Einführung in die linguistische Diskursanalyse 3534255240, 9783534255245

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Titel
Impressum
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Erste Annäherung an den Diskursbegriff
1.2 Diskursanalyse in der Linguistik
1.3 Aufbau und Ziel dieser Arbeit
1.4 Kurze Geschichte des Diskursbegriffs
2. Diskurs in anderen Disziplinen
2.1 Diskurs in der Philosophie
2.2 Diskurs in der Geschichtswissenschaft
2.3 Diskurs in der Soziologie
3. Diskurs in der Linguistik
3.1 Begriffsgeschichte als Vorläuferin der Diskurslinguistik
3.2 Annäherung an einen linguistischen Diskursbegriff
3.3 Textkorpora als Grundlage
3.4 Diskursanalyse: Methode, Theorie, Haltung oder Kunst?
3.5 Diskursanalyse: Beschreibung von oder Kritik an?
Aufgaben zu Kapitel 3
4. Methoden der linguistischen Diskursanalyse
4.1 Dimensionen der Analyse
4.2 Die Analyse der Lexik
4.3 Die Analyse der Metaphorik
4.4 Die Analyse der Argumentation
Aufgaben zu Kapitel 4
Lösungsvorschläge
Literaturverzeichnis
Sachregister
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Einführung in die linguistische Diskursanalyse
 3534255240, 9783534255245

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Thomas Niehr

Einführung in die linguistische Diskursanalyse

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-25524-5

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73275-3 eBook (epub): 978-3-534-73276-0

Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1.1 Erste Annäherung an den Diskursbegriff .

7

1.2 Diskursanalyse in der Linguistik . . .

8

1.3 Aufbau und Ziel dieser Arbeit. . . . .

10

1.4 Kurze Geschichte des Diskursbegriffs

12

2. Diskurs in anderen Disziplinen . . . . . .

16

2.1 Diskurs in der Philosophie . . . . . .

16

2.2 Diskurs in der Geschichtswissenschaft .

20

2.3 Diskurs in der Soziologie .

24

3. Diskurs in der Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

3.1 Begriffsgeschichte als Vorläuferin der Diskurslinguistik .

27

3.2 Annäherung an einen linguistischen Diskursbegriff . . .

29

3.3 Textkorpora als Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . .

32

3.4 Diskursanalyse: Methode, Theorie, Haltung oder Kunst?

44

3.5 Diskursanalyse: Beschreibung von oder Kritik an? .

50

Aufgaben zu Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . .

64

4. Methoden der linguistischen Diskursanalyse .

66

4.1 Dimensionen der Analyse. .

66

4.2 Die Analyse der Lexik. . . . . .

70

4.3 Die Analyse der Metaphorik . .

93

4.4 Die Analyse der Argumentation

100

Aufgaben zu Kapitel 4 . . . . . . . .

124

Lösungsvorschläge .

127

Literaturverzeichnis.

131

Sachregister . . . . .

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1. Einleitung 1.1 Erste Annäherung an den Diskursbegriff Den meisten, wenn nicht allen Lesern' dieser Einführung wird der Begriff

Diskursbegriff

Diskurs schon häufiger begegnet sein. Würden sie jedoch gebeten, eine kurze Definition dieses Begriffs zu geben, dann sähen sie sich vermutlich außer Stande, dieser Bitte nachzukommen. Dies ist einerseits der Vagheit abstrakter Begriffe wie Diskurs, Kommunikation oder Wissen geschuldet. Andererseits scheint sich insbesondere der Diskursbegriff einer näheren Bestimmung entziehen zu wollen. Unabhängig davon - und das trägt ebenfalls zur Begriffsverwirrung bei - wird Diskurs in unterschiedlichen Disziplinen mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Und selbst innerhalb der Disziplinen kann man nicht von einem einheitlichen Begriffsverständnis ausgehen. Dies gilt beispielsweise für die Soziologie wie auch für die Linguistik. Schließlich wird die Situation dadurch verkompliziert, dass es als chic

Plastikwörter

gilt, ursprünglich wissenschaftliche Termini auch alltagssprachlich zu verwenden. Für die solchermaßen in die Umgangssprache diffundierenden Vokabeln hat dies mitunter Konsequenzen: Sie werden - so ist sprachkritisch eingewendet worden - zu "Plastikwörtern" (Pörksen 1988), die austauschbar und in verschiedene Sachbereiche übertragbar sind, ohne dass die Sprecher über eine Definition verfügten: Es gibt keinen Bereich, in dem nicht ,Beziehungen' und ,Probleme' gese­ hen, ,Strategien' entwickelt und ,Lösungen' gefunden werden. Überall be­ gegnen wir ,Systemen' und ,Partnern', finden wir ,Kommunikation' und den Austausch von ,Information', überall spielen sich ,Prozesse' ab, sind ,Entwicklungen' zu beobachten, wird der ,Fortschritt' propagiert. (Schiewe 1998: 274f.)

Möglicherweise muss Pörksens Liste von Plastikwörtern (Pörksen 1988: 41)

Diskurs als

nicht nur durch die Ausdrücke Globalisierung Flexibilität und Virtualität

Modewort

Die Verwendung geschlechtsneutraler Formulierungen

(Studierende)

dient dem

(berechtigten) Interesse an einem geschlechtergerechten Sprachgebrauch. Um den vorliegenden Text lesbar zu halten, wurde jedoch auf Doppelformen

und Leser)

gegriffen.

(Leserinnen

verzichtet und gegebenenfalls auf das generische Maskulinum zurück­

8

1. Einleitung

(vgl. Schiewe 1998: 274) ergänzt werden, sondern inzwischen auch durch

Diskurs bzw. diskursiv. So bemerkt schon Schöttler vor mehr als 15 Jahren, dass auch Diskurs zu einem Allerweltswort geworden ist: Kein Oberseminar mehr ohne Diskurs. Aber auch: kein Feuilleton mehr ohne Diskurs, keine Volkshochschule, keine Talk-Runde, kein Juso-Ortsver­ ein. Das mag eine vorübergehende Modeerscheinung sein, aber auch Mo­ den haben ihren symptomatischen Wert und bedürfen einer entsprechen­ den Interpretation. Das heißt: Man muß sich fragen, was diese neue Vokabel im wissenschaftlichen und politischen Alltagsgebrauch zu bedeu­ ten hat. Wofür steht sie? Welche anderen Wörter wurden dadurch ver­ drängt? Diskurs in der Wissenschaft

(Schöttler 1997: 134 f.)

