierte neuere Methodendiskussion in der juristischen Interpretationslehre; sie muß daher auf ein eminentes Bedürfnis gestoßen sein. Im Rahmen von Kochs eigenem Begründungsmodell kommt dieser Unterscheidung eine zentrale Bedeutung zu. Hat Koch mit seinem Drei-Bereiche-Modell der Vagheit den in seinen Augen semantisch nicht entscheidbaren Bereich (der neutralen Kandidaten) enorm ausgeweitet, so tritt er nun vehement dafür ein, daß Bedeutungen im gesamten Bereich der Vagheit von Richtern nicht mehr festgestellt werden müssen, sondern festgesetzt werden dürfen. Damit macht er aber nicht nur aus einer Not eine Tugend, sondern weitet m.E. den Bereich der Anwendung von Gesetzestermini, der sich der semantischen "Feststellbarkeit" im Sinne einer "logisch zwingenden" Schlußfolgerung entzieht, über Gebühr aus und schafft damit möglicherweise einen neuen (vergrößerten) Bereich der Willkürlichkeit, der seinem Anspruch auf Präzision diametral entgegensteht.79 T7 So Wank 1985, 25. 78 Koch 1979, 34. So auch Zimmennann 1m, 28 kategorisch: "Semantische Spielräume sind ein unüberwindbares Hindernis einer Rechtsfindung durch Feststellungen." Vg1. auch Lampe 1970, 2lf.; Zimmennann 1m, 20; RüBmann 1978, 228; Herberger/Simon 1980, 238; Koch/ RüBmann 1982, 163. 79 "Da die Richter trotz der mit Vagheit und Porosität verbundenen Probleme keine Fälle als unentscheidbar zurückweisen, entscheiden sie in den semantisch unentscheidbaren Fällen nicht in Bindung an das Gesetz; sie setzen vielmehr die Bedeutung des Gesetzes, dem entsprechend sie dann entscheiden, aJlererst fest." (Koch 1975, 41) Koch betont zwar, daß dies nicht auf Willkürlichkeit hinauslaufen solle und weist es einer von ihm nicht näher ausgeführten "juristi-
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Schon die normale Praxis richterlicher "Bedeutungsfindung" entzieht dieser von Koch als scharfe GreIl2Ziehung konzipierten Dichotomie den Boden, denn "gleichgültig, ob der Richter mehr feststellt oder festsetzt, ihm steht die Definitionsmacht zu, also die Kompetenz, die Bedeutung der Gesetzesausdrücke verbindlich festzulegen.,,80 Eine Konzeption, die sich, wie diejenige Kochs, auf die fundamentale Unterscheidbarkeit von Bedeutungsfeststellungen und Bedeutungsfestsetzungen verlassen will, sieht sich der Schwierigkeit ausgesetzt, dasjenige, was als "Feststellung" (des semantischen Gehalts, der Verwendungsregel etc.) firmieren soll, auch als ein solches Verfahren auszuweisen, das sich jeglichen Setzlloparakters enthält. Wank, als Autor der obigen Bemerkung, merkt zu Recht an, daß Bedeutungsfeststellungen im strengen sprachwissenschaftlichen Sinne bei Gericht nicht erfolgen. So "müßte der Jurist, wenn er es ernst damit meinte, auf Sprachbücher und Sprachuntersuchungen [...] zurückgreifen, oder er müßte [...] Meinungsbefragungen veranlassen oder Beobachtungen über den Sprachgebrauch anstellen. All dies geschieht meist nicht. Vielmehr verfährt der Jurist meist so, daß er sein natürliches Sprachempfinden stellvertretend für den allgemeinen Sprachgebrauch antworten läßt. Das führt zu dem [...] Bedenken, daß der Jurist dabei im allgemeinen weder repräsentativ noch nach semantischen Kriterien vorgeht, sondern im Rahmen seiner juristischen Arbeit seine Rechtsauffassung hinter dem Verweis auf den allgemeinen Sprachgebrauch verbirgt.,,81 Es bleibt die Vermutung, daß Koch und andere Autoren ähnlicher Provenienz auch gar nicht ernsthaft an die Möglichkeit der "Feststellbarkeit" von Bedeutungen in diesem sprachwissenschaftlich strengen Sinn gedacht haben.82 Welchen anderen Sinn kann dann die von ihnen eingeführte Dichotomie haben als denjenigen, als Folie zu wirken für die möglicherweise
sehen Argumentationsthcorie" als Aufgabe zu, "die rationale Begründbarlteit von Bedeutungsfestsetzungen näher zu untersuchen" (a.a.O.), doch wirft er kurioscrwcisc den Autoren, die sich um eine solche Auslegungstheorie bemühen (wie z.B. F. Müller 1976, 1984) ausgerechnet den "Mangel einer semantischen Fundierung" vor (HerbergerjKoch 1978, 814), die seinem Ansatz zufolge doch gerade im anstehenden Problem keine Rolle mehr spielen dürfte. 80 Wank 1985, 66.
81 Wank 1985, 21 f. Wank wendet sich mit diesen Bemerkungen ausdrücklich gegen Koch und Rüßmann, die als Hilfsmittel der Bedeutungs"feststellung" tatsächlich nicht mehr anbieten, als die Berufung auf Wörterbücher (Koch/Rüßmann 1982, 190), was umso mehr verwundert, als Koch an anderer Stelle gerade dieses Vorgehen und die Befragung des eigenen "Sprachgefühls" als unzureichend kritisiert (HerbergerjKoch 1978, 811). Wank 1985, 20: "Manchmal wird ein Wörterbuch zu Rate gezogen. In vielen Fallen wird auf die Verkehrsansehauung verwiesen." 82 So räumt Rüßmann (1978, 225) ein: "Zum einen bereitet die wissenschaftlich ausgewiesene empirische Ermittlung der Bedeutung sprachlicher Zeichen erhebliche Schwierigkeiten, zum anderen gestattet gerade sie nicht, sich am Phänomen semantischer Spielräume vorbeizumogeln."
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4. Die sprachphilosophische Wende
eigentlich im Zentrum stehende Bejahung, Ausweitung und Radikalisierung des Aspekts der "Festsetzung" von Gesetzesbedeutungen? Dies wirft die Frage auf, welches Konzept der Auslegung von Gesetzestexten die Autoren, welche der "sprachphilosophischen Wende" in der juristischen Methodendiskussion zuzurechnen sind, über die im engeren Sinne sprachtheoretischen Begründungsversuche hinaus haben. Wir hatten gesehen, daß Koch und Rüßmann die Aufgabe der Richter als "semantische Interpretation der gesetzlichen Ausdrücke" beschrieben haben, genauer: "Den gesetzlichen Ausdrücken wird eine sprachliche Bedeutung zugewiesen. Damit ist nicht gesagt, ob die semantische Interpretation einen bestimmten Sprachgebrauch, etwa denjenigen des Gesetzgebers, wiedergibt, es sich, mit anderen Worten, um eine Bedeutungsfeststellung handelt, oder ob ein Sprachgebrauch allererst festgesetzt wird, um eine bestimmte, vom Gesetzgeber oder vom Rechtsanwender gewollte Entscheidung alsdann deduzieren zu können. 083 Die Auffassung von "semantischer Interpretation", die die Autoren hier in dem Bemühen zeigen, die juristische Auslegungstheorie mit sprachwissenschaftlichen Argumenten abzusichern, ist nicht kompatibel mit einem linguistischem Begriff von Semantik und Interpretation. Als semantische Interpretation würde man in der Linguistik eine solche bezeichnen, die mit semantischen Argumenten, d.h. auch mit empirischen Daten, gestützt wird; dann ist es allerdings durchaus wesentlich, die Sprechergruppen näher zu bestimmen, aus deren Sprachgebrauch man die semantischen Daten entnehmen möchte. Eine Bedeutungsfestsetzung, deren Setzungscharakter offensichtlich und gewollt ist, würde nicht mehr mit dem Terminus "semantische Interpretation" bezeichnet werden können; vor allem ist der Unterschied zwischen empirischer Bedeutungsfeststellung und einer voluntaristischen Setzung nicht derart vernachlässigenswert, wie es Koch und Rüßmann nahelegen. Damit soll nicht behauptet werden, daß es linguistisch gesehen so ohne weiteres möglich wäre, die Grenze zwischen empirischer Feststellung und der definitorischen Setzung von Bedeutungen im Interpretationsakt scharf und eindeutig zu ziehen. Es bedarf aber einer genauen Analyse von Verstehensprozessen, um das komplizierte Verhältnis zwischen Regelgebundenheit und Kreativität beim Bedeutungsverstehen begrifflich fassen zu können; das Wegleugnen jeglichen Unterschiedes dient nur dazu, diese theoretischen und begrifflichen Anstrengungen zu umgehen. Terminologisch völlig verfehlt ist es davon zu sprechen, daß mit einer Festsetzungsdefinition ein "Sprachgebrauch" festgesetzt wird; Sprachgebräuche können niemals "festgesetzt" werden sondern ergeben sich allererst durch die kollektive sprachliche Gewohnheit ganzer Sprechergruppen. In der Kochschen Formulierung scheint daher das Bedürfnis durch, die eigene, einmal gesetzte Deutung eines 83 Koch/Rüßmann 1982, 24; ähnlich Koch 1979, 62.
4.1 Logische Semantik
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Gesetzestextes dadurch verbindlich zu machen, daß man sie nicht als eigene, private Deutung angreifbar macht, sondern daß man sie terminologisch zum "Sprachgebrauch des Gesetzgebers" erhebt, um die weiteren Auslegungsschritte und Folgerungen für Entscheidungen dann als "deduziert" (anstatt als gesetzt, was sie in Wirklichkeit sind) darstellen zu können. Ohnehin spielt der Gesichtspunkt der "Deduktion" eine große Rolle im Methodenverständnis der juristischen "logischen Semantiker". So beklagt Rüßmann: "Semantische Spielräume verhindern die logische Verknüpfung der gesetzlichen Begriffe mit den zur Sachverhaltsschilderung verwendeten Begriffen." Und ZU Anfang des Kapitels hatten wir gesehen, daß für ihn "die Rechtsfolge eine logische Folge aus Gesetzen, semantischen Regeln und Sachverhaltsbeschreibungen ist".84 Der Topos der "Deduktion" läßt sich aber nur schwer aufrechterhalten, wenn, wie gesehen, der Bereich der angeblich durch semantische Argumente nicht mehr erfaßbaren "neutralen Kandidaten" vager Begriffe auf all die Fälle ausgedehnt wird, in denen nur ein einziger Zweifel angemeldet worden ist. Wenn, diesem Interpretationsbegriff zufolge, bei den uneindeutigen Rechtsbegriffen (und dies dürfte die größte Zahl der Rechtsbegriffe sein) der Bereich der "Setzung" dermaßen ausgeweitet wird, dann kann das nicht mehr als "Deduktion" bezeichnet werden. "Deduziert" wird dann nämlich nicht aus den vorgängig gesetzten "Bedeutungen" der Gesetzesbegriffe; sondern aus dem durch eigene Auslegungstätigkeit behaupteten "Zweck des Gesetzes", oder gar der im konkreten Einzelfall angestrebten Entscheidung, wird induktiv die "Bedeutung" des Gesetzesterminus definitorisch festgesetzt. Es entspringt nur einem zu engen Verständnis von "Semantik" bzw. "semantischer Interpretation", wenn als Folge der ungeschickten Ausweitung des "Setzungs"-Bereichs der Gesetzesinterpretation gleich das ganze Gesetzesbindungspostulat für unerfüllbar angesehen wird: "Semantische Spielräume setzen dem Gesetzesbindungspostulat auch in seiner modifizierten Fassung eine unüberwindliche Grenze.,;ss Übrig bleibt dann am Ende aller sprachtheoretischen Bemühungen nur die Feststellung, das Gesetzesbindungspostulat könne allenfalls in seiner unbestimmtesten und weichsten Form verstanden werden: "Eine Entscheidung soll im Einklang mit dem semantischen Gehalt des Gesetzes sein.086 Und diese Forde84 Rüßmann 1978, 227, 222. Siehe das Zitat oben S. 105 f. (Anm. 11). 8S Rüßmann 1978, 227. 86 Koch 1978,58. So sagen Koch und Rüßmann (1982, 210) eindeutig: "Wenn die Wortsinnauslegung wegen fallrelevanter Vagheit, Mehrdeutigkeit oder Inkonsistenz zu keiner semantischen Interpretation geführt hat, die eine Überbrückung der 'Kluft' zwischen gesetzlicher Tatbestandsformulierung und Sachverhaltsbeschreibung erlaubt, so bleibt als Möglichkeit einer Entscheidung in Bindung an das Gesetz nur der Versuch, das Gewollte zu verwirklichen, d.h., den semantischen Gehalt des Gesetzes so festzusetzen, daß die Zwecke des Gesetzgebers erreicht werden.· Es liegt auf der Hand, daß keine Rede davon sein kann, daß durch solche Fest-
134
4. Die sprachphilosopbi&che Wende
rung sieht Koch schon dann erfüllt, wenn der Richter die "neutralen Kandidaten" nach eigenem Gutdünken entweder dem Gesetzesterminus zuordnet oder ausschließt.
Es ist schon einigermaßen verwunderlich, wenn ausgerechnet die Auslegungstheoretiker, welche die sprachphilosophische Semantik zu einem zentralen Bestandteil ihrer rechtsmethodischen Überlegungen gemacht haben, die Rolle der Semantik für die Gesetzesanwendung eher gering einschätzen: "Die Feststellung des Bedeutungsgehalts eines Gesetzes läßt ~dsätzlich keine Prognose über zukünftiges richterliches Entscheiden zu. 7 Koch geht sogar so weit, im gesamten "Bereich des Zweifels" bei vagen Gesetzesausdrücken vom "Versagen der 'Auslegung nach dem Wortsinn'" zu sprechen.88 Mir scheint, daß diese Schlußfolgerung, welche "Zweck"-Überlegungen schon sehr früh Eingang in die "Auslegungs"-Bemühungen verschafft, vorschnell ist. Sie entspringt einem außerordentlich eng gefaßten Begriff von "Bedeutunlt' bzw. "semantischer Reger, welcher wegen seiner Orientierung an logischer Terminologie und einem falschen Verständnis des Bezugs zwischen Sprache (Begriff, Zeichen, Bedeutung) und Wuklichkeit (Sache, Gegenstand, Objekt) den wahren Charakter natürlicher Sprachen verfehlt. Allerdings haben Koch und seine Anhänger das Verdienst, mit dem Einbezog semantischer Überlegungen in die juristische Interpretationstheorie den Versuch gewagt zu haben, deren Überlegungen auf den Stand des sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen WISSens der Zeit zu heben. Dies kommt in der begrüßenswerten Forderung zum Ausdruck, daß "juristische Entscheider nicht beliebJe semantische Interpretationen gesetzlicher Ausdrücke wählen [dürfen]", und "daß Bezqgnahmen auf sprachliche Konventionen ausdrücklich kenntlich gemacht werden müssen, um klare Ansatzpunkte für Kritik und damit das mögliche Maß an Intersubjektivität zu erreichen."9O Dieser Forderung, die Verantwortlichkeiten der Richter für bislang von ihnen meist versteckte semantische Folgerungen aufdeckt, wäre nur hinsetzung:sdefinitionen der semantische Gehalt des Gesetzes festgesetzt wird, vielmehr wird lediglich eine Interpretationsvariante rur den einen zu entscheidenden Fall als gültig behauptet. 87 Koch 1978, 56. 88 Koch 1979, 71. 89 Koch/Rüßmann 1982, 163. 90 Koch/Rüßmann 1982, 191. Mittlerweile sieht Koch seine frühere Euphorie hinsichtlich der Anwendbarkeit der Logischen Semantik für die juristische Methodenlehre kritischer. Laut Koch 1991, 552 f. hat er sich "um eine theorielager-übergrcifende Rezeption sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse bemüht, dabei können lrrtümer unterlaufen sein." Diese Einsicht ehrt den Autor; ebenso übrigens wie die Feststellung: "Hier ist die analytische Rechtstheorie natürlich rur neue Einsichten - wie etwa aus linguistischer Perspektive - jederzeit offen." (Koch 1992,7) Die vorstehend (und z.T. auch schon in Busse 1989,97 ff.) geübte Kritik kann daher auch als (linguistische) Hilfestellung bei der Bewältigung gemeinsam interessierender interpretationstheoretischer Fragestellungen aufgefaßt werden.
