Einführung in die romanische Sprachwissenschaft 9783110945164, 9783484501393


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VORWORT DES HERAUSGEBERS
PHONETISCHE UMSCHRIFT
EINFÜHRUNG
1. Die Romanistik als Wissenschaft
2. Die drei Paradigmen der Romanistik
ERSTER TEIL
I. DIE KLASSISCHE KONZEPTION
1. Das klassische Sprachdenken
2. Die Romanistik in der klassischen Zeit
II. UNTER DEM VORZEICHEN DER GESCHICHTE
1. Das historische Paradigma
2. Friedrich Schlegel und die Sprachtypologie
3. Die Anfänge der Komparatistik: François Raynouard
4. Die Geburt der Romanistik: Friedrich Diez
5. Die Ausbreitung der historisch-vergleichenden Methode
6. Die Junggrammatiker
7. Wilhelm Meyer-Lübke
8. Die Wellentheorie
9. Hugo Schuchardt
10. Die Dialektologie: Graziadio Isaia Ascoli
11. Die Sprache im Raum
12. Bilanz der historisch-vergleichenden Methode
III. DIE STRUKTURALISTISCHE LINGUISTIK UND DIE GENERATIVE GRAMMATIK
1. Der Strukturalismus und Ferdinand de Saussure
2. Das sprachliche Zeichen
3. Langue und parole
4. Das Phonem und die suprasegmentalen Merkmale
5. Paradigmatische und syntagmatische Achse
6. Jenseits vom Grundsatz der Linearität
7. Synchronie und Diachronie
8. Der Begriff „Struktur“
9. Das Modell Chomskys
10. Die Bedeutung der Chomskyschen Revolution
11. Die Kasusgrammatik von Fillmore
12. Die Hierarchie der Ebenen
ZWEITER TEIL
IV. STANDARD, VARIATION UND STIL
1. Sprachstile
2. Sprache und soziale Klasse
3. Sprache und Dialekt
4. Menschen „ohne Sprache“
5. Die Sprachgeographie
V. DAS LATEINISCHE
1. Epochen und Stile
2. Entwicklungen innerhalb des Lateins
3. Das Kasussystem und seine Entwicklung
4. Die Entstehung des romanischen Artikels
5. Zur Phonologie
6. Quellen des Vulgärlateins
7. Die Interpretation der Quellen
VI. DIE ROMANISCHEN SPRACHEN
1. Die Romania
2. Die romanischen Sprachen
VII. CHARAKTERISTISCHE MERKMALE DER ROMANISCHEN SPRACHEN
1. Kriterien für eine Klassifikation
2. Grammatische Eigenheiten der romanischen Sprachen
VIII. DIE SEMANTIK
1. Wo liegt die Bedeutung?
2. Beziehungen unter Lexemen
3. Die Komponentialanalyse
4. Der Status der semantischen Merkmale
5. Zur Charakterisierung des romanischen Wortschatzes
IX. DIE PHONOLOGIE
1. Von der strukturalistischen zur generativen Phonologie
2. Die Sprachen der Romania kontinua
3. Zur Phonologie des Französischen
4. Die Phonologie des Rumänischen
Autorenregister
Sprachkarten
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Einführung in die romanische Sprachwissenschaft
 9783110945164, 9783484501393

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LORENZO RENZI

Einführung in die romanische Sprachwissenschaft

LORENZO RENZI

Einführung in die romanische Sprachwissenschaft Herausgegeben von Gustav Ineichen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel INTRODUZIONE ALLA FILOLOGIA ROMANZA im Verlag Societä editrice il Mulino, Bologna.

Die deutsche Übersetzung wurde von Sabine Goebbels vorbereitet und vom Herausgeber in Zusammenarbeit mit dem Autor durchgesehen.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Renzi, Lorenzo: Einführung in die romanische Sprachwissenschaft / Lorenzo Renzi. Hrsg. von Gustav Ineichen. [Die dt. Übers, wurde von Sabine Goebbels vorbereitet u. vom Hrsg. in Zusammenarbeit mit d. Autor durchges.]. -Tübingen : Niemeyer, 1980. Einheitssacht.: Introduzione alia filologia romanza (dt.) ISBN 3-484-50139-1

© Originalausgabe: 1976 by Societä Editrice II Mulino, Bologna. ISBN 3-^84-50139-1 © Deutsche Ausgabe: Max Niemeyer Verlag Tübingen 1980 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten/Allgäu. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis

VORWORT DES HERAUSGEBERS PHONETISCHE UMSCHRIFT EINFÜHRUNG 1. Die Romanistik als Wissenschaft 2. Die drei Paradigmen der Romanistik

VII XIII l l 3

ERSTER TEIL I. DIE KLASSISCHE KONZEPTION 1. Das klassische Sprachdenken 2. Die Romanistik in der klassischen Zeit II. UNTER DEM VORZEICHEN DER GESCHICHTE 1. Das historische Paradigma 2. Friedrich Schlegel und die Sprachtypologie 3. Die Anfänge der Komparatistik: Francois Raynouard 4. Die Geburt der Romanistik: Friedrich Diez 5. Die Ausbreitung der historisch-vergleichenden Methode 6. Die Junggrammatiker 7. Wilhelm Meyer-Lübke 8. Die Wellentheorie 9. Hugo Schuchardt 10. Die Dialektologie: Graziadio Isaia Ascoli 11. Die Sprache im Raum 12. Bilanz der historisch-vergleichenden Methode III. DlE STRUKTURALISTISCHE LINGUISTIK UND DIE GENERATIVE GRAMMATIK 1. Der Strukturalismus und Ferdinand de Saussure 2. Das sprachliche Zeichen 3. Langue und parole 4. Das Phonem und die suprasegmentalen Merkmale 5. Paradigmatische und syntagmatische Achse 6. Jenseits vom Grundsatz der Linearität 7. Synchronie und Diachronie 8. Der Begriff „Struktur" 9. Das Modell Chomskys 10. Die Bedeutung der Chomskyschen Revolution 11. Die Kasusgrammatik von Fillmore 12. Die Hierarchie der Ebenen

29 29 31 32 33 35 36 37 40 41 47 48 51

ZWEITER TEIL IV. STANDARD, VARIATION UND STIL

54

6 6 8 11 11 12 15 15 17 18 20 21 23 24 25 27

VI

Inhaltsverzeichnis

1. 2. 3. 4. 5.

Sprachstile Sprache und soziale Klasse Sprache und Dialekt Menschen „ohne Sprache" Die Sprachgeographie

54 58 60 63 64

V. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

DAS LATEINISCHE Epochen und Stile Entwicklungen innerhalb des Lateins Das Kasussystem und seine Entwicklung Die Entstehung des romanischen Artikels Zur Phonologic Quellen des Vulgärlateins

68 68 70 71 77 80 83

(1) Lateinische Grammatiken. (2) Inschriften. (3) Briefe. (4) Fachliteratur. (5) Literarische Werke. (6) Glossen.

7. Die Interpretation der Quellen VI. DIE ROMANISCHEN SPRACHEN 1. Die Romania 2. Die romanischen Sprachen

86 88 88 90

(I) Das Portugiesische. (2) Das Spanische. (3) Das Katalanische. (4) Das Französische. (5) Das Okzitanische. (6) Das Frankoprovenzalische. (7) Das Sardische. (8) Das Italienische. (9) Das Ladinische. (10) Das Dalmatische. (II) Das Rumänische.

VII. CHARAKTERISTISCHE MERKMALE DER ROMANISCHEN SPRACHEN . . . 1. Kriterien für eine Klassifikation 2. Grammatische Eigenheiten der romanischen Sprachen

106 106 109

(1) Die Kasus. (2) Der Artikel. (3) Die Stellung von Substantiv und Adjektiv. (4) Das Neutrum. (5) Das Adverb. (6) Der Konditional. (7) Das Futur. (8) Die obligatorische Setzung der Personalpronomina. (9) Die Verneinung. (10) Die Frage. (11) Der Teilungsartikel. (12) Die Reihenfolge der Satzglieder. (13) Die Diminutivbildung. (14) Das Wort als Bedeutungsträger. (15) Spanisch ser und estar, haber und tener. (16) Das Perfekt. (17) Die Pluralbildung.

VIII. 1. 2. 3. 4. 5. IX. 1. 2. 3. 4.

DIE SEMANTIK Wo liegt die Bedeutung? Beziehungen unter Lexemen Die Komponentialanalyse Der Status der semantischen Merkmale Zur Charakterisierung des romanischen Wortschatzes

125 125 125 129 132 135

DIE PHONOLOGIE Von der strukturalistischen zur generativen Phonologie Die Sprachen der Romania kontinua Zur Phonologie des Französischen Die Phonologie des Rumänischen

139 139 143 147 153

Autorenregister Sprachkarten

155 161

Vorwort des Herausgebers

Eine Einführung in die Sprachwissenschaft, die ihrem Anspruch gerecht werden soll, besteht aus einer didaktisch konzipierten Darstellung der Disziplinen unter dem Gesichtspunkt der Methoden und des einschlägigen Materials. Dabei besteht das wesentliche des Anspruchs darin, Verständnis dafür zu wecken, wie sich die Probleme der Linguistik konstituieren, was fachspezifische Verfahren sind und wie diese zur Anwendung gelangen. Dazu braucht man geeignetes Material, einerseits, um die Positionen der Theorie zu reflektieren, andererseits aber auch, um sich im Umgang mit demselben zu üben. Wir nennen eine solche Darstellung „systematisch", weil wir der Auffassung sind, daß die Hinwendung der linguistischen Problematik auf irgendwelche Bereiche der Anwendung im Grunde ein anderes Geschäft ist. Alle systematischen Wissenschaften haben eine bestimmte Gestalt in Form von Theorien. Diese Gestalt ist jeweils eigentümlich und beruht u. a. auf gewissen Annahmen über das Objekt. Man kann jedoch in ganz verschiedenen Zusammenhängen über die Sprache reden, ohne dabei die Linguistik als Wissenschaft zu involvieren. Man kann sich auch eine h e r m e n e u t i s c h e Sprachwissenschaft denken, die interessante Fälle, z.B. in Texten erörtert, ohne dabei eine Theorie zu beanspruchen oder auch nur beanspruchen zu müssen. Auf diese Weise entscheiden wir für das Folgende die Frage, was denn Sprachwissenschaft sei, und was nicht. Allerdings soll damit das Abgrenzungsproblem, das auch in anderen Wissenschaften mehr oder weniger stringent auftritt, nicht mit einem Hieb durch den Gordischen Knoten gelöst sein. Drei Gründe haben uns veranlaßt, das Einführungsbuch von Renzi in einer deutschen Fassung vorzulegen. Sein Autor unternimmt zunächst den Versuch, die traditionell nicht unbedeutende Sprachwissenschaft der Romanistik in den systematischen Rahmen der neueren Linguistik zu stellen. Dazu kommt, daß die Darstellung der Sprachen der Romania bei Renzi unter typologischen Gesichtspunkten erfolgt. Die hauptsächlichen methodologischen Ansätze schließlich, die hier mit dem Terminus des wissenschaftlichen Paradigmas belegt werden, sind nicht - wie so oft - polemisch, sondern unter dem Gesichtspunkt der fundamentalen Einheit einer Wissenschaft von der Sprache begriffen. (Es ergeben sich daraus eine Reihe von Fragen im Vergleich zur Geschichte der Philosophie und zur Tradition der Philologie, auf die nur andeutungsweise Bezug genommen wird.) Der Versuch einer systemlinguistischen Darstellung der romanischen Sprachen beinhaltet, daß außerlinguistische Fragen - die Situation von Sprachen und Dialekten in ihrem soziokulturellen Kontext - keinen eigenen Stellenwert erhalten, sondern nach Möglichkeit im Rahmen der Systematik behandelt werden. Gegebenheiten der Historic sind nur insofern relevant, als sie in den Sprachsystemen jeweils ihren Niederschlag finden. Das Buch unterscheidet sich deshalb nicht unerheblich vom herkömmlichen Konzept der Sprachgeschichte, wie sie sich vor allem unter deutschem Vorbild herausgebildet hat. Der Standpunkt ist integrierend, geht

VIII

Vorwort des Herausgebers

also bei der Beurteilung der außerlinguistischen Fakten vom System sozusagen nach außen und von außen wiederum zum System: sofern das machbar ist. Ein neueres Gegenbeispiel dazu ist die französische Sprachgeschichte von Berschin/Felixberger/Goebl.1 Man findet dort eine Einführung in die historische Sprachwissenschaft, eine Beschreibung des Lateinischen als Basissprache des Romanischen und eine sog. interne Geschichte des Französischen von den Anfängen bis zur Gegenwart, gleichzeitig aber auch die einschlägigen Kapitel der externen Geschichte und eine Darstellung der sprachlichen Gliederung Frankreichs. Bei aller linguistischen Versiertheit geht es diesen Autoren offensichtlich vor allem darum, die in den genannten Sparten notwendige Basisinformation zu liefern, und nicht darum, die romanistische Sprachwissenschaft in einer bestimmten Gestalt darzustellen. Dieses Verfahren liefert eine Art sprachhistorisch begründetes Frankreichbild, das durch die Beschäftigung mit der Geschichte der Literatur vervollständigt werden kann, dabei aber auch nützliche Hilfen für die Sprachpraxis gibt. Diese wird sprachwissenschaftlich oft noch weiter abgestützt.2 Was dabei nicht direkt berücksichtigt ist, ist der Beitrag der Landeskunde, die sich neuerdings mit oiner gewissen Insistenz wiederum zum Wort meldet.3 Heute geht es allerdings nicht mehr um den traditionellen Begriff der Sprachgeschichte von der ursprünglichen „Sprache und Geist"-Version bis zur Vosslerschen „Kultur und Sprache" und darüber hinaus. Zwar setzt sich auch Renzi - wie alle italienischen Autoren - gerade mit der älteren deutschen Tradition ausführlich auseinander.4 Was heute zur Diskussion steht, ist jedoch eine mehr „soziolinguistische" Orientierung dieses an sich unveränderten, wohl aber oft anders gewichteten Komplexes. Für die Sprachwissenschaft läuft dies auf eine immer wieder variierte Alternative heraus. Entweder man betreibt eine Linguistik des Romanischen (bzw. gegebenenfalls eine Linguistik der romanischen Einzelsprachen), oder man konstituiert Schulfächer, z.B. Französisch oder Spanisch, in denen sich verschiedene Disziplinen — ev. mit Beschneidungen und Distorsionen — anteilig zu einem Ganzen zusammenfügen. Im ersten Fall muß sich der Studierende das Bild seines Faches aus verschiedenen Wissenschaften selbst erarbeiten. Im zweiten Fall berücksichtigt man die Forderung nach berufs- und praxisbezogenen Studiengängen, womit gewöhnlich die Lehrerausbildung gemeint ist. 1

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4

H. Berschin, J. Felixberger, H. Goebl, Französische Sprachgeschichte, München 1978. Die Darstellung der internen Geschichte - wo man übrigens, vor allem in der Morphosyntax, auch einige Fehler findet - ist erwartungsgemäß eher fragmentarisch, weil die externe Geschichte dann das Übergewicht erhält. Z.B. L. Soll, Gesprochenes und geschriebenes Französisch, Berlin 1974. B. Müller, Das Französische der Gegenwart, Heidelberg 1975. Z.B. G. Baumgratz, R. Picht (Hrsg.), Perspektiven der Landeskunde II. Arbeitsansätze für Forschung und Unterricht, Tübingen 1973. Vgl. A. Värvaro, Storia e prospettive della storia della lingua, in: M. Gnerre, M. Medici, R. Simone, Storia linguistica dell'Italia del Novecento, Rom (SLI) 1973, S. 5-13, bzw. in erweiterter Fassung als Storia della lingua: passato e prospettive di una categoria controversa, in: Romance Philology 26 (1972), S. 16-51, 509-531. Stark fachhistorisch ausgerichtet ist auch das Buch von Värvaro: Storia problemi e metodi della linguistica romanza, Neapel 1968.

Vorwort des Herausgebers

IX

Nach unserer Vorstellung ist dieses Problem optimal nicht lösbar, weil die beteiligten Wissenschaften eine jeweils andere Gestalt (oder keine solche) haben. Infolge seiner typologischen Konzeption ist das vorliegende Buch der einzelsprachlichen Ausrichtung zwar weniger entgegenkommend, aber es fördert das Verständnis für das Romanische als solchem. Im Sinne einer limitierten Typologie steht im Zentrum der Begriff des Romanischen als eines bestimmten, durch charakteristische Merkmale ausgezeichneten Typs. Das Augenmerk liegt auf der mehr oder weniger ausgeprägten formalen Einheit, die trotz unterschiedlicher Explikate zumindest tendenziell immer wieder in Erscheinung tritt. Die Erfahrung, die es zu machen gilt, ist die, daß es so etwas wie das Romanische, eine romanische Welt gibt, die über alle einzelsprachlichen und kulturell mehr oder weniger stark variierenden Prägungen hinaus- mit mannigfaltigen Interferenzen und Abwandlungen — eben romanisch ist. Der oben genannte dritte Punkt ist methodologischer Art und braucht nach dem Gesagten hier nicht weiter diskutiert zu werden. Die Auffassung ist die, daß die verschiedenen Methoden Unterschiedliches leisten, und daß es dabei Hierarchien gibt. Dies bringt Probleme für die Praxis, und zwar sowohl hinsichtlich der Methoden als auch hinsichtlich der Auswahl des Materials. Daran ändert auch die Berufung auf eine exemplarische Auswahl nichts; denn die Sprachwissenschaft operiert immer exemplarisch, und es gehört schon fast zur höheren Schule, nicht nur zu wissen, daß alle Sätze dieser Wissenschaft anhand von Beispielen erörtert werden, sondern auch, daß es dabei recht unterschiedliche Verfahren gibt. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die neuesten „Empfehlungen" des Wissenschaftsrates zum Studium der Romanistik, dann kann man eher erstaunt sein.5 Man liest dort, im Rahmen eines sprachpraktisch, landeskundlich, sprachwissenschaftlich und literaturwissenschaftlich begriffenen Baukastensystems zur „Kompetenz" in der Sprachwissenschaft punktuell das Folgende: Die „sprachwissenschaftliche Kompetenz" umfaßt Vertrautheit auf folgenden Gebieten: „( 1) Analyse sprachlicher Informationsprozesse im öffentlichen Bereich. (2) Behandlung von sprachlichen Norm- und Normierungsproblemen. (3) Analyse der Veränderung von Sprachsystemen und der Ursache von Sprachwandel. (4) Bearbeitung komplexer Sprachfragen im Hinblick auf interdisziplinäre Zusammenhänge: so z. B. im Bereich der Sprachsoziologie von Problemen sprachlicher Minderheiten und sozialer Schichten; im Bereich der Sprachpsychologie von Problemen des Spracherwerbs, der Verständlichkeit, der Wirkung von Äußerungen und Texten; sowie in bestimmtem Umfang: Analyse von Formen von Sprachstörung (Sprachpathologie); Bearbeitung von Grundfragen der sprachlichen Datenverarbeitung (Informatik)." Nach diesem Programm ist die Kompetenz in der systematischen Sprachwissenschaft in der Romanistik, wie man sie üblicherweise ansetzt, entweder etwas großzügig vorausgesetzt oder einfach unter den Tisch gewischt. Man ist versucht zu sagen, die Sozialisierungswelle zeitige ihre Früchte im Mangel an einer sachspezifischen Grundausbildung, wie sie für jegliche Linguistik bekanntlich unerläßlich ist, und dabei festzustellen, daß im Lande des Historismus auch die Historie zu verschwinden droht. Für den Einstieg in dieses Programm ist das vorliegende Buch 5

Vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zur Differenzierung 1978, S. 58 f.

des Studienangebots, Bonn

X

Vorwort des Herausgebers

aller Wahrscheinlichkeit nach nicht brauchbar. Man fragt sich deshalb mit Rebecca Posner, die ein neues Einführungsbuch als Herausgeberin ankündigt, was die romanische Sprachwissenschaft denn eigentlich benötigt.6 Auch Posner hält wie andere Romanisten am konventionellen Begriff der romanischen Sprachwissenschaft fest. Gleichzeitig wird aber auch festgestellt, daß sich nicht nur die Lehrerausbildung, sondern paradoxerweise auch die universalistisch ausgerichtete Allgemeine Linguistik mittlerweile vorwiegend einzelsprachlich ausgerichtet hat. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Trotzdem scheint das Interesse an dem nach jeder Richtung günstigen Datenfeld der Romanistik wiederum zuzunehmen, und zwar zusammen mit dem neu erwachten Interesse an den verschiedenen Formen der sprachlichen Variation. Sieht man von Studienführern7 und von Darstellungen ab, die sich nach den Worten Posners mehr an den interessierten Laien wenden, nämlich Posner (1966), Camproux (1974) und wohl auch Deutschmann (1971),8 dann kann man in der Romanistik auf drei maßgebliche Einführungsbücher verweisen. Das erfolgreichste ist unbestritten dasjenige von lordan; es wurde in verschiedenen Sprachbereichen benutzt und dem jeweiligen Stand der Forschung mehrmals angepaßt.9 Darauf folgen das Handbuch von Vidos10 und die „Einführung" von Tagliavini.11 Diese 6

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11

R. Posner, What does Romance Linguistics need? in: Linguistics 197 (1977), S. 67-72. Man vergleiche dazu auch Y. Malkiel, Distinctive Traits of Romance Linguistics, in: D. Hymes (Hrsg.), Language in Culture and Society, New York 1964, bzw. in: J. M. Anderson, J. Creore, Readings in Romance Linguistics, Den Haag-Paris 1972, pp. 13-38, wo mittlerweile jedoch neue Gesichtspunkte auch im Hinblick auf das vorliegende Buch zu berücksichtigen sind. — Zum Stand der Romanistik als Studienfach verweisen wir auf den Kritischen Überblick (mit Bibliographie) von H. H. Christmann, Romanistik, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jg. 7 (1977), H. 25, S. 27—42. - Ferner: U. L. Figge, Die Entwicklung der Sprachwissenschaft des Französischen in der Bundesrepublik von 1945 bis 1975, in: Kritik der Frankreichforschung 1871-1975, ArgumentSonderbände AS 13, hg. v. W. F. Haug, Berlin 1977, S. 200-215. Z.B. G. Rohlfs, Romanische Philologie, 2. Bde., Heidelberg 1950-1952. A. Monteverdi, Manuale di avviamento agli studi romanzi, Mailand 1952. R. Rohr, Einführung in das Studium der Romanistik, Berlin 1964. - A. Kühn, Romanische Philologie. L Teil: Die romanischen Sprachen, Bern 1951, ist ein Forschungsbericht. R. Posner, The Romance Languages, New York 1966. Ch. Camproux, Les langues romanes, Paris 1974 (Que sais-je). O. Deutschmann, Latein und Romanisch, München 1971. Nämlich: I. lordan, Introducere in studiul limbilor romanice, Evolutia ji starea actualä a lingvisticii romanice, Ia§i 1932. I. I., J. Orr, An Introduction to Romance Linguistics, its Schools and Scholars, London 1937 (in dieser Fassung ins Italienische übersetzt: Turin 1973), I. L, J. Orr, R. Posner, mit demselben Titel: Oxford 1970. I. L, Einführung in die Geschichte und Methoden der romanischen Sprachwissenschaft, ins Deutsche übertragen, ergänzt und teilweise neubearbeitet von W. Bahner, Berlin 1962.1. L, Lingüistica romanica, hg. v. M. Alvar, Madrid 1967. — I. L, M. Manoliu Manea, Introducere in lingvistica romanica, Bukarest 1965 (in italienischer Fassung, Padua 1974), hat mit den genannten Einführungen nichts zu tun. E. B. Vidos, Handboek to de Romaanse Taalkunde, Nimwegen 1956. Auf italienisch übersetzt 1959, auf spanisch 1963; deutsch: Handbuch der romanischen Sprachwissenschaft, München 1968. C. Tagliavini, Le origini delle lingue neolatine, Bologna 1949, 61972. Deutsch: Einführung in die romanische Philologie, München 1973.

Vorwort des Herausgebers

XI

Bücher geben einen Überblick über das, was man auch als die klassische Romanistik bezeichnen könnte. Auch die „Einführung" Wartburgs, obwohl sie allgemeinlinguistische Ansprüche erhebt, ist im Grunde ein Buch der Romanistik.12 Dagegen sind wohl weder Lausberg noch die geplante vergleichende romanische Grammatik von Hall als Einführungen aufzufassen.13 Im Falle Wartburgs ist jedoch bemerkenswert, daß er mit dem Versuch, die Romanistik in den Rahmen der Allgemeinen Linguistik zu stellen bzw. von der Romanistik aus zur Allgemeinen überzugehen, lange Zeit allein dastand. Malkiel spricht in diesem Zusammenhang von der Seltenheit der „joint introduction" im Romanischen.14 Eine Ausnahme bildet - zufolge seiner „exzentrischen geographischen Lage", wie er meint - Willy Bai, dessen Buch aus dem Kongo stammt.15 Die Konzeption der Handbücher scheint nicht nur durch die eigentlich sprachwissenschaftlichen Gegebenheiten der Romanistik, sondern ebensosehr durch praktische Umstände, den Geschmack der Verfasser und durch die Eigenart der Perspektiven bestimmt zu sein, unter denen das Romanische jeweils ins Blickfeld gerückt wird. lordan z.B., obwohl geographisch ein Außenseiter, erscheint unter diesem Gesichtspunkt als Vertreter einer zentraleuropäisch gelagerten Romanistik. Für diese gab es in Deutschland über Jahrzehnte kein klares Bewußtsein; in Frankreich fehlte dafür der notwendige Hintergrund.16 Eine Gruppe für sich bilden die Einführungen aus dem anglo-amerikanischen Bereich.17 12

13

14 15

16

17

W. von Wartburg, Einführung in Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft, Halle (Saale) 1943, mit fr. und sp. Übersetzungen. In der zweiten Auflage 1962 erweitert mit den Kapiteln „Phonetik und Phonologic" sowie „Sprache und Stil", beide von St. Ullmann. Der Nachdruck von 1970 konnte dem neuesten Stand der Allgemeinen Linguistik nicht mehr angepaßt werden. Vergleicht man die Daten, dann stellt man fest, daß die Allgemeine Linguistik auf die neueren Initiativen innerhalb der Theorie rascher reagierte (oder genauer: reagieren konnte) und daß es länger dauerte, bis sich diese in den Handbüchern der Romanistik niederzuschlagen begannen. - Vom Einzelsprachlichen zu „bestimmten Problemkreisen und Grundlagen der Allgemeinen Sprachwissenschaft" führt auch Ch. Schwarze, Einführung in die Sprachwissenschaft. Mit Beispielen aus dem Französischen und dem Deutschen, Kronberg/Ts. 21977. H. Lausberg, Romanische Sprachwissenschaft, Berlin 1956-1962 (Sammlung Göschen 128/128 a, 250, 1199, 1200/1200 a). R. A. Hall Jr., Comparative Romance Grammar, geplant in 6 Bänden, Bd. 1: External History of the Romance Languages, New York 1974, 21977, Bd. 2: Proto-Romance Phonology, New York 1976. Im Erscheinen begriffen ist auch A. Niculescu, A. Cristodorescu, E. Goga, C. Lupu, Manual de lingvisticä romanicä, Bd. 1: Latinitate- Romanitate, Bukarest 1975. Vgl. Y. Malkiel, A Tentative Typology of Romance Historical Grammars, in: Lingua 9 (1960), S. 321-418, hier S. 298. W. Bai, Introduction aux etudes de linguistique romane, Paris 1966. Das Buch entstand an der Universität von Leopoldville. - 1943 schrieb E. Auerbach in Istanbul eine kleine Einführung für seine türkischen Studenten, in der die Sprachwissenschaft jedoch nur knapp behandelt ist. Engl. Übersetzung: Romance Languages and Literature: Latin, French, Spanish, Provenqal, Italian, New York 1961. Ital. Übersetzung Turin 31963. Vgl. z.B. auch P. Bee, Manuel pratique de philologie romane, 2 Bde., Paris 1970-1971, wo traditionell, ohne linguistischen Rahmen, auf repräsentativen Texten gearbeitet wird. Vgl. W. D. Elcock, The Romance Languages, London 1960, von J. N. Green überarbeitete Auflage 1975; dazu R. Posner im oben zitierten Aufsatz. - Ferner: M. Pei, The Story

XII

Vorwort des Herausgebers

Wir sind hier auf die Vor- und Nachteile der erwähnten Einführungsbücher nicht eingegangen. Wir haben bloß die Gründe angegeben, warum wir dem Buch von Renzi auch im Rahmen der deutschen Übersetzungen einen Platz geben wollten. Dieses Buch, das 1976 erschien und mittlerweile bereits in der zweiten Auflage vorliegt, hat seinen Ursprung im Philologen- und Linguistenkreis von Padua, dessen Begründer Gianfranco Folena ist und dem der Schreibende ebenfalls verbunden ist. Die vorliegende deutsche Fassung des Renzi ist mit der italienischen nicht ganz identisch, in ihrer Grundkonzeption und in ihrer italienischen Tonalität jedoch dieselbe.18

18

of Latin and the Romance Languages, New York 1976. D. L. Canfield, J. C. Davis, An Introduction to Romance Linguistics, London-Amsterdam, Southern Illinois University Press 1975. Die Übersetzung beruht auf der ersten Auflage; für die zweite Auflage vorgesehene Korrekturen standen zum Teil zur Verfügung. Die Anlage der deutschen Fassung wurde mit dem Autor abgesprochen. Unter den Retouchen finden sich auch einige Vorschläge des Herausgebers. Die nachstehend genannten größeren Eingriffe stammen aus der Feder des Autors. Die Bibliographie wurde entsprechend umgearbeitet und ergänzt. — Größere Eingriffe sind die folgenden: Die Einleitung wurde abgeändert. Im ersten Kapitel wurde § l beibehalten, die restlichen in einem neuen § 2 zusammengefaßt. Im zweiten Kapitel wurden die ersten Paragraphen verändert, z.T. weggelassen (§ 2, 4, 5): d.h. der fachgeschichtliche Teil wurde gekürzt. Weggelassen wurde sodann das ganze Kapitel III, das sich mit Fragen der Literaturwissenschaft und der mittelalterlichen Philologie befaßt. Das ehemalige Kapitel IV erhielt verschiedene Zusätze (vor allem in § 5, 9, 10, 12). Im vierten Kapitel (ehemals V) wurde § 2 neu gefaßt. Im Kapitel über das Lateinische findet man einen Zusatz in § 3. Bei der Charakterisierung des Romanischen (Kap. VII) wurden in § 2 Punkt (4) und zum Teil Punkt (12) neu gefaßt, § 3 dagegen gestrichen. Im Kapitel über die Semantik (VIII) ist § 5 vollkommen neu. Im letzten Kapitel (IX, Phonologic) findet sich ein Zusatz am Ende von § 3.

Phonetische Umschrift

Die in diesem Buch verwendete phonetische Umschrift folgt im Prinzip dem System der API (Association Phonetique Internationale).1 Damit werden die in der Romanistik ursprünglich gebräuchlicheren Transkriptionen, die aber weniger genau und oft nicht eindeutig zu interpretieren sind, aufgegeben. Wir haben Transkriptionen nur dann verwendet, wenn sie uns wirklich nützlich erschienen. Gelegentlich hielten wir uns auch an die Gewohnheit vieler Romanisten, lateinische Formen (wie eine Metasprache zum Romanischen) mit Majuskeln zu schreiben. Im folgenden bringen wir eine Aufstellung der benutzten Symbole, gegebenenfalls mit einem Beispiel: Vokale:

i e a o o y 0 oe 1 3 ä,

fr. de „Fingerhut" fr.pere

it. pesca „Fischfang" it. pesca „Pfirsich"

fr. mort it. cosa fr. mot it. dove fr. lu dt. über fr. peu fr. oeuf dt. zwölf rum. fin engl. cat („schwa") im Anlaut: engl. about; im Auslaut: fr. de, dt. bitte, rum. casä usw.: Nasalisierung in fr. vent [vä] usw.

Halbvokale: j w e

fr. vient fr. roi [rwa] rum. seara

it. viene it. fuori

Konsonanten: p, b; t, d; k, g (fr. cos vs. gai, it. canto vs. gallo) m, n; ji (fr. ligne, it. bagno); (fr. dancing, it. tango) l, (it. paglia) r; f, v; , (sp. ciento, engl. thing; sp. lado, engl. this); s, z (fr. poisson vs. poison, it. sempre vs. rosa) J, 3 (fr. chat, it. scena vs. fr. age) 1

Vgl. The Principles of the International Phonetic Association, London 1949,2. Aufl. 1969.

XIV

Phonetische Umschrift

ts, dz (it. pazzo; manzo); t/, ds (it. cento vs. gente) Pj, nij usw. bezeichnen palatalisierte Konsonanten: rum. lupi, pomi; kj friaul. chiase „Haus" Der Akzent wird mit einem Apostroph bezeichnet, der vor der betroffenen Silbe steht: it. ancora „Anker" : ancora „noch" bzw. /'ankora/ : /arj'kora/. Der Doppelpunkt bezeichnet die Längung des vorangehenden Lautes, und zwar sowohl bei Vokalen als auch bei Konsonanten. Vokale: lomb. magnä „mangiare" : magnä „mangiato", [ma'jia] : [ma'jia:]. Konsonanten: it. pala „Schaufel" : palla „Ball", ['pala] ['pal:a]. (Bei den lateinischen Vokalen folgen wir der konventionellen Schreibung der Längen und Kürzen, also a statt [a] und ä statt [a:] usw.)

Einführung

1. Die romanische Philologie, oder einfach: die Romanistik, bildet den allgemeinen Rahmen für das Studium der romanischen Sprachen und Literaturen. Dies gilt trotz der Tatsache, daß sich in den verschiedenen Ländern unter demselben Etikett im Laufe der Zeit zum Teil recht unterschiedliche Auffassungen durchgesetzt haben. Romanisch sind die Sprachen, die sich aus dem Lateinischen entwickelt haben: das Französische, das Spanische, das Italienische, das Portugiesische, das Rumänische und andere. Das Territorium, auf dem solche Sprachen gesprochen werden, ist die Romania. Die sprachliche Zersplitterung dieses Territoriums ist außerordentlich groß. Dasselbe gilt für die darin auftretenden literarischen Ausdrucksformen. Die romanischen Sprachen können selbstverständlich auch einzeln und ohne jeden Bezug auf ihren Ursprung studiert werden. Dies ist normalerweise beim praktischen Studium der Sprachen der Fall, wenn es ganz einfach darum geht, eine Sprache zu erlernen. Aber auch beim wissenschaftlichen und theoretischen Studium kann nur eine einzelne romanische (oder auch nicht-romanische) Sprache isoliert und statisch ins Blickfeld gerückt werden. Doch ist das gesamthafte Studium der romanischen Sprachen, ihre vergleichende Gegenüberstellung und ihre historische Ableitung auch heute noch von großem wissenschaftlichem Interesse. Man kann und muß sich dabei auf die Methoden der modernen Linguistik stützen, die nicht mit denjenigen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jh. gleichzusetzen sind. Mit dieser Einführung wird der Versuch gemacht, einen Überblick über die romanische Sprachfamilie zu entwerfen. Ein solcher Überblick ist nicht nur für angehende Sprachwissenschaftler, sondern auch für Literaturwissenschaftler nützlich. Die Zeiten, wo man die romanischen Sprachen und Literaturen wenn nicht als Einheit, so doch als zwei Aspekte eines einheitlichen Gegenstandes betrachtete, sind allerdings - wohl für immer - vorbei. Aber als z. B. Friedrich Diez, den man als den Begründer der Disziplin betrachtet, als erster Professor der romanischen Philologie die romanischen Sprachen vergleichend untersuchte und gleichzeitig die Gedichte der provenzalischen Troubadours übersetzte und kommentierte, war der Parallelismus der Methoden, die in beiden Fällen historisch waren, bereits prekär. Die angebliche Wiedervereinigung im Zuge der idealistischen Neuphilologie war ein höchst zweideutiges Unternehmen, das zum Glück hinter uns liegt. Dies besagt jedoch nicht, daß die beiden Wissenschaften sich heute nichts mehr zu sagen hätten. Im Gegenteil: die moderne Linguistik liefert der Literaturwissenschaft nicht nur allgemeine Hinweise, sondern auch nützliche Arbeitsinstrumente. Zwar wäre es ungerecht, den von der Sprachwissenschaft unberührten Literaturwissenschaftler einfach zu verdammen. Aber es bedarf einer starken persönlichen Intuition - wie sie vielleicht nicht jedem gegeben ist -, um das zu ersetzen, was der Literaturwissenschaf tier von der Sprachwissenschaft mühelos lernen kann.

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Einführung

In diesem Buch verzichten wir auf die Behandlung derjenigen Gesichtspunkte der Sprachwissenschaft, die die Literatur betreffen, z.B. die Erzählanalyse, die allgemeine und die romanische Metrik usw. An Stelle der Romanistik im allgemeinen, beschränken wir uns ausschließlich auf die romanische Sprachwissenschaft. Wir betrachten sie unter einem Blickwinkel, der im Vergleich zu gewissen traditionellen Ansätzen vermutlich neu ist. Dabei müssen wir uns abfinden, dem Zwang der Spezialisierung zu gehorchen. Der Schreibende gehört allerdings nicht zu denen, die der Auffassung sind, eine Beschränkung der Wissensgebiete sei nicht nur notwendig, sondern sogar wünschenswert.1 Der erste Teil dieses Buches berührt deshalb, wenn auch nur in aller Kürze, ein sehr allgemeines Thema, nämlich die Romanistik, wie sie sich zu verschiedenen Epochen mit ihren jeweils unterschiedlichen Perspektiven darstellte. In diesem Rahmen muß man kurz sogar bis zur griechischen Antike zurückgehen. Daß man zur Erforschung von Problemen, die die Romanistik betreffen, bis in eine Zeit zurückgeht, in der es die romanischen Sprachen noch gar nicht gab, mag paradox erscheinen. Aber die Romanistik, wie sie im Mittelalter, in der Renaissance und teilweise sogar noch im 18. Jahrhundert betrieben wurde, ist auf bestimmte „klassische" Prinzipien zurückzuführen, die man am besten dort studiert, wo sie entstanden sind, d. h. im griechischen und im alexandrinischen Denken. Gegen Anfang des 19. Jahrhunderts näherten sich mehrere unter sich verschiedene Wissenszweige einander an und brachten auf diese Weise eine Disziplin, die „romanische Philologie", hervor, und zwar in einer Art und Weise, die man vom methodologischen Standpunkt aus als relativ einheitlich betrachten kann. Das ist die Epoche, an deren Ausgang Gustav Gröber eine triumphale Summa versuchen konnte.2 Stellt man jedoch heute die Erfolge und die Fehlschläge der romanischen Philologie des 19. Jahrhunderts ausführlich dar, dann kommt dies einer Leichenrede gleich. Die durch Saussure und den Strukturalismus bewirkte erkenntnistheoretische Revolution brachte die inneren Widersprüche dieser Epoche ans Licht. Was schließlich die Gegenwart betrifft, bleibt der Zustand der Unsicherheit aufzuzeigen, in dem wir uns befinden, auch wenn einige brillante Ergebnisse dieser Wissenschaft zu nennen sind. Der erste Teil dieses Buches ist also eine kurze, so allgemein wie möglich gehaltene Übersicht über die verschiedenen Methoden. In diesem Zusammenhang wird auch kurz zu zeigen sein, daß der moderne wissenschaftliche Ansatz (wie jeder „Neuansatz") eine radikale Reduktion solcher Fragen erforderlich macht, die der vorausgehenden Forschung von zentraler Bedeutung schienen, ihren Stellenwert daraufhin jedoch verloren, während umgekehrt Probleme, die früher als zweitrangig galten, heute fundamental geworden sind. Aber man muß mit Entschiedenheit all denen widersprechen, die in ihrem „Säuberungseifer" zu weit gehen. Viele Lösungen, zu denen man in einem frühe1

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In der generativen Transformationsgrammatik z. B. werden die romanischen Sprachen nur als Einzelsprachen behandelt, die gelegentlich mit anderen (romanischen oder nicht-romanischen) Sprachen verglichen werden. Zwar gibt es für die romanischen Sprachen auch „Textbücher", aber der ursprünglich genetische Terminus „romanisch" ist dort ein blosses Etikett ohne spezielle Bedeutung. Trotzdem kann die TG auch andere Perspektiven eröffnen (vgl. besonders Kap. VII). Vgl. G. Gröber, Grundriß der romanischen Philologie, Bd. l, Straßburg 1888, Bd. 2 ebenda 1893.

2. Paradigmen der Romanistik

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ren Paradigma gelangt ist, brauchen im Rahmen des neuen nur noch einmal überdacht und eventuell neu formuliert zu werden; sie aufzugeben, bis sie aus dem Nichts vielleicht wieder erfunden werden müssen, bringt keinen Gewinn. „Die Tatsache, daß eine Wissenschaft sich neue Ideen zunutze macht", schrieb einmal einer der Begründer des Strukturalismus, Louis Hjelmslev, „bedeutet nicht (...), daß sie damit zugleich alle früheren Ergebnisse für hinfällig erklärt (...). In der Wissenschaft kann man von endgültigen Ergebnissen sprechen, nicht aber von endgültigen Standpunkten."3 Es gibt Fälle, in denen ein Wissenschaftler den letzten Schritt, der ihn zu einer Lösung führen würde, nicht mehr vollziehen kann, weil er an den Grenzen seines Paradigmas angelangt ist, während sich dieser Schritt vom Standpunkt eines neuen Paradigmas aus ohne weiteres durchführen läßt. Man muß natürlich wissen, bis wohin die Vorgänger gelangt sind. Wer sich die Kenntnis dessen versagt, was am Alten gut war, beweist nicht Modernität, sondern engt sich selbst ein und schadet sich letztlich selbst. Diese Feststellungen scheinen uns notwendig zu sein in einer Zeit, wo einer bis zum äußersten getriebenen Spezialisierung das Wort geredet wird und nur die jeweils letzte und allerletzte Fassung Gültigkeit erlangt. Noch ein anderer Punkt scheint uns wichtig: Die moderne Sprachwissenschaft, die rigoroser ist als alle vorhergehenden Paradigmen, hat die Beziehungen zur „humanistischen" Perspektive für immer abgebrochen. Es bringt für die Linguistik in der Tat nichts, wenn sie die t r a d i t i o n e l l e n Verbindungen zur Literaturwissenschaft, zur Philosophie, zu einzelnen Ideologien usw. aufrechterhält. Aber mit diesem Bruch begibt sie sich in eine Art Absonderung, in der man nicht einmal mehr weiß, wozu die Sprachen eigentlich dienen. Die Entscheidung für einen wissenschaftlich rigorosen Standpunkt bedeutet andererseits also den Verzicht auf viele interessante Fragen. Zwar wurden diese in der Vergangenheit oft nur improvisiert behandelt; aber statt sie auszuschalten, müßte man bei ihrer Behandlung nach größerer Wissenschaftlichkeit streben. Was nicht unmittelbar rigoros und wissenschaftlich gefaßt werden kann, muß irgendwie Gegenstand des Nachdenkens und des Gesprächs bleiben - darf also nicht der subjektiven Meinung und (wie so oft) dem Vorurteil und der Unwissenheit überlassen werden.4 Dies dürfte für viele Fragen der traditionellen Sprachwissenschaft gelten - z. B. für die Zusammenhänge zwischen Sprache und Denken —, die uns heute viel zu weit gefaßt scheinen, als daß sie wissenschaftlich gelöst werden könnten, auch wenn sie an sich deshalb nicht weniger wichtig sind. 2. Nach Ansicht des Wissenschaftshistorikers Thomas S. Kühn geht die Wissenschaft so vor, daß sie von Zeit zu Zeit Paradigmata festsetzt, die aus einem Komplex von Prinzipien und gewonnenen Ergebnissen bestehen und den Wissenschaftlern die Basis liefern, von der aus es möglich ist, die Forschung voranzutreiben. Die wissenschaftliche Forschung besteht also selten darin, allgemeine Prinzipien in Frage zu stellen — ein solches Infragestellen führt, wenn es mit Erfolg geschieht, zu 3

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L. Hjelmslev, Le langage, Paris 1966, S. 26 f. (dänisches Original: Sproget, Kopenhagen 1963). Man denke an die Forderungen, aus denen als dritte Möglichkeit gegenüber der naturwissenschaftlichen Methode und der Logik der Tratte de argumentation, La nouvelle rhetorique, von Ch. Perelman und L. Olbrechts-Tyteca, Paris 1958, hervorgegangen ist.

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Einführung

dem, was man eine wissenschaftliche Revolution nennt —, sondern zumeist darin, daß man im Rahmen einer Tradition, eines Paradigmas, weiterarbeitet.5 Greifen wir ein spezielles Gebiet heraus: In der Optik gibt es seit Newton drei aufeinanderfolgende wissenschaftliche Traditionen (denen jahrhundertelang eine von verschiedenen Schulen gegeneinander ausgetragene unfruchtbare Polemik vorausgegangen war): es handelt sich um die von Newton eingeführte Korpuskularoptik, die in der Folge durch die Vorstellung abgelöst wurde, das Licht sei wellenartig; nach Planck und Einstein gründet sich die Optik heute auf die Quantenmechanik. Der Begriff des Paradigmas kann auch in unserem Fall nützlich sein. Wenn man sich die Frage stellt, wie die Linguistik oder die Literaturkritik in der Antike und im Mittelalter (oder, wenn man wollte, im alten Indien) ausgesehen haben, so steht man gleich zwei Schwierigkeiten gegenüber. Erstens ist das, was in jener Zeit als Linguistik, als Geschichte oder als Literaturkritik galt, sehr verschieden von dem, was wir heute darunter verstehen, so daß man sich zu Recht fragt, ob es sich wirklich um ein und dieselbe Sache handelt. Zweitens stehen diese Wissenschaften mit anderen Wissenschaften und besonders mit einer bestimmten Philosophie in einem Abhängigkeitsverhältnis, das wir heute nicht mehr anerkennen. Um dieses Problem zu lösen, muß man sich das Wissensgebäude jener Zeit vergegenwärtigen und nach den erkenntnistheoretischen Grundlagen der wissenschaftlichen Tätigkeit fragen. Viele berühmte Handbücher der romanischen Philologie haben das nicht getan und lassen so den Eindruck entstehen, alle Studien, die vor dem 19. Jahrhundert unternommen wurden, seien nichts anderes als eine Ansammlung von Kuriositäten, Naivitäten und unerklärlichen Sonderbarkeiten. Die zeitweilige Monotonie der Studien und die Einförmigkeit der Ergebnisse sind nicht das Zeichen für einen chronischen Mangel an Phantasie, sondern ganz im Gegenteil ein beredtes Zeugnis dafür, daß es damals ein einheitliches Paradigma gab. So erklärt beispielsweise die außerordentliche Beständigkeit des „aristotelischen" Grammatikmodells die substantielle Einheitlichkeit, die (durch das Mittelalter und die Renaissance hindurch) die Grammatiken des Griechischen, des Lateins und der modernen Sprachen verbindet. Die traditionelle Grammatik, die von Kategorien ausgeht, die speziell für die Logik und das Griechische erarbeitet worden waren, wurde im Laufe der Zeit — nicht ohne Verzerrungen — auf andere Sprachen übertragen und ist in dieser Gestalt als Schulgrammatik noch heute weit herum verbreitet. Wir verzichten also auf die große Zweiteilung der Romanistik in eine „vorwissenschaftliche" und eine „wissenschaftliche" - der Schnitt fällt in den Beginn des 19. Jahrhunderts-, wie man sie in den Handbüchern z. B. von lordan und Tagliavini findet. Der Gedanke, daß die Sprachwissenschaft erst im 19. Jahrhundert eine Wissenschaft wurde, übertreibt die Bedeutung des historisch-vergleichenden Paradigmas, als ob dieses das einzig mögliche Wissenschaftsmodell wäre. Wenn man sich innerhalb eines allgemein anerkannten Modells bewegt, stellt sich diese Übertreibung allerdings fast automatisch ein. Neuerdings hat uns eine heilsame Krise vollkommen außerhalb dieses Paradigmas gestellt, und zwar so, daß wir uns auch seiner Relativität bewußt geworden sind. Anstelle der genannten Zweiteilung, bei der die eine Hälfte, nämlich diejenige vor dem 19. Jh., unter einem negativen Vorzeichen, die andere, moderne, unter einem positiven steht, zeigen wir hier ein Vgl. Th. S. Kühn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962 (dt. Übers. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967), besonders Kap. II.

2. Paradigmen der Romanistik

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Schema, das drei aufeinanderfolgende Paradigmen umfaßt. Alle drei waren -jedes zu seiner Zeit - gute Paradigmen. Das moderne ist jedoch das einzige, in dessen Rahmen heute eine wissenschaftliche Untersuchung sinnvoll möglich ist. Das erste Paradigma ist das klassische. Aus ihm gewinnt man die Koordinaten einer jahrhundertelangen Tradition, die erst von einer späteren Phase, nämlich vom Mittelalter an, auch in der Romania wirksam wurde. Die Behandlung dieses Paradigmas geschieht hier in sehr gedrängter Form (Kap. I). Das zweite Paradigma ist dasjenige der historischen Methode. Während wir beim klassischen Paradigma die Mannigfaltigkeit einer jahrhundertealten Tradition dem Anliegen opfern mußten, die grundlegende Einheit dieser Tradition darzustellen, gehen wir hier auf die Unterschiede innerhalb der Methode und auf den Verlauf ihrer Entwicklung näher ein. Die Geschichte der historisch-vergleichenden Methode liegt noch nicht weit genug zurück, um allzugroße Vereinfachungen zu erlauben (Kap. II). Das dritte ist das strukturalistische Paradigma. Die generative Grammatik wird hier trotz der offenen Opposition ihrer Vertreter gegen den Strukturalismus als Weiterentwicklung dieses Paradigmas angesehen. Die Gründe dafür werden später (Kap. III, § 9) genauer dargelegt. Wie bereits angedeutet, erscheint die romanische Sprachwissenschaft nur im zweiten Paradigma als ein relativ zusammenhängendes Gebilde mit fest umrissenen Grenzen, das sich, zumindest am Anfang, durch eine einheitliche Methode auszeichnet. Beim dritten Paradigma, wie schon beim ersten, sind wir gezwungen, uns in einem Rahmen zu bewegen, der von anderen Wissenschaften abgesteckt wird, und wir haben die methodologische Distanz festzustellen, die sogar solche Bereiche trennt, die einmal als benachbart galten. In der Welt des Wissens gibt es nicht nur Wissenschaften, die neu entstehen, und andere, die verschwinden (oder auf den Rang von Pseudowissenschaften und in den Bereich des Aberglaubens zurückfallen), sondern es gibt eine ständige Veränderung der Grenzen zwischen den Wissenschaften unter sich, Spaltungen, oder umgekehrt, Zusammenschlüsse von Disziplinen verschiedener Art. Die Wissenszweige, die uns heute als verstreute Glieder der romanischen Philologie erscheinen, bildeten im 19. Jahrhundert eine Einheit. Zusammen mit einem an sich verständlichen Konservatismus hat dies zur Folge, daß viele Wissenschaftler weiterhin an einem veralteten Bild ihrer Wissenschaft festhalten.6 Der Schreibende ist der Auffassung, daß man sich nicht länger weigern kann, nun endlich das dritte Paradigma zu übernehmen. Dies bringt u. a. allerdings auch die Unterordnung des einmal relativ unabhängigen Begriffs der romanischen Sprachwissenschaft unter denjenigen der allgemeinen Linguistik mit sich. (Analog gilt auf der anderen Seite die Unterordnung alles dessen, was die Literatur betrifft, unter die Poetik; wenn wir uns nicht täuschen, liegt in diesem zweiten Fall, mehr noch als im ersten, eine totale Sinnentleerung des Terminus „romanisch" vor.)

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Eine interessante Erörterung dieses Themas findet sich bei Y. Malkiel, Three Definitions of Romance Linguistics, in: Romance Philology 15 (1960-61), S. 1-7 (in italienischer Sprache zusammen mit anderen seiner Aufsätze in: Y. Malkiel, Linguistica generate, filologia romanza, etimologia, Florenz 1970).

ERSTER

TEIL

Erstes Kapitel

Die klassische Konzeption 1. Das griechische Sprachdenken erhielt seine erste Systematisierung durch Aristoteles. Spätere Grammatikdarstellungen finden wir bei den Stoikern, den Alexandrinern, dann in Rom usw. In den Kategorien, in De interpretatione und in anderen Arbeiten untersucht Aristoteles die Sprache als Abbild des Denkens. Bei seiner Untersuchung geht er nach grammatischen (linguistischen) und logischen Gesichtspunkten zugleich vor. Wenn Aristoteles also Kategorien wie das Nomen, das Verb und die Konjunktionen (letztere als synkategorematische Elemente) darlegt, oder wenn er die zweiteilige Struktur des Satzes in Form von Subjekt und Prädikat aufzeigt, dann untersucht er zwar die Sprache, wie sie ist, oder genauer: den sprachlichen Ausdruck, berücksichtigt aber auch, inwiefern sie die Operationen des menschlichen Denkens korrekt widerspiegelt. Die Verbindung von Logik und Linguistik und gleichzeitig die Unterordnung der Linguistik unter die Logik ist ein konstantes Merkmal des klassischen Denkens. Als andere Gelehrte, besonders die Alexandriner, diese Tradition wiederum aufnahmen, um sie für die linguistische Analyse von literarischen Texten, d. h. für jene literarisch orientierte Erziehung zu benutzen, die für unsere Kultur grundlegend ist, gelang es ihnen zwar, die erwähnten Kategorien zu bereichern und weiter zu gliedern, aber es lag ihnen völlig fern, sie von der Unterordnung unter die Logik zu befreien. Damit dies geschehen konnte, mußte sich die Sprache von der Logik trennen, wobei letztere als mathematische (bzw. symbolische) Logik in der Folge neu entstand. Dieser Vorgang befreite die natürlichen Sprachen von der Last, sich direkt mit den Operationen des Denkens zu befassen, und machte sie für neuartige Untersuchungen wiederum zugänglich. Dies alles kündigt sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert mit Leibniz an, dem wir sowohl eine radikale Erneuerung der klassischen Logik als auch ein neues, sozusagen experimentelles Interesse an den Sprachen verdanken.1 Wir haben bis jetzt von Sprache gesprochen: von Sprache oder von Sprachen? Es ist charakteristisch für das klassische Sprachdenken, daß man, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dem Problem der Verschiedenartigkeit der natürlichen Sprachen auswich. Wie dem auch sei, die Tatsache, daß die griechische und alexandrinische Philosophie von Grund auf auf das Griechentum zugeschnitten war, führte zur Entstehung einer allein auf dem Griechischen basierenden Sprachbetrachtung. Vielleicht hielten die Griechen die Sprachen der „Barbaren", mit denen sie immerhin häufig in Kontakt kamen, nicht in gleicher Weise der Betrachtung für würdig, oder sie waren von vorneherein überzeugt, daß alles das, was sich am Griechischen hatte nachweisen lassen, notwendig auch für die anderen Sprachen 1

T. De Mauro, Introduzione alia semantics, Bari 1966, S. 55ff. (frz. Übers.: Une introduction älasemantique, Paris 1969, S. 54ff.); I. Monreal-Wickert, Die Sprachforschung der Aufklärung im Spiegel der grossen französischen Enzyklopädie, Tübingen 1977.

I. Klassisches Sprachdenken

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gelten müsse. Als die Römer darangingen, die griechischen Grammatiken dem Lateinischen anzupassen — als erster Varro, im 1. Jh. v. Chr. —, waren sie vor allem bestrebt, die Unterschiede zwischen den Grammatiken der beiden Sprachen auf ein Mindestmaß zu beschränken. Ihr Beitrag war wenig originell. Freilich begünstigten die nicht zu leugnenden Ähnlichkeiten der beiden Sprachen ein solches Vorgehen, da sie, wie man später erkannte, auf ihren gemeinsamen indoeuropäischen Ursprung zurückzuführen sind. In diesen wie in anderen Fällen konnte das Ergebnis nur sein, daß die Gelehrten in ihrer Überzeugung, die grammatischen Kategorien, wie sie zum ersten Mal im Griechischen bestimmt worden waren, seien universell, noch weiter bestärkt wurden. Denn die Universalität der Kategorien ist eine notwendige Voraussetzung dafür, daß diese Art von Analyse als gültig anerkannt werden konnte. Man bedenke, daß die Typen der klassischen Sprachanalyse die Vorläufer der sog. grammatischen oder logischen Analysen der Scholastik sind — wobei der Terminus „logisch" bezeichnend ist. Die scholastische Praxis, und in deren Rahmen vor allem die sog. spekulative Grammatik, sorgte für die Übertragung des Verfahrens (in dem besonders im Italienischen bevorzugten Sinn) auf das Griechische und auf das Lateinische (und bekanntlich auch auf die modernen Sprachen, auf das Deutsche und das Französische), und zwar aufgrund der Überzeugung, daß diese Analyse von den Einzelsprachen unabhängig, allgemein gültig, d.h. u n i v e r s e l l sei. Wir können hier darauf verzichten, die Geschichte des klassischen Sprachdenkens aufzurollen. Aber es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß daraus in der Praxis die G r a m m a t i k hervorgeht, wie sie noch heute in den Schulen unterrichtet wird. Der Apparat der grammatischen Kategorien („grammatische Analyse" nach Wortarten) und derjenige der funktionalen Kategorien („logische Analyse": Subjekt, Prädikat usw.) ist griechischen Ursprungs. Dies geschah über eine lange Reihe von vermittelnden Zwischengliedern: die Alexandriner, die Römer, das Mittelalter, die Renaissance und der Cartesianismus. Die Begriffe sind jedermann bekannt. Aber das Band, das sie jahrhundertelang an die Philosophie gebunden hielt, ist heute zertrennt, und es ist fast üblich geworden, in ihnen nichts weiter als pure Abstraktionen zu sehen. In Wirklichkeit liegen die Dinge jedoch nicht so einfach. Man kann von unserem Schulunterricht sagen, er halte noch am ersten Paradigma fest, während man auf wissenschaftlichem Gebiet bereits im Begriff sei, vom zweiten zum dritten überzugehen. Doch hat das zweite Paradigma, das historische, mit Erfolg nur eine neue Phonetik und eine neue Morphologie entwickelt, ohne dabei eine vertretbare Alternative zu den klassischen Modellen der S y n t a x zu liefern; mehr noch: gerade die syntaktische Ebene der Sprache, die für uns heute die Basis darstellt, wurde zumeist außer acht gelassen. Zur Vervollständigung dieses Panoramas sei hier noch kurz auf das Problem des Sprachwandels hingewiesen. Wie wir noch sehen werden, diente dieses Problem der historischen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts als eigentlicher Ansatzpunkt. Die alexandrinische Schule war philologisch orientiert und widmete sich vor allem dem Studium der großen Werke der Literatur; sie machte es sich zur Aufgabe, den ursprünglichen Sprachzustand der überlieferten Texte zu bewahren oder wieder herzustellen, die Texte zu erklären, zu kommentieren usf. Darauf ist es zurückzuführen, daß die geschriebene Sprache als der gesprochenen überlegen betrachtet wird (wie allein schon der Name Grammatik „Kunst des Schreibens" verrät) und daß der Sprachwandel nur in bezug auf die „Korrektheit" der Sprache der Origi-

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/. Die klassische Konzeption

nale in Erscheinung tritt. Alles, was sich vom ursprünglichen Zustand entfernt hat, gilt deshalb als „verderbt". Die Grammatik wird zur Kenntnis der „reinen", d. h. der literarischen Sprache, der literarische Ausdruck das Ziel der Sprachkenntnis überhaupt. Diese merkwürdige Haltung ist von Lyons beschrieben worden, der sie als classical fallacy, als den klassischen Trugschluß bezeichnete.2 Ein Aspekt dieses Trugschlusses ist das vor allem in den deutschsprachigen Ländern auch heute noch lebendige, humanistischem Denken entsprungene Vorurteil, demzufolge die Sprachwissenschaft eine Technik im Dienste der Literaturwissenschaft ist oder doch jedenfalls letztlich der Literatur zugute kommen muß. Eine notwendige Beziehung der Sprachwissenschaft zur Literaturwissenschaft besteht jedoch nicht, und es ist auch keine der anderen untergeordnet. Zwar kann sich die Sprachwissenschaft mit literarischen Texten beschäftigen, aber zu ihrem Gegenstandsbereich gehören trotzdem auch alle nicht-literarischen sprachlich artikulierten Äußerungen. Was den Sprachwandel anlangt, so ist die Frage: „Wie und warum verändern sich die Sprachen?" ebenfalls nicht als ein zu lösendes Problem betrachtet worden; man bekämpfte den Wandel sogar und schob ihn auf die normative Ebene ab. Aus dieser Sicht ändert sich die „gepflegte Sprache" in der Tat nicht; „sich verändern" ist gleichbedeutend mit „entarten". Diese Haltung hat sich in der Geschichte vielfach wiederholt. Um einen bekannten Fall zu nennen, brauchen wir nur an den italienischen Purismus zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert zu erinnern. Damals verteidigte man das „goldene Toskanisch" der Autoren des 14. Jahrhunderts gegen die in die moderne Sprache eingedrungenen Fremdwörter und überhaupt gegen jede nach dem 14. Jahrhundert eingetretene Entwicklung. Dieser ganze Ideenkomplex hat sich im wesentlichen unverändert nicht nur das ganze Mittelalter hindurch erhalten, wo die Grammatik philosophisch wiederum in Schemata klassischer Provenienz eingefügt wurde, sondern auch in der Renaissance und im rationalistischen Klassizismus. Die grammaires raisonnees, wie z.B. diejenige von Port-Royal,3 setzten sich zum Ziel, die „Vernünftigkeit" der Grammatik zu zeigen. Neu ist dabei die philosophische Einbettung des Problems, die — wie man zumeist sagt — auf Descartes zurückgeht. Die Anlage der Grammatik dagegen ist im wesentlichen unverändert. Die Schulgrammatik führt diese Tradition fort und behält damit zugleich oft auch diejenigen Eigenheiten, die auf den klassischen Trugschluß zurückgehen. 2. Unter diesem Gesichtspunkt ist es verständlich, daß die romanischen Sprachen in dem Maße Gegenstand des linguistischen Interesses wurden, in dem sie an literarischem Ansehen gewannen. Sie werden grammatisch untersucht, sobald man sie einer Grammatik würdig befindet. (Für uns heute gibt es keine der grammatischen Behandlung würdigen oder nicht würdigen Sprachen.) Das Gesagte trifft zuerst (Mitte des 13. Jh.) für das Provenzalische zu, d. h. für die Sprache der ersten großen europäischen Lyrik, zuletzt für das Rumänische (Mitte des 18. Jh.) - abgesehen selbstverständlich von den ladinischen Randsprachen oder vom Sardischen, wo es 2 3

J. Lyons, Introduction to Theoretical Linguistics, Cambridge 1968, S. 9f. (dt. Übers.: Einführung in die moderne Linguistik, München 1971, S. 9 f.). Vgl. C. Lancelot, A. Arnauld, Grammaire generate et raisonnee (1660), dazu u. a. J. Lyons, Introduction, S. 17.

2. Romanistik in der klassischen Zeit

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nur moderne Grammatiken gibt.4 Im allgemeinen sind die ersten Arbeiten in der Tat Grammatiken. Im Falle des Provenzalischen handelt es sich um mehr oder weniger systematische, für den Gebrauch von Leuten bestimmte Darstellungen, die in provenzalischer Sprache dichten wollten, ohne selbst Provenzalen zu sein. Die ersten provenzalischen Grammatiken sind deshalb in Katalonien und in Italien entstanden.5 Ihr Ziel war nicht praktisch, sondern eher literarisch. Entscheidend für ihr Entstehen war offenbar der Bilinguismus. Das Interesse an der Grammatik wird dann notwendig, wenn sich die zwei Faktoren „Literaturbetrieb" und „Zweisprachigkeit" miteinander verbinden. Auch die Verbreitung des Französischen in England (als Folge der normannischen Invasion im 11. Jh.) und Funktion des Französischen als Kultursprache im 12. und 13. Jh. war von einem regen Interesse an der Sprache begleitet.6 Ein Interesse an der Sprache, das einzig und allein literarisch begründet war und sich deshalb auch nicht in Form von Grammatiken niederschlug, gab es nur in Italien, und zwar in der Zeit der großen Blüte zu Beginn des 14. Jh. Zwischen 1303 und 1305 verfaßte Dante Alighieri seine Schrift De vulgari eloquentia, wo er die sprachliche Würdigung, d. h. die Anerkennung der Literaturfähigkeit des Italienischen im Vergleich zum Lateinischen forderte. Dantes Schrift, die sich mit dem Italienischen beschäftigt, im Rahmen allgemein literarischer Probleme aber auch die Dialekte der Reihe nach durchgeht, nimmt einen Typ von Werken vorweg, die sonst erst in der Hochrenaissance auftreten. Dazu zählen, um nur einige zu nennen, zunächst für das Italienische die Prose delta Volgar Lingua von Pietro Bembo (1525), für das Spanische der Dialogo de la lengua von Juan de Valdes (1535) und für das Französische die Deffence et illustration de la langue francoyse von Du Bellay (1549). Ebenfalls in die Renaissance fällt der Beginn der Arbeit an den großen einsprachigen Wörterbüchern. Auch hier führt ein italienisches Werk die Reihe an, das Vocabolario della Crusa (1. Auflage 1612). Zugrunde liegt eine normative Konzeption aufgrund der Belege aus den Werken der anerkannten Autoren. Es folgen der Dictionnaire de l'Academicfranqaise (1694) und der Diccionario de la lengua castellana( 1726-39). Der Gedanke, daß die romanischen Sprachen „romanisch" sind, d.h. daß sie 4

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Eine allgemeine Darstellung dieser Probleme findet man bei G. Gröber, Geschichte der romanischen Philologie, im Grundriß, Bd. 1. Für das Rumänische sei verwiesen auf die Einleitung von N. A. Ursu zu Dimitrie Eustatievici Bra$oveanul, Grammatica romäneascä (1757), Bukarest 1969. Vgl. C. Segre, Le forme e le tradizioni didattiche, in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. VI, l, Heidelberg 1968, S. 116 ff. - Die erste Grammatik des Okzitanischen wurde von dem Katalanen R. Vidal verfaßt (die Razos de trobar, „Arten zu dichten"). Eine in Italien verfaßte Grammatik des Okzitanischen ist der dem Staufenkönig Friedrich II. gewidmete Donat proensal des Uc Faidit (Donat war der Verfasser einer im Mittelalter berühmten lateinischen Grammatik: „provenzalischer Donat" heißt „provenzalische Grammatik"). Die Orthographia gallica (um die Wende vom 13. zum 14. Jh. in lateinischer Sprache verfaßt), eines der kleinen Werke, die auf uns gekommen sind, ist der Orthographie und der Aussprache des Französischen gewidmet, das die Engländer offenbar schon damals etwas eigenartig aussprachen. Vgl. Orthographica gallica. Ältester Traktat über afrz. Aussprache und Orthographie (...), hg. v. J. Stürzinger, Heilbronn 1884, anastatischer Nachdruck: Darmstadt 1967.