Wenn Diskurs aber inzwischen zu einem Modewort geworden ist, ist der Ausdruck dann nicht möglicherweise als wissenschaftlich präziser Begriff disqualifiziert (vgl. Schöttler 1989: 102 f.), fungiert er dann "nur noch als Imponiervokabel, als Metapher, als leere Hülse" (SchöUler 1997: 142), ist er möglicherweise lediglich ein "Platzhalter für Unklarheiten" (Brunner 2000: 142)? Ist der Diskursbegriff unter diesen Umständen nicht sogar schädlich oder mindestens entbehrlich? So weit möchte die vorliegende Einführung nicht gehen. Vielmehr lässt sich ja zu Recht fragen, ob die zunehmende Ver­ wendung des Ausdrucks Diskurs nicht ein berechtigtes Bedürfnis erfüllt, "insofern er (methodologisch) Orientierungsmöglichkeiten in einem Feld skizziert, in dem es um die Gewinnung und Gewichtung von Erkenntnis, Erfahrung und (praktischer) Orientierung geht unter der Voraussetzung, daß derartige kognitive und orientierende Leistungen nicht mehr selbstverständ­ lich als theologisch oder ontologisch vorgegeben gedacht werden" (Kohl­ haas 2000: 30). Abgesehen davon und ohne hier in ein kulturkritisches Lamento über die "Entwertung" von Begriffen oder ihre "Sinnentleerung" zu verfallen, lässt sich allerdings feststellen, dass die beschriebene Entwick­ lung der vermehrten Verwendung des Ausdrucks Diskurs insofern proble­ matisch ist, als sie insbesondere bei denjenigen Ratlosigkeit hervorrufen kann, die sich intensiver mit diskursanalytischen Fragen beschäftigen möch­ ten und sich noch im Stadium einer ersten Annäherung befinden. Die hier vorliegende Einführung will die skizzierte Entwicklung des Diskursbegriffs nicht bewerten. Sie sieht ihre Aufgabe eher darin, eine erste Orientierung für diejenigen zu bieten, die bislang nicht die Gelegenheit gefunden haben, sich näher mit der Theorie oder den forschungspraktischen Herausforderun­ gen von Diskursanalysen auseinanderzusetzen.

1.2 Diskursanalyse in der Linguistik Bindestrich-

In der Linguistik werden jene Teilbereiche, die sich mit Phänomenen

Linguistik

beschäftigen, die im Grenzgebiet von Linguistik und anderen Disziplinen anzusiedeln sind, gerne als "Bindestrich-Linguistik" bezeichnet. Bekannte

1.2 Diskursanalyse in der Linguistik

Beispiele sind die Sozio-Linguistik, die sich mit den vielfältigen Wechsel­ wirkungen zwischen Sprache und Gesellschaft beschäftigt, die Psycho-Lin­ guistik, die auf Erkenntnissen der Psychologie und der Linguistik aufbaut oder auch die Polito-Linguistik, die das Verhältnis von Sprache und Politik auszuloten versucht. Auch andere Teilgebiete der Linguistik führen ihre Untersuchungsobjekte bereits im Namen: Während sich die Text-Linguis­ tik dem Aufbau, der Struktur sowie der Klassifikation von Texten widmet, geht es der Gesprächs-Analyse um die Regularitäten, die in natürlichen Gesprächen von den Gesprächsteilnehmern üblicherweise (unbewusst) befolgt werden. Versuchte man jedoch in einem Satz anzugeben, was das Untersuchungsobjekt der Diskurs-Linguistik sei, dann führte dies unwei­ gerlich zu Schwierigkeiten. Dies liegt einerseits daran, dass der Diskursbe­ griff nach wie vor wenig einheitlich verwendet wird. Und dies gilt nicht nur inter-, sondern auch innerdisziplinär. Darüber hinaus vertreten diejeni­ gen, die den Diskursbegriff verwenden, durchaus unterschiedliche Auffas­ sungen darüber, wie ein Diskurs mit linguistischen Mitteln zu analysieren sei. Erschwert wird die Situation durch die Tatsache, dass der Terminus Ois­ kursanalyse auch innerhalb der Linguistik für verschiedene Forschungsge­

Diskursanalyse als Gesprächsanalyse

biete verwendet wird. So findet sich für die Erforschung der Regularitäten, die in Gesprächen herrschen, eine Fülle von Bezeichnungen, neben Konver­

sationsanalyse und Gesprächsanalyse eben auch Diskursanalyse: "Was sich unter wechselndem Namen kundgibt, stellt eine Rezeption der amerikani­ schen ,conversational analysis' dar oder ist doch wesentlich durch diese angeregt" (Henne/Rehbock 2001: 1). Dies ist ein anderes linguistisches For­ schungsgebiet, das sich vornehmlich mit natürlichen Gesprächen beschäf­ tigt und andere Fragestellungen an sein Material heranträgt als die in dieser Einführung zur Diskussion stehende Diskursanalyse. Unabhängig von dieser Begriffsvielfalt mutet es erstaunlich an, dass nicht nur innerhalb der Linguistik Diskursanalysen "in" sind und zu einem neuen Forschungsparadigma geworden sind. Ein nur flüchtiger Blick in Verlags­ prospekte mit linguistischen Neuerscheinungen kann dies eindrucksvoll bestätigen. Auch in der Lehre und bei studentischen Arbeiten haben linguis­ tische Diskursanalysen eine gewisse Prominenz gewonnen. So schreiben Spitzmüller und Warnke in ihrer Einführung (2011: 1), Diskurs habe sich "zum beliebten Thema sprachwissenschaftlicher Qualifikationsschriften (Bachelor-, Magister-, Master-, Doktor- und Habilitationsarbeiten) sowie auch universitärer Seminare und Vorlesungen" entwickelt. Diese Entwicklung ist relativ neu. Noch vor etwa 20 Jahren begegnete Autoren, die für eine diskursanalytische Vorgehensweise in der Linguistik argumentierten, große Skepsis, wenn nicht gar Unverständnis. Dass die Diskursanalyse in der Linguistik einen solch prominenten Status gewinnen würde, war also keineswegs abzusehen.

Diskurs als neues Forschungs­ paradigma

9

10

1. Einleitung

1.3 Aufbau und Ziel dieser Arbeit Methoden der Diskursanalyse

Dass der Diskursanalyse vor wenigen Jahrzehnten noch mit großer Reserviertheit begegnet wurde, lässt sich erklären. Dies ist eine der Aufgaben, der die vorliegende Einführung in die Diskursanalyse nachgehen wi11. Dabei wird es auch darum gehen, die allmähliche Erarbeitung einer dis­ kursanalytischen Methodik nachzuzeichnen. Hierzu muss allerdings schon jetzt vorausgeschickt werden, dass es "die eine" diskursanalytische Metho­ dik bislang nicht gibt. Betrachtet man die kurze Geschichte der Diskurs­ analyse, so gehört auch nicht allzu viel Phantasie dazu vorauszusagen, dass eine solche allgemein anerkannte Theorie und Methodik der Diskur­ sanalyse kaum jemals zu erwarten sein wird. Mit gutem Recht lässt sich allerdings fragen, ob sie überhaupt wünschenswert wäre. Die hier vorlie­ gende Einführung gibt dem Theorie- und Methodenpluralismus stattdessen den Vorrang.