4.2 Analytische Rec:htstheorie
135
zuzufügen, daß die Semantik auch dort noch ihre Geltung behält, wo sie nach Koch schon verlassen wäre: Auch der "Bereich des Zweifels" bei vagen gesetzlichen Ausdrücken (und Vagheit ist, f0!ft man dem analytischen Sprachphilosophen Putnam, eher der "Nonnalfall" 1) ist semantischen Argumenten noch zugänglich, wenn man nur das aus der Logik und Idealsprachen-Philosophie geborgte falsche und unangemessene Ideal der Eindeutigkeit aufgibt: "Die Vagheit der natürlichen Sprache widerspricht zwar der Idee einer bivalent bescbreibbaren Welt. Es kann jedoch nicht die Aufgabe der Logik sein, eine Sprache zu schaffen, in der die Tatsachen, daß viele unserer Ausdrücke - die Heimtücke, die kurze Ehedauer - vage sind, nicht mehr zum Vorschein kommt."92
4.2 Analytische Rechtstheorie: Die erste Wittgenstein-Rezeption
Während die Bezeichnung ·sprachphilosophische Wende" in der Rechtstheorie in der deutschen juristischen Methodendiskussion wegen ihres Übergewichtes der Rezeption der "Logischen Semantik" verhaftet bleibt, würde diese Bezeichnung jenseits unserer Grenzen, und v.a. im angelsächsischen Sprachraum, wohl vor allem mit der "Analytischen Rechtstheorie" des Oxforder Juristen H.LA.Hart verknüpft werden. Die in dessen Buch "The Concept 0/ Law"93 entwickelte Rechtstheorie beruft sich zu einem erheblichen Teil auf das philosophische Spätwerk Ludwig Wittgensteins94 und hat im angelsächsischen Raum, aber auch in der internationalen recbtstheoretischen Diskussion eine erhebliche Wirkung entfaltet. Dies kann man von der deutschen recbtsmethodiscben Diskussion nicht sagen; dort wird Wittgenstein bis zur "zweiten" Rezeption seines Werkes Ende der siebziger Jahre allenfalls als "Zitierautorität" (ohne ernsthafte Auseinandersetzung) gebraucht.9S Eine Ausnahme bildet die Darstellung der Recbtstheorie Harts durch Eckmann, die trotz ihres (angesichts der Literaturlage) erstaunlich frühen Erscheinungsdatums keine Breitenwirkung entfalten konnte. Es kann vermutet werden, daß diese frühe Orientierung an der Philosophie Wittgensteins in der deutschen Methodendiskussion durch die mit dem (damals als progressiv geltenden) Linguistik-Boom und dessen Wissenschaftsverständnis einhergehende Vorherrschaft der "Logischen Semantik" an den Rand gedrängt wurde. 91 Vgl. Wittmann 1986, 377.
92 Wittmann 1986, 377. 93 Hart 1961. 94 Eckmann 1969, 101. 9S So jedenfalls Roellecke 1970, 323.
136
4. Die sprachphilosophische Wende
Wenn im Rahmen der Darstellung der "sprachphilosophischen Wende" in der deutschen juristischen Methodendiskussion der Vollständigkeit halber im folgenden ein kurzer Seitenblick auf die "analytische Rechtstheorie" geworfen wird, so kann dieser sich nur auf die deutsche Rezeption Harts (hier vertreten durch die solitäre Monographie Eckmanns) beziehen und nicht auf dessen Theorie selbst. Laut Eckmann gründet sich Harts Theorie der Rechtsbegriffe vor allem in zwei Punkten auf die "Philosophischen Untersuchungen" Wittgensteins: Zum einen auf dessen Sprachtheorie; vor allem seine Auffassung von der "Bedeutung als Gebrauch" der sprachlichen Zeichen, den Begriff des "Sprachspiels" und die damit eng zusammenhängende Auffassung von der Multifunktionalität der natürlichen Sprache. Zum anderen auf dessen "Methode der Begriffsanalyse und der Behandlung philosophischer Probleme, die sich aus dieser Sprachtheorie ergibt".96 Damit rezipiert Hart die Spätphilosophie Wittgensteins in ihren beiden zentralen und originärsten Punkten: der Sprachphilosophie und der philosophischen Methode. Letztere besteht in der rigorosen Rückführung der philosophischen Begriffe von ihrer metaphysischen auf ihre alltägliche Verwendung, was in der bekannten aphoristischen Form der "Philosophischen Untersuchungen" durch stetiges Rückfragen, Beleuchten von allen Seiten und Neu-Durchdenken (häufig in Form kleiner "Dialogspiele") geschieht. Wichtig für Wittensteins Sprachphilosophie ist die Ablehnung der Auffassung, daß abstrakte Gegenstände in irgendeiner Weise ontologisch gefaßt werden können, als Entitäten mit einer eigenen "Existenz"; diese Auffassung, wie sie in der positivistischen Tradition der "alten" (und z.T. auch der "neuen") juristischen Hermeneutik nicht gerade selten ist, ist für Wittgenstein (und, ihm folgend, Hart und Eckmann) eine irreführende Fiktion.97 Problematisch ist allerdings die Schlußfolgerung Eckmanns, der Wittgenstein daraufhin als "Nominalisten" einstuft:98 "Wittgenstein stimmt demnach mit dem strengen Nominalismus der Scholastik darin überein, daß es kein gemeinsames Band gebe, das die Einzeldinge miteinander verbinde. Seine Auffassung unterscheidet sich nur insoweit von diesem Nominalismus, als sie nicht wie dieser die allgemeinen Ausdrücke als bloße Namen (nomen) auffaßt und dadurch auf das Merkmal verzichtet, dem der Nominalismus seine Bezeichnung verdankt. Aber gerade dadurch ist Wittgenstein in der Lage, die Existenz der Allgemeinbegriffe zu leugnen und damit das entscheidende Merkmal des Nominalismus in wissenschaftlich vertretbarer Weise aufrecht96 Eckmann 1969, 101 f. 97
Vgl. Eckmann 1969, 103.
98 Eckmann 1969, 103.
4.2 Analytische Rechtsthcorie
137
zuerhalten." Ein wesentliches Moment des Nominalismus war die Auffassung, daß die Welt aus Einzeldingen bestehe, die vom Menschen erst nachträglich (per willkürlicher konventioneller Setzung) mit Namen belegt werden. Einer solchen verkürzenden Auffassung entspricht die komplexe Sprachtheorie Wittgensteins, welcher dem Zusammenhang zwischen vorsprachlicher Welt, Welterkenntnis und Sprache seine zentrale Aufmerksamkeit und vielfältige, nicht auf einen so einfachen Nenner zu bringende philosophische Reflexionen gewidmet hat, keineswegs. Daß Wittgenstein die Wörter einer Sprache nicht als "bloße Namen auffaßt" ist kein unwesentliches Detail seiner Sprachauffassung, sondern markiert, daß diese sich in ihren zentralen Punkten vom Nominalismus abhebt. Für Wittgenstein ist Welterkenntnis und Reden über die Welt eng in einen "Lebensform" genannten Lebens- und Handlungszusammenhang von sozialen (d.h. interagierenden) Subjekten eingeflochten. In der handelnden und redenden Aneignung von Welt wird diese gleichsam mit erschaffen. Sprachliche Ausdrücke sind in ihrer Bedeutung in diese Handlungszusammenhänge ("Sprachspiele") verwoben; aus diesen Zusammenhängen, der Regelhaftigkeit des DarüberSprechens, ergeben sich die semantischen Verknüpfungen, ergibt sich eine ganze "Grammatik" des Redens-über-die-Welt, die keineswegs auf dinghafte "Einzelbedeutungen" reduziert werden darf. Die Einzeldinge sind bei Wittgenstein mit den sie bezeichnenden Wörtern selbst also erst Resultat der handelnd-sprachlichen Aneignung von Welt, und nicht (wie bei den Nominalisten) prä-existente Gegenstände, welche nur noch einer sprachlichen Etikettierung bedürfen. Aus Wittgensteins Einsicht in die vielfältigen Funktionen der Sprache lernend lehnt Hart die Reduzierung der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke auf die deskriptive Funktion, wie sie in herkömmlichen Theorien der (Rechts)begriffe üblich war, ab. "Hart äußerte [...] die Meinung, solche Ausdrücke wie 'subjektives Recht', 'Pflicht', 'Angebot', 'Vertrag', 'juristische Person' hätten nicht die Aufgabe, etwas zu bezeichnen. Deshalb ließen sich auch keine Tatsachen auffinden, die diesen Ausdrücken entsprächen."99 Die Unterscheidung zwischen "deskriptiven" und "präskriptiven" Ausdrücken (bzw. "Prädikaten") ist nachgerade ein Topos der analytischen Rechtstheorie geworden. Ob sie sich zu Recht auf Wittgenstein beruft, ist nicht ausgemacht. Zwar kann dessen Auffassung der Multifunktionalität der Sprache den Anstoß zu dieser Unterscheidung gegeben haben, doch entspricht die starre Dichotomisierung (als die das Begriffspaar Eingang in die Diskussion gefunden hat) nicht gerade dem Denkstil des späten Wittgenstein. Hart beruft sich (schon im Vorwort!) auch auf den Sprachphilosophen J.LAustin; dessen "Theorie der Sprechakte" kann (wie die neuere Forschung über Wittgenstein und seine 99 Bekmann 1969, 104.
138
4. Die sprachphilosophiliche Wende
Wirkungen vermuten lassen) nicht umstandslos mit der Spätphilosophie Wittgensteins identifiziert werden. Es kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, daß Austins Unterscheidung zwischen "konstativen" und "performativen" Äußerungen sowohl einen eigenständigen sprachphilosophischen Denkansatz darstellt (der sich allenfalls durch die Übernahme des Aspektes der Multifunktiona1ität der Sprache an Wittgenstein anlehnt), als auch stärker auf die Entwicklung der sprachanalytischen Philosophie (jedenfalls die Dichotomie zwischen "deskriptiven" und "präskriptiven" Ausdrücken) gewirkt hat als der Wittgensteinsche Originaltext. Nach Hart leiten Wörter wie die genannten Rechtsausdrücke "ihre Bedeutung von der Weise ab, in denen sie in Verbindung mit Rechtsregeln funktionieren" .100 In Übereinstimmung mit Wittgensteins These, daß die Bedeutungen der Wörter mit ihrem Gebrauch in der Sprache zu erklären sind, entwickelt Hart hier also eine Auffassung der Rechtsbegriffe, die diese in den Zusammenhang eines spezifischen Sprachspiels, des Sprachspiels der gesetzlichen Normierung, dem "Vorschreiben", von sozialem Verhalten stellt. Damit ist die übliche Unterscheidung von "WOIt" und "Begriff' und die rechtstheoretische Folgerung, daß Gesetzesausdrücke abstrakte "Rechtsbegriffe" bezeichneten, für Hart und die analytische Rechtstheorie gegenstandslos.10l Neben der im Kontext der juristischen Sprachauffassungen seltenen Einsicht, daß die (Gesetzes)wörter nur im Satzzusammenhang Bedeutung haben und nur in diesem Zusammenhang untersucht werden dürfen, 102 entlehnt Hart noch die Methode, nach der er einen Rechtsbegriff erläutert, aus Wittgensteins Sprachtheorie: "Er zählt die Voraussetzungen für den richtigen Gebrauch des zu beschreibenden Wortes auf:103 Damit wird die Interpretation von Rechtsausdrücken bzw. Normtexten selbst in einen praktischen Handlungszusammenhang (ein Sprachspiel) gestellt: Normanwendung ist dann ein Vorgang, bei dem die Interpretation eines Gesetzesterminus (bzw. seine "Anwendung" auf einen zu entscheidenden Sachverhalt) selbst eine Gebrauchsinstanz dieses Ausdrucks ist. Normtextinterpretation ist dann mehr als ein rein rezeptiver Vorgang; sie ist ebenso Produktion, "Gebrauch", wie der Wortgebrauch durch den Gese~eber selbst. Beide sind Teil eines umfassenden Sprachspiels "Recht", wenngleich sie darin unterschiedliche Parts spielen. Eine zentrale Rolle in Harts Rechtstheorie spielt der Begriff der Geltung, den er unter Rückgriff auf Wittgensteins Regelbegriff konzipiert: "Hart lehrt 100 Eckmann 1969, 105. 101 Vgl. Eckmann 1969, 110. 102
Vgl. Eckmann 1969, 106.
103 Eckmann 1969, 112.
4.2 Analytische Rechtstheorie
139
zum Geltungsbegriff wie auch zu den übrigen Rechtsbegriffen, daß die zugrunde liegende Regel durch den Gebrauch des Begriffes nicht festgestellt oder erklärt, sondern vorausgesetzt werde."104 Damit macht er deutlich, daß jede Formulierung einer Regel (sei es, normbezogen, eine Regel der Geltung einer Rechtsnorm, sei es, normtextbezogen, die Bedeutungsregel eines Gesetzesterminus) in den Handlungszusammenhang (das Sprachspiel), dem diese Regel angehört, verflochten ist. Derjenige, der eine Regel formuliert, steht nicht außerhalb der Regel, er kann etwa nicht, als quasi "objektiver Beobachter", eine Bedeutungsregel neutral "feststellen"; vielmehr ist seine Interpretation der Regel (Regelformulierung) selbst Teil der Befolgung dieser Regel (oder, wenn die Interpretation falsch ist, eben nicht). Jede Interpretation eines Normtextes ist selbst dem verhaftet, was sie erklären möchte. Regel und Regelbefolgung, Regel und Regelformulierung - stets ist die Regel als solche schon vorausgesetzt; der Normtextinterpret kann sich aus diesem Zusammenhang nicht erheben. Vor allem Wittgensteins Regelbegriff (meist in Harts Interpretation) und der damit in Zusammenhang gebrachte Begriff der Geltung wird in der analytischen Rechtstheorie (beinahe ausufernd) diskutiert. lOS Damit ist aber der Bereich der uns interessierenden unmittelbaren Sprach- und Bedeutungstheorie verlassen. Die Wirkung Harts (und über ihn vermittelt Wittgensteins) in der analytischen Rechtstheorie bezieht sich mehr auf grundlegende rechtsphilosophische und rechtstheoretische Fragen; der engere Bezug auf die Sprachlichkeit des Rechts, v.a. auch in Hinblick auf die Theorie und Methodik der Rechtstextinterpretation und die Semantik, kommt dabei zu kurz. Dies ist angesichts des case law der Angelsachsen plausibel; vielleicht ist es aber auch einer der Gründe dafür, warum die Theorie Harts hierzulande bei weitem nicht im gleichen Umfang rezipiert wurde wie die Theorien der "Logischen Semantik", die scheinbar näher an der Sprache und den im positiven Recht zentralen Auslegungsfragen liegen. Die Sprachphilosophie Wittgensteins bedurfte daher, um in Deutschland Fuß fassen zu können, einer zweiten, unmittelbaren Rezeption ab Ende der siebziger Jahre (s.u. Kap. 6.1).
104 Eckmann 1969, 119 lOS Zur Roße von Wittgensteins Regelbegriff für die juristiSChe Methodenlehre vgI. Busse 1988a, 1988b und v.a. 1988c.
KapitelS
Sprachtheoretische Ausrächerungen 5.1 Ein interdisziplinärer Versuch: Das Darmstädter Programm einer Textanalyse juristischer Sprache mit linguistischen Mitteln Während zu Beginn der siebziger Jahre Juristen, welche an einer "wissenschaftlichen" (d.h. im Sinne des damals modischen und als progressiv und einzig "rational" geltenden, naturwissenschaftlich orientierten science-Begriffs des Neo-Positivismus aufgefaßten) Erforschung der Sprache und ihrer Funktion im Recht interessiert waren, sich der "Logischen Semantik" einer an den Idealen einer auf Konstruktsprachen aufbauenden "unified science" annäherten, begann in der deutschen Linguistik die ebenfalls an Formalisierung, Systematisierung und Idealisierung orientierte "Generative Transformationsgrammatik" des amerikanischen Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky Einzug zu halten. Dem wissenschaftlichen Zeitgeist beider Spielarten moderner Sprachtheorie war das Interesse an "Generalisierbarkeit", "Formalisierbarkeit" (möglichst in Form logischer oder pseudo-Iogischer Kalküle) und "Systematisierbarkeit" wissenschaftlicher Erkenntnisse gemeinsam. Wenn im Jahr 1970 der Linguist Peter Hartmann sich auf Einladung von Juristen (und nachdem zuvor Sprachwissenschaftler - wenn überhaupt - allein an stilistischen und fachsprachlichen Aspekten der Rechtssprache gearbeitet hatten) in einem programmatischen Vortrag erstmals in die Tiefen der Rechtstheorie begibt, um die Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit auszuloten, und wenn dieser Linguist sich vor allem für die "Systematisierbarkeit" rechtsrelevanter Tatsachenl und die Vergleichbarkeit "rechtsnormativer und bedeutungsnormativer Klassifikationszusammenhänge" interessiert,2 dann ist es vielleicht kein Zufall, wenn er, als im selben Jahr in Darmstadt erstmals eine ''Interdisziplinäre Arbeitsgruppe 'Analyse der juristischen Sprache'" zusammentritt, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft dorthin entsandt wird, um über die angemessene linguistische Betreuung zu wachen. 3 1 Hartmann 1970, 5I. 2
Hartmann 1970,52.