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I. Die klassische Konzeption

vom Lateinischen abstammen, kehrt vom 15. Jahrhundert an in den Werken der spanischen, französischen und italienischen Literaten ständig wieder. Doch war in dieser Zeit das Problem der Abstammung noch nicht - wie in der Folge - eine nüchterne wissenschaftliche und historische Frage. Man suchte darin vielmehr eine Art Adelsbrief. Auf diese Weise lassen sich gewisse Vorstellungen erklären, die damals geläufig waren und später als irrig und geradezu absurd erscheinen mußten. Zum Beispiel behauptete Estienne (Stephanus, der große Platon-Herausgeber), das Französische stamme vom Griechischen ab (Traue de la conformite du langage frangois avec le Grec, 1567). Dahinter stand die folgende Überlegung: Wenn die Griechen den Römern überlegen waren und die griechische Sprache der lateinischen, dann ist die Abstammung von den Griechen der Abkunft von den Römern vorzuziehen. Diese Thesen werden von einer linguistisch manchmal sogar scharfsinnigen, oft aber willkürlichen und immer tendenziösen Argumentation gestützt. Vor allem die Etymologie, die durch die historisch-vergleichende Methode später rigorosen Gesetzen unterworfen wurde (Kap. II, § 6), erscheint in diesem Zusammenhang vollkommen aberrant. Es ist kein Zufall, wenn auf dem Gebiet des Sprachwandels am meisten improvisiert wird: das klassische Paradigma neigte, wie erwähnt, dazu, dieses Problem beiseite zu schieben, statt angemessene Mittel zu schaffen, um sich damit auseinandersetzen zu können. Die klassische Sprachwissenschaft hat ihre beste Leistung damit erbracht, daß sie die Grammatik aus einer Perspektive ausarbeitete, die man heute als synchron bezeichnet. Als die moderne Sprachwissenschaft sich mit der Frage nach der sprachlichen Form auseinanderzusetzen begann, war es unumgänglich, an diese lange und komplexe Tradition wiederum anzuknüpfen. Der Zusammenhang der modernen Linguistik mit der klassischen ist in diesem Bereich stets gegenwärtig, auch wenn einige Autoren versuchen, dies in Abrede zu stellen.

Zweites Kapitel

Unter dem Vorzeichen der Geschichte

1. Das historische Paradigma, das am Ende des 18. Jahrhunderts erstmalig in Erscheinung trat und im 19. Jahrhundert voll zur Entfaltung gelangte, wurzelt in der neuen und damals revolutionären Überzeugung, daß man eine Institution - die Sprache ebenso wie die Literatur, das Recht oder die Religion - nur dann wirklich kennen und ihrem Wesen nach verstehen kann, wenn sie in ihrer Variation und in ihrer Entwicklung genau bekannt ist. In eben diese Zeit fällt in unserem Bereich die Entstehung der romanischen Sprachwissenschaft. Diese wird verstanden als eine Disziplin, deren Gegenstand die romanischen Sprachen und Literaturen sind, so, wie sie sich im Laufe ihrer Geschichte aus dem Lateinischen entwickelt haben. Die Hinwendung zur historischen Perspektive stellte, wie bereits gesagt, eine Revolution im wahrsten Sinne des Wortes dar. Man bricht mit der Vorstellung, daß es exemplarische Sprachen gibt (die sogenannten „klassischen" Sprachen) und exemplarische Sprachzustände (wie z.B. das Latein der ciceronianischen Zeit im Vergleich zum vorhergehenden und zum folgenden, oder das Französische des siede d'or). Die Aufmerksamkeit gilt nunmehr dem Wandel als solchem. Das klassische Paradigma hatte dafür noch Begriffe wie „Dekadenz" und „Degeneration" zur Verfügung. Aber die Revolution fand nicht nur und nicht am einschneidendsten auf dem Gebiet der Linguistik statt, sondern betraf vor allem die Philosophie und das gesamte Kulturverständnis. In der Sprachforschung fand diese vollkommen veränderte Situation ihren Niederschlag in der Art und Weise, wie sie von Herder, Humboldt, Friedrich Schlegel und anderen betrieben wurde. Die Revolution, die durch die zunächst isoliert dastehende Lehre Giambattista Vicos in Italien angekündigt worden war, hatte ihr Zentrum in Deutschland. Als ihr Initiator kann Herder gelten. Einige der größten Denker und Schriftsteller der Zeit, Vertreter des Idealismus in der Philosophie oder der Romantik, zählen zu den ersten Anhängern der historischen Sprachwissenschaft, und sogar zu den ersten Romanisten.1 Gewiß, diese großen Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert beschäftigten sich weniger mit den romanischen Sprachen als mit der Übersetzung und der kritischen und historischen Erläuterung von Werken der romanischen, und da besonders der mittelalterlichen Literatur. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß die romanische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts als eine an der Literatur und am Mittelalter orientierte Wissenschaft entstanden ist. Diese Tradition ist noch heute in manchen Ländern lebendig, z.B. in Italien und in Spanien, und sie war es bis vor nicht allzu langer Zeit auch noch im deutschsprachigen Raum. 1

Vgl. G. Gröber, Geschichte der romanischen Philologie, im Grundriß, Bd. 1; G. Richert, Die Anfänge der romanischen Philologie und die deutsche Romantik, Halle (Saale) 1914; E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil: Die Sprache, Oxford 21954; H. Arens, Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, Freiburg 21963, S. 155 ff.

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//. Unter dem Vorzeichen der Geschichte

Von den bedeutenden Vertretern dieser Richtung seien hier kurz erwähnt, Herder und Jakob Grimm, die die spanischen romances bekannt machten, Schelling und Hegel, die wichtige Beiträge zu Dante erbrachten. Goethe zeigte sein Interesse an der französischen Literatur des Mittelalters mit dem Reineke Fuchs, der allerdings nicht auf einer Übersetzung des altfranzösischen Originals (des Roman de Renart), sondern auf einer im Spätmittelalter entstandenen holländischen Fassung beruht. Und es war auch Goethe, der, einer berühmten, der Wahrheit entsprechenden Anekdote zufolge, einem jungen Mann aus Bonn, der 1818 nach Jena gekommen war, um ihm dort zum Zeichen seiner Ehrerbietung einen Besuch abzustatten, den Rat gab, sich mit den provenzalischen Troubadours zu beschäftigen. Dieser Mann war Friedrich Diez. Er folgte Goethes Rat — und wurde zum Begründer der romanischen Philologie. Wie aus diesen knappen Hinweisen hervorgeht, war die romanische Philologie in ihren Anfängen kein eigenes Forschungsgebiet. Vielmehr lieferten, wie bereits erwähnt, Philosophen, Schriftsteller und Dichter einschlägige Beiträge, ohne dabei zwischen Sprach- und Literaturstudium eine scharfe Grenze zu ziehen. Ein Gelehrter und Philosoph, dem wir unter anderem auch eine der ersten nach moderner Art verfaßten Literaturgeschichten verdanken, nämlich Friedrich Schlegel, war es auch, der einen der bedeutendsten Beiträge zur historischen Sprachtheorie geleistet hat. Wenn Schlegel auch kein Romanist war, so verdient er doch eine besondere Aufmerksamkeit, weil er der Begründer der Sprachtypologie ist. Eine weniger großartige Gestalt, aber der erste „Spezialist" nach so vielen genialen Dilettanten, war Friedrich Diez. Auf seinen grundlegenden Beitrag zur Erforschung von Leben und Werk der provenzalischen Troubadours haben wir bereits hingewiesen.2 Als Diez jedoch daran ging, die romanischen Sprachen einer historisch-vergleichenden Untersuchung zu unterziehen, achtete er darauf, daß dieser Sprachvergleich von literarischen Überlegungen und Gesichtspunkten völlig frei blieb. Er tat für die romanischen Sprachen das, was Bopp für die indogermanischen und Jakob Grimm für die germanischen. Von genialen Initiatoren ins Leben gerufen und weitergeführt durch die Arbeit nüchterner und fleißiger Gelehrter, fand die romanische Sprachwissenschaft ihr Zentrum in Deutschland und verbreitete sich in kürzester Zeit über ganz Europa. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlor die deutsche Forschung ihre führende Stellung. Zu diesem Zeitpunkt wurde - mit dem Aufkommen eines neuen—auch das historische Paradigma hinfällig. 2. Schlegels Werk Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808) ist ein Meilenstein auf dem Weg der Erneuerung der Sprachtheorie. Schlegel war der Ansicht, daß sich die menschlichen Sprachen nach ihrem Bau in zwei Grundtypen unterteilen lassen: „Entweder werden die Nebenbestimmungen der Bedeutung durch innere Veränderung des Wurzellauts angezeigt, durch Flexion; oder aber jedesmal durch ein eignes hinzugefügtes Wort, was schon an und für sich Mehrheit, Vergangenheit, ein zukünftiges Sollen oder andere Verhältnisbegriffe der Art bedeutet;

2

F. Diez, Die Poesie der Troubadours, Zwickau 1826; Leben und Werke der Troubadour, Zwickau 1829.

2. Erste Sprachtypologie

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und diese beiden einfachsten Fälle bezeichnen auch die beiden Hauptgattungen aller Sprachen .. ."3 Das ist die später allgemein üblich gewordene Unterscheidung zwischen den flektierenden Sprachen, d.h. zwischen solchen, die Wörter mit veränderlichen Stämmen aufweisen, und den isolierenden Sprachen. Gewöhnlich wird diese Zweiteilung zu einer Dreiteilung ausgeweitet. Es gibt demnach flektierende, agglutinierende und isolierende Sprachen. Diese Uminterpretation stammt von August Wilhelm Schlegel, dem Bruder Friedrichs. Ihm folgte später auch Schleicher.4 Um kurz an einem konkreten Fall zu zeigen, was Schlegel meinte, wählen wir ein eigenes Beispiel. Das Futur des Typs it. canterö (fr. je chanterai) drückt den Gedanken der Zukunft durch eine Veränderung des Stammes aus; das deutsche ich werde singen drückt dasselbe mit einem Wort (werde) aus, das den Gedanken des „zukünftigen Sollens" bereits in sich trägt. In diesem Fall ist das Italienische flektierend, während das Deutsche isolierend ist. Hierzu muß allerdings noch mehreres angemerkt werden: das italienische canterö ist entstanden aus CANTARE + HABEO, geht also ebenfalls auf einen isolierenden Typ zurück. Die Sprachentwicklung zeigt uns hier den Übergang von einer isolierenden zu einer flektierenden Form. Ferner ändert das deutsche werde, wenn es zu einem Infinitiv tritt, seine Bedeutung gegenüber der in anderen Verbindungen üblichen, wo es meist „zu etwas werden" bedeutet. Ein geeigneteres Beispiel wäre vielleicht die Gegenüberstellung des Griechischen, Slovenischen oder anderer Sprachen, die den Dual morphologisch (mittels der Flexion) ausdrücken, und des überwiegenden Teils derjenigen Sprachen, die das Wort zwei einführen.

Es gibt allerdings keine rein flektierenden oder rein isolierenden Sprachen. Aber Schlegel beobachtete, daß als ein Extrem das Altindische (Sanskrit) dasteht, und zwar mit einem fast vollkommen flektierenden Sprachbau, in einer weniger „vollkommenen" Form gefolgt von anderen Sprachen, z. B. dem Griechischen, dem Persischen, dem Lateinischen (das weniger „vollkommen" ist, weil an Stelle der reinen Fälle des Sanskrits die Präpositionen cum, ex, in u.a. auftreten), dem Germanischen und, in geringerem Maße, dem Slavischen, dem Armenischen und dem Keltischen. Zum Lateinischen und zum Germanischen gehören auch die in zunehmendem Maße „unvollkommener" flektierenden romanischen und die modernen germanischen Sprachen. Alle diese Sprachen hängen genealogisch miteinander zusammen, und zwar nach Schlegel dergestalt, daß das Sanskrit ihr Stammvater ist - für uns (im Anschluß an Bopp) zutreffender in dem Sinne, daß alle auf eine rekonstruierte Ursprache, auf das Indogermanische, zurückgehen. Für Schlegel ist diese Sprachfamilie die „edelste". Ihr Adel zeigt sich nicht in den literarischen Erzeugnissen, mögen diese auch hervorragend sein, sondern eben in der synthetischen Struktur der Morphologie, die den indogermanischen Stamm einem lebenden Organismus 3

4

Hier zitiert nach: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. E. Behler, Bd. 8, S. 153, München 1975. Vgl. ausführlicher: S. Timpanaro, Friedrich Schlegel e gli inizi della linguistica indoeuropea in Germania, in: Critica Storica N. S., 9 (1972), S. 72-105; L. Renzi, Histoire et objectifs de la typologie linguistique, in: H. Parret (ed.), History of Linguistic Thought and Contemporary Linguistics, Berlin—New York 1976, S. 633—57. Einer anderen Auffassung zufolge ist das Büchlein Schlegels „eines der erstaunlichsten Beispiele dafür, wie sehr die geistesgeschichtliche Bedeutung eines Werkes den faßbaren wissenschaftlichen Wert übertreffen kann". Vgl. H. Nüsse, Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1962, S. 40.

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vergleichbar macht, der im Laufe seines Wachstums verschiedene Formen und Funktionen angenommen hat. Über Zwischenstufen, wie die des Arabischen und des Hebräischen, gelangt man nach Schlegel zum anderen Extrem: zu den amerikanischen Eingeborenensprachen, auf die Schlegel durch Humboldt aufmerksam gemacht worden war, zum Malaiischen und zum Chinesischen. Im Chinesischen erkennt man einen isolierenden Typ so reiner Form, wie es das Sanskrit als flektierender Typ ist. Schlegel sieht, vielleicht inkonsequenterweise, diese anderen Sprachen keineswegs als „unedel" an, hält sie aber immerhin für morphologisch geringer: im Bereich der Natur nicht einem Samenkorn vergleichbar, sondern einem angereihten „Haufen Atome". Man kann an diesem Punkt die Darstellung der grammatischen Vorstellungen Schlegels abbrechen. Nehmen wir zur Kenntnis, daß Schlegel einen dichotomischen Zugang zu den Sprachen vorgeschlagen hat, der sich stärker auf die Feststellung gewisser grundlegender Unterschiede als auf die Gemeinsamkeiten gründet. Damit löste er sich mit einem Schlag von der ganzen vorhergehenden linguistischen Tradition. Sein Ansatz bedeutete die Aufgabe des Grundsatzes von der statischen Universalität der Sprache. Trotzdem ist Schlegels Dichotomie nicht einfach ein vertikaler Schnitt zwischen unterschiedlichen Sprachen, sondern das ordnende Prinzip einer historischen Einteilung derselben. Schlegel war der Meinung, daß die innere Struktur der Sprachen Aufschluß über ihre genealogischen, d.h. historischen Abhängigkeitsbeziehungen geben muß (wobei es ihm besonders daran gelegen war, die Stellung des Sanskrit zu klären). Nach seiner Ansicht erlaubt es diese Struktur, die Zersplitterung der Sprachen zu überwinden, die sich beim ersten Hinsehen aufdrängt, wo nur die phonetischen Unterschiede und diejenige der Wurzeln ins Auge fallen. So können zwei amerikanische Sprachen, die phonetisch vollkommen voneinander abweichen, dieselbe grammatische Form haben. Um ein genaueres Bild von der Vorstellung zu gewinnen, die Schlegel sich von den indogermanischen Sprachen und ihrer inneren Form machte, bringen wir nochmals einige Bemerkungen zum Thema. Manche morphologische Übereinstimmungen dieser Sprachen sind auch materiell, d.h. sie spiegeln sich in ihrer lautlichen Form wider: z.B. wird im Sanskrit, im Persischen und im Deutschen der Diminutiv mit k gebildet. Instruktiver sind jedoch die Fälle, bei denen die phonetische Entsprechung fehlt. Sie zeigen, daß das, was wirklich zählt, das formale Prinzip ist: so wird das Imperfekt im Deutschen mit t und im Lateinischen mit b gebildet, aber das Prinzip ist nach Schlegel „immer noch dasselbe, daß nämlich die Nebenbestimmung der Bedeutung nach der Zeit und anderen Verhältnissen nicht durch besondere Worte oder von außen angehängte Partikeln geschieht, sondern durch innere Modifikation der Wurzel". Dieses kleine Werk, das voll von genialen Intuitionen ist, enthält auch andere, weniger innovatorische Aspekte, nicht abgeklärte Reste älterer Vorstellungen. Zum Beispiel scheint Schlegel weiterhin geglaubt zu haben, daß gewisse Sprachen zum literarischen Ausdruck besser geeignet seien als andere. Der Sprachbetrachtung wird auch nicht jene Autonomie zuerkannt, die sie heute genießt. Entscheidend ist jedoch die Tatsache, daß Schlegel die Vorstellung der statischen Universalität aufgibt und den Versuch unternimmt, eine neue Basis zu finden, und zwar unter dem Gesichtspunkt der positiven Bewertung der Unterschiede und unter demjenigen des Wandels. Einen solchen Gesichtspunkt gab es, wie wir oben gesehen haben, bislang nicht.

3. Anfänge der Komparatistik

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3. Während also in Deutschland die sprachlichen wie auch die literarischen Studien eine Erneuerung erfuhren, galt in den übrigen Teilen des gebildeten Europa die Gelehrtentätigkeit im Stile des 18. Jahrhunderts weiter, oft durchaus nicht ohne Empfänglichkeit für „vorromantische" Vorstellungen und Ideen. Außerdem waren durch die Gelehrsamkeit des 18. Jh. die literarischen und historischen Kenntnisse insbesondere des Mittelalters stark erweitert worden. In Frankreich war der Bedeutendste unter den Gelehrten dieser Art Lacurne de Sainte-Palaye (gest. 1781), der zur Kenntnis der Troubadours, des Rittertums usw. Hervorragendes beigetragen und auch einen Essay über vergleichende Grammatik verfaßt hat: La langue frangoise des XHe et XIHe siecles comparee avec les langues provenqale, italienne et espagnole dans les memes siecles. Seine Methode ist noch rudimentär, auch wenn sie hier und da richtige Ergebnisse zeigt (z.B. die Erklärung des Ursprungs des romanischen Futurs, hier Kap. VII, § 2).s Ein Fortsetzer von Lacurne de Sainte Palaye ist im gewissen Sinne Francois Raynouard. Aber Raynouard ist bereits ein Zeitgenosse der Gebrüder Schlegel und von Diez. Wir verdanken ihm einen Versuch, die neuen Methoden auf das Studium der romanischen Sprachen anzuwenden. Raynouard hatte sich seit langem einer monumentalen Edition der Troubadours gewidmet, dem Choix des troubadours, der durch das Lexique roman ou dictionnaire de la langue des troubadours (erschienen in sechs Bänden zwischen 1838 und 1844) ergänzt wurde. Der provenzalischen Grammatik des ersten Bandes fügte Raynouard einen Abriß der historischen Grammatik aller r o m a n i s c h e n Sprachen (1821) hinzu, eine allerdings improvisierte Arbeit, der es an Material gebricht und die dem Irrtum unterliegt, das Provenzalische sei eine Zwischenstufe zwischen dem Lateinischen und den modernen romanischen Sprachen, dem Spanischen, Französischen und Italienischen. Der Einfluß der Werke von Bopp (1816) und Grimm (1819) war es, der Raynouard veranlaßte, 1821 diesen sechsten Band des Choix zu veröffentlichen, die Grammaire comparee des langues latines (1821).6 In Form einer Rezension des ersten Bandes von Raynouard (1816) publizierte August Schlegel in Paris die kleine Schrift Observations sur la langue et la litterature provenqales (1818). Darin greift er die linguistischen Grundsätze seines Bruders Friedrich auf, überprüft und korrigiert einige Punkte der Arbeit Raynouards und widerlegt die eben genannte These von der besonderen Stellung des Provenzalischen innerhalb der romanischen Sprachen. Das Provenzalische wird wieder auf den Platz verwiesen, den es im Rahmen der übrigen romanischen Sprachen einnimmt.7 4. Auch das erste philologische Werk von Friedrich Diez war eine Rezension zu Raynouard. Man findet auch da die soeben erwähnte Korrektur der Stellung des Provenzalischen. Fr. Diez (1794—1876), ein Anhänger der Romantik, der sich durch erstaunliche Urteilsfähigkeit und technisches Geschick auszeichnete, gilt als der Begründer der romanischen Philologie. Er verfaßte eine Grammatik der roma5 6 7

L. Gossman, Medievalism and the Ideology of the Enlightenment, Baltimore (Maryland) 1968. Vgl. G. Gröber, Grundriß, Bd. I, S. 62. Über Raynouard J. Körner, Frangois-Juste-Marie Raynouard, in: Germanisch-romanische Monatsschrift, 5 (1913), S. 456—488. G. Richert, Die Anfänge, S. 44.

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nischen Sprachen, die von 1836 bis 1843 in Bonn gedruckt wurde, und ein Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen (Bonn 1854). Diese Werke blieben bis zu ihrer Neubearbeitung durch Meyer-Lübke die hauptsächlichsten Hilfsmittel der Romanistik. Dazu kamen die Arbeiten auf dem Gebiet der Provenzalistik. In beiden Bereichen setzte er auf der einen Seite das Werk Raynouards, auf der anderen dasjenige der Brüder Schlegel fort. Wir sehen in Diez den Mann, der die noch unvollkommenen und oft unausgereiften Zielsetzungen derer vollstreckte, die ihm vorausgegangen waren. Diese Nüchternheit war Diez nicht von Natur aus gegeben, sondern stand am Ende einer Entwicklung, die ihn von einer Periode des jugendlichen Sturms und Dranges, in der er demonstrativ traditionelle deutsche Tracht trug und als „freiwilliger Jäger" zum napoleonfeindlichen hessischen Heer ging, zur nüchternen Resignation in der Beschäftigung mit der Wissenschaft führte. Der Begründer der romanischen Sprachwissenschaft wäre gern Revolutionär und Dichter gewesen! Als Gelehrter, der die Arbeit in der Zurückgezogenheit liebte, beanspruchte er den Titel des Gründers der neuen Disziplin, die sich schon sehr bald akademischer Anerkennung erfreute (Einrichtung von Lehrstühlen in Deutschland und dann nach und nach auch in anderen Staaten), niemals für sich, sondern überließ ihn Raynouard.8 Das gewaltige Streben nach Erkenntnissen eines Mannes wie Schlegel, geht bei Diez ganz in dessen praktische Arbeit ein. Die Bande, die bei Herder, Schlegel und Humboldt Sprache und Kultur zusammenhielten, werden bei Diez gelöst - für die Sprachwissenschaft zunächst zum Vorteil. Die Literaturwissenschaft konzentrierte sich auf die provenzalische Dichtung, und zwar aus einem Interesse heraus, das nicht in dieser Dichtung selbst begründet war, sondern in einem Bildungsdrang, der dazu anspornte, die bislang am wenigsten bekannten Momente der Dichtung zu erforschen. Diez war trotz seiner Herkunft nicht empfänglich für die streng romantische Perspektive, der es darum ging, die unbekannten, mythenbildenden Ursprünge, Träger von Grundwerten der Völker zu erforschen. Diese Haltung ist, wie man weiß, besonders mit der Person Jakob Grimms verbunden. Diez' Arbeiten stellen heute einen beeindruckenden systematischen Komplex dar. Er umfaßt auf dem Gebiet der vergleichenden romanischen Sprachwissenschaft die schon genannte Grammatik der romanischen Sprachen und das Etymologische Wörterbuch; auf dem Gebiet der romanischen Literatur des Mittelalters die Altspanischen Romanzen (1818) in deutscher Übersetzung; Die Poesie der Troubadours (1826) mit interessanten Beobachtungen auch sprachlicher Art; Leben und Werke der Troubadours (1829). Wie man sieht, hat der Weg, den Diez beschritten hat, ihn, insgesamt betrachtet, von der Beschäftigung mit der Literatur zur Sprachwissenschaft geführt; Diez' letzte Werke aber sind die überaus wichtigen Editionen der ältesten romanischen Texte: Altromanische Sprachdenkmäler (1846), die die Straßburger Eide, die Eulaliasequenz und den Boecis enthalten, sowie Altromanische Gedichte (1852) mit der Passion von Clermont-Ferrand. Diez' Bedeutung als Begründer einer Disziplin liegt, nicht anders als bei Bopp und Grimm darin, daß er eine Technik angewandt hat, die sich zur konsequenten Durchführung einer methodisch einwandfreien Untersuchung eignete. Unmittelbar 8

Über Leben und Werk von Diez vgl. E. R. Curtius, Bonner Gedenkworte auf Fr. Diez, in: E. R. Curtius, Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern-München

1960,8.412-427.

5. Historisch-vergleichende Methode

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nach diesen drei Wegbereitern werden im Rahmen jener Bewegung, die mit Herder beginnt und sich mit den Brüdern Schlegel und mit Humboldt fortsetzt, jene Voraussetzungen geschaffen, die für alle Neuerungen notwendig sind. Mit Bopp, Grimm, Diez und vielen anderen festigt sich das neue wissenschaftliche Paradigma und wird gebrauchsfähig. 5. Im 19. Jahrhundert breitete sich die historisch-vergleichende Methode über einen sehr großen Raum aus. Maßgeblich beteiligt an dieser Entwicklung war eine Gruppe von Wissenschaftlern, die ständig zunahm und schließlich zu einer großen Schar anwuchs, die über das ganze europäische Festland verteilt war, von Portugal bis nach Rußland, von den skandinavischen Ländern bis zum Balkan, mit Ausläufern in England und Amerika. Es ist bereits die Welt des libre echange intellectuel, wie Gaston Paris es formulierte, mit lebhaftem Import und Export. Die Forschungsmethode ist im wesentlichen einheitlich, aber auch die internen Meinungsverschiedenheiten und Neuorientierungen - in gewissem Sinne eine innere Opposition gegen das Paradigma - finden in diesem ganzen Raum ein Echo. Zur ersten Generation der direkten oder indirekten Schüler von Friedrich Diez gehören Gaston Paris und Paul Meyer in Frankreich, der Italiener Adolfo Mussafia in Österreich, der Schweizer Adolf Tobler, der Deutsche Karl Bartsch u.a. - Männer verschiedener Interessen und Stile, die aber alle in erster Linie Verbreiter der historisch-vergleichenden Methode sind. Alle sind gleichzeitig auch Herausgeber mittelalterlicher Texte: sorgfältig, aber unpersönlich arbeitende Herausgeber, die das Ideal objektiver Nüchternheit so weit bringt, daß sie den von ihnen edierten Texten zuweilen nicht ein einziges kommentierendes Wort beigeben, und zwar selbst dann nicht, wenn es sich um Werke von hohem literarischem Rang handelte. Sprachliche und literarische Interessen laufen hier zum erstenmal nicht mehr parallel. Dies folgte nicht nur aus der Notwendigkeit zur Spezialisation, die bestimmt auch eine gewisse Rolle gespielt hat, sondern aus einer Trennung auf methodologischer Ebene. Ein erster Exkurs, der sich mit der Gestalt Schleichers beschäftigt, soll verdeutlichen, welche Eigenart und welche Bedeutung die neue Autonomie der Sprachwissenschaft hatte. Dem großen und einflußreichen Indogermanisten August Schleicher verdanken wir einige sehr wichtige ideologische Stellungnahmen. Wiederholt, und zwar besonders in dem kleinen Werk Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft (Weimar 1863), definiert er die Linguistik als Naturwissenschaft. Damit nahm Schleicher eine Anregung auf, die von Schlegel und Humboldt stammte, aber einer Zeit entsprang, in der - wie bei Goethe und im Idealismus — die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften einen gemeinsamen philosophischen Rahmen besaßen. Inzwischen war jedoch die Wissenschaft, auf die Schleicher sich beruft, ein Wissenszweig für sich geworden. Nach der Auffassung Schleichers untersucht man die Sprachen in ihrer Entwicklung. Diese folgt Gesetzen, die von den Individuen unabhängig sind. Obwohl die Sprachen von Menschen gesprochen werden, werden sie nicht von den Sprechern oder einer Gruppe von Sprechern festgelegt, wie dies bei kulturellen, politischen und anderen sozialen Einrichtungen der Fall ist, sondern entfalten sich unabhängig von deren Willen. Nach Schleicher kann ein Mensch seine Sprache genau so verändern wie eine Nachtigall ihren Gesang.9 Aber die Sprachen wandeln sich trotz9 A. Schleicher, Linguistische Untersuchungen, Bonn 1830.

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//. Unter dem Vorzeichen der Geschichte

dem. Sie sind also die Arten, die der Linguist bei ihrer Entwicklung beobachtet wie der Botaniker die Pflanzen - wobei er dann, nach Darwinschem Vorbild, deren Entwicklung rekonstruiert. Es geht um das Werden, nicht um die Geschichte, denn diese setzt das bewußte Eingreifen des Menschen voraus. Der Stammbaum der indogermanischen Rekonstruktion, die natürliche Darstellungsform der sprachlichen Differenzierung, wird ein Darwinscher Baum. Dadurch, daß Schleicher die Vorstellung von der Sprache als Organismus bis zu diesem Punkt trieb, brachte er eine über Jahrhunderte sich erstreckende Epoche zum endgültigen Abschluß. Es ist die Epoche, in der man an einen Zusammenhang zwischen der Sprache und den Werken der Dichtung glaubte. Schleicher hat die Arbeit des Sprachwissenschaftlers, der die Sprache an sich untersucht, von der Arbeit des Philologen unterschieden, der sich der Sprachwissenschaft bedient, um kulturelle Phänomene zu erklären. Schleicher ist viel kritisiert worden. Auch die Junggrammatiker wandten sich gegen seine Vorstellung von der Sprache als Organismus. Viele behaupteten in der Folge, die Sprache sei ein kulturbedingtes Phänomen oder eine Kultur sui generis. Dazu mußte man über die alte Konzeption und über die endgültige Ablehnung derselben durch Schleicher hinausgehen. Das historisch-vergleichende Verfahren der Sprachwissenschaft fand seine Orthodoxie in der Lehre der Junggrammatiker. 6. „Junggrammatiker" nannte man anfänglich einige Vertreter der Leipziger Schule. Die Ironie der Geschichte will es, daß diese Schule, die dazu bestimmt war, viele Generationen hindurch die Orthodoxie in der Sprachwissenschaft zu verkörpern -ja, man möchte sagen: sie in mancher Hinsicht auch heute verkörpert -, einen Namen trägt, den sie seinerzeit wegen der polemischen Haltung ihrer Vertreter erhielt, als diese noch junge Wissenschaftler waren. Das Verdienst der Junggrammatiker besteht allein darin, das beste Verfahren der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft mit einem Minimum an theoretischem Aufwand kodifiziert zu haben. Dieses Minimum ist eine Forderung, die in völligem Einklang mit den elementaren Bedürfnissen einer Wissenschaft steht, die sich nicht mit bloßen Tendenzen oder quantitativen Näherungswerten zufriedengeben kann. Die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, wie die Formel der Junggrammatiker lautete, ist ein Apriori, das häufig kritisiert worden ist, der Forschung aber äußerst wichtige Anreize gab. Ausgehend von dem Gedanken, daß die Lautgesetze keine Ausnahme zulassen könnten, fand man in der Tat viele neue Gesetze, die den scheinbaren Ausnahmen den Charakter eines neues Gesetzes gaben. So hat das „Vernersche Gesetz" gezeigt, daß die Ausnahmen des „Grimmschen Gesetzes" regelmäßig sind, und es hat zugleich den Weg für wichtige Entdeckungen im Hinblick auf den indogermanischen Akzent frei gemacht.10 Im folgenden führen wir ein Beispiel aus dem Bereich der Romanistik vor, das sich auch dazu eignet, konkret zu zeigen, wie die historisch-vergleichende Methode arbeitet: Der lateinische Tonvokal A wird im Französischen zu e (CLARUM > der, CANTARE > chanter, MARE > mer). So formuliert, hat das Gesetz Ausnahmen: RARTEM > part, AMO > aim, CANEM > chien. Aus diesen Beispielen ergibt sich die folgende Präzisierung des Gesetzes: (1) A wird nur dann zu e, wenn es in 10

Lyons, Introduction (bzw. dt. Übers.), § 1,3, 11.

6. Junggrammatiker

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offener Silbe steht, sonst bleibt es erhalten (RARTEM > part); (2) A wird nur dann zu e, wenn es nicht vor Nasal (m, n) steht, sonst bleibt es ai (FAMEM >faim, GRANUM > grain); (3) A wird nur dann zu e, wenn kein palatales Element k', t J, das sich aus K entwickelt, vorausgeht, sonst wird es zu ie (chien < CANEM, chief < CAPUT, chievre < C APR AM). Die verbleibenden Ausnahmen sind im Sinne der Junggrammatiker mit Hilfe der A n a l o g i e zu erklären. Diese beruht auf der Anziehungskraft, die eine Form von anderen Formen erfährt, die ihr der Bedeutung oder dem Paradigma nach nahestehen, oder anders: auf der Anziehungskraft, die ähnliche Formen aufeinander ausüben. So erklärt sich das italienische mossi nicht aus dem lat. MOVI, sondern aus der Analogie zu scrissi, dissi (< SCRIPSI, DIXI); der Infinitiv essere statt esse, wie er schon im Lateinischen vorkommt, erklärt sich analog zu den anderen Infinitiven der 3. Konjugation, usf. Auf der Ebene der Saussureschen parole ist es ebenfalls die Analogie, die uns manchmal it. decite statt dite sagen läßt - aufgrund der Anziehungskraft, die dem gesamten Paradigma vom Typ vedete, godete, siete etc. zu eigen ist. Die Analogie wird von den Junggrammatikern als ein psychologisches Element dargestellt, also als abhängig von der Tätigkeit der Sprecher, sei es als Individuen oder als Gesamtheit. Diese Behauptung klingt nach Polemik gegen Schleicher, dessen Vorstellung von der Sprache als Organismus die Junggrammatiker nicht billigten. Doch das Bild, das sich die Junggrammatiker von der Sprachentwicklung machten, unterscheidet sich nicht wesentlich von demjenigen Schleichers. Der Rückgriff auf die „Psychologie", der lediglich dazu dienen soll, eine neue Technik zur Interpretation von Einzelphänomenen zu liefern, eröffnet keine neuen Perspektiven für eine integrierte Forschung (wie sie sich, wenn auch nur mühsam, zur Zeit anbahnt). Der Unterschied zwischen Schleicher und den Junggrammatikern besteht - wie Cassirer zeigt11 - darin, daß Schleicher, der zunächst Hegelianer und später Darwinist war, seiner Theorie eine spekulative Grundlage gab, während die Junggrammatiker die Verurteilung jeglicher Theorie sanktionierten und die Linguistik zu einer positiv (und positivistisch) verstandenen Wissenschaft machten, die sich in der reinen Forschungstätigkeit erschöpft. Der Grundsatz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze hat keineswegs auf der ganzen Linie gesiegt. Jede historische Grammatik ist ein Dickicht nicht nur von Gesetzen, sondern auch von Ausnahmen. Lange Zeit schien es, daß zu diesem Problem nichts mehr weiter zu sagen sei, bis in jüngster Zeit der amerikanische Soziolinguist William Labov die Frage wiederum aufgriff, indem er neue, wohlbegründete Kriterien soziologischer Art in die Forschung einbrachte (Kap. IV, § 2). Zur Zeit der Junggrammatiker machte sich die Sprachwissenschaft einen weiteren wichtigen Grundsatz zu eigen. Daß Veränderungen nur zwischen verwandten Lauten eintreten, hatte man immer gesehen, selbst zu Diez' Zeiten (der allerdings trotzdem noch den ungenauen Terminus „Buchstaben" gebrauchte, statt von „Lauten" zu sprechen); doch blieb die lautliche Verwandtschaft selbst ein unbestimmtes, schlecht abgegrenztes Kriterium. Präzisere Kriterien lieferte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. erst die experimentelle Phonetik. Diese Laboratoriumswissenschaft mußte bei den Junggrammatikern und ihren Anhängern ohne Frage großen Anklang finden. Um zu zeigen, welchen Platz sie innerhalb der historisch11

Cassirer, Philosophie, S. 113.

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//. Unter dem Voneichen der Geschichte

vergleichenden Grammatik einnehmen kann, beziehen wir uns hier auf einen Paragraphen aus Meyer-Lübkes Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft (Heidelberg 1901, § 50,21909, § 53; das Kapitel trägt den bezeichnenden Titel: Biologische Aufgaben). Dort widerspricht Meyer-Lübke der „lauthistorischen Beobachtung", daß „ in fr. craindre aus lat. tremere ,zittern' tr zu er geworden sei, wie in lat. veclus aus vetlus tl zu c/", it. vecchio, fr. vieil. Denn während bei tl und cl der Artikulationsort von / sich kaum verändert, wird das r bei tr und er an sehr unterschiedlichen Stellen artikuliert. Wie man sieht, kommt hier der Lautphysiologie eine rein negative Funktion zu, nämlich diejenige der Kontrolle (die im vorliegenden Fall sogar überflüssig ist, denn, wie Meyer-Lübke selbst anmerkt, bleibt das lateinische tr im Französischen erhalten: tres < TRANS, traire < TRAHERE etc.).12 Die Entwicklungen in der experimentellen Phonetik haben die bequemen phonetischen Schemata nicht nur der Junggrammatiker, sondern der ganzen früheren Sprachwissenschaft sämtlich hinfällig werden lassen. Betrachtet man sie aufmerksam, dann stellt man fest, daß die Laute einer Sprache auch im Falle eines einzigen Sprechers nicht zwanzig oder dreißig, sondern Hunderte und Tausende sind. Dazu kommt, daß sich die lautlichen Realisierungen nicht nur von Gegend zu Gegend und von Stadt zu Stadt, sondern sogar innerhalb einer einzigen Familie voneinander unterscheiden. Die linguistische Praxis hat sich angesichts dieser Schwierigkeit oft damit geholfen, daß sie sich auf die Empirie berief und einfach die typischen Realisierungen angab. Doch ist dieses Verfahren nicht nur nicht einfach, sondern es kommt einem offenen Eingeständnis von Mangelhaftigkeit gleich. Die Lösung lag nicht in einem Mehr an Beobachtung, sondern ganz allein im Rahmen einer theoretischen Erneuerung, die sich mit dem Strukturalismus vollzog und dazu führte, daß nunmehr zwischen Phonemen und Lauten unterschieden wurde, und ebenso auch zwischen Phänologie und Phonetik (Kap. III, § 4).

7. In den Rahmen der junggrammatischen Tradition gehört auch das Werk des Schweizer Romanisten Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1936). Gleichermaßen dem 19. und dem 20. Jahrhundert zugehörig, hat Meyer-Lübke die großen romanischen Repertoiren von Diez in Werken monumentalen Ausmaßes neu bearbeitet: in der Grammatik der romanischen Sprachen (3 Bde. nebst Register, Heidelberg 18901902) und im REW, wie man gewöhnlich das Romanische Etymologische Wörterbuch (Heidelberg 1911-1920) zitiert, dessen 3. Auflage von 1935 die noch heute gebräuchliche ist. Dazu ferner die vorhin genannte Einführung in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft. Wer romanische Sprachwissenschaft studiert, muß sich mit der Grammatik und vor allem mit dem REW vertraut machen. Das REW gibt Aufschluß darüber, wie die Wörter der romanischen Sprachen sich aus dem Vulgärlatein ableiten, wobei die lautlichen Veränderungen, wenigstens zu einem großen Teil, voraussehbar sind. So haben wir unter der Nr. 3572 als Weiterentwicklung des lateinischen FÜMUS rum. fum, it. fumo, log. fumu, engad. füm, friaul., fr., prov., kat. fum, sp. humo, pg. fumo; hinzu kommen die Ableitungen wie it. fumare, fr. fumee (das im It. zu fumea „dichter Rauch; Blähung" geworden ist). Ein Fall wie dieser, in dem die Ableitungen so zahlreich sind, kann in Form eines kleinen Stammbaums dargestellt werden, der dem Stammbaum, der die 12

Meyer-Lübke schlägt als Lösung vor, das Wort als Kreuzung von lat. tremere und gallisch crem zu erklären (REW 8877).

8. Wellentheorie

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Derivation der romanischen Sprachen schlechthin wiedergibt, außerordentlich ähnlich sieht: Vlt. FÜMUS rum. fum

it. fumo

sd. fumu

engad. füm

friul. fr. prov. kat. fum

sp. humo

pg. fumo

Wie wir im Fall von it.fumea „Rauch-, Nebelwolke" gesehen haben, besteht zwischen den Entlehnungen und den vertikalen Weiterentwicklungen ein Unterschied. So ist mangiare eine italienische Entlehnung aus dem Französischen (REW, 5292), während umgekehrt fr. balcon und sp. balcon über das Italienische laufen. It. balcone wiederum hat einen germanischen Ursprung (vgl. fränkisch und langobardisch balkd). Nehmen wir noch ein weiteres Beispiel, so sehen wir, daß prov. sia, it. zio, zia und kat., sp., pg. tio, tia von griechisch thius, thia stammen (REW, 8709), fr. und prov. onde jedoch von lat. AVUNCULUS (REW, 838); das engl. uncle ist aus dem Altfranzösischen übernommen. Diese wenigen Beispiele geben nur eine äußerst blasse Vorstellung von der immensen Verzweigung der romanischen und außerromanischen Sprachen, die im REW mit seinen fast zehntausend Stichwörtern skeletthaft vorgeführt wird. Dieselbe und z.T. umfassendere Information findet man - allerdings in einem anderen Darstellungszusammenhang - auch bei Wartburg im FEW.13 8. Es gibt verschiedene interessante Aspekte der historisch-vergleichenden Methode, die während des ganzen 19. und zu Beginn des 20. Jh. in Erscheinung getreten sind, ohne daß dabei die Methode der Junggrammatiker verfeinert worden wäre. Es handelt sich vielmehr um Formen der Opposition, die von lebhaften Polemiken ihrer Urheber gegen die Konzeption der Junggrammatiker begleitet waren. Bei der Betrachtung einiger dieser neuen methodologischen Aspekte richten wir unser Augenmerk vor allem darauf, wie sie sich gegenüber der anerkannten Orthodoxie ausnehmen und inwiefern sie sich von ihr unterscheiden. Die W e l l e n t h e o r i e macht gewisse Annahmen über die räumliche Ausbreitung von Sprachen und von Neuerungen innerhalb derselben. Sie wurde von dem Indogermanisten Johannes Schmidt in seinem Büchlein Die Verwandtschaftsverhältnisse der Indogermanischen Sprachen, Weimar 1872, formuliert; man findet sie jedoch auch schon bei Hugo Schuchardt. Bei der Darstellung des Kerns dieser Konzeption wird hier von den genauen Formulierungen dieser Gelehrten abgesehen, und zwar deshalb, weil sie mehr suggestiv als präzis sind. Das Bild der Welle soll suggerieren, daß sich eine Neuerung von einem Zentrum aus auf ganz ähnliche Weise verbreitet wie die Welle, die durch einen Stein hervorgerufen wird, der auf die vorher bewegungslose Wasseroberfläche fällt. In Figur (1) ist das Zentrum a, die erste Welle a. Der Aktionsradius der ersten Welle fällt nicht notwendig mit denen der anderen (b, c) zusammen, die zwar von demselben Zentrum, aber offenbar mit weniger Intensität hervorgebracht werden. Wenn es drei Wellen a, b und c gibt, wird der Punkt nur von den Phänomenen a und b betroffen, nicht aber von c. 13

Vgl. W. von Wartburg, Französisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 1-20, versch. Verlagsorte 1926-1968.

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//. Unter dem Vorzeichen der Geschichte

Wenn wir sagen, sei Rom, können wir mit dem Kreis, der den Umfang a hat, beispielsweise die Neuerungen kenntlich machen, von denen die ganze Romania betroffen wurde (und die deshalb „gemeinromanisch" sind); b und c stehen für andere Veränderungen, deren Ausgangspunkt zwar ebenfalls Rom war, die ihre Wirkung jedoch nur auf kleinere Gebiete ausdehnen konnten. Stellen wir uns nun vor, die Darstellung (1) bleibe bestehen und werde von einer anderen überlagert, bei der von einem neu entstandenen Zentrum ähnliche Wellen ausgehen, dann erhalten wir typische Erscheinungen von Überlappung (Fig. 2).

Fig. l

Fig. 2

In der Figur (2) wird außer von a und b, die vom Zentrum abhängen, auch von n betroffen, das von abhängig ist. Man kann dieser Zeichnung, die - genau wie die vorige - vereinfachend ist, hier schwer einen konkreten Inhalt geben. Dennoch kann man sich den Fall eines im südlichen Frankreich gesprochenen okzitanischen Dialektes vorstellen, der zunächst an einer bestimmten Zahl von Neuerungen, die von Rom ausgehen, teilhat und dann - in jüngerer Zeit - Neuerungen aufnimmt, die aus dem Französischen mit seinem neuen Zentrum Paris ausstrahlen. (Die Zeichnung könnte demgegenüber z.B. auszuschließen, daß das Rätoromanische selbst aus einem oder mehreren seiner Zentren Neuerungen hervorgebracht habe; das ist aber mit Sicherheit nicht der Fall.) Diese Beispiele dürften die Vorstellung nahelegen, daß dann, wenn man mit großen und komplexen Zeichnungen arbeitet, eine Sprache sich durch eine Folge von Veränderungen erklären läßt, die entweder aus der direkten Beziehung zur Ausgangssprache (die das erste Zentrum bildet) oder aus der Gegenüberstellung mit den angrenzenden Sprachen errechnet werden, die über eine gewisse Expansionskraft verfügen. Man kommt deshalb zum Schluß, daß der Stammbaum eine unangemessene Darstellungsform der Entwicklungszusammenhänge ist. Oder man macht sich die Terminologie der ebenfalls mit einem Stammbaum (dem stemma codicum) arbeitenden Textkritik zunutze und sagt, der Stammbaum jeder Sprache sei kontaminiert - wobei unter Kontamination die gegenseitige Beeinflussung paralleler Äste zu verstehen ist (wie sie in Figur 3 durch gestrichelte Pfeile angezeigt wird). Die Kontamination beschränkt die Ausschließlichkeit der vertikalen Beziehungen im Stemma (also z.B. zwischen Latein und Italienisch, zwischen Latein und Französisch usw.).

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9. Hugo Schuchardt

It.

Fr.

Fig. 3

9. Aus diesen und anderen Beobachtungen ähnlicher Art schloß Hugo Schuchardt in einer berühmten Formel: „Es gibt keine völlig ungemischte Sprache."14 Es gibt nur mehr oder weniger stark gemischte Sprachen: der Unterschied liegt allein im Grad der Mischung. Dieser resultiert aus historischen Komponenten. Im vorliegenden Zusammenhang beschränken wir uns auf die Betrachtung von Veränderungen geringeren Umfangs im Rahmen von mehr oder weniger gefestigten Sprachen. Je anfälliger eine Sprache gegenüber Neuerungen ist, desto geringer ist ihr soziales und kulturelles Prestige; sie ist dann vielleicht sogar nur ein Dialekt im Verhältnis zu einer Kultursprache. Doch kann auch eine wenig angesehene Sprache von außen kommende Neuerungen nur zurückhaltend aufnehmen: dann nämlich, wenn sie von anderen Sprachen isoliert ist (wie z.B. im Falle des Litauischen, das heute dem „Indogermanischen" näher steht als viele alte Sprachen) oder dann, wenn die Erhaltung der Sprache den Willen zur Erhaltung der ethnischen Identität zum Ausdruck bringt (man spricht in diesem Fall von „Sprachtreue", language loyalty}, oder aus ähnlichen Gründen. Der Leser wird bemerkt haben, daß es hier zu einer Wiedereinführung von kulturellen Faktoren und im allgemeinen auch zur erneuten Einbeziehung historischer Gesichtspunkte kommt - wobei „historisch" durchaus im prägnanten Sinn des Wortes zu verstehen ist. Das Werk Schuchardts war in dieser Hinsicht außerordentlich wichtig. Sein großes Opus, Der Vokalismus des Vulgärlateins (3 Bde., Leipzig 1866—68), besteht aus der kritischen Durchsicht einer gewaltigen Menge von Sprachmaterial aus jeder einzelnen Region des Imperiums. Thematisiert wird jedoch nicht der Mechanismus des Sprachwandels in der von den Junggrammatikern verallgemeinerten schematischen Form. Schuchardt folgt den Wechselfällen einer vielgestaltigen sprachlichen Entwicklung, Vorgängen mit verschiedenen Erscheinungsformen (die sich durchgesetzt haben, fehlgeschlagen sind oder unterdrückt wurden). Dabei bezieht er sich nicht nur auf Laute und Formen ganz allgemein, sondern auch auf Wörter, die ein besonderes Schicksal haben. Schuchardts Untersuchungen und in der Folge die Dialektologie und die Sprachgeographie haben trotz teilweise verschiedener Gesichtspunkte gezeigt, wie unregelmäßig die geographische Verteilung des Sprachwandels in der Romania in Wirklichkeit ist. Sie haben auch den Sprachbegriff selbst, der bis dahin nie in Frage 14

Vgl. Hugo Schuchardt-Brevier, Ein Vademecum der allgemeinen Sprachwissenschaft, zusammengestellt und eingeleitet von L. Spitzer, Halle (Saale) 21928, S. 153.

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//. Unter dem Vorzeichen der Geschichte

gestellt, sondern unkritisch akzeptiert worden war, ins Wanken gebracht. Man unterscheidet eine Sprache nun nicht mehr von einem Dialekt, da alle literarischen, kulturellen usw. Begründungen als äußerlich angesehen werden. Andererseits erscheint die Bestimmung der einzelnen Sprachen und Dialekte deshalb als mühsam, weil es interne Variationen gibt und keine festen Grenzen, sondern in vielen Fällen nur Abstufungen, denen zufolge die Dialekte schrittweise ineinander übergehen. Die Frage der Sprachgrenzen und der Definition von Sprachgruppen, Sprachen, Dialekten und Subdialekten wurde im 19. Jahrhundert und darüber hinaus heftig diskutiert (Kap. VI). 10. Betrachten wir nun unter demselben Gesichtspunkt die Entwicklung der Mundartforschung (D i a l e k t o l o g i e). Sie ist von dem italienischen Sprachwissenschaftler Graziadio Isaia Ascoli mit den bekannten Saggi ladini ins Leben gerufen worden.15 Die Bedeutung dieses Werkes liegt darin, daß es eine große Zahl von sprachlichen Phänomenen untersucht, die gleichmäßig über das ganze bündnerische und norditalienische Gebiet verteilt sind. Die große Vielfalt der Ergebnisse erlaubte es zum ersten Mal, das Spiel der Unregelmäßigkeiten in den Mundarten der einzelnen Ortschaften und den verwirrenden Komplex der gegenseitigen Beeinflussung zu beobachten. Darüber hinaus konnte Ascoli einen relativ einheitlichen Sprachraum ermitteln, der drei getrennte alpine und subalpine Zonen umfaßt: das Bündner Oberland, Mittelbünden und das Engadin (Graubünden) in der Schweiz (westliche Zone), einige Täler der Dolomiten (mittlere Zone) und das Friaul (östliche Zone). Die relativ große Einheitlichkeit dieser Dialekte beruht auf der Bewahrung älterer Formen. Wir sagen: ihnen allen ist gemeinsam, daß sie von keinen „Wellen" erreicht worden sind, da diese vorher zum Stillstand kamen (Ascoli benutzt allerdings das Bild von der Welle nicht, und er würde es auch nicht benutzen); aber sie wurden von mehr oder weniger gemeinsamen Neuerungen erfaßt, obwohl bei der außerordentlich großen Schachtelung des Raumes eine vollständige Einheitlichkeit kaum zustande kommen konnte. Die drei Zonen sind voneinander getrennt durch Dialekte von Tälern, die dieselben Merkmale aufweisen wie die Dialekte der Ebene (und von Mundarten anderer Sprachen, z. B. deutsche). Sie bilden nach Ascoli eine selbständige romanische Sprache, die e r L a d i n i s c h nennt (der Terminus rätoromanisch bezieht sich eher auf die bündnerischen Varianten in der Schweiz). Ascolis These hat eine lange, heute noch lebendige Diskussion über die Bedingungen in Gang gebracht, die erfüllt werden müssen, damit aus einer Menge von Dialekten eine Sprache wird. Oft wird behauptet, daß man nicht von Sprache sprechen kann, ohne die Existenz einer gemeinsamen Kultur, was z. B. bei den drei genannten Gruppen nicht zutrifft (Kap. IV, § 3). Man hat auch bezweifelt, und möglicherweise mit Recht, daß der geographische Raum des Rätoromanischen ursprünglich einheitlich war. Die festgestellten Ähnlichkeiten könnten, wie wir im folgenden Abschnitt zeigen werden, auch andere, nämlich areale Gründe haben.16 Aber das 15 16

Die Saggi ladini bilden den ersten Band des „Archivio Glottologico Italiano" (1873). Eine umfassende, von geographischen Gegebenheiten ausgehende Erklärung findet man bei G. Francescato und F. Salimbeni, Lingua e societä del Friuli, Udine 1976, teilweise aufgrund der Beobachtungen von H. Schmid, Über Randgebiete und Sprachgrenzen, in: Vox Romanica, 15 (1956), S. 19-80.

11. Sprache im Raum

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beunruhigende Ergebnis der Untersuchungen Ascolis und der Mundartenforschung überhaupt ist die Tatsache, daß die Dialekte sich ohne deutliche Begrenzungen nur in fließenden Übergängen voneinander unterscheiden. Gegenüber dem konkreten Befund der Dialektologie muß die Vorstellung von „Sprache" als Abstraktion erscheinen. Worin besteht in Wirklichkeit das Italienische, worin das Französische oder das Spanische? Was vor uns liegt, ist ein mundartliches Kontinuum, das sich schrittweise differenziert. Die vertiefte Erforschung des Sprachwandels hat auf diese Weise manchmal zu paradoxen Ergebnissen geführt. Vermutlich können einige davon durch Neuformulierung des Problems im strukturalistischen Sinn und mit Hilfe von soziolinguistischen Kriterien korrigiert werden. Außerdem wurden mit einer Art innerer Logik jene kulturellen und historischen Faktoren wieder eingeführt, deren Fehlen die Erforschung der Sprache eine Zeitlang zu jener starren und dürftigen Routine hatte werden lassen, die dem Stil der Junggrammatiker entsprach. 11. Die mit der Mundartforschung eng verbundene S p r a c h g e o g r a p h i e hat eine Technik der kartographischen Darstellung sprachlicher Phänomene erarbeitet, die es ermöglicht, ausgehend von deren räumlicher Verteilung, mit größerer Präzision die im Laufe der Zeit eingetretenen sprachlichen Veränderungen zu rekonstruieren. Verglichen mit den Beobachtungsmöglichkeiten, die die Karten der Sprachatlanten bieten, erscheint die „Welle" lediglich als eine erste, wenn auch nützliche Näherung. In Wirklichkeit werden sprachliche Veränderungen auf Wegen übertragen, die es in der Tat gibt, auf Straßen, Pässen, Meerengen; sie beschränken sich auf politisch oder juristisch umschriebene Gebiete und machen halt vor unwegsamen örtlichkeiten (denn diese sind nicht nur geographisch, sondern auch kulturell isoliert) usw. Diesen komplexen Expansionstendenzen haben u.a. einige italienische Gelehrte, die die sog. N e o l i n g u i s t i k begründeten, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Matteo Bartoli kodifizierte sie in den sog. Arealnormen.17 Die erste dieser Normen besagt, daß die älteste Phase stets diejenige ist, die von dem am stärksten isolierten Gebiet bewahrt wird. Das Sardische z.B. setzt die lat. Wörter DOMUS, IANUA, EQUA fort, während die ganze übrige Romania die innovatorischen Formen CASA, PORTA, CAVALLA aufweist. Ferner: Wenn es eine Verteilung von Formen derart gibt, daß ein kompaktes Randgebiet einem ebenfalls kompakten zentralen Gebiet gegenübersteht, dann ist die erstere älter. Das ist z.B. der Fall bei OVIS auf der iberischen Halbinsel, in Gallien und in Dazien gegenüber PECORA (in Italien), das eine Neuerung darstellt; oder bei ROGARE mit sp., pg. rogar, rum. a ruga (afr. noch rover), gegenüber PRECARE (fr. prier, it. pregare) als Innovation. Alle diese neuen Gesichtspunkte vertragen sich, anders als es scheinen möchte, durchaus mit dem üblichen Vorgehen der Junggrammatiker. Die ganze Sprachwissenschaft hat im Grunde auf die Lautgesetze zurückgegriffen und sich auch mit der Untersuchung von Einzelfällen befaßt. Man hat die Uniformität der jeweiligen Sprachen berücksichtigt und dabei einen mehr oder weniger wichtigen Platz auch 17

Vgl. M. Bartoli, Introduzione alia Neolinguistica, Genf 1925; Saggi di linguistica spaziale, Turin 1945; mit G. Bertoni, Breviario di neolinguistica, Modena 1928; mit G. Vidossi, Lineamenti di linguistica spaziale, Mailand 1923.

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//. Unter dem Vorzeichen der Geschichte

den Formen eingeräumt, die sich auf anderem Wege, über Dialekte usw. erklären lassen. Das kommt der Aussage gleich, daß die historisch-vergleichende Methode durch diesen Widerstand nicht verdrängt wurde, sondern den Antrieb zu einer das Paradigma bereichernden inneren Dialektik erhielt. Die erbittertsten Gegner der These von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze benutzten dieselben selbst, und sie begannen mit den Ausnahmen erst dann zu arbeiten, wenn sie die Gesetze bis zum Extrem geprüft hatten. Die Einbeziehung der kulturellen Faktoren war an sich glücklich, in vielen Punkten gleichzeitig aber auch unerhört problematisch. Im Klima des Idealismus galt die Linguistik als Geschichtswissenschaft.18 Werke wie die Storia della lingua di Roma (1944), das Profilo dl storia linguistica italiana (1953), // linguaggio d'Italia (1974) von Giacomo Devoto, die Historia de la lengua espanola von Rafael Lapesa (1942) oder die Evolution et structure de la langue franqaise (1946) von Walther von Wartburg setzen auf der einen Seite Arbeiten junggrammatischen Typs wie diejenigen Meyer-Lübkes voraus, betonen aber auf der anderen Seite gleichzeitig die kulturgeschichtlichen Bedingungen. Man kann sogar sagen, vor allem was Devoto betrifft, daß das hierarchische Verhältnis von sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten sich - gegenüber Schuchardt - genau umgekehrt hat: Hauptthema dieser Sprachgeschichte ist die Geschichte eines Landes, die in ihren verschiedenen Episoden aus dem Blickwinkel der Sprache dargestellt wird. Maßgebliche Kritik an den Junggrammatikern übten der bedeutendste Vertreter der Sprachgeographie, Jules Gillieron (1854-1926), und der Indogermanist Michel Breal. Für beide erklären die Lautgesetze nur einen geringen Teil des Sprachwandels. Was Gillieron betrifft, verweisen wir auf die Sprachgeographie (Kap. IV, § 5). Breal - der auch die französische Übersetzung der vergleichenden Grammatik von Bopp besorgte - ist bekannt als Begründer der Semantik, d.h. jenes Zweiges der Linguistik, der sich mit den Bedeutungen befaßt (Kap. VIII). Angesichts der Fortschritte, die diese Wissenschaft in neuerer Zeit gemacht hat, erscheint sein im Essai de Semantique (Paris 1897) zusammengefaßtes Werk allerdings als weitgehend überholt. Es ist also vor dem Hintergrund seiner eigenen Zeit zu betrachten. Wir hatten schon Gelegenheit zu beobachten, wie die historische Sprachwissenschaft sich immer stärker auf das Studium des Lautwandels konzentrierte; die allgemeinen morphologischen Fragen, an denen Schlegel und Bopp interessiert gewesen waren, wurden dabei zunehmend verdrängt. Die Erforschung der Entwicklung der Formen nahm zwar auch weiterhin einen beachtlichen Raum in den historischen Grammatiken ein, doch geschah dies ohne die strengen Kriterien, die in der Lautlehre üblich geworden waren. Die Syntax wurde gewöhnlich nur kurz und ohne historische 18

Zum Idealismus oder besser: zur idealistischen Sprachwissenschaft B. Croce, Estetica come Scienza deü'Espressione e Linguistica Generale, 1. Auflage 1901, besonders Kap. XVIII (dt. Übers.: Aesthetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik. Theorie und Geschichte, übersetzt nach der 2. durchges. Aufl., Leipzig 1905); K. Vossler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft, Heidelberg 1904; Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung. Geschichte der französischen Schriftsprache von den Anfängen bis zur klassischen Neuzeit, Heidelberg 1913, 21929; B. Terracini, Conflitti di lingue e culture, Vicenza 1957 (in spanischer Sprache 1951); Lingua libera e libertä linguistica, Turin 1960. Dazu G. Devoto, l fondamente della storia linguistica, Florenz 1951 (besonders Kap. VI) (sp. Übers.: Los fundamentos de la historia linguistica, Buenos Aires 1955); Studi di stilistica, Florenz 1950, S. 7 ff.

12. Bilanz der hist.-vergl. Methode

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Kriterien behandelt. Es galten die Kategorien der klassischen Grammatiktradition. Bei der Untersuchung des Lexikons im Hinblick auf die Etymologie ist die Beobachtung keine Seltenheit, daß ein Wort seine Bedeutung geändert hat. Man bemerkte z. B. - schon seit Diez —, daß die Formen, die lat. FOCUS fortsetzen, nämlich rum./oc, it.fuoco, fr.feu usw. alle „Feuer" bedeuten und nicht mehr, wie im Lateinischen „Herd". Aber diese Feststellung blieb - anders als bei den Lautungen - isoliert und unerklärt. Breal hat als erster diese und andere die Bedeutung betreffende Probleme untersucht, d.h. auch solche, die nicht das Lexikon, sondern die sog. grammatische Bedeutung ausmachen. In lt. foeminarum und it. delle donne haben -arum und delle dieselbe Bedeutung. Breal hat für diese Fakten einige Klassifikationsschemen geliefert. Es gibt Bedeutungsverengerungen, z. B. beim Übergang von lat. NECARE „töten" zu fr. (se) noyer „ertränken; ertrinken" und zu entsprechenden anderen Formen der romanischen Sprachen. Es gibt aber auch Bedeutungserweiterungen, z.B. im Falle von lat. PASSER „Spatz", das sp. päjaro, rum. pasäre „Vogel" ergibt. Im oben erwähnten Beispiel von FOCUS gegenüber foc, fuoco, feu liegt eine Nachbarschaftsbeziehung vor. In einer temperamentvollen Polemik wies Breal nach, daß die historische Sprachwissenschaft sich stillschweigend vorgenommen hatte, für ihre Zwecke nur einen recht beschränkten Teil der gesamten Sprachwirklichkeit zu untersuchen, nämlich den Ausdruck, und die andere Hälfte, den Inhalt, außer acht zu lassen. 12. Tatsächlich blieb sehr viel mehr als die Hälfte der Sprache von der Sprachwissenschaft der Junggrammatiker und auch von derjenigen ihrer Gegner ausgeschlossen. Die ungeheure Arbeit, die geordnete Materialsammlung und die zufriedenstellende Lösung vieler Probleme waren nur dadurch möglich, daß das Blickfeld beträchtlich eingeschränkt wurde, sei es im Hinblick auf die anfänglichen Ambitionen der historischen Sprachwissenschaft, sei es gegenüber der alten klassizistischen Konzeption. Ihre Probleme: die Beziehung zwischen Sprache, Denken und Wirklichkeit, die Definition und der Status der verschiedenen Ebenen und der Teile, die eine Sprache in ihrer Ganzheit ausmachen, waren zunächst zurückgestellt, dann weggeschoben und schließlich einfach fallen gelassen worden. Zwar hatte in klassischer und klassizistischer Zeit die Frage nach den Beziehungen zwischen Sprache und Kultur und Sprache und literarischem Ausdruck zu mißverständlichen und zumeist unannehmbaren Lösungen geführt. Aber nun hatte man viele neue, aus idealistischen Kreisen stammende Anschauungen ebenfalls fallengelassen, bevor sie zur Entfaltung gelangen konnten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden viele dieser Probleme wieder aufgegriffen. Der Idealismus in der Sprachwissenschaft versuchte, wie gesagt, sprachliche, kulturelle und literarische Phänomene nicht mehr isoliert, sondern in den möglichen Zusammenhängen zu betrachten. Doch endete dieser Ansatz meist in einer totalen Vernachlässigung des Sprachlichen gegenüber dem - historisch bedingten — Kulturellen und Literarischen. So muß die wirklich entscheidende Erneuerungsfunktion im 20. Jh. dem Cours de linguistique generate (1916) von Ferdinand de Saussure zugeschrieben werden. Der Cours ist das Werk eines Linguisten, der seine Ausbildung in der Disziplin der historisch-vergleichenden Methode erworben hatte und gleichzeitig in der Lage war, die ganze komplexe Vielfalt der Sprache neu zu überdenken und theoretisch grundlegende Richtlinien für die weitere Forschung vorzuschlagen. Heute erscheint uns die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts

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//. Unter dem Vorzeichen der Geschichte

trotz ihrer scheinbaren Mannigfaltigkeit als eng. Viele neigen dazu, sie ganz zu verurteilen. Dennoch ist das Problem der Sprachentwicklung mit all den damit verbundenen Überlegungen, wie wir sie hier vorgeführt haben, unwiderruflich Gegenstand der Sprachwissenschaft geworden, auch wenn sie sicher nicht — wie behauptet wurde — der alleinige Gegenstand dieser Wissenschaft ist. An diesem Aspekt der Sprache kann keine Theorie mehr vorbeigehen, auch dann nicht, wenn sie von einem nicht-historischen Ansatz ausgeht. Der Niedergang der historisch-vergleichenden Methode kann als das Ende eines in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts ins Leben gerufenen kulturellen Unternehmens angesehen werden, das auf der Vorstellung beruhte, man könne der Sprache ihr Geheimnis dadurch entreißen, daß man ihre Geschichte kennt.