Nachschlagewerk

Sie versteht sich als Handreichung für Studierende, die sich vor die Aufgabe gestellt sehen, eine eigene Diskursanalyse durchzuführen. Dabei soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass es recht schwierig ist, konkrete Handlungsanweisungen zu geben, da Diskursanalysen durch das Spezifi­ kum charakterisiert sind, dass durch die Zusammenstellung des zu analysie­ renden Textkorpus die zu erzielenden Ergebnisse nachhaltig beeinflusst werden. Immerhin kann eine Einführung in die Diskursanalyse einige Hin­ weise dazu geben, wie die Zusammenstellung eines Textkorpus sinnvoller­ weise erfolgen könnte. Weiterhin kann sie dafür sensibilisieren, welche sprachlichen Phänomene, die sich im Textkorpus finden lassen, einer dis­ kursanalytischen Herangehensweise zugänglich sind und welche Fragen ein Textkorpus überhaupt beantworten kann. Zu diesem Zweck werden in dieser Einführung bereits vorliegende Diskursanalysen immer wieder exem­ plarisch herangezogen, um den Lesern instruktive und anschauliche Bei­ spiele für die Leistungsfähigkeit diskursanalytischer Vorgehensweisen auf­ zeigen zu können. In erster Linie soll die Einführung als praktischer Ratge­ ber verstanden werden und Anleitung zu eigenen Diskursanalysen geben. Demgegenüber wird die Beschäftigung mit theoretischen Konzepten zur Diskursanalyse auf das notwendige Mindestmaß beschränkt.

Foucault-Rezeption

Betrachtet man die vorliegende Literatur zur linguistischen Diskursanalyse - sie füllt bereits jetzt viele Bücherregale -, so taucht dort regelmäßig der Name Michel Foucault auf. Viele Diskurstheoretiker berufen sich auf die Arbeiten des 1984 verstorbenen Forschers, der wegweisende Diskursanaly­ sen veröffentlicht (etwa Foucault 1971, 1973b, 1977) und das theoretische Konzept "Diskurs" immer wieder ausführlich reflektiert hat (v. a. Foucault 1971, 1973a). Wenn sich in dieser Einführung keine Foucault-Interpretation findet, dann hat dies im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens finden sich in den Werken Foucaults kaum konkrete Anhaltspunkte, die Studierenden als Hinweise dienen könnten, wie ihre eigenen Diskursanalysen sinnvoll geplant und durchgeführt werden könnten. Aus den Arbeiten Foucaults lässt sich nämlich kein linguistisches Forschungsdesign ableiten. Zweitens ist die Foucault-Rezeption teilweise zu einem erbitterten Streit darüber degene-

1.3 Aufbau und Ziel dieser Arbeit 11

riert, wer sich überhaupt mit welchem Recht auf welche Werke oder Passa­ gen Foucaults berufen darf. Dass die Äußerungen und die Terminologie Foucaults ihrerseits nicht immer besonders präzise sind, kommt erschwe­ rend hinzu. Die Auseinandersetzungen um die "richtige" Interpretation Fou­ caults haben jedenfalls in Teilen pseudo-religiöse Züge angenommen. Man kann diese Auseinandersetzungen mit einem gewissen Amüsement zur Kenntnis nehmen - Studierenden, die Anregungen für eigene Diskursanaly­ sen suchen, werden sie indes kaum weiterhelfen. Weiterführende Literatur zur Diskursanalyse nach Foucault ist recht gut zugänglich, und eine kom­ mentierte Literaturauswahl kann beispielsweise der Einführung von Spitz­ müllerlWarnke (2011: 118ff.) oder dem informativen Sammelband von Bus­ se!reubert (2013) entnommen werden. An geeigneter Stelle wird auf die Möglichkeiten computergestützter Ver­

Software

fahren hingewiesen. Dabei kann allerdings nicht auf die Vielzahl der zur Verfügung stehenden Programme eingegangen werden, die man sich für Diskursanalysen zunutze machen kann. In dieser Einführung soll lediglich anhand kleinerer Beispielanalysen gezeigt werden, dass insbesondere für quantitative Analysen ausgereifte und nützliche Software zur Verfügung steht. Bevor dies alles geschehen kann, soll im 2. Kapitel jedoch ein Blick auf andere Disziplinen geworfen werden, in denen ebenfalls mit diskursanalyti­

Diskursanalyse in anderen Disziplinen

schen Mitteln gearbeitet wird. Dies ist für eine Einführung in die linguisti­ sche Diskursanalyse schon deshalb unerlässlich, weil der Diskursbegriff Hochkonjunktur hat. Es ist weiterhin unverzichtbar, um herauszuarbeiten, welches spezielle Diskurs-Verständnis in der Linguistik vorherrschend ist und in welchem Zusammenhang es mit den Diskursbegriffen anderer Diszi­ plinen steht. Es ist allerdings auch vermessen, die umfangreichen methodo­ logischen Überlegungen und empirischen Analysen anderer Disziplinen in einem Kapitel dieses Buches abhandeln zu wollen. Deshalb kann es sich hier nur um eine strenge Auswahl handeln, in der exemplarisch solche Ansätze aus Nachbardisziplinen skizziert werden, die einen Anschluss oder zumindest Berührungspunkte zur linguistischen Diskursanalyse aufweisen. Allen Leserinnen, die sich mit diesen Ansätzen näher beschäftigen möch­ ten, werden entsprechende Literaturhinweise an die Hand gegeben, die eine weiterführende Lektüre ermöglichen. Schließlich muss es darum gehen - und dem widmet sich das 3. Kapitel-, den Diskursbegriff für die Linguistik fruchtbar zu machen. Dies kann am besten dadurch geschehen, dass eine Annäherung an die - auch in der Lin­ guistik - anzutreffende Begriffs- und Methodenvielfalt und -heterogenität gesucht wird. Diese Vielfalt mag mit dafür verantwortlich sein, dass insbe­ sondere Studierende, die mit diskursanalytischem Arbeiten noch nicht so vertraut sind, abgeschreckt werden, und zwar sowohl von der uneinheitli­ chen Terminologie als auch von der Bandbreite der Fragen, die man mit diskursanalytischen Mitteln zu beantworten sucht. Die vorliegende Einführung hat es sich zum Ziel gesetzt, nicht nur ver­ schiedene

diskursanalytische

Schulen

zu

präsentieren,

sondern

auch

Orientierung zu geben, indem sie verdeutlicht, welche der diskursanalyti-

Diskursbegriff der Linguistik

12

1. Einleitung

schen Ansätze sie aus welchen Gründen für empfehlenswert und praktika­ Düsseldorfer Schule

bel hält. Dies geschieht vorwiegend im 4. Kapitel, das in erster Linie dazu dient, anhand zahlreicher Beispiele die Leistungsfähigkeit einer Variante der lin­ guistischen Diskursanalyse zu illustrieren, die in der linguistischen Literatur hin und wieder mit dem Terminus "Düsseldorfer Schule" bezeichnet wird. Da inzwischen eine ganze Reihe empirischer Analysen vorliegen, die sich diesem Ansatz verpflichtet fühlen, können anhand konkreten Materials die Fragestellungen, Analyseergebnisse, Stärken und Schwächen dieser diskurs­

Zweck dieser Einführung

analytischen Herangehensweise illustriert werden. Sollte es auf diese Weise gelingen, den Lesern einen ersten Weg zur lin­ guistischen Diskursanalyse zu ebnen und bestenfalls auch noch das nötige Selbstvertrauen zu vermitteln, um vor den Anforderungen einer empirisch gesättigten linguistischen Diskursanalyse nicht gleich zu kapitulieren, dann hätte diese Einführung ihren Zweck erfüllt.