3 Es ist einer der vielen interessanten Nebenaspekte dieser immerhin vieIjährigen (19701974), erstmaligen und bislang einzigen systematischen interdisziplinären Zusammenarbeit zwi-
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Darmstädter Programm
141
Diese Arbeitsgruppe trat 1970 zum ersten von insgesamt vier "Dannstädter Rundgesprächen" zusammen, das unter dem Thema "Logische Struktur von Normsystemen" stand.4 In den Beiträgen dieser Tagung stand deutlich das Interesse an einer formalen Beschreibung rechtlicher Prozesse als Grundlage einer Automatisierung juristischer Entscheidungen im Vordergrund.5 Die ganze vierjährige Zusammenarbeit ist auf juristischer Seite von einem (aus heutiger Sicht verblüffend unreflektierten) Subsumtions-Begriff juristischer Entscheidung getragen, der erst ganz am Ende einmal in Frage gestellt wurde. Es wurden Programme zur Formalisierung von Rechtssätzen, zur Ableitung von Subsumtionen aus einem formallogischen oder formal-grammatischen Vergleich von Ober- und Untersätzen geplant und mit linguistischer Unterstützung durchzuführen versucht, ohne daß die Frage nach der Voraussetzungshaftigkeit juristischer Textinterpretation, nach den Deutungsmechanismen, welche bei jeglicher Übersetzung von Texten (und sei es in eine Kalkül-Sprache) auftreten, jemals gestellt wurde. So heißt es bereits in der Einleitung zum ersten Band: "Die Konzentration auf Entwurf und Realisierung eines Beschreibungsapparats bietet keinen Zugang zum Beschriebenen; das zu Beschreibende muß in seinen Zusammenhängen und seiner Bedeutung analysiert sein, bevor die Notation selbst auf ihre Stimmigkeit überprüft werden kann.'06 Fragen der juristischen Semantik im Sinne einer Lösung von Auslegungsproblemen, wie sie in dieser Arbeit im Vordergrund stehen, gehörten nicht (bzw. erst am Schluß, nach dem Scheitern der anderen Versuche) zu den Themen der Darmstädter Arbeitsgruppe. Wenn ich über deren Arbeitsweise und Ergebnisse hier dennoch berichte, so, um den für viele Jahre einzigen Versuch einer intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Linguisten und Juristen zu würdigen. schen Rechtswissenschaftlern, Logikern, Informatikern und Linguisten, daß die Beteiligung von Sprachwissenschaftlern an dieser anfangs rein an Logik und Automatisierbarkeit der Rechtsfindung interessierten Arbeitsgruppe offensichtlich auf eine Intervention der um Finanzierung gebetenen DFG zurückgeht und nicht einem originären Bedürfnis der Initiatoren entsprang. Diese Information, daß "seitens der Forschungsgemeinschaft auch Linguisten [...] hinzugeladen worden waren", findet sich bei Hartmann 1971, 113. 4 Dokumentiert in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971a. Die weiteren Tagungen standen unter den Themen "Paraphrasen juristischer Texte", Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b; "Syntax und Semantik juristischer Texte", Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972; und "Rechtstheorie und Linguistik", Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974. Über die Arbeit wurde mehrfach berichtet: Hartmann 1971a; Brinckmann/Rieser 1971; Brinckmann/Petöfi/Rieser 1974; Rieser 1974; Podlech 1976. 5 "Eine fortschreitende Anwendung der Textanalyse und der Dokumentation auf rechtliche Daten ist primär von einer formalen Autbereitung und Beschreibung juristischer Strukturen zu erwarten." - "Als Einstieg in die Beschreibung von Rechtssystemen wurden die in Form von juristischen Logiken vorliegenden kategorialen Systeme gewählt." Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971a,5.
6 RavejBrinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971a, 6.
142
5. Sprach theoretische Ausfächerungen
Ergebnis dieser ersten Arbeitstagung war die Einsicht, daß formale LogikKalküle zwar "erlauben, aus normativen Sätzen andere normative Sätze abzuleiten, daß sie aber keine Hilfe dabei bieten, den inhaltlichen Zusammenhang zwischen normativen Sätzen zu überprüfen, Bedeutungsverschiebung oder -Verlust im Verlauf der Ableitung so zu kontrollieren, daß eine Beschreibung des Rechtssystems erhalten bleibt. Diese Schwierigkeit veranlaßte die Teilnehmer an der Arbeitstagung, eine Beschäftigung mit semantischen Fragen ins Auge zu fassen.,,7 An dieser Stelle traten die hinzugezogenen Linguisten (Hartmann, Rieser) auf den Plan. Es war vielleicht die Tragik der ratsuchenden Juristen, daß die anwesenden Linguisten, welche in der Folge entscheidenden Einfluß auf die weitere Arbeitsplanung nahmen, zwar als "Textlinguisten" scheinbar geeignet waren, die rechtslinguistischen Probleme in die Hand zu nehmen, aber - entsprechend dem damals neuen, als "modern" und "progressiv' geltenden Paradigma der strukturalistischen Linguistik - ausgerechnet der linguistischen Richtung der "Generativen Transformationsgrammatik" Chomskys anhingen, in der die Semantik zu einer "armen Verwandten der Syntax" degradiert worden war.8 Zwar entwirft Hartmann schon auf dieser Tagung en passant ein "Schema linguistischer Analyse von Rechtssätzen" welches großzügig von der "Sprachform" über Wortsemantik, Satzsemantik, Satzfunktion, Textfunktion bis zur Textpragmatik fortzuschreiten verspricht,9 doch hätte die Juristen, die gerade wegen der ungeklärten semantischen Prozesse die Logik als Hilfsmittel juristischer Analyse für wertlos erklärt hatten, mißtrauisch machen müssen, daß der Linguist Rieser "die semantische Analyse als Vorstufe der Formalisierung" lediglich zur Magd der Logik herabgewürdigt hatte. 10 Obwohl Hartmann (als der offensichtlich erfahrenere und weitsichtigere der beiden anwesenden Linguisten) die Juristen davor gewarnt hatte, "daß die (nur-) logische Strukturierung eines Sprachausdrucks natürlicher Provenienz keine akzeptable Paraphrase dieses Ausdrucks ist",l1 ließ sich die Arbeitsgruppe auf von den beitragenden Linguisten untergeschobene12 syntakti7 Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971a, 6.
Hörmann 1976, 60 ff. Hörmann hat überzeugend nachgewiesen, daß die ChomskyGrammatik entgegen dessen Selbsteinschätzung eine reine Syntax-Theorie ist, welche die Semantik (auf dem Umweg über die intuitive Sprachkenntnis der Grammatiker) stets schon voraussetzt. Über eine konsistente und haltbare Bedeutungstheorie verfügt die Generative Transformationsgrammatik nicht. 8 So
9 Hartmann in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971a, 93 f.
10 Rieser in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971a, 101. 11 Hartmann 1971, 114. 12 Die Diskussionen der Darmstädter Arbeitsgruppe sind ein ernüchterndes Beispiel dafür, wie sich Wissenschaftler einer Disziplin, die sich als weit hinter dem Forschungsstand der als
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Dannstädter Programm
143
sche bzw. text-grammatische Formalisierungsmethoden ein, die sich gerade an der Prädikatenlogik orientierter Notationsweisen bedienen. Wenn Brinckmann am Ende der ersten Tagung als eines der Themen für die weitere Arbeit die "Methoden der Bedeutungsermittlung' vorschlägt,13 so wird sich im weiteren Verlauf zeigen, daß diese zentrale Frage der Rechtstheorie (und der einzige Aspekt der Sprachlichkeit des Rechts von prinzipieller Bedeutung) von der einseitigen Ausrichtung der in extenso vorgeführten, diskutierten und angewandten formal-grammatischen Methoden völlig verdrängt wurde. Wenn die Juristen als Ziel der Zusammenarbeit mit der "Suche nach einer formalen Sprache, die nicht nur die Abbildung von Einzelsätzen, sondern den unmittelbaren Zugriff auf den Text als Spracheinheit erlaubt"14 ein aporetisches Projekt anpeilen, dann sind sie allerdings selbst nicht unschuldig am letztlichen Scheitern der Darmstädter Arbeitsgruppe. Ein "unmittelbarer Zugriff' eines beschreibungsmethodischen Formalismus auf Texte kann es prinzipiell nicht geben; es sind stets Menschen, die mit ihrer intuitiven Sprachkenntnis sprachliche Texte vordeuten, wenn und bevor sie sie in formale logische oder grammatische Kalküle übersetzen. Diesen Zwischenschritt kann kein Kalkül ausschließen. Es überrascht, daß sich das Interesse der Arbeitsgruppe nicht diesen Interpretationsproblemen zugewandt hat, sondern daß die Auslegung von Rechtstexten (und damit die rechtspolitisch zentrale Eingriffsstelle) mit einer verblüffenden Gläubigkeit an die als Textkorpus der kommenden linguistischen Analysen von Normen und Normanwendung herangezogenen dogmatischen und Kommentartexte abgetreten wurde. Das Vorgehen der Darmstädter Arbeitsgruppe kann nicht gesehen werden ohne den Kontext der Bemühungen um eine Datenverarbeitung im Recht oder gar einer Informatisierung des Rechts selbst. Die auf der zweiten Arbeitstagung im Mittelpunkt stehenden "Paraphrasen juristischer Texte", d.h. die Methoden zur Überprüfung der "Konstanz der Bedeutung" zwischen verschiedenen Texten (z.B. Obersatz = Normtext und Untersatz = Sachverhaltsbeschreibung) mit formal-grammatischen Algorithmen,15 wurden stets auch im Hinblick auf ihre maschinelle Verarbeitung diskutiert. Die Aus"modem" und "fortschrittlich" geltenden Wissenschaften abgeschlagen fühlen, von Vertretern einer von ihnen und diesen selbst als "progressiv" und "auf der Höhe der Zeit befindlich" empfundenen und daher als "Leitwissenschaft" eingesetzten Disziplin Forschungsprogramme aufgedrückt bekommen, welche die wirklichen theoretisch-methodischen Bedürfnisse ihres Faches um Längen verfehlen. Die Selbstgewißheit, mit der sich einige der beteiligten Linguisten als Lehrmeister einer "wahren Wissenschaft" (science) aufspielten, ist aus heutiger Sicht beschämend und wirft ein bezeichnendes Licht auf eine Disziplin, welche nicht den geringsten Anlaß hat, sich über den methodisch-theoretischen Stand anderer Disziplinen zu erheben. 13 Brinckmann in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971a, 129.
14 Brinckmann in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971a, 130. 15 So explizit im VOlWOrt zu Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b,5.
144
5. Sprach theoretische Ausfächerungen
klammerung interpretationstheoretischer Gesichtspunkte, und damit die von den Linguisten adaptierte Reduzierung der Semantik zur "armen Verwandten" der Syntax, d.h. die Beiziehung ausgerechnet formalsyntaktischer linguistischer Methoden statt der viel näher liegenden Semantik, erklärt sich zum Teil wohl auch aus der tiefsitzenden Abneigung der beteiligten Juristen gegenüber der (damals vornehmlich henneneutischen ) juristischen Auslegungslehre: "Die für die Arbeit der Juristen zentralen Verlahren der Subsumtion und Interpretation sollten jenseits tradierter juristischer Methodenlehren als Verfahren der Textverarbeitung (in linguistischer Terminologie: der Paraphrasenbildung) analysiert und wenn möglich auf eine stabile Grundlage gestellt werden.,,16 Die Wortwahl verrät, daß die Orientierung an der Logik bzw. formal-grammatischen Methoden Haltepunkt auf dem schwankenden Boden der juristischen Methodendiskussion sein sollte. Der Arbeitsgegenstand, "Paraphrasen" juristischer Texte formalgrammatisch zu erlassen zu versuchen, ergibt sich daraus, daß die juristische Tätigkeit, nämlich Normtext-Formulierungen auf geschehene Sachverhalte zu beziehen, als eine rein sprachbezogene Tätigkeit verstanden werden kann: Auch die Sachverhaltsbeschreibung ist ein sprachlicher Text;17 rechtliche "Subsumtion" kann dann als Vergleich zweier Texte aufgefaßt werden. 18 Darüber noch hinausgehend verwendet die Arbeitsgruppe den (linguistischen) Terminus "Paraphrase" als Synonym für "Interpretation": "Bei der Interpretation eines Gesetzestextes handelt es sich den Anliegen nach um eine 'Paraphrasenbildung', um den Versuch, einen sprachlichen Text durch einen anderen sprachlichen Text zu ersetzen und Relationen zwischen den sprachlichen Texten und einem Gesamttext herzustellen. "19 Linguistische bzw. logische Verfahren sollen dazu verhelfen, ein Instrumentarium des Vergleichs solcher Paraphrasen bereitzustellen, mit dem die semantische Übereinstimmung (bzw. "Identität") zweier Texte (Normtext und Sachverhaltsbeschreibung) "wissenschaftlich exakt" bzw. "logisch abgesichert" festgestellt werden kann. 2o Dahinter scheint ein enger Begriff von "wissenschaftlich" zu stehen,
16 Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 5. Vgl. auch Brinckmann/Rieser 1971,160. 17 So Podlech 1975, 171. 18 "Die Subsumtion stellt einen Vergleich zweier Sachverhalte dar. [...] Dieser Vergleich setzt voraus, daß beide Sachverhalte sprachlich notiert sind. Damit kann die Subsumtion als Vergleich zweier Texte betrachtet werden." Garstka in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 23. Vgl. auch Hartmann in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971 b, 144 und Brinckmann/Rieser 1971, 154.
19 Grimmer in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 41. Vgl. auch 151: "Interpretation (dieser Begriff soll im Folgenden synonym zu 'Paraphrase' gebraucht werden). " 20 "Die Interpretationsmethoden können ein formal, logisch abgesichertes Ergebnis auch nicht vermitteln, solange keine wissenschaftlich, d.h. intersubjektiv nachprüfbare Verfahren zur
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nach dem dieses Prädikat nur solchen Forschungsmethoden zukommt, die
jonnalisiert, d.h. in logischen (oder aus Logiken abgeleiteten) Algorithmen formuliert sind. "Beweis" für eine Paraphrasenrelation ist dann der logischmathematisch korrekte (d.h. ''wahre'') Vollzug eines solchen Algorithmus. Die Mitglieder der Forschungsgruppe scheinen (zumindest zu Anfang, in der programmatischen Phase) davon ausgegangen zu sein, daß solche Algorithmen ausreichen, um Bedeutungen mit logischer Exaktheit "festzustellen"; was sie immer nur am Rande in den Blick bekommen ist, daß die Interpretationen schon vor der Übersetzung von fach- oder normalsprachlichen Texten in logische Kalküle intuitiv und versteckt vorgenommen worden sind.21 Dieses fundamentale Problem jedes Programms, welches mit Konstruktsprachen arbeitet, wurde offensichtlich nicht in der nötigen Schärfe gesehen. Vielmehr wird als oberstes Ziel der Arbeitsgruppe, in Anlehnung an die damals eine neue Blüte erlebenden Thesen des idealsprachlichen Neopositivismus (Carnap, Reichenbach u.a.), als Aufgabe der Rechtswissenschaft angesehen "eine eigene Wissenschaftssprache als Metasprache zu entwickeln. Erst in einer Wissenschaftssprache erscheint es möglich, einen Gesetzestext in seinem syntaktischen Zusammenhang zu strukturieren, ohne ihn bereits in einem alltags- oder fachsprachlich vermittelten Vorverständnis zu deuten. Nur in einer Wissenschaftssprache können Textelemente und ihre Relationen, Bedeutungszusammenhänge und -verschiedenheiten gleicher Sprachsymbole präzise bestimmt, können Meßverfahren entwickelt, kann der Sinn einer Fachsprache über die Summe ihrer Präsuppositionen erschlossen werden..22 An diesem Programm ist Mehreres problematisch. Zum einen erscheint es fraglich, ob die "syntaktische Strukturierung" eines Textes allein wesentliche Erkenntnisse über dessen semantische "Zusammenhänge" vermitteln kann. Sätze können immer erst dann einigermaßen vollständig in einen syntaktischen Formalismus übertragen werden, wenn sie in ihrem "Bedeutungszusammenhang" bereits verstanden sind; syntaktische Analyse analysiert also stets schon Vorgedeutetes. D.h. aber zum anderen, daß gerade die formal-syntaktische Analyse wenig geeignet ist, um "alltags- oder fachsprachlich vermittelte Vorverständnisse" auszuschließen. Offensichtlich geht die Darmstädter Arbeitsgruppe davon aus (ihr weiteres Arbeitsprogramm zeigt dies), daß eine vorgängige semantische Analyse der Satzbestandteile Feststellung der Semantik eines Gesetzestextes entwickelt sind." Grimmer in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 42. 21 Gelegentlich ist die Wortwahl verräterisch. So schreibt Grimmer (in RavefBrinckmann/ Grimmer (Hrsg.) 1971b, 49: "Als Aufgabe der juristischen Semantik kann angesehen werden, den Bedeutungsgehalt von Wörtern, Sätzen und Texten aufzuzeichnen." (Hervorhebung von mir, D.B.) Das Interpretieren bzw. Verstehen der Bedeutung wird hier nicht zum Problem, es gilt nur noch, sie (in logischen Kalkülen) 'aufzuzeichnen'. 22 Grimmer in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, so.