Drittes Kapitel

Die strukturalistische Linguistik und die generative Grammatik

1. In der modernen Sprachwissenschaft wurde der Einfluß des Strukturalismus zu Beginn der dreißiger Jahre spürbar; die Thesen des Prager Linguistenkreises, dem die wichtigsten Vertreter des linguistischen Strukturalismus angehörten — die Russen Jakobson, Troubetzkoy und S. Karcevskij; die Tschechen V. Mathesius, J. Vachek, J. Mukarovsky und andere, sowie verschiedene ausländische Mitarbeiter -, wurden auf dem Prager Slavistenkongreß von 1929 erstmals vorgelegt. Von da an breitete sich das Ideengut der Prager Schule maßgeblich über ganz Europa aus.1 Eine ähnliche Richtung entstand gleichzeitig in Dänemark, und zwar im Umkreis der sogenannten Kopenhagener Schule, vor allem dank Louis Hjelmslev, dessen Principes de grammaire generate aus dem Jahre 1928 stammen.2 Ebenfalls in die dreißiger Jahre gehört schließlich die Kodifizierung des amerikanischen Strukturalismus in dem grundlegenden Werk von Bloomfield.3 Die Tatsache, daß alle diese 1

2

3

Zum Strukturalismus im allgemeinen: J. Piaget, Le Structuralisme, Paris 31968; U. Eco, Lastrutturaassente, Milano 1968 (dt. Übers.: Einführung in die Semiotik, München 1972). Über den Strukturalismus in der Linguistik: G. C. Lepschy, La linguistica strutturale, Torino 1975 (neubearb. Aufl.; französische Übers, der 1. Aufl.: La linguistiquestructurale, Paris 1968; dt. Übers.: Die strukturelle Sprachwissenschaft, München 1969; engl. Übers.: Survey of Structural Linguistics, London 1970). Zu den grundlegenden Werken der Prager Schule gehören: N. S. Trubetzkoy, Grundzüge der Phonologic, Göttingen 31962 (Originalausg. in: Travaux du Cercle Linguistique de Prague, VII, Prag 1939); R. Jakobson, Prinzipien der historischen Phänologie, in: Travaux du Cercle Linguistique de Prague, IV (1931), in frz. Übers, als Anhang zur frz. Ausgabe von Trubetzkoy (Principes de Phänologie) und im 1. Bd. von R. Jakobson, Selected Writings, Den Hague-Paris 21971, S. 202-220; A. Martinet, Economie des changements phonetiques. Tratte de phonologic diachronique, Bern 21964; Theses, Melanges linguistiques dedies au 1er Congres des Philologues Slaves, 1929. Eine Auswahl der Werke von Jakobson findet man in: Essais de linguistique generale, Paris 1963 (Übersetzung aus dem Englischen von N. Ruwet); seit 1962 hat der Verlag Mouton, Den Hague, mit der Publikation von Jakobsons Selected Writings begonnen, von denen bisher die Bände I und II erschienen sind. Eine Auswahl von Arbeiten des Prager Kreises bietet A Prague School Reader in Linguistics, hg. v. Josef Vachek, Bloomington 1964(31967). L. Hjelmslev, Principes de grammaire generale, Kopenhagen 1928. Ferner: Omkring Sprogteoriens Grundlaeggelse, Kopenhagen 1943 (frz. Übers.: Prolegomenes a une theorie du langage, Paris 1968; engl. Übers.: Prolegomena to a Theory of Language, Madison 1969). Ferner: Sproget, Kopenhagen 1963 (frz. Übers.: Le langage, Paris 1966). Viele Artikel von Hjelmslev sind gesammelt in: Essais Linguistiques (Travaux du Cercle Linguistique de Copenhague), Bd. I, Kopenhagen 1959, Paris 21970; Bd. II, Kopenhagen 1973. L. Bloomfield, Language, New York 1933, London 71962. — Umfassende und programmatisch wichtige Werke sind: E. Sapir, Language. An Introduction to the Study of

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

Erneuerungsbewegungen von Randgebieten ausgingen, ist mit Sicherheit nicht zufällig. Man darf aber dennoch nicht vergessen, daß der Strukturalismus, was seine Grundlagen (wenn auch nicht seinen Namen) betrifft, aus dem Werk des Genfer Indogermanisten Ferdinand de Saussure hervorgegangen ist4 - einem Werk, das zwar etwas völlig Neues brachte, dabei aber fest in der europäischen Tradition verankert war. Das außerordentlich reiche und komplexe Denken Saussures ist offenbar selbstverständlich in die genannten Schulen, besonders aber in diejenige von Prag übernommen worden. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß dies nicht die einzig mögliche Art war, in der Saussure hätte aufgenommen und weiterentwickelt werden können. Seine Lehre wurde zu Anfang eher soziologisch interpretiert (z. B. in Frankreich und - nicht so ausgeprägt - bei seinen direkten Nachfolgern in der Schule von Genf) oder (wie in Deutschland und in Italien) idealistisch umgebogen. Zwar bestehen zwischen der Position Saussures und derjenigen der eigentlichen Strukturalisten nicht zu unterschätzende Unterschiede. (Man denke vor allem daran, daß auch die Lehre Saussures in sich nicht widerspruchslos ist. Dies hat seinen Grund bekanntlich u. a. darin, daß der Cours aus einer Zusammenstellung von Aufzeichnungen hervorgegangen ist, die in mehreren aufeinanderfolgenden Jahren in seinen Vorlesungen gemacht wurden. Dazu kommt, daß zwischen den Prager, den dänischen und den amerikanischen Strukturalisten ebenfalls erhebliche Unterschiede bestehen, ganz abgesehen davon, daß es auch innerhalb der einzelnen Gruppen unterschiedliche Auffassungen gibt.) Es ist jedoch hier nicht das Ziel, die Geschichte der strukturalistischen Methoden noch einmal in ihrem gesamten Verlauf darzustellen, sondern es geht nur darum, einige wesentliche Aspekte derselben aufzuzeigen. Wir werden also Punkte berühren, die sich ursprünglich alle schon bei Saussure finden; aber wir bevorzugen gegebenenfalls die Prager Interpretation. Viele Einzelheiten und auch eine Anzahl von Fragen, deren Bedeutung über diejenige von bloßen Detailfragen hinausgeht, können dabei nicht berücksichtigt werden. Da im zweiten Teil dieses Buches einige der Hauptprobleme der romanischen Sprachwissenschaft näher untersucht werden sollen, kommt es an dieser Stelle vor allem darauf an, das strukturalistische Instrumentarium vor seiner Anwendung erst einmal zu erläutern. Dieses Kapitel bereitet deshalb einerseits den Boden für die folgenden; andererseits wird darin die historisch-vergleichende Methode, mit der wir uns bisher beschäftigt haben, dem Strukturalismus gegenübergestellt. Aus dieser Gegenüberstellung sollen daraufhin gewisse Schlüsse gezogen werden. Das neue Paradigma wird in zwei Etappen vorgestellt: zunächst in der eigentlich strukturalistischen Form und dann in der Gestalt der generativen Transformationsgrammatik. (Die Beispielsprache ist hier oft das

4

Speech, New York 1921 (dt. Übers.: Die Sprache, München 1961). Z. S. Harris, Structural Linguistics, Chicago 71966 (ursprünglicher Titel: Methods in Structural Linguistics, Chicago 1951). F. de Saussure, Cours de linguistique generale, Paris 1965 u. a. (Nachdruck der 1916 postum erschienenen, von Ch. Bally und A. Sechehaye herausgegebenen 1. Auflage; dt. Übers.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 21967; Corso di linguistica generale, hg. v. T. De Mauro, Bari 21970). Eine kritische Ausgabe des Cours durch R. Engler (Cours de Linguistique Generale de F. de Saussure: Edition Critique) erscheint in Wiesbaden seit 1968 in fortlaufenden Faszikeln. Ferner: R. Godel, Les sources manuscrites du Cours de Linguistique generale de F. de Saussure, Genf 21969; R. Amacker, Linguistique saussurienne, Genf-Paris 1975.

2. Sprachliches Zeichen

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Italienische. Diese Auswahl ist zufällig; irgendeine andere Sprache würde dasselbe leisten. In den folgenden Kapiteln charakterisieren wir die einzelnen romanischen Sprachen sodann als solche, und zwar mit Hilfe der Instrumente des Strukturalismus und der generativen Grammatik.) Eine Darstellung des Strukturalismus in der Linguistik kann im großen und ganzen die interdisziplinären Beziehungen vernachlässigen, die durch diese Methode angeregt wurden. Einige Veröffentlichungen, wie das kurze, aber ausgezeichnete Buch Le structuralisme des großen Schweizer Psychologen Jean Piaget, geben ein gutes Bild von den hier angedeuteten Zusammenhängen und vermitteln bestimmt eine umfassende und eindrückliche Darstellung der Methode. Dabei darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß das großartigste Beispiel einer Anwendung der strukturalistischen Methode in den Humanwissenschaften das der Anthropologie gewidmete Werk von Claude Levi-Strauss ist (Les structures elementares de laparente, 1949; Anthropologie Structurale, 1958; La Pensee Sauvage, 1961; die vier Bände Mithologiques, usw.). Trotzdem ist der Strukturalismus in der Linguistik entstanden, und er hat in einer ihrer Disziplinen, nämlich in der Phonologic, die ersten greifbaren Resultate gebracht. Es ist also die Linguistik, wo man den Strukturalismus am typischsten trifft. Auf die Öffnungen der Linguistik in andere Bereiche, insbesondere im Hinblick auf eine Wiederherstellung der Beziehungen zur Literatur auf dem Weg über die „Poetik", kann hier nicht weiter eingegangen werden.

2. Die Grundbegriffe der strukturalistischen Methode lassen sich als eine Folge von binären Unterscheidungen darstellen. Die erste betrifft das sprachliche Zeichen. Es gibt verschiedene Typen von Zeichen, derer sich der Mensch zum Zweck der Kommunikation bedient: die Sprache, die Gesten, das Morsealphabet, die Verkehrszeichen, die „Blumensprache" usw. Das sprachliche Zeichen hat besondere Eigenschaften; es hat aber auch Eigenschaften, die jeder Art von Zeichen gemeinsam sind. So ist es z.B. mit einem S i g n i f i k a n t e n (signifiant), einem S i g n i f i k a t (signifie) ausgestattet, die beide - nach einem Vergleich von Saussure - so wenig voneinander trennbar sind wie die beiden Seiten eines Blattes Papier. (In der Schule von Hjelmslev spricht man von „Ausdruck" statt von signifiant und von „Inhalt" statt von signifie, mit dem Hinweis, daß beide im Hinblick auf die Substanz betrachtet werden können, aus der sie bestehen, oder im Hinblick auf ihre spezifisch sprachliche Organisation, wie sie von Sprache zu Sprache in Erscheinung tritt, nämlich als Form, und daß in Wirklichkeit nur die Form Gegenstand der Linguistik sein kann.) In verschiedenen Zeichensystemen hat die auf Halbmast stehende Fahne (signifiant) die Bedeutung „Trauer" (signifie); ein weißes, mit der Spitze nach unten gekehrtes Dreieck am Straßenrand (signifiant) schreibt vor, daß die Vorfahrt zu achten ist (signifie). Entsprechend ist in dem deutschen Wort Hund die konkrete lautliche Äußerung (oder ihre schriftliche Wiedergabe) der Signifikant eines bestimmten Signifikats, nämlich „Hund" (wobei die Anführungszeichen ein Hinweis daraufsind, daß das Wort hier als psychische Größe genommen wird), d. h. in einer bestimmten Beziehung zum Begriff, den man sich vom Hund macht. Die Verbindung, die Signifikant und Signifikat eingehen, ist, wie Saussure sagt, willkürlich (arbiträr). Es besteht keinerlei Notwendigkeit dafür, daß eine bestimmte Lautfolge zu einem bestimmten Signifikat (als Bezeichnung) in Beziehung gesetzt werden soll. Schon allein die sprachliche Vielfalt liefert dafür genügend Beweise. Es gibt keinen notwendigen Zusammenhang zwischen der Vorstellung „Ochse" und dem deutschen Wort Ochse oder dem englischen ox usf. Natürlich bedeutet die Tatsache, daß das sprachliche Zeichen, wie auch die Zeichen der genannten ande-

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

ren Zeichensysteme, willkürlich ist, nicht, daß es von jedermann nach Gutdünken verändert werden kann. In der Realität verhält es sich genau umgekehrt: in einer gegebenen Sprachgemeinschaft benutzen alle Sprachteilnehmer die Zeichen nur mit ihrer allgemein verabredeten, d.h. konventionellen Bedeutung. Wir können infolgedessen sagen — und damit treffen wir den Sachverhalt besser —, daß das sprachliche Zeichen auf Übereinkunft beruht. 3. Damit sich die Linguistik als Wissenschaft konstituieren kann, müssen - um das oben angeführte Beispiel wieder aufzunehmen - sämtliche Erscheinungsweisen des Wortes Hund (also die Form, in der ich es selbst in diesem Augenblick ausspreche und wie es von unzähligen anderen Personen derselben Sprachgemeinschaft ausgesprochen wird oder auch nur von mir oder von ihnen ausgesprochen werden könnte) als Formen betrachtet werden, die alle etwas Wesentliches gemeinsam haben. Mit anderen Worten: man muß der Versuchung widerstehen, die Erscheinungsweisen als individuelle, nicht miteinander vergleichbare Handlungen zu verstehen (wie es in Italien Croce vertrat und wie es einige Sprachwissenschaftler in seiner Nachfolge ebenfalls taten), und dies nicht etwa deswegen, weil sie es in einem gewissen Sinne nicht wären (jede einzelne Äußerung Hund hat etwas Unwiederholbares und Individuelles — sie kann im Rufen eines Mannes enthalten sein, der sich im Gebirge verirrt hat, in einem Gedicht usw.), sondern deshalb, weil - zumindest fürs erste - dieser Gesichtspunkt für die wissenschaftliche Untersuchung nicht relevant ist. Eine weitere grundlegende Dichotomie, die Saussure im Cours getroffen hat, und die zu denen gehört, die am schnellsten aufgegriffen, in ihren Folgen jedoch erst später verstanden wurden, ist die Unterscheidung von langue (Sprache), und parole (Rede). In der Wirklichkeit der Sprache, wie wir sie erfahren, erscheint die Sprache als ein Komplex von immer neuen und immer wieder verschiedenen Äußerungen. Es lassen sich darin ein ständig wiederkehrendes, regelmäßiges Element, die langue, und ein nicht wiederholbares, individuelles Element, die parole, unterscheiden. Nur das erste, die langue, ist Gegenstand der Linguistik. (Dieser Punkt ist vom Idealismus entstellt worden, und zwar durch den Versuch, aus dieser Unterscheidung eine Priorität der parole abzuleiten.) Man erlernt eine Sprache zwar anhand von einzelnen Äußerungen in der parole; daß eine Sprache aber überhaupt erlernbar ist, liegt daran, daß diese einzelnen Äußerungen regelmäßig und deshalb nicht unendlich unwiederholbar sind, d. h. deshalb, weil die Sprache auch und vor allem langue ist. Die Sprecher können mittels Sprachhandlungen, (d.h. über einzelne Handlungen in der parole), kommunizieren, weil es eben diese gemeinsame Eigenschaft gibt, die die langue ausmacht. Die langue ist von Jakobson mit einem Kode, und die parole mit einer Nachricht verglichen worden. Damit wird Bezug genommen auf die Kommunikationstheorie, d.h. auf ein für jede Art menschlicher Kommunikation gültiges Schema. Der Terminus „Kode" hat den Vorteil, den willkürlichen, oder besser: den konventionellen Charakter der Gesamtheit der verwendeten Zeichen hervorzuheben (auch wenn diese sich historisch auf andere Zeichen zurückführen lassen und wenn man vermuten kann, daß sie in ihren Ursprüngen auf Schreie u. ä. zurückgehen) und dabei die Vorstellung zu erwecken, daß die Erforschung der Sprache Aufschlüsse über den Aufbau des Kodes zu erbringen hat. Ein anderes Begriffspaar, das dasselbe besagt, dabei jedoch von einem ganz ein-

4. Phonematik

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deutig psychologisierenden Ansatz ausgeht, ist das Paar Kompetenz (engl. competence) und Performanz (engl. performance). Die Kompetenz eines Sprechers ist seine intuitive Beherrschung der Sprache. Dazu gehört eine Reihe von spontanen Reaktionen: die Fähigkeit zur Beurteilung der Korrektheit von Sätzen (Grammatikalitätsbewertung), zur Festlegung von Bedeutungen (semantische Interpretation) und zur Idealisierung von sprachlichen Daten. Die Performanz dagegen ist die tatsächlich vollzogene Äußerung. Diese zweite Dichotomie, die auf Chomsky zurückgeht, gibt den Saussureschen Termini einen neuen Sinn. Das Ergebnis ist jedoch dasselbe: allein die Kompetenz ist Gegenstand der Linguistik. 4. Wenn wir jetzt das Beispiel „Hund" oder italienisch cane „Hund" wiederum aufnehmen, dann können wir es auf der Ebene des signifiant untersuchen, indem wir uns nur auf das beschränken, was zur langue gehört, nachdem dieses Wort in der parole, wie gesagt, ganz verschieden realisiert und auch mit verschiedener Intonation usw. gesprochen werden kann. Im Hinblick auf die Aussprache kann das Wort cane in vier Minimaleinheiten unterteilt werden: /k/+/a/+/n/+/e/, mit einem Akzent, der auf die erste Silbe fällt /'ka/. Die verschiedenen Möglichkeiten, das anlautende /k/ auszusprechen, die experimentell beobachtet und registriert werden können (Kap. II, § 9), sind hier insofern nicht relevant, als sie die Übereinkunft von Sprechern und Hörern nicht in Frage stellen, daß es sich also z. B. um /k/ und nicht um /p/ (/pane/) oder um /g/ (*/gane/) usw. handelt, /k/ wird nicht einfach als Laut aufgenommen, sondern als Laut, der relevant ist, d. h. als Teil des Lautsystems einer bestimmten Sprache. In diesem Zusammenhang ist der Sprachlaut ein P h o n e m . Der Status des Phonems wird durch die Schrägstriche angezeigt. Das Phonem als solches ist die i d e a l i s i e r t e Entsprechung eines Lautes in einer Lautfolge. Diese erste Formulierung des Phonembegriffs wurde durch eine andere, komplexere Definition ersetzt, die mit den Ergebnissen der experimentellen Phonetik übereinstimmt. Ähnliche Laute sind sich auch m a t e r i e l l ähnlich. Das Phonem ist deshalb eine mentale Größe, die im Rückgriff auf bestimmte physische Eigenschaften bestimmt werden kann; dies erlaubt es unter anderem, eine Hierarchie der Phoneme aufzustellen und zu anderen wichtigen Ergebnissen zu kommen, mit denen wir uns später beschäftigen. (Dieser Gesichtspunkt ist bei Hjelmslev, der — platonisch — nur den Gesichtspunkt der Form für legitim hielt, ausgeschlossen.) Zunächst geht es deshalb darum, eine Klassifikation einiger für die Lautunterschiede besonders wichtiger Merkmale zu suchen. Im Italienischen unterscheidet sich die Realisierung von n vor /k/ und /g/ regelmäßig von derjenigen anderer Positionen (wobei es keine Rolle spielt, daß der Sprecher sich dessen gewöhnlich nicht bewußt wird): in banco undfungo läßt sich das velare n phonetisch durch [n] wiedergeben, in den anderen Fällen haben wir [n]. Dasselbe gilt im Deutschen für hinken gegenüber hinten: im ersten Fall erscheint [ ], weil /k/ folgt, im zweiten [n]. (Die eckigen Klammern zeigen die phonetische Realisierung an, im Unterschied zu den Schrägstrichen, die das Phonem kennzeichnen.) Da n im angegebenen Kontext regelmäßig und voraussehbar die Realisierung [rj] hat, kann es nie in Opposition zu [n] treten, wie es beispielsweise bei [n] gegenüber [m] der Fall sein kann: z.B. bei mono „Hand", nano „Zwerg". Die beiden Wörter bilden ein Minimalpaar, gebildet durch die Opposition eines einzigen Elements. Wir sprechen von m und n als von zwei Phonemen, also von /m/ und von /n/, genau wegen dieser Opposition, die sie begründen; bei [n] und [rj]

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

sprechen wir dagegen von unterschiedlichen Realisierungen, die von ihrer Umgebung abhängig, d.h. kontextbedingt sind. Es sind kombinatorische Varianten oder A l l o p h o n e . Zwei Allophone in der einen Sprache können in einer anderen Phoneme sein. So unterscheiden sich im Englischen thing „Sache" /9irj/ und thin „fein" / / nur durch die Opposition /n/ : /n/; im Italienischen gibt es normalerweise Oppositionen von /e/ : / / und /o/ : /o/, die in anderen Sprachen, z.B. im Spanischen, im Französischen (Minimalsystem, Kap. IX, § 3) und im Rumänischen nur auf der Ebene von Allophonen bestehen. Da die beiden Laute in komplementärer Distribution auftreten, betrachtet man sie als V a r i a n t e n ein- und desselben Phonems. Um dieses darzustellen, wählt man, da die Realisierung systembedingt variiert, das Zeichen von einem der zwei (oder mehr) Allophone. Dies ist in der Regel dasjenige des phonetisch einfachsten, nicht markierten Allophons, in den drei vorgeführten Fällen also /n/, /e/ und /o/. Es kommt auch vor, daß eine Unterscheidung in bestimmten Positionen aufrechterhalten, in anderen aber regelmäßig aufgegeben wird. Es gibt z. B. im Italienischen die Opposition von h/ : /o/ in betonter Stellung: rosa „Rose" /'roza/ zu rosa (Part. Perf. von rodere „nagen") /'roza/ oder /'rosa/; aber dieselbe Opposition besteht nie in unbetonter Stellung: rosetta (als Deminutiv) und roditore „Nagetier" haben dasselbe /o/. Man sagt in einem solchen Fall, daß die Opposition n e u t r a l i siert, d.h. beseitigt oder vorübergehend aufgehoben ist. Man sagt dann, es gebe in diesem Kontext eine den zwei Phonemen übergeordnete Einheit, die durch alle distinktiven Merkmale charakterisiert ist, die die beiden gemeinsam haben, während alle diejenigen, die sie voneinander unterscheiden, wegfallen. Diese höhere Einheit nennt man Ar c h i p h o n e m; sie wird mit Großbuchstaben bezeichnet: /O/. In vielen Sprachen hat auch der Akzent phonologische Funktion. Er dient, genau wie das Phonem, der Unterscheidung: ancora „Anker" und angora „Angora" unterscheiden sich durch die Opposition / k / : /g/; ancora und ancora „noch" durch den unterschiedlichen Platz des Akzents. Der Akzent trifft nicht nur den Vokal, sondern er dient der Unterscheidung einer bestimmten Silbe von denjenigen ihrer Umgebung. Es gibt keine andere Möglichkeit festzustellen, daß das /a/ in ancora von demjenigen in ancora verschieden ist, als die Betonung der Silben in den beiden Wörtern zu vergleichen. Das ist in den anderen Fällen nicht so: /k/ unterscheidet sich von /g/ völlig unabhängig vom Kontext. Man spricht infolgedessen vom Akzent als von einem s u p r a s e g m e n t a l e n (oder prosodischen) Merkmal, d.h. von einem solchen, das ein aus mehreren Einheiten bestehendes Lautsegment betrifft. Die Frage z.B. bildet man in manchen Sprachen mit einer Intonation, die sich auch auf ein relativ langes Segment erstrecken kann (z.B. im Italienischen, im Spanischen, häufig auch im Französischen); in anderen Sprachen erfordert sie besondere morphologische Mittel (z.B. im Lateinischen oder im Englischen). Auf der Ebene des Ausdrucks machen die Sprachen von verschiedenen Möglichkeiten Gebrauch, um auf der Ebene des Inhalts dieselbe Wirkung zu erzielen: im Italienischen vanno a casa l vanno a casa?; im Englischen they go home I do they go home? Im Italienischen trägt die Intonation die gesamte Frage; im Englischen, wo durch die Konstruktion mit do und durch die Inversion die Frage morphologisch angezeigt wird, ist die Intonation ein zusätzliches Element. Man bezeichnet es darum als r e d u n d a n t (d.h. ohne Informationswert, was jedoch nicht heißt, daß es nach Belieben eliminiert werden könnte: die Sprache ist ein hochgradig redundantes System). Ein sehr wichtiges suprasegmentales Merkmal ist die J u n k t u r. Sie wird auf ver-

5. Paradigmatische und syntagmatische Achse

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schiedene Weise realisiert, z.B. durch eine Pause, und man kennzeichnet sie gewöhnlich durch ein Doppelkreuz #. Im Französischen gibt es nur eine virtuelle Pause, die zur Unterscheidung zweier sonst vollkommen gleichlautender Sätze dienen kann: il est tout vert /ile tuver/ il est ouvert /iletvver/ Das auf diesen Grundsätzen beruhende Studium der Laute ist die Phonologic (oder Phonematik). Das rein materielle Studium der Laute bildet demgegenüber den Bereich der Phonetik. 5. Die Phonologic baut auf der K o m m u t a t i o n s p r o b e auf. Es geht deshalb nun darum, den allgemeinen sprachlichen Rahmen zu zeigen, in den sie gehört. Unter Kommutation versteht man die Operation, die man vornimmt, um z.B. die im Italienischen bestehende Opposition von /a/: /e/ in mano „Hand" gegenüber meno „weniger" festzustellen: m \ \ no

Diese Gegenüberstellung der beiden Wörter ist einem Amtsstempel vergleichbar, bei dem nacheinander Tag, Monat und Jahr verändert werden können, wenn man die entsprechenden Teile einen nach dem anderen dreht. Der Vergleich von mano und meno wird mit Hilfe des Gedächtnisses und des Abstraktionsvermögens vollzogen. Um sagen zu können, daß sich die beiden Wörter durch /a/ : /e/ unterscheiden, muß man sie gleichzeitig betrachten — d.h. so, wie sie in der Sprache niemals erscheinen können, denn die Sprache hat an und für sich linearen Charakter, und die sprachlichen Äußerungen sind irreversibel: was einmal gesagt ist, ist gesagt. Die Beziehungen zwischen /m/, /a/, /n/, /o/ in mano sind Nachbarschaftsbeziehungen, die von links nach rechts gerichtet sind (und auf diese Weise den Fortgang in der Zeit andeuten). Man nennt sie deshalb s y n t a g m a t i s c h e Beziehungen (in praesentia). Die Kommutation von /a/ und /e/ im vorigen Beispiel hingegen beruht auf p a r a d i g m a t i s c h e n Beziehungen. Diese sind aus der Abstraktion gewonnen, auch wenn sie einer geistigen Realität entsprechen (in absentia). Die beiden Achsen können im Anschluß an Saussure, doch unter Benutzung der auf Jakobson zurückgehenden endgültigen Terminologie, folgendermaßen dargestellt werden:

D AB: syntagmatische Achse CD: paradigmatische Achse

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

Diese Beziehungen gelten nicht nur, wie bisher dargestellt, für den Signifikanten, d. h. für die Laute. Es geht bei der strukturalistischen Methode vielmehr darum, ein Instrumentarium zu schaffen, das auf verschiedenen Ebenen und auch in verschiedenen Gebieten — vorausgesetzt, daß diese Zeichencharakter haben — gleichermaßen eingesetzt werden kann. Ein Satz wie U vecchio dorme „der alte Mann schläft" wird auf der syntagmatischen Ebene als Phonemfolge definiert: #/i/ + /!/ #/v/ + / / + /k:/ + l}/ + /o/# usw. (# zeigt die Wortgrenze an), aber auch als Wortfolge: U + vecchio + dorme; ebenso kann er unter Rückgriff auf kategoriale oder funktionale Beziehungen bestimmt werden, als (best. Art.) + (Nomen) + (Verb) bzw. als (Subj.) + (Präd.). Auf der paradigmatischen Ebene wird erkennbar, welche Wahl der Sprecher in den einzelnen Fällen getroffen hat, z.B. // (best. Art.) und nicht un (unbest. Art.), das zu U in kategorialer Opposition steht, oder vecchio, nicht giovane „jung", was eine semantische Opposition darstellt, usw. Die Unterscheidung der beiden Achsen verleiht einer bei allen Sprachteilnehmern vorhandenen Intuition präzise Gestalt. Im Strukturalismus diente sie in erster Linie dazu, der Phonologic in der Version von Jakobson und Halle eine definitive Form zu geben. Bei der Definition der grammatischen Einheiten dagegen war der Beitrag des Strukturalismus trotz mancher interessierter Beobachtungen, wie sie besonders bei Jakobson zu finden sind, weniger bedeutend.5 Wir haben hier mit Absicht zwei herkömmliche Beschreibungen (aristotelischer Provenienz) des kategorialen bzw. des funktionalen Status des Satzes // vecchio dorme gewählt. Dabei wurde absichtlich davon abgesehen, die Sprachebenen anzugeben und zu zeigen, wie sie voneinander abhängen oder sich gegenseitig durchdringen. Probleme dieser Art bilden jedoch heute den zentralen Punkt der Sprachforschung; wir werden im Zusammenhang mit der generativen Transformationsgrammatik ausführlicher darauf zurückkommen. 6. In einigen Versionen der strukturalistischen Analyse bildet die morphologische Ebene die erste Artikulation der Sprache, die Ebene der Phonologic die zweite Artikulation. Eine Richtung des Strukturalismus, wie sie z.B. Martinet vertritt,6 ist hier stehengeblieben. Sie betrachtet die Untersuchungen, die man aufgrund der beiden genannten Dimensionen durchführen kann, für ausreichend. Es gibt jedoch Weiterentwicklungen des Strukturalismus, die empfehlen, über diese Analyse hinauszugehen. Frühere Anregungen aufgreifend haben Jakobson und seine Mitarbeiter das Atom des Phonems gespalten. Dieses wird von nun an als e i n B ü n d e l v o n M e r k m a l e n begriffen. Die These von der phonologischen Universalität, zu der man mittels einer geeigneten Merkmalanalyse gelangt, tritt damit an die Stelle der von der Phonologic in ihrer ersten Phase aufgestellten Behauptung, jede Sprache habe ihre besonderen Lauttypen. Auf welche Weise dies geschieht, werden wir später zeigen, da wir gleichzeitig mit der Erläuterung der 5

6

Über die Grenzen der Grammatik handelt unter anderem R. Jakobson, Boas' View of Grammatical Meaning, in: Selected Writings II: Word and Language, Den Haag—Paris 1971, S. 489—496 (erstmalig erschienen in: The Anthropology of Franz Boas, hg. v. W. Goldschmidt, in: American Anthropologist 61, Nr. 5/2, Oktober 1959; frz. Übers.: La notion de signification grammaticale selon Boas, in: Essais de linguistigue generate, Kap. X, S. 197-205. A. Martinet, Elements de linguistique generate, Paris 21961 (dt. Übers.: Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft, Stuttgart 1963).

7. Synchronie und Diachronie

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Theorie auch eine phonologische Beschreibung einiger romanischer Sprachen geben können (Kap. IX). In den folgenden Paragraphen befassen wir uns mit der generativen Grammatik und den Prinzipien, die der syntaktischen Analyse einer Sprache zugrundeliegen. Es muß an dieser Stelle deshalb hervorgehoben werden, daß so wie die Jakobsonsche Phonologic das Phonem noch weiter unterteilte, die generative Grammatik eine Spaltung des Morphems vorgenommen hat, und zwar aufgrund der Beobachtung, daß zwischen einem und mehreren Morphemen eine funktionale Übereinstimmung bestehen kann (nicht nur bei U cane l un bei cane ,,ein Hund" / ,,ein schöner Hund", sondern auch bei abbaia „er bellt" und mangia un bei pesce „er frißt einen schönen Fisch"). Es handelt sich hier um die Wiederaufnahme eines klassischen Typs der Analyse, der durch den Saussureschen Grundsatz von der L i n e a r i t ä t des Ausdrucks blockiert schien, einen Grundsatz, an dem fast alle Strukturellsten festgehalten hatten.7 Besonders im amerikanischen Strukturalismus war das Verbot, über die Segmentierung von Ausdrücken in ihrem linearen Verlauf hinauszugehen, wie ein Dogma aufgenommen worden. Diese Haltung wurde durch den Positivismus, der in Gestalt des Behaviorismus den allgemeinen Rahmen für die Forschung lieferte, noch begünstigt. Hier haben die sog. distributionellen Analysen ihren Ursprung, wo als einzige Kriterien die unter den Morphemen einer Äußerung bestehenden gegenseitigen Beziehungen zugelassen sind. Doch kündigen die Analysen von Jakobson und auch diejenigen von Harris, dem extremsten Vertreter des amerikanischen Strukturalismus, bereits eine neue Entwicklung in der Syntaxforschung an.9 Dieser Schritt wird aber erst mit Chomsky radikal vollzogen. Die Spaltung des morphologischen Atoms machte den Weg frei für die Hypothese einer unsichtbaren Tiefenstruktur der Sprache, aus der die Morpheme „ableitbar" sind. 7. Der Leser wird bemerkt haben, daß im Rahmen der strukturalistischen Analyse die Sprache wiederum zu einem statischen Gebilde geworden ist: zu einem zwar komplexen, aber allein als solchem beobachtetes Spiel. Im Gegensatz zur klassischen Konzeption (Kap. I, § 1), wo ein Modell anhand einer einzigen Sprache erarbeitet und dann auf andere Sprachen übertragen wird, war das Verfahren deduktiv. Dies bedeutet, daß ein bestimmtes Prinzip, obwohl es aufgrund einer Menge von empirischen Daten erarbeitet worden war, als Modell hingestellt wird, das für alle anderen möglichen Fälle gleichermaßen gilt. Dieses wird nach und nach zur Aufnahme neuer Daten modifiziert, gegebenenfalls aber auch durch ein adäquateres ersetzt. Dieses Verfahren findet man in Wissenschaften wie der Physik, der Astronomie oder der Geologie. Der deskriptive Standpunkt wurde von Saussure als s y n c h r o n i s c h bezeichnet. Er bildet den Ausgangspunkt für die Untersuchung der Sprache im Hinblick auf diejenigen Beziehungen, die zwischen den Teilen eines Ganzen bestehen, das in einem bestimmten Zustand betrachtet wird. Hieraus wird deutlich, wie weit man sich von der historischen Sprachbetrachtung entfernt hat, 7 8

9

Saussure, Cours, S. 103. R. Jakobson, Zur Struktur des russischen Verbums, in: Charisteria G. Mathesio quinquagenario ... oblata, Prag 1932, S. 74-84 (jetzt in: A Prague School Reader in Linguistics, S. 347-359); Z. S. Harris, From Morpheme to Utterance, in: Lingua 22 (1946), S. 161-183. Zu diesem Abschnitt besonders N. Chomsky, Syntactic Structures, Den Haag 1957; Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge (Mass.) 1964 (dt. Übers.: Aspekte der SyntaxTheorie, Frankfurt 1969).

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

derzufolge es die Sprache nicht nur in ihrer Entwicklung, sondern a u s g e h e n d von ihrer Entwicklung zu erklären galt, wobei die Sprachzustände als solche nur als Etappen derselben aufgefaßt wurden. Gleichwohl wurde im Bereich des Strukturalismus und bereits schon bei Saussure das Problem des S p r a c h w a n d e l s nicht ausgeschaltet; sonst hätte lediglich eine Rückkehr zu den klassischen Theorien stattgefunden. Nun liefert aber der Sprachwandel oder die Diachronie den zweiten Gesichtspunkt, der für die Erfassung der Eigenart der Sprache notwendig ist. Das hierarchische Verhältnis der beiden Gesichtspunkte ist heute gegenüber der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft jedoch genau umgekehrt: an erster Stelle steht jetzt die synchrone Analyse; die Untersuchung des Sprachwandels wird auf den Vergleich zweier Sprachzustände reduziert, bedient sich also der Hilfsmittel der synchronen Linguistik, die im Hinblick auf diese neue Aufgabe weiter vervollständigt wurden. Für Saussure teilt die Linguistik diese doppelte Betrachtungsweise mit anderen Wissenschaften, und zwar besonders mit der Wirtschaftswissenschaft. (Saussure stand unter dem Einfluß Durkheims und der soziologischen Schule.) Um den Unterschied zwischen Synchronie und Diachronie ganz deutlich zu machen, erscheint es zweckmäßig, Saussure zu folgen (Cours, Kap. III, §3-9) und mit ihm zu klären, was im Bereich der Sprache unter einem synchronen, was unter einem diachronen Gesetz zu verstehen ist. Saussure (§ 6) behauptet, daß es sich dabei um zwei deutlich verschiedene Dinge handele, auch wenn sie in der historischen Grammatik gewöhnlich nebeneinander erscheinen. Zur Verdeutlichung führt er eine Reihe von Beispielen aus dem Griechischen an, wo die zwei Arten von Gesetzmäßigkeit „absichtlich vermischt" sind, um dann zur Erläuterung des Unterschieds überzugehen. Wir werden seiner Darlegung frei folgen und unsere Beispiele dabei aus dem Französischen nehmen. Die Gesetze, die wir anführen und die, wie bei Saussure, absichtlich durcheinander gebracht sind, finden sich in jeder beliebigen Grammatik des Altfranzösischen: (1) Die intervokalischen stimmlosen Vokale fallen aus, nachdem sie das Stadium durchlaufen haben: vitam > vioa > vie. (2) Der Akzent geht im Altfranzösischen nie hinter die vorletzte Silbe zurück; die Wörter sind also alle entweder oxyton (wie vif) oder paroxyton (wie vive). (3) Bei den lateinischen Paroxytona fällt der Nachtonvokal, d. h. der Vokal zwischen der Haupttonsilbe und der Auslautsilbe aus: masculum > masclum > masle (mod. mäle);prendere > prendre; tenerum > tendre. (4) Die lateinischen Auslautvokale fallen aus, mit Ausnahme von -a, das zu -e (bzw. zu [3]) wird. (5) Die Konsonantenverbindungen sk, sp, st können nicht am Wortanfang stehen. Sie nehmen deshalb ein sog. prosthetisches e zu sich, das die Silbenstruktur verändert: scribere > escrire (mod. ecrire); stabulam > estable usw. Das erste Gesetz ist diachron, da es den Wandel von einem Sprachzustand zu einem anderen anzeigt (und zwar unter der zusätzlichen Aufgabe eines Zwischenstadiums). Das zweite dagegen stellt nach Saussure „eine Art Übereinkunft zwischen zwei gleichzeitig existierenden Elementen" dar, in unserem Fall zwischen Wort und Akzent. Es ist also ein synchrones Gesetz. Diachron sind die Gesetze (3) und (4). Ein Element, das für die Form der diachronen Gesetze typisch ist, ist der Pfeil >, der anzeigt, daß zwischen Sprachzuständen ein Wandel stattgefunden hat. Ein Pfeil steht aber auch in Gesetz (5), und dennoch haben wir es mit einem synchronen Gesetz zu tun, das besagt, daß im Systemzusammenhang einer Sprache, wie er sich auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung darstellt, die Konsonantengruppen sk, sp, st nicht im Anlaut stehen können. Die Verwendung von > ist hier also unzulässig. (Das Beispiel ist nicht erfunden; es stammt, wie auch alle vorhergehenden, wortgetreu aus J. Anglade,

7. Synchronie und Diachronie

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Petite grammaire de l'ancien franqais, Paris 101955.) Wie wir festgestellt haben, ist der Unterschied zwischen den beiden Gesetzestypen fundamental. Ein synchrones Gesetz stellt, um noch einmal Saussure zu zitieren, „eine Beziehung zwischen zwei gleichzeitig existierenden Elementen" her, ein diachrones Gesetz formuliert den Vorgang der „Substitution eines Elementes durch ein anderes in der Zeit, d. h. ein Geschehen". Es darf aber andererseits auch nicht übersehen werden, daß zwischen synchronen und diachronen Gesetzen immer eine Beziehung besteht. So ist z.B. (2) ein synchrones Gesetz, zugleich aber auch das Ergebnis diachroner Gesetze, wie (3) und (4) sie darstellen. (4) erklärt nämlich, wie die lateinischen Paroxytona im Altfranzösischen entweder paroxyton geblieben oder oxyton geworden sind, und (3) zeigt, daß die lateinischen Proparoxytona zu Paroxytona geworden sind. Auf diese Weise liefern diese Gesetze die Erklärung für eben das, was (2) besagt, nämlich, daß es im Altfranzösischen nur paroxytone und oxytone Wörter gibt. Man könnte von daher den Eindruck gewinnen, daß die diachronischen Gesetze die synchronischen erklärten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr gehen die diachronischen Gesetze (3) und (4) implizit von synchronen Gesetzen des Vulgärlateins aus, die über all das Aufschluß geben, was über die Silbenstruktur und über den Akzent auf der Stufe dieses Sprachzustandes zu wissen notwendig ist: also z. B., daß es im Vulgärlatein dreisilbige Proparoxytona gibt. Doch kennen wir andererseits die Silbenstruktur und die Regulierung des Akzents auch in der Synchronie des Altfranzösischen. Diese beiden Sprachzustände werden nun durch die diachronischen Gesetze zueinander in Beziehung gesetzt. So erklären (3) und (4) den Satz (2) nur insofern, als sie zwischen zwei synchronen Zuständen eine Beziehung herstellen. Damit ist festgestellt, daß in der Linguistik die Synchronie der Diachronie vorangeht. Die Seite aus Saussure, die wir hier in romanischer Version wiedergegeben haben, ist eine Anklage gegen das konfuse Vorgehen der historisch-vergleichenden Methode. Allerdings muß der Gerechtigkeit halber (und ohne andererseits Saussure zu widersprechen) gesagt werden, daß ein Teil der auf der Basis dieser Methode durchgeführten Untersuchungen auch heute noch gültig ist und deshalb in entsprechender Form übernommen werden kann. Dies ist deshalb der Fall, weil diese Methode, auch wenn sie nicht explizit auf die prinzipielle Unterscheidung von Synchronie und Diachronie zurückgegriffen hat, dennoch zuweilen implizit davon Gebrauch machte und auf ihre Weise respektierte. Da diese Dichotomie mittlerweile geklärt ist, ist es notwendig, die Aufmerksamkeit systematisch und vorrangig der Synchronie zuzuwenden.

Die Umkehrung des Prioritätsverhältnisses von Dynamik und Statik hat schwerwiegende Folgen. Das traditionelle Studium der französischen Grammatik z. B. läßt uns die Wechselfälle der sieben Vokale des Spätlateins in allen Einzelheiten über viele Jahrhunderte hindurch verfolgen; aber es vermag uns keinen Aufschluß darüber zu geben, wie das Vokalsystem (oder die Struktur) des Altfranzösischen im 12. Jahrhundert aussah; und genausowenig erfahren wir über das derzeitige Vokalsystem (hundert Jahre Forschung haben uns in der Tat darüber nichts hinterlassen). Die historisch-vergleichende Methode hat sich insofern selbst zum Atomismus verurteilt, als sie, nachdem die ersten großen Gesamtdarstellungen abgeschlossen waren, sich kein anderes Ziel zu setzen wußte als jenes, immer neue Einzelheiten innerhalb des Entwicklungsprozesses aufzudecken, ohne sich dabei veranlaßt zu fühlen, die Zusammenhänge aufzuzeigen, die zwischen diesen und anderen gleichzeitig stattfindenden Vorgängen bestehen. Oder jedenfalls geschah dies nur episodisch. Die strukturalistische Methode entwirft demgegenüber zunächst ein Gesamtbild aller Vorgänge, die auf einer bestimmten Stufe der Sprachentwicklung stattgefunden haben, indem sie zeigt, wie diese miteinander zusammenhängen. Das Ziel ist eine möglichst adäquate und einfache Darstellung. Danach erst geht man dazu über, diese Darstellung ober auch nur Ausschnitte da-

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von mit einem mit denselben Mitteln beschriebenen früheren oder späteren Zustand zu vergleichen. Die Methodendiskussion ist in diesem Punkt noch nicht zum Abschluß gekommen. Ist es den Strukturalisten wirklich gelungen, es besser zu machen als ihre Vorgänger? Wir müssen diese Frage, da sie nicht direkt in den Zug unserer Überlegungen gehört, für den Augenblick noch in der Schwebe lassen. 8. Um diesen elementaren Überblick über die neuen Prinzipien abzuschließen, versuchen wir, den zentralen Begriff des neuen Ansatzes zu erläutern, den Begriff S t r u k t u r . Seine Bedeutung ist eng mit dem Begriff des Wertes verbunden. Wir können dabei bis zu den wirtschaftstheoretisch orientierten Ursprüngen der Vorstellungen Saussures zurückgehen und das Problem des Salzpreises verfolgen, wie es sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Land darstellt (das Beispiel ist klassisch). Die Bedeutung dieses Preises bemißt sich nicht danach, wie er vor ein oder zwei Jahren, zur Zeit der Römer oder bei den Indogermanen stand, sondern allein nach seinem Verhältnis zum Preis des Brotes und anderer Lebensmittel, der Bedarfs- und Luxusgüter, der Höhe der Durchschnittsgehälter usw. Nur bei synchronischer Betrachtung kann man den Wert des Salzpreises beurteilen und z. B. sagen, er sei hoch oder niedrig; und nur wenn die anderen Preise sich ändern, ist die notwendige Voraussetzung dafür geschaffen, daß auch der Wert des Salzpreises steigt oder sinkt. Das Preissystem oder besser: das Preis- und Gehältersystem läßt sich nicht aufspalten; man kann es nur in seiner Gesamtheit verstehen. Deshalb, d.h. in diesem Sinne, ist es eine Struktur. Genauso ist die Sprache eine Struktur, weil der Wert ihrer Phoneme, Morpheme und Wörter nicht als solcher besteht, sondern nur im Verhältnis zu allen Einheiten in ihrer Gesamtheit. Kein Element kann fortgenommen werden, ohne daß dadurch automatisch der Wert der benachbarten Elemente — und oft auch derjenige von entfernten — verändert wird. Saussure, der nicht von „Struktur", sondern von „System" sprach, dabei aber dasselbe meinte, erfand den bekannten Vergleich mit dem Schachspiel. Er sei hier in freier Version wiedergegeben. Ein Läufer ist nicht einfach deshalb viel Wert, weil er dem König Schach bieten kann, sondern weil er an einem ganz bestimmten Punkt des Spiels, der mit einem bestimmten Sprachzustand vergleichbar ist, dies auch wirklich tut, und zwar aufgrund der besonderen Anordnung der Bauern, Springer usw. Sobald ein Zug ausgeführt ist, ist die Lage vollkommen verändert, und der Läufer kann, obgleich er weiterhin im Spiel ist, völlig wertlos geworden sein. Der Wert einer Figur liegt also nicht in ihr selbst, sondern ist abhängig von der Anordnung aller übrigen Figuren. Zur Verdeutlichung ein einfaches Beispiel aus der Wortsemantik: Die Adjektive dolce „süß", amaro „bitter", salato „salzig", insipido „fade, geschmacklos" bilden im Italienischen ein kleines Bedeutungsfeld, innerhalb dessen der Wert eines jeden Adjektives von dem der anderen abhängt, genauer: von dem Wert desjenigen Adjektivs, dem es gegenübergestellt wird (dem Antonym). Die Bedeutung von dolce „süß" ist das Gegenteil von amaro „bitter" in caffe dolce (statt caffe amaro); sie ist aber das Gegenteil von salato „salzig" in aqua dolce „Süßwasser": aqua salata „Salzwasser" (und in formaggio dolce „süßer", d.h. „milder Käse": formaggio salato „salziger Käse"); salato „salzig" wiederum hat auch insipido „fade, geschmacklos" als Antonym, z. B. in minestrasalata „salzige Suppe": minestra insipida „fade Suppe", schematisch dargestellt:

9. Modell Chomsky

41 dolce

amaro

insipido salato

saporito „schmackhaft" usw.

Auf der paradigmatischen Achse bildet sich einmal diese, einmal jene Opposition heraus, und im Rahmen dieser Opposition erhalten die Adjektive ihre B e d e u t u n g . In unserem Beispiel sind wir natürlich noch lange nicht an den Grenzen des Bedeutungsfeldes angelangt. Es sind noch viele andere Oppositionen möglich, z. B. dolce: secco „trocken" (beim Wein) oder dolce : forte „scharf" (Senfsorten) usw. Die Diachronie ist die vergleichende Betrachtung dieser Schichten; sie übernimmt das Erbe der Geschichte, ist dabei aber jeglicher E r k l ä r u n g s k r a f t ledig geworden, herabgeholt von dem Thron, auf den sie einst von den deutschen Idealisten erhoben worden war und wo die Positivisten sie unter dem Namen „Entwicklung" belassen hatten. In den Augen vieler ist eine andere Macht (oder ein anderes Zauberwort) an ihre Stelle getreten: die Struktur. Die Neuerungen, die die Forschung in einem halben Jahrhundert gebracht hat, betreffen allein die Art und Weise, sie besser zu untersuchen; die Ablehnungen, an denen es nicht fehlt, sind auf unterschiedliche Weise begründete Weigerungen, die Sprache als Struktur zu betrachten. Viele Polemiken gehen jedoch von einer hypostasierten und letzen Endes leeren Vorstellung von einer Struktur an sich aus und sind infolgedessen dazu verurteilt, steril zu bleiben. Die Härte der Polemik erklärt sich vor allem aus der Tatsache, daß viele Diskussionen vorwiegend auf ideologischer Ebene stattgefunden haben. Als die Historic das Feld räumen mußte, konnten die Vertreter des Historismus es nicht unterlassen, die von gewissen Linguisten unternommene Austreibung zu verurteilen — und historizistisch zu erklären. Auf der Seite der Strukturalisten antworteten diejenigen, die sich am besten auskannten, daß die Struktur keine Hypostase, sondern eine Arbeitshypothese sei, die es ermögliche, bei der Erforschung der Sprache nach strengen Kriterien zu verfahren, die gleichzeitig eine umfassende interdisziplinäre Durchdringung gestatten (wenngleich gewisse Formen des Strukturalismus, wie der dänische und ganz besonders der amerikanische, wie er von Bloomfield und mehr noch von den Distributionalisten vertreten wird, im Gegenteil eine ganz unverkennbare Tendenz zur Isolation entwickelt haben); und sie stellten weiterhin fest, daß die Bestätigung oder die Überwindung des Strukturalismus sich letzten Endes auf dem festen Boden der Erfolge vollziehe, die es in der Auseinandersetzung mit dem selben Objekt auszuweisen gelte, das die klassische Linguistik und die historisch-vergleichende Methode nur teilweise in den Griff bekamen. 9. Der Begriff der Tiefenstruktur ist mit der g e n e r a t i v e n T r a n s f o r m a t i o n s g r a m m a t i k von Noam Chomsky aufgekommen (auch wenn in seinen ersten Arbeiten explizite Angaben darüber fehlen).10 Die transformationeile Linguistik 10

Die besten der in Europa erschienenen Einführungen in dieses Thema sind: das Kap. VIII, La grammatica trasformazionale, aus dem Buch von G. C. Lepschy, La linguistica strutturale, Turin 1966 (bzw. Kap. VIII der Übersetzungen); in der englischen Ausgabe (London 1970) ist das der generativen Grammatik gewidmete Kapitel völlig neu überarbeitet. N. Ruwet, Introduction ä la grammaire generative, Paris 1967. J. Lyons, Chomsky,

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

stellt, da sie sich ganz auf explizite, d. h. exakte, mathematische Vorgänge gründet, eine Theorie im eigentlichen Sinne dar, so wie man in der Physik oder in der Chemie von Theorien spricht. Wie jede wissenschaftliche Theorie besteht die Transformationsgrammatik aus einer Reihe von formalisierten, deduktiv eingeführten Sätzen, die dem Gegenstand als a d ä q u a t zu erweisen sind. Gegenstand ist hier die jeweilige Sprache, wie in der Physik bestimmte Bewegungen von Körpern u. ä. Damit die Sprache wissenschaftlich beobachtet werden kann, unterscheidet Chomsky im realen Sprachverlauf (dem einzigen, das sich empirisch fassen läßt) zwischen competence „Kompetenz" und performance „Performanz", d.h. er postuliert ein abstraktes Schema, über das jeder Sprecher verfügt (und kraft dessen man sagen kann, daß ein bestimmtes Faktum vorliegt oder nicht, genau wie man in der physischen Welt sagen kann, daß ein Körper fällt oder nicht). Mit Performanz (= Ausführung) wird die Realisierung als solche bezeichnet, so wie sie tatsächlich stattfindet, mit allen Störungen und Fehlern, denen sie unter Umständen ausgesetzt ist. Diese Dichotomic nimmt die Saussuresche Unterscheidung von langue und parole wiederum auf. Chomsky legte die Prinzipien dieser Grammatik erstmals und umfassend in den Syntactic Structures (1957) dar. Dieses Buch greift den amerikanischen Strukturalismus scharf an (und polemisiert besonders auch gegen die damals in den Vereinigten Staaten durchgeführten Versuche zur mechanischen Übersetzung). Als Chomskys Theorie nach Europa gelangte, brachte die unzureichende Kenntnis der Angriffspunkte Chomskys viel Verwirrung und Verständnislosigkeit. So schickte man, um die generative Grammatik einzuführen, zunächst gewöhnlich einen Überblick über die Linguistik in Amerika voran. Wir beginnen hier jedoch direkt mit der Erläuterung des Grammatikmodells Chomskys, ohne uns beim polemischen Teil aufzuhalten. Wir führen nun ein kleines Modell einer formalisierten Grammatik vor, das zumindest über zwei Sätze Rechenschaft gibt: (1) Giorgio apre la porta (2) Giorgio legge la rivista

„Georg öffnet die Tür" „Georg liest die Zeitschrift"

Die beiden Sätze können erzeugt werden durch eine Reihe von geordneten Regeln, die — wie unser Beispiel zeigt — E r s e t z u n g s r e g e l n sind. Dabei wird das links vom Pfeil (der Pfeil bedeutet „Ersetzung") stehende Symbol von einem oder mehreren Symbolen ersetzt, die auf der rechten Seite stehen. Diese Ersetzungsregeln werden auch Erzeugungsregeln genannt, und man sagt, daß das linke Symbol das rechte generiert. Die Abfolge der Regeln ist in unserem Fall die folgende:

London 1970, und ders.: Introduction to Theoretical Linguistics, Kap. 6. In Amerika als modernste Einführung: E. Bach, Syntactic Theory, New York 1974. Eine systematische Darstellung speziell für das Französische auf der Basis des revidierten Modells von Chomsky bietet J. Dubois/F. Dubois-Charlier, Elements de linguistique franqaise, Syntaxe, Paris 1970. Zum Rumänischen: E. Vasiliu, S. GolopenU'a Eretescu, The transformational syntax of rumanian, Bukarest-Den Haag 1972. Für die anderen romanischen Sprachen existieren keine umfassenden Arbeiten desselben Niveaus. Einen generativ-transformationellen, aber eklektischen Hintergrund hat die Grammaire de l'italien von G. Genot, Paris 1973.

9. Modell Chomsky

(1) (2) , , ^ ' (4) (5) (6) (7)

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S VP

-+ NP + VP -» V + NP Art. + N (im Kontext Gattungsname) [N (im Kontext Eigenname) Art. -» la V -» Verb + Pers. Verb —» aprire, leggere . . . N —> Giorgio, porta, rivista . . .

Zur Verwendung gelangen in dieser Grammatik die folgenden Symbole (in alphabetischer Reihenfolge): Art. S N Pers. NP

VP V

= Artikel = Satz = Nomen = Person = Nominalphrase. (Eine Phrase besteht aus mehreren Elementen, die alle zusammen im Satz dieselbe Rolle übernehmen wie ihr wichtigstes Element: cane ist Nomen; U nostro vecchio buon cane „unser guter alter Hund" ist eine Nominalphrase; correre ist Verb; potrebbe correre ist eine Verbalphrase.) = Verbalphrase = Verb

Diese Regeln haben bestimmte formale Eigenschaften. Zum Beispiel steht links vom Pfeil immer nur ein Symbol, das durch ein oder mehrere Symbole auf der rechten Seite ersetzt wird. Diese Bedingung ist notwendig, um die Eindeutigkeit der Regeln zu garantieren, und sie wird deshalb nicht nur bei den oben angeführten Regeln befolgt, sondern grundsätzlich. Es geht um folgendes: Schriebe man z.B. NP + VP —> Art. + N + V + NP, dann wüßte niemand, welche Symbole der rechten Seite aufweiche der linken (NP oder VP) zu beziehen wären, d. h. man könnte nicht sagen, ob die links vom Pfeil stehende NP nur Art., Art. + N oder Art. + N + V erzeugt, und genausowenig ließe sich feststellen, durch wieviele Symbole VP ersetzt werden darf. Andere Eigenschaften sind nicht, wie die eben genannte, präskriptiv, sondern geben z. B. an, daß eine Regel einmal oder mehrmals angewendet werden darf: die Regel (3) wird zum Beispiel zweimal angewendet, nämlich so oft, wie links vom Pfeil das Symbol NP erscheint. ( 1) und (5) dagegen werden, zumindest in diesem Fall, nur einmal angewendet. Die Regeln lassen sich entweder ohne jede Einschränkung anwenden — man bezeichnet sie dann als kontextfrei — , oder sie werden durch den Kontext bestimmt. Im vorliegenden Beispiel haben wir nur eine kontextsensitive Regel, nämlich (3). Die allgemeine Form der kontextfreien Regel ist (wo X wiederum nur ein einziges Element vertritt, eines oder mehrere). Eine kontextabhängige Regel hat im allgemeinen die folgende Form: X-^Y/W _ Z (X wird wie oben durch ersetzt, vorausgesetzt, daß es auf seiner linken Seite W und auf der rechten Z hat). Die Regel (3) hat allerdings eine etwas andere Form. Nach Chomsky muß jede Grammatik über einen formalen mathematischen

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

Apparat verfügen. Hier haben wir in aller Kürze einige von den vielen Eigenschaften der Ersetzungsoperationen erwähnt. Andere kommen für den transform ationellen Teil hinzu, auf den wir noch zurückkommen werden. Einer ebenfalls formalen Behandlung bedürfte sodann die Integration der nicht-syntaktischen Ebenen, besonders der morphophonologischen und der semantischen. Die einfachste Form, die Abfolge der Regeln und ihre Adäquatheit im Hinblick auf die beiden Sätze (1) und (2) darzustellen, ist der Strukturbaum, wo die ersten Regeln die obersten Knoten belegen, während man allmählich zur wirklichen Form des Satzes heruntersteigt. (Zur Terminologie: Als wir von der Abfolge der Regeln sprachen, sagten wir, daß S durch NP und VP ersetzt wird; jetzt sagen wir, daß S der Knoten ist, der NP und VP dominiert, daß NP dann N dominiert usw.) Der Strukturbaum sieht so aus: S

Giorgio

aprire leggere

-e

Wir brechen die Darlegung der Theorie an dieser Stelle vorzeitig ab. Doch sei noch daraufhingewiesen, daß diese „Zweisatz-Grammatik" bereits in der Lage ist, viele Sätze zu erzeugen, unter der Voraussetzung allerdings, daß man sich der geeigneten lexikalischen Elemente bedient. Man kann also ohne zusätzliche Regeln Sätze erzeugen wie: Antonio mangia ilgelato „Anton ißt das Eis"; La golositä rovina Max „Die Naschhaftigkeit richtet Max zugrunde"; Pippo odia la grammatica „Philipp haßt die Grammatik" usw. Aber andererseits können auch viele ungrammatische, oder jedenfalls unsinnige Sätze generiert werden, z.B. *la rivista legge laporta „die Zeitschrift liest die Tür" u. ä. Außerdem sieht unser Modell nur transitive Verben vor, sonst erhielten wir Sätze wie *Giorgio corre la porta „Georg läuft die Tür". [Das Sternchen bedeutet in der Syntax, daß der Satz, vor dem es steht, ungrammatisch ist; in der historischen Linguistik bezeichnet es eine erschlossene Form.] Wie aber gelangt man nun von einem so kleinen Modell zu einem umfassenderen Modell einer Grammatik? Indem man weitere Regeln von der oben gezeigten Art aufstellt und sie so ausdenkt, daß die ungrammatischen Sätze blockiert werden. Das Problem der G r a m m a t i k a l i t ä t i s t sehr heikel. Auf keinen Fall darf man glauben, daß in einer generativen Grammatik die Erzeugung von „fehlerhaften" Sätzen im schulischen Sinne ausgeschlossen sein muß. Der umgangssprachliche Satz a te ti hanno visto tutti, sai? („Dich haben alle gesehen, weißt Du?") kann und muß generiert werden, wenn man sich vorgenommen hat, den Stil des Italienischen zu beschreiben, in dem ein solcher Satz verwendet würde (s. u. Kap. IV, § l). Dasselbe gilt z. B. für fr. quand que vous venez? statt quand venezvous? Dagegen werden alle diejenigen Sätze blockiert, die uns unsere Kompetenz unzweifelhaft als Verstöße gegen die Grammatik anzeigt, wie: *Golositä la rovina Pippo „Naschhaftigkeit die ruiniert Philipp", *Per la Pippo rovina „Für der ruiniert Philipp" oder das bereits angeführte * Giorgio corre la porta.

9. Modell Chomsky

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Neben den ungrammatischen Sätzen gibt es nicht akzeptable Sätze, die zumeist allerdings semantisch abnorm sind. Diese Unterscheidung ist in der logischen Tradition sehr alt. Die ungrammatischen Sätze sind Konnex, wie ein moderner Logiker, Ajdukiewicz, es nennt, oder n i c h t w o h l g e f o r m t (Chomsky); semantisch abnorme Sätze haben wenig oder gar keinen Sinn. Sie sind von der Art: ein Freund von mir hat gestern das British Museum gegessen und das Golfspiel spielt Hans. Diese Beispiele lassen sich weder mit Anton ißt das Eis noch mit * Naschhaftigkeit die ruiniert Philipp auf eine Stufe stellen. Andererseits ist es gefährlich zu sagen, man könne diese Sätze leicht ausschalten, weil sie nicht normal seien. Was ist normal, und was nicht? In Wirklichkeit hängt die Verwendung solcher Sätze von Kontexten ab, die spezifischer sind als andere. Manchmal bezeichnen wir sie deshalb als nicht akzeptabel, weil wir nicht in der Lage sind, einen passenden Kontext zu finden. Die Diskussionen über diese Art von Fällen haben zur Feststellung geführt, daß die Anwendbarkeit (nicht die Grammatikalität) eines Satzes nicht abstrakt untersucht werden darf, sondern nur im Rahmen von adäquaten Kontexten. Man soll also nicht fragen: ist dieser Satz grammatisch? sondern: gibt es Kontexte, in denen dieser Satz verwendet werden kann, und wenn ja, welche sind es?

Alle Regeln müssen nach Möglichkeit allgemein gültig sein. Die Regel, die wir hier als (3) eingeführt haben, ist dagegen bloß ein didaktischer Behelf, um zu den beiden Syntagmen Giorgio und la rivista und nicht zu U Giorgio und rivista zu gelangen. Sobald wir die Grenzen, die wir uns gesetzt haben, überschreiten, verliert diese Regel ihre Gültigkeit. Es heißt U Piave, la Svizzera wie auf deutsch die Donau, die Schweiz gegenüber z.B. Deutschland, Norwegen, und man kann sagen ci vuole pazienza „es braucht Geduld"; Paare oder Häufungen von Syntagmen können das Fortfallen des Arktikeis verursachen: sono passati cavallo e cavaliere „Pferd und Reiter sind vorbeigekommen", aber nicht *e passato cavallo „Reiter ist vorbeigekommen" usw.11 Wer Regeln aufstellt, sollte stets daran denken, daß diese ihn dazu verpflichten, den g e s a m t e n Sprachgebrauch zu erklären. (Wir haben hier, wie gesagt, aus didaktischen Gründen gegen dieses Prinzip verstoßen. Einen anderen Verstoß haben wir begangen, als wir nur den Gebrauch des weiblichen Artikels la (Regel 4) vorsahen, um so dem Problem des Accord aus dem Wege zu gehen.) In unserem Beispiel — und in der Theorie Chomskys tatsächlich — wird ein Typ der klassischen oder traditionellen Grammatik explizit dargestellt. Dies erkennt man am besten, wenn man Chomsky in der Annahme folgt, daß die im Strukturbaum festgelegten Beziehungen sich automatisch auch mit den funktionalen Beziehungen decken, bzw. diese mit definieren. Funktionale Definitionen: Subjekt-von [NP, S] Prädikat-von [VP, S] Objekt-von [NP, VP] Verb-von [V, VP] 11

Um der ersten Schwierigkeit zu begegnen, schlägt Chomsky vor, bestimmte Eigennamen mit den bestimmten Artikeln gleich ins Lexikon zu übernehmen: N Propr. —» Giorgio, Roma, usw. der Rhein, die Schweiz, der Vesuv usw., etwa so, wie wir neben Paris und Pescara auch Le Havre und L'Aquila stellen könnten (Aspects, Kap. II, S. 103, S. 108f. der dt. Übers.). Während dies für die Eigennamen eine brillante Lösung darstellt, muß man bei den Gattungsnamen für das Auftreten des bestimmten oder des unbestimmten Artikels oder für das Fehlen des Artikels festsetzen, was den Gebrauch effektiv bestimmt. (Vgt. Kap. V, § 4.)

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

Man lese: das Subjekt ist „die unmittelbar von S dominierte Nominalphrase, das Prädikat die Verbalphrase, die unmittelbar von S dominiert wird usw. Diese Definitionen sind im wesentlichen formal, und zwar insofern, als sie durch rein äußere und mechanische Mittel aus den vorhergehenden Regeln gewonnen werden, und zwar ohne Rückgriff auf irgendeine Intuition über ihre Bedeutung — was nicht heißt, daß die funktionale Gliederung des Satzes nicht an sich schon Träger einer Bedeutung sei. Das vorgeführte Modell vereint also in einer einzigen Darstellung grammatische Kategorien und Funktionen, d.h. das, was man im Schulgebrauch „grammatische Analyse" und „logische Analyse" (oder richtiger: Analyse der Funktionen) nennt. Was wir bislang vermieden haben, ist der Begriff der Tiefenstruktur. Tatsächlich gebraucht ihn auch Chomsky in den Syntactic Structures (1957) noch nicht. Er setzt sich erst in den darauffolgenden spekulativen Werken und in den Aspects of the theory of syntax (1965) durch. Dennoch liegt die Vorstellung von der Tiefenstruktur schon der ersten Theorie zugrunde, und sie ist nach Chomsky auch in den klassischen Grammatiken implizit vorhanden (wo sie völlig inkohärent, bald in Erscheinung tritt und bald nicht). Chomsky zitiert die Grammaire de Port-Royal; aber er hätte ebensogut Aristoteles anführen können. Die Regeln, die wir gesehen haben, existieren nicht an der Oberfläche der Sprache, so, wie diese sich uns darstellt, sondern liegen gewissermaßen darunter: ihre Realität ist auch nicht sprachlich, sondern, wenn überhaupt, psychologisch (die Alten sagten: logisch). So kann die Konstitution der Sprache jenseits von allen Einzelsprachen als universell postuliert werden. Die Einzelsprachen hätten spezielle Regeln erst auf einem geringeren Niveau der Abstraktion, wo von Sprache zu Sprache besondere Regeln auftreten. Der Begriff der Tiefenstruktur ist also eng mit demjenigen der sprachlichen Universalität verbunden. Die Sprachtypologie müßte bei ihrem Vergleich die sprachlichen Verschiedenheiten deshalb so erfassen, daß sie auf die gleiche universell zugrundeliegende Basis zurückführbar sind. Chomsky war nie der Meinung, daß die Ersetzungsregeln einen ausreichenden formalen Rahmen für eine Sprachtheorie bilden könnten. Man nehme als Beispiel den Passivsatz: (1) la rivista e letta da Giorgio „die Zeitschrift wird von Georg gelesen", den Fragesatz oder den verneinten Satz: Giorgio legge la rivista?; Giorgio non legge la rivista. Für diese Sätze wird keine jeweils andere Tiefenstruktur angesetzt. Sie können mit einer Transformation aus derselben Tiefenstruktur gewonnen werden wie (1). Wir beschränken uns auf (1) und werfen einen Blick auf die Passivtransformation. Giorgio

legge -

Tpass. X3

X4

la ·

rivista ·

ESSERE + to X2 da Xi

Der formale Aufwand dürfte kaum darüber hinwegtäuschen, daß es sich um nichts anderes handelt als um die Verdeutlichung der in der Schule gebräuchlichen Übung, einen Satz aus dem Aktiv ins Passiv zu setzen. Doch beschränkt sich das Feld der Transformationen nicht nur auf diese Fälle hier (und es ist auch daraufhinzuweisen, daß Chomsky die genannten Fälle in den nach den Syntactic structures enstandenen Werken anders dargestellt hat); beispielsweise werden innerhalb derselben Passivtransformation weitere Transformationen nötig, um von to + X2 zu letto und von ESSERE zu e zu gelangen.

10. Chomskysche Revolution

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Die Transformationen ermöglichen also komplexere Operationen als diejenigen, die man mit den Ersetzungsregeln ausführen kann. Dennoch war Chomsky seit den Aspects und viele Generativisten mit ihm bestrebt, den möglichen Formen der Transformationen Grenzen zu setzen. Wird dies nämlich versäumt, so kommt es dahin, daß man viele Operationen in der Theorie als möglich anbietet, die in der Praxis für keine Sprache und für keine grammatische Erscheinung je gebraucht werden. Außerdem ist es wichtig, die formalen Operationen, die wir beim Sprechen vollziehen, genau abzugrenzen, weil wir auf diese Weise die grundlegenden Mechanismen unseres Geistes kennenlernen, und zwar insofern als man zeigt, was dieser leistet und was nicht.12 Auf diesen Punkt werden wir später noch kurz zurückkommen. 10. Man hat in der Linguistik von einer Chomskyschen Revolution gesprochen und damit auf die Bedeutung angespielt, die der Galileischen Revolution in der Physik und generell in der modernen Naturwissenschaft zukommt. Did Revolution ist das Ergebnis verschiedener Faktoren. An erster Stelle ist der allgemeine erkenntnistheoretische Rahmen zu nennen, den Chomsky anbietet, um in der Gegenwart und in der Zukunft die verschiedenen Grammatiken, die man zur Interpretation des Phänomens Sprache vorschlagen kann, richtig bewerten zu können. Die Grammatiken müssen miteinander vergleichbar sein, und zu diesem Zwecke müssen sie rigoros formalisiert (oder zumindest formalisierbar) sein, wie dies bei den Gesetzen der Physik oder der Chemie der Fall ist. Den Vorzug erhält eine Grammatik, die den Erfordernissen der inneren Einfachheit und der Adäquatheit zum Objekt am besten gerecht wird.13 Ein interessanter Aspekt der Chomskyschen Erkenntnistheorie, mit dem wir uns allerdings hier nicht beschäftigen können, ist die Polemik zugunsten des deduktiven Verfahrens in der Wissenschaft. In diesem Punkt entfernt sich Chomsky entschieden von den positivistischen Voraussetzungen des amerikanischen Strukturalismus. Bemerkenswert ist dabei seine Übereinstimmung mit der Wissenschaftsphilosophie Karl R. Poppers, dessen Bezugspunkte allerdings die Physik und die Soziologie sind.14 Einige erkenntnistheoretische Gesichtspunkte Chomskys wurden vor ihm schon durch den theoretisch am besten fundierten strukturalistischen Linguisten, Louis Hjelmslev, vertreten.15

Nach diesem Hinweis dürfte klar sein, daß man der Chomskyschen Revolution zwar zustimmen kann, die von ihm vorgeschlagene Grammatik, sei es in der oben skizzierten, sei es in einer neueren und raffinierteren Form aber trotzdem ablehnt. Es ist außerdem möglich, in dem von Chomsky geschaffenen theoretischen Rahmen beispielsweise die Kategorialgrammatik des israelischen Logikers Bar-Hillel darzustellen. Bei ihr handelt es sich nicht um eine generative Transformationsgrammatik, da sie aufgrund von mathematischen Prinzipien anderer Art erarbeitet wurde. Doch kann man sie als Konkurrenzmodell zur Grammatik von Chomsky auf12

13 14 15

N. Chomsky, Conditions on Transformations, in: A Festschrift for Morris Halle, hg. v. S. R. Stephen und P. Kiparsky, New York 1973, sowie in: N. Chomsky, Questions of Form and Interpretation, Lisse 1975. Dazu J. E. Emonds, A Transformational Approach to English Syntax. Root, Structure-Preserving, and Local Transformations, New York 1976. Siehe auch E. Bach, Syntactic Theory, S. 96 ff., und N. Ruwet, Theorie syntaxique et syntaxe dufrarqais, Paris 1972, S. 26f. Syntactic Structures, Kap. VI. K. R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 61976. Vgl. N. Ruwet, Introduction, S. 11 ff. Vgl. die Anmerkung von Chomsky in: Syntactic Structures, S. 50.