1.4 Kurze Geschichte des Diskursbegriffs discursus

Die Geschichte des Diskursbegriffs kann inzwischen als recht gut erforscht gelten (vgl. Keller 2011a: 99 ff., Kohlhaas 2000, Schalk 1997/1998) und soll deshalb hier nicht in allen Details nachgezeichnet werden. Das Wort stammt von lat. discursus (,Erörterung', ,Mitteilung') bzw. discurrere (,aus­ einanderlaufen', ,mitteilen', ,erörtern'). ",Discursus' ist bereits im Altlateini­ schen ein Allerweltswort" (Schalk 1997/1998: 61). Eine Bedeutung im Sinne von ,Rede' oder ,Gespräch' findet sich jedoch im Altlateinischen noch nicht. Vielmehr lässt sich der Ausdruck in zahlreichen Kontexten verwen­ den, ohne dass sich ein klarer Bedeutungsumfang abzeichnet (vgl. ebd.). Dies ändert sich im 13. Jahrhundert, als discursus zum philosophischen Ter­ minus wird, der sich auf das menschliche bzw. wissenschaftliche Wissen bezieht (vgl. ebd.: 64). Diskursiv steht in der Spätantike im Gegensatz zu intuitiv und lässt sich im Wesentlichen negativ bestimmen: Während die göttliche Intelligenz intuitiv, d. h. durch reine Evidenz erkennend ist, bedarf das menschliche Denken zur Erkenntnis eines schlussfolgernden Modus: "Der ,diskurrierende' Verstand durchläuft, analysierend und folgernd logi­

Diskurs VS. Traktat

sche Figuren. Er bewegt sich also immer über Etappen, die einen jenseitigen Horizont haben." (Kohlhaas 2000: 38) Eine interessante Entwicklung macht der Diskursbegriff in der italienischen Renaissance durch. Er wird nun in Bezug auf geschriebene wie auch gesprochene Sprache verwendet (vgl. Schalk 1997/1998: 81 f.). In diesem Zusammenhang wird Diskurs zunehmend vom Traktat abgegrenzt. Diese Abgrenzung bezieht sich insbesondere auf die Form der Darstellung: Unge­ sichertes Wissen, das in Texten verbreitet werden soll, bedarf einer reflexiv­ argumentativen Darstellungsform und kann nicht allein logisch deduktiv hergeleitet werden:

1.4 Kurze Geschichte des Diskursbegriffs

Im Unterschied zum Traktat integriert die Argumentationsstruktur des Diskurses sowohl die kommunikative Dimension als auch die Dimension Zeit. Er setzt, zugespitzt formuliert, nicht auf logische Ableitung, sondern appelliert, argumentierend, an den Adressaten, auch seine Zustimmung oder Kritik argumentierend abzuwägen. Er impliziert die dialogische Mo­ dellierung und Erweiterbarkeit seines Gegenstandes, und er rechnet mit der Revidierbarkeit der eigenen Darstellungsweise.

(Kohlhaas 2000: 44)

Als Beispiele für diese Tradition führt Kohlhaas (ebd.: 44 ff.) die berühmten

Machiavelli vs.

Schriften von Machiavelli und Galilei an, die als Muster für wissenschaft­

Galilei

lich-dialogische Abhandlungen stehen können, in denen unterschiedliche argumentative Positionen gegeneinander abgewogen werden. Machiavellis

1533 postum veröffentlichte Discorsi sopra /a prima Deca di Tito Livio sind eine "offene Erörterung" (ebd.: 46), für die die überkommene Darstellungs­ form der theologischen Traktate wenig geeignet erschien. Mit dieser Dar­ stellungsform einher geht eine Abschwächung des Geltungsanspruchs der jewei I igen Argumentation:

Wo die Erfahrung ihre Befunde erst aufarbeiten muß, um verläßliche Orientierungspunkte zu setzen, kann der Autor nicht jene Gewißheit beanspruchen wie im herkömmlichen Herrschaftstraktat. Seine noch ex­ plorativen Folgerungen werben anders um Zustimmung als die Deduktio­ nen desjenigen, der im gesicherten Raum der auctoritas argumentiert. Im­ merhin greift Machiavelli in einer Situation zu der titulären und/oder generischen Bezeichnung "discorso" bzw. dem Verb "discorrere", wo es gilt, die performativen Ansprüche der Argumentation aus taktischen Erwä­ gungen abzuschwächen, nämlich gegenüber einem Adressaten, der rasch die politische Seite wechseln oder dem Schreibenden sein Wohlwollen entziehen kann.

(Kohlhaas 2000: 47f.)

Eine ähnlich strategisch motivierte Verwendung des Diskursbegriffs lässt

Galileis

sich auch in Galileis Dia/ogo dei massimi sistemi finden: Ihr liegt die von

Diskursbegriff

der Inquisition gemachte Auflage zugrunde, das von Galilei vertretene kopernikanische System nicht als Gewissheit, sondern lediglich als Hypo­ these zu behandeln (vgl. ebd.: 48). Im 16./17. Jahrhundert wird die adressatenorientierte Form des Diskurses, der discours, auch in Frankreich populär. Descartes' Discours de /a metho­

Diskurs im 16./17. Jhd.

de aus dem Jahre 1637 ist dafür ein berühmtes Beispiel. Auch hier ist die Gattungsbezeichnung (discours statt trait€) dem argumentativen Verfahren geschuldet: "Gegen den Objektivismus des Traktats bringt die cartesiani­ sehe Diskursvariante die Subjektivität als Begründungsinstanz der Vernunft ins Spiel." (Ebd.: 51) Im 18. Jahrhundert finden sich dann sowohl traktathafte wie auch diskur­ sive Abhandlungen. Beide Formen lassen sich beispielsweise im Werk Georg Christoph Lichtenbergs ausmachen, der naturwissenschaftliche Fra-

Diskurs im 18. Jhd.

13

14 1. Einleitung gen eher diskursiv, Fragen der Kunst, Psychologie und Anthropologie eher traktathaft bearbeitet (vgl. ebd.: 52). Diskurs im 19. Jhd.