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5. Sprachtheoretische Ausfächerungen
(d.h. die lexikalische Erschließung von Wortbedeutungen) als "Input" eines formal-syntaktischen Formalismus in die Lage versetze, dann mithilfe des Formalismus semantische Aussagen über Sätze bzw. Texte zu erzielen. Dies verkennt, daß die Bedeutung eines Textes/Satzes nicht durch bloße Addition (bzw. algorithmisch strukturierte Kombination) seiner Bestandteile zustandekommt und also auch nicht allein durch Anwendung eines logischen Kalküls überprüft werden kann. Stets bedarf es des "native speakers" in Form des Linguisten/Textanalytikers, der aufgrund seiner intuitiven Sprachkenntnisse die "Adäquatheit" der durch einen Algorithmus erzielten Resultate überprüft. Das an der einen Stelle vermeintlich ausgeschlossene semantische "Vorverständnis" kommt nur an anderer Stelle zur Hintertür wieder herein. Daß im Hintergrund des Darmstädter Programms eine Komponential-Semantik steht, der zufolge die Bedeutung sprachlicher Einheiten durch Summenbildung von Komponenten/Merkmalen erschlossen werden kann, zeigt die (aus pragmatischer Sicht aporetische) Auffassung, daß "der Sinn einer Fachsprache über die Summe ihrer Präsuppositionen erschlossen werden" könne. Es muß an dem Ausgangspunkt der Arbeitsgruppe, Formalisierung der Rechtssprache mit logischen Mitteln und dem Ziel möglicher Automatisierung von "Entscheidungen", gelegen haben, daß sie semantische Analyseverfahren ausgerechnet von der damaligen formalen Syntax der Linguistik erwartete, die sich gerade durch ihre Semantik-Feme auszeichnete. Daß formal-syntaktische Beschreibungsverfahren deskriptiv sind, d.h. lediglich Vorhandenes in formale Notationen übersetzen, nicht aber zu dessen Analyse beitragen,23 wurde von den beteiligten Juristen erst spät erkannt, und erst nachdem sich die gesamte Arbeitsgruppe (Juristen eingeschlossen) in typischer formal-syntaktischer Manier in die zeitraubenden Probleme der formalen Notation und Konstruktion widerspruchsfreier Kalküle verzettelt hatte. Der juristisch-semantische Erkenntnisgewinn dieser aufwendigen Arbeiten war (liest man die von nur schwer unterdrückter Enttäuschung gekennzeichneten Stellungnahmen der letzten Tagung) ziemlich gering. Das von den hinzugezogenen Linguisten angediente Forschungsprogramm sah folgendermaßen aus:24 "In einem ersten Schritt ist die Tabelle aller Zeichen anzuführen, aus denen die Ausdrücke der, Objektsprache gebildet werden. [...] In einem zweiten Schritt sind die Formregeln anzugeben, in denen festgelegt wird, welche Zusammenstellungen von Zeichen zulässige Ausdrücke der Objektsprache bilden. [...] In einem dritten Schritt werden mittels eige23 So gehen die Kenntnisse über grammatische Strukturen, welche die frühe Generative Transformationsgrammatik vermittelt, über die schon von der traditionellen Grammatik erzielten Erkenntnisse nicht hinaus. 24 Grimmer in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, SO.
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Darmstädter Programm
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ner intensionaler Interpretationsregeln den deskriptiven Ausdrücken Bedeutungen im Sinne von Intensionen zugeordnet." Schon der erste Schritt, welcher von der Arbeitsgruppe als realisierbar angesehen wurde, nämlich die Erstellung eines Lexikons eines bestimmten, abgegrenzten Rechtsbereichs, dürfte die Möglichkeiten eines solchen Forschungsprojektes überschreiten. Der zweite Schritt, die Angabe der Form-Regeln, soll (hier in der formal-linguistisch üblichen Manier) noch vor den semantischen Analysen erfolgen. Hier zeigt sich, wie die intuitive Interpretation der syntaktischen Konstrukte von den Formal-Grammatikern stets übersehen wird: Es ist unmöglich, festzustellen "welche Zusammenstellungen von Zeichen zulässige Ausdrücke der Objektsprache bilden" ohne Bezug auf deren Bedeutung(en) zu nehmen. D.h. die Erstellung eines Formalismus (die formale Notation syntaktischer Regeln) kann nicht ohne den dritten Schritt, d.h. die Angabe der Bedeutung, geschehen. Dieser dritte Schritt soll in der (uns bereits aus der Logischen Semantik bekannten) Angabe der "Intensionen" bestehen. Die Aporien der intensionalen/extensionalen Semantik, welche sich für die Analyse natürlicher Sprachen nicht eignet, haben wir bereits ausführlich aufgezeigt, weshalb die Argumentation hier nicht wiederholt werden muß. Was in den Papieren der Darmstädter Arbeitsgruppe auffällt ist, daß dort die Begriffe "Intension" und "Extension" verwendet werden, ohne daß auch nur an einer einzigen Stelle diese "semantische" Theorie, welche dem Projekt offensichtlich zugrundeliegt, explizit eingeführt geschweige denn definiert oder gar diskutiert wird;2S für eine Rechtslinguistik, die es immerhin fast ausnahmslos mit semantischen Problemen zu tun hat, schon eine erstaunliche Tatsache. Gemäß den Forschungsinteressen der herangezogenen Linguisten wurde als Grundlage der gemeinsamen Arbeitsprojekte eine formale "Textgrammatik" mit generativer Phrasenstruktur-Basis gewählt. Richtig an dieser Entscheidung war allein die Orientierung an der (damals erst skizzierten, noch im Entstehen begriffenen) "Textlinguistik". Man unterscheidet heute in der Linguistik einerseits eine "systemlinguistisch orientierte" Textlinguistik und andererseits eine interpretative bzw. "kommunikativ orientierte" Textlinguistik.26 Da Letztere damals noch kaum existierte, ist es ein wissenschaftsgeschichtlich vielleicht unvermeidlicher Irrtum, daß die Lösung juristisch-semantischer Probleme von der damals einzig erkennbaren (für deren Zwecke aber weniger geeigneten) sprachsystematischen Textlinguistik erwartet wurde. Daneben ist die sprachsystematische Orientierung Resultat der Hoff2S Vgl. auch Rieser in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 129. 26 Vgl. zu dieser Unterscheidung Brinker 1985, 12 ff. (Siehe auch Busse 1991a, 78 ff.) Die mangelnde Eignung satzgrammatischer Verfahren zum Aufbau einer Textlinguistik wird heute auch von Vertretern der strukturalistisch orientierten Textlinguistik zugestanden; vgI. dazu de Beaugrande/Dressler 1981, 26.
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5. Sprach theoretische Ausfächerungen
nungen auf Automatisierbarkeit der Rechtsfindung: "Als Aufgabe der Textlinguistik wird dabei angesehen, eine automatisierbare, konsistente und idealiter vollständige Textgrammatik für die Rechtssprache [...] zu erstellen. Diese Textgrammatik ist ein Kalkül, der analog den Ersetzungssystemen aufgebaut wird. Er erlaubt die formale Ableitung (idealiter) aller Texte einer Gesetzessprache auf Regelbasis und ermöglicht damit u.a. auch die grammatikimmanente Definition der Paraphrasenrelationen..,27 Dieses Programm beschreibt präzise die Möglichkeiten einer Textgrammatik: Erst später sahen die juristischen Mitglieder der Arbeitsgruppe, daß eine "Ableitung" von Texten aus einem formalen Regelapparat den juristischen Semantik-Problemen nicht abhelfen kann, also für Fragen der juristischen Semantik nichts nützt. Eine semantische Leistung der Textgrammatik wurde aber dennoch erhofft: "Textlinguistische Verfahren erlauben die Reduktion der komplexen Semantik der Rechtssprache auf wenige Basissemanteme, deren Bedeutung vom autorisierten Sprecher zu defInieren ist:.28 Diese Sichtweise entspricht dem logischen Atomismus, dessen semantische und erkenntnistheoretische Aporetik wir bereits bei Koch bzw. Carnap kritisiert hatten. Abgesehen von den ontologischen Problemen, die eine am logischen Atomismus orientierte Komponentialsemantik aufwirft (FeststeIlbarkeit der Extension, Relation Dingeigenschaft-intensionale Eigenschaft), dürfte ein Verfahren, welches "komplexe" Bedeutungen in "Basissemanteme" zerlegt, in einer verschärften Form auf "Vorverständnisse" rekurrieren müssen. In welche "Semanteme", d.h. semantischen Merkmale eine Bedeutung "zerlegt" werden soll, ist ein eminent interpretatives (und damit Interessen- und Vorverständnis-geladenes) Problem. Zudem kann daran gezweifelt werden, ob es überhaupt möglich ist, anband einer Merkmalsmenge einen Begriff (bzw. eine Bedeutung) rückzuerschließen. Der scheinbare Rationalitätsgewinn der formal-syntaktischen Analyse geht dann hier wieder verloren, wo - fern des praktischen Entscheidungskontextes der juristischen Textinterpreten - bei der Erstellung eines für die Textgrammatik unabdingbaren "Lexikons" und den damit zusammenhängenden Problemen der BedeutungsdefInition die Vorverständnisse und intuitiven Sprachgefühle der Lexikonersteller massiv (und nunmehr nicht mehr im Entscheidungszusammenhang kontrollierbar) wirksam werden. Diese Probleme wollte die Arbeitsgruppe offenbar dadurch in den Griff bekommen, daß die Interpretation der Termini, d.h. die "Definition der Basissemanteme" nur von "autorisierten Sprechern" vorgenommen werden darf. Abgesehen davon, daß nicht näher erläutert wird, welcher Personenkreis dazu zu rechnen ist, ist das zentrale Problem der juristischen Se27 Grimmer in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 51; fast wortgleich übernommen aus Hartmann/Rieser in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 92. 28 Grimmer in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 52.
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Darmstädter Programm
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mantik bisher gerade gewesen, anhand welcher Kriterien, Erschließungsmethoden und Instrumentarien eine innerhalb des "autorisierten" Interpretenkreises umstrittene BedeutungsdefInition entschieden werden kann. Die Praxis der empirischen Versuche der Darmstädter Arbeitsgruppe, als Textkorpus außer den Gesetzestexten selbst nur "eingeführte" Gesetzeskommentare aufzunehmen, deutet auf eine Unterwerfung unter die "herrschende Meinung" des juristischen common sense (d.h. die kritiklose Adaption der Ergebnisse der herkömmlichen Dogmatik) hin, welche angesichts des ansonsten kritischen Gestus der Arbeitsgruppe erstaunlich ist. Das für die zweite Arbeitstagung der Darmstädter Arbeitsgruppe von den Linguisten Hartmann und Rieser formulierte Programm zur Analyse von "Paraphrasenbeziehungen in juristischen Texten" läßt keinen Zweüel daran, daß die vorgeschlagenen textgrammatischen Prozeduren lediglich "es erlauben, Texte strukturell zu beschreiben, die Beschreibung zu formalisieren, die zur Beschreibung führenden Verfahren zu operationalisieren...29 Im Duktus der "generativen Transformationsgrammatik" (welche den Syntax-Teil der geplanten Textgrammatik abdecken sollte), wird es als Ziel der Analyse angesehen, die "Kompetenz" eines "idealisierten Sprechers/Hörers" in einem formalisierten Regelapparat abzubilden. Dieser soll u.a. "unterscheiden können, wann eine Paraphrasenrelation, i.e. eine erweiterte Synonymiebeziehung vorliegt" zwischen Gesetzestexten und Sachverhaltsbeschreibungen.3O Die semantische Interpretation wird einem "kompetenten Sprecher" der Rechtssprache zugewiesen, also von den Linguisten, wie gesehen, bereits vorausgesetzt. 31 Innerhalb des Grammatik-Modells werden sämtliche semantischen Aspekte in die "Lexikonregeln" gepackt, deren Aussehen und Methoden ihrer Gewinnung (über die Aussage, daß sie auf "Basissemanteme" zurückgeführt werden sollen, hinaus) nicht näher erläutert werden. Die immensen Probleme der Erstellung eines solchen Lexikons werden völlig verkannt: 32 "Normierte Sprachen mit geringem Lexeminventar bedürfen nur weniger semantischer Regeln, Lexikonregeln.", bzw.33 als bei weiterem 29 HartmannjRieser in RavejBrinckmannjGrimmer (Hrsg.) 1971b, 87. 30 HartmannjRieser in RavejBrinckmannjGrimmer (Hrsg.) 1971b, 91. 31 "Es muß ein kompetenter Sprecher dieser Teilsprache vorhanden sein, der entscheiden kann, ob und wann Wörter [... J, Textteile und Texte [...J Paraphrasen voneinander, d.h. ob und wann sie in einem erweiterten Sinn synonym (bedeutungsidentisch) sind." HartmannjRieser in RavejBrinckmannjGrimmer (Hrsg.) 1971b, 93. Vgl. auch BrinckmannjRieser 1971, 161, die zugestehen, daß der grammatische Formalismus des Paraphrasen-Vergleichs nur funktionieren kann, "wenn die hermeneutische, d.h. sprachanalytische Vorarbeit geleistet wurde". 32 HartmannjRieser in RavejBrinckmannjGrimmer (Hrsg.) 1971b, 97. 33 "Natürlich gibt es eine Reihe schwieriger Probleme zu lösen, bevor so eine semantische Interpretation mit Aussicht auf Erfolg gemacht werden kann." HartmannjRieser in Ravej Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 100.