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

fassen und sogar ohne wesentliche Veränderungen nach den formalen Prinzipien der generativen Transformationsgrammatik darstellen.16 Wir wollen uns mit einem derart komplizierten Fall hier nicht beschäftigen, sondern statt dessen noch eine andere Transformationsgrammatik zeigen, die sich hauptsächlich dadurch von der Chomskys unterscheidet, daß sie eine andere Art von Tiefenstruktur annimmt. Es handelt sich um eine der sog. nach-Chomskyschen Transformationsgrammatiken, die in den fünfzehn besonders fruchtbaren Jahren nach dem Erscheinen der Syntactic Structures in Amerika aufgekommen sind. 11. Eine generative Transformationsgrammatik dieser Art, die wir ebenfalls nur sehr kurz behandeln, ist die sog. K a s u s g r a m m a t i k des amerikanischen Linguisten Charles J. Fillmore.17 Diesmal geben wir keine auch noch so begrenzte Folge von Regeln. Der Leser kann sich einen Eindruck von dieser Grammatik dadurch verschaffen, daß er den sukzessiven Transformationen eines Strukturbaumes folgt, der auch diesmal wiederum die Sätze (1) und (2) repräsentiert. Dieser Strukturbaum stellt den jeweiligen Satz zunächst zweigeteilt in Modalität (zum Ausdruck von Aussage, Frage, Befehl usf., zur Angabe von Tempus u.a.) und Proposition dar. Diese gleich zu Anfang getroffene Unterteilung berücksichtigt die Tatsache, daß die Modalitäten sich auf den ganzen Satz und nicht nur auf einen Teil davon beziehen, auch wenn'diese Elemente in vielen (aber nicht in allen) Fällen im Verb ihren Niederschlag finden. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt; denn uns kommt es ja darauf an, Filimores Proposition Sprop mit Chomskys Satz S zu vergleichen. Für Fillmore, der die Anregungen der modernen Logik und auch einiger Linguisten (wie Tesniere) aufgreift, besteht jeder Satz aus einem Prädikat (häufig ein Verb), das ein oder mehrer Argumente (Ergänzungen) „natürlich" regiert, d. h. selbstverständlich an sich bindet.18 Wir befinden uns auf der Ebene der funktionalen Beziehungen, die hier jedoch anders definiert werden als in der klassischen (und in der Chomskyschen) Grammatik. Das italienische Verb leggere „lesen" oder seine Entsprechung in einer anderen Sprache verlangt von Natur aus zwei Argumente: eine Person, die liest, und eine Sache, die gelesen wird. Auch aprire „öffnen" verlangt zwei Argumente: jemanden, der öffnet, und etwas, das geöffnet wird. Man beachte den semantischen Parallelismus der Argumente in den beiden Beispielen. In beiden Fällen haben wir es mit einem Prädikat zu tun, das zwei sog. Tiefenkasus verlangt, einen Agentiv und einen Objektiv. Im Gegensatz dazu verlangt ein Verb wie riposare „ausruhen" nur ein Argument, das nicht aktiv, sondern passiv ist. Fillmore bezeichnet diesen „Kasus" als Dativ. Was in der klassischen Tradition Subjekt heißt, ist eine funktionale Kategorie, die den Unterschied z.B. zwischen Agens und Patiens, der notwendig ist, um bestimmte linguistische Fakten zu erklären, verwischt. Bevor sie in die klassische 16

17

18

Dies tut Lyons in seiner Einführung, § 6, 3. Vgl. D. K. Lewis, General Semantics, Synthese 22 (1970), S. 18-67. Ch. J. Fillmore, The Case for Case, in: Universals in Linguistic Theory, hg. v. E. Bach und R. J. Harms, New York 1968, S. 1-88. Vgl. dazu L. Renzi, Proposte non tradizionali di Ch. J. Fillmore sulla grammatica e U lessico, in: Strumenti critici 18 (1972), S. 175-188. L. Tesniere, Elements de syntaxe structurale, Paris 1959. Vgl. auch die Analyse der Umgangssprache bei H. Reichenbach, Elements of Symbolic Logic, New York-London 1947, Kap. VII.

//. Kasusgrammatik

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Grammatik eindrang, war diese Nivellierung in den indoeuropäischen Sprachen allerdings bereits eingetreten. Darum wird die Unzulänglichkeit des Subjektbegriffs erst dann augenfällig, wenn man sich mit nicht-indogermanischen Sprachen befaßt. Die klassische Grammatik ist u. a. auch das Ergebnis einer langen eurozentrischen Tradition. Im Falle von dare „geben" sind drei Argumente vorhanden: einen Agentiv, einen Objektiv und einen Dativ. In dem Satz: gli ho dato ü mio libro in classe „ich habe ihm mein Buch gegeben im Schulzimmer" finden wir das Verb, die Realisierung der drei „Kasus" in der Oberflächenstruktur und einen vierten „Kasus", diesmal außerhalb des Satzes, den „Lokativ" in classe. Man muß nämlich zwischen „Kasus" unterscheiden, die vom Verb abhängig sind, und solche, die außerhalb liegen, z.B. also der Lokativ oder der Instrumental. Sehen wir uns jetzt die neue Tiefenstruktur von (1) und (2) im Strukturbaum nochmals an:

(Ag.)

Modalität

leggere aprire

K

N

da

Giorgio

Die verwendeten Symbole sind zum Teil dieselben wie diejenigen der Theorie Chomskys (oben § 10). Ferner: (Ag.)

Agentiv als Tiefenkasus. (Träger der Handlung. Nicht alle Subjekte sind Träger einer Handlung.) M Modalität. (Man schreibt auch Smod.) K Kasussignal oder Kasusmorphem. (Realisiert an der Oberfläche die Kasusbeziehungen der Tiefenstruktur. Es kann entweder ein Kasus sein, der durch ein Morphem vom Typ des lat. -orum, -arum ausgedrückt wird, oder eine Präposition, wie z.B. it. di, oder auch die Kombination von beidem, z. B. lat. ab + Ablativ.) (Obj.) Objektiv als Tiefenkasus (d. h. das von der Handlung Betroffene). (Prop.) Proposition. (Entspricht S, ohne die Modalitäten. Man schreibt auch Sprop.)

Der Baum, den wir nun vorführen, ist eine kurze Darstellung der Transformationen, die nötig sind, um zur Oberflächenstruktur der beiden Beispielsätze zu gelangen:

Giorgio

aprire leggere

la porta la rivista

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

Ersichtlich geht die Modalität zum Verb, (Ag) wird aus der Proposition herausgenommen und allein nach links gestellt. Diese Operation hat die Tilgung des Kasusmorphems zur Folge: (Ag) ist zum Nominativ, d.h. zum Subjekt geworden. In einer weiteren Transformation fällt der Knoten Prop", fort, so daß V + M und NP sich direkt an S anschließen. Der letzte Baum, den wir hier zeigen, stellt eine andere Realisierungsmöglichkeit derselben Tiefenstruktur dar, nämlich die Passivierung. Der Leser kann auf diese Weise Filimores Lösung mit der von Chomsky vergleichen, die wir in § 9 vorgeführt haben. S

0

la porta e aperta la rivista letta

da

Giorgio

Hier wird der Objektiv der Tiefenstruktur zum Subjekt; der Verlust des Kasussignals ist im Italienischen nicht erkennbar, wäre es aber in anderen Sprachen (z. B. im Lateinischen). In Übereinstimmung mit der Wahl des neuen Subjekts nimmt das Verb eine eigene Form, das Passiv an. Der Ausdruck des Agentivs, da Giorgio, behält diesmal sein Kasusmorphem. Man beachte, daß in den einzelnen Sprachen verschiedene Operationen über den Kasus der Tiefenstruktur möglich sind. Manche Sprachen kennen kein Passiv, d. h. sie lassen es nicht zu, daß eine Sache, die von der Handlung betroffen wird, zum Subjekt wird. Ein anderer typologischer Unterschied, der zwischen den romanischen Sprachen, dem Deutschen usw. auf der einen und dem Englischen auf der anderen Seite besteht, betrifft die Möglichkeit, den Dativ einer Tiefenstruktur des Typs Verb (Obj.) (Dat.) (Ag.) zum Subjekt zu machen. In eine solche Struktur passen Verben wie „lehren", „sprechen", „geben": Aber allein das Englische, nicht die anderen Sprachen, hat folgende Ausdrucksmöglichkeit: The boys are tought mathematics (by the professor). The students are given a lecture (by the professor). Hier wird also der tiefenstrukturelle Dativ zum Subjekt. In manchen Bantu-Sprachen kann man sogar einen Instrumental (z.B. „mit dem Messer") oder einen Lokativ („im Dorf") zum Subjekt eines passiven Satzes machen. Man spricht in diesem Zusammenhang von der T o p i k a l i s i e r u n g von Kasus der Tiefenstruktur. Die traditionelle Grammatik hatte eklektisch bald rein formale (asemantische) Definitionen der Kategorien und der sprachlichen Funktionen geliefert, bald wieder versucht, ihnen eine semantische Grundlage zu geben. Die Grammatiken von Chomsky und Fillmore stellen zwei unterschiedliche Versuche dar, konsequenter als bisher nur einen dieser Wege zu beschreiten: Chomsky den formalen und Fillmore den semantischen. Dabei fehlen weder beim einen noch beim anderen Zugeständnisse an den jeweils entgegengesetzten Standpunkt. Wir können dies hier nicht weiter verfolgen. Der Leser muß sich darüber im klaren sein, daß die hier versuchte Skizze in keiner Weise den Anspruch erheben kann, auch nur ein schwaches Bild von der Menge der in den generativen Transformationsgrammatiken auf allgemeiner wie auf technischer Ebene aufgeworfenen Probleme zu vermitteln. Dennoch wird ihm viel-

12. Hierarchie der Ebenen

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leicht nicht entgangen sein, daß entschiedene Neuerungen und herkömmliche, zumal der klassischen Tradition verpflichtete Positionen miteinander verbunden werden. Viele glaubten, daß mit ihrem Auftreten alles bisher auf diesem Gebiet Geleistete hinfällig geworden sei. Tatsächlich aber können die Grammatiken nichts als die üblichen Probleme der Linguistik, den Sprachwandel mit Inbegriffen, neu in Angriff nehmen, wobei sie sich allerdings eines expliziten Apparates bedienen, der gewissen Erfordernissen der modernen Wissenschaft entspricht. Der Begriff der Tiefenstruktur ist besonders geeignet, wesentlich zur Erneuerung dieser Studien beizutragen.

12. Vergleicht man die linguistische Produktion der Generativisten mit derjenigen der Strukturalisten, so fällt einem ein deutlicher äußerlicher Unterschied auf: Die Generativisten widmen den überwiegenden Teil ihrer Arbeit der Syntax (dem Verb, dem Pronomen, dem Fragesatz, dem verneinten Satz, der Satzverbindung u. ä.); die Strukturalisten dagegen bevorzugen die Phonologie und beschäftigen sich - je nach ihrem persönlichen Geschmack - auch mit der Morphologie, dem Lexikon und der Syntax. Hinter dieser dem Anschein nach banalen Feststellung verbirgt sich etwas Wesentliches. Nach Ansicht mancher Strukturalisten läßt sich jede Sprachebene auf ein und dieselbe Weise untersuchen, unabhängig - wenigstens prinzipiell - von den anderen Ebenen; nach Auffassung anderer, vor allem der amerikanischen Strukturalisten, gelangt man, unter Verwendung derselben Kriterien, von der untersten Ebene, die nach dieser Konzeption von der Phonologie gebildet wird, über die Morphologie zur Syntax. Die Phonologie kommt zuerst; sie eignet sich am besten für strukturelle Operationen. Die generative Grammatik hat - besonders deutlich im Werke Chomskys - eine H i e r a r c h i s i e r u n g der Sprachebenen vorgenommen und dieser Hierarchie, die der traditionellen genau entgegengesetzt ist, eine neue Bedeutung gegeben. Der wesentliche Teil der Sprache, jener, der die sprachliche Kreativität des Sprechers erforderlich macht, ist die Syntax. Die Tiefenstruktur ist eine syntaktische Struktur. Die Semantik „interpretiert" nach Chomsky diese Tiefenstruktur, indem sie ihr eine Bedeutung zuweist. Dasselbe tut die Phonologie, sobald sie in die Tiefenstruktur eingreift (nachdem zuvor sämtliche Transformationen abgelaufen sind, d.h. sobald eine der Syntax adäquate Morphologie vorliegt).19 In Chomskys S t a n d a r d t h e o r i e , die wir in den Aspects dargestellt finden, wird diese Hierarchie in einer Art und Weise dargestellt, die graphisch folgendermaßen wiedergegeben werden kann:20 Syntaktische Komponente

Transformationen

Semantische Komponente

Phonologische Komponente

Die abschließende Verbindung von Sinn und Laut liefert uns die Oberflächenstruktur der Ausdrücke der Sprachen. Das Schema macht deutlich, daß sich die generative Grammatik auf jeden Fall auch mit Phonologie und Semantik beschäftigen muß. Dies ist in der Tat fast un19 20

Siehe J. Lyons, Chomsky, Kap. VII. Vgl. J. Lyons, Chomsky, S. 74 und 79 sowie J. J. Katz, The Philosophy of Language, New York-London 1966, Kap. IV.

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///. Strukturalismus und generative Grammatik

mittelbar nach dem Erscheinen von Chomskys erstem Werk geschehen. Aber die generative Phonologie ist nichts vollkommen Neues. Sie greift die Jakobsonsche Konzeption in vielen Punkten wiederum auf, bringt allerdings auch einige wichtige Neuerungen. Die bedeutendste davon ist die, daß die Phonologie nicht mehr von nichts, sondern „von oben" ansetzt, indem sie — wie es im Hinblick auf die erwähnte Hierarchisierung nur folgerichtig ist — auf eine bereits auf höherer Ebene erzeugten Morphologie aufbaut.21 Was die generative Semantik betrifft, so ist diese ebenfalls weitgehend einer früheren, viel diskutierten Analyse gefolgt, ohne deren Methode wesentlich verändern zu können. Daneben versuchte die generative Grammatik mit einem komplexen formalen Verfahren die semantische Interpretation mit Sätzen zu verbinden, die nach den genannten Regeln entstanden sind. Auch hier wollen wir uns nicht bei dieser Art von Problemen aufhalten, 22 zumal wir die Semantik noch extra behandeln (Kap. VIII). Der Leser wird selbst bemerken, daß diese Komponente (oder Sprachebene) dem Linguisten besondere Schwierigkeiten bereitet. Die Bedeutung läßt sich nicht leicht kategorisieren. Die zentrale Stellung, die Chomsky der Syntax zugewiesen hat, steht wiederum mit den klassischen Vorstellungen im Einklang. Bei Fillmore entdecken wir einen interessanten Alternativvorschlag: als „erste" gelten einige elementare semantische Größen, die dem Inhalt der Tiefenkasus entsprechen. Trotzdem tritt bei ihm die Semantik nicht an die Stelle der Syntax. Fillmore ist der Ansicht, daß das Lexikon erst interpretiert werden darf, nachdem die (semantisch-syntaktische) Tiefenstruktur die grammatische Beschreibung des Satzes geliefert hat. Wir werden uns in Zukunft mehrmals auf Begriffe von Fillmore beziehen. Deshalb haben wir uns länger bei seiner Theorie aufgehalten. Außerdem weisen wir abschließend daraufhin, daß sich neben der Schule Chomskys seit einiger Zeit auch eine Schule entwickelt hat, die mit Chomsky im Widerspruch steht. In der einen fährt man auch heute noch fort, das Modell des Meisters, die sog. Standardtheorie (oder die klassische Theorie), die sich auf die Aspects of the theory of syntax sowie auf einige später eingebrachte Veränderungen stützt, im Sinne Chomskys weiter zu vervollkommnen. Die andere stellt eine Art innere Opposition dar, weil sie in einigen grundlegenden Punkten zwar im Widerspruch zu Chomsky steht, dennoch aber im Bereich der generativen Grammatik bleibt. Diese post-Chomskysche Richtung umfaßt die sog. generativen Semantiker: Lakoff, Ross, McCawley und andere.23 Die Semantiker haben keine vollständige und zusammenhängende Theorie entwickelt, aber sie haben viele interessante Möglichkeiten aufgezeigt, einen Satz nicht (oder nicht nur) mit den traditionellen syntaktischen Kategorien in Beziehung zu setzen, sondern mit seinem Sinn, mit den äußeren Bedingungen (geeignete Kontexte), mit der Logik, mit der Eingliederung des Satzes in umfassendere Einheiten, 21 22

23

Bibliographische Hinweise geben wir in Kap. IX, Anm. 3. Die bekannteste Arbeit über generative Semantik, die heute allerdings eher abgewertet ist, ist J. J. Katz und P. M. Postal, An Integrated Theory of Linguistic Descriptions, Cambridge (Mass.) 1964; das Buch folgte auf eine teilweise gleichlautende Untersuchung von J. J. Katz und J. A. Fodor, The Structure of a Semantic Theory, in: Language 33 (1963), S. 170-210 und in: The Structure of Language, hg. v. J. A. Fodor und J. J. Katz, Englewood Cliffs, New Jersey 1964, S. 479-518 (in französischer Sprache in: Cahiers de Lexicologie 9 (1966), S. 39-72, und 10 (1967), S. 47-66. Vgl. u. a. G. Lakoff, Linguistics and Natural Logic, Synthese 22 (1970), S. 15 1-271.

12. Hierarchie der Ebenen

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mit der Rede oder dem Text. An diesen letzten Punkt knüpft ganz besonders die T e x t l i n g u i s t i k an, die der europäischen, genauer: der deutschen Tradition angehört.24 Da wir im folgenden auf diese Perspektiven nicht ausdrücklich Bezug nehmen, soll dieser kurze Hinweis hier genügen.

24

W. Dressler, Einführung in die Textlinguistik, Tübingen 1972; Textlinguistik, Darmstadt 1978. Vgl. auch H. Weinrich, Sprache in Texten, Stuttgart 1976. Ferner: SprechenHandeln—Interaktion. Ergebnisse aus Bielefelder Forschungsprojekten zur Texttheorie, Sprechakttheorie und Konversationsanalyse, hg. v. R. Meyerhermann, Tübingen 1978.

ZWEITER

TEIL

Viertes Kapitel

Standard, Variation und Stil 1. Ehe wir darangehen, uns mit den romanischen Sprachen einzeln zu beschäftigen, ist es zweckmäßig, vorab noch einige andere Betrachtungen, gleichsam als Ergänzung zu der Vorstellung von der Sprache als synchronem System („Struktur"), wie Saussure sie postulierte. Die Sprachgeographie hat zum ersten Mal eine greifbare Darstellung der großen sprachlichen Vielfalt im Raum gegeben. Parallel dazu stellte die experimentelle Phonetik fest, daß sich sprachlich Unterschiede bis hin zu den Mitgliedern ein und derselben Familie feststellen lassen (Rousselot, Gauchat).1 Viele Schriftsteller haben beobachtet, wie gewisse Charakteristika von einzelnen oder von Gruppen in feinen, manchmal fast unmerklichen sprachlichen Besonderheiten ihren Ausdruck finden; der Leser wird sich vielleicht an einige große Seiten von Proust erinnern. Dies alles bringt uns von der rigorosen systematischen Beschränkung und der weitgehenden Idealisierung der langue zur konkreten parole. In Wirklichkeit kann man zwischen den beiden nicht immer einen scharfen Einschnitt machen. Die langue selbst ist kein kompakter Block: sie besitzt Stile, die - wenigsten zum Teil - besonderen Nonnen unterworfen sind. In diesem Zusammenhang dürfte es aufschlußreich sein, die Behandlung der f u n k t i o n a l e n Stile durch den sowjetischen Gelehrten V. P. Murat hier wiederzugeben.2 Murats Untersuchung bezieht sich in erster Linie auf das Russische und das Englische, behält ihre Gültigkeit (und ihre Mängel, möchte man sagen) im großen und ganzen aber auch dann, wenn man sie auf andere europäische Kultursprachen anwendet. Die sieben funktionalen Stile Murats sind die folgenden: I. II. III. IV. V. VI. VII.

1

2

Gehobener Konversationsstil Poetischer Stil Publizistisch-politischer Stil Amts- und Verwaltungsstil Wissenschaftlicher Stil Technisch-professioneller Stil Volkstümlich-familiärer Umgangsstil

P. Rousselot, Modifications phonetiques du langage etudiees dans le patois d'une famille de Collefrouin, Paris 1891; L. Gauchat, L'unite phonetique d'une commune, in: Aus romanischen Sprachen und Literaturen. Festgabe für H. Morf, Halle 1905, S. 175-232. (Gauchat sagt dazu: „L'unite du patois de Charmay [in der östlichen Gruyere] est nulle" (S. 223); die Unterschiede bestehen vor allem zwischen den verschiedenen Generationen.) V. P. Murat, Despre problemele fundamentale ale stilistici, rumänische Fassung in: Probleme de stilisticä, Bukarest 1964, S. 7-52. Einige berechtigte Vorbehalte gegenüber Murat äußert G. Berruto, La sociolinguistica, Bologna 1974, S. 61 ff. (Man findet dort auch eine allgemeine Behandlung der sprachlichen Variation.)

/. Sprachstile

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Die Beziehungen dieser Stile untereinander und zu einer Sprache als solcher lassen sich nach Murat folgendermaßen beschreiben: Die Stile überlagern sich zum Teil gegenseitig; die Zone der allgemeinen Überlappung, der „Kern" wird vom gehobenen Konversationsstil gebildet (I). Jeder Stil hat eine ihm eigens zugehörige Zone, aber auch Zonen, die er mit anderen Stilen gemeinsam hat. Der poetische Stil ist eine Art Spiralnebel, der seinen Platz verändert und sich über alle Stile legt. Graphisch ergibt sich daraus das folgende Bild:

Der äußere Rand bezeichnet nur den mündlichen, der innere den mündlichen und den schriftlichen Gebrauch.

Am eindeutigsten lassen sich diese stilistischen Differenzierungen auf der lexikalischen Ebene gegeneinander abgrenzen. Im Italienischen gehört rinite „Nasenkatarrh" dem technisch-professionellen Stil (VI) an, gegenüber raffreddore „Erkältung", das in allen übrigen Stilen gebräuchlich ist; das Paar locatario „Vermieter" — conduttore „Mieter", dem man in den Mietverträgen begegnet, gehört dem Amts- und Verwaltungsstil (IV) an, im Gegensatz zu allen anderen Stilen, wo man von padrone dl casa „Hausherr" oder proprietario „Besitzer" und von inquilino „Mieter" spricht. Soldi „Geld" ist umgangssprachlich (VII) und wird hauptsächlich im Code oral gebraucht, während die anderen Stile denaro oder Ausdrücke wie una somma „ein Betrag", liquido, liquiditä für die flüssige Zahlungsfähigkeit usw. bevorzugen. // sottoscritto „der Unterzeichnete", jesoussigne im Französischen, ist charakteristisch für den Amts- und Verwaltungsstil (IV). Im Falle der Geschäftskorrespondenz zeigt es sich, daß diese eine Sprache in der Sprache, einen Stil darstellt. Ein Antrag auf Zulassung zum Examen muß in vielen Universitäten ganz im Amts- und Verwaltungsstil abgefaßt sein. Phonem ist ein Wort, das dem wissenschaftlichen Stil (V) der Linguistik angehört, so wie Logarithmus dem der Mathematik. Eine Linguistikvorlesung wird gewöhnlich im gehobenen Konversationsstil

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IV. Standard, Variation und Stil

und im wissenschaftlichen Stil gehalten; in welchem Verhältnis jedoch die beiden miteinander gemischt sind, ist eine Frage des Geschmacks. Eine weniger langweilige Vorlesung wird vielleicht als eine Komponente auch den volkstümlichfamiliären Umgangsstil (VII) enthalten. Die Indizien müssen nicht notwendig idiomatischer oder lexikalischer Art sein. Man kann sie auch im syntaktischen, morphologischen oder phonetischen Bereich finden. So gehören im Französischen v'la, qui-lä /via/ /sy'ila/ statt voilä, celui-lä der Umgangssprache (VII) an; im Rumänischen ist lui Maria „von Maria" typisch umgangssprachlich (VII) gegenüber Mariei, das in allen anderen Fällen gebraucht wird; dasselbe gilt für it. a me mi place statt mi place „ich habe . . . gern" oder ml tocca a me statt nur tocca a me „ich bin dran". Dagegen gehört io gll dlco, d. h. „ich sage ihm" anstelle von io dico loro „ich sage ihnen", hauptsächlich dem mündlichen Sprachgebrauch an. Man denke auch an den Gebrauch des passe simple im Französischen. Um die teilweise bestehenden Übereinstimmungen von schriftlichem und mündlichem Gebrauch und die größere Verbreitung von letzterem zu symbolisieren, bedient sich Murat in der graphischen Darstellung des doppelten Randes. Murats Schematisierung ist zweifellos nützlich, auch wenn sie — entgegen dem Eindruck, den man aus seinen Ausführungen und allein schon aus dem Vorhandensein einer graphischen Darstellung gewinnt — nur empirische Bedeutung hat. Sie ist besonders nützlich, weil er dem für jeden Sprecher — falls er sich zu beobachten versteht — unausweichlichen Eindruck Gestalt gibt, daß man sich beim Sprechen oder beim Schreiben in einem Sprachraum bewegt, der nicht einheitlich, sondern aus verschiedenen Ebenen zusammengesetzt ist und daß diese Ebenen im wesentlichen ein soziales Faktum, Sache der Schicklichkeit usw. sind. Man spricht im Cafe, im Familienkreis oder während einer Prüfung nicht gleich. Um zu zeigen, daß dieser oder jener Ausdruck diesem oder jenem Stil angehört, darf man sich allerdings nicht zu sehr auf seinen eigenen Eindruck und auf vage Erinnerungen aus der eigenen Erfahrung verlassen. Es bedarf immer einer sorgfältigen empirischen Untersuchung in situ. Subjektive Erklärungen — die eigenen Inbegriffen — sind nicht zuverlässig: manche glauben von sich, sie sprechen korrekt und mit einem gewissen Sozialprestige, ohne sich des Gegenteils bewußt zu werden. Das Schema mit den sieben Stilen ist auf jeden Fall eine Vereinfachung. Man muß sich darüber im klaren sein, daß es auch andere Systematisierungsmöglichkeiten gibt, und zwar nicht nur im Hinblick etwa auf Sprachen anderer, außereuropäischer Gemeinschaften — wie z. B. das Japanische, dessen „sehr originelles" System auch Murat in Erinnerung ruft —, sondern auch für den Bereich der europäischen Kultursprachen. In Italien tritt an die Stelle des familiären Stils noch in vielen Fällen ein Dialekt, d.h. eine sprachlich verschiedene Form. Das bedeutet andererseits aber nicht, daß der Dialekt auf diesen Stil beschränkt ist. Er wird vielerorts auch in der gepflegten Unterhaltung und teilweise auch bei spezifischen Tätigkeiten verwendet.3 Zum Stil II haben wir bislang noch nichts gesagt. Im Hinblick darauf sind jedoch einige treffende Beobachtungen von Murat anzuführen. In traditionellen und kon3

Man bezeichnet eine solche Situation als Diglossie. Vgl. J. A. Fishman, The Sociology of Language, Rowley (Mass.) 1972 (dt. Übers.: Soziologie der Sprache, München 1975, Kap. VI). Der Begriff findet sich erstmals bei Ch. A. Ferguson, Diglossia, in: Word 15 (1959), S. 325-40.

l. Sprachstile

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servativen Kulturen (besonders bei solchen ohne Schriftlichkeit), verfügt die Sprache der Dichtung oft über einen ihr eigenen, streng normierten Kode. Dasselbe gilt für Epochen, die man als klassisch bezeichnet. Das Italienische weist noch heute solche Formen auf, auf lexikalischer Ebene z.B. augello statt ucello „Vogel", aura statt aria „Luft", donzella statt ragazza „Mädchen"; im Bereich der Syntax die Verletzung der normalen Wortfolge (z.B. infiniti addusse lutti agli Achei, wörtlich: „unendliche brachte er Trauer über die Achäer", statt addusse infiniti lutti...); auf dem Gebiet der Morphologie eine andere Verwendungsweise des Artikels lo/il oder Formen v/iefia statt sarä (Futur) oder den Konditional fora statt sarebbe usw. Heute betrachten wir solche Formen jedoch nicht mehr als Merkmale der Sprache der Dichtung, sondern nur noch als Ablagerung von Archaismen. Seit dem 19. Jh., d.h. in einer Zeit, die wir als modern bezeichnen, werden — parallel zu gewissen Organisationsformen des bürgerlichen Zeitalters — Stile gefestigt, die zu anderen Zeiten viel freier waren, z.B. der wissenschaftliche oder der administrative; demgegenüber löst der poetische Stil sich gleichzeitig auf. Charakteristisch für die moderne Lyrik ist die Inanspruchnahme einer weiten, nicht sozial bedingten Unbegrenztheit. Dies schließt nicht aus, daß sich nicht doch auch in jüngster Zeit sprachliche Besonderheiten darin herausgebildet hätten. Wir erinnern an den neuartigen Gebrauch von ä und anderen Präpositionen im französischen Symbolismus: [Cleopatre]: immobile sous ses paupieres violettes Elle reve, pämee aux fuites des coussins (Albert Samain) PC miel des levres douces] dont le parfum flotte au soir pavoise de nos paroles (Regnier)

hat hier die Funktion von „entgegen", aber mit dem Merkmal „belebt" (wie Leo Spitzer gezeigt hat).4 In Italien sind in unserem Jahrhundert die Hermetiker mit der Aufhebung des Artikels über die von der Norm gesetzten Grenzen hinausgegangen: Sotto tenera luna (Quasimodo: Sotto ilsimulacra di Ilaria del Carretto) In nessuna parte di terra mi posso accasare (Ungaretti, Girovago)

In der Prosa oder bei nicht hermetischen Dichtern hätten wir statt dessen „sotto una tenera luna" und „parte della terra". Doch geht in diesen Fällen die Analyse eines an eine bestimmte „Schule" gebundenen Phänomens unvermeidlich in diejenige des Individualstils über, der Gegenstand der Stilistik ist. Diese gehört als Disziplin gleichzeitig zur Literaturwissenschaft und zur Linguistik. Die Sprache der Dichtung kann also nach Murat in dem oben dargestellten Sinn als Spiralnebel mit unbestimmten Grenzen begriffen werden, der in seiner Bewe4

L. Spitzer, Die syntaktischen Errungenschaften der französischen Symbolisten (daraus besonders Abschnitt I: Die Belebung der Präposition), in: Aufsätze zur romanischen Syntax und Stilistik, Halle 1918, Nachdruck Tübingen 1967, S. 281-339.

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IV. Standard, Variation und Stil

gung das ganze Schema der Sprache und der Stile abdeckt. Mit anderen Worten: in der modernen Dichtung wählt die Sprache von Mal zu Mal und ohne aprioristische Reduktionen ihre Form: jedwelche Konstruktion, jedes Wort wie auch immer, k a n n dichterisch sein. Die Definition der Sprache als Nukleus des Systems der Stile nach Murat hat andererseits den Nachteil, daß sie die normalen hierarchischen Beziehungen sozusagen umgekehrt auffaßt; denn normalerweise steht an erster Stelle die Sprache (z.B. das Italienische, das Französische), dann folgen die Stile (nach bestimmten Ausprägungen, oder auch nach keiner). Dennoch ist die Gliederung des sprachlichen Ausdrucks Murats dem von manchen viel zu hoch eingeschätzten Begriff des I d i o l e k t s weit überlegen. Dies gilt zumindest von der üblich gewordenen Bedeutung: „einem Individuum eigentümliche Redeweise (...), die nicht auf den Einfluß der Gruppen zurückgeführt werden kann, denen dieses Individuum angehört".5 Es ist in der Tat fraglich, ob je ein Linguist ernsthaft einen solchen Standpunkt vertreten hat. Der Vater des Idiolektbegriffs, der amerikanische Strukturalist Bernhard Bloch, definierte den Idiolekt als einen von einem Individuum beherrschten Teil der Sprache, und zwar in seiner Begrenzung auf einen bestimmten Zeitpunkt und auf die Interaktion mit nur einer Person. Daraus geht hervor, daß „ein Sprecher zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens verschiedene Idiolekte spricht und daß er zwei oder drei Idiolekte gleichzeitig besitzen kann", wie Bloch selbst angemerkt hat. Wenn er richtig verstanden wird, verweist auch der Idiolektbegriff wiederum auf die Sprache in ihrer Variation und in ihrer sozialen Bedingtheit.6

2. Die stilistisch nicht markierte Variation der Sprache ist zunächst sozial — unter Berücksichtigung von „Schichten", sog. diastratisch — oder geographisch (sog. diatopisch). Die räumliche Variation wurde seit dem 19. Jh. sorgfältig untersucht (Kap. II, § 10 und hier den folgenden Paragraphen). Um die soziale Variation hat man sich lange Zeit weniger gekümmert. Unter sozialer Variation versteht man die Heterogenität, die einen bestimmten Punkt (eine Stadt, ein Dorf) charakterisiert und die mit der Existenz von sozialen Klassen oder Schichten zusammenhängt. Als bevorzugten Beobachtungspunkt bieten sich die modernen Großstädte an, wo die soziale Differenzierung, die durch das Fehlen von traditionellen örtlichen Dialekten gegeben ist, sich vom einheitlichen Hintergrund abhebt. Richtungweisend sind hier die von William Labov in den USA durchgeführten Untersuchungen. Die allgemeine Annahme besteht darin, daß es eine konstante Beziehung zwischen sozialen Schichten und sprachlichen Phänomenen gibt, z.B. bestimmte Realisierungen von Phänomenen, denen die Sprecher selbst schichtenspezifische Wertunterschiede zuordnen. Im Französischen gibt es eine Tendenz, /!/ und /r/ am Wort- oder Satzende fallen zu lassen. // n'aime pas prendre sä voiture lautet deshalb [ilnsmpaprätsavwatyr]. Hier wird r > 0, und das dem r unmittelbar vorangehende d assimiliert sich in seinem Sonoritätsgrad an das nachfolgende 5. Die Tilgung von / und r ist in erster Linie durch den phonetischen Kontext bestimmt. Die Tilgung von / und r am Satzende ist demgegenüber seltener, je trouve pas terrible kann jedoch heißen [Jtrufpasaterib]. Noch seltener kommt sie vor, wenn / und r zwar am Wortende 5

6

Vgl. das Stichwort „Idiolecte" des Dictionnaire encyclopedique des sciences du langage, von T. Todorov und O. Ducrot, Paris 1972, S. 79 (mangelhafte dt. Übers.: Enzyklopädisches Wörterbuch der Sprachwissenschaften, Frankfurt 1975, Stichwort „Idiolekt", S. 70). B. Bloch, A Set of Postulates for Phonemic Analysis, in: Language 24 (1948), S. 3-46.

2. Sprache und soziale Klasse

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stehen, aber von einem Vokal gefolgt sind: je vais t'attendre au cafe du coin, [jvetatädokafedykwe]. Die Tilgungsregel von / und r hängt nun aber nicht allein vom lautlichen Kontext ab, sondern auch hier von den beiden anderen Variablen: Stil und soziale Schicht. Von den drei angeführten Beispielen wird das erste dann nicht realisiert, wenn - im gehobenen Stil - das Aufeinandertreffen durch die Einfügung eines 9 muet vermieden wird, also: [pradrgsavwatyr]. Die beiden anderen Varianten sind charakteristisch für den Stil der zwanglosen Rede; das letzte Beispiel ist deutlich umgangssprachlich.7 Dennoch wäre es nicht richtig, etwa zu sagen, der gehobene Mittelstand lasse / und r nie fallen, oder das minderbemittelte Proletariat wende diese Regel immer an. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen diesen Sprachformen und den irgendwie gegebenen sozialen Schichten sind komplexer. Nach den von Labov vorgesehenen Interpretationsschemen muß noch eine dritte Dimension berücksichtigt werden, nämlich diejenige der Stile. Stile können sein: (1) zwangloses Sprechen; (2) gewähltes Sprechen; (3) Vorlesen eines Textes; (4) Vorlesen einer Liste von Wörtern. Jede soziale Schicht nähert sich in den beiden letztgenannten Stilen der jeweils höheren Norm (in unserem Fall also derjenigen, die / und r nicht fallen läßt). Dort besteht für sie die Möglichkeit, sich in bewußtem Bemühen der Norm anzupassen, die als überlegen gilt. Andererseits nähert sich jede soziale Schicht im zwanglosen Sprachgebrauch — Sprecher unter ihresgleichen oder jedenfalls bei großer Spontaneität — der jeweils niedrigeren Norm. Selbstverständlich ist auch diese niedrigere Norm eine Norm. Bei manchen Gelegenheiten kann und darf diese Norm denn auch nicht überschritten werden, weil sie von den Beteiligten im Gegensatz zur höheren als offener, expressiver, direkter, aufrichtiger usw. empfunden wird. Nicht für unsere Verhältnisse, aber für diejenigen des amerikanischen Englisch, hat Labov sorgfältige und interessante statistische Erhebungen angestellt. Diesen kann man z. B. entnehmen, daß das Kleinbürgertum im Rahmen der genannten Stile oft die größte Spanne zwischen der niedrigeren und der gehobeneren Aussprache aufweist. Innerhalb des Kleinbürgertums sind es wiederum oft die Frauen, die ihrerseits die größte Spanne besitzen. Diese linguistischen Beobachtungen liefern der soziologischen Analyse wichtige Anhaltspunkte. Wird die Sprache auf diese Weise untersucht, dann gibt sie auch Auskünfte über die gesellschaftlichen Aspirationen der verschiedenen sozialen Schichten. Das genannte Beispiel zeigt das Bestreben des Kleinbürgertums - und vor allem der Frauen -, sozial aufzusteigen. In anderen Fällen zeigt die völlige Gleichgültigkeit einer Gruppe gegenüber der höheren Norm, in welchem Maße sie sich isoliert. Leider besitzen wir nur wenige Untersuchungen dieser Art, sobald wir von Labov und seiner Schule absehen.8 Aber wenn sich diese auch ganz auf das Englische 7 8

Mit diesen Ausführungen folgen wir F. Robert, Aspects sociaux du changement dans unegrammairegenerative, in: Langages 8 (1973), S. 88-97. W. Labov, On the Mechanism of Linguistic Change, in: Monograph Series on Languages and Linguistics, Bd. 18, hg. v. Ch. W. Kreidler, Washington 1965, S. 91-114; The Study of Language in its Social Context, in: Studium Generale 23,1 (1970), S. 30-87 (dt. Übers, in: W. Klein, D. Wunderlich (Hrsg.), Aspekte der Soziolinguistik, Frankfurt 1971, S. 111-194). Die grundlegenden Arbeiten von W. Labov sind: The Social Stratification of English in New York City, Washington D. C. 1966, die Aufsatzsammlung Sociolinguistic Patterns, Philadelphia 1972, und The Boundaries of Words and Their

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IV. Standard, Variation und Stil

konzentrieren, so streifen sie manchmal doch auch andere Sprachen, z.B. das Spanische der nach New York immigrierten Puertorikaner. Darauf, daß zwischen Sprache und sozialen Schichten ein Zusammenhang besteht, ist oft hingewiesen worden. Dies geschah im normativen Rahmen der klassischen Linguistik und in der von ihr abgeleiteten Schulpraxis, vor allem um Arten des Sprachgebrauchs zu tadeln, die man als volkstümlich oder als vulgär betrachtete. Zur Zeit aber erhält die Beobachtung der sozialen Komponente zum ersten Mal eine Schlüsselstellung für das Verständnis der Komplexität der Sprache, sei es in ihrer synchronischen Schichtung, sei es im Hinblick auf die Diachronie. Die sprachlichen Innovationen sind wie die Mode stark sozial gekennzeichnet, und die von ihnen ausgelösten Reaktionen erzeugen Kettenreaktionen in der Sprache der verschiedenen Sprechergruppen. Auf diese Weise erweist sich der soziale Charakter der Sprache nicht mehr nur als ein theoretisches Prinzip ohne praktische Konsequenzen. Im Zuge der Erforschung der Sprachstruktur gilt dieses Prinzip u.a. als grundlegend bei der Erklärung des Sprachwandels. Gleichzeitig wird der Terminus „sozial" selbst nicht mehr zu einem bloßen Synonym für „intersubjektiv": er bezeichnet genau all das, was die Unterteilung der Gesellschaft in Schichten und in unterschiedliche Gruppen betrifft. 3. Sobald man die Begriffe „Sprache" und „Dialekt" gegeneinander abzugrenzen versucht, gibt es große Schwierigkeiten. Natürlich kann diese Abgrenzung auch vorwissenschaftlich getroffen werden. Für einen Italiener gibt es keinen Zweifel darüber, daß das Venezianische und das Neapolitanische Dialekte sind und das Italienische eine Sprache; aber in Amerika z.B. werden zuweilen jene Spielarten eines englischen Standards als Dialekte (dialects) angesehen, die wir eher als „regionale Varianten" bezeichnen würden.9 Die Linguistik ist selten über die bloß passive Übernahme dieser Festlegungen hinausgegangen. Dennoch gibt es einen interessanten Standpunkt, der sich im Vorgehen der historisch-vergleichenden Methode niederschlägt. Wenn das REW z.B. die Fortsetzung eines lateinischen Wortes nicht nur im Rumänischen, im Provenzalischen, im Französischen usw. zeigt, sondern auch im Vegliotischen, im Venezianischen, im Altbergamaskischen, im Dialekt von Sora (Rom), im Lyonesischen usw., dann gibt es damit zu erkennen, daß es sämtliche Formen aller im romanischen Raum effektiv bestehender Sprachsysteme als gleichwertig ansieht, ohne einen Unterschied zu machen zwischen Nationalsprachen, Kultursprachen und Dialekten noch so unbedeutender Minderhei-

9

Meanings, in: New Ways of Analyzing Variation in English, hg. v. Ch. J. Bailey und R. W. Shuy, Washington 1973, S. 340-73 (dt. Übers, in: W. Labov: Sprache im sozialen Kontext, hg. v. N. Dittmar und B.-O. Riek, Bd. l, Kronberg/Ts. 1976, S. 223-54. Ferner: U. Weinreich, W. Labov, M. J. Herzog, Empirical Foundations for a Theory of Language Change, in: Directions for Historical Linguistics, hg. v. W. P. Lehmann und . Malkiel, Austin-London 1968, S. 95-195. Vgl. M. Cortelazzo, Avviamento critico allo studio delta dialettologia italiana, /. Problemi e metodi, Pisa 1969, Kap. I (besonders die Seiten 16-19). Äußerst nützlich ist die Untersuchung der Begriffe „Sprache" und „Dialekt" bei G. Berruto, La sociolinguistica, S. 62-64, und vor allem bei E. Haugen, Dialect, Language, Nation, in: American Anthropologist 68 (1966), S. 922-35, bzw. in: Sociolinguistics, hg. v. J. B. Pride und J. Holmes, Harmondsworth 1972, S. 97-111.

3. Sprache und Dialekt

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ten, und nicht einmal zwischen neueren und älteren Sprachen (oder Sprachformen). Das ist der naturalistische Begriff der sprachlichen Würde im Rahmen der Romantik (Kap. II). Aber es versteht sich, daß gerade aus naturalistischer Sicht solche Systeme bevorzugt waren, die sich durch ihre besondere morphologische und phonetische Originalität auszeichnen: das Sardische oder romanische Mundarten, die nicht unmittelbar auf das Italienische zurückführbar schienen, z.B. das Ladinische, das Frankoprovenzalische u. a. Sie waren für den Sprachforscher genau so attraktiv wie für den Botaniker oder Zoologen die Entdeckung einer besonders merkwürdigen Art von Pflanzen oder Tieren; kulturelle Kriterien galten als nicht legitim. Liest man die Berichte über die Polemiken von damals, dann sind die unentwirrbaren Widersprüche nicht zu übersehen, in die sich die Wissenschaft verstrickt. Ascoli schließt seine große Abhandlung über die norditalienischen und ladinischen Dialekte, die Saggi Ladini (oben Kap. II, § 10), mit der Feststellung, das Ladinische sei eine Sprache. Als er in den Schizzi franco-provenzali (Archivio Glottologico Italiano, III (1878), pp. 71—120) dasselbe für das Frankoprovenzalische vorsah, zeigte die Polemik mit Paul Meyer, daß viele Franzosen die drohende Zergliederung der nationalsprachlichen Einheit nicht gerne sahen. So gesehen zeigte sich Paul Meyer vielleicht weniger wissenschaftlich (oder weniger „objektiv") als sein italienischer Kollege. Tatsächlich aber ist sein Einwand, es gebe keine festen Kriterien im großen Kontinuum der territorialen Variation, eher befremdlich.10 Der Irrtum Ascolis bestand im wesentlichen darin, daß er eine Dualität von Dialekt und Sprache aufrechterhalten wollte, während aus naturalistischer Sicht entweder alles Dialekte oder alles Sprachen sind. Aber das Problem tauchte auch dann wiederum auf, als man den naturalistischen Standpunkt aufgegeben hatte. Maßgeblich waren dann allerdings mehr praktische (politische) als theoretische Gesichtspunkte. Bei Fragen der Art, ob das Rätoromanische eine Sprache oder ein Dialekt des Italienischen sei, das Istrische eine Sprache oder eher ein venezianischer Dialekt, das Moldauische eine Sprache oder ein rumänischer Dialekt, waren die Stellungnahmen der Linguisten oft opportunistisch oder politisch-national, und die in die Waagschale geworfenen Argumente wurden zu Unrecht als wissenschaftlich deklariert. (In Wirklichkeit können weder das Istrische noch das Moldauische als vom Venezischen bzw. vom Rumänischen unabhängig betrachtet werden.) Sprachbewußtsein ist Nationalbewußtsein: das Holländische könnte ein niederdeutscher Dialekt sein, wenn es nicht einer geschichtlich gewachsenen Nation als Grundlage gedient hätte. Umgekehrt sind das Kalabresische oder z. B. auch das Bergamaskische im Verhältnis zur italienischen Schriftsprache besonders exzentrisch; aber das Sprachbewußtsein wird hier nicht zum Nationalbewußtsein (im Gegenteil: schon das ältere Bergamaskische orientierte sich in Richtung auf das Italienische; es hat sich z.B. in der Phonetik stark italianisiert). Wenn dagegen eine Gruppe von Sprechern eines Dialekts die Forderung nach dessen Anerkennung als „Sprache" erhebt — was sich in den letzten Jahren da und dort ereignet hat —, dann muß man sich darüber im klaren sein, daß die Intellektuellen, die die Wortführer einer solchen Bewegung sind, sicherlich nicht nur rein 10

Eine ausführlichere Darstellung mit bibliographischen Angaben bringt A. Varvaro, Storia, problemi e metodi, S. 114- 122. Als Beispiel sei außerdem erwähnt: G. Tuaillon, Le francoprovenqal: progres d'une definition, in: Travaux de Linguistique et de Litterature 10 (1972), S. 293-339.

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IV. Standard, Variation und Stil

sprachliche Ziele verfolgen, sondern vorwiegend politische. Was geschaffen werden soll, ist eine alle Klassen umfassende lokale Solidarität, die sich zur offiziellen Sprache und Kultur in Gegensatz stellt. Es handelt sich also immer um „nationalistische" Phänomene und oft um die Herausbildung von neuen Nationalismen. In solchen Fällen spielen sprachliche Verschiedenheiten eine entscheidende Rolle. Es gibt jedoch auch nationalistische Bewegungen ohne sprachliche Basis, die auf anderen Faktoren beruhen. Gemeint sind damit religiöse, historische oder (im weitesten Sinne) kulturelle Gegebenheiten. Doch sind diese, auch wenn sie real begründet sind, stets sekundär, d. h. als Ausdruck von tiefer liegenden sozialen Konflikten zu werten. Spannungen dieser Art können ihren Ausdruck im Nationalismus finden (und dabei besonders den sprachlichen Aspekt des Problems in den Vordergrund stellen) oder aber zu ideologisch und praktisch verschiedenen Haltungen führen.11 Sofern sich der Linguist auch als Soziologe betätigt, hat er in solchen Fällen einen besonders günstigen Standpunkt. Die soziale Dynamik zeitigt nicht zu unterschätzende Rückwirkungen auf die sprachliche Interaktion innerhalb der regionalen und lokalen Gruppen und ebenso innerhalb der verschiedenen sozialen Schichten.12 Es gibt grundlegende soziale Faktoren, die die Ausbreitung oder den Rückgang einer Sprache oder eines Dialektes beeinflussen und auch deren Veränderung bedingen. Die Dialekte der großen Industriestädte nähern sich z.B. fast immer tendenziell der Nationalsprache an, oder sie neigen dazu, unterzugehen. Bei der Untersuchung von formalen Strukturen oder im Rahmen der Sprachtypologie bleibt der Sprachwissenschaftler dabei stets ein Erbe der Junggrammatiker. Die besondere Form einer Sprache ist immer schon an sich interessant, und der Gegensatz von Sprache und Dialekt entfällt — zumindest in bestimmten Phasen der Untersuchung: beides sind einfach Strukturen. Im Falle des Sprachwandels spielt sodann auch das Prestige einer Sprache eine nicht unbedeutende Rolle. Sprachen mit großem Prestige beeinflussen gewöhnlich die Sprachen mit geringerem Prestige, und zwar auf den Wegen und Umwegen, die wir bereits besprochen haben. Aber es gibt auch das Umgekehrte, d.h. daß minoritäre Sprachformen sich den majoritären entgegenstellen. In diesem Zusammenhang haben wir oben (Kap. II, § 9) den Begriff der Sprachtreue erörtert. Es gibt aber auch solche, die es sich — theoretisch oder praktisch — zur Aufgabe machen, die aussterbenden (oder „verunreinigten") Dialekte zu verteidigen. Diese gleichen den Naturfreunden, die seltene Tier- oder Pflanzengattungen in Nationalparks schützen. Was diese Leute manchmal vergessen, ist die Tatsache, daß die Sprache von Menschen gesprochen wird, daß eine Sprache von ausschließlich lokaler Bedeutung ein Ghetto ist und daß die Kenntnis umfassender Kommunikationsmittel für große Massen früher isolierter Menschen zur Notwendigkeit geworden ist. In den meisten Fällen verkörpert der Dialekt die Tradition, die Sprache die soziale Innovation. Wer die Haltung des Naturfreundes, des Nostalgikers oder des volkstümlichen Politikers annimmt, verkennt den Einsatz, um den es geht. Niemand behauptet hier, daß die Dialekte verschwinden sollen. Aber die Verlangsamung 11

12

Einen besonders durchdachten Standpunkt vertreten R. F. Inglehart und M. Woodwart, Language Conflicts and Political Community, in: Comparative Studies in Society and History 10(1967). Ein in dieser Hinsicht für die Verhältnisse in Italien grundlegendes Buch ist T. De Mauro, Storia linguistica dell'Italia unita, Bari 21970.

4. Menschen „ohne Sprache"

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oder die Beschleunigung des Zersetzungsprozesses, der trotz allem im Gange ist, entzieht sich großenteils der Kontrolle derer, die ihn aufhalten wollen. Ersichtlich scheint uns nur das zu sein, daß in der Gesellschaft von morgen der Dialekt als Träger der Tradition auftritt, bzw. heutzutage als Träger einer irgendwie gearteten vorindustriellen Lebenshaltung. So formuliert wird eine neue Diskussion der Problematik von Sprache und Dialekt wiederum interessant. Doch führt diese Diskussion zu einer soziologischen Polemik in linguistischem Gewände. 4. Gerade durch die Industrialisierung wurden jahrhundertelang isolierte oder jedenfalls abseits der großen Strömungen der Geschichte gebliebene Gruppen in einen weiterreichenden Kommunikationszusammenhang gebracht. Die Landflucht ist einer der augenfälligsten Aspekte dieses Phänomens. Aber auch die bei der Scholle verbliebene Bevölkerung ist durch die Veränderungen im Wirtschaftssystem in Krise geraten und hängt nicht mehr an den statischen und traditionsgebundenen Lebensformen von damals. Die soziale Krise dieser Bevölkerung hat auch einen linguistischen Aspekt, dessen Folgen schwerwiegend sein können. Die in diesem Milieu gesprochene Sprache — in Italien z.B. gewöhnlich ein Dialekt —, die geographisch begrenzt, auf Familienbetriebe zugeschnitten und für die herkömmlichen Arbeitsmethoden wie geschaffen erscheint, genügt den modernen Bedürfnissen nicht. Der Verlust des Dialektes, der damit zumeist verbunden ist, bringt jedoch nicht automatisch den Ersatz durch eine andere Variante, den sog. S t a n d a r d der jeweiligen Nationalsprache, und ebensowenig die Feinheiten seines Gebrauchs in Wort und Schrift.13 Das in vielen Milieus auftretende linguistische Trauma ist einer 13

Vgl. W. Labov, The Logic of Nonstandard English, in: Georgetown Monographs on Language and Linguistics 22 (1969) (und in: Language in the Inner City. Studies in the Black English Vernacular, Philadelphia 1972, Kap. 5; The Study of Nonstandard English, Champaign 1972; The Logic of Nonstandard English, in: J. E. Alatis (Hrsg.), Report of the Twentieth Annual Round Table Meeting on Linguistics and Language Studies, Washington 1970, S. 1-43 (teilweise ins Deutsche übersetzt unter dem Titel: Die Logik des Nonstandard English, in: Aspekte der Soziolinguistik, hg. v. W. Klein und D. Wunderlich, Frankfurt 1971, S. 80-98). B. Bernstein, Social Class and Linguistic Development: A Theory of Social Learning, in: Education, Economy and Society, hg. v. A. H. Halsey, J. E. Floud, C. A. Anderson, New York 1961, S. 288-314 (dt. Übers.: Soziale Schicht und sprachliche Entwicklung: eine Theorie sozialen Lernens, in: B. Bernstein, Studien zur sprachlichen Sozialisation, Düsseldorf 1972, S. 115-148); Social Structure, Language and Learning, in: Educational Research 3 (1961), S. 163-176; Social Class, Language and Socialization, in: Current Trends in Linguistics, Bd. 12, hg. v. A. S. Abramson u. a., Den Haag 1971 (dt. Übers.: Soziale Schicht, Sprache und Sozialisation, in: B. Bernstein, Studien zur sprachlichen Sozialisation, S. 256-278); Education cannot Compensate for Society, in: Education for .Democracy, hg. v. D. Rubinstein und C. Stoneman, Harmondsworth 1970, S. 104-116, bzw. in: New Society, 26. Februar 1970, S. 344-47 (dt. Übers.: Der Unfug mit der „kompensatorischen" Erziehung, betrifft: Erziehung, 1970, Heft 9, S. 15- 19). Von De Mauro außer der eben genannten Storia linguistica ferner: Per lo studio dell'italiano popolare unitario, Vorwort zu A. Rossi, Lettere da una tarantata, Bari 1970; Pedagogia della creativitä linguistica, Napoli 1971. Wir verweisen außerdem auf N. Dittmar, Soziolinguistik, exemplarische und kritische Darstellung ihrer Theorie, Empirie und Anwendung. Mit kommentierter Bibliographie, Frankfurt 1973.

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IV. Standard, Variation und Stil

der dramatischsten Aspekte der mangelnden sozialen Anpassung. Man kann von Unterentwicklung nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im linguistischen Sinn sprechen. Die Schule kann zur Lösung dieses Problems beitragen. Aber sie darf dabei nicht den Dialekt bekämpfen und sich der wenig realistischen Aufgabe verschreiben, die „gute" Schriftsprache zu verbreiten, wie das in Übereinstimmung mit der klassischen Schultradition häufig noch vorkommt. Denn es geht darum, bei den Kindern ein Sprachvermögen zu entwickeln, das ihnen von zu Hause in manchen Fällen nicht mitgegeben wurde. Die Lehrer arbeiten (ohne sich dessen immer bewußt zu sein) an einem der empfindlichsten Punkte der Institutionen eines Landes, nämlich dort, wo über die Eingliederung oder den Ausschluß all derer entschieden wird, die beim Start benachteiligt waren. In Süditalien, in Lateinamerika oder in den Einwanderungsvierteln von New York ist die Unfähigkeit, sich auszudrücken (im Rahmen der auf den verschiedenen Ebenen als verbindlich anerkannten, willentlich nicht verletzbaren Formen), dem Verlust des materiellen Lebensunterhalts vergleichbar. Zur Bewußtmachung dieses Umstandes haben in den letzten Jahren Leute wie Labov in Amerika, Bernstein — mit linguistisch allerdings fragwürdigen Ansätzen — in England oder De Mauro in Italien beigetragen. Auf diese Weise eröffnet sich für die Linguistik ein bislang noch nicht ausgebauter sozialer Arbeitsbereich. Man denke dabei auch an den katholischen Lorenzo Milani, unter den Schriftstellern an den Brasilianer Graciliano Ramos, der in seinen „Vidas secas" mit dem Hunger der Bauern auf der Flucht auch deren sprachliche Regression beschrieben hat. 5. Die S p r a c h g e o g r a p h i e hat in der Romanistik einen besonders hohen Stand erreicht. Auf die methodologische Bedeutung ihrer Verfahren bei ihrem ersten Auftreten an der Wende vom 19. zum 20. Jh. haben wir oben bereits hingewiesen (Kap. II, § 11). Im Zuge ihrer Entwicklung dehnte sich ihr Anwendungsbereich auf immer neue Gebiete aus. Aber manche der Pionierarbeiten haben trotzdem nichts von ihrer ursprünglichen Bedeutung eingebüßt. Der zwischen 1902 und 1912 veröffentlichte Atlas linguistique de la France (ALF) von Jules Gillieron dient noch heute zur allgemeinen sprachlichen Charakterisierung Frankreichs. Wir wenden uns deshalb zunächst (und aus didaktischen Gründen) diesem Atlas zu. Die Sprachatlanten sind im wesentlichen dialektologisch zu interpretieren. Die kartographische Darstellung erlaubt es, die Varianten eines Begriffs, eines Wortes oder eines Satzes innerhalb eines größeren Territoriums gleichzeitig vor Augen zu haben und so die dialektalen Unterschiede in allen Einzelheiten zu registrieren. Der Atlas Gillierons besteht aus Karten des französischen Territoriums mit je 639 Punkten, die örtlichkeiten verschiedener Art repräsentieren. An ihrer Stelle findet man die jeweilige dialektale Variante des im Titel der Karte angegebenen Stichwortes. Die Anordnung ist alphabetisch. Thema der ersten, später berühmt gewordenen Karte ist abeille „Biene". Angefertigt wurde der Atlas, nachdem ein Katalog der Fragen (Questionnaire) erarbeitet worden war, die an jedem der den 639 Punkten entsprechenden Orte gestellt werden sollten, und eine Liste von konventionellen Zeichen für die zu notierenden Laute (phonetische Umschrift). Ein einziger Explorator, Edmond Edmont, ein Gemüsehändler aus der Pikardie, führte die Befragung in ganz Frankreich durch. Vorher hatte man versucht — selten und nur sporadisch allerdings — das Material auf dem Korrespondenzwege zu erfassen. Um die

5. Sprachgeographie

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Einheitlichkeit und Zuverlässigkeit der Datensammlung zu gewährleisten, gibt es heute jedoch andere Mittel, vor allem das Tonbandgerät. Auf den ersten Blick zeigen die meisten Karten — auch für einen Leser, der schon über etwas Erfahrung verfügt — nichts als eine ungeheuer aufgesplitterte Vielfalt, wie sie bereits in den oben erwähnten Arbeiten von Ascoli in Erscheinung getreten war. Mit etwas Aufmerksamkeit ist es jedoch leicht, grundlegende lautliche Erscheinungen zu verfolgen, z. B. die Opposition von ka und fe (oder tfa, tfe), die das provenzalische Gebiet vom französischen trennt (kaval gegenüber chevat), die typische Vertretung von /- durch h- in der Gaskogne oder die konservative Aussprache von oi, [we] statt [wa] in dem am wenigsten von Paris beeinflußten Gebiet des Französischen usw. Die Schlüsse, die Gillieron in einer — oft in Zusammenarbeit mit seinen Schülern entstandenen — Reihe von Monographien aus seinem Werk gezogen hat, sind jedoch viel interessanter und neuartiger. Für Gillieron war es unmöglich, die Lautgesetze, die die ganze Aufmerksamkeit der Junggrammatiker beansprucht hatten, für eine so große sprachliche Vielfalt verantwortlich zu machen, wie sie uns aus den Karten der Atlanten entgegentritt. Die Karten zeigen nämlich auch bisher unbekannte Mechanismen der Wortbildung. In der Gaskogne findet man z.B. für den Begriff „Hahn" Formen wie vicaire — offenbar scherzhaft: der Hahn als kleiner Pfaffe — oderfaisan „Fasan". Denkt man nun dabei an das typisch gaskognische Lautgesetz -// > -t, dann stellt man fest, daß das lateinische G ALLUS, das im Provenzalischen zu gal wird, im Gaskognischen als gat erscheinen mußte. Dieses Wort bezeichnete aber gleichzeitig auch die Katze. Auf diese Weise läßt sich eine pathologische Homophoniestituation rekonstruieren, die offensichtlich unhaltbar war und als Lösung einer metaphorischen Neuschöpfung bedurfte, wie vicaire sie darstellt. Mit seiner Vorliebe für die medizinische Terminologie sprach Gillieron in diesem und in ähnlichen Fällen von Therapie. Diese tritt seiner Ansicht nach immer dann ein, wenn in einer Sprache eine pathologische Situation entstanden ist. In seiner berühmten Auswertung der ersten Karte des ALF, die die Bezeichnung der Biene zum Gegenstand hat,14 zeigt Gillieron, daß die Verbreitung der südfranzösischen Form abeille (prov. abeio < APICULA) einerseits durch die Reduktion des Lautkörpers (mutilation phonetique) von lat. APIS zu frz. ef, e, es, andererseits durch die da und dort auftretende Homophonie mit den Vertretern von lat. AVIS begünstigt wurde. Gillierons glänzende Strategie besteht darin, in den Randgebieten die Reste der überwundenen Phasen der Entwicklung aufzuspüren, d. h. späte Zeugen lexikalischer Konflikte habhaft zu machen, die anderswo entschieden wurden. e, es, a halten sich in Randzonen und isolierten Gebieten Nordfrankreichs und der Schweiz als winzige Reste eines früher kompakten Gebietes (methodologisch eine Vorwegnahme einer der Arealnormen von Bartoli, Kap. II, § 11). Es gab in diesem Fall nicht nur eine Therapie; auf französischem Gebiet finden sich neben abeille die Typen mouche a miel (eine Periphrase), avette (ein Diminutiv, vergleichbar den Formen poisson, soleil usw.) u. a. 14

J. Gillieron, Genealogie des mots qui designent l'abeille d'apres l'„Atlas Linguistique de la France", Paris 1918. Vgl. den Kommentar von B. E. Vidos, Handbuch, S. 59-70. Über den Konflikt von „Katze" und „Hahn" W. von Wartburg, Einführung in Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft, Tübingen 31970, S. 137-40.

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IV. Standard, Variation und Stil

Gillieron hat auch auf die Rolle hingewiesen, die die V o l k s e t y m o l o g i e bei der Wortentwicklung spielt. Ein bekanntes Beispiel ist das folgende: frz. furnier „Misthaufen" geht auf lat. *FIMARIUM (FIMUS + Suffix) zurück, ist phonetisch jedoch abnorm, weil das kurze I zu e, d. h. zu /a/, nicht zu ü werden müßte. Die «-Lautung erklärt sich aus der Kreuzung mitfumee. D.h. die Volksmeinung hat furnier mit „Dampf" in Verbindung gebracht, weil Misthaufen dampfen. Der Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS = Atlante ItaloSvizzero, 8 Bde., 1928- 1940) wurde unter Leitung von Karl Jaberg und Jakob Jud an den Universitäten Zürich und Bern abgefaßt. Die Exploratoren waren Paul Scheuermeier, Max Leopold Wagner (bekannt als Spezialist des Sardischen) und Gerhard Rohlfs (der Verfasser der Historischen Grammatik der italienischen Sprache und ihrer Mundarten). Der AIS ermöglicht eher einen Gesamtüberblick über die italienischen Dialekte als die Beobachtung von Details: das Netz der Aufnahmepunkte ist relativ weitmaschig, die dialektale Vielfalt Italiens demgegenüber extrem groß. Bei der Anordnung der Karten ist ein neues Verfahren an die Stelle der alphabetischen des ALF getreten: die Begriffe sind aufgrund ihrer Affinität nach Begriffsfeldern geordnet. Der AIS gibt den Bezeichnungen von Werkzeugen, Pflanzen, Gebräuchen u. ä. breiten Raum. Aus diesem Grunde bietet er einen nicht nur in sprachlicher, sondern auch in folkloristischer Hinsicht wertvollen Überblick über Italien. Maßgeblich war dabei der Einfluß der Richtung „Wörter und Sachen", die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit der Sprachwissenschaft auf die Beziehungen lenkte, die zwischen dem Wortschatz einer Sprache und den „Sachen" (Gegenständen und Traditionen) bestehen, die es auszudrücken gilt. Ein weiteres Zeichen für die größere Wirklichkeitsnähe des AIS gegenüber dem ALF kann darin gesehen werden, daß der AIS nicht (wie der ALF) die Städte von der Untersuchung ausschließt. Unter dem „archäologischen" oder „geologischen" Gesichtspunkt Gillierons waren die Städte nur späte Zeugen von geringem Wert. Doch sind gerade die Städte die wesentlichen Größen in der Dialektik zwischen Neuerung und Tradition: die Städte haben heute diejenigen sprachlichen Formen, die es morgen auch auf dem Land geben wird. Allerdings kann die sprachliche Schichtung der Städte, wo ein und derselbe Sprecher nach der von Labov gezeigten Dynamik über mehrere Register verfügt, in der Arbeit des Sprachgeographen keinen Niederschlag finden. Heute stellen wir fest, daß auch die Sprachgeographie ihre Grenzen hat: was sie an Breite gewonnen hat, vermag sie nicht auch an Tiefe zu erreichen. In der Iberoromania war das erste große Unternehmen der unter der Leitung von Mons. Antonio Griera entstandene Atlas linguistic de Catalunya (ALC) in 8 Bänden (1923-64). In Rumänien wurde die Sprachgeographie von dem deutschen Balkanologen Gustav Weigand begründet (Linguistischer Atlas des dakorumänischen Sprachgebiets, Leipzig 1909) und fortgeführt mit dem Atlasul lingvistic romän von Sextil Pu§cariu (Bukarest 1938 bis 1942, bzw. 1956-1965 in 4 Bänden). In Rumänien wurden - wie zur Zeit in Frankreich auch Regionalatlanten erstellt, die eine zwar räumlich begrenzte, dafür aber präzisere Beobachtung der einzelnen Phänomene ermöglichen. Bemerkenswert ist in Frankreich die einheitliche, für die methodologische Position charakteristische Fassung der Titel: Alias linguistique et ethnographique. In Italien entstand ein Atlante Linguistico della Corsica von Gino Bottiglioni (Pisa 1933-44). Neu ist der Atlante storico linguistico etnografico friulano (ASLEF), bisher mit Bd. 1-3 (1972-78), von Giovan Battista Pellegrini. Ebenfalls in Italien

5. Sprachgeographie

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steht ein recht außergewöhliches Unternehmen kurz vor seinem Abschluß, der Atlante linguistico mediterraneo (ALM), der unter der Leitung von Gianfranco Folena und Mirko Deanovic in Venedig bearbeitet wird. Dieser Atlas ist thematisch abgegrenzt und befaßt sich mit dem Fischerei- und Seewesen des Mittelmeeres, das trotz der sprachlichen Unterschiede eine verbindene Einheit bildet, die sich sprachlich vor allem in der gegenseitigen Durchdringung des Wortschatzes in ganz verschiedenen Sprachen — Venezianisch, Neugriechisch, Türkisch - zeigen läßt. Gleichzeitig hat er auch die Eigenart, daß er keine Räume abbildet, sondern Küstenstriche.