Eine neue Entwicklung ergibt sich im 19. jahrhundert. Mit dem Aufschwung und der Hochachtung der exakten Naturwissenschaften einher geht das Ideal einer eher formalen Argumentation zum Zwecke analytischer Transparenz. Diskursive Darstellungsweisen verlieren demgegenüber in den Wissenschaften zunächst an Bedeutung (vgl. ebd.: 52 f.).

Diskurs im 20. Jhd.

Entscheidend für den Diskursbegriff im 20. jahrhundert ist eine Bedeutungserweiterung: Meist wird die soziale Dimension von Sprache akzentu­ iert. Dieses erweiterte Begriffsverständnis lässt sich bereits bei Peirce und Mead nachweisen, und zwar in einer Weise, die dem heutigen Begriffsver­ ständnis sehr nahe kommt (vgl. Schalk 1997/1998: 92 f.). Der Diskursbegriff bezeichnet hier nicht mehr (nur) eine kommunikative Form oder Gattung, sondern die Verknüpfung von einzelnem Sprach­ ereignis und den (sprachlich-sozialen) Kontexten der Bedeutungszuwei­ sung, wie sie für die Semiotik und den (Post-)Strukturalismus später in je (Keller 2011 a: 101)

spezifischer Weise zentral werden.

Die neue Popularität

Seit den 50er jahren des 20. jahrhunderts gewinnt Diskurs dann neue Popu­

des Diskursbegriffs

larität. Insbesondere im französischen Poststrukturalismus wird der Begriff von Denkern wie Foucault prominent verwendet. Mit dieser Renaissance des Begriffs einher geht die Betonung sprachlich-kommunikativer Elemente, die (im Gegensatz zu strukturalistischen Ansätzen) stets auch die Akteure und ihre Handlungen in den Blick zu nehmen versucht (vgl. ebd.: 106ff.). In Deutschland gewinnt der Begriff durch die Theorien von Apel und Haber­ mas (s. Kapitel 2.1) an Bedeutung. Zunächst führt dies allerdings zu großer Skepsis und sogar Ablehnung dem Diskursbegriff gegenüber: Er wird als poststrukturalistisch und damit irrational abgelehnt: Kennzeichnend für die Umstrittenheit dieser wissenschaftlichen Strömung ist etwa der Titel eines einflußreichen Diskussionsbandes, nämlich "Der neue Irrationalismus", unter den von Glucksmann über Levy bis zu Fou­ cault alles subsumiert wurde, was der "neuen französischen Philosophie" zugerechnet wurde. Man kann daher sagen: Der Diskurs über die Diskurs­ analyse bei denjenigen, die sie nicht betreiben, ist in Deutschland z. T. heu­ te noch wesentlich geprägt durch den Diskurs über den Irrationalismus. (Busse/Teubert 1994: 10)

Diskurs heute

Zwar hat sich seit 1994, als Busse und Teubert diese Bestandsaufnahme ver­ fassten, einiges in der Einschätzung des Diskursbegriffs verändert. Die Situa­ tion ist heute insofern eine andere, als Diskurs inzwischen als modisches Label für vielerlei verwendet wird und Diskurse - folgt man dem Sprachge­ brauch der Massenmedien - z. B. "im Internet und im Olympischen Dorf" (Brunner 2000: 141) stattfinden. Dies und die Verwendung des Ausdrucks

Diskurs in unterschiedlichen wissenschaftlichen Paradigmen führt allerdings

1.4 Kurze Geschichte des Diskursbegriffs 15

zu einer "begriffI iche[nl Disparität" (Kohlhaas 2000: 36), die es häufig geboten erscheinen lässt, die jeweilige Verwendung durch eine definitori­ sche Annäherung zu explizieren, denn: "Der Kontext entscheidet über die Begriffsbedeutung." (Schalk 1997/1998: 1 04)

2. Diskurs in anderen Disziplinen 2.1 Diskurs in der Philosophie Diskurs bei

Abgesehen von Verwendungen des Diskursbegriffs in der historischen Phi­

Habermas

losophie ist er in der zeitgenössischen Diskussion in erster Linie mit dem Namen Jürgen Habermas verbunden. In Habermas' Theorie des kommuni­ kativen Handeins ist damit eine spezifische Kommunikationsausprägung gemeint, in der es nicht um Informationsaustausch, sondern um die Einlö­ sung von Geltungsansprüchen angeht. Um das zu verstehen, bedarf es eines knappen Einblicks in die Argumentationstheorie, die diesem Konstrukt zu­ grunde liegt.

Geltungsansprüche

Habermas geht davon aus - und das ist in der Argumentationstheorie Konsens -, dass wir, wenn wir unter normalen Bedingungen kommunizie­ ren (d. h. nicht auf der Bühne eines Theaters, nicht beim Zitieren und auch nicht beim ironischen Sprechen etc.), ständig sogenannte Geltungsansprü­ che erheben. So beanspruchen wir u. a. die Wahrheit einer Behauptung, wenn wir sie äußern. Dies zeigt sich daran, dass wir eine Äußerung wie Ich bin ein guter Klavierspieler; aber das stimmt nicht als widersprüchlich emp­

finden. Dieser Widerspruch rührt daher, dass wir mit dem ersten Teil der Äußerung einen Geltungsanspruch auf Wahrheit der Äußerung erheben, der durch den Geltungsanspruch im zweiten Teil der Äußerung gleich wie­ der aufgehoben wird. Man könnte die erhobenen Geltungsansprüche also wie folgt (überdeutlich) explizieren: Ich behaupte, dass es wahr ist, dass ich ein guter Klavierspieler bin, und ich behaupte, dass es wahr ist, dass dies nicht stimmt. Wahrheit,

Selbstverständlich formulieren wir im Alltag nicht so, da wir Geltungsan­

Wahrhaftigkeit,

sprüche (neben der Wahrheit sind hier mindestens noch Wahrhaftigkeit und

Richtigkeit

Richtigkeit zu nennen) meist nur implizit artikulieren. Alle drei Arten von Geltungsansprüchen können jedoch problematisiert und prinzipiell auch argumentativ eingelöst werden. Dies geschieht allerdings üblicherweise erst auf Nachfrage. Wenn also Geltungsansprüche problematisiert werden, sehen wir uns veranlasst, die problematisierten Geltungsansprüche einzulö­ sen. Zumindest gilt dies für diejenige Art der Kommunikation, die wir ratio­ nal nennen. Wenn mir etwa auf der Straße jemand empört zuruft: "Stecken Sie gefäl­ ligst Ihr Hemd in die Hose!", kann ich diesen Sprechakt auf drei verschiede­ ne Arten zurückweisen: "Mein Hemd ist doch bereits in der Hose!" (Wahr­ heit), "Was maßen Sie sich da eigentlich an? Ich laufe so rum, wie es mir

2.1 Diskurs in der Philosophie

gefällt!" (Richtigkeit), oder "Tun Sie doch nicht so empört! Sie wollen sich (lser/Strecker 2010: 72)

ja nur aufspielen!" (Wahrhaftigkeit).