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5. Sprachtheoretische Ausflicherungen
Iinguistischen Fortschritt lösbare technische Probleme abgetan. Das Mißverständnis der juristischen Fachsprache als einer geschlossenen, definierten Normsprache (nur bei solchen, und wenn sie geringen Umfangs sind, sind die semantischen Probleme überhaupt annähernd formalistisch lösbar) ist möglicherweise durch die Intentionen der beteiligten Juristen genährt worden, welche vom (utopischen) Ideal einer solchen definierten "Präzisions"Sprache geträumt haben mägen. Schließlich wirft die von Hartmann und Rieser vorgenommene enge Definition von"Paraphrase" Probleme auf, wenn sie sagen, zwei Texte seien "nur dann Paraphrasen voneinander, wenn [sie) identische semantische Merkmalmengen aufweisen."34 Abgesehen davon, daß es eine Frage des analytischen (und damit interpretatorischen) Zugriffs ist, welche "Merkmale" als die wesentlichen (definierenden) Merkmale eines Wortes bezeichnet werden (und damit, welche "Merkmalmengen" die "Bedeutung" dieses Wortes ausmachen), dürfte es schwer fallen, bei verschiedenen sprachlichen Zeichen, oder gar bei Zeichenketten (Sätzen, Texten) von im strengen Sinne "identischen" Merkmalmengen auszugehen. Was "Identität" von Bedeutungen heißen kann, ist wieder der intuitiven Sprachkenntnis von Interpreten anheimgestellt, welche diese Identität behaupten (oder anzweifeln), die allenfalls mit geeigneten linguistischen (lexikologischen) Forschungsmethoden empirisch gestützt werden, aber niemals mit letzter Sicherheit ("objektiv") behauptet werden kann. Die von der Darmstädter Arbeitsgruppe herangezogenen Linguisten gingen davon aus, daß die von ihnen vorgeschlagene "Textgrammatik" in der Lage sei, eine "mechanisierte Subsumtion" (Rieser) vorzubereiten; um dies zu erreichen müsse man lediglich "den intensionalen Bereich vervollständigen, den extensionalen Bereich in einem Katalog zum Begriff aufzählen."3S Es scheint Rieser nicht aufgefallen zu sein, daß sich in diesem "Aufzählen" des extensionalen Bereichs (wie? in einem Text? und welche semantischen und Interpretations-Probleme wirft der dann wieder auf?) schon die Interpretation des Gesetzestextes (und damit Subsumtion) versteckt; ganz abgesehen davon, daß die "Vervollständigung" des "intensionalen Bereichs" so einfach auch nicht sein dürfte (s.o.). Aber das Thema "Interpretation" ist für die beteiligten Linguisten keines (entsprechend einem sehr engen Begriff von "Sprachwissenschaft", welcher damals in der formal-syntaktisch ausgerichteten strukturalistischen Linguistik en vogue war). Dieser schwarze Peter wird wieder an die Juristen abgeschoben, welche sich am Ende der Zusammenarbeit über diese Verweigerung wundern werden. 36 Auf der zweiten Arbeitsta34 Hartmann/Rieser in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 100. 35 Rieser in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 129.
36 So Rieser (in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 129): ·Von der Linguistik dürfe man nicht erwarten, daß sie zur Auffindung richtiger Paraphrasen verhelfe".
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Darmstädter Programm
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gung ist die Hoffnung aber noch vorhanden, mit den bereitgestellten linguistischen "Instrumenten" eine automatisierte Subsumtion erreichen zu können. Den Linguisten Hartmann und Rieser zufolge könnte diese folgendermaßen funktionieren: "1. Die Semantik von Paragraphen ist durch ein automatisierbares Verfahren zu erzeugen und festzulegen. [...)2. Jene Texte, die einen Tatbestand bezeichnen [...), sind in eine normierte Semantiksprache zu übersetzen. 3. Die semantischen Merkmalmengen der durch TEG [die Textgrammatik, D.B.) abgeleiteten und der übersetzten Texte sind auf ihre Identität zu überprüfen. [...) 4. Tritt der Fall ein, daß die Paraphrasenrelation nicht zutrifft, so wurde der Tatbestand semantisch falsch formuliert. 5. Trifft die Paraphrasenrelation bis zur Formulierung des Strafausmaßes zu, dann gilt auch das im Paragraphen genannte Strafausmaß."37 Der rechtstheoretische Hintergrund und die verfassungstheoretische Rechtfertigbarkeit einer automatisierten Subsumtion (einmal unangesehen ihrer Durchführbarkeit) wird in den gesamten vier Dokumentationsbänden der Darmstädter Arbeitsgruppe nicht ein einziges Mal diskutiert, genauso wenig wie deren Wünschbarkeit jemals angesprochen wird. Dem juristischen Laien (aber rechtsstaatlich interessierten Leser) bleibt angesichts dieser Umsetzung von Max Webers ironisch gemeinter Metapher vom "Subsumtionsautomaten" in ein ernstgemeintes Forschungsprogramm nur übrig zu sagen: nichts ist so absurd, daß es nicht doch durchzuführen versucht werden kann.
Für ihre dritte Arbeitstagung "Syntax und Semantik juristischer Texte" (1972) ging die Darmstädter Arbeitsgruppe "Analyse juristischer Sprache" bereits den ersten Schritt in die Empirie. Als Analyseobjekt wurde ein StVOParagraph38 nebst den zugehörigen Kommentartexten gewählt, um die linguistischen Methoden zunächst an einem einfachen und dogmatisch wenig umstrittenen Gesetzestext zu überprüfen. In jeweils wortweise auf die beteiligten Juristen verteilten Einzelanalysen sollten "die in diesem Korpus zu den einzelnen semantischen Einheiten verwendeten Sinnrelationen (sense-relations)" zusammengestellt und darüberhinaus versucht werden, "ihre logische Charakterisierung und Referenzsemantik zu erarbeiten".39 Die sog. "Sinnrelationen" (Hyponymie, Hyperonymie, Synonymie), deren Status in einer möglichen Bedeutungstheorie in den vorliegenden Texten ebensowenig untersucht wird wie eine solche selbst, wurden in Wortlisten zusammengestellt. Was die Autoren mit der "Erarbeitung der Referenzsemantik" meinen, wird 37 Hartmann/Rieser in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 100 f. Vgl. auch die "Skizze eines Forschungsprojekts" von Rieser in RavefBrinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1971b, 134.
38 § 8 StVO a.F.: "Beim Einbiegen in eine andere Straße ist nach rechts ein enger Bogen, nach links ein weiter Bogen auszuführen."
39 Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 9.
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s. Sprachtheoretische Ausfächerungen
nicht deutlich. Die Grenzen des durchweg intuitiven Verfahrens der einzelnen Bearbeiter, welches auch diese Arbeitsgruppe (trotz ihres Bemühens, gerade ihm zu entfliehen) auf das "Vorverständnis" zurückweist, wurden von der Arbeitsgruppe selbst gesehen.40 Zugleich traten auf dieser Tagung die Grenzen des von den Linguisten insinuierten textgrammatischen Instrumentariums für die Zwecke einer juristischen Semantik schärfer ans Tageslicht: "Die Arbeitstagung untersuchte die vorgelegten Grammatikmodelle auf ihre zu erwartende Tauglichkeit für die Generierung und Überprüfung von Paraphrasenbeziehungen zwischen juristischen Texten. Es ergab sich dabe~ daß die Leistungsfähigkeit einer Grammatik erst dann empirisch überprüfbar ist, wenn ausreichende Elemente eines ihr entsprechenden Lexikons vorliegen, wobei dieses Lexikon gleichzeitig auch den fachlichen Anforderungen des Juristen zu genügen hat.""1 Die Darmstädter Arbeitsgruppe macht also eine Erfahrung, welche ihr bei besserer linguistischer Beratung viele vergebliche Mühen erspart hätte: daß nämlich ein grammatischer Formalismus (und sei es ein "textgrammatischer") keine semantische Analyse ersetzt; daß vielmehr Grammatik-Modelle die Semantik des von ihnen bearbeiteten sprachlichen Materials stets schon voraussetzen, bzw. in ein vorausgesetztes "Lexikon" abschieben, deren Erstellung (und die dabei auftretenden methodischen Probleme, wie z. B. interpretative Vorverständnisse) nicht näher problematisiert wird. Eine Grammatik ist stets nur so gut wie das ihr zugrundeliegende Lexikon (ersetzt man nicht das Lexikon freiwillig durch die sprachliche Intuition der Grammatiker, deren "Vorverständnis" jedoch gerade zugunsten einer vermeintlichen "Objektivität" und "Rationalität" ausgeschlossen werden sollte). Deshalb ist es folgerichtig (bewahrt aber auch die Illusion einer vollständigen Kalkülisierbarkeit der juristischen Subsumtion), wenn die Arbeitsgruppe als Resultat ihrer Bemühungen als erstes Forschungsprojekt die Erstellung eines juristischen Fachlexikons anstrebt. Weshalb die untersuchten Grammatikmodelle ausgerechnet auf ihre Tauglichkeit für die "Erzeugung" von Sätzen überprüft werden sollen, wird nicht deutlich (wenn es mehr sein soll als ein Tribut an den damaligen linguistischen "Zeitgeist"). Um die Erzeugung von Rechtstexten dürfte es im Alltagsgeschäft der juristischen Semantik weniger gehen als um ihre Interpretation.42 Immerhin bekommt die von Hartmann und Rieser43 vorgeschlagene
40 "Die in diesem Band vorgelegten Wortlisten [...] beruhen auf dem individuellen Vorverständnis der Bearbeiter, nicht aber auf einer allgemein zugrundegelegten Grammatik." Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 9. Warum ausgerechnet eine Grammatik bei wortsemantischen Analysen helfen soll, wird nicht mitgeteilt. 41 Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972,9. 42 Dies sieht auch Garstka (in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 142), der die Diskussion über die Grammatik-Modelle der Linguisten für verfehlt hält, "weil die Juristen nicht
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Dannstädter Programm
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Textgrammatik durch einen abweichenden Entwurf des neu hinzugekommenen Linguisten Petöfi Konkurrenz, wodurch sich der linguistische Diskussionsspielraum etwas erweitert. Petöfis Modell basiert auf einer Anlehnung an prädikatenlogische Notationsweisen, seine Grammatik operiert mit "Prädikat-Funktionen" und "Argumenten".44 Die Prädikate werden unter Benutzung der Tiefen-Kasus Fillmores4S zu beschreiben versucht. Allerdings teilt Petöfi mit Rieser und Hartmann die Auffassung, daß die Semantik einer Sprache auf axiomatische Basiselemente reduziert werden könnte: "Der Aufbau des Lexikons basiert auf der Hypothese, daß im lexikalischen Inventar einer Sprache eine Grundmenge abgegrenzt werden kann, deren Elemente als 'elementare semantische Repräsentationen' deklariert werden können, d.h. als Grundelemente, aus denen alle semantischen Repräsentationen (= Definitionen), die den Lesungen der nicht zu dieser Menge gehörenden lexikalischen Elemente der Sprache zuzuordnen sind, hervorgebracht werden können...46 Diese Hypothese, deren Durchführung auf eine systematische Darstellung des gesamten Wortschatzes einer Sprache (und damit auf eine systematische und vollständige Weitabbildung) hinauslaufen würde, geht von der Übertragung eines Grundgedankens der strukturalistischen Linguistik aus der Phonologie in die Semantik aus: daß die Bedeutung (der "Wert") eines sprachlichen Zeichens in der Stellung ("Differenz") dieses Zeichens zu allen anderen Zeichen der Sprache besteht.47 Damit ist aber die Systematisierbarkeit des Wortschatzes natürlicher Sprachen behauptet; eine Hypothese, die neben ihrer praktischen Undurchführbarkeit auch aus prinzipiellen Gründen (Situations-, Kontext- und Horizont-Gebundenheit jeder Bedeutungsrealisierung) in Frage gestellt werden kann. Die Grenzen eines formal-grammatischen Analyse-Instrumentariums für die Zwecke der juristischen Textinterpretation (und Interpretationstheorie) werden an den von Petöfi selbst vorgenommenen Analyse-Beispielen deutlich. Unter der Hand führt er in seinen (explizierenden) Paraphrasierungen eine Fülle von semantischen Merkmalen (und Ergänzungen) ein, die zwar in erster Linie die Generierbarkeit von Rechtssätzen interessiere; diese seien vielmehr durch einen gegebenen Text terminiert". 43 Vgl. dazu noch Rieser in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 17ff.
44 Petöfi 1971,46. 45 Fillmore 1968 und 1977; vgl. auch die Darstellung in Abraham 1971, 185 ff.; Polenz 1985, 61 ff.; und die Kritik von Hörmann 1976, 222 ff. 46
Petöfi 1971,47.
47 Vgl. die Darstellung des ersten Programmschritts der Darmstädter Arbeitsgruppe: "Untersuchung der Lexikonelemente als Elemente eines aus dem gesamten Vokabular bestehenden Systems und Darstellung der Beziehungen der Elemente dieses Systems zueinander. Diese Beziehungen werden als sense-relations bezeichnet." Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972,204.
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5. Sprachtheoretische Ausfacherungen
aufgrund eines intuitiven Sprachverständnisses des fraglichen Satzes auf der Hand liegen mögen, aber für die Zwecke einer regulierten (und damit rational nachprüfbareren) Analyse explizit begründet und gegen andere Deutungsmöglichkeiten abgegrenzt werden müßten, was Petöfi aber unterläßt. Schon die Umformulierung von angeblich synonymen Sätzen in eine gemeinsame "Normalform",48 welche Petöfi als Analysekonstrukt einführt, setzt eine intuitive Bedeutungsfeststellung und damit unausgesprochene interpretative Entscheidungen voraus, bei denen unter Umständen mögliche semantische Informationen (zugunsten der reduzierten "Normalform") verloren gehen. Zudem stecken bereits in der Zuordnung einzelner semantischer Merkmale zu den sog. "Tiefenkasus" semantische (d.h. interpretative) Entscheidungen, wie die ausführliche linguistische Diskussion um Zahl und Inhalt der anzusetzenden Tiefenkasus gezeigt hat.49 Wenn Petöfis Modell eine Verbesserung gegenüber demjenigen von Rieser und Hartmann bringt, dann diejenige, daß er mit der Einführung einer übergeordneten Texthandlung (des Textautors, z.B. Gesetzgebers, der z.B. eine Behauptung aufstellt, daß der Text "gilt") in das textgrammatische Analysemodell pragmatische Faktoren einführt, welche in einer sprechhandlungstheoretischen Analyse der Rechtssprache wichtig werden könnten.5o Petöfis Behauptung, daß "eine Vorschriften/Gesetzes-Sammlung [...] als ein homogener Text betrachtet werden" kann,51 bedarf allerdings noch näherer Begründung bzw. Untersuchung. Die vorgelegten Wortlisten lassen die angewandten Verfahren der semantischen Analyse nicht erkennen. So sind z.B. die Kriterien der Synonymiebzw. Hyponymiebildung nicht näher erläutert oder begründet. Immerhin haben die empirischen Versuche das positive Ergebnis, daß einzelnen Mitgliedern der Arbeitsgruppe erstmals die Aporien und Grenzen des vorgenommenen Programms deutlich werden. So erkennt Grimmer, "daß für die Entwicklung des Lexikons wesentlich ist, auf welcher Form der Verwendungssprache es beruht, wessen Aufgabe es ist, den möglichen und zugelassenen Sinngehalt eines Wortes oder Satzes festzustellen",52 wenngleich diese Einsicht, welche erstmals die eigentlichen auslegungstheoretischen Probleme der juristischen Semantik in den Blick nimmt, (für einen Juristen) ziemlich 48 Deren Möglichkeit stellt schon auf der Tagung selbst der Jurist Rödig in Frage: "Es gibt nicht die prädikatenlogische Normalform in dem bei der Fragestellung offenbar vorausgesetzten Sinn. Die Art der prädikatenlogischen Zerlegung ist ausschließlich durch die mit einer Axiomatisierung des einschlägigen Gebiets verfolgten Zwecke bedingt." Rödig in RavejBrinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 73. 49 Vgl. statt anderer Polenz 1985, 61 ff. u.ö. 50 Petöfi 1971, 63.
51 Petöfi 1971, 64. Zum Textcharakter von Gesetzen vgI. Busse 1992a, 41 ff. 52 Grimmer in RavejBrinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 110.
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Darrnstädter Programm
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spät kommt und Grimmer daraus zunächst keine weiterreichenden Schlußfolgerungen zieht. atte zufolge, dem die Beschränkungen des rein woltsemantischen Vorgehens auffallen, "ist eine eindeutige prädikateniogische Charakterisierung der Elemente 'eng' bzw. 'weit' nicht möglich. Sie ist vielmehr von Fall zu Fall abhängig von der Gestaltung des zu untersuchenden Satzes.',53 Diese Erfahrung ist insofern bemerkenswert, als die vorgeschlagenen Textgrammatiken trotz der für sie behaupteten Leistungsfähigkeit bei der Analyse größerer sprachlicher Einheiten in ihren semantischen Teilen erstaunlicherweise die Ebene der puren Einzelwort-Semantik nicht überschreiten. Zwar wird syntaktisch von der Satz- zur Textgrammatik übergegangen, semantisch ist aber noch nicht einmal die Ebene der Satzsemantik beschritten worden (das mag an der irrigen Auffassung liegen, daß eine generative Satzgrammatik die Semantik gleich mit erfasse). atte weist auch auf die Grenzen der vorgeschlagenen Komponentialsemantik hin: "Eine Komponentialsemantik im Sinne einer Auffindung von Bestandteilen größerer Elementarität dürfte an der notwendig situationsgebundenen Verschiedenheit dessen, was 'eng' bzw. 'weit' heißen kann, ihre Grenzen fmden.',54 Es ist schon beschämend, daß den beteiligten Linguisten diese Einsicht in die fundamentale semantische Funktion relationaler Ausdrücke, die eben prinzipiell nicht auf eine "NormalformOl reduziert werden können, sondern deren Funktion es gerade ist, etwas in Relation zu einem je verschiedenen Kontext auszusagen, erst von Juristen nachgereicht werden mußte. Mit den empirischen Versuchen konturieren sich für die Arbeitsgruppe auch die eigentlich wichtigen Punkte einer rechtslinguistischen Forschung schärfer heraus. Vor allem tritt der Aspekt der Fachsprachlichkeit juristischer Texte bzw. der Fachlichkeit des juristischen Umgangs mit Texten in 53 Otte in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 124.