Fünftes Kapitel

Das Lateinische

1. Es gibt interne, sozusagen technische Gründe, wenn man normalerweise präzisierend sagt, daß die romanischen Sprachen nicht aus dem Latein schlechthin, sondern aus dem Vulgärlatein hervorgegangen seien. So gehen alle romanischen Sprachen bei Formen wie rum. a putea, it. p_otere, frz. pouvoir, sp. poder usw. auf eine nicht bezeugte lateinische_Form *POTERE (analog zu den Infinitiven der Verben der 2. Konjugation, HABERE u.a.) zurück, und nicht auf POSSE. Während z.B. das sp. todo auf lat. TOTUS zurückgeht, müssen it. tutto und andere romanische Formen aus Gründen der phonetischen Gesetzmäßigkeit auf eine andere, im übrigen bezeugte lateinische Form mit Doppelkonsonanz zurückgehen, nämlich TÖTTUS (vgl. REW 8815); andernfalls hätten wir it. toto wie voto „Gelübde" < lat. VOTUM; (das u von tutto bedarf einer gesonderten Erklärung, vielleicht im Rahmen der Analogie). Der Begriff „Vulgärlatein" ist nicht nur rekonstruktiv begründet. Er stützt sich auch auf die direkt und indirekt bezeugten Unterschiede zwischen dem literarischen und dem nichtliterarischen Latein: auf archaische Entwicklungsstufen, die am Rande des gebildeten und literarischen Gebrauchs fortbestanden haben, auf Vulgarismen oder auf dem Spätlatein usw. Der Begriff „Vulgärlatein" setzte sich mit Diez und Schuchardt durch (aber schon Cittadini und Estienne hatten sich damit beschäftigt). Das Phänomen als solches wurde jedoch von den Römern selbst beobachtet. Nachrichten darüber gehen insbesondere auf Cicero und auf Quintilian zurück. Cicero spricht von plebeius sermo und vulgaris sermo.1 Dieser größte Meister 1

Vgl. V. Väänänen, Introduction au latin vulgaire, Paris 1963, 21967, S. 5. Weitere Einführungen und Handbücher des Lateinischen sind: C. Battisti, Avviamento allo studio del latino volgare, Bari 1949; Ch. H. Grandgent, An Introduction to Vulgar Latin, Boston 1907 (unv. Nachdr. New York 1962) (sp. Übers.: F. de B. Moll, Introduccion al latin vulgar, Madrid 1928, Nachdr. 1952 u. 1963); Th. H. Maurer, Gramatica do latin vulgar, Rio de Janeiro 1959; G. Rohlfs, Sermo vulgaris latinus, Vulgärlateinisches Lesebuch, Tübingen 21956; V. Pisani, Testi latini arcaici e volgari, Turin21960. Für das Spätlateinische sind vor allem die Arbeiten der schwedischen Schule zu nennen: E. Löfstedt, Late Latin, Oslo u.a. 1959; D. Norberg, Syntaktische Forschungen auf dem Gebiete des Spätlateins und des frühen Mittelalters, Uppsala 1943; Beiträge zur spätlateinischen Syntax, Uppsala 1944. Allgemeine Werke sind: F. Sommer, Handbuch der lateinischen Laut- und Formenlehre, Heidelberg 21948; A. Ernout und F. Thomas, Syntaxe latine, Paris 21959; J. Marouzeau, Introduction au Latin, Paris 21954 (dt. Übers.: Das Latein, urspr. Titel: Einführung ins Latein, Zürich-Stuttgart 1966); A. Meillet, Esquisse d'une histoire de la langue latine, Paris 81966; M. Niederrnann, Precis de phonetique historique du latin, Paris 41959 (dt. Übers.: Historische Lautlehre des Lateinischen, Heidelberg 31953); F. Stolz, A. Debrunner, W. P. Schmid, Geschichte der lateinischen Sprache, Berlin 1966 (Göschen No. 492/492a).

1. Epochen und Stile

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der lateinischen Literatur hatte einen scharfen Blick für das, war er ablehnte oder (nach der Theorie der Stile und des convenient) nur teilweise in einigen besonderen literarischen Gattungen, z. B. in der Epistolographie, zuließ. Es erscheint sinnvoll, an dieser Stelle zunächst nochmals auf die Saussuresche Antinomie von Synchronie und Diachronie einzugehen, um im Anschluß daran zum Vulgärlatein zurückzukehren. Dabei machen wir uns die „interne" Kritik des Begriffs zunutze, die vielleicht so alt ist wie der Begriff selbst. Man kann vom Latein nicht nur in der synchronischen Dimension sprechen: das Latein hat eine Geschichte. Wenn man von dem ältesten, bislang noch allein dastehenden Sprachdenkmal, der aus dem 7. Jh. v. Chr. stammenden Fibel von Praeneste absieht, so liegen zwischen den Inschriften des 3. Jh. v. Chr. (z. B. denen der Scipionengräber) und der christlichen Dichtung des 5. Jh. (Sidonius Apollinaris, Prudentius) gut acht Jahrhunderte. Allerdings war über den größten Teil dieser Zeitspanne eine besondere Norm, die sog. „klassische" Norm wirksam, die im literarischen Ausdruck, zumindest soweit er sich auf einem bestimmten Niveau bewegte, die laufende Entwicklung blockierte, auch wenn es eine Entwicklung immer gab. Eine der Aufgaben der historischen Sprachwissenschaft bestand deswegen gerade darin, alle die Spuren von Entwicklungen zu sammeln und zu interpretieren, die gleichsam in einer unterhalb der Texte liegenden Schicht eingetreten waren. Es wurde eine Technik der Fehlerinterpretation erarbeitet, die die verschiedenen, tatsächlich vorhandenen Sprachschichten aufdeckt. So erschien das Latein - in erster Linie dank Schuchardt - als ein statisches Zentrum, das an den Rändern von einer heftigen zentrifugalen Bewegung erschüttert wurde, wo es Neuerungen aller Art gab: solche, die in den romanischen Sprachen ihren Niederschlag gefunden haben — Tendenzen, die zum Durchbruch gelangten — und solche, die abgeblockt blieben. Will man jedoch ein geschlosseneres Bild vom Latein entwerfen, ein Bild das insbesondere auch das Verhältnis zu den romanischen Sprachen berücksichtigt, dann muß man sich das Latein gegliedert vorstellen, und zwar horizontal (nach Epochen), und in jeder Horizontalen wiederum vertikal (nach Stilen). Wenn Cicero von vulgaris sermo spricht, dann macht er eine stilistische Unterscheidung. Wenn man in der Wissenschaft heute 200 n. Chr. von später Latinität spricht, dann wird ein horizontaler Schnitt angesetzt, d.h. man isoliert einen diachronen Abschnitt. Der Begriff „Vulgärlatein" verleitet dazu, die beiden Gesichtspunkte zu vermischen, obwohl beide auf ihre Weise die Anfänge der romanischen Sprachen erklären. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung wird leicht an einem Beispiel klar. Die Aussprache des lateinischen au als o (orum statt aurum „Gold") scheint sehr alt zu sein; sie galt als rustikal, und zwar vermutlich deshalb, weil das Umbrische und andere italische Sprachen in der Nachbarschaft Latiums früh diesen Wandel durchgeführt hatten. Doch besteht hier kein Zusammenhang mit der romanischen Entwicklung von au > o, die übrigens z. B. das Rumänische, das Zentralladinische und das Altprovenzalische nicht betrifft, im Spanischen, im Italienischen und im Französischen jedoch unabhängig eintrat. Die Aussprache von au als o war, wie es scheint, ein Stilistikum des Lateins — Cicero gebraucht oricula statt auricula nur in den Briefen, wenn er einen scherzhaften Ton anschlägt — der Wandel au > o dagegen ist eine Eigenheit des Romanischen.2 Dazu Väänänen, Introduction, § 60.

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V. Das Lateinische

2. Wenn heute das Latein im Verhältnis zum Romanischen zwei typologisch sehr unterschiedliche Gruppierungen von Sprachen darstellen, so liegt dies im wesentlichen daran, daß der Satzbau des Lateinischen im Zuge eines langen Umwandlungsprozesses radikal verändert wurde. Gewiß, auch die Phonologie der romanischen Sprachen hat sich gegenüber derjenigen des Lateinischen erheblich verändert (siehe unten, § 5). In der Morphosyntax ist die Veränderung jedoch am auffälligsten. Man sagt zuweilen (nach August Wilhelm Schlegels Unterscheidung und Terminologie), das Lateinische sei synthetisch, das Romanische dagegen analytisch. Damit spielt man auf charakteristische Eigenheiten an, z. B. auf die mit Kasus operierende Nominaldeklination des Lateinischen, bzw. auf die mit Präpositionen arbeitende Morphologie des Romanischen. Doch ist diese Schlegelsche Unterscheidung für heutige Verhältnisse doch wohl zu scharf. Aber es ist trotzdem nicht zu leugnen, daß die Unterschiede zwischen dem Lateinischen und dem Romanischen offenbar ein und derselben Grundtendenz zu gehorchen scheinen, auch wenn diese — wie es oft geschah — nicht einfach als Tendenz zur Vereinfachung betrachtet werden kann. Es bleiben der Linguistik in der Tat noch viele Punkte des makroskopischen Wandels zu erklären, der die Umstrukturierung des Lateinischen zum Romanischen seinerzeit bewerkstelligt hat. Wir versuchen deshalb, ein sehr allgemeines Bild von den wichtigsten Veränderungen zu geben, gleichzeitig aber einige davon so herauszugreifen, daß sie gründlicher betrachtet werden. Syntaktische Phänomene (1) Wortfolge: Die Grundwortfolge des Lateinischen im nicht markierten Satz, Subjekt - Objekt - Verb, wird von allen romanischen Sprachen aufgegeben. Die zentrale Stellung übernimmt das Prädikat. Der Wortfolge: Paulus matrem amat (SOV) entspricht in allen romanischen Sprachen die Wortfolge frz. Paul aime sä mere (SVO). Diese überwiegt schon in einem noch gar nicht so späten Text wie der Vulgata. (2) Determination: Die lateinische Folge von Determinans vor Determinatum (patris manus) wird umgestellt zu Determinatum vor Determinans (it. la mano del padre, oder ebenso frz. maison de campagne). Aber man muß anmerken, daß die Situation im Lateinischen wie auch in den romanischen Sprachen sehr komplex ist, sobald man die verschiedenen Arten von Determinanten (Adjektiv, Demonstrativ usw.) berücksichtigt. (3) Radikale Reduktion des lat. Kasussystems, und zwar bis zu der (in manchen Fällen früher, in anderen später eingetretenen) Aufhebung der grundlegenden funktionalen Opposition von Nominativ und Akkusativ. Man nimmt an, daß es in einer Spätphase des Lateins überall (außer im Raum des späteren Rumäniens) ein einheitliches Zwei-Kasus-System gab. Das Kasus-System wird in der Folge durch ein Präpositionalsystem ersetzt. (4) Im Spätlatein entwickelten sich diejenigen Formen, aus denen in den romanischen Sprachen später der Artikel entsteht. Das Lateinische zeigte die Determiniertheit nicht explizit an (es bestand bei Indetermination die Möglichkeit, einen besonderen Fall durch fakultatives quidam zu signalisieren). Der bestimmte Artikel der romanischen Sprachen geht, was seinen Ausdruck betrifft, auf ILLUM, seltener auf IPSUM (sard., kat., gask.) zurück; der unbestimmte Artikel auf UNUM. Diese Veränderungen scheinen miteinander in Beziehung zu stehen. Sie erfolgen

3. Kasussystem

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zum Teil auf dieselbe Weise, voneinander jedoch unabhängig, auch in anderen indogermanischen Sprachen, die eine starke Entwicklung durchgemacht haben, z. B. in den germanischen Sprachen (und zwar mehr im Englischen oder im Niederländischen als im Deutschen). Ausgelöst wurde dieser Vorgang, der wie eine Kettenreaktion aussieht, vermutlich durch die Änderung der Wortfolge, d. h. durch die erste der von uns angeführten Eigenschaften. Aber die Veränderungen als solche, d. h. der Vorgang, ist noch nicht befriedigend untersucht. Diesem komplexen Mechanismus unterliegt auch ein morphologisches Phänomen, das wir hier unter (7) anführen: der Ausbau der Hilfsverben und die Herausbildung eines synthetischen Futurs. Daß zwischen diesen Charakteristika eine gewisse Solidarität besteht, ist schon im 19. Jh. erkannt worden. Eine Bestätigung brachte jedoch erst die moderne Typologie, z. B. mit Greenberg (der hier allerdings nicht im Bereich des Indogermanischen gearbeitet hat).3 (5) Auch von der Entstehung eines neuen Verbalmodus, des Konditionals, gibt das Spätlatein die Vorgeschichte. Der Konditional entwickelte sich lateinisch aus der Fügung CANT ARE HABEBAT, frz. chanterait, aprov. kat., sp. cantaria, oder aus CANTARE HEBUIT [= HABUIT], it. canterebbe; im Rumänischen aus HABEO CANTARE. Das Muster ist überall gleich, nicht immer dagegen die Bildung im einzelnen. Der Konditional ist eine Vergangenheit des Futurs, die im Lateinischen immer durch den Konjunktiv ausgedrückt wurde. Morphologische Phänomene (6) Nomen: Reduzierung der Deklinationsklassen. Es bleiben im Romanischen im wesentlichen drei Grundtypen: Maskulina auf -U, Feminina auf -A, Maskulina und Feminina auf -E. (7) Beim Verb: Wechsel der Deklinationsklassen u.a.; analogische Umformungen wie potere, volere für POSSE und VELLE. Verschwinden des Deponens (morire statt MORI). Restruktierung der Tempusmorphologie, besonders mit Hilfe von Neubildungen des Typs CANTARE HABEO (it. cantero, frz. chanterai, sp. cantare) für das Futur. Daraus entsteht ein komplexes Bild. Maßgeblich werden Kettenreaktionen. Durch das Fortfallen des synthetischen Passivs, AMOR, wird AMATUS SUM zu „ich werde geliebt", und in der Folge die neue Fügung AMATUS FUI zu „ich wurde geliebt" (mit sehr alten Belegen). Aus der Fülle dieser Erscheinungen greifen wir zwei heraus, um sie ausführlicher darzustellen: das Kasussystem (§ 3) und die Entstehung des Artikels (§ 4). Für fast alle übrigen Punkte kann auf das Kapitel VII, § 2, verwiesen werden, wo wir die Unterschiede zwischen den romanischen Sprachen im einzelnen erörtern. 3. Das Latein verfügte gleichzeitig über Kasus und über Präpositionen (video Marcum, eo ad Marcum). Dagegen kann man sagen, daß die romanischen Sprachen heute überwiegend nur mit Präpositionen arbeiten. Diese Aussage muß allerdings 3

Man kann diese Entwicklung auch mit dem Sapir'schen Begriff der Strömung in Beziehung setzen. Vgl. E. Sapir, Language, New York 1921, Kap. VII, bzw. deutsch: Die Sprache (ebendort). Den einschlägigen Aufsatz Greenbergs findet man in: Universals of Language, hg. v. J. Greenberg, Cambridge (Mass.) 1963. Interessante diachronische Ausblicke eröffnet das in dieselbe Richtung gehende Buch von F. Antinucci, Fondamenti di una teoria tipologica del linguaggio, Bologna 1977, sowie G. Ineichen, Allgemeine Sprachtypologie, Darmstadt 1979, Kap. VII-X.

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V. Das Lateinische

in zweierlei Hinsicht eingeschränkt werden. Zunächst einmal, weil alle romanischen Sprachen bei einem der Personalpronomina eine morphologische Unterscheidung von drei Kasus aufrechterhalten, wie das Französische oder das Italienische bei den Personalpronomina: frz. Nom. U, Dat. lui, Akk. le. Diese Unterscheidung findet sich zwar nicht bei allen Pronomina, für die 1. Pers. im Französischen nur Nom. je, Dat./Akk. me. Da aber bei wenigstens einem der Pronomina drei Fälle unterscheidbar sind, postulieren wir diese Dreiteilung grundsätzlich und sagen, sie sei bei den anderen n e u t r a l i s i e r t . Zweitens ist in Erinnerung zu rufen, daß das Altfranzösische und das Altprovenzalische ein Zweikasussystem hatten und daß das Rumänische heute noch über ein Dreikasussystem verfügt. Der Kasusreichtum im Lateinischen ist genauso ein indoeuropäisches Erbe wie in den modernen slawischen Sprachen, im Deutschen usw. (Natürlich haben auch Sprachen, die nicht zum Indogermanischen gehören, wie z.B. das Finnische oder das Türkische, eine reiche Kasusmorphologie; doch sprechen wir hier nur von den sog. grammatischen Kasus). Im Lateinischen ist auch die Zahl der Präpositionen äußerst groß — es sind 24 oder sogar 32, je nachdem, wie man die recht problematische Trennungslinie zwischen Präpositionen und Adverbien zieht —, eine Zahl, die von keiner romanischen Sprache erreicht werden dürfte. Nach Togeby hat das Italienische 10 Präpositionen, das Spanische und das Portugiesische 18, das Französische 19 usw.4 Diese Zahlenvergleiche haben allerdings nur einen sehr relativen Wert, weil das eigentliche Problem darin besteht zu beurteilen, ob bestimmte Wörter oder Wortgruppen Präpositionen sind oder nicht. So kann im Italienischen ihre Zahl erheblich anwachsen, wenn man dentro, sotto, durante, tranne, insieme a, in seguito a (sog. uneigentliche Präpositionen oder präpositionale Ausdrücke) als Präpositionen ansieht. Die beiden Wortarten müssen sehr ähnliche Eigenschaften aufweisen. Neuere Untersuchungen der generativen Grammatik, die sich mit der Neuformulierung der traditionellen Kategorien befassen, scheinen dies zu bestätigen. Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt, das lateinische Kasussystem sei in den romanischen Sprachen durch ein Präpositionalsystem ersetzt worden. Richtig ist, daß es in den romanischen Sprachen heute beim Substantiv und beim Adjektiv keine Kasus mehr gibt. Deshalb müssen die romanischen Sprachen dort, wo das Latein, das über Kasus und Präpositionen verfügte, syntaktische Beziehungen allein durch Kasus ausdrückte, auf Präpositionen zurückgreifen (außer im Fall des direkten Objekts, das normalerwiese nicht markiert ist: frz. je vois une maison, und natürlich beim Subjekt). Für das Zurückgehen und das allmähliche Verschwinden der Kasus führt man oft zwei Gründe an. Der erste ist phonetischer Art. Man stellt fest, daß das auslautende -M schon von den Anfängen des Lateinischen an die Tendenz hatte, auszufallen. Die Tatsache, daß in der lateinischen Metrik das m nicht positionsbildend war, legt sogar den Gedanken nahe, daß es in Wirklichkeit nicht ausgesprochen wurde (oder daß es den vorangehenden Vokal nasalierte, wie im Neufranzösischen, also orandum est = orandusf). Diese Schwächung des m erschwert bei vielen 4

V. Br0ndal, Praepositionernes Theori, in: Festschrift nolgivet af K0benhavns Universitet i Anledning af Universitets Aarsfest November 1940, Kopenhagen, Academica, 1940 (it. Übers.: Teoria delle preposizioni, Milano 1967); K. Togeby, Prepositions latines et prepositions romanes, in: Lingua e Stile 4 (1969), S. 413-421.

3. Kasussystem

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Wörtern die Unterscheidung zwischen Akkusativ und Ablativ. Man spricht auch von einer Schwächung des -s. Doch sind die Beweise dafür überaus dürftig: das auslautende -s hat sich im Spanischen, Portugiesischen, Katalanischen, Sardischen, Rätoromanischen usw. erhalten und existierte auch noch im Altfranzösischen und im Altprovenzalischen. Schließlich ist auch nicht ohne weiteres einsichtig, wie Endungen vom Typ -ibus, -orum hätten geschwächt werden können. Diese wurden nämlich, soweit wir wissen, in sehr viel radikalerer Weise und noch vor den Formen des Nominativs eliminiert. Diese Begründung hielte schon der geringsten Nachprüfung somit nicht stand. Außerdem hätte sich, wie Coseriu bemerkte, dasselbe auch bei der Verbalflexion ereignen müssen. Diese aber hat die Unterscheidung mit Endungen beibehalten.5 Ein zweiter Ansatz, die Zurückbildung der Kasus zu erklären, beruht auf dem Hinweis auf gewisse Besonderheiten des Kasus- und Präpositionalsystems. Dazu muß man wissen, daß sich Präpositionen (und Präverbien) im Laufe der Geschichte des Indogermanischen aus Adverbien gebildet haben, deren Funktion es war, die Aussage der Kasus zu präzisieren: der Wert von E 4- Abi. ist im Italienischen zunächst vergleichbar mit demjenigen von giu + da + N („herab" + „von" + N) gegenüber da + N, etwa im Satz: scendo giu dal monte „ich steige vom Berg herab" gegenüber scendo dal monte, — wo giu eine zusätzliche Spezifizierung gibt, ohne die wesentlichen Beziehungen zu verändern. Es gibt im Lateinischen nur wenige Präpositionen, die zwei Fälle regieren, wie in, sub, super (die Zustand und Richtung unterscheiden); meistens ist nach einer Präposition der Kasus ohne weiteres vorhersehbar: nach cum steht der Ablativ, nach ad der Akkusativ usw. Während dies zunächst eine ungewöhnliche Redundanz in der Sprache herbeiführte — was keineswegs schon von vornherein als negativ zu bewerten ist —, kam es schließlich dazu, daß der ganze semantische Gehalt sich auf die Präposition verlegte: in cum amicis z. B. wird der semantische Gehalt — die Komitativität — ganz von cum getragen. Die Präposition wird zur Hauptsache. Die Positionen haben sich also gegenüber dem oben zitierten Beispiel (das für gewisse Phasen des Indoeuropäischen und auch für das Altgriechische gelten dürfte) genau ins Gegenteil verkehrt. Diese Begründung für den Zusammenbruch des Kasussystems im Lateinischen ist viel überzeugender als die erste.6 Sie kann durch die Beobachtung gestützt werden, daß das Lateinische zu viele homophone Morpheme besaß: amici des Freundes amfcf die Freunde legi dem Gesetz legi ich habe gelesen 5

E. Coseriu, Sincronia, diacronia y tipologia, in: XI Congreso International de Lingüistica y Filologia Romänicas, Actas I, Madrid 1968, S. 269-281. Es ist jedoch einzuwenden, daß gerade das, was nach Coseriu nicht eingetreten ist, nämlich die Substitution der Suffixe durch obligatorische Präfixe in Wirklichkeit den weiterentwickelten „Typ" des Französischen im Gegensatz zu allen anderen romanischen Sprachen ausmacht: Je chante, tu chantes, U chante, d.h. [gajät, ty/ät, i/ät], mit Stamm plus Prädetermination gegenüber it. canto, canti, canta, sp. pg. canto, cantos, canta usw. Mit der morphologischen Originalität des Französischen beschäftigten wir uns in Kap. VII, § 2 (14). 6 Diese Erklärung geht in großen Zügen auf M. Breal, Essai de semantique, zurück.

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V. Das Lateinische

man dem Meer märf vom Meer Mit anderen Worten: Das Lateinisch besaß einen zu niedrigen Grad an Redundanz. Dieser Mangel konnte in einigen Fällen dadurch ausgeglichen werden, daß man die Präpositionen zu Hilfe nahm. Andere Sprachen mit ausgebildetem Kasussystem weisen solche Homophonien nicht auf (was auch damit zusammenhängt, daß dort Kasusmorphem und Numerus nicht wie im Lateinischen, zusammen ein einziges Morphem bilden, sondern voneinander getrennt bestehen).7 Unter den ersten „Fehlern", die uns in der Geschichte des Lateinischen begegnen, findet man deshalb ab + Akk., cum + Akk., sine + Akk., pro + Akk., in + Abi. (statt des Akkusativs der Richtung). Dagegen gibt es keine Beispiele für fehlerhafte Setzung des Akkusativs statt anderer Kasus, wenn diesen keine Präpositionen vorangehen (außer in Sonderfällen, z.B. nach uti statt des Ablativs oder nach parcere statt des Dativs).8 Die Ausdehnung des Akkusativgebrauchs ist vom morphologischen Standpunkt aus interessant. Die romanischen Wörter leiten sich nämlich im allgemeinen aus dem Akkusativ ab, nicht aus dem Nominativ. Dies zeigen die Ungleichsilbler der dritten Deklination: it. cenere, engad. cendra, frz. cendre, prov. cenre, kat. cendra weisen auf den lateinischen Akkusativ, CINEREM, nicht auf den Nominativ CINIS (REW, 1929). (Nur in seltenen Fällen trifft auch das Umgekehrte zu: rum. sora, vegl. säur, it. suora, log. sorra, engad. sour, friaul. sur, frz. soeur, usw. gehen auf SOROR, nicht auf SOROREM zurück; manchmal sind beide Fälle vertreten: it. moglie kommt von MULIER, südit. mogliera und sp. mujer von MULIEREM). Die vom Altfranzösischen und vom Altprovenzalischen vertretene Phase der Zweikasusdeklination, mit einem Nominativ (Casus rectits, frz. cassujef) und einem für alle übrigen Fälle gültigen Objektskasus (Casus obliquus, frz. cos regime), ist in ihrem Ursprung vermutlich bereits spätlateinisch. Die Reduzierung der Kasus im Rumänischen erfolgte demnach unabhängig. (Bekanntlich wurde Dazien, d. h. das Territorium, auf dem sich das Rumänische herausgebildet hat, 271 n. Chr. von den Römern verlassen, und die Beziehungen zur römischen Welt müssen vollständig unterbunden worden sein). Das reduzierte Kasussystem des Rumänischen ist vom Zweikasussystem der übrigen Romania verschieden. Der spätlateinische Typ des Zweikasussystems muß folgendermaßen ausgesehen haben: Singular Plural Casus rectus MURUS MURI Casus obliquus MURO MUROS (Bei den Feminina auf -a wird offenbar schon hier nur noch Singular und Plural unterschieden. Die Adjektive folgen den Substantiven). Der Typ des Altfranzösischen und des Altprovenzalischen ist derselbe; nur fallen hier der Subjektskasus des Singulars und derjenige des Obliquus des Plurals einerseits und der Obliquus des Singulars und der Subjektskasus des Plurals andererseits der Form nach zusammen: Rectus murs mur Obliquus mur murs 7 8

H. F. Wendt, Sprachen, Frankfurt/M. 1961, S. 245. Vgl. Väänänen, Introduction, §§ 245, 246, 247, 248 und passim.

3. Kasussystem

75

Auch hier ist die Unterscheidung auf die Maskulina beschränkt, die aus der 2. lateinischen Deklination stammen. Es gibt auch eine Zweikasusdeklination des bestimmten Artikels (Sg. li/le; PL lines). Der Rectus ist der Subjektskasus; der Obliquus ist erstens Akkusativ, zweitens der Fall aller Präpositionen und drittens der Fall für Fügungen, die im Lateinischen dem Genitiv (seltener dem Dativ) verbehalten waren. Dieser dritte Fall verdient es, etwas genauer betrachtet zu werden, da er die Komplexität der diachronischen Beziehungen zu illustrieren vermag, die die lateinische Satzstruktur mit derjenigen der romanischen Sprachen verbinden. Die Beziehung, die im Französischen durch de ausgedrückt wird, wird im Lateinischen in vielen (aber nicht in allen) Fällen durch den Genitiv ausgedrückt. Der lateinische Genitiv hatte seinerseits verschiedene Funktionen. Dies erklärt sich aus diachronischer Sicht dadurch, daß der lateinische Genitiv das Ergebnis des Zusammenfalls von verschiedenen Formen und Funktionen war. Zur Erfüllung gewisser Funktionen hatte das Latein von Anfang an (wie schon gesagt) die Möglichkeit, auf Präpositionen zurückzugreifen: unus eorum = unus ex eis. In den Zeugnissen über innovatorische („fehlerhafte") Ausdrucksweisen vollzog sich die erste Ausweitung von de (das später zum italienischen di, zum französischen, spanischen, portugiesischen de usw. wurde) gerade über diese Beziehung: aliquid de lumine; neminem depraesentibus (Tertullian).9 Es folgte die Substitution des reinen Ablativs, z.. B. des Instrumentalis durch de + Abi.: duos parietes de eademfidelia dealbare (Curio an Cicero, epist. 7,29,2), „zwei Wände mit demselben Kalkgefäß weißen" (d. h. zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen); deacetoplenum (Vulgata)10; horrea de lapidibus quadris aedificavit (Gregor von Tours, Hist. Franc., l, 10,p.39,3, „er baute Speicher aus quadratischen Steinen"). Diese Ausweitung des Gebrauchs reichte nicht aus, um den gesamten Bereich abzudecken, den der lateinische Genitiv offen ließ. Dies gilt z. B. für den Genitivus possessivus, der in systematischer Beziehung zu „haben" steht.11 Um dies zu zeigen, postulieren wir eine Tiefststruktur, die sich im Rahmen der Kasusgrammatik Fillmores folgendermaßen darstellen läßt:

(DATIV)

(OBJEKT)

la ragazza il fiore das Mädchen die Blume (DATIV) bezeichnet die Person, auf die sich etwas bezieht, (OBJEKT) eine Sache, die selbst keine Handlung ausführt, auf die sich aber eine Handlung, sofern es eine gibt, auswirkt. (Vgl. oben, Kap. III, § 11.) Aus dieser Grundbeziehung können wir zwei sehr unterschiedliche Oberflächenstrukturen ableiten, je nachdem, ob sie die Basis für eine Nominalphrase oder für einen ganzen Satz bildet. 9 10 11

Zitiert nach G. H. Grandgent, An Introduction to Vulgar Latin, § 88. Beispiele bei Grandgent, a.a.O. J. Lyons, Introduction, § 7,4.5; Ferner: L. Renzi, Aveva 55 anni e un orologio d'oro da polso (Gadda): per una semantica di avere, in: Archivio Glottologico Italiano56(1971),S. 149-64.

76

V. Das Lateinische

Für die Nominalphrase haben wir im Italienischen (wie im Deutschen): NP NP

il fiore die Blume

PP Präp.

N

della des

ragazza Mädchens

PP bedeutet Präpositionalphrase; für die anderen Symbole verweisen wir auf Kap. III, § 9. Um aber einen Satz zu erhalten, wird an der Oberfläche ein Verb, essere „sein", erzeugt, daß in der Tiefenstruktur keinen semantischen Gehalt hat (da der ganze semantische Gehalt ausschließlich in den Tiefenkasus liegt):

NP

VP NP

la ragazza ha das Mädchen hat

il fiore die Blume

Obwohl beide Beziehungen heute mit de ausgedrückt werden, ist nun allerdings zu beachten, daß lefleur de lafüle, bzw. die Blume des Mädchens, ganz anders strukturiert ist als ein Syntagma wie la passione dei francobolli (= per ifrancobolli), bzw. die Begeisterung für die Briefmarken. Denn dieses läßt sich nicht auf die Tiefenstruktur (DAT.) (OBJ.) zurückführen. Die Beziehungen sind folgende:

r

aver passione sammeln

(AGENTIV)

(OBJEKT)

qualcuno jemand

i francobolli Briefmarken

Auf diesen Typ geht l'amore di Dio (= per Dio), „die Liebe Gottes" (d. h. die Liebe zu Gott) zurück, wo es jemanden gibt, der Gott liebt, gegenüber l'amore di Dio (pergli uomini) d. h. die Liebe Gottes (zu den Menschen), wo Gott (DAT.) ist. Letzteres ist der sogenannte subjektive Genitiv, der andere der objektive. Wir haben also das eine Mal einen Typ, bei dem di über mehrere Transformationen mit derselben Struktur verbunden ist, die an der Oberfläche das Verb „haben" hervorbringt; beim anderen gibt es eine solche Beziehung nicht. Sätze wie die Blume des Mädchens (= das Mädchen hat eine Blume) oder auch Karls Freude (= Karl hat Freude, Karl freut sich) konnten im Spätlateinischen in der Regel nicht mit de ausgedrückt werden. Im Altfranzösischen und im Altprovenzalischen gibt es noch immer einen präpositionslosen Rektionstyp: la niece le due („die Nichte des Herzogs"); la ruse Renart („die List von Renart"). Cayn, qui freres fu Abel („. . . von Abel"). (Einige

4. Entstehung des Artikels

77

Ausdrücke des Neufranzösischen wie Hötel-Dieu, Fete-Dieu, sind Relikte dieser Konstruktionsweise.) In solchen Fällen drückt de andere, nicht zu „haben" transformierbare Relationen aus: Sospris sui d'une amorette d'une jone pucelette

„Liebe für ein Mädchen"

Entsprechend heißt le courouz son ami „der Zorn ihres Freundes auf sie", während le courouz de son ami „der Zorn auf ihren Freund" bedeutet, de also für den objektiven Genitiv steht.12 Im Rumänischen wird noch heute eine ähnliche Unterscheidung gemacht: nepotul sorii ist der „Neffe der Schwester" (= die Schwester hat einen Neffen); nepot de sorä heißt „Neffe schwesterlicherseits". Spuren dieses Gebrauchs finden sich auch im Altitalienischen, z.B. bei Dante: Ilnodo Salomone; ilporco Sant' Antonio für „il nodo di Salomone" (der salomonische Knoten) und „porco di Sant' Antonio" (das Schwein des Heiligen Antonius); und ebenso im Altspanischen: peramor Dios (Alphons X). Eine derartige „kasuelle" Rektion war wohl deshalb möglich, weil es noch Kasus gab. Im Altitalienischen handelt es sich bereits um ein Relikt (wahrscheinlich ein Archaismus, wenn nicht sogar Gallizismus). Im Französischen und im Provenzalischen verschwand die Konstruktion mit dem Verschwinden der Zweikasusdeklination (um die Wende vom 12. zum 13. Jh.). Heute sind im Französischen wie im Italienischen wiederum Konstruktionen mit de möglich, die — wie wir oben gezeigt haben — zweideutig sind: fr. l'amour de Dieu, it. l'amore di Dio, wie im Lateinischen als subjektiver bzw. als objektiver Genitiv. 4. Im Gesamtrahmen der indogermanischen Sprachen erscheint der Artikel, wie er sich heute im Italienischen, im Französischen oder im Deutschen findet, erst spät. Das Griechische hat den bestimmten Artikel in der Zeit nach Homer entwickelt, den unbestimmten erst sehr viel später, im Mittelalter. Die modernen slavischen Sprachen haben keinen Artikel (mit Ausnahme des Bulgarischen, das ihn spät und eigenständig ausgebildet hat). Die romanischen und die germanischen Sprachen haben ihn im hohen Mittelalter entwickelt. Zeugnisse von dieser Entwicklung besitzen wir jedoch nur in sehr geringem Umfang. Auch hier dürfen wir uns, wie schon beim Kasussystem, die Veränderung nicht als plötzlichen, katastrophenhaften Umbruch vorstellen: der Wandel ist schrittweise eingetreten. Die Frage ist zunächst, wie sich das Problem überhaupt stellt. Im Neufranzösischen erfüllt der Artikel eine Vielfalt von Funktionen. Der bestimmte Artikel bezeichnet z.B. die Klasse (oder die „Spezies"): Le Hon est le roi de la foret, stellt aber auch ein bek a n n t e s Glied einer Klasse einem (durch den unbestimmten Artikel gekennzeichneten) neuen gegenüber. Also: LE monsieur d'hier est venu (= derselbe wie gestern, also der bereits b e k a n n t e ) im Gegensatz zu UN monsieur est venu. Auf Italienisch kann man sagen: E' venuto UN signore ehe non conosco, „einer, den ich nicht kenne" (indes man schwerlich sagen könnte, e venuto IL signore ehe non conosco, weil der bestimmte Artikel il etwas Bekanntes vorstellen würde, das im Relativsatz negiert wird). Damit haben wir wenigstens zwei in ihrer Funktion unterschiedliche Typen des 12

L. Foulet, Petite syntaxe de l'ancien/

, Paris 31958, §§ 19, 25.

78

V. Das Lateinische

bestimmten Artikels festgestellt. Vom ersten Typ, der dazu dient, die Klasse anzugeben, finden wir im Spätlateinischen keine Spur (das Griechische hingegen brauchte dafür bereits den Artikel o}. Dagegen lassen einige lateinische Texte, worunter besonders die Pereginatio Aetheriae (Anf. 5. Jh. n. Chr.) erkennen, daß ille zu dieser Zeit bereits gebraucht wurde, um etwas Bekanntes zu bezeichnen. Als Beispiel: per volle ILLA, quam dixi ingens (I, I), wo das Faktum des Bekanntseins durch quam dixi klargestellt wird. (Übrigens gibt das Beispiel auch einen Hinweis auf den Zustand des Kasussystems in dieser Phase). Oder ferner: Sancti monachi... sancti ILLI,... Illi sancti, wo ille nach einer ersten Erwähnung der gleichen Nominalgruppe ohne Artikel erscheinen kann. Es handelt sich um den sog. a n a p h o r i s c h e n Gebrauch, d.h. um die zweite Erwähnung. Dies gilt auch modernsprachlich, z.B. frz. Unjeune komme s'est blesse en tombant. LEjeune komme... Es handelt sich demnach um zwei sehr ähnliche Typen von Bekanntheit. Und gerade diese sind es, die im Spätlateinischen als erste mit Hilfe von ille angezeigt wurden. Im Französischen ist ihr Äquivalent ebenfalls der bestimmte Artikel. Man versteht deshalb, daß das lat. ille für die meisten romanischen Sprachen die materielle Basis für den Artikel geliefert hat. Es gibt aber auch einige Ausnahmen. Das Sardische, das Katalanische und früher auch andere romanische Dialekte führten nicht ille, sondern ipse weiter. Dieses hatte zu jener Zeit eine andere Bedeutung als im klassischen Latein. Es war an die Stelle von idem getreten und konnte deshalb (im anaphorischen Gebrauch) leicht „das bereits Genannte" bezeichnen. In der Peregrinatio wird die Wiederaufnahme von bereits Erwähntem sowohl durch ille als auch durch ipse signalisiert. Zur Zeit der Peregrinatio übernahm der bestimmte Artikel vermutlich noch keine anderen Funktionen. Man hätte also weder die Entsprechung von it. spunta IL sole, „Die Sonne geht auf" gebildet, noch diejenige von IL mio mantello, von dammi IL mantello „gib mir den Mantel" oder von LA casa e lussuosa „das Haus ist luxuriös", ohne vorher im Text ausdrücklich gesagt zu haben, um welchen Mantel oder um welches Haus es sich handelt. Man kann deshalb sagen, daß das erste Auftreten des bestimmten Artikels im Lateinischen an bestimmte Bezüge innerhalb des Textes gebunden ist. Es handelt sich um e i n t e x t u e l l e s Phänomen. Was unus betrifft, so ist es schon früh an die Stelle von quidam getreten (das zwar in der Grammatiktradition nicht als unbestimmter Artikel angesehen wird, tatsächlich aber ohne weiteres als solcher bezeichnet werden kann). Natürlich ist der Gebrauch von unus vielfältiger als der von guidam und neutralisiert die Differenzierung zwischen dem „allgemeinen" und dem „speziell" neuen Glied einer Klasse, die das klassische Latein mit der Opposition von 0 (Null) zu quidam ausdrückt: homo quidam (nicht irgendeiner, sondern ein ganz bestimmter, wenn auch nicht näher identifizierter Mann). In den Texten erscheint der Gebrauch von ille oder ipse als Artikel immer nur sporadisch. In einigen Fällen hat das Vorbild des Griechischen, das den Artikel besaß, dessen Erscheinen im Lateinischen begünstigt. Dies gilt für die ersten, unter dem Namen Vetus latina (oder weniger präzis als Itala) bekannten Bibelübersetzungen. Man hat dem Griechischen auch die entscheidende Rolle bei der Entwicklung

4. Entstehung des Artikels

79

des Artikels im Lateinischen zuschreiben wollen. Doch ist diese These nicht zu halten: das Latein übernahm vom Griechischen, das den Artikel — dem heutigen Gebrauch im Romanischen vergleichbar — bereits umfangreich verwendete, nur wenige Funktionen. Es mußte sich offensichtlich um diejenigen handeln, die im Lateinischen an sich schon zulässig waren. Doch wurde normalerweise das Auftreten von Formen wie diejenige von unus als Artikel mehr oder weniger stark durch den anhaltenden Einfluß von literarischen Vorbildern blockiert, die einen solchen Gebrauch verboten. Wann hat der Artikel die ganze Vielfalt der Funktionen übernommen, die er heute erfüllt? Wir finden Spuren entscheidender Veränderungen in zwei Werken des 6. Jahrhunderts, von denen das eine, die Regula des Heiligen Benedikt (530 n. Chr.), in Süd- und Mittelitalien beheimatet ist, das andere, die Gesamtheit der historischen und hagiographischen Schriften des Gregor von Tours (573 — 593) in Frankreich.13 In der Regula erscheint ipse manchmal ohne das textuelle Merkmal des Bekanntseins. Man liest 64,27: In /PS/S imperiis suis providus et consideratus „in seinen Anordnungen umsichtig und besonnen", ohne daß der vorangehende Text irgendeinen Hinweis auf Anordnungen enthält. Das Auftreten von ipse statt ille darf nicht verwundern. Der heute relativ geringe Bereich von ipse war früher größer und umfaßte, wie man nachweisen kann, auch Gebiete Mittel- und Süditaliens. Bei Gregor von Tours erscheint ille in dieser Funktion als Signal für das nicht-textuelle Bekanntsein: Hist. Franc. II, Prol.: Nam sollicitus lector, si inquirat strenue, inveniet inter ILLAS regum Israeliticorum historias ...,„... wird unter den [bisher nicht zitierten] Geschichten der Könige von Israel . . . finden". Bei Gregor ist auch der Gebrauch von unus als „unbestimmter Artikel" sehr häufig, z. B. bei Zeitangaben: una nocte (Märt., 12,7); oder in Fällen wie insurgent contra eum in unam conspirationem (Hist. Franc., 1,3) u.a. In non habeo de parentibus qui mihi possit adiuvare finden wir einen typisch galloromanischen Gebrauch bereits vorweggenommen (s.u., Kap. VII, § 2). In einigen der ersten romanischen Sprachdenkmäler findet man bereits einen sehr stark entwickelten Gebrauch des Artikels. Die Ähnlichkeit mit demjenigen der neueren romanischen Sprachen ist unverkennbar. Dies gilt schon für die Parodie des Salischen Gesetzes (2. Hälfte 8. Jh.), wo Latein und Vulgärsprache circum romanqum miteinander vermischt sind. Andererseits fehlt der Artikel in einigen der älteren Texte, z.B. in den Straßburger Eiden (dem ersten französischen Text) und in den Placiti campani (den ersten italienischen Texten). Das hat nichts mit der Kürze dieser Texte zu tun; maßgeblich ist der Einfluß, die Vormundschaft sozusagen, die das Latein weiterhin auf die Vulgärsprachen ausübt. Dabei ist nicht unerheblich, daß beides juristische Texte sind. Doch wird der Gebrauch des Artikels in der Folge konstant und dem modernen Gebrauch bereits (wie gesagt) ähnlich. Auf altitalienisch sagte man noch cigno e candido (Leonardo, Best. 43), auf altfrz. quant que Deusfistpor hume. (Phil, de Taon, 2002), heute sagen wir // cigno und pour l'homme. Eine detaillierte Untersuchung über die Entwicklung des Artikels vom Altitalienischen bis heute wäre machbar; nützlicher vielleicht wäre eine solche über das Französische, wo die verbindliche Setzung des Artikels von den Anfängen bis heute in ungewöhnlichem Maße zugenommen hat. 13

Zu G. von Tours vgl. P. Bonnet, Le latin de Gregoire de Tours, Paris 1890.

80

V. Das Lateinische

Die Verbreitung des Artikels scheint mit all den Phänomenen solidarisch zu sein, die dazu beitragen, den romanischen Sprachen gegenüber dem Latein eine „analytischere" Form zu geben. Dieser allgemeinen Tendenz entzieht sich in diesem Fall nicht einmal das Rumänische. Der bestimmte Artikel, der im Rumänischen nachgestellt wird (lupul < LUPUS ILLE), hat oft Verwunderung erregt. Dennoch ist daran nichts Außergewöhnliches. Denn erstens haben wir in der Peregrinatio gesehen, wie „sancti ILLI" und „ILLI sancti" ohne Unterschied miteinander abwechselten, und zweitens ist die Syntax des rumänischen Artikels, wenn dieser auch zum Teil völlig autonom entstanden sein muß und deshalb eine von der ganzen übrigen Romania abweichende Form aufweist, dennoch der Syntax der anderen romanischen Sprachen sehr ähnlich (Vgl. Kap. VII, § 2, Nr. 2).14 5. Phonologisch gesehen hat das Latein eine doppelte Reihe von langen und kurzen Vokalen und Konsonanten. Während die langen Konsonanten durch die Schreibung gekennzeichnet werden (immo „im Gegenteil, vielmehr"; imus „der Unterste, Tiefste), wird bei den Vokalen ein solcher Unterschied nicht gemacht (historiä, historiä, beides historia geschrieben). Unsere Kenntnisse der Quantität der lateinischen Vokale kommen, wenn man vom Sprachvergleich absieht, zum großen Teil aus der Metrik. Dort wurden die Quantitäten systematisch angewandt. Alle Kombinationen von langen und kurzen Vokalen mit langen und kurzen Konsonanten waren möglich. Es gilt deshalb das folgende Schema: V — —

K — ^ —

stella solus gütta röta

In diesem Punkt unterscheidet sich das Latein beispielsweise vom Italienischen, wo die Länge der Konsonanten unterscheidende Funktion hat, während die Länge der Vokale dazu jeweils komplementär ist: cane „Hund": ca/me „Schilfrohre, Stöcke". Viele Sprachen kennen die Opposition von Länge und Kürze weder im Vokalismus noch im Konsonantismus; unter den romanischen trifft dies zu für das Rumänische, das Französische, das Portugiesische und das Spanische (wobei es beim Spanischen eine einzige Ausnahme gibt: die Opposition /r/ : /r:/ in pero „aber" undperro „Hund", im Französischen einige wenige Paare wie maitre: mettre, wo die Frage nach der vokalischen Länge manchmal noch gestellt wird). Gelegentliche Längungen von Konsonanten haben im Französischen expressive, nicht bedeutungsunterscheidende, d.h. phonologische Funktion, z.B. im Falle des „accent d'insistence": formidable!; vous etes imppertinent. Was über das Lateinische gesagt wurde, gilt auch für andere Sprachen, etwa für das Finnische oder das Ungarische.15 Der Platz des Akzents ist im Lateinischen aus der Länge der vorletzten Silbe zu erschließen (sog. Pänultimaregel): ist sie naturä oder positione lang, dann trägt sie 14 15

Vgl. zu diesem Abschnitt L. Renzi, Grammatica e storia dell'articolo italiano, in: Studi di grammatica italiana 5 (1976), S. 5^42. H. Weinrich, Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte, Münster 1958, S. 28 f. Anm. und S. 18; ferner: Wendt, Sprachen, S. 240 und 249.

5. Phänologie

81

den Akzent (/ac/ebat), ist sie kurz, so fällt der Akzent auf die drittletzte (perficit). Da es keine Opposition von Akzenten gibt, ist damit gleichzeitig gesagt, daß der Akzent keine phonologische Funktion hat. Die Unterschiede, die hier auftreten, sind in Wirklichkeit die Folge von Unterschieden (Oppositionen) in der Silbenlänge (die oft, wie in unserem Beispiel, der Vokallänge entspricht). Im Vokalsystem der späten Latinität ist die Opposition von lang und kurz im Vokalismus aufgehoben. Was vorliegt, entspricht bereits der „italienischen" Phase, d. h., wie wir vorhin sagten, daß die Längen von Vokal und Konsonant immer komplementär verteilt sind. Es gibt also im Spätlateinischen, genau wie im modernen Italienisch, nur zwei Typen, entweder lang/kurz oder kurz/lang: V

K

Weinrich, dem wir hier in der Darstellung wie auch in der Wahl der Beispiele weitgehend gefolgt sind,16 sieht in der Beschränkung auf diese beiden Typen den Grund für die Entphonologisierung der Vokalquantitäten. Die Sprache hätte demnach so umfangreiche Kombinationsmöglichkeiten schlecht vertragen. Man mag die Rekonstruktion Weinrichs mit Bedenken auf nehmen.17 Trotzdem ist sein Versuch interessant, weil er mit der Untersuchung von Handricourt/Juilland und den Arbeiten von Martinet einen Vorschlag dafür bringt, den Wandel aus den sprachlichen Strukturen als solchen heraus zu erklären.18 Es ist heute nicht mehr möglich, sich nach altem Muster vorzustellen, eine Sprache könne ein neues Phonem von einer anderen einfach in der Weise übernehmen, daß sie es im ursprünglichen Bestand ergänzt oder an die Stelle eines anderen setzt. Die aus dem 19. Jh. stammende Substrattheorie, die besonders von Ascoli vertreten wurde, nahm z. B. an, das ü /y/ im Französischen und in den oberitalienischen Mundarten sei aus dem Keltischen übernommen. Doch bestand kein Anlaß, nach dem Verhalten der Nachbarphoneme zu fragen. Nun kann ein Lautwandel diesem oder jenem äußeren Einfluß zugeschrieben werden oder auch nicht, aber nur unter der Bedingung, daß dieser Einfluß als Impuls angesehen wird, der seine Auswirkungen hat, nicht einfach als Quelle für Entlehnungen. Oder aber man denkt bloß an die Neuordnung einer Struktur, wobei der Impuls aus der Struktur selbst kommt: zufolge von Ungleichgewicht (Asymmetrie, Überlastung) oder von zu geringer Belastung einzelner Oppositionen, die dann zu verschwinden drohen u.a. Die Erklärung Weinrichs gehört in diese zweite Kategorie.

Man kann über diesen Erklärungsversuch geteilter Meinung sein. Doch lassen sich andere Erscheinungen, die nur in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verlust der Quantitäten zu verstehen sind, nicht in Frage stellen: die Phonologisierung des Akzents, die Phonologisierung der unterschiedlichen Öffnungsgrade der Vokale und die Entstehung von Diphthongen. Die Phonologisierung des Akzents bedarf keiner weiteren Erläuterung. Da er sich nicht mehr nach der Quantität richten kann, zählt er jetzt für sich allein und bildet Bedeutungsoppositionen (pervenit: pervenit; vorher: pervenit: pervenit). 16 17

18

H. Weinrich, a.a.O. Vgl. die Zweifel von K. Togeby, Les explications phonologiques historiques sont-elles possibles? in: Romance Philology 13 (I960), S. 401-13 (bzw. in: Immanence et Structure, Kopenhagen 1968, S. 83-95). A. G. Haudricourt und A. Juilland, Essai pour une histoire structurale du phonetisme fra^ais, Paris 1949; A. Martinet, Economic des changements phonetiques, Bern 21964.

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V. Das Lateinische

Die Situation der Vokale nach dem Quantitätenverlust läßt sich kaum wiedergeben ohne eine Anzahl von synchronischen Schnitten, die zum Teil (bzw. im Sinne der Arealnormen, Kap. II, §11) dem Entwicklungsstand der verschiedenen romanischen Sprachen entsprechen. Den einfachen Zusammenfall von Ä, Ä in a; von E, E in e usw. finden wir im Sardischen. Im allgemeinen jedoch wird der Quantitätsverlust mindestens durch das Entstehen der zwei neuen Diphthonge E > je, Ö > wo (it. VENIT > viene; BÖNUM > buono) ausgeglichen. Diese Diphthonge dienen dazu, den Zusammenfall von lat. fi und O mit E und O zu verhindern. Denn entsprechend der oben genannten Neuregulierung müßten diese Vokale vor kurzen Konsonanten gelängt werden. Der Diphthong ist also eine Art von Längung, die den Zusammenfall verhindert. Diese Phase der Diphthongierung in freier Silbe (d. h. vor kurzer Konsonanz) findet man im Alttoskanischen und in der italienischen Schriftsprache, die von diesem abhängt. In anderen Sprachen ist diese Phase überwunden und durch neue Diphthonge vervollständigt worden. Im Wandel > e, der sich mit Ausnahme des Sardischen in allen romanischen Sprachen findet, und im Wandel Ü > o, der fast überall im Romanischen eingetreten ist, sind Versuche zu sehen, Kollisionen nach sardischem Muster zu vermeiden. Aus diesem Grunde fielen jedoch zwei andere Vokale zusammen, nämlich , E > e und U, O > o (vgl. it. fede mit /e/ < ( ) und forca mit /o/ < FÜRCA, oder die entsprechenden Formen im Altfranzösischen. Anders als beim Sardischen stehen hier /e/ und /o/ in Opposition zu den offeneren Vokalen / / und hl, in traditioneller Notation die Paare e / und o Iq. Weshalb diese Lösung „vorteilhafter" war als die andere, ist schwer zu sagen. Von einigen, im Rahmen dieser Lösung nicht ganz konformen Fällen abgesehen, gilt für die Entwicklung des Romanischen das folgende Schema, auf das in der Folge das Italienische, das Provenzalische, das Französische und die iberoromanischen Sprachen aufbauen: lat.i

E E Ä Ä Ö Ö Ü Ü

lat.2

i

lat.s

i

\

e e

a

D

a

o

o

u u o

u

Die diachronische Phonologic hat in den meisten Fällen - wie schon Jakobson19 - der rigorosen Beschreibung der Fakten, und nicht der Suche nach Erklärungen die Priorität eingeräumt. Dagegen ist folgendes einzuwenden: Wenn die Bestimmung einer Struktur nicht gleichzeitig auch Angaben über diejenigen Elemente enthält, die sich verändern könnten, dann kann man auch nicht verstehen, warum eine Veränderung eintritt, und zwar auch dann nicht, wenn der Anstoß von außen kommt.

Im Laufe dieser Ausführungen wurde kurz auch auf die Theorie der Strate angespielt. Bekanntlich hat man sich hier immer wieder auf Substrat- und Adstrateinflüsse berufen. Das Lateinische befand sich fast überall in der Situation einer Sprache, die nach einer Phase von Bilinguismus (lateinisch-iberisch, lateinisch-keltisch, lateinisch-italisch usw.) in verschiedenen Sprachgemeinschaften zur „Muttersprache" geworden ist. Man nimmt dabei an, die voraufgehende (autochthone) Sprache 19

R. Jakobson, Prinzipien der historischen Phänologie, in: Travaux du Cercle Linguistique de Prague 4 (1931), S. 247-67.

6. Quellen des Vulgärlateins

83

habe auf die nachfolgende eingewirkt. Man bezeichnet sie deshalb als S u b s t r a t sprache. Man hat z. B. darauf hingewiesen, daß viele vom Lateinischen verdrängte Sprachen keine Quantitätsoppositionen besaßen. So verwechselten die Afrikaner nach Augustin ÖS „Knochen" mit ÖS „Mund"; denn Afrae aures de correptione vocalium vel productione non iudicant.20 Provinzieller Einfluß? Vielleicht. In Anbetracht der Tatsache jedoch, daß der Verlust der Vokalquantitäten die ganze Romania erfaßte und deshalb Rom als Zentrum haben mußte — auch wenn einige Provinzen, was mit Sicherheit der Fall ist, vorausgegangen waren —, muß man annehmen, die provinzielle Aussprache habe Rom erobert und sich von dort aus weiter verbreitet. Eine solche Erklärung ist nichts mehr als eine Hypothese. Doch kommt ein neuer Anstoß zu derartigen Hyperthesenbildungen zur Zeit von William Labov. Labov untersuchte in New York und in anderen amerikanischen Städten das Verhältnis des Sprachwandels zu den sozialen Klassen und den ethnischen Gruppen der Sprecher. (Unter diesem Gesichtspunkt war das alte Rom dem modernen New York wohl sehr ähnlich). Labov versuchte auch, Themen der historischen Phonologie des Englischen im Lichte des direkt beobachteten Wandels zu behandeln, d. h. die Vergangenheit durch die Gegenwart zu erklären. Dabei wurde hervorgehoben, daß in jeder Sprachsituation — und zwar auch im Falle des rigorosesten Monolinguismus —, verschiedene, untereinander konkurrierende phonologische Strukturen auftreten, die von den verschiedenen Gruppen verwendet werden. Manchmal gebraucht ein und diesselbe Gruppe unter verschiedenen Umständen sogar zwei verschiedene Strukturen.21 Angesichts der graphischen Darstellungen u. ä. in den Arbeiten Labovs, erscheint die romanistische Rekonstruktion, die wie eine Brücke über Jahrhunderte und über Dutzende von Generationen die Sprachsituation verbindet, als eine forcierte Semplifikation. Sie erinnert damit an den hypothetischen Charakter der historischen Rekonstruktion überhaupt. 6. Im Vorhergehenden wurde insofern eher „anti-philologisch" gearbeitet, als die Q u e l l e n für die besprochenen Erscheinungen — wenigstens provisorisch — nicht erwähnt wurden. Dies gilt vor allem für die Phonologie. Aber die Arbeit des Philologen besteht zu einem großen Teil darin, mit Hilfe geeigneter Techniken die Fakten aus den Quellen zu gewinnen. In unserem Fall gehen diese Techniken vor allem auf Schuchardt zurück. Die hier vorgebrachte Darstellung versucht demgegenüber, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, daß diese Arbeit das Problem nicht erschöpft, wie oft angenommen wird, sondern lediglich als Vorbereitung auf den eigentlich rekonstruktiven Teil dient. Wir geben nun im Folgenden ein kurzgefaßtes kritisches Verzeichnis der Quellen des „Vul20 21

En. in Psalm. 138,20 (zitiert von C. Tagliavini, Le origini, S. 190 (in der dt. Übers. S. 184). Für eine Bibliographie der hauptsächlichen Werke Labovs vgl. Anm. 8 und 13 des vorigen Kapitels. Wir beziehen uns hier auf die schon genannten Aufsätze: On the Mechanism of Linguistic Change und: The Study of Language in its Social Context. Für die Geschichte des Englischen sei verwiesen auf: On the Use of the Present to Explain the Past, in: Proceedings of the 11th International Congress of Linguists (Bologna, August-September 1972), 2 Bde., Bologna 1974-75, Bd. II, S. 825-851.

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V. Das Lateinische

gärlateins", d.h. der Texte, die der Philologe mit unterschiedlichem Erfolg bearbeitet, um Aufschlüsse über den Sprachzustand dieser Epoche zu erhalten. (1) Lateinische Grammatiker Diese Werke führen als vulgär eingestufte Formen an, um sie zu verwerfen. Wie es in der puristischen Praxis oft geschieht, sind die Angaben manchmal widersprüchlich, übertrieben, falsch usw. Die direkten Angaben phonetischer Art sind oft schwierig zu interpretieren. Wichtig ist die sog. Appendix Probi, ein Verzeichnis von getadelten Vulgarismen mit den korrekten (oder für korrekt gehaltenen) Gegenstücken. Das Verzeichnis ist das Werk eines unbedeutenden Grammatiklehrers und befindet sich im Anhang an eine Abschrift der Grammatik des Probus. Daher ihr Name. Einige später im Romanischen wieder auftauchende Formen lauten dort: „vetulus, non veclus" (it. vecchio, fr. vieil), „calida non calda".22 (2) Inschriften Die über das ganze Gebiet des römischen Imperiums verbreiteten öffentlichen Inschriften sind im allgemeinen relativ frei von Fehlern, da sie von professionellen Steinmetzen ausgeführt wurden. Sehr viel interessanter sind die Gelegenheitsinschriften, da sie die Verlegenheit von Leuten verraten, die sich mühsam zwischen wenig bekannten offiziellen und familiären Formen bewegen, die zwar vertraut, für die Verschriftung jedoch nicht würdig genug sind. Die Wandinschriften in Pompeji, die unter der Asche des Vesuvausbruchs von 79 n. Chr. erhalten geblieben sind, liefern dafür ein besonders eindrückliches Beispiel.23 Die Geheimformeln, die man dazu verwendete, Feinde und Rivalen mit dem bösen Blick zu treffen (deftxionum tabellae) bilden ebenfalls einen interessanten Fall dieser Kategorie.24 (3) Briefe Auf Papyri und Tonscherben sind Privatbriefe außerhalb des strengen literarischen Kanon erhalten. Aus Ägypten stammen circa 300 Briefe in lateinischer Sprache, von denen viele, von Soldaten verfaßt, von kleinen Geschäften und anderen Dingen des Alltags handeln.25 (4) Fachliteratur Es liegt in der Natur ihres Gegenstandes, daß sich die Fachliteratur den Normen des klassischen Gebrauchs entzieht. Vitruv sagte: „Non architectus polest esse grammaticus." Die erhaltenen Fachtraktate befassen sich mit der Landwirtschaft (Cato d. Ä., Varro, Columella, 1. Jh. n. Chr.), mit der Veterinärmedizin (Mulomedicina Chironis, 4. Jh.), ferner mit Kochkunst, Medizin, Diätetik usw.26 (5) Literarische Werke Einige literarische Werke überliefern uns - aus Gründen, die hier nicht zur Diskussion stehen - ein nicht offizielles oder doch weniger offizielles Bild vom gewohnten Latein. Das römische Theater, vor allem dasjenige des Plautus, bedient sich einer Sprache, die der 22

23

24 25

26

Vgl. dazu Väänänen, Introduction, S. 254 ff. Ferner: W. A. Baehrens, Sprachlicher Kommentar zur vulgärlateinischen „Appendix Probi", Halle 1922; Serafim da Silva Neto, Fontes do latin vulgar (o Appendix Probi), Rio de Janeiro 31956. C. A. Robson, L' „Appendix Probi" et la philologie latine, in: Le Moyen Age 69 (1963), S. 37-54; F. Sabatini, Fra latino tardo e origini romanze, in: Studi di linguistica italiana 4 (1963-64), S. 140-159 (besonders S. 140-143). CIL (=Corpus inscriptionum Latinarum) Bd. IV: Pompei, sowie die anderen in Väänänens Introduction (S. 229 f.) aufgeführten Belege. Zur Interpretation vgl. Väänänen, Le latin vulgaire des inscriptions pompeiennes, Berlin 31966, S. 128-131. Vgl. CIL, Bd. IV: Pompei, und die anderen bei Väänänen, Introduction, S. 230 f., genannten Belege. R. Cavenaile, Corpus papyrorum Latinarum, Wiesbaden 1958. Vgl. Väänänen, Introduction, S. 233 f. Tagliavini, Origini, Kap. IV, § 46, sowie die Introduction von Väänänen, S. 243 f. (Mulomedicina Chironis).

6. Quellen des Vulgärlateins

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„gesprochenen" sehr nahesteht (und stark hellenisierend ist). Die ungewöhnliche Geschichte des römischen Theaters, dessen Produktivität sehr früh erlosch und das in der Kaiserzeit in außerordentlich anspruchsvollen, nur für eine Elite geschaffenen Formen wieder auflebte, zeigt jedoch, daß der Beitrag dieser an und für sich sehr ergiebigen Quelle in Wirklichkeit äußerst gering ist. Die Briefe Ciceros enthalten verschiedene, absichtlich gemachte Zugeständnisse an einen farbigen, familiären und idiomatischen, der literarischen Gattung und den jeweils behandelten Gegenständen angepaßten Stil. Cicero, dem die Kodifikation des offiziellen Lateins maßgeblich zuzuschreiben ist, überlieferte uns deshalb bewußt und in der künstlerischen Wirkung berechnet eine Anzahl von Zeugnissen des nicht-literarischen Lateins. Petron (1. Jh. n. Chr.) hat uns mit seiner Schilderung der berühmten Episode vom Gastmahl des Trimalchio im Satyricon ein lebendiges, zu Zwecken der humoristischen Wirkung stark überzeichnetes Bild vom Lateinischen hinterlassen, wie es in einem zwar etwas speziellen, aber in den großen italienischen Städten der Kaiserzeit immerhin sehr bedeutenden Milieu gesprochen wurde; es ist das Latein der zu Wohlstand gelangten Freigelassenen, die aus den griechisch-sprachigen Gebieten des Reiches stammten. 27 Das Latein der c h r i s t l i c h e n Autoren ist zunächst bewußt einfach und volkstümlich. Alle Bibelübersetzungen vor Hieronymus zeigen deutlich diesen Charakter, zusätzlich aber auch die bekannte, in diesem Fall religiös bedingte Abhängigkeit von der griechischen Vorlage.28 Die Übersetzung des Hieronymus, die sog. Vulgata (383 n. Chr.), ist eine auf dem griechischen Text beruhende Verbesserung der gängigen Übersetzungen. Sie hat deshalb fast durchweg denselben Charakter. Doch sind selbst die Gebildetsten unter den christlichen Autoren, Augustin z. B., dem volkstümlichen Latein gegenüber empfänglicher und übernehmen die literarischen Vorbilder nicht passiv. Die Sprache der Christen hat ihre eigenen Charakteristika, was viele Gelehrte bewegen hat, sie als Sondersprache zu behandeln. Der volkstümliche Charakter ist eines ihrer wesentlichen Merkmale. Ein Sonderfall in der Geschichte der christlichen Texte ist die Peregrinatio Aetheriae, der Bericht über die Pilgerfahrt einer Nonne vornehmer Abstammung zu den Heiligen Stätten. Es handelt sich um ein spätes Werk (5. Jh.), das von den überkommenen literarischen Schemen nicht mehr belastet ist. ille und ipse erscheinen dort, wie wir oben gezeigt haben, in Funktionen, die bereits denjenigen des Artikels im Romanischen entsprechen.29 Vom 6. Jh. an weicht - besonders in Gallien - auch die Sprache der Historiker teilweise von den klassischen Vorbildern ab. Deshalb gilt die Historia Francorum des Bischofs Gregor von Tours (538-594) wie seine übrigen Schriften als Quelle für das Spätlatein.30 In denselben Rahmen gehören auch die anderen im merowingischen Gallien verfaßten historischen Schriften. Eine weitere Quelle, auf die wir bereits hingewiesen haben, ist die Regula des Heiligen Benedikt. (6) Glossen Als „Glossen" bezeichnet man gewöhnlich eine Reihe von Denkmälern unterschiedlichen Inhalts, deren Sprache spätlateinisch, oder besser: bereits frühromanisch ist. Die Reichenauer Glossen enthalten Erklärungen von Wörtern und Ausdrücken der Bibel, die schwer verständlich geworden waren, und ein kleines alphabetisches Lexikon: pulchra wird dort mit 27

28 29 30

Tagliavini, a.a.O. (mit Bibliographie); Väänänen, Introduction, S. 235 ff. (Satyricon). A. Stefenelli, Die Volkssprache im Werk des Petron im Hinblick auf die romanische Sprachwissenschaft, Wien-Stuttgart 1962. H. Rönsch, Itala und Vulgata, Marburg 21883 (bzw. Nachdruck, München 1965); sowie Väänänen, Introduction, S. 241 f. E. Löfstedt, Philologischer Kommentar zur „Peregrinatio Aetheriae", Uppsala 1911, 2 1936, sowie Väänänen, Introduction, S. 245 ff. Vgl. Väänänen, Introduction, S. 249 ff.