Das kommunikative Verfahren, problematisierte Geltungsansprüche zu kri­

Argumentation

tisieren oder einzulösen, nennt man üblicherweise Argumentation (vgl. Habermas 1981: 38). Deshalb lässt sich Argumentation auch als Verfahren charakterisieren, "Geltungsansprüche im Fall ihrer Problematisierung durch Rede und Gegenrede bzw. durch Nachfragen und Angeben von Gründen erfolgreich zu behaupten" (Kopperschmidt 2005: 75). Argumentation ist keineswegs die einzige Art, problematisierte Geltungs­ ansprüche zu bearbeiten. Denkbar sind auch nicht-rationale Verfahren, die beispielsweise aufgrund kommunikativer (und anderer) Gewalt eine Argu­ mentation unterbinden. Dies ist eine übliche Praxis in nicht-demokratisch organisierten Staaten. Dort ist es an der Tagesordnung, bereits die Proble­ matisierung von Geltungsansprüchen durch Zensur und Androhung von Gewalt zu verhindern. Werden Geltungsansprüche hingegen öffentlich problematisiert, wird dies - wie wir den Medien beinahe täglich entnehmen können - häufig zum Anlass genommen, durch strafrechtliche Maßnahmen eine Argumentation bereits im Keim zu ersticken. Lassen sich die Kommunikationsteilnehmer jedoch auf ein argumentati­ ves Verfahren ein, dann erkennen sie damit implizit bestimmte Standards

Geltungsansprüche und Argumente

an. So müssen sie grundsätzlich bereit sein, ihre Geltungsansprüche mit Argumenten einzulösen, ebenfalls verpflichten sie sich darauf, sich von den (rationalen) Argumenten der Gegenseite gegebenenfalls überzeugen zu las­ sen. Mit jedem Sprechakt, so der Kern der diskurstheoretischen Begründungs­ idee, unterstellen wir sehr anspruchsvolle Bedingungen, unter denen die Argumentationsteilnehmer eine allgemein zustimmungsfähige Lösung er­ mitteln können. In diesem Sinne sollen die Ideale der Herrschaftsfreiheit sowie der Einbeziehung aller bei jeder Sprechverwendung notwendiger­ (Iser/Strecker 2010: 74)

weise unterstellt sein.

Ist die Bereitschaft nicht vorhanden, diese Bedingungen zu erfüllen, dann ist eine Argumentation von vornherein zum Scheitern verurteilt: "Argumen­ tieren

impliziert

die

Anerkennung

aller

argumentativ

legitimierbaren

Geltungsansprüche sowie die Selbstverpflichtung zur Legitimation der eige­ nen Geltungsansprüche (Kopperschmidt 2005: 150). An diesem Punkt setzt Habermas' Diskurstheorie an. Habermas geht davon aus, dass wir die Kommunikation unterbrechen müssen, um in einem Diskurs problematisierte Geltungsansprüche metakommunikativ zu klären. Erst nachdem dies geschehen ist, kann die Kommunikation weitergeführt werden. Dies kann man sich anhand eines Beispiels von Kopperschmidt

(2005: 46) vergegenwärtigen: A: Erwin will schon morgen vorbeikommen! B: Tatsächlich? Der hat doch in München zu tun!

Habermas' Diskurstheorie

17

18 2. Diskurs in anderen Disziplinen A: Doch! Er hat eben angerufen. B:Und? A: Ist schneller fertig als erwartet. B: Na gut. B: Dann müssen wir eben umdisponieren. Einlösen von Geltungsansprüchen mittels Argumentation

Rationalität des Verfahrens

In den eingerückten Passagen wird zunächst der Geltungsanspruch auf Wahrheit der Äußerung von A durch die erste Äußerung von B infrage gestellt. Durch seine Argumente kann A den von B problematisierten Geltungsanspruch einlösen und plausible Argumente für die Wahrheit sei­ ner Behauptung anführen. Nach dieser metasprachlichen Unterbrechung wird die Kommunikation von B fortgesetzt, indem er vorschlägt umzudispo­ nieren. Habermas' Diskurstheorie bezieht sich auf eben jenes Verfahren der Problematisierung und Einlösung von Geltungsansprüchen. Er stellt Überle­ gungen dazu an, wie dieses Verfahren möglichst rational gestaltet werden kann, und kommt zu dem Ergebnis, dass hierzu bestimmte Bedingungen för­ derlich sind. Diese Bedingungen, die man auch als "Geschäftsordnung der Moralbegründung" (Meyer 2000: 88) bezeichnen könnte, werden von ihm mit dem Terminus der idealen Sprechsituation zusammengefasst, in der die am Diskurs Beteiligten - einen problematisch gewordenen Geltungsanspruch thematisieren und, - von Handlungs- und Erfahrungsdruck entlastet, in hypothetischer Einstellung - mit Gründen und nur mit Gründen prüfen, ob der vom Proponenten verteidigte Anspruch zu Recht besteht oder nicht (Habermas

Ideale Sprechsituation

1981: 48).

In einer solch idealen Sprechsituation, die Habermas selbst als "kontrafak­ tisch" (Habermas 1971: 122) bezeichnet, sind "alle Motive außer dem einer kooperativen Verständigungsbereitschaft außer Kraft gesetzt" (ebd.: 117), es herrscht - so Habermas' berühmte Formulierung - "ausschließlich der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Argumentes, der die methodi­ sche Überprüfung von Behauptungen sachverständig zum Zuge kommen läßt und die Entscheidung praktischer Fragen rational motivieren kann"

Anspruch auf Richtigkeit und Wahrhaftigkeit

(ebd.: 137). Allerdings beschränkt sich die mögliche Problematisierung von Geltungs­ ansprüchen nicht auf die Wahrheit von Äußerungen. Es können ebenso die Richtigkeit und die Wahrhaftigkeit von Äußerungen zur Sprache kommen. Zur argumentativen Einlösung dieser Geltungsansprüche bedienen wir uns unterschiedlicher argumentativer Verfahren. In Bezug auf die Wahrheit einer Äußerung reicht eine diskursive Verständigung aller Diskursteilneh­ mer nämlich nicht aus: Die Wahrheit eines Sachverhalts bleibt letztlich unabhängig vom Konsens der Diskursteilnehmer. Auch die am besten begründete Meinung kann sich als falsch erweisen. [ ...] Man kann noch so überzeugende Argumente

2.1 Diskurs in der Philosophie

dafür haben, dass ein Baum mithilfe einer bestimmten Axt gefällt werden kann - wenn er nicht stürzt, muss man diese Überzeugung revidieren. Da­ bei geben solche Fehlschläge erneut keinen direkten Blick auf ,die' Welt frei, wie sie ,eigentlich ist'. Sie nötigen uns lediglich zu neuen Aussagen, Hypothesen oder Theorien über die Welt, die wir - gestützt durch Argu­ mente - in unser Handeln bzw. in den Diskurs einspeisen können. (lser/Strecker 2010: 75)