54 Otte in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 125. Den Schlußfolgerungen Ottes schließen sich auch Bühnemann (a.a. O. 127 ff.) und HasselkussjKaminski (a.a.O. 131 ff.) an. Das problematische Modell einer Komponentialsemantik wird auf dem Vorbereitungstreffen für diese Tagung folgendermaßen skizziert: "Die ontologische Charakterisierung der Lexikonelemente soll die Beziehung dieser zur realen Situation darstellen. Dieser Untersuchung sollen die Hypothesen der Komponentenanalyse zugrunde gelegt werden, insbesondere also die Hypothese von der Universalität der semantischen Komponenten. [...] Im Ergebnis wird jedes Lexikonelement durch entweder positive oder negative Zuweisung aller verwendeten semantischen Komponenten vollständig beschrieben, wird also durch die Komponentendarstellung ersetzbar." (Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 205) Sowohl der darin enthaltene Universalismus ist fragwürdig, als auch die Illusion, eine "vollständige" Komponentenanalyse überhaupt jemals erreichen zu können. Es bleibt offen, wer (und mit welchen Kriterien, welchen intuitiven? - Vorverständnissen, Interpretationen, Deutungen) entscheidet, ob und wann eine Komponentenanalyse "vollständig" ist. Auch die angestrebte "Generierung" einer Wortbedeutung aus einer Komponenten-Matrix, d.h. der Rückschluß von der Matrix auf das fragliche Wort, dürfte kaum möglich sein (bzw., wenn überhaupt, nur durch einen kompetenten Sprecher, der ohnehin weiß, um welches Wort es sich handeln könnte). Zur Kritik an der Komponentialsemantik vgI. ausführlich Wolski 1980,44 ff. und zusammenfassend Busse 1991a, 29 ff.
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5. Sprachtheoretische Ausfacherungen
den Blick. Garstka hebt hervor, daß es sich in der Gesetzessprache nicht um deskriptive Texte handelt, sondern häufig um juristische Termini, die ihre Bedeutung "durch die Konstruktion juristischer Entitäten (Rechtsverhältnisse, Normen u.ä.)" erhalten. Die Analyse solcher Ausdrücke setze "Klarheit über das Wesen spezifisch juristischer Entitäten voraus" und dies bedinge eine "Priorität der Rechtstheorie vor der linguistischen Analyse juristischer Texte".55 Die Einbindung juristischer Begriffsverwendung in komplexe Bedeutungszusammenhänge (gemeint sind wohl v.a. solche dogmatischer Art) bedinge einen anderen Umgang mit der Textanalyse als die rein deskriptiven linguistischen Verfahren. Diese Einsichten führen dazu, daß Garstka von einer "Theorie der Rechtssprache" verlangt, "daß sie zur Theoretisierung des Subsumtionsvorgangs beiträgt".56 Erstmals wird also deutlich, daß die wichtigeren Fragen (vor einer Algorithmisierung rechtslinguistischer Analysemethoden) einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Juristen und Linguisten solche der Interpretationstheorie sind. Es entwickelt sich in der Arbeitsgruppe "der Wunsch, zunächst den rechtstheoretischen Stellenwert linguistischer Methoden zu erarbeiten, also eine juristische Sprachverwendungstheorie zu entwickeln."" Damit ist klar geworden, daß der zweite Schritt vor dem ersten getan worden war, daß die Arbeitsgruppe (möglicherweise verleitet durch die unrealistischen Versprechungen der Linguisten und den Sog der von diesen aufgeworfenen technischen Formalisierungsprobleme) der eigentlich zunächst zu klärenden Frage nach den für Juristen wichtigsten Punkten und nach ihrem eigenen, rechtsspezifischen semantischen Erklärungsbedarf nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hatte, was sich nun, am Ende der dritten von vier Tagungen, rächt. Es kristallisiert sich nun auch heraus, daß Linguisten den Juristen zwar in signifikanter KompeteDZÜberschreitung ganze Modelle zu einer "Rechtstheorie" anbieten58 und die Frage der Brauchbarkeit linguistischer Theorien für die Jurisprudenz damit beantworten, es sei "nicht gemeint, sie müßten in das vorliegende juristische Methodengebäude hineinpassen. Sie können darin im Gegenteil gerade als Brecheisen wirken.",59 aber sich den wirklich drängenden Fragen einer für spezifisch juristische Bedürfnisse gestalteten Sprachund Interpretationstheorie durch Verweis auf das rein deskriptive Selbstver55 Garstka in Rave/BrinckmannjGrimmer (Hrsg.) 1972, 139. 56 Garstka in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 142. 57 Protokoll der Diskussion in Rave/Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1972, 165.
58 Rieser 1974, 116 ff. Mit folgendem Gestus: "Soll eine linguistische Theorie für einen Anwendungsbereich entwickelt werden, muß sie als empirische Theorie aufgebaut werden und ähnlich strengen Bedingungen genügen wie naturwissenschaftliche Theorien." BrinckmannjPetöfi/Rieser 1972, 62 f. 59 Hartmann in Rave/BrinckmannjGrimmer (Hrsg.) 1972, 163.
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Dannstädter Programm
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ständnis der Linguistik verweigern. Geradezu ein Armutszeugnis einer zu schmalspurig verstandenen, über den deskriptiven Tellerrand einer generativen Syntax nicht hinausschauenden Linguistik ist es, wenn ein Unguist auf die Frage eines Juristen nach der Füllung der Leerstellen einer von diesen entworfenen Grammatik nichts anderes antworten kann als: "Der Grammatiker kann nur weitere Sätze anfordern und analysieren".6O Jedoch scheint die Darmstädter Arbeitsgruppe (wenigstens zu diesem Zeitpunkt) noch nicht bereit gewesen zu sein, die verfehlte Zielsetzung aufzugeben. Dies zeigt sich daran, daß die Teilnehmer der Arbeitstagung die Warnungen des Sprachwissenschaftlers Schnelle, die in einem Brief an einen der Beteiligten enthalten sind, offenbar nicht einmal der Diskussion für würdig befanden (wie dem Protokoll zu entnehmen ist), obwohl der Brief auf der Tagung verlesen wurde.61 Die Anmerkungen Schnelles zum Projekt der Interdisziplinären Arbeitsgruppe 'j4nalyse der juristischen Sprache" verdienen es, ausführlich zitiert zu werden, weil sie Kritik aufnehmen, die auf den vergangenen Seiten in ähnlicher Stoßrichtung geübt wurde: "Andererseits erscheint mir der Optimismus, der aus dem Protokoll spricht, unglaublich. Es ist völlig ausgeschlossen, daß Sie Ihre Probleme auch nur annähernd auf der Grundlage einer Lexikonanalyse oder auch nur einer weiter gefaßten Paraphrasenanalyse werden lösen können. Kontextuelle Bedingungen der verschiedensten Art werden berücksichtigt werden müssen. Dadurch ist die Arbeit von Anfang an auf den pragmatischen Bereich zu erweitern. Das zeigt sich schon bei dem von Ihnen ausgewählten Analyseobjekt." Es folgen Ausführungen zu dem oben zitierten Satz aus der StVO: "Eine adäquate Analyse läßt sich meiner M~i nung nach im vorliegenden Fall überhaupt nicht aus dem Text allein gewinnen. Der Text ist, isoliert genommen, für das, was er regeln soll, völlig unsinnig. [...] Das Verständnis des Textes kommt nur zustande, wenn jemand den Sinn des Textes versteht, nämlich den Zusammenstoß an unübersichtlichen Stellen zu vermeiden." Und schließlich: "Man sollte sich aber vor der Meinung hüten, daß eine syntaktische oder semantische Analyse der Sprachstruktur die Sprachverwendung ausreichend determiniert (oder gar vom Standpunkt einer solchen Analyse aus angeblich unklare Verwendungen anzuprangern)." Es spricht für sich, daß dieser fundamentalen Kritik offenbar keine Diskussion folgte. 62 Die Konsequenzen wurden erst auf der letzten, 60 Petöfi in Rave/Brinckrnann/Grimmer (Hrsg.) 1m, 178. 61 Immerhin wurde der Brief in Rave/Brinckrnann/Grimmer (Hrsg.) 1m, 209 dokumen-
tiert. 62 Implizit gibt auch Petöfi das Scheitern des linguistischen Verfahrens zu, wenn er in einer Würdigung der von den Juristen erarbeiteten semantischen Analysen - ausgehend von Carnaps Semantik der Intensionen und Extensionen - die Unmöglichkeit der "logisch exakten" Intensionsbestimmung erkennt: "Die zu den Wörtern des ausgewählten Beispielsatzes angefertigten Definitionen sind (auch in ihrer 'endgültigen Form') inhaltlich derart inkompatibel (und an
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5. Sprachtheoretische Ausfächerungen
zwei Jahre später stattfindenden Arbeitstagung gezogen, bzw. ergaben sich daraus, daß die Arbeitsgruppe sich zunächst in zwei Gruppen spaltete (von denen die eine sich - offenbar als Konsequenz aus den Grenzen der bisherigen Sprachanalyse - auslegungs- bzw. rechtstheoretischen Fragen zuwandte), und schließlich offenbar die Arbeit einstellte. Das Programm der Darmstädter Arbeitsgruppe hatte sich (möglicherweise bedingt durch die - nicht diskutierten - verschiedenen Perspektiven und Anforderungen von Rechtstheorie und Sprachtheorie) in Widerspruche verstrickt, wie aus einem Bericht über die dritte Arbeitstagung deutlich wird. Dort wird das Programm noch einmal beschrieben: "Die ontologische und axiomatische Charakterisierung der Lexikonelemente dieser Grammatik [...] soll die eindeutige Zuordnung von Gegenständen und Relationen im Objektbereich zu den durch die jeweiligen Lexikonelemente benannten Klassen ermöglichen, also eine eindeutige Zuordnung von realen Sachverhalten zu Sachverhaltsbeschreibungen im Untersatz des Subsumtionsschlusses. Aufgabe einer solchen Grammatik wäre es, [...] die Subsumtion rational zu kontrollieren."63 Die Zielrichtung wird deutlich: die interpretierenden Subjekte mit ihren Intentionen und Deutungshorizonten sollen aus einem Subsumtionsprozeß herausgenommen werden, der als die logisch ''wahre'' unmittelbare Zuordnung von Normtexten zu Sachverhalten verstanden wird. Hintergrund einer solchen Auffassung ist "der rechtspositivistische Akzent, den eine Textanalyse notwendig hat".64 Wird in der zitierten Programmbeschreibung die Zuordnungsleistung noch als Aufgabe der zu erstellenden Grammatik (bzw. ihres Lexikons) gesehen, so wird wenig später deutlich, daß die bearbeitete Grammatik dieses überhaupt nicht leisten kann, ohne daß dieser Widerspruch thematisiert wird: "Die Theoretisierung der Subsumtion als einer Beziehung zwischen Texten setzt den Text, der den Sachverhalt beschreibt, voraus. [...] Was also zunächst als Referenzproblem aufgefaßt wurde, stellt sich dann als Übersetzungsproblem dar, während das eigentliche Referenzproblem gar nicht erfaßt wird. n65 Damit wird die als Sprachanalyse firmierende Rechtstheorie aber auf eine Beziehung zwischen schon vorgedeuteten Texten reduziert, während die eigentlich zentrale Frage, nämlich die Kritemanchen Stellen auch nicht adäquat), daß es unmöglich war, die Intension des zu analysierenden Satzes aufgrund dieser Definitionen abzuleiten." (Petöfi in Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974, 155) Petöfi verkennt, daß dies kein zu{dlliger Mangel infolge unzureichender empirischer Arbeit ist, sondern ein prinzipieller Mangel der zugrundegelegten Theorie, der die Aporien des vorgeschlagenen Modells beweist. Für die Juristen zeigt diese Erfahrung, daß sie von den (nur scheinbar und vergeblich) ausgeklammerten auslegungstheoretischen Problemen (Uneindeutigkeit, Widelliprüchlichkeit von Auslegungsergebnissen) immer wieder eingeholt werden. 63 Brinckmann/petöfi/Rieser 1m, 63 f. 64 Brinckmann/petöfi/Rieser 1m, 64. 65 Brinckmann/Petöfi/Rieser 1m, 66.
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Darmstädter Programm
159
rien der Zuordnung einer Normtextformulierung zu einem Sachverhalt, bereits vorausgesetzt und damit aus dem Bereich der zu erstellenden Rechtstheorie schlichtweg ausgeklammert wird. Zudem wird der Rechtsfindungsprozeß in dieser subsumtionstheoretischen Sichtweise extrem verkürzt, wenn er als einfaches Referenzproblem sprachlicher Zeichen dargestellt wird, als könnte eine Rechtsnorm, bzw. die sie konstituierenden sprachlichen Zeichen, so ohne weiteres und eindeutig, und ohne Rückgriff auf Deutungshorizonte, Kontexte, Situationsbezüge, Zwecksetzungen, systematische Aspekte und dogmatische Vorstrukturierungen auf den fraglichen Wirklichkeitsausschnitt bezogen werden. Die Autoren legitimieren ihren Rückgriff auf einen eng verstandenen Rechtstext-Positivismus mit dem Gebot der Gesetzesbindung; diese Bindung können sie sich nicht anders vorstellen als eine eindeutige, logisch überprüfbare eins-zu-eins Relation von Normtextausdrücken auf Sachverhaltsgegenstände (bzw. deren Eigenschaften). Die interpretative Leistung, die in allen solchen Bezugnahmen steckt, wird nicht zum Thema. Dies ändert sich erst mit der zwei Jahre später (1974) stattfindenden (wohl nicht zufällig) letzten Arbeitstagung zu "Rechtstheorie und Linguistik". An ihrem Ende steht die Einsicht in die Unzulänglichkeit der empirischen semantischen Versuche und eine divergierende Beurteilung des Ertrags der vierjährigen linguistisch-juristischen Zusammenarbeit, die zwar (bei einigen der Beteiligten) noch zur Projektierung größerer Forschungsprojekte (so eines Lexikons) führt, über deren tatsächliche Durchführung mir allerdings nichts bekannt ist.66 Unter Bezug auf die zitierte rechtstheoretische Auffassung Brinckmanns kritisiert Schlink den verkürzten Auslegungsbegriff; er verweist darauf, daß der Jurist nicht schlicht Gesetzestexte anwende, sondern "dogmatische Lehren", die aber mit linguistischen Methoden nicht zu erschließen seien: "Linguistische Arbeit im Recht darf vor allem darum nicht bloß am Gesetzestext ansetzen, weil der rechtliche Gehalt gerade dogmatisch erschlossener Rechtsgebiete in lexikonmäßigen Erläuterungen zu einzelnen Sätzen von Gesetzestexten nicht zu erfassen ist. Das findet in Kommentaren Ausdruck, wenn Erläuterungen einzelner Bestimmungen monographischen Charakter annehmen."67 Der von Brinckmann vorgeschlagene Positivismus könne als "Begriffsjurisprudenz" bezeichnet werden.68 Die Reduzierung der Gesetzesbindung auf eine Normtextbindung, die nicht mehr als das "grammatische" Element der traditionellen Methodenlehre umfasse, werde dem Rechtsfindungsprozeß nicht gerecht. Es ist kein Zufall, daß an dieser Stelle Krawietz mit einem Hinweis auf die Unterscheidung zwischen Normtext und
66 Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974,5 f. 67 Schlink in Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974, 8 f. 68 Schlink in Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974, 10.