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V. Das Lateinische

bella erklärt, conddit mit taliavit usw. Sie gehören dem 9. Jh. an und stammen aus Nordfrankreich; ihre Sprache verbirgt ein bereits entwickeltes Romanisch. Als Kasseler Glossen (aus dem 11. Jh.?) bezeichnet man ein kleines Wörterbuch, das für Bayern bestimmt war, die sich nach Nordfrankreich begeben wollten. Auch hier erscheint das Romanische summarisch in eine Art Latein circum romanqum zurücktransportiert: tundi meo capilli „schneide mir die Haare". Aus dem 10. Jh. stammen die Glosas emilianenses (aus San Millän) und die Glosas silenses (aus Santo Domingo de Silos), beide aus dem hispanischen Raum. Ebenfalls aus dem 10. Jh. stammt das Glossar von Monza, wo lateinisch-romanische Wörter in vulgärsprachlichem Griechisch erklärt sind: z.B. de auricula : apti (5); de manu : heria (6); ungula : nihia (7); gamba: poida (8).31 Die Glossen führen uns nicht so sehr zu den letzten Phasen des Lateinischen als vielmehr bereits zu den Anfängen des Romanischen zurück, eines Romanisch allerdings, das gleichwohl noch nicht zu einer eigenen literarischen Ausdrucksweise gefunden hat. In unterschiedlicher Weise dokumentieren auch andere Texte diese Phase.32 Zwischen dem 9. und dem 10. Jh. begünstigt eine Anzahl von historischen Ereignissen das Auftreten der ersten direkten Zeugnisse der Vulgärsprachen der Westromania, und zwar in Formen, die vom Lateinischen zum ersten Mal unabhänig sind.33

7. Im Hinblick auf die Interpretationstechnik dieser Texte beschränken wir uns hier lediglich auf die „Fehler", und zwar vor allem, um ihre Nützlichkeit für die Rekonstruktion des Lautwandels aufzuzeigen. Die Tatsache, daß unter den in Pompei in die Wände eingeritzten wertlosen Versen sich häufig metrische „Fehler" finden, legt die Vermutung nahe, daß die Quantität fortgefallen ist; dasselbe gilt für die häufige Verwechslung von AE und E, wo das erste als Diphthong lang, das zweite kurz sein müßte. Wie kommt diese Verwechslung zustande? Man stellt fest, daß es keine Quantität mehr gab und daß beide als [ ] gesprochen wurden. Es bleibt abzuklären, ob es sich dabei um den im Spätlatein allgemein verbreiteten Wandel handelt oder um eine Entwicklung, die für das Latein auf ursprünglich oskischem Gebiet, d.h. gerade auch für Pompei, spezifisch war. Bei den Inschriften zeigen nicht nur Graphien wie Ostis statt Hostis, sondern auch und vor allem die hyperkorrekten Formen Hoctober und Hornare, daß das /h/ im Anlaut weggefallen ist; Octime statt Optime läßt erkennen, daß sowohl -PT- als auch -CT- zu -TT- übergegangen waren und daß der Verfasser der Inschrift einen mißglückten Versuch unternommen hat, die gelehrte Form wiederherzustellen. 31

32 33

Vgl. Tagliavini, Einführung, Kap. VII, § 75. Über die Glossen von Reichenau orientiert (mit Bibliographie): Latino „circa roma^um" e rustica romana lingua, von D'Arco Silvio Avalle, Padua 1965; Zum Glossar von Monza: B. Bischoff, H. G. Beck, Das italienisch-griechische Glossar der Hs. e 14 (127) der Bibl. Capitolare in Monza, in: Medium Aevum Romanicum, Festschrift für H. Rheinfelder, München 1963, S. 40-62, sowie F. Sabatini, // Glossario di Monza, in: Atti dell'Accademia delle Scienze di Torino 98 (1963-64), S. 51-84; zu den Emilianensischen Glossen (hg. v. Menendez Pidal, Origenes delespanol) wiederum Väänänen, Introduction, S. 258 f. Vgl. Avalle, Latino „circa romanqum" und dessen Kommentare: Protostoria delle lingue romanze, Turin 1965. Dazu F. Sabatini, Tra latino tardo e origini romanze, in: Studi linguistici italiani 4 (1963—64), S. 140—59; Dalla „scripta" latina rustica alle „scriptae" romanze, in: Studi medievali 9 (1968), S. 320-358; G. Folena, „Textus testis": caso e necessita nelle origini romanze, in: Concetto, storia, miti e immagini del Medio Evo, hg. v. V. Branca, Florenz 1973, S. 483-507.

7. Interpretation der Quellen

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In dieser Technik der Fehlerinterpretation kann sich jedermann üben und sie aus eigener Anschauung bestätigt finden, indem er z. B. in den Zeilen von Kindern, die im Schreiben noch wenig erfahren sind, oder von Menschen mit verhältnismäßig niedrigem Bildungsstand die Interferenz zwischen einem als Umgangssprache benutzten Dialekt und einer weniger bekannten oder geübten Kultursprache beobachtet. Wenn ein Kind aus dem Veneto goba statt gobba „Buckel", derubbare statt derubare „berauben" schreibt, dann stellt man fest, daß es in dieser Sprache nicht langes und kurzes b, sondern einfach nur b gibt. In gewisser Hinsicht befindet sich der Sprecher eines Dialekts, der versucht, Italienisch zu sprechen (oder zu schreiben), in derselben Situation wie z. B. ein Lateiner aus dem 3. Jh., der versucht, klassisches Latein zu sprechen oder zu schreiben: beide bewegen sich in zwei teilweise gleichartigen Strukturen, ohne zu wissen, wo sie sich überschneiden; beide sind deshalb auch über die „richtigen" Ausdrücke im Zweifel. Eine solche Situation nennt man S p r a c h k o n t a k t ; was daraus resultiert, sind I n t e r f e r e n z e n . Unter diesem Gesichtpunkt — der vor allem durch Uriel Weinreich explizit gemacht wurde34 — mäßigen wir den heftigen Grad der Abstraktion der linguistischen Beschreibung im Hinblick auf die sprachliche Variation der Sprecher (die oft gleichzeitig „Dialekt" und „Sprache" sprechen, oder eine Sprache mit verschiedenen „Akzenten" zu sprechen in der Lage sind). Man kann auch hier synchronische Schnitte legen. In der Spätantike waren bestimmt viele Sprecher fähig, sich in mehr als nur einem System auszudrücken. Nach dem Gesagten waren diese Systeme phonologisch entweder quantitativ oder qualitativ. /e7 /e/ l\l IM usw. / / /e/ /i/ usw. Im Veneto gibt es Leute, die im Falle von zio „Onkel" genau zwischen /z/, /dz/ und /ts/ zu unterscheiden wissen, und zwar je nach dem stilistischen Niveau, das sie realisieren wollen (und das in der angegebenen Reihenfolge immer höher ist). Unterscheidungen dieser Art, die sprachsoziologisch markiert sind, werden im Normalfall von allen Dialektsprechern vollzogen. Linguistisch bildet eine solche Situation ein Diasystem oder eine Diastruktur. 3 5 Dies ändert nichts am Begriff der Sprachstruktur, aber es zeigt sich, daß die Sprachteilnehmer sich oft — oder sogar immer — zwischen verschiedenen Strukturen bewegen, wobei diese je nach der Sprechsituation manchmal miteinander verschmelzen. Es gibt dabei auch Hierarchien: das klassische Latein gegenüber dem Vulgärlatein; irgend eine Form des Italienischen gegenüber einem Dialekt. Dasselbe gilt für die verschiedenen Variationen des Französischen. Daß eine Struktur mit geringerem Prestige eine andere eliminieren kann, wie das beim Lateinischen der Fall war, setzt stets einen komplexen soziologischen Zusammenhang voraus. Dasselbe gilt umgekehrt für die Dialekte, die als Struktur mit geringerem Prestige einfach eliminiert werden können (außer daß sie ihre Spuren in der Hochsprache da und dort trotzdem hinterlassen). 34

35

U. Weinreich, Languages in Contact, Den Haag 41966, bzw. New York 1953 (dt. Übers.: Sprachen in Kontakt. Ergebnisse und Probleme der Zweisprachigkeitsforschung, mit einem Nachwort von A. de Vinzenz, München 1977). U. Weinreich: Is a Structural Dialectology Possible?, in: Word 10 (1954), S. 388^00.

Sechstes Kapitel

Die romanischen Sprachen

1. Die romanische Sprachen belegen ein zusammenhängendes Gebiet vom Westen nach Osten, d. h. von Portugal nach Italien. Dazu kommen einige große Inseln des Mittelmeers: die Balearen, Korsika, Sardinien, Sizilien. An der jugoslawischen Küste gab es ehemals das Dalmatische, das sich — an das Italienische angelehnt — bis nach Ragusa (Dubrovnik) erstreckte. Politisch gesehen umfaßt die Romania in ihrer geographischen Kontinuität (mit beträchtlichen Grenzverschiebungen) Portugal, Spanien, Frankreich, Italien (und einige kleinere Staaten: Andorra, Monaco, San Marino), das frankophone Belgien, die französisch, italienisch oder rätoromanisch sprechende Schweiz sowie die italienischsprachigen Gruppen in Istrien und Dalmatien. Als selbstständige linguistische Gruppierungen betrachtet man gewöhnlich das Katalanische (mit dem Aragonesischen), das Okzitanische und das Sardische sowie das Ladinische (d. h. die eben genannten rätoromanischen Mundarten, das Zentralladinische und das Friaulische). Innerhalb dieser kontinuierlichen Zone gibt es einige anderssprachige Enklaven. Die bedeutendsten davon sind: das Baskische in den Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien (ein Fall von Konservation oder richtiger: des Widerstandes gegen die Romanisierung); das Bretonische in der im Nordwesten Frankreichs gelegenen Bretagne (eine Folge mittelalterlicher Kolonisation, die von den britischen Inseln ausgegangen war); deutsche Sprachinseln und Sprachhalbinseln in Frankreich und in Italien (zurückzuführen auf mittelalterliche Besiedlung oder auf Veränderungen aus neuerer Zeit); das Albanische in Süditalien, besonders in Kalabrien und in Sizilien; das Griechische in Apulien und Kalabrien (zurückzuführen auf Kolonisationen und vielleicht auch auf Reste, die sich seit der Antike dort erhalten haben). Eine große isolierte Zone bildet schließlich im Osten das heutige Rumänien (mit den zur UdSSR gehörenden sozialistischen Republiken Moldau und Ukraine, den rumänischsprachigen Gruppen Jugoslawiens und den zerstreuten Dialekten in Istrien und in Albanien, Jugoslawien und Griechenland). Dieses ganze Gebiet nennt man die R o m a n i a (Tafel I).1 Vergleicht man die heutige Romania mit dem lateinsprachigen Gebiet des Imperium Romanum (Tafel II), dann stellt man fest, daß das Lateinische nicht überall fortgesetzt worden ist. Dies gilt für das berberische und in der Folge arabisierte Nordafrika sowie für die später germanisierten Gebiete nördlich der Alpen bis zur 1

Gesamtdarstellungen der Romania und der mit ihrer Definition verbundenen Probleme findet man in allen von uns genannten Handbüchern und Einführungen (s. im Vorwort vor allem die Anm. 9, 10, 11), besonders bei Tagliavini, Einführung, Kap. III und VI, wo der Reihe nach alle romanischen Sprachen behandelt werden. Außerdem: W. D. Elcock, The Romance Languages. Die wichtigsten sprachvergleichenden Hilfsmittel wurden in Kap. II, § 7 genannt.

1. Klassifikationskriterien

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Donau und jenseits des Rheins. 2 Man spricht hier von der v e r l o r e n e n Romania. Die n e u e Romania umfaßt die romanischsprachigen Territorien, wo die romanischen Sprachen nicht durch Romanisierung, sondern erst später eingeführt wurden. Eine Rolle spielte dabei vor allem die Kolonisation, durch die das Spanische nach Mittel- und Südamerika, das Portugiesische nach Brasilien, das Französische auf die Antillen und nach Kanada gebracht wurden. Es gibt jedoch auch Ereignisse anderer Art, z. B. die Ansiedlung spanischsprachiger jüdischer Gemeinden auf dem Balkan im 15. Jahrhundert, nach ihrer Vertreibung von der iberischen Halbinsel. Zur Expansion der romanischen Sprachen auf den anderen Kontinenten siehe Tafel III (1,2,3 und 4). Zu nennen sind sodann auch die Kreolensprachen und die pidgins (oder sabir), die vor allem auf portugiesischer oder französischer Grundlage entstanden sind. Es handelt sich insbesondere um diejenigen Sprachen, die sich beim Kontakt von europäischen Sprachen mit Eingeborenensprachen in Afrika herausgebildet haben und später mit den Sklaven von dort nach Amerika gebracht wurden. Die Kreolensprachen sind Erstsprachen (d.h. Muttersprachen). Solange sie im Wechsel mit einer autochthonen Sprache als Zweitsprache gesprochen werden, spricht man von Pidgin. Ob die Pidginisierung für die Bildung von Kreolisch eine notwendige Phase sei, ist zur Zeit allerdings umstritten. Ein im französischen Afrika verbreitetes Pidgin auf französischer Basis ist das petit negre. Am Mittelmeer wurde über Jahrhunderte als Verbindungssprache unter den handeltreibenden Völkern die lingua franca gesprochen. Ihre Basis war ursprünglich das Italienische. Die Pidgin- und Kreolensprachen bilden einen Nebenzweig der Romanistik. Ihre Erforschung wurde von Schuchardt ins Leben gerufen.3 Eine Einteilung der romanischen Sprachen, sofern sie nicht rein geographischen Gesichtspunkten folgt, wirft die schwierigsten Probleme der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Typologie auf. Wir beschäftigen uns damit im nächsten Kapitel. Angesichts der großen Schwierigkeiten, die eine auf sprachlichen Eigenheiten beruhende linguistische Einteilung bietet, wird eine rein geographische Klassifikation letzten Endes zumeist vorgezogen. Diese ermöglicht es auch, Gegebenheiten der geographischen Nachbarschaft mit Faktoren der ethnischen Strate und ganz allgemein im Zusammenhang mit der Geschichte zu interpretieren. Ein solches Klassifikationsschema findet man bei Tagliavini. Wir reproduzieren es hier, ändern jedoch die ursprünglich von Osten nach Westen verlaufende Anordnung:4 2 3

4

W. von Wartburg, Die Entstehung der romanischen Völker, Tübingen 21951. Zur Lingua franca: H. Schuchardt, Die Lingua Franca, in: Zeitschrift für romanische Philologie 33 (1909), S. 441-461; P. Fronzaroli, Note sulla formazione della lingua franca, in: Atti e Memorie dell'Accademia la Colombaria 20 (1955), S. 211-252; H. und R. Kahane, ,Lingua franca': The story of a term, in: Romance Philology 30 (1976), S. 25^1. Kreolensprachen: H. Schuchardt, Sur le Creole de la Reunion, in: Romania 11 (1882), S. 589-593; Über Negerportugiesisch, in: Zeitschrift für romanische Philologie 12 (1888), S. 242-254; Englisches Kreolisch, in: Englische Studien 12 (1891), S. 470-474; ferner die einschlägigen Kapitel in: A. Martinet (Hrsg.), Le langage, Paris 1968; R. A. Hall jr., Pidgin and Creole Languages, Ithaca (N.Y.) 1966; J. M. Meisel (Hrsg.), Langues en contact - pidgins - Creoles - languages in contact, Tübingen 1977. Tagliavini, Einführung, Kap. VI, § 63.

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VI. Die romanischen Sprachen

a) Portugiesisch Spanisch Katalanisch b) Okzitanisch (mit Gaskognisch) Frankoprovenzalisch Französisch c) Ladinisch Sardisch Italienisch Dalmatisch d) Rumänisch

Iberoromanisch Galloromanisch

Italoromanisch

B alkanromanisch

Zu beachten ist die „Brückenstellung", die das Dalmatische zwischen dem Balkanromanischen und dem Italoromanischen, das Katalanische zwischen dem Galloromanischen und dem Iberoromanischen einnimmt. Diesselbe Stellung halten zwischen dem Italoromanischen und dem Galloromanischen die galloromanischen Dialekte (d. h. die Dialekte Norditaliens mit Ausnahme des Venezischen), die in diesem Schema allerdings nicht eigens aufgeführt sind. 2. In diesem Paragraphen geben wir, der geographischen Anordnung von Westen nach Osten folgend, eine Übersicht über die hauptsächlichen romanischen Sprachen. Wir beschränken uns dabei auf die wichtigsten äußeren Daten und auf einige deskriptive Hinweise. (1) Das Portugiesische. 5 Das Portugiesische wird in Portugal und in Brasilien gesprochen, das ehemals portugiesische Kolonie war. Mit zum Portugiesischen gehört das Galizische (sp. gallego), der stark vom Kastilischen beeinflußte Dialekt Galiciens, das heute zu Spanien gehört. In enger Abhängigkeit vom Portugiesischen stehen die zahllosen Kreolensprachen, die das Portugiesische in Übersee (in Asien und in Afrika) hervorgebracht hat. Nimmt man alle diese Sprachen, die sich bei objektiver Beurteilung als recht unterschiedlich erweisen, zusammen, so kann man die Sprecher des Portugiesischen auf 75 Millionen veranschlagen. Wie das Spanische, so ist auch das Portugiesische im nördlichen Teil des Landes entstanden und hat sich mit der Rückeroberung der von den Arabern besetzten Gebiete und ihrer teilweisen Wiederbesiedlung nach Süden ausgebreitet. Das nördliche Gebiet umfaßte Galicien, das später zu Kastilien kam, während die Grafschaft (dann das Königreich) Portugal vom 12. Jahrhundert an seine Unabhängigkeit gegenüber Kastilien bewahrte und sich, wie schon gesagt, immer weiter nach Süden hin ausdehnte. Diese Gegebenheiten erklären die relativ große Einheitlichkeit des Portugiesischen, dessen südliche Varianten heute einfach Varianten der nördlichen Dialekte darstellen, während die alten Mundarten verschwunden sind. Südliche Varianten des Portugiesischen sind auch die Dialekte der auf der Route nach Uber5

Bibliographischer Hinweis: M. de Paiva Boleo, Introducho ao estudo da filologia portuguesa, Lissabon 1946; S. da Silva Neto, Manual de filologia portuguesa, Rio de Janeiro 21957; Historia da lingua portuguesa, Rio de Janeiro 21970; Fr. da Silveira Bueno, A formaqäo historica da lingua portuguesa, Lissabon 71969.

2. Portugiesisch, Spanisch

91

see gelegenen Azoren und Madeiras, wo die Portugiesen sich im 16. Jahrhundert niederließen. Die portugiesische Schriftsprache ist im Mittelalter entstanden. Allerdings hat sich das moderne Portugiesisch ihr gegenüber sehr stark gewandelt. Man unterscheidet deshalb zwischen Altportugiesisch und Neuportugiesisch, wie man es, abgesehen vom Italienischen, bei allen romanischen Sprachen tut. Die Sprache Brasiliens trägt sowohl konservative als auch innovatorische Züge. Einige syntaktische Neuerungen teilt sie mit dem amerikanischen Spanisch; so ist z.B. voce im Brasilianischen nicht Höflichkeitsform, sondern tritt an die Stelle von tu, wie im amerikanischen Spanisch die Form vos. Abgesehen von seiner Verwendung in Brasilien und im beschränkteren Rahmen der ehemaligen Kolonialgebieten hat das Portugiesiche in Übersee gewöhnlich besondere Spielarten entwickelt, Kreolensprachen, die das Ergebnis der Symbiose mit anderen Sprachen und von beträchtlichen Vereinfachungen sind. Von den zahlreichen Varietäten seien hier erwähnt: das Kreolische von Ceylon und von Macao (China), das Malaioportugiesische von Java, Malakka und Singapur, das Negerportugiesische Afrikas in Angola, Mozambique usw. (2) Das Spanische. 6 Das Spanische oder Kastilische (castellano) ist die in der Welt am meisten gesprochene romanische Sprache (200 Millionen Menschen haben sie als Erst- oder als Zweitsprache). Die spanische Schriftsprache ist ihrer Herkunft nach ein nordspanischer Dialekt, der einige sehr eigentümliche Züge aufweist und dessen Zentrum das Gebiet von Burgos ist. Im Mittelalter war die Sprachlandschaft der iberischen Halbinsel sehr viel weniger homogen als das heute der Fall ist: Im Norden gab es das mit dem Portugiesischen verwandte Galizische, auf das wir soeben hingewiesen haben, das Leonesische, die Mundarten von Navarro und Aragon; im Süden, in Symbiose mit dem Arabischen, die mozarabischen Dialekte, die die arabischen Schriftsteller aljamia „fremde Sprache" nannten. Daß sich das Kastilische diesen Dialekten gegenüber durchgesetzt hat, erklärt sich aus der Reconquista, die im Verlauf von vier Jahrhunderten den Charakter der Halbinsel veränderte. Die kastilische Initiative war entscheidend: die lokalen Dialekte wurden zum größten Teil nivelliert und beinahe eliminiert. Das Kastilische besaß einige innerhalb des Iberoromanischen exzentrische phonetische Eigenheiten. So z.B. den Ersatz des anlautenden /{/ durch /h/, hijo statt fijo < FILIU(M); die Blockierung der Diphthongierung vom Typ sierra durch Jod, also noche statt *nueche < NOCTE(M) (mit Jod aus -CT-, das den Konsonanten zu /tjV palatalisiert); in llamar, llover „rufen, regnen" gegenüber aragonesisch damar und mozarabisch ploure oder anderen Lösungen im Leonesischen. 6

R. Menendez Pidal, Origenes del espanol, Madrid 1926 (21929,31950), Manual de gramatica espanola, Madrid 121966. R. Lapesa, Historia de la lengua espanola, Madrid 61965. Ein großes historisches Wörterbuch ist das Diccionatio critico etimologico de la lengua castellana von J. Corominas, Madrid-Bern 1954-57, 4 Bde. Strukturalistisch orientiert sind E. Alarcos Llorach, Fonologia espanola, Madrid 41968; Gramatica estructural, Madrid 1969; Estudios de gramatica funcional del espanol, Madrid 1972. B. Pottier, introduction a l'etude de la morphosyntaxe espagnole, Paris 41966; Grammaire de l'espagnol, Paris 1969. J. A. Franch, J. M. Blecua, Gramatica espanola, Barcelona 1975.

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VI. Die romanischen Sprachen

Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts, als das Kastilische bereits zur spanischen Schriftsprache geworden war, machte das alte Lautsystem noch einmal eine beachtliche Wandlung durch, und zwar immer mit der Tendenz zur Vereinfachung. Die Opposition von b und v wird aufgehoben. Dasselbe gilt für die Unterscheidung von stimmhaftem und stimmlosem i. Die Affrikaten /ts/ und /dz/ werden reduziert, und es entsteht der neue Laut /#/. An die Stelle von /dz/ und /JY tritt der neue Laut /h/, so daß man Quijote heute mit /h/ spricht, während im frz. Quichote und im it. Chisciotte der alte Lautstand erhalten blieb. Heute bietet die dialektale Gliederung Spaniens, die weit weniger abwechslungsreich ist als etwa die italienische, das folgende Bild: Das Leonesische und mehr noch das Aragonesische sind sehr stark zurückgegangen. Die ganze südliche Zone ist kastilisch, auch wenn ihr Lautsystem viele neue Züge aufweist, z.B. den yeismo, die Aussprache von // als [j] statt als : caye statt calle „Straße" (diese Aussprache ist auch für den Norden bezeugt, und man hört sie in volkstümlichen Kreisen sogar in Madrid); Übergang von silbenauslautendem 5 zu /h/ oder O: mascar „kauen" wird zu [mah'kar] und [ma'kar], los hombres zu [lo'hombreh] usw.; Entphonologisierung der Opposition von si, se und ci, ce (sog. seseo), mit /s/ statt /s/ und /#/. Innerhalb des Südens gibt es nur eine beschränkte Anzahl von dialektalen Varianten. Am bedeutendsten ist die andalusische, da sie die Grundlage des amerikanischen Spanisch zu sein scheint. Die Ausbreitung des Spanischen außerhalb des Mutterlandes ist auf zwei große historische Ereignisse zurückzuführen. Das erste ist die im 15. Jahrhundert erfolgte Vertreibung der Juden. Ihre Nachkommen, die sich verstreut auf dem Balkan und in Nordafrika niederließen, bewahren bis heute ein archaisches Spanisch (sog. ladino), das die Veränderungen zum Neuspanischen nicht mehr mitgemacht hat. „Modern" ist hingegen das amerikanische Spanisch, das von Mexiko bis nach Feuerland gesprochen wird, weil dort der Zustrom immer neuer Siedler über Jahrhunderte angehalten hat. Die gemeinsame Grundlage dieses Spanisch ist ein Kastilisch mit südspanischem Einschlag, das die oben beschriebenen Merkmale allgemein aufweist (der seseo ist durchweg vorhanden). Daneben gibt es auch mehr oder weniger weit verbreitete eigenständige Neuerungen. Der Einfluß der Eingeborenensprachen wird von der Wissenschaft unterschiedlich bewertet. Wie man diesem kurzen historischen Abriß entnehmen kann, hat ein ursprünglich auf ein sehr kleines Gebiet begrenzter Dialekt eine schrittweise Ausbreitung erfahren und ist die Gemeinsprache einer ständig wachsenden Zahl von Sprechern geworden. Dies erklärt — wahrscheinlich — die nicht abreißende Tendenz zur Vereinfachung im Vokalismus (Kap. IX, § 2) und vor allem im Konsonantismus, der im Vergleich zum älteren System wesentlich reduziert erscheint. (3)Das K a t a l a n i s c h e . 7 Das Katalanische wird heute von über 5 Millionen Men7

W. Meyer-Lübke, Das Katalanische, Heidelberg 1925; R. Menendez Pidal, Origenes; A. M. Badia Margarit, Gramatica historica catalana, Barcelona 1951; F. de B. Moll, Gramatica historica catalana, Madrid 1952. Gesamtdarstellung: W. J. Entwistle, The Spanish Language together with Portuguese, Catalan and Basque, London 21948; A. M. Badia Margarit, Fisiognomica comparada de las Lenguas catalana y castellana, Barcelona 1955; G. Rohlfs, Manual de filologia hispanica, Guia bibliografica, crttica y metodica, Bogota 1957; K. Baldinger, Die Herausbildung der Sprachräume auf der Pyrenäenhalbinsel, Berlin 1958 (in vielen Punkten überarbeitete und erweiterte span. Übers.: La formacion de los

2. Katalanisch, Französisch

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sehen gesprochen. Als Verwaltungs-, Literatur- und Kultursprache erlebte es seine Blütezeit zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert. Sein Zentrum war der Hof von Aragon. Hier erhielt es seinen einheitlichen Charakter. Später, nach der Vereinigung mit dem Königreich Kastilien, trat als Amts- und Kultursprache an seine Stelle das Spanische. Heute besitzt das Katalanische mit Barcelona wieder ein bedeutendes sprachliches Anziehungs- und Verbreitungszentrum, das zugleich auch wirtschaftlicher und kultureller Mittelpunkt ist. Die nationale „Renaissance" Kataloniens fördert die ständig zunehmende Verwendung des Katalanischen in allen intellektuellen und praktischen Sparten. Die dialektale Gliederung des Katalanischen ist nicht sehr ausgeprägt. Man unterscheidet zwei Hauptgruppen: das östliche und das westliche Katalanisch, die beide einer gemeinsamen Schriftsprache deutlich untergeordnet sind. Im großen ganzen wird katalanisch gesprochen in Katalonien (Prinzipat), im ehemaligen Königreich Valencia, auf den Balearen und auch im östlichen Teil der französischen Pyrenäen (im Roussillon), in Andorra und in Alghero auf Sardinien. Das Problem der Stellung des Katalanischen im Rahmen der Romania hat zu heftigen Diskussionen Anlaß gegeben. Zuweilen insistierte man (wie MeyerLübke) auf der engen Verwandtschaft mit dem Okzitanischen. Tatsächlich stehen eine Reihe von lexikalischen und phonologischen Eigenheiten des Katalanischen dem Okzitanischen näher als den anderen Sprachen der iberischen Halbinsel (z.B. der Schwund der Auslautvokale außer -a, mit ebenfalls vergleichbaren Auswirkungen auf die Morphologie). Die gemeinsame Kultur, der die Werke der mittelalterlichen Literatur entsprungen sind, läßt in den alten Texten diese Ähnlichkeit noch deutlicher hervortreten. Die gegenteilige Auffassung — mit Menendez Pidal (1926) — hebt die Übereinstimmungen des Katalanischen mit den anderen Sprachen der iberischen Halbinsel stärker hervor. (4) Das Französische. 8 Das Französische wird heute von etwa 70 Millionen

8

dominios lingüisticos en la peninsula iberica, Madrid 1963); M. Metzeltin, Einführung in die hispanistische Sprachwissenschaft, Tübingen 1973; D. Catalan, Lingütstica iberoromanica, Madrid 1974. G. Colon, El lexico Catalan en la Romania, Madrid 1976. Historische Grammatiken des Altfranzösischen und des Französischen: K. Nyrop, Grammaire historique de la langue frangaise, Copenhague 1899-1930, 6 Bde; F. Brunot und Ch. Bruneau, Precis de grammaire historique de la langue franqaise, Paris 31949; M. K. Pope, From Latin to Modern French, Manchester S1966; H. Rheinfelder, Altfranzösische Grammatik, 2 Bde, München 1953-67; E. Gamillscheg, Historische Französische Syntax, Tübingen 1957. L. Foulet, Petite syntaxe de landen franqais, Paris 1958 (Nachdruck der 3. Aufl. 1928). Mit verschiedenen Einzelaspekten befassen sich die kurzen Arbeiten von P. Guiraud: L'ancien franqais, Paris 21965; Le moyen franc,ais, Paris 21966; Patois et dialectes franfais, Paris 1968; Lefra^aispopulaire, Paris31973. Über die Sprachgeschichte orientiert W. von Wartburg, Evolution et structure de la langue fra^aise, Berne 51958. H. Berschin, J. Felixberger, H. Goebl, Französische Sprachgeschichte, München 1978. Zur synchronen Beschreibung: Ch. Bally, Linguistique generale et linguistique franqaise, Berne 41965; M. Grevisse, Le bon usage, Gembloux-Paris 81964; A. Martinet, La Prononciation du frangais contemporain, Geneve 21971 (in diesem Zusammenhang zuletzt: H. Walter: La phonologie du franqais, Paris 1977); J. Dubois, Grammaire structurale du fran n und mb > mm, d. h. der Typ monno statt mondo < MÜNDU, quanno statt quando < QUANDO, und seltener jamma statt gamba „Bein", die über ganz Mittel- und Süditalien und sogar in Rom verbreitet ist, wird wie üblich auf Substrateinflüsse zurückgeführt. Das Oskisch-Umbrische verhielt sich auf dieselbe Weise gegenüber dem Latein. Die komplexe Situation der mittel- und süditalienischen Dialekte weist keine Tendenzen zur Vereinheitlichung auf, wie sie sonst fast überall in Erscheinung treten. (9)DasLadinische. l s Mit dieser konvenzionellen Bezeichnung belegt man eine Reihe von Dialekten, die sich gegenüber dem Norditalienischen trotz vieler Gemeinsamkeiten mit gewissen Merkmalen exzentrisch verhalten. Es handelt sich (1) um das Rätoromanische oder das Rumänisch, wie es manchmal genannt wird, das im Kanton Graubünden (in der Schweiz) in verschiedenen lokalen Varianten gesprochen wird, im Bündner Oberland (Surselva), in Mittelbünden (Sutselva) und im Engadin bis ins Münstertal (= westliche Gruppe); (2) um die Dialekte der Dolomitentäler (= zentralladinische oder mittlere Gruppe), nämlich um das Fassatal, das Grödner Tal, das Abteital, das Enneberger Tal, das Buchensteintal, das Ampezzanertal und das Comelico, mit Ausläufern nach Süden und nach Osten, die fast Js G. J. Ascoli, Saggi ladini, in: Archivio Glottologico Italiano l (1873); T. Gärtner, Rätoromanische Grammatik, Heilbronn 1883; Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur, Halle 1910; C. Battisti, Popoli e lingue dell'Alto Adige, Florenz 1931; G. Francescato, Dialettologia friulana, Udine 1966; M. Iliescu, Le Frioulan a partir des dialectes paries en Roumanie, Den Haag 1972; G. B. Pellegrini, Saggi sul ladino dolomitico e sul friulano, Bari 1972; Th. Elwert, Die Mundart der Fassatals, Wiesbaden 1972 (unveränderter Nachdruck der 1943 erschienenen Abhandlung nebst 4 ergänzenden Aufsätzen); G. Francescato und F. Salimbeni, Storia, lingua e societä del Friuli, Udine 1976; Vgl. auch G. Rohlfs, Rätoromanisch. Die Sonderstellung des Rätoromanischen zwischen Italienisch und Französisch, München 1975.

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VI. Die romanischen Sprachen

bis an die dritte Gruppe heranreichen; (3) um das im gleichnamigen Gebiet gesprochene Friaulische, das die östliche Gruppe bildet. Daß die drei Gruppen einmal eine Einheit bildeten, läßt sich ebensowenig beweisen wie die Annahme, sie seien auf der Grundlage eines gemeinsamen Substrates entstanden. Alle Anzeichen sprechen eher für das Gegenteil. Dennoch muß man für einige Besonderheiten, z.B. für die Bewahrung von lat. kl, pl und bl und vor allem für die Pluralbildung mit -s, nach einer Erklärung suchen. Im ersten Falle weiß man, daß dieselben Bedingungen auch im Altoberitalienischen gegeben waren. Im zweiten Fall, d.h. für die Pluralbildung mit s, gibt es im Oberitalienischen keine Spur. Andere sehr eigentümliche Lautungen, wie z. B. der Übergang von A > e, ohne palatalen Kontakt, finden sich nicht überall, sind aber doch ziemlich weit verbreitet im Oberengadin, an vielen Punkten der mittleren Gruppe, äußerst selten dagegen in Friaul. Eine allen drei Gruppen gemeinsame Innovation ist der Wandel von CA > tfa/tfe: lat. CAPUT wird in den Mundarten des Engadins zu cho mit /tj7 grödnerisch zu tfa, im Friaulischen zu /cya/oder i/a/. Die ladinischen Dialekte weisen heute gegenüber den angrenzenden italienischen Mundarten große Unterschiede auf, die nicht nur auf Konversation, sondern ebensosehr auf Innovation beruhen. Besondere politische Umstände haben außerdem dazu geführt, daß die graubündische und die dolomitische Gruppe sich jeweils zu kleinen „Nationalitäten" zusammengeschlossen haben, denen in den einzelnen Staaten Minderheitsrechte zuerkannt werden. In Graubünden und im zentralladinischen Bereich wird das Ladinische heute in einem gewissen Umfang auch unterrichtet, und es gibt auch einige Tageszeitungen u. a. Im Friaul, wo die literarische Tradition (wie in vielen anderen italienischen Dialekten mit großem Prestige) besonders stark ist, gibt es zur Zeit Bestrebungen, zum Friaulischen zurückzukehren. Die jüngere Generation verhält sich hier anders als ihre Vorgänger, die ihre Sprache wie einen rustikalen Dialekt abtun und aufgeben wollten. Es gibt ca. 40.000 Sprecher in Graubünden, 25.000 in den Dolomiten und 600.000 im Friaul. (10)Das Dalmatische. 1 6 Die romanische Sprache, die sich entlang der dalmatischen Küste und auf den angrenzenden Inseln ausgebildet hatte — nicht zu verwechseln mit der Art von Venezianisch, die vom Mittelalter an durch venezianische Kaufleute und Verwaltungsbeamte nach Dalmatien gelangte und dort Fuß faßte — verlor im Laufe der Jahrhunderte zunehmend an Bedeutung und erlosch schließlich ganz. Unsere Kenntnis des Altdalmatischen stammt aus Urkunden von Kaufleuten und aus Briefen. Die älteste Quelle ist ein Brief aus Zara von 1325. Schon damals stand das Dalmatische unter dem Druck des Venezianischen, von dem es später völlig absorbiert wurde. Das Raguseische, d. h. der Dialekt von Ragusa (Dubrovnik), ist die in den alten Dokumenten am meisten vertretene Variante. Noch im 15. Jahrhundert wurden im Senat dieser bedeutenden Seestadt die Debatten auf raguseisch geführt, obwohl man sich bereits auch des Venezianischen und des Serbokroatischen bediente. 16

M. G. Bartoli, Das Dalmatische. Altromanische Sprachreste von Veglia bis Ragusa und ihre Stellung in der Apennino-balkanischen Romania, Wien 1906; R. H. Hadlich, The Phonological History of Vegliote, in: Studies in the Romance Languages and Literatures 52 (1965); G. Folena, Introduzione al veneziano „de lä da mar", in: Bolletino dell'Atlante Linguistico Mediterraneo 10-12 (1968-1970), S. 331-376 (besonders S. 348 ff.).

2. Dalmatisch, Rumänisch

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Während also an der Küste das Dalmatische vom Venezianischen absorbiert wurde, rückte vom Festland her das Serbokroatische vor. Diesem doppelten Druck widersetzte sich die im äußersten Norden, bei Fiume (Rijeka) gelegene Insel Veglia (Krk) am längsten. Vom vegliotischen Dialekt, genauer: vom Dialekt des auf der Insel Veglia gelegenen gleichnamigen Ortes, sind direkte Transkriptionen aus dem 19. Jh. erhalten. Matteo Bartoli, der das meiste für die Erforschung des Dalmatischen geleistet hat, sammelte 1897 aus dem Mund des letzten Sprechers, Antonio Udina Burbur, die letzten Zeugnisse dieser Sprache. Zusätzliche Quellen für die Kenntnis des Dalmatischen sind das Venezianische und das Serbokroatische, die an seine Stelle getreten sind und zahlreiche lexikalische Elemente daraus übernommen haben. Auf der Ebene der Morphologie zeigt das Dalmatische vielfach archaische Züge. Dasselbe gilt für dessen Phonologie. Wie das Sardische bewahrt es das velare ki und ke: vgl. kenur < CENARE, die < DICIS, loik < LUCET (Bartoli, VII, § 425). Eine Reihe von Merkmalen, die es z.T. mit dem Italienischen der Toskana und dem Mittel- und Süditalienischen gemeinsam hat, unterscheiden das Dalmatische vom Venezianischen. So die Konservation des t vor r oder in intervokalischer Stellung: patruno, nicht ven. padhrön, parön, oder die Entwicklung E > ai, vgl. akait < ACETU(M), und andere Besonderheiten der Diphthongierung, die sehr weit entwickelt ist. Im Vergleich zum Italienischen erweist sich das Dalmatische als recht originell, wenn es auch mit Sicherheit nicht die Brücke zur „Individualität" (Bartoli) des noch weiter östlich, im Herzen des Balkans gelegenen Rumänischen bildet. (11) Das Rumänische. 1 7 Unter Rumänisch versteht man die Menge der relativ einheitlichen Dialekte im ungefähren Bereich des Staatsgebietes der heutigen Sozialistischen Republik Rumänien (s. Tafel V). In Wirklichkeit gibt es innerhalb dieses Gebietes auch verschiedene andere Sprachgruppen. Bedeutend ist vor allem das Ungarische; an zweiter Stelle steht das Deutsche, gefolgt vom Ukrainischen usw. Umgekehrt wird das Rumänische auch außerhalb der Staatsgrenzen in Jugoslawien (Banat), in Bulgarien und in Ungarn gesprochen, vor allem aber in der Ukrainischen und in der Moldauischen SSR, die seit dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion gehören. Das „Moldauische", das dort gesprochen und in kyrillischer Schrift geschrieben wird, ist in Wirklichkeit nichts anderes als rumänisch. Dieser große Block des Rumänischen gliedert sich in zwei Varianten, das Muntenische im Süden, das mit Bukarest als Zentrum heute als Schriftsprache dient, und das Moldauische im Osten. Auf diese beiden Haupttypen lassen sich auch die Va17

A. Rosetti, Istoria limbii romäne, 3 Bde., Bukarest 1963-66 (neue Auflage); A. Rosetti, B. Cazacu, L. Onu, Istoria limbii romäne literare, Bd. I, Bukarest 1971; W. Rothe, Einführung in die historische Laut- und Formenlehre des Rumänischen, Halle (Saale) 1957. Zur Einführung: K.-H. Schröder, Einführung in das Studium des Rumänischen, Berlin 1967. Eine deskriptive Grammatik des modernen Rumänisch ist die Gramatica limbii romäne der Akademie, 2 Bde., Bukarest 21963. Wichtig für die Kenntnis des heutigen Rumänisch ist außerdem I. lordan, Limba romänä contemporanä, Bukarest 1956. Wörterbücher: H. Tiktin, Rumänisch-Deutsches Wörterbuch, 3 Bde., Bukarest 1903; Dictionarul limbii romäne contemporane der Akademie, 4 Bde., Bukarest 1955-57; A. Cioranescu, Diccionario etimologico rumano, La Laguna 1958. Ein häufig gebrauchtes Hilfsmittel ist der Dictionarul limbii romäne moderne der Akademie, Bukarest 1958, bzw. die überarbeitete Fassung: Dictionarul explicativ al limbii romäne, 1975.

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VI. Die romanischen Sprachen

rianten der übrigen Regionen zurückführen, darunter insbesondere die größte, diejenige von Transilvanien, die offenbar keine eigenständige Gruppe bildet. Es handelt sich um eine außerordentlich einheitliche Sprachlandschaft, von der wir bislang nicht wissen, wie sie ursprünglich zu begründen ist. Für die jüngere Zeit steht fest, daß das Fehlen von städtischen Zentren, von wo viele Neuerungen normalerweise ausgehen, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Die beiden Haupttypen, von denen soeben die Rede war, sind an die großen Fürstentümer gebunden, d. h. an Bukarest (Walachai) und an Ia§i (Moldau). Etwas Vergleichbares gibt es in Transilvanien nicht. Verfolgt man die Geschichte des Rumänischen von den Anfängen bis zur Gegenwart, dann gibt es verschiedene problematische, um nicht zu sagen rätselhafte Vorgänge. Nach einer langen Periode des Drucks und der Durchdringung von Rom wird Dazien 106 n. Chr. von Trajan erobert. Nach schweren und verlustreichen Kämpfen durch Kolonisten neu besiedelt, wurde das Land, weil es nicht zu verteidigen war, von Aurelian im Jahre 271 aufgegeben. Entgegen den offiziellen Zeugnissen und den Berichten der Historiker verblieb ein Teil der romanisierten Bevölkerung offenbar im Land (sog. Kontinuitätstheorie). Die umgekehrte, von Rosier (1871) begründete Rückwanderungstheorie ist demgegenüber nicht nur nicht glaubhaft, sondern von der neueren archäologischen Forschung auch überholt. Nach der Rückwanderungstheorie wären die Rumänen nach einem jahrhundertelangem Aufenthalt weiter südlich oder westlich (zwischen dem heutigen Albanien und Griechenland) in ihre heutigen Siedlungen wiederum zurückgekehrt. Aber selbst dann, wenn man dieser Theorie, die auf der Beobachtung beruht, daß im heutigen Rumänien romanische Ortsnamen fast nicht vorkommen oder doch äußerst selten sind, nicht zustimmt, so ist doch offenkundig, daß große Gruppen von Rumänen sich in weiten Gebieten des Balkans in Bewegung befanden. Ein Beweis dafür ist die Existenz von räumlich getrennten rumänischen Dialekten (s. Tafel V). a) A r o m u n i s c h (oder mazedorumänisch): Man nimmt an, daß sich die Aromunen bereits im 10. Jh. abtrennten, d. h. bevor die Rumänen mit den Ungarn in Kontakt kamen. Sie leben heute im mazedonischen Bereich von Griechenland, in Jugoslawien, Bulgarien und Albanien. Ihre Zahl ist beträchtlich (400000), wenn auch nicht genau feststellbar, weil sie oft nicht als „Nation" anerkannt sind und in den Statistiken deshalb nicht erfaßt werden. b) M e g l e n o r u m ä n i s c h : Die Meglenorumänen bilden eine kleine Volksgruppe in Griechenland, nordöstlich von Saloniki sowie im jugoslawischen Grenzgebiet, diesseits und zu einem geringeren Teil jenseits der Staatsgrenze. c) I s t r o r u m ä n i s c h : D i e Istrorumänenbilden eine kleine Gruppe in UckaGora (in Istrien) bei Rijeka. Man sagt, sie habe sich vom Gemeinrumänischen erst zuletzt, im Verlaufe des 12. oder 13. Jh. gelöst.

Es ist möglich, aus den Merkmalen dieser drei Dialekte und des rumänischen Rumänisch, das man oft als Dakorumänisch bezeichnet, ein Ur- oder G e m e i n r u mänisch zu rekonstruieren. Im folgenden Kapitel kommen wir auf Eigenheiten zurück, die zeigen, wie sich das Rumänische, vom übrigen Block der Romania getrennt, eigenständig entwickelte. Spuren davon zeigen sich im Lexikon, wo es Wörter gibt, die anderswo verschwunden sind (z.B. a fi „sein" < FIERI) oder einem Substrat entstammen (irakisch, wie zum Teil auch im Albanischen). Später wurde das Rumänische durch das Slawische, in geringerem Maße durch das Ungarische und schließlich durch das Türkische beeinflußt. Der slawische Anteil am Wortschatz ist außerordentlich groß. Slawisch, oder genauer: durch die Abhängigkeit von der

2. Rumänisch

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slawisch-orthodoxen Kirche bedingt, war auch die kyrillische Schreibweise des Rumänischen bis 1840. Nach einer Übergangsperiode, in der gemischte Alphabete verwendet wurden, setzte sich die lateinische Schreibweise durch. Linguistisch gesehen sind die ausschlaggebenden Punkte für das Rumänische anderswo zu suchen. Zu erwähnen ist dabei zunächst seine Zugehörigkeit zum balkanischen S p r a c h b u n d . Aus diesem Grunde gibt es im Rumänischen auf allen Ebenen Eigenheiten, die sich auch im Neugriechischen, im Bulgarischen, im Albanischen und in geringerem Maße sogar im Serbokroatischen finden. Dies hat seinen Grund in der starken wechselseitigen Durchdringung der verschiedenen Völker und im Bilinguismus (oder Trilinguismus), der auf dem Balkan weit verbreitet ist und deshalb Interferenzerscheinungen unter den verschiedensprachlichen Strukturen begünstigt. Ein weiterer Punkt ist der starke Einfluß des Französischen. Seit dem 19. Jh. fanden im Lexikon des Rumänischen eine große Menge von Neologismen Eingang, und zwar oft auf Kosten des einheimischen Wortschatzes. Parallel dazu verlief eine radikale Verwestlichung Rumäniens, die sich sprachlich und kulturell auf das Vorbild Frankreichs stützte. Im folgenden Satz aus der Tageszeitung Cinteia („Der Funke") sind die kursiv gedruckten Wörter französische Neologismen (oder durch das Französische vermittelte Latinismen): In cadrul § e d i n J e i au fost examinate, §i aprobate principüle §i normele generate p r i v i n d stabilirea prefurilor f i tarifelor, care urmeaza a fi legiferate.

Übersetzung: „Im Rahmen der Sitzung sind die allgemeinen Prinzipien und Normen zur Festsetzung der Preise und Tarife geprüft und gebilligt worden, die in der Folge Gesetz werden." Zu den gesperrt gedruckten Wörtern ist anzumerken, daß bei $edin(a das Material rumänisch ist und auf lat. SEDERE zurückgeht, die Bedeutung und die Form als Substantiv aber nichts anderes sind als frz. seance; privind ist slawischen Ursprungs, aber der Gebrauch entspricht frz. regardant. Die syntaktischen und alle funktionalen Elemente sind rumänisch; die invertierte Wortfolge wäre im Französischen nicht zulässig. Man erkennt daran Umfang und Grenzen des Einflusses.

Siebtes Kapitel

Charakteristische Merkmale der romanischen Sprachen

1. Die hier aufgeworfene Frage besteht darin, ob es Kriterien gibt, mit deren Hilfe eine Klassifizierung der romanischen Sprachen unternommen werden kann, wie sich eine solche Klassifizierung je nach den gewählten Kriterien ausnimmt, und ob es Klassifizierungen gibt, die sich als besonders vorteilhaft erweisen. Die geographischen Gegebenheiten werden meistens über das Lexikon interpretiert, seltener über die Phonetik oder die Morphologie. Gesamtdarstellungen wie diejenige Tagliavinis (Einführung, Kap. VII, § 4), die die geographische Kontinuität einzelner Phänomene berücksichtigen, beruhen auf der Beobachtung von episodischen Übereinstimmungen von Gruppe zu Gruppe, und zwar ohne Unterschied auf allen linguistischen Ebenen. Doch hat es sich stets als schwierig erwiesen, konsequent und mit befriedigenden Ergebnissen mehrere Kriterien gleichzeitig zu verwenden.1 Es kann z.B. vorkommen, daß zwei geographisch benachbarte Sprachen einen 1

Vor einiger Zeit versuchten Z. Muljacic u.a., die Distanzen zwischen den romanischen Sprachen und Mundarten dadurch zu messen, daß gewissen Merkmalen Punkte zugesprochen werden. Die Merkmale sind vorwiegend (aber nicht ausschließlich) phonologisch und werden diachronisch betrachtet. Doch sind derartige Versuche, auch wenn sie rigoros durchgeführt werden, von der Theorie her mangelhaft, weil viele Probleme - wie die Autoren selbst feststellen - eher kurzschlüssig behandelt werden müssen, damit das Material für die Quantifizierung rasch zur Hand ist. Vgl. Z. Muljacic, Die Klassifikation der romanischen Sprachen, in: Romanistisches Jahrbuch 18 (1967), S. 23—37; G. B. Pellegrini, La classificazione delle lingue romanze e i dialetti italiani, jetzt in: Saggi sul ladino dolomitico e il friulano, Bari 1972, S. 239-268; G. Francescato, Rumeno-dalmatico-ladino-italiano: premesse e prospective per una classificazione, in: Studii §i cercetäri lingvistice 24 (1973), S. 529-37. Unbrauchbar scheint das Kriterium des besseren oder schlechteren gegenseitigen Verstehens der Sprecher unter sich zu sein. Auch wenn darauf oft Bezug genommen wird, ist uns nicht bekannt, daß davon je systematisch Gebrauch gemacht wurde.Das Verstehen hängt nämlich auch von nicht-strukturellen Faktoren ab (U. Weinreich, Languages in Contact, Kap. II) und ist infolgedessen beträchtlichen Schwankungen unterworfen: individuelle oder kollektive Gewöhnung im Umgang mit verschiedenen Sprachen, Bildungsstand, Motivation usf. Strukturell gesehen wird das Verstehen durch ganz oberflächliche, phonetische Fakten beeinträchtigt (so lange jedenfalls, bis der Hörer darangeht, das System induktiv als eine Reihe relativ konstanter Beziehungen zu einem bekannten System zu rekonstruieren - wozu schließlich fast jedermann in der Lage ist, der genügend lange mit einer anderen Sprache im Kontakt steht; dagegen behindern selbst beträchtliche Variationen in der Morphologie oder auch in der Syntax das Verständnis nur unwesentlich. Analog dazu braucht man, um eine Sprache zu sprechen, die man kaum beherrscht, wenigstens eine bestimmte Menge von Wörtern und eine annähernde Kenntnis des Lautsystems, während auf Morphologie und Syntax fast ganz verzichtet werden kann; es entsteht dann eine stark vereinfachte Sprache, mit den Verben im Infinitiv usw. Doch erlaubt dies keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Ähnlichkeit unter Sprachen.

1. Klassifikationskriterien

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großen Teil des Lexikons gemeinsam haben, indes sie sich in der Morphosyntax nicht unerheblich voneinander unterscheiden. In diesem Fall gilt es festzustellen, ob der Vorrang den lexikalischen oder den grammatischen Eigenheiten gebührt. Das einzige Kriterium, das die verschiedenen Ebenen durchkreuzt, ohne zu willkürlichen Behauptungen zu führen, ist dasjenige, das konservatorische Fakten (der Phonetik, des Wortschatzes, der Syntax usw.) und innovatorische einander gegenüberstellt, wie das Vidos vorgeschlagen hat.2 Bei diesem Verfahren treten die selteneren Eigenheiten ins Blickfeld. Solche sind: a) Nichtteilnahme an allgemeinen, mehr oder weniger gemeinromanischen Neuerungen, wo eine Sprache eine anderswo entfallene lateinische Form entweder beibehält oder neue und neuartige Formen eigenständig hervorbringt; b) Teilnahme an geographisch begrenzten Neuerungen, die eine einzige Sprache oder eine Gruppe von mehreren Sprachen betreffen, so daß sich diese auf dem einheitlichen, gewöhnlich vom Spätlatein gelieferten Gesamtbild jeweils abheben. Doch begründet dieses Verfahren an sich noch kein Klassifikationsprinzip. Denn es gibt wohl mehr konservative und mehr innovatorische Sprachen, aber die betreffenden Eigenheiten sind räumlich verschieden verteilt. H i e r a r c h i s i e r t man die Ebenen und berücksichtigt man, daß diejenigen Phänomene, die einer höheren Stufe angehören (Syntax, grammatische Kategorien usw.) eine größere Bedeutung haben als Phänomene, die weiter an der Oberfläche gelegen sind (Morphophonologie, Phonetik), dann erreicht man präzisere Verallgemeinerungen. Das ist deshalb der Weg, der im folgenden hier eingeschlagen wird. In Betracht gezogen werden konservatorische und innovatorische Fakten auf höchster Ebene, und zwar im Hinblick darauf, welche Gruppierungen davon jeweils betroffen sind. (Bei der Hierarchisierung der Sprachebenen beziehen wir uns auf das Modell von Chomsky, wo die höchste bzw. die tiefste Ebene der Syntax vorbehalten bleibt. Eine mittlere Ebene entspricht der Morphologie, während Phonologic und Phonetik wie auch die Semantik als selbständige Mechanismen behandelt werden, die nur „Interpretationen" der zugrundeliegenden Strukturen darstellen).3 Mit Hilfe dieses Kriteriums wird die Sonderstellung der sog. Romania kontinua gegenüber zwei getrennten Splittergruppen, dem Rumänischen (mit einigen konservativen Zügen und gewissen eigenständigen Neuerungen) und dem Französischen (mit vorwiegend innovatorischem Charakter) im wesentlichen bestätigt. So hatte Wartburg in einer damals (1955) so gut wie neuen synchronischen Betrachtungsweise eine dreiteilige Gliederung vorgeschlagen: zwei je vom Rumänischen und vom Französischen gebildete Teile und einen dritten großen Block, der alle anderen romanischen Sprachen vom Atlantik bis zur Adria umfaßt, d. h. eben die Romania kontinua.4 In Wirklichkeit handelt es sich in unserem Fall jedoch nicht um einen streng synchronischen Ansatz. Wenn man nämlich auf der einen Seite bestrebt war, eine Klassifizierung der romanischen Sprachen nicht mehr willkürlich einmal diachronisch und ein anderes Mal synchronisch zu begründen, teils sogar mit älteren und gleichzeitig wiederum mit jüngeren Eigenheiten, wie es für das Vorgehen der alten Schule typisch war, so ist auf der anderen Seite in die Synchronie, 2 3

4

Vidos, Handbuch, S. 403 ff. Lyons, Chomsky, Kap. VIII; J. J. Katz, The Philosophy of Language, Kap. IV. Vgl. auch oben, Kap. IV, § 12. W. von Wartburg, L'articulation Unguistique de la Romania, in: Actas y memorias del VII Congreso Intern, de lingüistica romanica, Bd. II, l, Barcelona 1955, S. 23-38. Vgl. A. Alonso, Estudios lingüisticos. Temas espanoles, Madrid 1951, S. 113 und 126.

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VII. Merkmale der romanischen Sprachen

wie wir sie heute verstehen, auch die Diachronie mit eingegangen. Was sich heute unterscheidet, hat sich im Laufe der Geschichte auseinanderentwickelt und was sich heute ähnelt, ist Fortbestand aus älteren Phasen der Entwicklung. Natürlich gelangt man je nach den Eigenheiten, die man ausgewählt, zu immer wieder anderen Gruppierungen. Einige davon decken sich recht gut mit den klassischen Einheiten. Man trifft z.B. wiederum auf das Balkanromanische (mit Süditalien und zuweilen auch mit Sardinien), das eine konservative Gruppe bildet, und man findet auch das Galloromanische (zusammen mit norditalienischen Dialekten, oft mit dem Venezischen und dem Friaulischen), das einen stark innovatorischen Charakter aufweist. Das Bild ist also ziemlich komplex; doch gibt es nichts, was eine Vereinfachung um jeden Preis rechtfertigen würde. Übereinstimmungen auf hoher Ebene, d. h. in den tieferen Bereichen der zugrundeliegenden Struktur, entsprechen notwendigerweise ganz präzisen historischen Situationen. So muß der Konservatismus der balkanromanischen Sprachen, einiger süditalienischer Dialekte und des Sardischen damit in Zusammenhang gebracht werden, daß die Gebiete in der Spätantike von der Verbindung mit dem Rest des Imperiums abgeschnitten waren. Davon abgesehen müßten nicht nur syntaktische, sondern auch viele phonetische und vor allem lexikalische Eigenheiten diesen Sachverhalt wiederspiegeln, was in der Tat auch der Fall ist. Doch ist es schwierig, derartige Feststellungen in der Theorie richtig zu bewerten, weil diese Eigenheiten da und dort verstreut auftreten. Lexikalische Entlehnungen und Neuerungen werden wie die Mode sehr schnell und leicht weitergegeben, während die Vermittlung von grammatischen Veränderungen einen starken und lang anhaltenden Druck veraussetzt.5 Eine Sprache ändert deshalb auch nicht ihren Typ, wenn sie einen großen Teil ihres ursprünglichen Wortschatzes verliert: entscheidend ist allein die Grammatik. In der Phonetik bewirkt die starke Strukturierung der phonologischen Systeme, daß die Laute sich nicht einfach verändern, oder genauer, daß der Druck eines fremden Systems nicht einfach Entlehnungen zur Folge hat, sondern — wenn schon — Umbildungen des gesamten Systems. Die Existenz eines [9] von Portugal über Frankreich bis nach Rumänien und in vielen Dialekten (z.B. in Italien) beweist hier gar nichts, außer daß verschiedene Vorgänge zu ähnlichen Ergebnissen führten. Dasselbe gilt wahrscheinlich für ü [y], von dem man lange Zeit annahm, es beruhe auf einem keltischen Substrat. In gewissen Fällen allerdings, nämlich dann, wenn ein Phonem oder eine Phonemgruppe in verschiedenen Sprachen ein und dieselbe Distribution aufweisen, sind signifikative Aussagen trotzdem möglich. Wenn man z.B. beobachtet, daß im Spanischen und in den Mundarten der Gascogne in bestimmten Kontexten f- > h- > 0 wird, dann ist man berechtigt, einen gemeinsamen Ursprung anzunehmen. Doch betreffen Erscheinungen dieser Art zumeist nur begrenzte Gebiete, und es fehlen genügend zahlreiche Parallelen, um aufgrund verschiedener Merkmale dieses Typs kohärente räumliche Einheiten in der Romania zu identifizieren. Mit anderen Worten: Auf der Ebene der Grammatik (bzw. der Syntax) gibt es die meisten Übereinstimmungen. Die Grammatik gestattet es deshalb, die wenigen wirklich unterschiedenen Fakten um so besser hervor5

U. Weinreich, Languages in Contact; E. Petrovici, Interpenetration des systemes linguistiques, in: Actes du Xe. Congres intern, des linguistes (Bukarest 1967), Bukarest 1969, Bd. I, S. 37-73. Für das Balkanromanische siehe M. Bartoli, Das Dalmatische, passim und dens., La spiccata individualita del rumeno, in: Studi rumeni l (1937), S. 20 ff.

2. Eigenheiten der romanischen Sprachen: Kasus

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zuheben. Umgekehrt weisen die Phonetik und das Lexikon (am anderen Ende der Hierarchie) ein Höchstmaß an Verschiedenheit auf. Sie sind deshalb als Ordnungsprinzipien nur von geringem Nutzen. Es werden nun im folgenden eine Anzahl von Eigenheiten vorgeführt, mit deren Hilfe das Spiel von Konvergenz und Divergenz im Romanischen illustriert werden soll. 2. Im Verlauf der nachfolgenden Darstellung wird gelegentlich, wenn von innovatorischen Formen des Rumänischen und des Französischen die Rede ist, auch auf Übereinstimmungen mit nicht-romanischen Sprachen, mit dem Deutschen und vor allem mit dem Englischen hingewiesen. Solche Übereinstimmungen sind manchmal rein zufällig. In anderen Fällen mag z.B. das Französische genau die kohärente Bewegung vorangetrieben haben, von der alle indogermanischen Sprachen erfaßt wurden und die Sapir als „Strömung" (engl. drift) bezeichnete.6 Im Rahmen dieser Strömung liegt u.a. der Ausbau des Präpositionssystems, die Entwicklung der Hilfsverben und die Entstehung des Artikels. Dasselbe gilt für die gegenwärtig fühlbare Tendenz, die Zahl der Endungen - vor allem der Verben — zu verringern, die Pronominalisierung obligatorisch zu machen u. ä. (1) Die romanischen Sprachen haben eine radikale Reduktion der Kasus durchgeführt, die mit der Beseitigung der morphologischen Opposition von Nominativ und Akkusativ ihren Abschluß gefunden hat. Obwohl es diese Oppostion ebenfalls beseitigt hat, besitzt das Rumänische noch heute ein Kasussystem. Um das rumänische System an einem Beispiel zu verdeutlichen, bedienen wir uns des Femininums mit dem vorangestellten unbestimmten Artikel. (Bei den Maskulina ist die Opposition der Kasus vollständig aufgehoben, und auch bei den Feminina wird, wie aus dem Beispiel hervorgeht, im Plural die Opposition hinfällig): Nom./Akk. Gen./Dat.

Sg. o casä unei case

PL ni§te case unor case

Wie man sieht, wird auch der unbestimmte Artikel dekliniert. Das rumänische Kasussystem ist ein Überrest des lateinischen (begünstigt möglicherweise durch den Kontakt mit den slawischen Sprachen, die im allgemeinen ebenfalls die Kasus beibehalten haben). Er unterscheidet sich vom gemein-romanischen, das sich im Altfranzösischen und im Altprovenzalischen noch erhalten hat (Kap. V, § 3), oder vom Kasussystem der Personalpronomina auch des Italienischen; denn das Hauptcharakteristikum dieser Systeme ist die Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ, die im Rumänischen jedoch zusammenfallen. Darüber hinaus ist das Rumänische die einzige romanische Sprache, die eine gesonderte Form für den Vokativ hat. Sie tritt in Erscheinung bei der Deklination des Maskulinums, gleichgültig, ob es mit oder ohne Artikel dekliniert wird (z.B. barbate, omule, beides „Mann!"), und bei der Deklination des Femininums in den Fällen, in denen es ohne Artikel steht (z. B. bunico „Großmutter!"). Im Mask, und im Fern. Pl. kann die Form des Gen.-Dat. auch für den Vokativ gelten (z.B. domnilor, fetelor, wörtlich: „Herren! Mädchen!"). Hier werden Übereinstimmungen mit den slawischen Sprachen, besonders aber mit dem Bulgarischen deutlich: -e entspricht dem lateinischen Vokativ, aber auch dem slawischen; -o nur dem 6

Sapir, Language, Kap. VII.

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VII. Merkmale der romanischen Sprachen

slawischen. Einfach auf äußeren Einfluß zu schließen, ist aber trotzdem nicht zulässig. Das rumänische Vokativsystem ist im Plural umfassender als das slawische. Um die Entwicklung des lateinischen Deklinationssystems im Rumänischen zu erklären, muß man komplexe Zusammenhänge betrachten. In Dazien stand das Latein zwar unter starkem Einfluß des Slawischen. Aber das Slawische und das Lateinische sind nicht inkommensurabel, sondern lediglich relativ konservative Zweige des Indogermanischen. So hat der anhaltende Kontakt mit dem Slawischen die panromanische Entwicklung des Rumänischen gebremst, und zwar zu Gunsten einer morphologischen Struktur, die sich näher am gemeinsamen Ausgangspunkt hält, nämlich dort, wo das Slawische mit dem Lateinischen übereinstimmte.7 Das Aromunische und das Meglenorumänische, zwei vom Rumänischen verschiedene Dialekte, haben wenn auch nicht immer völlig - die Kasus jedoch eliminiert.

Wenn man vom Rumänischen absieht, kann man sagen, daß die romanischen Sprachen keine morphologisch ausgedrückten Kasus besitzen. Damit unterscheiden sie sich von den konservativeren Sprachen, z.B. vom Deutschen bei den germanischen oder vom Russischen bei den slawischen Sprachen. (2) Die Ausbildung des A r t i k e l s ist eine Neuerung, die allen romanischen Sprachen gegenüber dem Lateinischen gemeinsam ist. Die entscheidende Phase für dessen Entstehung muß gegen Ende des 6. Jh. angesetzt werden (Kap. VI, § 4), d. h. in einer Zeit, in der der geographische Raum der Romania von Grund auf zersplittert war. Dennoch ist der Gebrauch des Artikels in allen Sprachen im wesentlichen gleich. Zwar ist der französische Artikel in stärkerem Maße obligatorisch; aber dieser Gebrauch ist relativ jung und ist (wie andere Besonderheiten) mit dem neufranzösischen Lautsystem in Zusammenhang zu bringen (s.u. Nr. 14). Im Französischen ist es nicht möglich zu sagen Uest eleve de ..., wie es dem italienischen e allievo di ... entspräche; man sagt U est l'eleve de ... dem italienischen perdere sangue entspricht im Französischen perdre du sang, während perdre sang genau so ungrammatisch ist wie avoir cheveux noirs, it. avere capelli neri, usw. Auch das Rumänische fügt sich mit un < UNUS und dem von ILLE abgeleiteten bestimmten Artikel gut in dieses Gesamtbild ein. Allerdings ist der bestimmte Artikel dort gewöhnlich enklitisch und verschmilzt mit dem Substantiv: Nom./Akk. Gen./Dat.

Sg. casa casei

PL cäsele cäselor

Nom./Akk. Gen./Dat.

muntele muntelui

muntii munjilor

Der Artikel besitzt proklitische Varianten, die vor Ordinalzahlen oder in bestimmten syntaktischen Kombinationen gebracht werden: al treilea „der dritte", casa noua a inginerului, d.h. wörtlich „das neue Haus das des Ingenieurs". Sie treten dabei immer ergänzend zum enklitischen Artikel hinzu, der hier als -a in treilea und in casa erscheint. In diesen Punkten unterscheidet sich der rumänische Artikel von demjenigen der anderen romanischen Sprachen. (3) In allen romanischen Sprachen steht in der Fügung S u b s t a n t i v A d j e k t i v im Normalfall das Substantiv an erster und das Adjektiv an zweiter Stelle: it. il progresso scientifico, frz. leprogres scientifique usw. (nicht lo scientificoprogresso). 7

Diese Erklärung findet sich bei A. Niculescu, Individualitatea limbii romäne tntre limbile romanice, Bukarest 1965.