Geht es dagegen um die Richtigkeit von Handlungsnormen, so ist der Dis­

Richtigkeit von

kurs laut Habermas ein geeignetes Verfahren, um festzustellen, welche Nor­

Handlungsnormen

men auf Zustimmung aller Diskursteilnehmer stoßen. In einem solchen Diskurs geht es um eine dialogische Auseinandersetzung, in der die Per­ spektiven aller Betroffenen ausreichend berücksichtigt werden (vgl. ebd.:

76). Wahrhaftigkeitsfragen jedoch entziehen sich einer diskursiven Klärung: Ob eine Person meint, was sie äußert, und ob sie ihre Bedürfnisse authen­ tisch darstellt, lässt sich zwar diskutieren, erweist sich letztlich aber nur da­ ran, dass sie in Übereinstimmung mit ihren Äußerungen handelt. (lser/Strecker 2010: 75)

In enger Verbindung zu Habermas' Diskurstheorie steht Karl-Otto Apels

Apels Diskursethik

Diskursethik. Sie beschäftigt sich mit dem Problem einer Letztbegründung moralischer Normen und bestätigt in diesem Zusammenhang die zentrale Rolle von Argumentationen. Als Bedingung der Möglichkeit von Argumentation sieht Apel das "Apriori der Kommunikationsgemeinschaft". Dies besagt, dass Argumentation nie voraussetzungslos erfolgen kann, sondern dass der Argumentierende immer schon mindestens zwei Dinge voraussetzen muss: Erstens eine reale Kommunikationsgemeinschaft, deren Mitglied er selbst durch einen Sozialisationsprozess geworden ist, und zweitens eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, die prinzipiell imstande sein würde, den

Sinn seiner Argumente adäquat zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu beurteilen. Das Merkwürdige und Dialektische der Situation liegt aber darin, daß er gewissermaßen die ideale Gemeinschaft in der realen, näm­ lich als reale Möglichkeit der realen Gesellschaft voraussetzt, obgleich er weiß, daß (in den meisten Fällen) die reale Gemeinschaft einschließlich sei­ ner selbst weit davon entfernt ist, der idealen Kommunikationsgemein­ schaft zu gleichen.

(Apel 1999: 429; Hervorhebungen im Original)

Deutlich kommt in diesem Zitat die Nähe zu Habermas' Konstruktion einer

Diskursethik und

idealen Sprechsituation zum Ausdruck. Für Apel ist die Kommunikationsge­

ideale Sprech­

meinschaft eine unabdingbare Voraussetzung für rationales moralisches Handeln. Die von Apel geforderte Diskursethik läuft mithin darauf hinaus, dass die Kommunikationsgemeinschaft über die von ihren Teilnehmern erhobenen Ansprüche zu befinden hat. Wer sich einmal auf das rationale

situation

19

20

2. Diskurs in anderen Disziplinen

Verfahren der Anspruchsprüfung durch Argumentation eingelassen hat, der hat damit - ähnlich wie bei Habermas - schon bestimmte Verpflichtungen akzeptiert: Wer argumentiert, der anerkennt implizit alle möglichen Ansprüche aller Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft, die durch vernünftige Argu­ mente gerechtfertigt werden können (sonst würde der Anspruch der Ar­ gumentation sich selbst thematisch beschränken), und er verpflichtet sich zugleich, alle eigenen Ansprüche an Andere durch Argumente zu rechtfer­ tigen.

(Apel 1999: 424 f.)

Einwände gegen

Dass dies freilich in der Realität keineswegs immer so gehandhabt wird,

Apel und Habermas

wissen Habermas wie auch Apel (vgl. Meyer 2000: 89 f.). Einwände, die gegen die Theorien Apels und Habermas' vorgebracht worden sind, können hier nicht weiter verfolgt werden (vgl. dazu einführend Reese-Schäfer 1990: 56ff., 74 ff., 95 ff., Scheit 2000 und Iser/Strecker 2010: 177 ff.).

Diskursethik als regulative Idee

Die von Habermas (und Apel) entworfene Utopie - merkt der Soziologe Reiner

Keller

an

-

"formuliert

ein

sozial-

und

sprachphilosophisch

begründetes normatives Modell, aber kein Forschungsprogramm" (Keller 2011b: 18). Dieses Modell ist jedoch insofern für die linguistische Diskursanalyse von Bedeutung, als es von einigen Diskursanalytikern als Maßstab bzw. regulati­ ve Idee verwendet wird, an der reale Diskurse gemessen werden (vgl. dazu Keller 2011a).

2.2 Diskurs in der Geschichtswissenschaft Der linguistic turn

In der

Geschichtswissenschaft haben diskursanalytische Ansätze eine

besondere Bedeutung aber auch Brisanz erlangt, weil eine Grundannahme diskursanalytischer Herangehensweisen das Selbstverständnis all jener kul­ turwissenschaftlich ausgerichteten Wissenschaften berührt, "die sich keiner Laboratorien, Versuchsanordnungen und Reagenzgläser bedienen können" (Landwehr 2008: 23). Diese Grundannahme besteht darin, dass unser ge­ samtes Wissen über die Welt sprachlich vermittelt ist, dass Sprache mithin Wirklichkeit konstituiert. Diese weitreichende Erkenntnis wird mit dem Titel

linguistic turn linguistic turn inzwi­ schen weitgehend verstummt und durch andere turns wie den pictorial bzw. iconic turn ersetzt worden. Doch in der Folge des linguistic turn wurde eines Sammelbands von Richard Rorty (1967/1992) gerne als bezeichnet. Zwar sind die Diskussionen um diesen

auch das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft, wenn auch mit Ver­ zögerung, neu und kontrovers diskutiert. Auswirkungen des linguistic turn

Die gesamten Auswirkungen des

linguistic turn zu beschreiben, wäre ein

zum Scheitern verurteiltes Unterfangen und für eine Einführung in die lin­ guistische Diskursanalyse auch wenig angemessen. Immerhin lassen sich wichtige Tendenzen zusammenfassen, die diejenigen kulturwissenschaftli-

2.2 Diskurs in der Geschichtswissenschaft 21

chen Forschungsansätze teilen, für die der linguistic turn bestimmend geworden ist. Grundlegend ist dabei die Überlegung, dass Sprache nicht nur zur Erkenntnis der Wirklichkeit unumgänglich ist, sondern diese Wirk­ lichkeit auch konstituiert. Die meisten dieser Ansätze suchen eine solche Wirklichkeitskonstitution durch Sprache aber nicht in den Strukturen des Sprachsystems, sondern betrachten individuelle und gruppenspezifische sprachliche Handlungen als die Instanzen gesellschaftlicher Konstruktion von Wirklichkeit durch Sprache.