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5. Sprachtheoretische Ausfächerungen
Nonnstruktur bei Friedrich Müller die Hinwendung der Zusammenarbeit von Linguisten und Juristen zu Problemen der juristischen Methodenlehre fordert,69 die bisher in den Diskussionen der Darmstädter Arbeitsgruppe nicht in den Blick geraten war. Schließlich wird auch von dem Kommunikationswissenschaftler Heinz die Reduzierung se~antischer Probleme auf Wortschatzfragen mit dem Hinweis zurückgewiesen, daß das "Erlernen des juristischen Fachvokabulars nur als ein Erlernen des juristischen Theoriearsenals verstanden werden kann".70
Trotz der geübten Kritik geben die Anhänger der Subsumtionstheorie ihre Auffassung nicht auf. So fordert Grimmer vom Parlament: "Seine Aufgabe ist es, eine eindeutige Normsprache zu benutzen, die Semantik der verwendeten sprachlichen Zeichen und ihre Pragmatik zu definieren." und begründet dies mit dem als Auslegungsverbot aufgefaßten Rechtsstaatsgebot: "Es ist dabei ein Erfordernis des Demokratie- und Rechtsstaatspostulates, daß Interessennormierungen eindeutig vorgenommen werden, [...] ihr semantischer Gehalt also nicht erst in der individualisierten Rechtsanwendung aktualisiert wird.,,7l Hier wird die Bedeutung sprachlicher Einheiten, von kommunikativen Akten, als etwas fertig Vorliegendes verstanden, welches fest, eindeutig, abgeschlossen und identisch von einem Rezipienten "angewendet" wird, ohne daß Gedanken darüber auftauchen, welche psychologischen Prozesse bei den Rezipienten ablaufen müssen, um das, was vorher "auf dem Papier war" nunmehr bei ihm "in den Kopf" zu bekommen. Daß allein schon das Lesen ein Wahrnehmen, also eine aktive Leistung, eine Realisierung von etwas ist, kommt Grimmer nicht in den Sinn, wohl aber Kilian, der ihm entgegenhält: "Die semantisch vermittelte Identität zwischen Obersatz und Sachverhalt wird also assoziativ hergestellt. Psychologische Evidenz ist dafür maßgebend. Es findet keine zwingende Deduktion statt, sondern ein engagiertes 'Verstehen,.,,72 Es überrascht, daß diese Selbstverständlichkeit überhaupt noch formuliert und durchgesetzt werden muß, um ein Deduktionsmodell, das die speziftschen Eigenschaften von Sprache verdrängt, nämlich stets aktive Aktualisierung von Sinn oder Regeln oder Mustern zu sein, zu widerlegen. Nur die Ausblendung der gesamten juristischen Methodenlehre (diese geschah, wie wir gesehen haben, z.T. sogar bewußt) kann zu einer solchen Verkennung des Verstehensprozesses geführt haben. Letztlich wollen die Autoren das "Verstehen" schlechthin aus dem Rechtsfmdungsprozeß verbannen. 69 Krawietz in Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974, 23; Müller 1976 und 1984. 70 Heinz in Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974, 41. Zur Einsicht, daß Fachsprache nur durch Erlernen eines Faches (nicht aber vokabelmäßig) erworben werden kann vgI. auch Hoberg 1981, 139. 71 Grimmer in Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974,48 f.
72 Kilian in Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974,52.
5.1 Ein Interdisziplinärer Versuch: Das Dannslädter Programm
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Wenn schon die menschlichen Richter solchermaßen zu bloßen Automaten reduziert wurden, verwundert es nicht mehr, daß es ernsthaft als mit dem Rechtsstaats- und Demokratiegebot für vereinbar gehalten wurde, die richterliche Entscheidung an einen "Subsumtionsautomaten", einen maschinell erzeugten Algorithmus delegieren zu können. Wenn es das Ziel der Initiatoren der Darmstädter Arbeitsgruppe gewesen ist, mit Hilfe der formal-linguistischen Methoden Kritik an der gängigen Auslegungslehre zu üben, "nämlich exemplarisch den verschleiernden Charakter der herrschenden Methoden aufzudecken",73 dann hätte ihnen auffallen müssen, daß die angestrebte "Veränderung des bestehenden Rechtssystems in Richtung auf eine striktere ProgrammierungH74 das Problem nur verschiebt, es dabei allerdings verschärft. Wäre mit einer Automatisierung des Rechts eine scheinbare logisch-grammatische Folgerichtigkeit ereicht, indem in sich widerspruchsfreie Kalküle die Arbeit des Richters erledigten, dann wäre ein Schein der Rationalität von Rechtsfindung errichtet, der um so stärker verschleiern würde, daß die Bestimmungsmomente, welche auszuklammern versucht wurden, nämlich Vorverständnisse, Deutungshorizonte, Interessen, Zwecksetzungen, insgeheim das Ergebnis beeinflussen, indem sie in den Voraussetzungen (Lexikon mitsamt darin enthaltenen Definitionen) und den bei allen formalen Kalkülen notwendigen Übersetzungsprozessen (Rechtssprache in Kunstsprache, Kunstsprache in Normal- bzw. Rechtssprache) um so ungreitbarer (intuitiver, unbegründeter, unhinterfragter und damit unkritisierbarer und unrationaler) wirksam würden.75 Mit einem solchen Rechtsanwendungsbegriff werden nicht nur die Zwecksetzungen und Regelungsziele, welche sich schwerlich in einen Algorithmus einbringen lassen, ignoriert, sondern auch, daß es Menschen sind, die (Rechts-)Texte verfassen, verabschieden, auslegen, verstehen und anwenden; Recht wird auf Text reduziert, indem alle sozialen Faktoren, das Recht als ein Handlungszusammenhang von Menschen mit Menschen, und damit die Unwägbarkeiten und Unzuverlässigkeiten, die das Menschliche kennzeichnen, ausgeschlossen werden. 73 Brinckmann in Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974, 87.
74 Brinckmann in Brinckmann/Grimmer (Ursg.) 1974,87. 75 Krawietz weist deshalb zu Recht darauf hin, "daß eine Sprachverwendungstheorie nötig sei, um die im Recht tatsächlich ablaufenden prozesse untersuchen zu können" (Krawietz in Brinckmann/Grimmer (Hrsg.) 1974, 168). Diese Hinwendung zur juristischen Methodenlehre und der Frage, was sprachwissenschaftliche Erkenntnisse in diesem Zusammenhang beitragen können, vollzieht die Untergruppe "Sprachverwendungstheorie", indem sie als drängende Fragen u.a. formuliert: "In welchem Verhältnis steht eine Sprachverwendungstheorie zu den 'Lehren' der Hermeneutik und zur juristischen Methodologie?", "Wer kann auf welche Weise Sprachverwendungsregeln normieren?" und "Welche Aufgabe kommt einer Sprachverwendungstheorie innerhalb des gesamten 'Rechtsfindungsprozesses' [...] zu?". (in Brinckmann/Grimmer (Ursg.) 1974, 201 f.) Damit hat wenigstens ein Teil der Darmslädter Arbeitsgruppe den Anschluß an die Diskussionen der juristischen Methodenlehre wiedergefunden.
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5. Sprachtheoretische Ausfacherungen
5.2 "Das Fließen der Bedeutung im Kanal":76 Kommunikationstheorie, Semiotik und Anderes Es ist vielleicht kein Zufall, daß die Landung aus dem hegelischen Himmel der Begrijfsjurisprudenz gerade mit der Rückbesinnung auf die sozialen Urfunktionen der Sprache begann, welche die Einsicht bewirkte, daß auch das Recht "sich aus einer Urfunktion der sprachlichen Verständigung entwikkelt" hat.77 Es lag daher nahe, daß einer der ersten Versuche von Juristen, sich der Sprachtheorie zu bedienen, am Mitte der 60er Jahre modernen Begriff der Kommunikation ansetzte. Horn, der mit seinen Arbeiten78 als der erste Jurist gelten kann, der moderne Sprachtheorien in die juristische Methodendiskussion einbezogen hat, bemängelt das Fehlen des kommunikativen Gesichtspunktes in zeitgenössischen Arbeiten zur Methoden- und Auslegungslehre. Vor allem kritisiert er die fehlende Berücksichtigung des produktiven Aspekts, der auch die Verständigung zwischen dem Gesetzgeber als eines Textproduzenten und den Rechtsanwendern zu einem kommunikativen Vorgang mache. 79 Die Rechtswissenschaft habe "die sprachliche Kommunikation meist vom Standpunkt des Empfängers behandelt".80 Horn ist auch die für die damalige Zeit (und auch heute noch für einen Juristen) bemerkenswerte Beobachtung zu verdanken, daß "fast alle Auslegungslehren am einzelnen Wort ansetzen".81 Schon daß er den in der juristischen Methodenlehre nach der Begriffsjurisprudenz fast aussschließlichen Zugriff auf das Einzelwort als Bedeutungsträger in Frage stellt und überhaupt die Frage aufwirft, ob nicht auch andere Entitäten (Satz, Aussage, Kontext) eigentlicher Träger sprachlich-kommunikativ vermittelten Sinns sein könnten, ist eine wertvolle Erkenntnis, die sich in der juristischen Methodenlehre bis heute noch nicht hat durchsetzen können und deshalb umso höher zu bewerten ist. So moniert er: "Die herrschende Auffass~ sieht [...] die Bedeutung als objektiven und idealen Gegenstand der Welt." 76 Diese Stilblüte findet sich bei Horn 1967, 575. 77 Horn 1966, 7.
78 So schon Horn 1966, vgI. auch Horn 1967 und 1975. 79 So bemängelt er, "daß die Produktion und Anwendung des Gesetzes nicht als Kommunikationsvorgang begriffen wird". Horn 1966, 21.
80 Horn 1966, 22. 81 Horn 1966, 24, 26; vgI. auch Horn 1967,575. 82 Horn 1966, 45; vgI. auch 26 und Horn 1967, 578. Eine ähnliche Kritik an der ontologisierenden Tendenz der Rechtssprache, welche die eigenen Metaphern zu dingähnlichen Entitäten hypostasiert, übt auch Schreckenberger 1977, 37 f. Vgl. auch Haft 1981, 157, der dies als Nachwirkungen des Begriffsrealismus deutet. Dagegen hat Neumann 1979 der Verteidigung der "Rechtsontologie" als notwendiger Konsequenz des aus dem Rechtspositivismus etwachsenden Begriffsrealismus eine eigene Monographie gewidmet. (Einen solchen Ideen-Platonismus ver-
5.2 Kommunikationstheorie, Semiotik und Anderes
163
Diese Orientierung an einem reifizierenden Begriff von "Begriff' und "Bedeutunlf muß Horn jedoch nicht nur seinen Kollegen, sondern auch der Sprachwissenschaft selbst vorwerfen.83 Als zugrundeliegendes Theorem solcher Sprachauffassungen bezeichnet Horn "die Behauptung des gemeinsamen Sprachbesitzes in Verbindung mit der Theorie der Eindeutigkeit", doch diese könnten nicht erklären, "wie die Mitglieder der Sprachgemeinschaft in den Besitz der Sprache und der Bedeutungen gelangen", und seien damit keine hinreichenden Erklärungen für das Funktioniern der Verständigung.84 Er schließt daraus auf den Grund des Versagens der traditionellen juristischen wie linguistischen Sprachtheorien, sprachliche Kommunikation angemessen erklären zu können: "Mit der Annahme der Eindeutigkeit, der einheitlichen Geltung für alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft und der Übereinstimmung der objektiven und subjektiven Bedeutung erzeugen die klassischen Theorien ein statisches System, dessen Funktionieren mit Übereinstimmung erklärt wird. [...] Da die Sprache in ständiger Änderung ist, und zwar deshalb, weil sie durch das Sprechen ständig verändert wird, muß der Grundsatz der Identität versagen." Statt Identität finde im Sprachverstehen eine "Anpassungsleistung (Analogie)" statt.85 Es ist das außerordentliche Verdienst von Horn, mit dieser auf einer sehr fundamentalen Ebene liegenden Einsicht den rechtsmethodisch äußerst umstrittenen Begriff der "Analogie" nicht auf der verfassungstheoretischen Ebene (wo er ansonsten allein behandelt wird) belassen zu haben, sondern ihn in das sprachtheoretische Fundament eingeführt zu haben. Horn nimmt damit die in der Sprachwissenschaft erst heute langsam greifende Erkenntnis vorweg, daß jegliches Sprachverstehen und Sprachproduzieren Vorgänge beinhaltet, welche mit dem Terminus "Analogie" bezeichnet werden können. Horn schlägt schließlich vor, die Annahmen der traditionellen Sprachauffassung gänzlich aufzugeben: "Danach kommt Wörtern und Sätzen nicht die tritt auch Kalinowski 1979, 247, der Gedanken als "reale Entitäten" auffaßt.) Laut Neumann folge schon aus dem Vertrauen auf die Rechtsordnung die "Idee eines normativen Seins"; die Ideen der Rechtsanwendung und Rechtsgeltung setzten notwendig "ein realistisches Sprachverständnis· voraus (3). Dieser Argumentation kann, wie in dieser Arbeit und von vielen juristischen Autoren verschiedentlich gezeigt wurde, nicht gefolgt werden. 83 Horn 1966, 38.
84 Horn 1966, 40. 85 Horn 1966, 46. So auch Simon 1m, 9: "Vielmehr scheint mir der Begriff von Kommunikation aufzugeben zu sein, der sich an der Bedeutungsidentität orientiert. Man spricht wirklich miteinander, ohne daß man ein Kriterium dafür haben kann, wie andere die Bedeutungen realisieren." - Ganz nebenbei erledigt Horn (1966,41) auch noch die These von Begriffskern und -hof: "Der Harmonisierungsversuch, die Wortbedeutung als ein Objekt mit festem Kern und verfließenden Konturen darzustellen, ist in sich unriChtig. Diese Auffassung besagt nämlich, daß das Wort immer die Kernbedeutung hat. Die Erfahrung lehrt aber, daß der Kontext zu einer völligen Veränderung der Bedeutung führen kann."
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5. Sprach theoretische Ausfacherungen
zusätzliche Qualität 'Bedeutung' oder 'Sinn' zu...86 So scharfsinnig und vorgreifend Horns Kritik an zeitgenössischen Sprachtheorien auch ist, so wenig kann seine Darstellung von Gegenvorschlägen überzeugen. Zwar macht er Anleihen bei neueren Sprachtheorien, doch kann sein Ansatz nicht als "Kommunikationstheorie" im damaligen Sinn gelten, da Horn diesen Begriff für alles und jedes verwendet, was mit "sprachlicher Verständigung" zu tun hat. Horns Ansatz ist also keine Kommunikationstheorie im üblichen Sinn der kybernetischen Modelle (die leider auch in der Linguistik unkritisch adaptiert wurden und z.T. immer noch benutzt werden). In einem späteren Aufsatz zerpflückt er sogar die sog. Kommunikationstheorie mit ihren Begriffen wie "Encodieren", "Kanal', "Decodieren", der er in seiner ersten Arbeit noch aufgeschlossen gegenüber stand, gnadenlos und zieht das Fazit: "Die Skizzierung der gegenwärtigen Theorie der sprachlichen Kommunikation hat hinreichend deutlich werden lassen, daß ihr Erklärungswert gegen null geht.,,87 In einzelnen Überlegungen widmet er sich der Unterscheidung von "deskriptiver" und "präskriptiver" Sprache, wie sie die sprachanalytisch orientierte Rechtstheorie diskutiert,88 lehnt diese Dichotomie aber mit der These ab, daß "Deskription" nicht zur Grundfunktion von Sprache gemacht werden könne, wie schon juristische Termini wie "Eigentum" zeigten.89 Zwar behandelt Horn u.a. das sprachliche Relativitätsprinzip in den Sprachtheorien Humboldts, Sapirs und Whorfs,90 doch bleiben solche Überlegungen im Hinblick auf die rechtsmethodischen Folgerungen blaß. Der innere Zusammenhang von Horns sog. "kommunikationstheoretischen" Überlegungen mit der "juristischen Anwendung" am Ende seines Buches ist nicht ersichtlich. So bleibt als Fazit, daß auch Horn, der dem Aspekt der Kommunikation eine erste Monographie gewidmet hat und damit als derjenige gelten kann, der die Adaption der modernen Sprachtheorie in der juristischen Methodenlehre eingeleitet hat, aus dieser Einsicht ebensowenig überzeugende Schlußfolgerungen abzuleiten in der Lage ist wie die Vielzahl seiner Kollegen,91 für die es nur ein folgenloses Lippenbekenntnis ist, das Wort "Verstän86
Horn 1%7, 579.