2. Eigenheiten der romanischen Sprachen: Artikel, Adjektiv

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Die Inversion dient demgegenüber oft dazu, einem bestimmten Teil der Aussage besonderen Nachdruck zu verleihen, so z.B. bei una grigia giornata „ein trüber Tag" gegenüber der nichtmarkierten Stellung una giornata grigia. Doch gibt es sowohl im Italienischen als auch in den anderen romanischen Sprachen eine gewisse Anzahl von Adjektiven, die gewöhnlich dem Substantiv vorausgehen (z.B. ital. bello, caro, vecchio, lungo, oder frz. beau, eher, vieux, long usw.). Außerdem stehen auch die determinativen Adjektive (im Italienischen questo „dieser" und quello „jener" und die quantifizierenden wie tutto „ganz", ogni „jeder", poco „wenig" usw.) vor dem Substantiv. Bei den Personalpronomina herrscht deutlich die Wortfolge Adjektiv-Substantiv vor. Vgl. frz. mon pere (wo mon vor dem Substantiv stehen muß), ital. // mio cane „mein Hund" (aber auch U cane m/o), sp. mi libro (oder el libro mio, mit obligatorischer Setzung des Artikels). Im Dalmatischen und in den mittel- und süditalienischen Dialekten ist die einzig mögliche Wortfolge jedoch Substantiv-Possessivpronomen. In all diesen Fällen hat sich die romanische Wortfolge gegenüber der im Lateinischen vorherrschenden beträchtlich gewandelt. Dort sagte man/rater tuus, unterschied sorgfältig zwischen sumpluosa domus und domus sumptuosa (letzteres hatte restriktive Bedeutung) und gebrauchte, wie es scheint ohne Unterschied, ille canis und canis ille. Im Rumänischen dagegen ist die Tendenz, das Adjektiv auf das Substantiv folgen zu lassen, stärker als in allen anderen romanischen Sprachen. Man sagt nicht nur progresul $tin(ific, sondern auch ciinele meu „mein Hund" und vorwiegend ciinele aceasta, wörtlich „Hund der dieser" ein sonst in den romanischen Sprachen nicht vertretener Typ. Auch die Quantifikatoren lassen sich im Rumänischen eher nachstellen als in den anderen romanischen Sprachen: apapufina, wörtlich „Wasser wenig". Es ist unumgänglich, in dieser Erscheinung eine Parallele zur soeben besprochenen Stellung des Artikels zu sehen. Man kann also feststellen, daß das Rumänische an der überkommenen Wortfolge Determinatum (Substantiv) vor Determinans (Artikel, Adjektiv) mit größerer Kohärenz festhält. Es gibt einen für das Romanische charakteristischen Wortfolgetyp: Adjektiv l — Substantiv — Adjektiv 2, wo die Abfolge der beiden Adjektive von vorneherein festliegt. So muß es im Italienischen heißen: una vecchia donna sperduta und im Französischen une vieillefemme egaree (und nicht una sperduta donna vecchia usw.). Dieser Typ kommt im Rumänischen praktisch nicht vor (und existiert in den germanischen Sprachen überhaupt nicht). Das Rumänische stellt beide Adjektive normalerweise hinter das Substantiv. Auch die Wortfolge: Verb „sein" — Adjektiv, und vor allem die Stellung: Hilfsverb — Part. Perf. ist im Rumänischen weniger starr als in den anderen romanischen Sprachen. Man kann sagen al tau este, wörtlich „der deine ist", und früher sagte man auch trecut au „vorbeigegangen sind sie" usw. Diese Sprachsituation, die ein älteres Stadium der Entwicklung aus dem Lateinischen widerspiegelt, hat Entsprechungen in einigen süditalienischen Dialekten und im Sardischen; vgl. sard, berus este „es ist wahr" und sigui appu a kämmlnai, wörtlich „fortgefahren habe (ich) zu gehen".8 (4) Mit dem Übergang vom Lateinischen zum Romanischen vollzog sich der Verlust des N e u t r u m s . Die lateinischen Neutra wurden auf die verbleibenden Maskulina 8

M. L. Wagner, La lingua sarda, S. 383. Die im folgenden zitierten Formen stammen hauptsächlich aus Bartoli, Das Dalmatische; Rohlfs, Historische Grammatik; Lausberg, Romanische Sprachwissenschaft.

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VII. Merkmale der romanischen Sprachen

und Feminina aufgeteilt. Ein Wort wie märe „Meer", das im Lateinischen ein Neutrum war, wird in frz. la mer zum Femininum, in it. U märe zum Maskulinum; lat. tempos „Zeit" wird, wohl aufgrund der Endung -us, in allen romanischen Sprachen maskulin. Es gibt also statt der drei Genera des Lateinischen im Romanischen nur noch zwei. Anders wiederum das Rumänische. Im Rumänischen bleibt neben dem Maskulinum und dem Femininum das lateinische Neutrum bestehen. Man erkennt dies am Plural, der eine regelmäßige Weiterführung der lateinischen Form darstellt: timpuri < lat. tempora „Zeiten"; ajutoare < lat. adiutoria „Hilfsmittel". Doch sind in diese Klasse noch viele andere Elemente eingegangen, worunter auch Neologismen wie stilouri (Pl. von stilou, aus frz. stilo „Füllfederhalter"). Man kann sie als eine lebendige Kategorie bezeichnen, im Gegensatz zu den erstarrten Neutra der anderen romanischen Sprachen, von denen gleich die Rede sein wird. Das bedeutet jedoch nicht, daß nicht auch im Rumänischen viele lateinische Neutra zu Maskulina und Feminina geworden sind (z.B. ist märe im Rumänischen feminin). Fügt man hinzu daß das rumänische Neutrum sich beim Accord im Singular wie ein Maskulinum und im Plural wie ein Femininum verhält, so wird klar, daß die richtige Einschätzung des Phänomens alles andere als leicht ist. Es scheint, daß diese Wörter die Merkmale beider Genera haben und deshalb keine eigene Klasse bilden. Jedenfalls kann man das rumänische Neutrum weder zu den rein konservativen noch zu den rein innovatorischen Eigenheiten zählen. Unbestreitbar ist, daß es im Rahmen der romanischen Sprachen eine höchst originelle Erscheinung darstellt. Seine Originalität wird auch dadurch nicht gemindert, daß es in anderen Sprachen, z. B. im Italienischen, erstarrte Neutra gibt. Unter erstarrten Neutra sind Wörter wie it. labbra „Lippen" und legna „Brennholz" zu verstehen, oder auch ein Singular v/iefoglia „Blatt", der wie frz. feuille und sp. hoja das lateinische Neutrum folia im Plural fortsetzt. Diese Formen treten im Italienischen — wie in anderen romanischen Sprachen — nur vereinzelt auf und bilden daher keine eigene grammatikalische Klasse.9 (5) Das Ad verb ist ein Redeteil, der gewöhnlich in enger Beziehung zum Adjektiv steht. Beide stellen in der Tiefenstruktur so etwas wie Prädikate dar, das Adjektiv in bezug auf das Substantiv, das Adverb in bezug auf das Verb. Im Lateinischen unterscheiden sich die Adverbien auf verschiedenerlei Weise von den Adjektiven, z.B. durch selbständige Bildungen wie bene gegenüber bonus, oder durch Suffixe wie bei panier gegenüber par. Dagegen erscheint optime „ausgezeichnet" gegenüber optimus beinahe wie ein anderer „Kasus" der Deklination. Bei fädle u.a. übernimmt das Neutrum Singular des Adjektivs die Funktion des Adverbs. In den romanischen Sprachen gibt es direkte Fortsetzungen des Lateinischen, z.B. bene, das sich fast überall hält. Im allgemeinen aber ist die morphologische Unterscheidung von Adjektiv und Adverb neu. Besondere Bedeutung erlangte dabei der Typ -mente, der, abgesehen vom Rumänischen, in allen romanischen Sprachen auftritt (port. it. sard, lentamente, certamente; span, lentamente, ciertamente; frz. lentement, cerlainement; engad. tschertamaing usw.). Im Rumänischen dient die nichtmarkierte Form der Adjektive direkt auch als Adverb, z.B. räu „schlecht" und u$or „leicht", die beide sowohl adjektivische als auch adverbiale Funktion erfüllen können. So 9

Das Neutrum ist vor allem von A. Graur untersucht worden: Les substantifs neutres en roumain, in: Romania 54 (1928), S. 249-260, und in: Studii de lingvisticä, Bukarest 1970, S. 347 ff.

2. Eigenheiten der romanischen Sprachen: Neutrum, Adverb, Futur

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wird das Muster von \ai.facile, das von den romanischen Sprachen sonst nur in seltenen Fällen aufgegriffen worden ist (im Italienischen z. B. durch molto „viel, sehr" und piano „eben, flach; langsam", wo Adjektiv gleich Adverb ist, oder durch sodo „fest" in der Verbindung dormesodo „er schläft fest"), im Rumänischen zur Regel. Der Gebrauch des Rumänischen entspricht in diesem Punkt dem der germanischen und der slawischen Sprachen. Aber auch unter den romanischen Sprachen steht das Rumänische nicht alleine da. Die Verwendung des Adjektivs als Adverb kennen auch das Dalmatische, wo ursprünglich auch bün „gut" sowohl in adjektivischer als auch in adverbialer Funktion auftrat, und einige mittel- und süditalienische Dialekte, z.B. die Mundarten der Abruzzen und das Apulische. Das Rumänische hebt sich mit den genannten Verbündeten vom innovatorischen Teil der Romania dadurch ab, daß das verallgemeinerte -mente als formales Kennzeichen des Adverbs fehlt. Wir begegnen hier zum erstenmal — wenn auch noch ohne das Sardische — dem konservativen südöstlichen Raum des Romanischen, auf den wir im folgenden unter den Nummern 6 und 7 wiederum zurückkommen. (6) Eine der Neuerungen, die alle romanischen Sprachen betreffen, ist der K o n d i t i o n a l , den das Lateinische nicht kannte und der sich im Englischen, im Deutschen und im Russischen parallel entwickelt hat. Der Konditional steht — von Besonderheiten abgesehen - im Vordersatz der hypothetischen Periode (Bedingungssatz). Aber auch seine anderen Verwendungsarten weisen ihn stehts als konditionierten, d.h. von etwas abhängigen Modus aus; so z.B. seine Verwendung als Höflichkeitsform (it. io vorrei „ich möchte"), oder als höfliche Frage (mi daresti? „würdest du mir geben?"). Dasselbe gilt für die Verwendung zur Wiedergabe der Meinung von Dritten (wo der Konditional von eben dieser Meinung abhängig ist) oder von nicht gesicherten Meinungen: it. sarebbe precipitato „es wäre wohl übereilt"; verrebbe domani „er dürfte (soll) morgen kommen". Gebildet wird der romanische Konditional aus dem Infinitiv und dem Hilfsverb „haben": CANTARE HABEBAT > frz. chanterait; sp., pg., okz. und it. dial. cantaria u.a., oder CANTARE HEBUIT (= HABUIT) > tosk. canterebbe („toskanisch" schließt das Italienische als Hoch- und als Schriftsprache mit ein; in Zukunft werden wir einfach vom Italienischen sprechen). Die beiden Teile, aus denen sich der Konditional zusammensetzt, erscheinen im Portugiesischen noch getrennt. Dort kann zwischen den Infinitiv und die Endung ein Pronomen eingefügt werden: vende-los-iamos „wir würden sie verkaufen". (Dasselbe gilt für das Futur: falar-meäo „sie werden mit mir sprechen".) Im Rumänischen, im Sardischen und im Dalmatischen hat sich der Konditional unabhängig gebildet. Im Rumänischen ist das Material dasselbe, die Reihenfolge von Hilfsverb und Infinitiv jedoch umgekehrt: „haben" + Inf., z.B. am dnta „wir würden singen" (aber auch die andere Reihenfolge ist belegt, also cintare am). Noch origineller ist das Sardische, das deppere „müssen" verwendet: deo dia domare, „ich mußte bezähmen". Das Dalmatische hat kant(u)ora < lat. CANTAVERAM, nach einer Ableitung, die früher auch in vielen mittel- und süditalienischen Dialekten zu finden war. Im südlichen Latium gibt es heute noch Formen wie avera, putera (Rohlfs, § 602). Wie man sieht, sind es wieder dieselben Sprachen — diesmal unter Einschluß des Sardischen —, zu denen die gemeinromanische Neuerung nicht vorgedrungen ist. (7) Die romanischen Sprachen haben alle das lateinische F u t u r aufgegeben und

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VII. Merkmale der romanischen Sprachen

verwenden, wie im Falle des Konditionals, im allgemeinen das Hilfsverb „haben", z.B. it. cantera, sp. cantarä < lat. CANTARE HABET. Diese Neuerung ist sehr verbreitet, gilt aber dennoch nicht für alle romanischen Sprachen. In manchen Fällen ist die Erklärung hierfür in einer zweiten Neuerung zu suchen. Das Futur hat die Tendenz, sich immer wieder neu zu bilden. So hat im Französischen je chanterai, das eine ursprünglich periphrastische Form ist, heute aber wie eine synthetische Form wirkt, mit einem neuen periphrastischen Futur zu konkurrieren: je vais chanter. Ähnliche Formen treten in allen Sprachen auf und haben in manchen Dialekten den beschriebenen gemeinromanischen Typ verdrängt. Uns interessieren jedoch die Sprachen, die den gemeinromanischen Typ überhaupt nie übernommen haben. Das sind auch diesmal wieder das Rumänische, das Dalmatische und das Sardische. Das Rumänische hat mehrere Möglichkeiten, das Futur zu bilden: zum einen kann es auf vlat. VOLEO + Inf. zurückgreifen: VOLEO CANTARE > voi cinta (diese Form ist auch in einigen norditalienischen Dialekten gebräuchlich, vgl. Rohlfs, § 592). Eine andere Möglichkeit sieht den Gebrauch von „haben" + Konj. vor: am sä eint, wörtlich „ich habe, daß ich singe". Im heutigen Rumänisch sind alle Personen des Hilfsverbs „wollen" ohne Unterschied zu o geworden; man erhält deshalb das Paradigma; 1. Pers. o sä eint, 2. Pers. o sä cinfi, 3. Pers. o sä einte usw. Das Sardische gebraucht ebenfalls das Hilfsverb „haben", aber auf andere Weise: app'afugghire, wörtlich: „ich habe zu fliehen". Ähnlich scheinen auch die Bildungen einiger süditalienischer Dialekte (siehe Bartoli, I, S. 286; Rohlfs, § 591), und auch das Norditalienische hatte früher ho cone „ich werde laufen", z.B. im Mailändischen des Bonvesin da Riva. Das Dalmatische benutzte die nicht periphrastische Form kantu(o)ra < lat. CANTAVERO, die später mit derjenigen des Konditionals zusammenfiel. Auf dieselbe Form griffen auch einige altitalienische Dialekte zurück (vgl. Rohlfs, § 592). In vielen mittel- und süditalienischen Dialekten schließlich fehlt das Futur ganz. Dies war vermutlich einmal die allgemeine Situation (vgl. Rohlfs, § 589).10 Die bisher untersuchten Eigenheiten haben gezeigt, wie sich das Rumänische gegenüber dem Gemeinromanischen teils durch Konservation, teils durch eigenständige Innovation abhebt. Bartoli hatte also Recht, als er von der „ausgesprochenen Sonderstellung" (spiccata individualitä) des Rumänischen sprach. Im letzten Teil unserer Übersicht (bei den Punkten 5, 6 und 7) haben wir jedoch festgestellt, daß es noch andere Sprachen gibt, die an sonst weit verbreiteten Innovationen nicht teilnehmen. Es handelt sich um das Dalmatische, das Sardische und vielfach auch um einige süditalienische Dialekte. Auf Tafel VI, wo diese Gruppe geographisch kompakt erscheint, ist sie mit dem Buchstaben A bezeichnet. Wir untersuchen nun einige Erscheinungen, die auf der Karte der Romania kontinua einen zentral-nördlichen Raum abtrennen, der zum Teil mit dem traditionellerweise als galloromanisch bezeichneten Gebiet zusammenfällt, oft aber auch etwas größer ist. Es handelt sich um eine innovatorische Zone. Auf ihrem Hintergrund arbeiten wir anschließend diejenigen Innovationen heraus, die mit neueren Eigenheiten (nach dem 13. Jh.) die Sonderstellung einer anderen Sprache, nämlich diejenige des Französischen, begründen. Diese zweite Gruppe ist auf Tafel VI mit dem Buchstaben B bezeichnet. 10

Zum romanischen Futur: P. Valesio, La genesi del futuro romanzo, in: Lingua e stile 4 (1969), S. 405^12; The Romance Synthetic Future Patterns and its Attestations, in: Lingua 20 (1968), S. 113-161 und 279-307.

2. Eigenheiten der romanischen Sprachen: Personalpronomen, Negation

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(8) Wie im Lateinischen, so kann auch in den romanischen Sprachen das Pers o n a l p r o n o m e n in Subjektfunktion fehlen. „Peter ist gekommen. Es geht ihm gut." heißt auf Italienisch E venuto Pietro. Sta bene., auf Spanisch Ha venido Pedro. Esta bien., im Rumänischen A venit Petru. Face bine., und entsprechend in den anderen romanischen Sprachen. Das Pronom egli (oder lui) braucht in diesen Fällen nicht gesetzt zu werden. Es ist nur dann obligatorisch, wenn ein Gegensatz hervorgehoben werden soll, wie z. B. in dem Satz „Seine Frau ist krank, aber er ist wieder gesund": Sua moglie e malata, ma lui e guarito, und nicht. . . ma e guarito, oder wenn das Subjekt weit entfernt ist. Dies gilt jedoch nicht für alle romanischen Sprachen. Bei einigen ist die Pronominalisierung obligatorisch, wie z. B. im Englischen oder im Deutschen. Sie haben sich damit vom lateinischen Modell und vom gemeinromanischen entfernt. Im Französischen muß man sagen: Pierre est venu. II se porte bien. Man kann darin einen Ausgleich für den Verlust anderer Morpheme sehen, die die Übereinstimmung des Verbs mit dem vorhergehenden Subjekt markierten, je, tu, il usw. wären dann fast als Präfixe zu betrachten. Doch haben einige galloitalischen Dialekte Norditaliens und auch das Grödnerische und das Friaulische die Pronominalisierung ohne diese Bedingung obligatorisch gemacht. Ein Beispiel dafür ist grödn. eimaia 'n meil„er ißt einen Apfel", wo ei bligatorisch ist. Es gibt manchmal auch eine doppelte Reihe von betonten und unbetonten Pronomen, die direkt hintereinander gesetzt werden, z.B. friaul. tu tu dizis, venezisch (veneto) ti te dizi, „du sagst"; in wieder anderen Fällen ist nur das unbetonte Pronomen obligatorisch: friaul. quan ehe tu dizis, venezisch quando ehe te dizi „wann du sagst". Das Französische und ebenso das Grödnerische, das Emilianische u.a. setzen das Pronomen auch vor den unpersönlichen Verben des Typs „regnen": frz. ilpleut, grödn. / pluef, friaul. al plüf, emil. al piof. Alle anderen romanischen Sprachen haben wie das Lateinische als Subjekt ein Nullmorphem 0, it. piove. (9) Wie bei einem großen Teil nicht nur der indogermanischen Sprachen, steht im Lateinischen und im allgemeinen auch in den romanischen Sprachen die N e g a tion unmittelbar vor dem Verb: lat. non intelligit, it. non capisce usw. Andere Sprachen, wie das Deutsche, das Englische, das Türkische und das Tatarische, stellen die Negation nach.11 Aber nicht immer besteht die Negation aus nur einem Element: wird sie durch ein weiteres, z.B. durch ein temporales ergänzt, dann befindet sich dieses in den romanischen Sprachen hinter dem Verb: it. non capisce mai „er begreift nie". Im Lateinischen ging die Negation dem Verb voraus; in gewissen Fällen bildete sie eine einzige komplexe Negation, z. B. numquam. Dieses Phänomen muß mit der unterschiedlichen Stellung des Verbs im Lateinischen in Zusammenhang gebracht werden (s.u. Nr. 12). Das Altfranzösische hatte die gemeinromanische Form der Negation: il n'a en vous leaute (Chatelaine de Vergi, 158; zitiert bei L. Foulet, Petite syntaxe de l'ancien franqais, Paris 1958). Dieser Zustand hat sich in einigen feststehenden Verbindungen des Neufranzösischen (z.B. n'importe) oder in bestimmten Wendungen des literarischen Stils (il ne cesse de parier) noch erhalten. Sonst ist stets ein zweites Element obligatorisch geworden, z.B. pas oder point, das die Negation heute im wesentlichen ausdrückt und an der Stelle steht, die im Italienischen z. B. mai „nie" einnimmt. Man sagt französisch il Ne comprend PAS wie it. NON capisce MAI 11

Tesniere, Elements, § 88.

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VII. Merkmale der romanischen Sprachen

oder frz. UNE comprend JAMAIS. Man kann deshalb sagen, daß die französische Negation durch ein Zirkumfix gebildet wird.12 Aber es ist nicht notwendig, z.B. mit Tesniere anzunehmen, diese Negation unterscheide sich qualitativ von derjenigen anderer Sprachen und entspreche einem besonderen psychologischen Mechanismus. In Wirklichkeit handelt es sich, wie wir gesehen haben, um die Extension eines echt romanischen Schemas. Die neufrz. Umgangssprache ist noch weiter gegangen und hat das ganze Gewicht der Verneinung auf das zweite Element verlegt. Der Weg führt von je ne sais über je ne sais pas zu je sais pas [jsepa], und entsprechend zu j'ai vu personne.13 Auch die Entwicklung in einigen norditalienischen Dialekten ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Vom Norden bis in den Süden ist ein zweites semantisch leeres Element der Negation außerordentlich verbreitet: lomb. miga, minga, ven. emil. miga, mia, bologn. brisa, tose, mica, salent./i'/w usw.14 Dieses zweite Element wurde in manchen Fällen (wie in der französischen Umgangssprache) allein verbindlich. Das ist der Fall im Lombardischen (capissi minga „ich verstehe nicht"), im Piemontesischen (capissu nerj) usw. Auch die italienische Umgangssprache hat capisco mica, das Okzitanische voli pas „ich will nicht", sähe pas „ich weiß nicht". Diese Entwicklung des Französischen ist also nicht so ausgesprochen originell, auch wenn sie die ursprüngliche Situation genau umgekehrt hat; es gibt romanische Parallelen. Angesichts der genannten Belege aus den italienischen Dialekten interessiert vielmehr die Tatsache, daß die französische Schriftsprache in einem Zustand stehen geblieben ist, der sich beim Sprachvergleich als eine Art Übergangsphase erweist. (10) Die Frage wird in den romanischen Sprachen in der Regel lediglich durch eine besondere Intonation gebildet. Im Italienischen z. B. gibt es eine Opposition zwischen non hanno terminate? „sind sie nicht fertig?" und non hanno terminate „sie sind nicht fertig". Wir stellen sie, Agard und Di Pietro folgend, annähernd und etwas künstlich folgendermaßen dar: 2 2

non hanno termi3 nato3 f non 3hanno termi' nato' J,

Mit l, 2 und 3 bezeichnet man die aufeinanderfolgenden Grade der Tonhöhe (phonetic pitch), also tief, mittel hoch. | zeigt das Heben, J das Senken der Stimme am Satzende an.15 Dies ist das Grundschema der Frage. Die einzige Sprache, die nur einen recht beschränkten Gebrauch davon macht, ist das Französische, wo die beiden Alternativsysteme — Inversion oder obligatorische Setzung eines Fragemorphems — stärker als in den anderen romanischen Sprachen ausgebildet sind. Die obligatorische Inversion ist eine Innovation des Neufranzösischen. Dort muß hinter dem Verb stets ein Personalpronomen stehen: etait-il malade? Les enfants v Wendt, Sprachen, Frankfurt/M. 1961,5.252. P. Guiraud, Le franqais populaire, Paris 1965, 31973, S. 70-71. Tesniere, Elements, S. 231, weist auf den Parallelismus zur Entwicklung im Deutschen hin, wo nicht auf das Verb folgt, nachdem im 13. Jh. der erste Teil der Negation, en, fortgefallen war. 14 Rohlfs, Historische Grammatik, Bd. III, § 967; vgl. Meyer-Lübke, Grammatik der romanischen Sprachen, Bd. III (Syntax), Leipzig 1899, § 697. 15 F. B. Agard und R. J. di Pietro, The Sounds of Italian and English, Chicago-London 1965, S. 59 ff.

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2. Eigenheiten der romanischen Sprachen: Frage, Partitiv

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seront-ils satisfaits? Quand reviendra-t-il?™ Manche norditalienischen Dialekte haben eine vollkommen identische Fragestruktur, z. B. venezisch sestu (situ) mala? „bist du krank?" zelo mala? „ist er krank?" (-lo ist das suffigierte Pronomen der 3. Person). Dasselbe gilt für das Lombardische, das Emilianische und ebenso für das Grödnerische und das Friaulische.17 Und nun zum zweiten System. Das Fragemorphem ist im Französischen est-ce que: Est-ce qu'il etait malade? Quand est-ce qu'il reviendra? usw. Aber auch in diesem Fall steht das Französische nicht alleine da. Viele Sprachen haben unabhängig voneinander Frageformen dieser Art ausgebildet,18 so das Rumänische (pare und andere), das Italienische (tosk. o, römisch ehe, o ehe, zentralsardisch a). Hier einige Beispiele für den Gebrauch des Fragemorphems o aus einer Sammlung von Dialekttexten (wobei wir uns für einmal auf ein elementares phonetisches Transkriptionssystem beschränken): Pisa: o kkwant aj tokkato? „wie alt bist du?"; o mmi difi mpypo ome fa ...? „sagst du mir einmal, wie ich es machen muß ...?"; o kke tt o fatto kwark infederta? „habe ich dir gegenüber eine Treulosigkeit begangen?"; ke ttf e fortse kwarke kjsa da maravijasse? „ist daran denn etwas Verwunderliches?"19 Doch scheinen diese Formen nie, wie im Französischen, obligatorisch zu sein. Andererseits hat auch das Grödnerische eine obligatorische Fragepartikel entwickelt: pa (< lat. POST), z. B. ruvapa Istudent? „Kommt der Student?" Das Französische hat also eine auch in anderen romanischen Sprachen feststellbare Tendenz vorangetrieben, die Intonation mit der Frage nicht so sehr zu belasten. Zweifellos war dabei auch die Lautstruktur ausschlaggebend. So wie das Französische keinen eigentlichen Wortakzent aufweist, verhält es sich vielleicht auch in der Satzintonation anders als die anderen romanischen Sprachen. Die Bildung der Frage mit Hilfe der Inversion ist jedoch eine umfassendere Eigenheit, die uns wiederum zur Gruppierung des Zentrums-Nord zurückführt. (11) Eine andere Neuerung, die den ganzen galloromanischen Raum betrifft, sich diesmal aber darüber hinaus auch auf das Toskanische und infolgedessen auf die italienische Schriftsprache erstreckt, ist der T e i l u n g s a r t i k e l , der formal als Plural des unbestimmten Artikels erscheint: frz. des ga^ons jouaient, it. dei bambini giocavano. Diese Form ist die Ausweitung einer Verwendungsform des Partitivs, die schon im Vulgärlatein bezeugt ist: Gregor von Tours, Inl. 24, S. 575,9: desancta cera super earn posui. Diesen Gebrauch, wie er sich besonders bei Substantiven findet, die Stoffe (vor allem Lebensmittel) bezeichnen, findet man im Spanischen, im Sardischen, im Dalmatischen und in den süditalienischen Dialekten — nicht aber im Rumänischen. Er erstreckt sich offensichtlich über große Gebiete des romanischen 16

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19

Dieser Gegenstand wurde in seiner ganzen Komplexität untersucht von R. Kayne, L 'inversion du sujet en franqais dans les propositions interrogatives, in: Le f ra^ais moderne 41 (1973), S. 10 ff. und 131 ff., engl. in: Generative Studies in Romance Language, hg. v. I. Casagrande und B. Saciuk, Rowley (Mass.) 1972. Meyer-Lübke, Grammatik II, § 325. Man beachte, daß das Okzitanische nur die Intonation kennt: venon? „kommen Sie?"; Son prestis los bious? „sind die Ochsen bereit?" (J. Salvat, Gramatica occitana, Toulouse 31973, S. 132). Vgl. J. A. Ronjat, Grammaire istorique des parlers provenqaux modernes, Bd. IV, S. 621 ff., wo die geographischen Grenzen der Inversion genau bestimmt sind. Meyer-Lübke, Grammatik III, § 519. Nicht alle Angaben sind richtig. It. mal und sp. pues sind nicht interrogativ. C. Battisti, Testi dialettali italiani, Teil II: Italia centrale e meridionale, Halle/S. 1921, S. 28 und 63. Für das Sardische M. L. Wagner, La lingua sarda, Bern 1951, S. 367-69.

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VII. Merkmale der romanischen Sprachen

Sprachraums. Aber nur im Französischen, im Okzitanischen, im Norditalienischen (und im Toskanischen, wo er jedoch nicht obligatorisch ist) hat er die oben beschriebene Rolle übernommen, die der formalen Kennzeichnung der Unbestimmtheit im Plural dient. Im Französischen bezeichnet man anderen Auffassungen zufolge nur die Formen du, de la, de i als Teilungsartikel, die vor Substantiven mit den Merkmalen [+ Kontinuierlich] und [± abstrakt] auftreten. Im Plural wäre der Teilungsartikel demnach neutralisiert, d.h. die Form des ist nur die Mehrzahl des unbestimmten Artikels un, une.20 Bevor wir Eigenheiten untersuchen, die die Individualität des Französischen allein ausmachen, müssen wir nach der Bedeutung der bisher festgestellten Übereinstimmungen fragen. Der geographische Raum deckt sich, wie gesagt, zum Teil mit demjenigen des Galloromanischen. Diese Gliederung beruht traditionellerweise auf dem Vorhandensein von makroskopischen Merkmalen der Phonologic, z. B. von /y/ und /«/. Aber nicht einmal unter diesem Gesichtspunkt deckt sich die Verbreitung dieser Merkmale so gut mit der Ausdehnung der dichtesten keltischen Besiedlung, daß Ascolis These von der „Reaktion des Substrats" dadurch maßgeblich hätte gestützt werden können. Schreibt man, wie es logisch erscheint, die genannten Innovationen eher solchen Phasen der Entwicklung zu, deren Ursachen jüngeren Datums sind, dann fehlen bislang noch die wesentlichen Bezugspunkte. Die Chronologie ist vor allem im Norditalienischen unklar. Die historischen Grundlagen für diese Einheit sind schwierig auszumachen. Andererseits denkt man nicht gern an zufällige Konvergenzen, ohne gleichzeitig gemeinsame, irgendwie geartete außerlinguistische Stützen mit in Anspruch zu nehmen. (12) Im Lateinischen und in den romanischen Sprachen gibt es viele Möglichkeiten, die Syntagmen im Satz zu ordnen. Aber nicht alle Anordnungen (oder W o r t f o l gen) sind gleichwertig, auch wenn man annehmen muß, daß es für alle Anordnungen — soweit sie zulässig sind — gute Gründe gibt. Die lateinischen Autoren weisen zwar eine große Vielfalt in der Wortfolge auf, aber es ist dennoch nicht richtig, von der „Freiheit" des Lateinischen in bezug auf den Satzbau zu sprechen, wie es gelegentlich geschieht. Gegenüber der Vielfalt Ciceros hat ein nüchterner klassischer Autor wie Caesar in 90 % der Fälle eine Wortfolge mit dem Verb am Ende.21 In einem Satz mit Subjekt (S), Verb (V) und Objekt (O) war die normale lateinische Wortfolge SOV. Die romanische ist SVO. Man vergleiche lat. Caesar omnem agrum Picenum percurrit (Caes., B.C. I, 15,1) mit it. Caesare percorre ogni parte del territorio del Piceni (und entsprechend in den anderen romanischen Sprachen). Aber bereits die Geschichte des Lateinischen zeigt vom archaischen bis zum Spätlatein eine zunehmende Annäherung an den zweiten Typ.22 Die normale romanische Wortstellung hatte sich offenbar eindeutig durchgesetzt. Es gibt hier ursprünglich keine Unterschiede zwischen den einzelnen romanischen Sprachen: sie setzen alle das Spätlateinische fort. Alle Sprachen besitzen jedoch neben der nichtmarkierten Wortfolge, die man auch als die normale bezeichnet, andere, sog. markierte Wortfolgen. Es ist insbe20 21 22

H. Weinrich, In Abrede gestellt: der Teilungsartikel in der französischen Sprache irr Festschrift Fiel, Heidelberg 1969, S. 218-23. J. Marouzeau, L'ordre des mots dans la phrase latine, Paris 1938, bes. S. 46 f. Marouzeau, a. a. O., S. 103.

2. Eigenheiten der romanischen Sprachen: Wortfolge

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sondere immer möglich, bestimmte Syntagmen (z.B. Ergänzungen verschiedener Art, Adverbien und auch das Akkusativobjekt, vor allem, wenn es über eine eigene Form verfügt) an den Anfang des Satzes zu verlegen, wo sie besonders hervorgehoben werden. Dabei wird gleichzeitig auch die Satzmelodie verändert. Betrachten wir die Intonation von Vado a Roma col treno „Ich fahre mit dem Zug nach Rom" als normal, dann stellen wir fest, daß die Intonation von Col treno vado a Roma völlig anders ist (und daß wie im Deutschen das Syntagma am Satzanfang stark hervorgehoben wird: col treno vado a Roma, oder im Spanischen: por tren voy a Roma usw.). Eine derartige Wortfolge wird durch einen Kontext bedingt, wo das betreffende Syntagma im Kontrast steht, z.B. italienisch: Te l'ho detto mille volte. Col treno vado a Roma, non con la macchina. „Ich habe es dir tausendmal gesagt. Mit dem Zug fahre ich nach Rom, nicht mit dem Auto". Diese Möglichkeit gibt es nicht in allen Sprachen. Sie fehlt im Französischen (*Par le train, je vais a Rome), und außerhalb des Romanischen, im Englischen. Eine andere Möglichkeit der romanischen und mancher nicht romanischen Sprachen (z.B. des Russischen, des Tschechischen und anderer slawischer Sprachen) besteht darin, intransitive Verben dem Subjekt voranzustellen, ohne daß dabei eine merkliche Veränderung in der Intonation eintritt. Man denke an Sätze wie it. arriva Carlo; e passato autobus (mit Entsprechungen in praktisch allen romanischen Sprachen: sp. llega Carlos; ha pasado el bus; rum. vine Carol; a trecut autobuzul). Es handelt sich um eine Wortfolge, die von der „Neuheit" (Novum vs. Notum) des ganzen Satzes oder des Subjekts abhängt. Die sprachliche Kommunikation besteht immer aus Teilen, die schon bekannt sind und die man als gegeben betrachten kann, und aus solchen, die neu sind. Diese Polarität schlägt sich in den einzelnen Sprachen und vor allem in der Wortfolge mehr oder weniger deutlich nieder. Einen geeigneten Kontext, um die Neuheit eines ganzen Satzes herauszustellen, hat man dann, wenn man den Satz von der Frage Che cos'e successo? „was ist geschehen?" abhängig macht. Die einzig mögliche Antwort auf diese Frage lautet: arriva Carlo; e passato l'autobus, indes die Grundstellung (*Carlo arriva; *l 'autobus e passato) nicht zulässig ist. Ein Kontext, der geeignet ist, die Neuheit des Subjekts zu erfahren, ist die Frage: chi arriva? „wer kommt an?"; ehe cosa e passato? „was ist vorbeigefahren". Auch hier sind die zulässigen Antworten (mit neutraler Intonation): arriva Carlo; e passato l'autobus. Es gibt also Fälle, in denen die Folge VS obligatorisch ist. Was für das Italienische und die anderen Sprachen der Romania kontinua gilt, gilt auch für italoromanische Sprachen und Dialekte des Nordens, mit dem Zusatz allerdings, daß in einigen davon ein unpersönliches Pronomen genau so obligatorisch gesetzt werden muß wie im Deutschen die Partikel es. So sagt man im Ladinischen (grödn.) / ruva l student, l ruva n Student wie auf deutsch es kommt der/ein Student. Im Französischen ist dies nur mit Einschränkungen möglich, d.h. nicht bei allen Verben und nur bei unbestimmtem Subjekt: U arrive un etudiant, und nicht *il arrive l'etudiant. Das Französische ist deshalb diejenige romanische Sprache, die — wie 23

GruppodiPadova: L'ordine deisintagminella fräse, in: SocietädiLinguisticaltaliana(SLI), Fenomeni morfologici e sintattici nell'italiano contemporaneo, Rom 1974, S. 147-161. Zu den Begriffen „markiert" und „nicht-markiert" s.u., S. 126. Ferner: A. und G. Lepschy, The Italian Language today, London 1977, S. 152—55; F. Antinucci, G. Cinque, Sull'ordine delle parole in italiano: l'emarginazione, in: Studi di grammatica italiana 6 (1977), S. 121-46.

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VII. Merkmale der romanischen Sprachen

das Englische im Germanischen — die Möglichkeit, die Wortfolge in bezug auf Novum vs. Notum im Satz zu variieren, am meisten beschränkt hat. (Fügungen wie suivent les exemples... oder U suffit qu'intervient la musique... sind Überbleibsel eines älteren Systems, das mit demjenigen der anderen romanischen Sprachen noch übereinstimmt). Das Altfranzösische war noch mit den anderen romanischen Sprachen solidarisch.24 Eine kodifizierte Inversion wie diejenige vom Typ dit-il (als Einschub in die direkte Rede: z.B. Je viendrai, dit-il, si tu le veux) gehört noch zum alten System. Das moderne Französisch besitzt im übrigen noch viele andere Besonderheiten, die wir hier nicht in Betracht ziehen.25 Worauf es ankommt, ist die Tatsache, daß diese Beschränkung, zusammen mit den kodifizierten Inversionen (wie dit-il oder die Inversion nach au moins, peut-etre u. a.) die Wortfolge im Französischen weitgehend voraussehbar macht. Dieses Faktum gehört wiederum in den Zusammenhang der Phonologie, wo das Französische dazu tendiert, das Wort als Bedeutungseinheit zu Gunsten von phonosyntaktischen Einheiten (motphonetique) aufzugeben (vgl. Nr. 14). Die Festlegung der Wortstellung im Satz erscheint deshalb als eine Art von Ausgleich im Rahmen der vorhandenen Strukturen. (13) Zu den Möglichkeiten der Nominalableitung gehört auch die D i m i n u t i v b i l d u n g . Dabei geht es nicht immer darum, die Kleinheit auszudrücken. Es gibt eine semantische Opposition vom Typ coltello: coltellino „Messer" : „kleines Messer (Messerchen)", aber auch eine solche vom Typ erba : erbetta „Gras" : „feiner, dichter Rasen", caffe : cafferino (caffeino, caffettino) „Kaffee" : „Käffchen" usw., die eher eine affektive Haltung der Sprecher ausdrückt, weshalb man hier auch von hypokoristischen Bildungen spricht. Der Nexus zwischen dem Diminutiv und dem Hypokoristikum ist offenbar — aufgrund gemeinsamer psychologischer Grundlagen - so weit verbreitet, daß es sich nicht lohnt, auf den Variationen zu beharren. Wir sprechen deshalb einfach vom Diminutiv. Das Lateinische benutzte dabei gern Suffixe wie -ulus und -illus. Im Romanischen gibt es verschiedene andere Suffixe: spanisch in unterschiedlicher geographischer Distribution -ito (sombrerito „Hütchen"; animalito „Tierchen"), -illo (chiquillo „kleines Kind"), -ico (cantarico „kleine Kanne"), -uelo (mozuelo „kleiner Junge") und Variationen wie panecillo „Brötchen" von pan; Rumänisch -el (iepurel „Häschen"), (pomi$or „Bäumchen") usw. Das Neufranzösische ist die einzige romanische Sprache, die keine Diminutivformen mehr besitzt, obwohl diese im Altfranzösischen noch recht zahlreich waren. Heute sagt man petit Pierre (it. Pierino, sp. Pedrito). Das Französische hat auf diese Weise das Englische eingeholt, wo man little boy und small boat sagt (was z. B. im Italienischen ragazzino und barchetta heißen würde). (14) Betrachten wir nun die Konsistenz des Wortes auf der Ebene des Signifikanten, d.h. als formale Einheit, die durch das Vorhandensein von mindestens einem Akzent und von (mehr oder weniger fakultativen) syntaktischen Pausen am Anfang und am Ende begrenzt ist: it.#viene#Carlo#; sp.#viene#Carlos# usw., dann verhalten sich Artikel, Präpositionen nicht wie die anderen Wörter, sondern sind im allgemeinen enklitisch (z. B. it. dargli „ihm geben", pg. eu deilhe o 24 25

L. Foulet, Petite syntaxe de l'ancien frangais, Kap. IV. Vgl. M. Grevisse, Le bon usage, Paris 1961. Vgl. auch R. S. Kayne, French Syntax, Cambridge (Mass.) 1975.

2. Eigenheiten der romanischen Sprachen: Diminutiv, Akzent

12 l

livro „ich gab ihm ein Buch") oder proklitisch (it. „man sagt" si dice = #sidice#). Der Platz des Akzents ist in den romanischen Sprachen phonologisch relevant. Vgl. it. ancora: ancora; sp. änimo : animo : animo („Seele, Mut" : „ich ermutige" : „er ermutigte); dasselbe gilt für das Portugiesische, das Katalanische und das Rumänische. Einzig das Neufranzösische hebt sich deutlich von diesem Gesamtbild ab. Einzeln genommen, haben die Wörter zwar einen festen Akzent auf der letzten Silbe: coquelicot/[ksk3\i'ko]; confetti [k5fe'ti] usw. Aber er ist nicht relevant, weil er stets auf der letzten Silbe liegt. Als Charakteristikum des Wortes gibt es den Akzent im Französischen in Wirklichkeit überhaupt nicht. Er fällt im Satz (bzw. in phonosyntaktischen Gruppen) auf gewisse Silben, in die sich die Wörter im geschriebenen Kode (wie ehemals im Altfranzösischen) auflösen lassen. Im folgenden Beispiel zeigen wir zwei Syllabierungen, eine traditionellere und eine modernere, in ihrem Verhältnis zum geschriebenen Kode: il est dangereux de^e pencher au-dehors /i-le-dä-f 39- 01 - d a - s a l - p ä - J e - - da-or l L 3 0 J L d9S J L d30r J Auf der Ebene des Signifikanten ist die Silbe im Französischen eine wichtigere Einheit als das Wort, dessen Grenzen bei der Syllabierung wie bei il est / -1 / oft übersprungen werden. So hat sich das Französische in seiner phonologischen Organisation beträchtlich vom Typ des Romanischen entfernt. Das Altfranzösische war demgegenüber noch mit den anderen romanischen Sprachen solidarisch: traire und pencher waren nicht nur einzeln, sondern auch im Kontext stets das eine, ein zweisilbiges Wort mit dem Akzent auf der vorletzten Silbe f'trajra], das andere ein zweisilbiges Wort mit dem Akzent auf der letzten Silbe [pen'tjer]. Im Zuge der Umstrukturierung vom Alt- zum Neufranzösischen ist das Französische eine oxytone Sprache geworden. Diese Innovation des Französischen muß eine relativ späte Erscheinung sein, wenn es auch kaum möglich ist, den Zeitpunkt ihres ersten Auftretens genau zu bestimmen. Man kann jedoch sagen, das Französische habe sich erst in neuerer Zeit vom gemeinsamen Typ des Romanischen d. h. von der Romania kontinua entfernt, und zwar durch Innovation. Ihr besonderer Charakter sollte anhand der Punkte 12, 13 und 14 klar geworden sein. Wir wenden uns nun abschließend einigen Besonderheiten zu, deren geographische Verteilung für Verallgemeinerungen weniger geeignet scheint. (15) Die iberische Halbinsel (pg. sp. kat.) und auch ein großer Teil Süditaliens (mit Ausnahme von Sizilien)26 sind von einer Neuerung betroffen, nach der für „sein" des Italienischen oder des Französischen, spanisch ser und estar, für „haben" entsprechend Haber und tener eintreten. Diese Innovation ist nicht etwa nur lexikalisch (wie das Eindringen von Formen von STARE in das Paradigma von essere im Italienischen, z. B. mit stato als Part. Perf., und besonders im Französischen: etais < STABAM usw.) Im Spanischen und in den süditalienischen Dialekten stehen sich Formen mit unterschiedlicher Bedeutung gegenüber: soy malo „ich bin böse" : estoy malo „mir geht es schlecht"; während eine Aussage über die Identität oder Zuge26

E. Seifert, Tenere „haben" im Romanischen, Florenz 1935 (in Wirklichkeit auf das Italienische beschränkt).

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VII. Merkmale der romanischen Sprachen

Hörigkeit einer Person oder Sache ser verlangt (somos italianos „wir sind Italiener"), muß bei einer Ortsangabe estar stehen (estamos en casa „wir sind zuhause"). Noch eindeutiger ist der Fall bei tener und Haber, tener deckt den ganzen Bereich von „haben" als Vollverb ab: tengofamüia „ich habe Kinder", tienesfrio „du hast kalt"; (außer beim Gebrauch als unpersönliches Verb, span, hay una novedad „es gibt eine Neuigkeit"). Eine weitere Innovation macht tener im Spanischen zu einem emphatischen Hilfsverb (se lo tengo dicho „ich habe es ihm ja gesagt") und zum einzig möglichen Hilfsverb im Portugiesischen (tem comprado „er hat gekauft", tenho bebido „ich habe getrunken"). (16) Zu den unabhängig voneinander eingetretenen Innovationen, die schließlich einen großen Teil der Romania erfaßten, gehört der Verlust der synthetischen Vergangenheitform, d. h. des passato remoto oder passe simple, wie die Fortsetzung des lateinischen Perfekts im Italienischen bzw. im Französischen genannt wird. Seine Abschaffung vollzog sich zugunsten des zusammengesetzten Perfekts (passato prosimo bzw. passe compose): ho letto, j'ai lu tritt an die Stelle von lessi, je lus. Auf diese Weise werden zwei ursprünglich getrennte Formen und deren Funktion kumuliert. Die Polygenese ist offenkundig, die Herausbildung ging langsam vor sich. Im Rumänischen ist das passe simple auch von der Schriftsprache ausgeschlossen (wird aber da und dort, vor allem in Oltenien, und außerdem im Aromunischen und im Meglenorumänischen noch gebraucht). In Norditalien gibt es vereinzelte Reste, z. B. in den friaulischen Mundarten von Erto und Collina. In Venedig scheint das passato remoto schon im 15. Jahrhundert fortgefallen zu sein.27 Wahrscheinlich muß man überall mit anderen Daten rechnen. Im Katalanischen entstand ein periphrastisches Tempus, das mit dem Modalverb anar „gehen" gebildet wird und das das zusammengesetzte Perfekt nicht ausschließt: va cantar „er sang" gegenüber ha cantat „er hat gesungen". Das Perfekt ist auch in der Mehrzahl der sardischen Mundarten verschwunden.28 Im Dalmatischen erfolgte sein Schwund unter dem Einfluß des Venezianischen (und des Serbokroatischen) (Bartoli II, § 479). In der französischen Literatursprache, wie auch im Italienischen, ist das passe simple eine typische Form der historischen Erzählung geworden (so daß Roland Barthes in einem scharfsinnigen Essay schreiben konnte: „in der gesprochenen Sprache erloschen, ist das passe simple, Eckstein der Erzählung, stets das Zeichen einer künstlerischen Absicht; es gehört zu einem Ritual der schöngeistigen Literatur".29 Die Tatsache, daß eine synthetische Form von einer analytischen verdrängt wurde und daß dies in verschiedenen Sprachen größtenteils unabhängig erfolgte, zeigt deutlich, daß es sich um die Fortsetzung derselben romanischen Tendenz handelt, die schon beim Futur am Werk war. Von diesem innovatorischen Druck scheinen das Spanische, das Portugiesische, das Mittel- und Süditalienische sowie das Toskanische ausgeschlossen zu sein. Das Katalanische scheint sich formal dem innovatorischen Block anzuschließen. Inhaltlich gesehen hat es aber die Unterscheidung von zwei unterschiedlichen Vergangenheitstempora trotz dem Verlust der alten Formen lediglich neu gestaltet. (17) Eine geographische Gliederung, die sich von allen bisher betrachteten unterscheidet, erhält man, wenn man die Art der Pluralbildung berücksichtigt. Die 27 28 29

M. Skubic, Contribute alia conoscenza delpretento nell'area veneta, in: Studi di grammatica italiana l (1971), S. 116 f. - Zum Katalanischen G. Colon, in: Trav. Li. Li. (1975). Das Perfekt überlebt nur im nördlichen Logudoresisch (A. Sanna, Introduzione, S. 105). R. Barthes, Le degre zero de l'ecriture, Paris 1965.

2. Eigenheiten der romanischen Sprachen: Auxiliation, Plural

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Numerusalternanz wird im Romanischen grundsätzlich auf zwei Arten ausgedrückt, mit -s oder durch vokalischen Wechsel. Diese Unterscheidung teilt die Romania in eine westliche Gruppe mit -s, die sich allerdings keilförmig bis nach dem Friaul vorschiebt, und eine mittlere und östliche Gruppe. Auf der einen Seite hat man also pg. cavalo : cavalos, cabra : cabras; sp. caballo : cabaüos, cabra : cabras; kat. cavall: cavalls, cabra: cabras; prov. caval: cavals, cabra: cabras; sard, kaddu: kaddos, kraßa : kraßas; obwald. cavagl: cavagls, caura : cauras, auf der anderen das Italienische mit allen seinen Dialekten, cavallo : cavalli; capra : capre, und das Rumänische mit cal: cäi, capra : capre. Beides sind direkte Forsetzungen des lateinischen Numerussystems. Woher sich der italienische und der rumänische Typ jedoch genau ableiten, ist noch keineswegs geklärt.30 Vielleicht war für den Plural auf -s der Typ parentes der 3. lateinischen Deklination, für den vokalischen Plural der Typ lupi der 2. Deklination verantwortlich. Einige Sprachen scheinen sich in ihrer jüngsten Entwicklung aus dem ursprünglichen Verband gelöst zu haben. Rein synchronisch gesehen, scheint das Französische nicht mehr zum Typ auf -s zu gehören. Am häufigsten wird der Plural heute dadurch angezeigt, daß die Funktion auf den Artikel übertragen wird, indes das Substantiv selbst unverändert bleibt.31 le livre /blivr/ : les livres /lelivr/. Dagegen ist das Auftreten des Morphems [z], das für das frühere -s steht, nur in besonderen Kombinationen zu finden: quelque ami /kelkami/ gegenüber quelques amis /kelkzami/, des amis /dezami/. Im Rahmen der generativen Morphologie versuchte Schane, das -s in der Tiefenstruktur anzusiedeln, um eine einheitliche Erklärung für die Vielfalt der Pluraltypen zu geben. Schane verwendet dazu allerdings keine diachronischen, sondern nur synchronische Kriterien.32 30

31 32

Vgl. F. Sabatini, Suü'origine dei plurali italiani: U tipo in -i, in: Studi linguistic! italiani 5 (1965), S. 5-39. Das andalusische Spanisch scheint auf den ersten Blick nach dem Fortfall des -5 vom ersten zum zweiten Typ hinübergewechselt zu haben: aus el pie: los pies wird el pie: pif., wodurch die Opposition von geschlossenem und offenem Vokal relevant wird (E. Alarcos Llorach, Fonologia espanola, Madrid 41968, S. 278 ff.). Es ist jedoch auszuschließen, daß sich dasselbe vor langer Zeit auch im Italienischen und im Rumänischen, die beide -i haben, (z. B. it. piedi) ereignet hat, da /-i/ sich niemals aus /- / herleiten kann. Auch in einigen provenzalischen und ladinischen Dialekten (z.B. bei la femo: lifemo „die Frau: die Frauen" im eigentlich provenzalischen Dialekt) ist das -s ganz oder zum Teil weggefallen, was vokalische Wechsel zur Folge hatte, die sich allerdings ebenfalls von älteren unterscheiden. Man muß also annehmen, daß die altromanischen vokalischen Pluralformen von den vokalischen des Lateins abstammen, d. h. daß der Typ LUPI (Nom. Pl.) auf alle Kasus und auf alle Deklinationen übertragen wurde. Es besteht deshalb hier kein Zusammenhang mit den oben besprochenen modernen vokalischen Pluralen. Man beachte, daß die ladinischen Mundarten neben dem üblichen Plural auf -s auch a l t e Formen mit vokalischem Wechsel aufweisen. Im Sinne dieser Kompromißlösung belegen diese eine Gegenüberstellung, die eine Entwicklungsaltemative in den Teilen der Romania beinhaltet, die in diesem Raum aneinander angrenzten. Vgl. P. Benincä und L. Venelli, Ilpluralefriulano. Contribute allo studio delplurale romanzo, in: Revue de linguistique romane 42 (1978), S. 241-92. J. Dubois, Grammaire structural, S. 24 ff. S. A. Schane, Generative Phonology, Englewood Cliffs (N. .) 1973, Kap. I. Vgl. Kap. IX, § 3.

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VII. Merkmale der romanischen Sprachen

Die hier für das Französische angestellten Überlegungen wären mutatis mutandis auch für die Sprachen mit vokalischem Plural von Interesse. Viele davon haben jetzt konsonantische Wechsel, weil die Auslautvokale geschwunden sind. Es liegt auf der Hand, daß man in der Tiefenstruktur einen vokalischen Plural ansetzen muß. Wir beschränken uns hier auf einige knappe Daten. Wie das Französische hat auch das Lombardische Pluralformen, die im Ausdruck gleich dem Singular sind: lomb. (Como) skarp, fiur (it. scarpa, -e „Schuh(e)", fiore, -i „Blume(n)"). Konsonantische Wechsel gibt es in einigen Spielarten des Piemontesischen, z. B. grys, it. grosso „dick": gryf it. grossi. Sehr verbreitet ist auch der Umlaut, mit dessen Hilfe die Unterscheidungsfunktion auf den Tonvokal übertragen wird: piem. tatf:titf, it. tetto : tetti „Dach, Dächer". Hier hat das später fortgefallene -/ des Plurals die Veränderung des Tonvokals bewirkt. Im Rahmen der generativen Morphophonologie könnte es deshalb zweckmäßig sein, ein -i in der Tiefenstruktur zu postulieren und es in der Oberflächenstruktur transformationell zu tilgen. Das Dalmatische hatte Oppositionen wie pwark : pwartf „Schwein(e)" und djant: djantf „Zahn, Zähne" (Bartoli, § 500). Den pluralischen Umlaut kennt auch das Rumänische: §arpe: §erpi „Schlange(n)". Am wichtigsten ist dabei allerdings die Tatsache, daß der Schreibung $erpi die Lautung [§erpj] mit palatalisiertem Konsonant entspricht. Diese Oppositionen bilden heute die verbreitetste Form des Plurals im Rumänischen. Der Schnitt, den die traditionelle Romanistik mit dem Kriterium der Pluralbildung durch die Romania legte, stimmt mit den oben festgestellten Gliederungen nicht überein. Als man dieses Kriterium zum entscheidenden Test für die Unterteilung der Romania machte, wurde es überbewertet.

Achtes Kapitel

Die Semantik

1. In diesem Kapitel soll versucht werden, einen kurzen Überblick über die Semantik zu geben, und zwar sowohl unter allgemeinen Gesichtspunkten als auch speziell im Hinblick auf die romanischen Sprachen. Die Semantik ist bekanntlich das am wenigsten entwickelte Gebiet der Linguistik. Dies gilt ohne Frage auch nach den in den letzten Jahren gemachten Fortschritten. Es versteht sich deshalb, daß wir uns hier fast ausschließlich an neue und neueste Arbeiten halten. Die folgenden Ausführungen gehören in den Rahmen der Wortsemantik. Diese Präzisierung ist notwendig, weil nicht nur die Wörter, sondern auch die Sätze Bedeutung haben. Wäre die Bedeutung eines Satzes die bloße Summe seiner Wortbedeutungen, dann hätten die beiden Sätze Paul schlägt Peter und Peter schlägt Paul ein und denselben Sinn (und wer wollte ausmachen, welchen). Wir glauben jedoch, von diesem Aspekt bereits eine Vorstellung gegeben zu haben, und zwar im Zusammenhang mit der Kasusgrammatik von Fillmore, wo auf die Notwendigkeit hingewiesen wurde, Funktionen wie Subjekt, Objekt usw. semantisch zu begründen (Kap. III, § 11). Auch als wir uns mit der Geschichte des lateinischen Genitivs und der Präposition de (Kap. V, § 3) und mit dem romanischen Artikel (Kap. V, § 4) beschäftigten, ging es um Fragen, von denen man sagen kann, daß sie die Bedeutung, genauer hier: die grammatische Bedeutung betreffen.1 2. Die Untersuchung des Wortschatzes befaßt sich nicht notwendig — und befaßte sich auch lange Zeit nicht - mit der Bedeutung, d. h. mit dem signifie oder dem Wortinhalt. Man kann das Lexikon auch vom Ausdruck (signifiant) her untersuchen. So ist die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft in der Etymologie verfahren. Wenn das REW oder ein anderes gebräuchliches etymologisches Wörterbuch z.B. angibt, das lat. BELLUM sei in den zentral- und westromanischen Sprachen durch ein Wort germanischen Ursprungs vom Typ des frz. guerre ersetzt worden, im Rumänischen dagegen durch das ursprünglich slawische räzboi, dann bewegt sich die Untersuchung ausschließlich auf der Ebene des Ausdrucks. 1

Eine präzise Behandlung dieser Unterscheidung (und überhaupt einen anregenden Überblick) bringt Lyons in § 9.5 seiner Einführung. Dazu ferner dens., Semantics, 2 Bde., Cambridge 1977. Für die Semantik (und die Lexematik) gibt es folgende allgemeine Einführungen und Abhandlungen: S. Ullman, Semantics. An Introduction to the science of meaning, Oxford 1962; P. Guiraud, La semantique, Paris 1955; J. Lyons, Structural Semantics, Oxford 1963; G. N. Leech, Towards a semantic description of English, LondonHarlow 1969; Semantics, Harmondsworth 1974; S. Stati, Manuale di semantica descrittiva, Neapel 1978. G. Berruto, La semantica, Bologna 1976. Eine Auswahl von Arbeiten bieten A. und K. Lehrer (Hrsg.), Theory of Meaning, Englewood Cliffs (N.J.) 1970; H. Geckeier, Strukturelle Semantik und Wortfeldtheorie, München 2 1971; (Hrsg.) Strukturelle Bedeutungslehre, Darmstadt 1978. H. E. Brekle, Semantik, München 1972.

126

VIII. Die Semantik

In anderen Fällen ist auch der Inhalt unmittelbar betroffen. Doch behandelt man die eingetretene Bedeutungsverschiebung mit einer gewissen Oberflächlichkeit: das lateinische CABALLUS „Zugpferd", das an die Stelle von EQUUS tritt und das in allen romanischen Sprachen fortgesetzt wird (frz. cheval, it. cavallo, rum. cal usw.), ist zunächst eine besondere Art Pferd, bezeichnet schließlich aber die ganze Gattung. Es gibt auch kompliziertere Fälle: fr. noyer setzt lat. NECARE, it. annegare „ertrinken" die Form AD-NECARE fort; aber derjenige Teil der Bedeutung, der die Todesart, nämlich das Sterben im Wasser betrifft, ist neu. Besonders instruktiv ist der Fall von noir „schwarz". Wenn wir sagen, daß das italienische nero oder das französische noir lat. NIGRUM fortsetzen, dann benötigt man allem Anschein nach nur einige Erklärungen lautlicher Art, die ohne weiteres eben durch die Lautgesetze geliefert werden. Soweit, was den Ausdruck betrifft. Auf der Ebene des Inhalts neutralisieren jedoch nero, noir usw. die im Lateinischen bestehenden Oppositionen von ater : niger. Das lateinische Farbsystem enthält einen markierten und einen nicht-markierten Terminus zum Ausdruck des Glanzes. Im Fall von „schwarz" ist ater der nicht-markierte, also in bezug auf den Glanz neutrale Terminus, während niger markiert ist, da es stets das Merkmal [+ glänzend] enthält. Im Fall von „weiß" bestehen dieselben Beziehungen zwischen dem nicht-markierten albus und dem im Hinblick auf den Glanz markierten candidus.2Man kann also die vollständige Etymologie auf den beiden Ebenen des Ausdrucks (signifiant) und des Inhalts (signifie) folgendermaßen graphisch darstellen:

Lat.

Fr.

ATER

NIGER +

2

noir

Zur Opposition „markiert" vs. „nicht-markiert" R. Jakobson, Signe zero, jetzt in: R. Jakobson, Selected Writings, H: Word and Language, Den Haag-Paris 1971, S. 211-22 (Jakobson weist darauf hin, daß das Prinzip auf Saussure zurückgeht und führt die wichtigste Literatur zum Thema an, hauptsächlich eigene Arbeiten und solche von Ch. Bally). Zu den nachfolgenden Beispielen E. Coseriu, Pour une semantique diachronique structurale, in: Travaux de Linguistique et de Litterature 2 (1964), S. 139-86; Probleme der romanischen Semantik, Tübingen 1965/66. Wichtige Arbeiten zur strukturellen Semantik im Romanischen sind außerdem O. Duchäcek (mit R. Osträ), Etude comparative d'un champ conceptuel, in: Etudes romanes de Brno l (1965) (über das Begriffsfeld „Schönheit" im modernen Französisch) und der allgemeinere Aufsatz: Differents types de champs linguistiques et l'importance de leur exploitation, in: Probleme der Semantik, hg. v. Th. Elwert, Wiesbaden 1968. Ferner: M. Alinei, La struttura del lessico, Bologna 1974 (hauptsächlich über die Tiere, Hund und Pferd, im Italienischen); P. Schifko, Aspekte einer strukturalen Lexikologie, Bern 1977 (über die räumlichen Beziehungen im Französischen); P. Osswald, Wortfeldtheorie und Sprachvergleich, Tübingen 1977.

2. Beziehungen unter Lexemen

Lat.

127 Fr.

ALBUS

CANDIDUS +

blanc

(wo - und + sich auf das Merkmal [glänzend] beziehen). Bekanntlich sind fr. blanc, sp. bianco, pg. branco, it. bianco, in den romanischen Sprachen germanische Lehnwörter. Als blank bezeichnet man z.B. eine Schwertklinge; das Wort stammt mit anderen aus der Sprache der Kriegskunst1, die im Spätlatein stark vom Germanischen beeinflußt war. Dagegen besitzt das Rumänische in dem Wort alb eine Fortsetzung des lat. ALBUS. Trotzdem ist die Treue des Rumänischen zum Lateinischen nur relativ, d.h. sie ist nur auf den materiellen Bereich des Ausdrucks beschränkt: die Reorganisation des Inhalts, derzufolge das Merkmal [glänzend] seine Relevanz verliert, ist im Rumänischen nicht anders als in den übrigen romanischen Sprachen. Die übliche Etymologie kümmert sich nicht um solche Feinheiten. Sie ist präzise, wenn es um die Entwicklung des Ausdrucks geht, macht aber nur ungenaue Angaben über den Inhalt, und selbst dies nur dann, wenn es unbedingt nötig ist. Dieser Analysetyp, der von Jakobson, Bally und Coseriu (von dem das oben zitierte Beispiel stammt) vervollständigt wurde, ist nicht nur diachronisch wichtig. Er dient auch nicht nur der (an sich positiven) Kritik der herkömmlichen Etymologie. Es ist vor allem in der Synchronie und innerhalb von Einzelsprachen, wo der spezielle Typ der p r i v a t i v e n Opposition (mit einem markierten und einem nichtmarkierten Terminus) in seiner ganzen Bedeutung hervortritt. So ist im Italienischen cagna „Hündin" der markierte Ausdruck für das weibliche Geschlecht; doch ist cane „Hund" nicht männlich, wie manchmal vereinfachend gesagt wird, sondern in bezug auf das Geschlecht neutral. Nur in bestimmten Kontexten wird cane männlich, z.B. wenn man das Wort in eine syntagmatische Opposition zu cagna setzt: un cane e una cagna. Wenn man aber sagt ehe bei cane! „Was für ein schöner Hund!", dann sagt man nichts über das Geschlecht des Tieres aus. Es gibt auch Fälle, wo der Kontrast zweier markierter Termini im Singular auftritt, z.B. bambino (m) : bambina (f) „Junge" : „Mädchen"; der Plural, hier bambini „Kinder", ist dagegen nicht-markiert und gilt ohne Unterschied für beide Geschlechter. (Um das nicht-markierte Wort verwenden zu können, muß mindestens ein männliches Lebewesen vorhanden sein, zu dem eine beliebige Zahl von Männchen und Weibchen hinzutritt). Solche Lexeme sind in den einzelnen Sprachen unterschiedlich organisiert. Im Fanzösischen ist enfant im Hinblick auf das Geschlecht nicht markiert. Im Deutschen gibt es neben den zwei oben genannten markierten Ausdrücken einen dritten, nicht markierten, nämlich Kind. Dies entspricht genau dem Schema, das im Lateinischen für die Lexeme homo, vir, femina galt:3 3

Aus Coseriu, Probleme, S. 24.

128

VIII. Die Semantik HOMO

+ VIR

+ FEMINA

Demgegenüber besitzt das Italienische, ebenso wie das Französische und andere Sprachen, nur eine privative Opposition: uomo + donna

Dieser Analysetyp will nicht den Inhalt der Lexeme erklären, sondern vielmehr die Grenzen ihres Gebrauchs abstecken. Es ist für privative Oppositionen charakteristisch, daß der nicht-markierte Terminus gegenüber dem markierten e x t e n s i v ist: cane kann an die Stelle von cagna treten, aber nicht umgekehrt. Wir wollen hier die Grenzen der Anwendbarkeit einer solchen Extension nicht näher untersuchen, sondern uns darauf beschränken, noch einmal zu betonen, daß diese Analyse uns eine formale Eigenschaft eines Teiles des Wortschatzes zeigt, eine Eigenschaft, die sich auf die Begrenzung der Wortinhalte bezieht. Eine andere formale Eigenschaft des Wortschatzes ist der Status der übergeordneten (oder h y p e r o n y m e n ) Lexeme, den ein Lexem gegenüber verschiedenen anderen, als untergeordnet (oder h y pony m) bezeichneten Lexemen einnehmen kann. Hier weist die Sprache dieselbe Struktur auf, wie sie die Logik benutzt, wenn sie eine Klasse darstellt, die eine Anzahl von Individuen enthält. Als Beispiele: Superordiniertes Lexem (Klasse)

: Mahlzeit

Hyponyme (Individuen)

: Frühstück Mittagessen Abendessen

Superordiniertes Lexem

:

Hyponyme

: Korvette Kreuzer Tanker usw.

Schiff

Zuweilen läßt sich über das Vorliegen der Überordnung streiten. Ist Schiff auch gegenüber Dampfer übergeordnet, oder Schuh gegenüber Pantoffel? Am wahrscheinlichsten ist, daß ein und dieselbe Person in zwei verschiedenen Zeitpunkten diese Frage jeweils anders beantworten würde, ja, daß sie ein und dasselbe Wort einmal als übergeordnet gebraucht und ein anderes Mal nicht (und zwar in folgender Weise: Wenn ich sage: „Ich habe zwei paar neue Schuhe gekauft, Mokassins und Pantoffeln", sehe ich Schuhe als übergeordnet an. Wenn ich aber sage: „Was

3. Komponentialanalyse

129

für eine Unordnung: Schuhe, Pantoffeln usw.", dann ist Schuhe nicht übergeordnet, sondern steht auf einer Stufe mit Pantoffeln). Im Hinblick auf die Sprachphilosophie können wir sagen, daß die bisher vorgelegte Analyse versucht, dem Problem der E x t e n s i o n der Lexeme auf die Spur zu kommen, d.h. zu untersuchen, unter welchen Bedingungen ein Lexem auf Referenten (Gegenstände oder Sachverhalte) oder, wie in unserem Fall, auf andere Lexeme, anwendbar ist. Es handelt sich z. B. also darum festzustellen, ob Boot sich auf das Schiff beziehen kann, das gegenwärtig im Hafen liegt und das von unserem Fenster aus zu sehen ist, oder auf Schiff in der Formulierung: „das Boot - und andere Schiffe...", (was im Deutschen nur mit „kleine Schiffe" möglich ist, im Gegensatz etwa zu it. ,,il vascello e altre navi..."). Mit der Extension eines Wortes wird seine Bedeutung nicht bestimmt. Dagegen ist die I n t e n s i o n eines Wortes die Gesamtheit derjenigen Eigenschaften, die dieses Wort haben muß, um auf Gegenstände oder auf andere Wörter anwendbar zu sein. Der Terminus „Intension" präzisiert das, was wir intuitiv „Bedeutung" nennen. Im Grunde ist es die Intension eines Wortes, die über seine Extension entscheidet.4 Ausgehend von den ersten Angaben von Hjelmslev wurde mit dieser besonderen Art von Analyse, die man „semisch" oder „komponentiell" nennt, versucht, das Problem der Intension des Wortschatzes in Angriff zu nehmen. 5 3. Bei den bisher angeführten Beispielen waren die Oppositionen durch unterschiedlich organisierte Merkmale wie [glänzend] oder [männlich] u.a. bestimmt worden. Nun kann man sich vorstellen, daß nicht nur ein Teil der Bedeutung eines Lexems, sondern diese ingesamt in Merkmale zerlegbar ist. Eine solche Perspektive ist faszinierend. Würde dies nämlich zutreffen, dann könnte die große Extension des Lexikons durchsichtig gemacht werden, die Zahl der konstitutiven Merkmale wäre relativ gering oder jedenfalls begrenzt, und der trügerische Eindruck, der Wortschatz sei unbegrenzt, läge nur an den zahlreichen und jeweils unterschiedlichen Arten der „Montage" von Merkmalen. Auf der Ebene der Phonetik stellte sich die Situation vor Jakobson-Fant-Halle genauso dar. Erst das Vorgehen mit Hilfe von distinktiven Merkmalen machte es möglich, die Unmenge der Lautungen auf eine begrenzte Zahl von phonologischen Merkmalen zu reduzieren (Kap. IX, §1). In jüngster Zeit hat man im Rahmen der generativen Grammatik auf dem Gebiet der Komponentialanalyse einige interessante Resultate erzielt, und zwar vor allem in den Untersuchungen von Bendix über Verben verschiedener Sprachen6 und in denjenigen von Bierwisch über eine Gruppe von Adjektiven, die im Deutschen zur Bezeichnung von Länge, Breite, Tiefe usw. dienen.7 4 5

6 7

R. Carnap, Meaning and Synonymy in Natural Language, als Anhang D in der 2. Ausgabe von Meaning and Necessity, Chicago 1956. L. Hjelmslev, Prolegomena to a Theory of Language, Madison 1963, S. 43 ff.; dazu ferner den Bericht in den Proceedings of the 8th International Congress of Linguists, Oslo 1958, S. 636-54 (= Pourunesemantiquestructural, in: Essais linguistiques I, Kopenhagen 1959, S. 96-112 [bzw. Paris 2 1971]). E. H. Bendix, Componential Analysis of General Vocabulary: The Semantic Structure of a Set of Verbs in English, Hindi and Japanese, Bloomington-Indiana-Den Haag 1966. M. Bierwisch, Some Semantic Universals of German Adjectivals, in: Foundations of Language 3 (1967), S. 1-36.

130

VIII. Die Semantik

In vieler Hinsicht unterscheiden sich diese Untersuchungen jedoch kaum von denen der Strukturalisten, und für unsere Zwecke lohnt es sich nicht, auf die Unterschiede einzugehen. Wir haben gesehen, daß die Semantik, oder genauer: jener Teil der Semantik, der das Lexikon betrifft, der Syntax nachgeordnet ist und sie i n t e r p r e t i e r t (nach der Theorie Filimores, Kap. IV, §11, bzw. schon bei Chomsky, Kap. III, § 9 und § 12). Die Semantik ist in gewisser Hinsicht ein eigenständiger Teil der Linguistik. Diese Perspektive allein rechtfertigt es schon, daß der Semantik hier ein eigenes Kapitel gewidmet ist, wie dies auch für die Phonologie geschieht. Daß die Komponentialanalyse der generativen Grammatik, zuweilen ohne daß man sich dessen recht bewußt ist, eine frühere Tadition wiederaufnimmt, kann von niemandem geleugnet werden. Das einzige wirklich Neue besteht darin, daß manche glaubten, um eine Syntax zu konstruieren, müsse man zunächst die g a n z e Wortbedeutung beschreiben. Diese Auffassung vertrat der amerikanische Linguist James McCawley.8 Wir teilen sie jedoch nicht. Zur Erläuterung der Komponentialanalyse wählen wir ein vielzitiertes Beispiel aus dem Romanischen. Es geht um Wörter, die im Französischen das Begriffsfeld siege bilden, d.h. um die „Dinge", auf denen man sitzt, fr. chaise, fauteuil, tabouret, canape, pouf, so wie sie der französische Strukturalist Bernard Pottier untersucht hat:9 avec , . dossier

sur . j pieds

pour I pour avec , . , personne s asseoir bras

., . ... en matenau rigide e

Chaise

+

+

+

+

-

+

Fauteuil

+

+

+

+

+

+

Tabouret

-

+

+

+

-

+

Canape

+

+

-

+

+

+

+

+

+

-

Pouf

(in der Tabelle zeigt + bzw. — das Vorhandensein oder das Fehlen eines Merkmals in der Lexemstruktur an). Was die Einzelheiten dieses Schemas betrifft, erheben sich einige Zweifel. Ist nicht auch ein pouf ohne Beine denkbar? Gesetzt den Fall, wir hätten einen Stuhl ohne Beine, würden wir ihn dann nicht mehr „Stuhl" nennen? Außerdem gilt die für „Kanapee" gegebene Definition auch für „Bank". Man sieht daran, daß das Merkmal, das das Material angibt, noch besser spezifiziert werden müßte: eine Bank ist gewöhnlich aus Holz, ein Kanapee nicht. Natürlich kommt eine Bank immer irgendwie dem Bild nahe, das man sich von ihr macht, selbst wenn sie aus Weidengeflecht oder aus Kunststoff besteht, und dies besonders dann, wenn 8

9

J. D. McCawley, Concerning the Base Component of a Transformational Grammar, in: Foundations of Language 4 (1968), S. 243-269. Vgl. dazu D. Parisi, // linguaggio come processo cognitivo, Turin 1972; D. Parisi und F. Antinucci, Elementi di grammatica, Turin 1973. B. Pottier, Vers une semantique moderne, in: Travaux de Linguistique et de Litterature, 2 (1964), S. 107-137 (und a.a.O., l (1963), S. 9-16) (dt. Übers.: Entwurf einer modernen Semantik, in: Strukturelle Bedeutungslehre, hg. v. H. Geckeier, Darmstadt 1978); vgl. ferner A. J. Greimas, Semantique structurale. Recherche de methode, Paris 1966, S. 37.

4. Status der Merkmale

13 l

sie sich in einem Garten oder in einem Park befindet. Dies ist ein Punkt, der zur Zeit wohl nicht in die Merkmalanalyse einbezogen werden kann. Trotzdem sind einige der möglichen Einwände nicht nur negative Kritik, sondern im Gegenteil die notwendige Voraussetzung für die Vervollkommnung der Analyse. Obgleich berühmt und oft zitiert, ist das Beispiel Pottiers in Wirklichkeit nicht sehr differenziert; aber es liefert eine gute Grundlage für eine Reihe von sukzessiven Verbesserungen. Eine erste Stellungnahme stammt von Coseriu.10 Nach Coseriu sagt ein solches Schema nichts darüber aus, ob siege den anderen Ausdrücken übergeordnet sei oder nicht. Es vermag deshalb auch nicht, den Unterschied zwischen dem Französischen oder dem Italienischen, wo chaise und sedia nicht übergeordnet sein sollen, und dem Rumänischen oder dem Deutschen deutlich zu machen, wo scaun und Stuhl den Status übergeordneter Ausdrücke haben. Coserius Beobachtung ist richtig, wenn man von den Grenzen absieht, die dem Status der Überordnung gesetzt sind, aber sie ist kein wirklicher Einwand. Die Überordnung ist eine Frage der semantischen Extension, während die Merkmalanalyse sich mit der Intension befaßt. Die beiden Standpunkte schließen einander nicht aus; sie müssen sich gegenseitig ergänzen. Ist ein übergeordneter Ausdruck vorhanden, so erfordert dies das Vorhandensein großer Auswahlmöglichkeiten unter den Merkmalen, die z.B. mit ± (oder vielleicht besser mit 0 /Null/) zu kennzeichnen wären. Das rumänische wort scaun, das „Stuhl" heißt, aber auch als Bezeichung für einen Sessel usw. gebraucht werden kann, muß sich auf eine Sitzgelegenheit beziehen, die Armlehnen sowohl haben als auch nicht haben kann (± avec bras, oder 0, womit angezeigt wird, daß es nicht relevant ist, ob sie Armlehnen hat oder nicht). Zwei wichtige Punkte bleiben noch offen. Der erste betrifft die Frage, ob wenigstens für eine nähere Zukunft die Aussicht besteht, daß die distinktiven Merkmale - denen der jakobsonschen Phonologic vergleichbar - einmal als minimale Einheiten gelten können. Zumindest im Hinblick auf das Beispiel von siege muß man diese Frage verneinen. Die Aussicht, die semantischen Atome zu finden, liegt immer noch in weiter Ferne. Der zweite Punkt betrifft die Relevanz der Merkmale: Trifft es zu, daß wir die genannten Wörter genau aufgrund der genannten Merkmale gebrauchen, verstehen und voneinander unterscheiden; auf gerade den Merkmalen und immer nur auf diesen? Die Antwort auf diese Frage ist notwendigerweise etwas komplex. Dabei ist als erstes festzustellen, daß nicht alle Merkmale denselben Status haben. Man kann sagen, daß einige davon, und zwar die allgemeineren und gefestigteren, Präs u p p o s i t i o n e n sind; andere, spezifischere und weniger gefestigte, sind eigentlich A s s e r t i o n e n , die zur Unterscheidung der am engsten miteinander verwandten Lexeme dienen. Der Begriff der Präsupposition, mit dem wir uns im folgenden Paragraphen befassen, stammt wiederum aus der Logik.11 10 11

E. Coseriu, Probleme, S. 50 f. Die Bedeutung des Präsuppositionsbegriffs, der aus der Logik stammt, wurde besonders von Ch. J. Fillmore hervorgehoben: C. J. Fülmore, Types of Lexikal Information, in: Semantics, hg. v. D. D. Steinberg und L. A. Jakobovits, Cambridge (Mass.) 1971, S. 370392 (auch in: Studies of Syntax and Semantics, hg. v. F. Kiefer, Dordrecht 1969), sowie Verbes de Jugement, in: Langages, 1970, S. 56-72 (im Original: Studies in Linguistic Semantics, hg. v. C. J. Fillmore und T. Langendoen, New York-London 1971). Für das Italienische: G. Cinque, „Presupposizioni" di voci lessicali e di construtti e loro rilevanza

132

VIII. Die Semantik

4. Nach der oben vorgeführten Analyse setzt sich das Lexem Junggeselle semantisch aus den Merkmalen [menschlich] [männlich] [erwachsen] [+verheiratet] zusammen.12 Doch liegen diese Merkmale nicht alle auf derselben Ebene. Der Satz Anton ist kein Junggeselle stellt nicht in Zweifel, daß Anton ein Mensch, männlichen Geschlechts und erwachsen ist, sondern daß er unverheiratet ist. Man kann nun die drei Merkmale, die der Negation sozusagen standhalten, als P r ä s u p p o s i t i o n e n bezeichnen. Präsuppositionen findet man nicht nur auf Lexem-, sondern auch auf Satzebene. In den beiden Sätzen Bitte öffne die Tür, Bitte öffne die Tür nicht bleiben die Präsuppositionen dieselben, nämlich daß es eine Tür gibt, daß diese geschlossen ist und daß der Gesprächspartner sie öffnen könnte. Was nicht Präsupposition ist, wird auch Grundbedeutung genannt. Sind die Präsuppositionen eines Satzes falsch, so ergibt dieser keinen Sinn, etwa wenn man sagt: Steht alle still!, wenn nur eine einzige Person da ist oder wenn viele da sind, die sich aber nicht bewegen können. (Der Satz steht nämlich unter anderem das Vorhandensein mehrerer Gesprächspartner voraus, die imstande und darüber hinaus auch gewillt sind, sich zu bewegen). Überträgt man diese Unterscheidung auf das Begriffsfeld von siege, so hat dort [pour s'asseoir] den Status einer Präsupposition. Als solche ist sie im ganzen Begriffsfeld nicht nur präsent, sondern sie konstituiert es sogar: [pour s'asseoir] ist ein Merkmal, das allen Lexemen um siege gemeinsam und absolut unumgänglich ist. Noch höher in der Hierarchie sind andere Merkmale angesetzt, z.B. [konkret] [fest] usw. Dasselbe gilt für das Begriffsfeld von Tasse, das Labov im Englischen untersuchte. Dort sind Merkmale wie [Behälter] und [hohl] in der Hierarchie so hoch, daß sie für Kanister, Vase, Tasse, Schüssel gleichermaßen zutreffen; das ist auch der Fall beim Merkmal [um daraus zu trinken]: es gilt in gleicher Weise für Tasse, Glas oder Becher. Im Normalfall dürfen diese Merkmale nicht verletzt werden. Ausnahmen gibt es nur scheinbar. Wer einwendet, gemalte Tassen oder Sessel seien nicht mehr „fest" (sondern flach), man trinke nicht mehr daraus oder man setze sich nicht mehr darauf, unterliegt einem Trugschluß. Es versteht sich, daß das Abbild eines Gegenstandes auf die Intension dieses Gegenstandes als solchem verweist. Ein anderes, sehr interessantes Problem, das aber hier nur gestreift werden kann, ist die M e t a p h e r . Gerade der Metapher ist es zu eigen, daß sie eine bestimmte Präsupposition einer lexikalischen Einheit verletzt. Das ist z. B. der Fall, wenn man sagt: Lutz, dieser Esel, womit Lutz mit einem Ausdruck belegt wird, der nicht die Präsupposition [menschlich] besitzt.13

12 13

sintattica, in: Societä di Linguistica Italiana (SLI 7): Fenomeni morfologici e lessicali nell'ltaliano contemporaneo, Rom 1974, Bd. l, S. 47—69. Im Rahmen der Logik: P. F. Strawson, On referring, in: Mind 59 (1950), S. 320-44. Vgl. die bekannte Analyse des englischen Lexems bachelor, in: J. J. Katz, J. A. Fodor, The Structure of a Semantic Theory. Siehe die Beweisführung bei G. Cinque, Grammatica generativa e metafora, in: Studi di grammatica italiana 2 (1972), S. 261-295, wo man auch die neuere Bibliographie findet. Seit Jakobson gelten die Metapher und die Metonymie als ein zentrales Thema der Linguistik (R. Jakobson, Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances, in: Selected Writings II, S. 239-259 (erstmalig erschienen als Teil II der Fundamentals of Language, Den Haag 1956;frz. Übers.: Deux aspects du langage et deux types d'aphasie, in: Essais de linguistique generale, Kap. II, S. 43—67). Natürlich ist die Metapher auch heute noch ein zentrales Thema der Analyse in der Literaturwissenschaft, in der Analyse der politischen Rede usw. Man vergleiche dazu auch H. Weinrich, Linguistik der Lüge, Heidelberg 1966.

4. Status der Merkmale

133

Ein anderer Begriff der antiken Rhetorik, der neben der Metapher heute in der Linguistik wiederum Verwendung findet, ist die M e t o n y m i e . Metonymisch ist die Beziehung, die den Teil mit dem Ganzen, das Ganze mit dem Teil und eine Sache mit der ihr nahestehenden verbindet. Dies ist z. B. der Fall, wenn man jemanden „Schnauz" nennt, und nicht nur, wenn dichterisch vom Schiff als dem „Mast" gesprochen wird. Hier spielen die Präsuppositionen jedoch keine Rolle.

Nach dem Gesagten befassen wir uns nun mit den spezifischeren Merkmalen. Bei den physischen Objekten, also bei den Stühlen, Tassen, Schuhen usw., geben diese Merkmale drei Hauptcharakteristika an: Form, Funktion und Kontext. Was die Form betrifft, haben wir beim Begriffsfeld siege schon ein Beispiel gesehen; es geht dort um die Zahl der Sitzplätze, das Vorhandensein von Armlehnen, von Beinen usw. Die Funktion ist die Verwendung für das Sitzen. Bei genauerem Zusehen sind dabei noch weitere Angaben nötig. Man kann sich in manchen Fällen auch darauflegen, wie in einen „Liegestuhl", und vermutlich unterscheiden sich „Stuhl" und „Sessel" auch durch die Art, wie man darauf Platz nimmt, bequemer und mehr oder weniger tief. Manche moderne Sessel, die sozusagen keine Form mehr haben, gelten wohl hauptsächlich deshalb als Sessel, weil man im Grunde genauso darin sitzt wie in den gewöhnlichen Sesseln. Zum Kontexte haben wir oben schon gesagt, daß man sich eine Sitzgelegenheit besonders leicht als Bank vorstellt, wenn sie in einem Garten oder in einem Park steht. Wenn in öffentlichen Anlagen sonderbarere Gegenstände aus Kunststoff stehen, auf denen man sich selbstverständlich setzen kann, dann wird man auch dann von „Bank" reden. Auf einem Schiff wäre dies nicht mehr ohne weiteres klar, in einem Flugzeug spräche man von „Sitz". Mit anderen Worten: Die Relevanz des Ortes erleichtert nicht nur die Identifikation, sondern sie ist eines ihrer grundlegenden Elemente. Wir könnten den Gedankengang mit anderen Merkmalen wiederholen. Wir haben hier versucht, die präzisen Resultate zu verfolgen, zu denen William Labov mit Hilfe von Tests und der statistischen Auswertung der Ergebnisse bei seiner Untersuchung des Begriffsfeldes „Tasse" gelangt ist.14 Labov fand heraus, daß bei sehr tiefen Tassen der „Blumen-Kontext" (d.h. das Zeigen einer tiefen Tasse mit Blumen darin) die Antwort begünstigte, es sei eine Vase. Der „KaffeeKontext" dagegen begünstigte die Antwort, es handele sich um eine Tasse. (Die im englischen Text vorkommenden Bezeichnungen für „Tasse" sind cup oder auch mug; letzteres ist eine tiefe Tasse, die man in den angelsächsischen Landern gewöhnlich für den Kaffee und den Tee gebraucht). Behält die Tasse aber die klassischen Maße, dann verliert der „Kaffee-Kontext" seine Relevanz. Das, was Labov hier „Kontext" nennt, umfaßt auch die Funktion. Es geht darum, daß das Gefäß entweder zum Trinken oder als Behälter für Blumen benutzt wird. Nach Labov ist es unerheblich, ob für die Bezeichnung eines Gegenstandes mehr die Form oder mehr die Funktion beiträgt. Aus den obigen Beispielen geht vielmehr hervor, daß die beiden Gesichtspunkte i n t e r d e p e n d e n t sind. Eine Ausnahme bilden nur die ganz eindeutigen Grenzfälle: die klassische Form, durch die die Funktion irrelevant wird, und die unzweideutige Funktion, durch die die Form ihre Relevanz verliert. Wenn man sagt, daß die Gesichtspunkte voneinander abhängen, so heißt das, daß die Merkmale, die die Lexeme ausmachen, zu 14

W. Labov, The Boundaries of Words and Their Meanings, in: New Ways of Analyzing Variation in English, hg. v. Ch.-J. Bailey and R. W. Shuy, Washington 1973, S. 340-73.

134

VIII. Die Semantik

deren Identifikation wohl beitragen und sie von ihren Nachbarn unterscheiden, aber ohne endgültige Festlegung. Es sind Merkmale, die gegebenenfalls nicht relevant zu sein brauchen. [Armlehnen zu haben] erhöht beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, daß siege einen Sessel, und nicht einen Stuhl bezeichnet, wobei die Frage jedoch nicht endgültig entschieden wird (wie man dem Schema von Potter entnehmen könnte). Ist ein Behälter nicht sehr tief, so kann dies dazu beitragen, daß man ihn als „Tasse" bezeichnet, und dieselbe Wirkung erzielen wir, wenn wir ihn mit Kaffee oder Brühe gefüllt zeigen; das Fehlen eines Henkels und der Umstand, daß das Gefäß mit Milch gefüllt ist, vergrößert die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um eine „Schüssel" handelt usw. Es ist nicht defätistisch zu behaupten, daß sich die Lexeme beim Zusammentreffen verschiedener, gegenseitig sich bedingender Merkmale unterschiedlicher Art konstituieren. Denn nur diese These vermag es offenbar, den Skeptizismus zu überwinden, der der Komponentialanalyse — nicht zu Unrecht — oft entgegengebracht wurde. Dazu kommt ein weiterer wichtiger Punkt: Labovs probabilistischer Standpunkt scheint auf den ersten Blick eine endgültige Trennung zwischen dem phonologischen Modell und dem Versuch zu vollziehen, eine diesem Modell analoge Semantik zu konstruieren (s.o., § 3). Doch muß man feststellen, daß die Analyse in distinktive Merkmale auch in der Phonologie nicht ungeteilte Zustimmung genießt. Die Theorie der Ersetzbarkeit der Merkmale beim Empfang der Nachricht wird von Fry vertreten. Sie stützt sich (wie Labov in der Semantik) auf eine Menge von experimentellem Beweismaterial (Kap. IX, § 1). Zu Beginn der strukturalistischen Erforschung der Sprache wurde postuliert, daß der V a g h e i t des Bezeichneten, d.h. des Referenten, eine rigorose formale Gliederung der Bedeutung gegenübersteht. Nun trifft es zwar zu, daß die Bedeutung, indem sie im Kontinuum der beobachteten Welt Einschnitte vornimmt, eine formale Gliederung durchführt: die Tätigkeit des Sprechers besteht ja gerade darin, das, was in der Realität als unendliche Mannigfaltigkeit erscheint, zu kategorisieren und in diskrete Einheiten aufzulösen. Wie wir heute feststellen, hatte man sich diese Tätigkeit des Kategorisierens allzu starr und sozusagen geometrisch vorgestellt. Man hatte festgestellt, daß die gegenseitige Verständigung unmöglich wäre, wenn die Sprache nicht vom Kontinuierlichen zum Diskreten mit genau festgelegten Bedeutungen operierte. Aber andererseits bedeutet die gegenseitige Verständigung keineswegs, daß sie immer zu übereinstimmenden Auffassungen führt. Die Kommunikation ist immer unvollkommen; doch geben die Lücken nicht nur Raum für partielles oder völliges Nichtverstehen, sondern auch Anlaß für bestimmte, sprecherintendierte Effekte (sagen und doch nicht sagen, Anspielungen usw.), während sie umgekehrt dem Hörer Anhaltspunkte liefern, um die psychologischen Hintergründe des Sprechers zu erkunden (auf wen oder was mag er anspielen? was meint er denn nun wirklich? und auch: was für eine Art, sich auszudrücken! und: was für eine Aussprache!). Hier liegt der Ansatz zu einer anderen Art der Sprachbetrachtung, zur Erforschung des S p r a c h g e b r a u c h s . Aber das Studium des Sprachgebrauchs und dasjenige der sprachlichen Form lassen sich voneinander nicht scharf trennen. In unserer Darstellung hat das Interesse an der Form den Vorrang. Wer sich mit der Rolle der Sprache beim Heranwachsen und der geistigen Entwicklung der Kinder oder im

5. Wortschatz

135

Zusammenhang des gesellschaftlichen Handelns beschäftigen möchte, muß die Akzente demgegenüber umgekehrt setzen. Abschließend sei bemerkt, daß es sich bei den hier angeführten Beispielen um ganz simple Fälle des Lexikons handelt. Stößt die Semantik - so könnte man fragen — auf größere Schwierigkeiten, sobald sie sich mit dem intellektuellen Wortschatz einer Sprache befaßt, z.B. mit Wörtern wie Kunst, Dichtung usw. oder Nation, Land, Demokratie? Es gibt Untersuchungen, die zu zeigen scheinen, daß dies nicht der Fall ist: die Möglichkeiten und die Schwierigkeiten bleiben dieselben.15 5. In diesem Kapitel haben wir anhand von geeigneten Beispielen aus verschiedenen Sprachen einige Gesichtspunkte der modernen Semantiktheorien erläutert. Dabei haben wir durch nichts den Eindruck entstehen lassen, der romanische Wortschatz habe etwas Besonderes, das ihn von demjenigen anderer Sprachgruppen unterscheiden könnte. Ganz im Gegenteil hat der Leser bisher wahrscheinlich den Eindruck gewonnen, daß die moderne Semantik alle Beziehungen genetischer Art geradezu ausschließt. Dies ist ganz sicher richtig, wenn wir z. B. zeigen, daß man den Wortschatz gliedern kann, indem man zwischen über- und untergeordneten Lexemen unterscheidet oder daß man ein Lexem oder ein Begriffsfeld nach Merkmalen (Schemen oder Komponenten) analysiert; denn wir sind dann der Auffassung, daß eine solche Analyse nicht nur für romanische, sondern auch für nicht-romanische Sprachen Gültigkeit hat. Gäbe es hier Vorbehalte, dann müßten diese überhaupt für alle Sprachen, romanische und nicht-romanische, zutreffen. An dieser Stelle erhebt sich für uns die Frage, ob es eine Möglichkeit gebe, den romanischen Wortschatz a l s s o l c h e n z u charakterisieren. Oder anders: ob es etwas gibt, das sich im Hinblick auf den romanischen Wortschatz g a n z s p e z i e l l sagen ließe, etwas, das für den Wortschatz nicht-romanischer Sprachen gerade nicht gilt. Die Antwort auf diese Frage fällt nicht völlig negativ aus. Man kann vor allem daraufhinweisen, daß die ganze etymologische Forschung, die die einzelnen Wörter des romanischen Wortschatzes auf ihren lateinischen (oder einen anderen) Ursprung zurückführt, nicht nur auf der Idee der Sprachfamilie beruht, sondern ohne sie gar nicht denkbar wäre. Wir gehen hier auf die Etymologie nicht weiter ein, nicht etwa, weil wir sie als überaltert oder als überholt betrachten16, sondern weil sie sich vorrangig stets mit dem signifiant befaßt (Kap. II, § 11). Das Studium des signifie ist demgegenüber noch kaum entwickelt. Ohne Rücksicht auf ihren Ursprung kann man synchronisch beobachten, daß es lexikalische Bildungen gibt, die typisch romanisch sind. Als Beispiele: LINGUA und TEMPUS. Wir gehen von der Beobachtung aus, daß in allen romanischen Sprachen das Wort, das die Zunge als Organ bezeichnet, auch für die Fähigkeit zu sprechen, die 15

16

Nach der wegweisenden Arbeit von J. Trier über die Begriffsfelder aus den dreißiger Jahren (siehe J. Trier, Aufsätze und Vorträge zur Wortfeldtheorie, hg. v. A. van der Lee und O. Reichmann, Den Haag 1973) sind als modernere Arbeiten zu nennen: G. Matore, La methode en lexicologie, Paris 1953; J. Dubois, Le vocabulaire politique et social en France de 1869 a 1872, Paris 1962; B. Vardar, Structure fondamentale du vocabulaire social et politique en France de 1815 a 1830, Istambul 1973. Eine moderne Konzeption der etymologischen Forschung findet sich z.B. bei Y. Malkiel, Linguistica generate, filologia romanza, etimologia, Florenz 1970. (Es handelt sich um eine Sammlung von neun ins Italienische übersetzte Aufsätze, deren bibl. Nachweis man dort auf S. 132 f. findet).

136

VIII. Die Semantik

Sprache, steht. Dies gilt für it. lingua ebenso wie für pg. lingoa, sp. lengua, kat. llengua, prov. lenga, frz. langue, friaul. lenghe, log. limba, rum. limbä usw. Daneben gibt es immer auch noch einen spezifischen Terminus, d. h. eine markierte Form, die allein die Fähigkeit des Sprechens bezeichnet. So hat das Italienische linguaggio, das Spanische lenguaje, das Französische langage, das Rumänische grai usw., während lingua usw. beide Bedeutungen auf sich vereinigt. Die Erscheinung, daß der Name eines Körperteils gleichzeitig auch die Bezeichnung einer seiner Funktionen übernimmt, läßt sich als metonymische Beziehung im oben festgestellten Sinn beschreiben. Im vorliegenden Fall ist dieser Übergang einleuchtend. So kennen nicht nur die romanischen Sprachen, sondern viele Sprachen der Welt dasselbe Zusammentreffen der beiden Dinge in einem Lexem: germanische Sprachen wie das Dänische, keltische wie das Wallisische, slawische wie das Russische, das Tschechische, das Serbokroatische, ferner das Griechische, das Ungarische, das Türkische usw. Anderswo, z.B. im Deutschen, gehört der Gebrauch von Zunge als Bezeichnung auch für die Sprache der alten Sprache an. Heute macht man eine klare Trennung zwischen Zunge und Sprache. Charakteristisch für die romanischen Sprachen ist also nicht der Umstand, daß es diese Bildung als solche gibt, sondern daß sie in der gesamten Romania durchgehend auftritt. Diese Situation ist allerdings genetisch motiviert: schon das lat. lingua hatte beide Bedeutungen (SERMO war demgegenüber die markierte Form für „Sprache" allein). Betrachten wir nun den Fall von TEMPUS (frz. temps, it. tempo, sp. tiempo, pg. tempo, usw.). In den romanischen Sprachen hat dieses Lexem zwei sehr unterschiedliche Bedeutungen, eine chronologische und eine atmosphärische. Auch in diesem Fall besteht zwischen den beiden Bedeutungen ein metonymischer Zusammenhang, der diesmal allerdings ziemlich komplex ist. Die primäre Bedeutung ist die chronologische: „Zeit" ist eine merkmalhafte Primaussage, ein Punkt oder eine Linie, wo man sagen kann, ob schönes oder schlechtes Wetter sei, ob es regnet usw. Es liegt vielleicht an der relativ großen Komplexität dieses Zusammenhangs (z.B. im Vergleich zu lingua), daß die beiden Bedeutungen nur selten in einem einzigen Lexem zusammenfallen. Wir finden es im Ungarischen und im Serbokroatischen, in vielen anderen Sprachen der Welt jedoch nicht. Hinzu kommt, daß auch das Lateinische zwei Wörter hatte, nämlich tempus, mit ausschließlich chronologischer Bedeutung, und tempestas, das sowohl „Zeit" als auch „Wetter" bedeuten konnte, zumeist jedoch atmosphärisch gebraucht wurde. Man kann diesmal also sagen, daß die doppelte Bedeutung des Lexems it. tempo usw. ein für die romanischen Sprachen typisches Merkmal darstellt, das viel interessanter und spezifischer ist als der Fall von LINGUA. Es gründet sich nämlich zum einen auf eine gemeinsame Innovation, und nicht etwa auf eine Konservation des Lateinischen; zum anderen beruht diese Innovation auf einem Vorgang, der alles andere als alltäglich ist. Man beachte auch, daß das Rumänische neben dem lateinischen timp auch das slawische Lehnwort vreme besitzt. Man könnte also annehmen, das Rumänische habe jedem der beiden Ausdrücke nur eine Bedeutung zugewiesen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Sowohl timp als auch vreme werden wie Synonyme gleichermaßen für die Zeit und für das Wetter gebraucht. Gegen diese Überlegungen, für die weitere, ohne Zweifel interessante Beispiele wohl noch zu finden wären, kann man einwenden, daß sie partikularistisch, d.h. an einzelne Lexeme gebunden sind. Eine weiterreichende Charakterisierung größerer Bereiche des Lexikons wird jedoch im Romanischen — im Gegensatz übrigens

5. Wortschatz

137

zum Germanischen - durch die starke A r b i t r a r i e t ä t dieses Lexikons beeinträchtigt. Man kann sich dabei auf Saussure berufen.17 Im Anschluß an die Feststellung, daß die natürliche Sprache in erster Instanz arbiträr, d.h. beliebig oder willkürlich ist (Kap. IV, § 3), erklärt Saussure, daß eine Form wie lat. inimicus „relativ" motiviert sei, da sie aus dem negativen Präfix in- und aus amicus gebildet ist. Inimicus ist also nicht in bezug auf den Referenten motiviert — wo es ebenso unmotiviert ist wie amicus —, sondern sekundär in bezug auf amicus. Dies gilt hingegen nicht für frz. ennemi, das jede Beziehung zu ami verloren hat (bzw. nur diachron-etymologisch, nicht aber synchron rekonstruierbar ist). Nun gibt es nicht nur im Französischen, sondern in allen romanischen Sprachen z.B. räumliche Beziehungen, die vorwiegend arbiträr oder (nach Saussure) „lexikalisch" ausgedrückt werden. Im Italienischen zeigt scendere „herunterkommen, hinuntergehen usw." keinerlei Beziehung zu giu „herunter, hinunter", genau wie saure „heraufkommen, hinaufgehen" nicht an su „herauf, hinauf" erinnert. Dasselbe gilt für alle romanischen Sprachen. Im Deutschen dagegen gibt es systematische Beziehungen zwischen deiktischen Adverbien wie auf, ab, her, hin, die die Bewegung zum Sprecher hin oder von ihm weg bezeichnen, und dem System der Bewegungsverben. Man hat also gehen, kommen, und im genannten Sinn auch hingehen, hinaufgehen, hinabgehen bzw. herkommen, heraufkommen, herabkommen usw. Entscheidend ist dabei, daß selbst bei komplexeren Formen die Bildung voll und ganz voraussehbar ist. Ausgehend von helfen wäre hinaufhelfen im Romanischen z. B. „jemanden helfen (in einer vom Sprecher weg oder auf ihn zu führenden Richtung), nach oben zu gelangen." Dieser Exkurs auf germanistisches Gebiet war notwendig, um ein Charakteristikum des Romanischen hervorzuheben, das man leicht übersieht, wenn man ihm nicht eine diametral entgegengesetzte lexikalische Struktur gegenüberstellt. Zwar fehlen auch hier die Bildungen nach germanischem Muster (d. h. nach Saussure: sekundär motivierte oder „grammatikalische") nicht ganz: it. andare (venire) su „hinaufgehen" bzw. „heraufkommen" ist eine germanisch gebildete Entsprechung von salire. Aber solche Bildungen treten nur sporadisch auf, und es gibt — im Gegensatz zum Deutschen — keine regelmäßigen und sogar komplexen Systeme dieser Art. Aufs ganze gesehen weist der romanische Wortschatz viele verzweigte, bedeutungsmäßig breite Formen auf. Verben wie it. salire oder scendere, die untereinander keine Beziehungen haben, sind im Deutschen durch eine Menge von Bildungen vertreten, die alle unter sich verbunden sind. Formen wie it. aggiungere oder fr. passer, changer, ajouter, partiru. a. sind im Deutschen ganz unterschiedlich zu übersetzen. Diese Feststellung gilt auch für andere Bereiche. Man hat frz. pendule, ital. pendolo, im Deutschen jedoch Wanduhr, ihrer Lage entsprechend aber auch Tischuhr u. a.18. In bestimmten Fällen, besonders aber bei Bewegungsverben, besitzt das Deutsche in der Bauweise der Merkmale eine Art Durchsicht, so daß die einzelnen Elemente Bedeutungsatome darstellen, deren Summe das vollständige Verb ist. In den entsprechenden romanischen Formen sind die Merkmale demgegenüber so verschmolzen, daß sie in der Oberflächenstruktur gar nicht erscheinen. Dazu kommen Neutralisierungen der deiktischen Bestandteile, z. B. im Falle von it. salire und scendere, 17 18

Saussure, Cours, S. 183 f. (S. 158 f. der deutschen Ausgabe); Bally, Linguistique generate, Teil III, § 566 ff. Vgl. auch Ullmann, Semantics. Das Beispiel stammt aus Bally, Linguistique generate, § 569.

138

VIII. Die Semantik

wo die Beziehung zur Stellung des Sprechers auf deutsch durch hin oder her dargestellt werden kann. Es ist nicht uninteressant, daß diese Eigenheiten des Lexikons mit anderen Eigenheiten auf anderen Ebenen in Zusammenhang gebracht werden können. So sind die „lexikalischen", d.h. stark arbiträren Sprachen häufig Sprachen ohne Kasus, während die Sprachen, deren Wortschatz mehr „grammatikalisch" ist, Kasus besitzen. Es gibt also das Romanische auf der einen, das Lateinische und das Deutsche auf der anderen Seite. Die Charakterisierung des Wortschatzes erhält damit typologische Bedeutung. Die romanischen Sprachen weisen gesamthaft eine Anzahl von Charakteristika auf, die sie im Vergleich zu den anderen Sprachen der Welt als eigenständige Gruppierung bestimmen. In diese Richtung gehende Untersuchungen sind allerdings noch nicht weit fortgeschritten.

Neuntes Kapitel

Die Phonologic

1. Die Phonologic, wie sie in Kap. III, § 4, dargestellt wurde, erstellt von Sprache zu Sprache ein verschiedenes Lautsystem.1 Dieses Verfahren, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Systemen deutlich zu machen, kann heute z.B. noch im Fremdsprachenunterricht nützlich sein (wo es darauf ankommt, der natürlichen Neigung entgegenzuwirken, die fremde Sprache dem phonologischen Raster der eigenen anzupassen), ist aus theoretischer Sicht jedoch längst überholt. Die Überwindung der klassischen strukturalistischen Phonologic beruhte auf der S p a l t b a r k e i t des Phonems. Im Zuge der weiteren Entwicklung dieses Prinzips stellten Jakobson, Halle und Fant als erste die These von der p h o n o l o g i s c h e n U n i v e r s a l i t ä t auf. Das Problem stellt sich folgendermaßen: Ein einfacher akustischer Eindruck sagt uns, daß /m/ und /n/ einander näher stehen als z. B. lil. Die artikulatorische Phonetik zeigt in der Tat, daß /m/ nasal und bilabial, /n/ nasal und dental ist, während lil die Merkmale oral, labiodental, frikativ undstimmlos hat und infolgedessen eher /v/ gegenübergestellt werden kann, das oral, labiodental, frikativ und stimmhaft ist. Diese beiden Beispiele lassen eine Organisation der folgenden Art vermuten: /m/ kontrastiert mit /n/ in bezug auf das Merkmal bilabial: dental; lil: /v/ in bezug auf das Merkmal stimmlos : stimmhaft (die anderen Merkmale entsprechen einander und brauchen deshalb nicht unbedingt erwähnt zu werden); und man kann fort1

Es seien an dieser Stelle einige Angaben zur Geschichte der Phonologic gemacht. Im 19. Jahrhundert war die Untersuchung der Laute vorwiegend diachronisch, und die synchronischen Beobachtungen wurden häufig mit den historischen einfach verflochten; außerdem war die Beschreibung phonetisch, nicht phonologisch. Manchmal wurde zwischen Laut und Buchstabe nicht explizit unterschieden. In seiner Grammatik sagt Diez „Buchstabe" statt Laut. Die Erforschung der Lautentwicklung nennt man ( h i s t o r i s c h e ) P h o n e t i k . Ein anderer Zweig der Phonetik, der die Laute mit Hilfe von Instumenten untersucht, kam gegen Ende des Jahrhunderts auf: die e x p e r i m e n t e l l e P h o n e t i k . Demgegenüber geht die Phonologie von einem bestimmten theoretischen Konzept und nicht vom Gebrauch der Apparate aus, die sich bei der Merkmalanalyse von Jakobson, Fant und Halle später zwar als nützlich erwiesen. Entstanden ist die Phonologie zwischen den beiden Weltkriegen im Umkreis der Prager Schule, und zwar hauptsächlich durch das Verdienst der Russen N. S. Trubetzkoy (Grundzüge der Phonologie, in: Travaux du Cercle Linguistique de Prague VII (1939), postum erschienen) und R. Jakobson. In England war die Phonologie frühzeitig mit H. Sweet und D. Jones ins Leben gerufen worden; sie konsolidierte sich in der Folge beim Kontakt mit der Schule von Prag. Wie Jakobson immer wieder betont hat, geht die Phonologie ursprünglich auf den Polen J. Baudouin de Courtenay (gest. 1929) zurück, der Professor in Petersburg und dann in Kazan' war. Baudouin unterschied als erster den vorgestellten oder intentionalen Laut, das Phonem, vom tatsächlich hervorgebrachten (der Realisation). Zwar haben auch andere Linguisten ähnliche Unterscheidungen getroffen; doch hat sich vor allem die Prager Schule eine rigorose Doktrin erarbeitet.

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IX. Die Phänologie

fahren mit / n / : /d/, weil /n/ ein nasaler, /d/ ein oraler Laut ist usw. Ein Lautsystem läßt sich deshalb als ein binäres System beschreiben, dessen Elemente sich in einem oder mehreren Merkmalen unterscheiden. Damit zeichnet sich bereits die Möglichkeit ab, die Phoneme als B ü n d e l von Merkmalen (wie nasal, oral; bilabial, dental usw.) zu definieren. Ein einziges dieser Merkmale genügt, um ein Phonem vom anderen zu unterscheiden. Unter diesem Gesichtspunkt werden die Phoneme noch weiter unterteilt und bilden so die letztmöglichste Artikulation der Sprache. Die bisher angeführten Merkmale sind traditionell, d.h. artikulatorisch benannt, da sie die Art und Weise berücksichtigen, in der die Laute im Mund gebildet, d.h. artikuliert werden. Die Phonologic von Jakobson, Fant und Halle bedient sich dagegen auch akustischer Merkmale, die der Lektüre von spektographischen, technisch hochgradig spezialisierten Analysen entstammen. 2 Das Spektogramm liefert eine Analyse der von einer Äußerung erzeugten Schallwelle, und zwar in Form einer graphischen Darstellung von Dauer, Frequenz und Intensität. In ihrem Buch Fundamentals of Language haben Jakobson und Halle (1956) eine Liste der prosodischen, d. h. der suprasegmentalen, und eine solche der inhärenten distinktiven Merkmale aufgestellt. Die b i n ä r e (oder paarweise) Anordnung der Merkmale ermöglicht es, die genannte These von der phonologischen Universalität zu formulieren. Die inhärenten distinktiven Merkmale bilden nämlich zwölf Paare, die die in den bislang bekannten Sprachen der Welt die möglichen Phonemkombinationen sämtlich beschreiben. Sie sind deshalb p h o n o l o g i s c h e U n i v e r s a u e n . Mit ihrer Hilfe wird die ungeheure Vielfalt der Sprachlaute auf ein Problem der Kombinatorik zurückgeführt. Im System von Jakobson und Halle erscheinen, wie gesagt, auch Namen aus der akustischen Phonetik. Ein Beispiel dafür ist kompakt: diffus, womit man auf eine mehr oder weniger starke Konzentration bzw. Dispersion der Stimmenergie in einem begrenzten Bündel des Spektogramms Bezug nimmt, (in der dieselbe Opposition bei Vokalen im Hinblick auf die Stellung der Zungenmasse mit tief: hoch beschreibbar ist). Daneben erscheinen aber auch traditionelle Namen, die entweder aus der artikulatorischen Phonetik (z. B. gespannt: nichtgespannt, mit Bezug auf den Grad der Muskelspannung des Stimmapparates) oder aus der perzeptiven Phonetik stammen (z. B. scharf: nicht-scharf). Man wußte, daß die Sprachen das Lautmaterial unterschiedlich organisieren und daß die Phoneme der Sprachen außerordentlich stark voneinander abweichen. Die Entdeckung der binaristischen Phonologic besteht jedoch darin, nachgewiesen zu haben, daß dieses Material nicht eine amorphe und undefinierbare Masse darstellt, sondern auf einer begrenzten Zahl von distinktiven Merkmalen beruht. Diese können zwar die Phoneme durch „Synthese" umgestalten; zunächst aber bestimmen sie weniger die Phoneme selbst, als die Beziehungen zwischen den Phonemen. So konstrastiert beispielsweise im Englischen men mit man mit /e/ : I eel als kompakt: diffus, und auch im Italienischen kontrastieren /e/: als kompakt: diffus, obwohl das englische Icel und das italienische / / keineswegs gleich sind. (Es ist bekannt, daß die Italiener subjektiv dazu neigen, das englische Ice l mit dem italienischen gleichzusetzen, so daß /menl gesprochen wird, ein Engländer aber nicht man, sondern men versteht.) Es gibt geradezu paradoxe Situationen: Im Italienischen ist /J7 kompakt und /s/ diffus; im Spanischen ist /s/ kompakt und /$/ diffus. Dahinter steht die Tatsache, daß /J7 am kompaktesten ist, gefolgt von /s/, während / / am wenigsten kompakt bzw. am stärksten 2

Das System von Jakobson/Fant/Halle wird dargestellt u.a. in R. Jakobson, Essais de linguistique generate, Kap. IV (unter Mitarbeit von M. Halle). Die wichtigsten phonologischen Arbeiten von Jakobson sind zusammengefaßt in der schon mehrfach zitierten Sammlung Selected Writings I: Phonological Studies, Den Haag-Paris 21971.

1. Strukturalistische vs. generative Phonologic

141

diffus ist. Im Italienischen stehen die ersten beiden Phoneme in Opposition, und es erscheint /s/ als diffus; im Spanischen, wo dagegen die letzten beiden zueinander in Opposition stehen, ist /s/ kompakt. Es gibt letzten Endes keine Phoneme, die kompakt oder diffus an sich sind, so wie es keine dicken oder dünnen Menschen gibt: dicke und dünne Menschen, kompakte und diffuse Phoneme gibt es nur im Vergleich, d.h. relativ zu anderen dicken oder dünnen Menschen bzw. zu anderen kompakten oder diffusen Phonemen. Deswegen kommt die Lautsynthese, wie sie in den phonetischen Laboratorien Europas und Amerikas betrieben wird und deren Ziel es ist, Phoneme und Phonemfolgen anhand von (komputermäßig „hergestellten") Merkmalen zu rekonstruieren, mit den nur aus relevanten Merkmalen bestehenden Angaben ohne zusätzlich Informationen nicht aus.

Nach Jakobson machten Chomsky, Halle und andere bei der Einteilung und Klassifikation der Phoneme wiederum hauptsächlich von den artikulatorischen Merkmalen Gebrauch. Dasselbe tun wir für das Romanische. Mit Chomsky und Halle und deren Schule sind auch zahlreiche andere Neuerungen gegenüber der klassischen strukturalistischen Phonologie verbunden. Diese sind auf die Einführung von Ersetzungsregeln in der Phonologie und in der Syntax (Kap. III, § 9) zurückzuführen. Damit wird das Lautsystem, wie es zum Ausdruck gelangt, auf ein zugrundeliegendes System und auf Regeln bezogen, die seine Oberflächenstruktur bestimmen.3 Im Laufe dieser Darstellung werden wir kurz die Bedeutung und das Funktionieren dieser Neuerung demonstrieren. Zunächst geht es jedoch darum zu zeigen, wie z.B. das phonologische System des Italienischen mit Hilfe von distinktiven Merkmalen dargestellt werden kann. Diese Merkmale erheben den Anspruch, notwendig und hinreichend zu sein, um die Vokalphoneme auch aller anderen Sprachen einzuteilen und zu klassifizieren.4 Bei den Merkmalen handelt es sich um die folgenden: hoch, mittelund tief (zur Angabe, aufweicher Höhe des Gaumens ein Laut gebildet wird); vorne, zentral, hinten (zur Angabe, an welcher Stelle des Gaumens ein Laut erzeugt wird); gerundet und nichtgerundet (bezogen auf die Rundung der Lippen): Abb. I: Die Tonvokale des Italienischen: vorne — rund

+ rund

zentral — rund

hinten — rund

+ rund

hoch

i

u

mittel

e

o

tief

3

4

a

o

Fundamental ist das Werk von N. Chomsky und M. Halle, The Sound Pattern of English, New York 1969 (frz. Teilausgabe: Principes dephonologiegenerative, Paris 1973). Die besten Einführungen in die generative Phonologie sind: R. T. Harms, Introduction to phonological theory, 1968; S. A. Schane, Generative Phonology, Englewood Cliffs (N. Y.) 1973; L. M. Hyman, Phonology. Theory and Analysis, New York u.a. 1975. Vgl. auch W. Mayerthaler, Einführung in die generative Phonologie, Tübingen 1974. Diese Darstellung der Phoneme beruht auf den Schemen von Schane, Generative Phonology. Vgl. auch Anm. 6.

142

IX. Die Phänologie

Jedes Phonem befindet sich am Schnittpunkt von drei Merkmalen, so daß man sagen kann, es bestehe aus dem Bündel dieser Merkmale, /i/ z.B. ist [+ vorne] [— rund] und [ + hoch]. Im Hinblick auf die Regeln, auf die wir noch einzugehen haben, wird /i/ von der folgenden Matrix repräsentiert: + vorne l - rund + hoch J Auf diese Weise ist es auch möglich, zwei oder mehr Vokale auf einmal darzustellen. So gilt für /o/ und für /u/ die folgende Matrix: + hinten + rund - tief (Hier schließt die letzte Angabe, [— tief], hl aus, während die ersten beiden Merkmale alle anderen Phoneme ausschließen.) Stellt man die Mundhöhle schematisch dar, dann sind die Vokale nach ihrem Artikulationsort etwa folgendermaßen angeordnet (die Lippen sind links):

Man wird festellen, daß es im oberen Schema (Abb. I) leere Fächer gibt. Ein Blick auf den Vokalismus des Französischen in § 3 zeigt, wie diese in anderen Sprachen ausgenutzt werden können. Denn in der Tat ist dieses Schema, wie schon gesagt, nicht nur für das Italienische vorgesehen, sondern auch für beliebige andere Sprachen. Um andere Phoneme als diejenigen des Italienischen darzustellen, braucht man lediglich die Fächer auszufüllen, die jetzt leer geblieben sind — oder genauer: die Merkmale, die auch für das Italienische gelten, in Kombinationen zu bringen, die das Italienische nicht verwendet. Die Tatsache, daß zwei Phoneme aus zwei verschiedenen Sprachen dasselbe Feld einnehmen, bedeutet nicht, daß die beiden phonetisch äquivalent sind; so ist das /o/ — um nochmals auf diesen Punkt hinzuweisen — im Italienischen und im Spanischen keineswegs dasselbe. Dieses kleine Muster sollte genügen, um zu zeigen, wie die distinktiven Merkmale funktionieren. Bevor wir im nächsten Paragraphen einige Aspekte der Phonologic der romanischen Sprachen näher beleuchten, sei noch auf die Kritik des englischen Phonetikers Fry hingewiesen, die sich auf der allgemeinen theoretischen Ebene bewegt. Nach Jakobson sind die Merkmale in der Weise distinktiv, daß sich ein Phonem von dem ihm am nächsten stehenden nur durch ein einziges Merkmal unterscheidet, das deshalb eben „distinktiv" ist. Nach Ansicht Frys erkennt derjenige, der eine Äußerung dekodiert (der Empfänger), ein Phonem nicht immer am gleichen Merkmal, sondern er benutzt bald dieses bald jenes Indiz (cue); oft wird ein Phonem sogar anhand seiner Nähe zu einem anderen ausgemacht, und zwar auf Grund der Kenntnisse, die der Empfänger vom Kode des Senders hat.5 5

Eine zusammenfassende Darstellung gibt D. B. Fry, Speech Reception and Perception, in: New Horizons in Linguistics, Harmondsworth 1970, S. 29-52.

2. Romania kontinua

143

2. Betrachten wir nun zwei andere zur Romania kontinua gehörige Sprachen, das Portugiesische und das Spanische, dann stellen wir fest, daß das Portugiesische denselben betonten Vokalismus hat wie das Italienische, oder besser: auf ein und dasselbe Vokalschema der Tiefenstruktur zurückgeführt werden kann. 6 Wir können deshalb für das Portugiesische auf das oben gegebene Schema (Abb. I) verweisen, das für beide Sprachen gilt. Das Spanische besitzt demgegenüber ein einfacheres Vokalschema, das wir ohne Schwierigkeit in unseren Raster einfügen können. Die Tonvokale des Spanischen: i e

u o a

Abb. II: vorne — rund

+ rund

zentral — rund

hinten — rund

+ rund

hoch

i

u

mittel

e

o

tief

a

Dieses einfachere Vokalsystem hat, gemessen am gemeinsamen Ausgangspunkt, den das Spätlatein gebildet hatte, eine zusätzlich Entwicklung durchgemacht. Doch muß man, um über die Vokalsysteme der Sprachen genau Auskunft zu geben, auch andere Aspekte berücksichtigen, vor allem die Art und Qualität der Diphthonge und die Reduktion der Phonemzahl in unbetonter Stellung. Wenden wir uns einen Moment diesem letzten Punkt zu. Im Italienischen werden die Oppositionen / / : /e/ und /o/ : /o/ in unbetonter Stellung neutralisiert. Wir haben dort forza „Stärke" mit /o/ und signore „Herr" mit /o/, aber forzato „Zuchthäusler" und signorina 6

Eine bibliographische Übersicht über die phonologischen Studien in der Romanistik bieten M. Grossmann u. B. Mazzoni, Bibliographie de phonologic romane, Den Haag-Paris 1974. Für die Phonologie des Italienischen, des Portugiesischen, des Spanischen, des Französischen und des Rumänischen siehe A. M. Mioni, Fonematica contrastiva, Bologna 1973 (mit vollständiger Bibliographie für jede Sprache). Ohne das Rumänische: B. Malmberg, Phonetique. La structure phonetique de quelques langues romanes, in: Orbis 11 (1962), S. 131-178. Für das Italienische: F. B. Agard, R. J. Di Pietro, The Sounds of English and Italian, Chicago 1945. Z. Muljacic, Fonologia generate e fonologia della lingua italiana, Bologna 1969; M. Saltarelli, A Phonology of Italian in a Generative Grammar, Den Haag 1970. Für das Portugiesische: J. Mattoso Cämara, Para o estudo da fonemica portuguesa, Rio de Janeiro 1953; H. Lüdtke, Fonematica Portuguesa, I. Consonantismo; II. Vocalismo, in: Boletin de Filologia 13 (1952), S. 273-288, 14 (1953), S. 197-217; J. Morais Barbosa, Etudes de phonologic portugaise, Lisboa 1965. Für das Spanische: E. Alarcos Llorach, Fonologia espanola, Madrid 41965; T. Navarro Tomäs, Manual de pronunciacion espanola, Madrid "1968; B. Pettier, Phonetique et phonologic espagnoles, Paris 31965; S. Saporta, H. Contreras, A Phonological Grammar of Spanish, Seattle 1962; A. Quilis, J. Fernandez, Curso de fonetica y fonologia espanolas (...), Madrid 71973; J. W. Harris, Spanish Phonology, Cambridge (Mass.) 1969.

144

IX. Die Phonologic

haben beide ein und dasselbe unbetonte o, das phonetisch gewöhnlich einem [o] nahesteht; ebenso unterscheidet man zwar zwischen dem / / in bello und dem /e/ mpesca „Fischfang", spricht aber das e in belüssimo undpescatore „Fischer" beide Male gleich aus, nämlich [e]. Dies gilt auch für die unbetonten Vokale im Auslaut, wo es ebenfalls für jedes der beiden Paare nur eine einzige Realisierung gibt. Mit Bezug auf die oben aufgeführten Merkmale können wir diese Neutralisierung als einfache Ersetzungsoperation beschreiben. Die Regel dazu sieht folgendermaßen aus: — hoch zentral [+ mittel] betont Das heißt, daß die tiefen und mittleren Vokale, also , e, o, o (was mit [— hoch] ausgedrückt ist), nicht aber das in der Mitte der Mundhöhle erzeugte a, das ja (wie [- zentral] besagt) ebenfalls tief ist, in unbetonter Stellung ([- betont]) alle in die Mittellage übergehen: die ersten beiden nach [e], die anderen beiden nach [o]. Man beachte, daß in solchen Regeln, um ein Phonem zu identifizieren, links vom Pfeil nicht alle seine Merkmale aufgeführt werden, sondern nur diejenigen, die durch Unterscheidung zu seiner Identifizierung dienen. Rechts vom Pfeil erscheinen nur diejenigen Merkmale, die sich ändern; es versteht sich, daß die links verzeichneten sich nicht verändern.7 Im Portugiesischen erscheinen im Vorton nur diejenigen Vokale, die die Endpunkte des Dreiecks belegen, gleichzeitig aber auch ein neuer Laut, nämlich [3], der die Tonvokale / / und /e/ neutralisiert: 9

a

Um diese Veränderung des Portugiesischen darzustellen, kann man eine Beschreibung wählen, die nur aus zwei Regeln besteht. Die erste davon ist dieselbe wie im Italienischen: hoch zentral betont

[+mittel]

d.h.:

^o und o Davon unabhängig wird dann /e/ zu /3/ und /o/ zu /u/: + mittel] [+ zentral] / [ + vorn] L - betont J —> { [+ hoch] In Wirklichkeit wird nur der tiefe Vokal zum mittleren; der mittlere bleibt wie er ist. In diesem zweiten Fall operiert die Regel leer. Dies ist jedoch nur ein scheinbarer Mangel, denn die Regel drückt auf diese Weise die Generalisierung aus, auf die es uns ankommt, nämlich, daß es in unbetonter Stellung nur mittlere Vokale gibt (s. Schane, Generative Phonology, S. 94, Anm. 3).

2. Romania kontinua

145

Die zweite Regel ist sog. kontextsensitiv, und zwar deshalb, weil die erste (im Schema obere) Ersetzungsmöglichkeit durch einen Kontext bedingt ist, der einen mittleren Vokal [+ vorn], d.h. /e/ mit [-1- zentral] zu [9] werden läßt. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Reihe an /o/, das nach [u] gehoben wird (wobei es hier nicht mehr notwendig ist, den Kontext anzugeben, da es sich um die einzige noch verbliebene Möglichkeit handelt). So erklären sichpesadu „schwer", von peso f'pezu], in der Realisierung von [pa'zadu], tomar als [tu'mar] gegenüber tomo ['tomu] „ich nehme", usw. Andere Reduktionen gibt es im Auslaut, wo auch [i] nicht mehr auftritt, sondern mit /e/ und / / als [a] erscheint. Im Brasilianischen ist das Ergebnis dieser Realisierung dagegen [i]. An diesen wenigen Beispielen erkennt man, daß die Ähnlichkeit und die Verschiedenheit der phonologischen Systeme nicht einfach an ihrem Phonembestand, d.h. an der Anzahl und an der Beschaffenheit der Phoneme gemessen werden darf. Genauso wichtig sind die phonologischen Regeln, die (wie in unserem Beispiel) die Neutralisierungen festlegen und die zulässigen bzw. die nicht zulässigen Varianten bestimmen. Das Spanische und das Portugiesische z. B. lassen die Folge # st... nicht zu; dem ital. Studiare entspricht deshalb sp. estudiar, pg. estudar, dem it. stare sp. pg. estar. Wichtig sind außerdem die A l l o p h o n e (Kap. III, § 4). Das Portugiesische ist die einzige der drei Sprachen, die eine vollständige Reihe von nasalen Allophonen der Vokale hat (was ersichtlich eine weitere Reduktion der tiefen Vokale mit sich bringt): e

ä

ü ö

Diese Reihe ist obligatorisch, wenn auf den Vokal ein nasaler Konsonant folgt (segundo [s3'yündu]) oder wenn ein solcher Konsonant ursprünglich vorhanden war und man ihn in der phonologischen Tiefenstruktur postulieren muß, z.B. bei böa, das mit bon „gut" alterniert, oder bei marfitn „Elfenbein" [marfi]. (Wir vertiefen den Begriff der phonologischen Tiefenstruktur in § 3). Verglichen mit dem Französischen und dem Rumänischen (s.u. §§ 3 und 4) erscheinen die drei eben behandelten Sprachen im Hinblick auf den Vokalismus als mehr oder weniger einfache Fortsetzungen des Vulgärlateins. Wie wir in Kap. III § 4 bereits erwähnten, spiegelt das Italienische mit den Typen viene und buono auch die Diphthongierungen des Spätlateinischen ohne wesentliche Neuerungen am getreuesten wider. Allerdings müßte man nun auch die Konsonanten untersuchen und die Halbvokale, die zwischen Vokalen und Konsonanten gewissermaßen eine Zwischenstellung einnehmen. Im Hinblick auf den Konsonantismus sei hier bloß erwähnt, daß das Italienische mit den süd- und mittelitalienischen Dialekten und dem Sardischen die Opposition von kurzen und langen Vokalen beibehält (cane „Hund" : canne „Stöcke", caro „teuer" : carro „Karre" usw.), die es auch im Lateinischen gab, in den anderen romanischen Sprachen jedoch verschwunden ist. Im Spanischen· gibt es nur die Opposition r : rr (pero „aber" : perro „Hund"). Diese Opposition ist auch im Französischen als letzte gefallen. In der altfranzösischen Dichtung reimen Formen wiepere „Vater" und terre „Erde" nie miteinander. Dies ist ein Zeichen dafür, daß es sich nicht um eine bloße graphische Tradition handelte, sondern daß die beiden Wörter tatsächlich verschieden ausgesprochen wurden. (Dieses Beispiel zeigt

146

IX. Die Phonologic

außerdem, was für Hilfsmittel man heranziehen kann, um die Phonologic von toten Sprachen zu rekonstruieren.) 8 Diese Übersicht ist aus mancherlei Gründen recht dürftig. Eine gründlichere Erörterung von phonologischen und phonetischen Phänomenen braucht technische Einzelheiten, auf die wir hier verzichten wollten (man vergleiche dazu die in Anmerkung 6 zitierten spezielleren Arbeiten). Dazu kommt, daß für manche Sprachen zwar viele Studien vorliegen, viele andere aber noch wenig erforscht sind. Es ist auch schwer, aus provisorischen Arbeiten oder, wie es manchmal vorkommt, aus Arbeiten, die mehr in den Bereich der historischen Phonetik als in denjenigen der Phonologie gehören, eindeutige Ergebnisse in einfacher Form zu gewinnen. Arbeiten im Rahmen der generativen Phonologie sind bislang noch eher selten. Wir haben uns bei der Behandlung der phonologischen Systeme der Romania kontinua auf nur drei Varianten gestützt. Dabei haben wir nach unserer Vorstellung dem Bild von der Vielfalt der romanischen Lautsysteme weniger Abbruch getan als man vielleicht annehmen möchte. Denn die aberrantesten Spielarten findet man zweifellos nicht dort, sondern in den Dialekten Norditaliens. Zur Vervollständigung des bisher entworfenen Bildes zeigen wir deshalb nun die Vokalsysteme zweier Dialekte des Piemonts. Das System der Mundart von Turin sieht folgendermaßen aus: i

e1

y 0

u o

Es fällt auf, daß es hier wie im Französischen eine Reihe von vorderen Vokalen gibt, die gerundet sind: /y/ und /0/ (z.B. in püs „Tierchen", pös „ich kann", die übrigens ein Minimalpaar bilden). Der Vokalismus des Turiner Dialekts hat Ähnlichkeit mit dem, was einmal der Vokalismus des Altfranzösischen gewesen sein muß, bevor die Nasalvokale phonologisiert wurden, (e1 stellt ein sehr geschlossenes e dar, das dem i nahekommt; es kommt z.B. in te'rsa „Zopf" vor, das mit tersa „dritte" ein Minimalpaar bildet). Der Dialekt von Biella in der Valle d'Andorno (ebenfalls im Piemont) besitzt ein Vokalsystem mit Oppositionen von lang und kurz (als neuere Entwicklung, und nicht als Relikt aus dem klassischen Latein): i

i: y

e

u

1

e

o e s a

o a:

Beispiele für die Opposition von / i / : /i:/ und / a / : /a:/ sind /di/ „sagt": /di:/ „Finger"; /nas/ „wird geboren": /na:s/ „Nase". Hier erscheint in der Reihe der gerundeten Vorderzungenvokale nicht /0/, sondern Schwa, d.h. /a/, das z.B. mit / / in /ssk/ „trocken": /sek/ „Säcke" in Opposition steht. Dieses System ist heute 8

L. Renzi, // ruolo dell' „Orthographia Gallica" per una fonematica del francese antico, in: Studi di letteratura francese 2 (1969), S. 289-295.

3. Französisch

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dem Druck des Turiner Dialekts ausgesetzt; im Verschwinden begriffen sind vor allem die Quantitätsoppositionen. 9 Wir versuchen nicht, diese beiden Systeme mit Hilfe von distinktiven Merkmalen darzustellen. Eine solche Formulierung läßt sich nicht wie im Italienischen, Portugiesischen oder Spanischen direkt in Angriff nehmen. In gewissen Fällen, z. B. im Französischen, ist es notwendig — sofern wir uns auf die oben festgelegten Merkmale beschränken — zunächst den üppigen „Oberflächenvokalismus" auf eine geringere Zahl zu reduzieren, d.h. eine einfache phonologische Tiefenstruktur auszumachen, von der aus die an der Oberfläche erscheinenden Elemente durch Regeln ableitbar sind. Wir zeigen dies gleich am Beispiel des Französischen. Die Originalität eines Systems ändert sich durch ein solches Vorgehen nicht, da die Zahl der postulierten Phoneme allein nicht entscheidend ist. Die beiden piemontesischen Systeme sind vom Italienischen auf jeden Fall sehr verschieden und als solche auch sehr komplex; auch ihr Abstand vom Lateinischen ist historisch immer offenkundig. Aber diese Verschiedenheit läßt sich mit Regeln (wie oben im Falle der Neutralisierung der unbetonten Vokale im Italienischen und im Portugiesischen) ebensogut oder vielleicht noch besser zeigen als im Rahmen eines Phoneminventars. 3. Was die Organisation des französischen Satzes auf der Ausdrucksebene betrifft, verweisen wir auf Kap. VII, § 2, Nr. 14. Diese Art von Organisation ist vielleicht der originellste Aspekt des Französischen gegenüber den anderen romanischen Sprachen. Aber auch der Phonembestand des Französischen hat eine Entwicklung genommen, die erheblich von derjenigen der anderen romanischen Sprachen abweicht, zeitlich jedoch wiederum nicht sehr weit zurückliegt, d. h. mit Sicherheit erst nach der ersten bekannten Phase des Altfranzösischen angelaufen ist. Der Vokalismus des Französischen ist außerordentlich komplex.10 In seiner Maximalform erscheint er mit dem oralen und dem nasalen System graphisch wie folgt: i

V e

u 0

9

o

ce

ce

a

Beispiele für Oppositionen unter oralen Vokalen: /a/:/a/ /e/:/e/ /o/:/o/ /oe/:/0/:/a/

9 10

// bat: qu'il bat (in Neutralisation begriffen) fee:fait paume:pomme jeune:jeüne (einziger Fall): je n(e) dis pas

J. P. Soffietti, Phonemic Analysis of the Word in Turinese, New York 1949; G. Berruto, Dialetto e societä industriale nella Volle d'Andorno, Turin 1970. Zur Phonologic des Französischen (außer den oben genannten allgemeinen Werken) A. Martinet, La pronunciation du franqais contemporain, Paris 21971, und H. Walter, La phonologic du frangais, Paris 1977; F. Carton, Introduction ä la phonetique dufranqais, Paris 1974; W. Rothe, Phonologic des Französischen, Berlin 1972; S. A. Schane, French Phonology and Morphology, Cambridge (Mass.) 1968; Sur le degre d'abstraction de la phonologic dufranqais, in: Langages 8 (1973), Nr. 32, S. 27-38.

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IX. Die Phänologie

Opposition von Oral- und Nasalvokalen: /a/:/a/:/ä/ /O/I/D/I/O/ / /:/ /:/ / /0/:/ce/

bat:bät:banc beaute:boüe:bonte fee:fait:fin eux:un

Zählt man die Oppositionen, die im Verschwinden begriffen sind, und diejenigen, die nur eine geringe funktionale Belastung aufweisen, nicht mehr mit, dann gelangt man zu folgendem reduzierten Schema der oralen Vokale:

i

y e

u 0

o

Das Schema der Nasale läßt sich ebenfalls reduzieren, wenn man davon ausgeht, daß /ce/ und / / identisch sind, wie man heute zumeist annimmt, etwa im Falle von brin „Halm" und brun „braun" oder von un possible und impossible. Wir erhalten dann:

Es gibt noch viele Besonderheiten des Französischen. Dazu gehört vor allem der Status von /a/. Ein Wort wie semaine kann, je nach Rhythmus und Stil auf drei verschiedene Arten ausgedrückt werden: [smsn] / [ssmen] / [samEina]. Man kann die dritte Form als Basis betrachten und sagen, in den ersten beiden Formen sei hl eine Nullvariante. Daß die Phoneme /y/ und /0/ oft auf das keltische Substrat zurückgeführt wurden, ist oben (Kap. V, § 5) unter historischen Gesichtspunkten bereits erwähnt worden. Beide Phoneme gibt es auch im Provenzalischen und in den meisten norditalienischen Mundarten. Sie sind im Verlaufe der ältesten Phase des Französischen langsam in Erscheinung getreten: /y/ kommt schon im 10. Jh. vor, hat aber erst spät alle Dialekte erreicht; der Wandel 101