87 Horn 1975, 14 f., 17. 88 Horn 1966, 58 ff. 89 Horn 1%7, 585; vgI.
auch Horn 1975, 1 ff. "Die von der traditionellen Theorie implizit eingeführte Annahme der Invarianz der Perzeption ist demnach unrichtig. Damit entfallt die Grundlage der Idee der Deskriptivität, da diese die Verläßlichkeit oder Richtigkeit der Sprache letztlich auf die Isomorphie von Sprache und Welt gründet, die nach dieser Auffassung durch die Perzeption vermittelt wird." (13)
90 Horn 1966, 81 ff.;
Horn 1975, 1 ff. Dieselbe Anleihe macht Groß feld 1984, 4.
91 So Vernengo 1965, 294; Kramm 1970, 7; Heinz 1972, 29; Simon 1977, 9; Schreckenberger 1977,37; Larenz 1979, 179 f., 307; Koch/Rüßmann 1982, 158. Reflektiert hingegen bei Schiffauer 1979, 110, 117, 135; Hegenbarth 1982, 37, 55, 51.
5.2 Kommunikationstheorie, Semiotik und Anderes
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digunlf (bzw. "Kommunikation") im Rahmen der juristischen Auslegungslehre in den Mund genommen zu haben. Mit Horn teilt Baden die Kritik "an der einseitigen Perspektive des Empfängers",92 welche die überkommene juristische Sprachauffassung in ihrer Form als Auslegungstheorie kennzeichnet. Auch er möchte die Sprachtheorie vorwiegend an der Kommunikationstheorie orientieren93 und "Gesetze [...] als Kommunikationsmedien im Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Anwender,,94 behandeln. In seinem komplexen Ansatz, in dem er daneben auch semiotische und pragmatische Theoreme verarbeitet, räumt Baden der "Kommunikationsstruktur des gesetzlichen Regelungsprozesses" einen zentralen Platz ein. Er übernimmt (anders als Horn) vollständig die Terminologie des kybernetischen Kommunikationsmodells, demzufolge es "bei der Kommunikation [...] um die Übermittlung von Information von einem Sender zu einem Empfänger" geht, bei der mittels des Prozesses der "Codierung" die "Information" als "Signal" über den "Kanal" an den "Empfänger" gesendet wird, um von diesem "decodiert" zu werden.95 Sprache kommt dabei nur insofern in den Blick, als "bei der Übertragung von Information stets ein 'Umweg' über Zeichen erforderlich" ist.96 Baden fällt damit hinter die Einsichten Horns zurück, was vor allem bei seinem statischen Zeichenbegriff deutlich wird, demzufolge "Sender und Empfänger über denselben Zeichenvorrat (Code) verfügen", d.h. "in der Beurteilung sämtlicher Relationen des Zeichens übereinstimmen" mÜ8sen.97 Baden verficht hier das, was ich "TopfTheorie der Bedeutung" nennen möchte: "Im [...] Idealfalle [...] entnimmt der Empfänger der Zeichenfolge dem Kommunizierten genau die Nachricht, die der Sender hineingelegt hat".98 Baden vertritt also eine Sprachtheorie, wonach die hier als "Information" bezeichneten Bedeutungen geschlossen und fertig wie ein dinglicher Gegenstand auf irgendeine mystische Weise aus dem Kopf des "Senders" in das Gefäß des "Zeichens" bzw. "Signals" wandern, dort buchstäblich zum "Empfänger" "transporliert" werden, um bei diesem den Prozeß der Transsubstantiation in umgekehrter Weise ("Decodieren") aber unversehrt zu durchlaufen.
92 Baden 1977, 103. 93 Baden 1977, 22.
94 Baden 1977, 83. 95 Baden 1977, 141 f. 96 Baden 1977, 142. 97 Baden 1977, 145. 98 Baden 1977, 147. Zur Kritik am klassischen informationstheoretischen Kommunikationsmodell vgl. Busse 1992b.
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5. Sprachtheoretische Ausfacherungen
Stellen wir uns dementsprechend die "Informationen" als Tennis-Bälle vor, dann ist der "Code" ein Materiallager verschiedenster solcher Bälle ("Zeichen"), welche schlicht in die Hand genommen, in das Transportmedium "hineingelegt" (s.o.), und am Ende entgegengenommen werden müssen. Baden baut damit just auf dem "Grundsatz der Identität" des Zeichens auf, den Horn zehn Jahre vorher scharf kritisiert hatte, und radikalisiert diese Identitäts-Vorstellung auf unglaublich verdinglichende Weise. Es liegt nahe, daß jedes Changieren der Bedeutung im Verstehens- bzw. Auslegungsprozeß in einer solchen Gefäßtheorie als "Störungen im Kanal" erscheinen muß. 99 Damit aber wird "Verstehen" als solches zu einer potentiellen "Störung", nämlich wenn der "Code" des Gesetzesanwenders nicht mit demjenigen des Gesetzgebers "übereinstimmt".100 Es verwundert dann nicht mehr, daß im Lichte einer solchen Auffassung selbst dasjenige, was in sprachtheoretischer Hinsicht gerade die spezifische Leistung sprachlicher Verständigung ist, zu einer Gefahr wird: "Die Gefahr liegt darin, daß der Nachrichtenempfänger die Zeichen zunächst einmal als bekannt registriert und wie selbstverständlich mit der ihm geläufigen Bedeutung verbindet."101 Daß Baden diesen Prozeß als Gefahr empfmden kann, hängt mit seiner scharfen Ablehnung der Hermeneutik und ihres "Verstehens"-Begriffs zusammen, v.a. der These der objektiven Theorie, man könne "einen Autor besser verstehen als er selbst". Jegliches "Abweichen" eines Interpreten von der Meinung des Textproduzenten (Gesetzgeber) wird dann zu einer "Störung" der Kommunikation. 102 Während Baden also jegliche subjektiven Implemente bei der Textinterpretation scharf ablehnt, propagiert er einen radikalen Subjektivismus auf der Seite des Textautors (wer auch immer das bei Gesetzen sein mag): Er stellt die Aufgabe "genau dasjenige aus einem Text herauszulesen, was der Sender der Information hineingelegt hat."l03 Indem Baden auf seine eigene Metaphorik hereinfällt, die ihm die wörtlich verstandene Identität des transportierten Gegenstandes "Information" suggeriert, und indem er die Termini "Bedeutung' und "Verstehen" aus seinem Modell exorziert, verkennt er grundlegend die eigentliche Funktionsweise von Sprache und verkürzt diese so weit, daß ihmJegliche Interpretation von Rechtstexten als "RechtsfOTtbildung' erscheint. 1 99 "Der Empfänger kann mit den ihm übermittelten Zeichen eine andere Bedeutung verbinden. Diese Störungen [... ] treten bei dem jeweiligen Umwandeln von Zeichen in'geistige Inhalte' oder in andere Zeichen (bzw. umgekehrt) [...] auf." Baden 1977, 144.
100 Baden 1977, 153. 101 Baden 1977, 154. 102 Baden 1977, 148. 103 Baden 1977, 107. 104 Baden 1977, 90, 108, 130, 155.
5.2 Kommunikationstheorie, Semiotik und Anderes
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Den casus belli sieht Baden dort, wo ein Textinterpret aufgrund einer "Störung [...], welche aus Diskrepanzen in den benutzten Code resultiert, [...] auf die Benutzung anderweitigen Wissens angewiesen" ist. 105 Baden kann allerdings nicht angeben (problematisiert, ja erwähnt es nicht einmal), wie bei dem Wissen eines Interpreten zwischen "anderweitigem Wissen" und demjenigen unterschieden werden soll, das Baden gar nicht explizit als Wissen einführt, sondern als "Verfügen über den Code" gefäß-metaphorisch verdinglicht. Würde er auch den "Code" in Termini des Wissens fassen, dann müßte er zugestehen, daß subjektive Implemente bei jedem Sprachverfügen ins Spiel kommen, und seine Gefäß-Metapher (bzw. die ganze kybernetische Terminologie) aufgeben. Wenn Baden als "Verstehen" nur "diejenige Aktivität des Empfängers" zuläßt, "die sich auf ein Ermitteln des vom Sender Kommunizierten beschränkt,,/06 dann kann er nicht erklären, worin denn dieses "Kommunizierte" besteht, bzw. aufgrund welcher Kriterien es möglich sein soll, das "Kommunizierte" von weiteren Sinnmomenten zu unterscheiden. Insgesamt sind Badens Versuche hilflos, mittels der kybernetischen Kommunikationstheorie "das Abstellen auf das Herrühren einer Nachricht vom Gesetzgeber"107 zu garantieren; seinen Überlegungen fehlt (wenigstens an dieser Stelle) jegliches Gespür für die Besonderheiten und Funktionsweisen spezifIsch sprachlicher Kommunikation, die in Topfmodellen nicht erfaßt werden kann. Baden korrigiert diesen Mangel, der darin besteht, daß - wie es Horn formulierte - der Erklärungswert der Kommunikationstheorie hinsichtlich Sprache, Bedeutung und Verstehen "gegen null geht", damit, daß er die Zeichentheorie in seinen Ansatz mit hineinnimmt und damit doch noch zu einer Semantik (die er bislang bewußt ausgeklammert hat) kommt. Seine zeichentheoretischen Überlegungen zeigen, daß der Umweg über die Kommunikationstheorie für die Semantik völlig überflüssig ist und sogar (siehe Metaphorik) kontraproduktiv werden kann. Der rechtsmethodische Ertrag der kommunikationstheoretischen Bemühungen Badens ist denn auch recht gering: Die Reduktion von Sprache auf den Transport von Informationen nach dem "Tennisball-Modell" und die daraus abgeleitete Reduktion des Verstehens auf eine dinglich mißverstandene Identität von Sender- und Empfänger-Codes dient nur dem Zweck, nahezu sämtliches Textverstehen, wenn es subjektive Implemente enthält (und das tut es notwendig), dem Bereich der "Störungen", eigentlich aber dem Bereich der "Rechtsfortbildung" zuzuschreiben. Sinn des Manövers ist es, mit dieser radikalen Ausweitung der "Rechtsfortbildung" die Grenzen zur 105 Baden 1977, 155. 106 Baden 1977, 157. 107 Baden 1977, 158.
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5. Sprachtheoretische Ausfächerungen
"Rechtsanwendung" SO weit zu verschieben, daß nahezu jegliche Interpretation von Rechtstexten in den Bereich der Fortbildung gerät, womit aber notwendig verbunden ist, daß Rechtsfortbildung nicht mehr als Fehler sanktioniert werden kann, sondern als zulässiger Normalfall anerkannt werden soll: Mit diesem Begriff der Rechtsfortbildung "kann es nicht mehr mit Fog um die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung als solche gehen, sondern nur noch um Methoden und Grenzen".l08 Dieses gewünschte Ergebnis hätte Baden allerdings auch schneller und ohne den Umweg über das irreführende kybernetische Kommunikationsmodell mit seiner Topf-Metaphorik und Identitätsbehauptung haben können. Es mutet deshalb auch merkwürdig an, wenn als rechtmethodischer Ertrag nach der in scharfem Ton vorgetragenen Adaption der Kommunikationstheorie und des Identitäts-Theorems ("daß Sender und Empfänger mit den benutzten Zeichen auch dieselbe Bedeutung verbinden") nicht mehr übrig bleibt als die Forderung, "auf die 'übliche', d.h. intersubjektiv relativ einheitlich beurteilte Bedeutung eines Zeichens Rücksicht zu nehmen".109 Für dieses Ergebnis hätte es des Ausflugs in die Informationstheorie nicht bedurft. 11o Dies wird deutlich, wenn Baden unter Aufnahme von Gedanken der Semiotik die kommunikative Funktion sprachlicher Zeichen auf die "ihnen eigene Beziehung zur außersprachlichen Wirklichkeit" zurückführt: "Die Zeichen stehen für bestimmte Objekte, sie erfüllen [...] eine 'Verweisungsfunktion,."lll Baden referiert hier eine der Versionen der aliquid-stat-pro-aliquoGrundthese der traditionellen Zeichenlehre,lU welche den Sprachzeichen eine Stellvertreter-Funktion für die Wirklichkeit zuschreibt. Als Theorierichtung, welche seit den 60er Jahren eine neue Blüte erlebte, ist auch die Semiotik (wie die Kommunikationstheorie) gelegentlich von Juristenll3 für
108 Baden 19T1, 158. 109 Baden 19T1, 159. 110 Es mag aber symptomatisch für das Fehlen des kommunikativen Aspekts in den zeitgenössischen Sprachtheorien sein, daß ein interessierter Laie wie Baden auf die Kommunikationsmodelle einer aus der Nachrichtentechnik entstandenen Informationstheorie zurückgeworfen ist, die mit den spezifischen Fragen der Sprachtheorie und sprachlicher Verständigung aber auch gar nichts zu tun haben und nur deswegen unter dem falschen Etikett der "Kommunikationstheorie" firmieren können, weil eine spezifISCh spraChwissenschaftliche Theorie kommunikativer Verständigung und Interaktion fehlt. Vgl. dazu auch Busse 1992 b. 111 Baden 19TI, 163 f. 1U Vgl. dazu Nöth 1985. Eine andere klassische Fassung der "stat-pro"-Relation adaptiert Kalinowski 1979, 245: "der Ausdruck ist das Zeichen eines Gedankens. [...] Das Significatum ist genau gesagt der Gedanke, der durch einen Ausdruck gemeint ist.'
113 Neben Baden noch von Vernengo 1965, der sogar das Recht als solches als "Zeichen" auffaßt; Seibert 1m, 45; Seibert 1979; Kalinowski 1979, 245; Hegenbarth 1982, 91; Bund 1983, 14; Wank 1985, 11.
5.2 Kommunikationstheorie, Semiotik und Anderes
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ihre Zwecke bemüht worden. Schreckenberger, der "die semiotische Analyse als eine Grundlagendisziplin der Rechtswissenschaft" bezeichnet, hat sogar eine Monographie unter den Titel "Rhetorische Semiotik" gestellt.1l4 Er referiert auf knappen zwei Seiten das Zeichenmodell von Ch.Morris,115 ohne daß ersichtlich wird, was die spezifisch semiotische Leistung seiner Ausführungen zur Rechtssprache sein soll. Zudem leistet er sich einen ziemlich unkonventionellen Begriff von Semiotik, wenn er diese als "Rekonstruktion des Vollzugs allgemeiner Sprachhandlungen" darstellt.1l6 Zwar nicht in Einklang mit den Strömungen der zeitgenössischen Semiotik, jedoch in Annäherung an neuere sprachwissenschaftliche Positionen bezeichnet Schreckenberger die Sprachzeichen als "komplexe Handlungsschemata", erläutert jedoch dieses Konzept nicht näher. Vielmehr werden die Morrisschen Zeichendimensionen (Syntaktik, Semantik, Pragmatik) pauschal als "semiotische Struktur" eines Sprachgebrauchs bezeichnet, dessen Handlungsaspekt die semiotischen Regeln zu "rhetorischen" Regeln mache. 1l7 Der Terminus "Bedeutung" beziehe sich auf alle drei Zeichendimensionen. Daß Schreckenbergers Ansatz mehr der Linguistischen Pragmatik als der Semiotik im gängigen Sinne verpflichtet ist, zeigt der ausdrückliche Einbezug kontextueller und situativer Momente des Sprachgebrauchs in sein Sprachmodell: "Die syntaktischen und semantischen Strukturen der Texte und Argumentationen, die ihre zeichentheoretische Grundlage in der pragmatischen Dimension finden, erweisen sich als abstrakte Momente eines komplexen kommunikativen Prozesses, der sich in Situationen sprachlich vermittelter Interaktion vollzieht. Der Pragmatik gebührt als dem umfassenden Bezugsrahmen der methodologische Vorrang."llS Entgegen seines Titels ist Schrekkenbergers Ansatz daher nicht in die Semiotik einzuordnen. 1l9 Es muß offen bleiben, ob die pragmatischen Implemente seines Konzepts wirklich im Sinne einer linguistischen Pragmatik zu deuten sind, oder ob sich nicht da114
Schreckenberger 1978, 17.
115 Morris 1m und 1973. 116 Schreckenberger 1978, 17. 117 Schreckenberger 1978, 32. 118 Schreckenberger 1978, 44; vgl. auch 40 f. 119 Dafür mag symptomatisch sein, daß Schreckenberger in der Einleitung