Das vorgegebene sprachliche

Inventar lässt zwar für diese

Sprach handlungen keine absoluten Freiheiten zu; es wird aber in subjekti­ ven, intentionalen und interessegeleiteten Handlungen jeweils bestätigt oder modifiziert. Daher stellen solche Handlungen die konkreten Bedeu­ tungskonstitutionsakte dar.

(Wengeier 2003:

7)

Diese Denkrichtung, die mit Humboldt von der Wirklichkeitskonstitution

Abwehrreaktionen in

bzw. -organisation durch Sprache ausgeht, kann in zahlreichen sich als kul­

der Historiographie

turwissenschaftlich verstehenden Wissenschaftszweigen als weitgehend etabliert gelten. Insbesondere in der Geschichtswissenschaft führte sie aber zu einer Abwehrreaktion,

die in dem Schlagwort vom "Verlust der

Geschichte" kulminierte. Gemeint ist damit ein Zerrinnen des Gegenstands­ bereichs, den die Geschichtswissenschaft erforschen möchte. Diese Vorstel­ lung aber löst Angst aus, wie der Historiker Peter Schöttler feststellt (1997:

147): Warum also diese Angst? Denn daß es unter deutschen Historikern in den letzten Jahren eine weitverbreitete Angst vor einem "Herüberschwappen" des "linguistic turn" mit allem, was damit ebenso panisch wie frei asso­ ziiert wurde, gegeben hat und teilweise noch immer gibt, ist unbezweifel­ bar.

Ein wichtiger Grund für diese Angst dürfte mit der Auffassung zu tun haben,

"Sachgeschichte"

dass es eine unabhängig von Sprache existierende Sachgeschichte als

als Material

"Material" der historiographischen Erforschung gebe. Mit dieser Auffassung einher geht die Vorstellung, dass geschichtliche Quellen nur der Erschlie­ ßung der außersprachlichen Wirklichkeit dienen, dass Sprache und Kultur "eher als Dekoration, als bloßer Zusatz" zu gelten hätten. Diese in der "mainstream-Geschichtswissenschaft" (Sarasin 2011: 62) vorherrschende Überzeugung musste im linguistic turn geradezu eine Bedrohung ihrer Daseinsberechtigung sehen. Denn: Bestreitet man, dass es eine Sachge­ schichte hinter und unabhängig von Sprache gibt, dann scheint sich das Material der Geschichtswissenschaft zu verflüchtigen. Genau diese Nicht­ anerkennung einer sprachunabhängigen Wirklichkeit macht aber - in unter­ schiedlichen Ausprägungen - das Wesen des linguistic turn aus: Dies ist eben die Position, die nicht nur von "postmodernen" Historikern, sondern auch von denen abgelehnt wird, die der Weltkonstitution durch

22 2. Diskurs in anderen Disziplinen Sprache "nur" einen gebührenden Rang einräumen wollen: Geschichtliche Quellen haben nicht nur Hinweischarakter, sie schaffen auch geschichtli­ che "Fakten" und sind geschichtliche Faktoren.

(Wengeier 2003: 24)

Und - so könnte man wiederholend fortfahren - geschichtliche Fakten, die sich unabhängig von Sprache denken ließen, gibt es nicht. Akzeptiert man diese Prämissen, dann kann der Gegenstand historischer Analysen nicht eine hinter der Sprache liegende Wirklichkeit sein. Mit Landwehr (2008: 23) muss man dann akzeptieren, dass Sprache "sich keinesfalls als Hülle verstehen lässt, welche die Bedeutungen umgibt, und die Geschichtswis­ senschaft kann nicht als ein Forschungszweig verstanden werden, der ,das Eigentliche' enthüllt".

Unhintergehbarkeit von Sprache

Diese Position darf übrigens nicht mit einer Position gleichgesetzt wer­ den, die die Existenz einer realen Außenwelt generell leugnet. Vielmehr hebt der linguistic turn darauf ab, dass wir bei der Wahrnehmung von Wirk­ lichkeit immer auf unser sprachliches Vermögen angewiesen sind und die­ ses nicht umgehen können.

linguistic turn

und Diskurs

Soweit in aller Kürze zur Bedeutung des linguistic turn für die Geschichts­ wissenschaft. Es bleibt allerdings noch zu klären, inwieweit linguistic turn und Diskurs zusammenhängen und welche Konsequenzen sich aus ihrem Zusammenhang ergeben. Die zentrale Annahme, die sich mit dem linguis­

tic turn verbindet, die Unhintergehbarkeit der Sprache, wird auch von den verschiedenen Spielarten der Diskurstheorie in unterschiedl icher Weise auf­ gegriffen. Sie alle zielen darauf ab, die gesellschaftliche Konstitution von Bedeutung und Wissen mittels Sprache zu analysieren.

Diskursivität geschichtlicher Quellen

Für die Geschichtswissenschaft hat diese Auffassung gravierende Konse­ quenzen. Sie lässt eine Unterscheidung zwischen geschichtlichen Fakten ("Sachgeschichte") und ihrer sprachlich interpretierenden Rekonstruktion in sich zusammenbrechen. Weiterhin - nimmt man den Gedanken von der Diskursivität der Quellen ernst - macht diese Auffassung deutlich, dass historiographische Interpretationen, die auf ,sachgeschichtlichen Fakten' beruhen, wiederum sprachvermittelt sind: Interpretationen sind Geschichten über Dinge und Ereignisse, die in Archi­ ven tatsächlich eine Spur hinterlassen haben - aber es sind erfundene Ge­ schichten, die nicht nur aus heutiger Perspektive, mit heutigen Zielen und im Kontext von heutigen wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Referenzen erzählt werden, sondern die auch unterschiedlich erzählt wer­ den können, ohne daß jeweils den ,Fakten' Gewalt angetan würde. (Sarasin 2011: 81)

Beispiel: Victor Klemperer

Dieser Befund - so merkt der Historiker Sarasin (ebd.) an - gilt sogar für die Interpretationen der selbst erlebten Geschichte. Am Beispiel von Victor Klemperers Tagebüchern und Jorge Sempruns Erinnerungen an seine KZ­ Zeit führt Sarasin aus, dass auch diese "keineswegs frei von Interpretatio­ nen, Mutmaßungen, Mißverständnissen" seien. Für beide Autoren - die hier stellvertretend für Autoren selbsterlebter Geschichte stehen - gelte, "daß sie

2.2 Diskurs in der Geschichtswissenschaft

sich aus den Netzen ihrer eigenen Sprache, ihren kulturellen Referenzen, ihren Assoziationsmustern, ihren vielen Namen und doppelten Identitäten nicht befreien können" (ebd.: 82). Es bleibt allerdings zu fragen, was eine diskursanalytisch orientierte Geschichtswissenschaft der skizzierten Sprachvergessenheit der traditionel­ len Geschichtswissenschaft entgegenzusetzen hat. Dies lässt sich - notwen­

Materialität und Medialität von Diskursen

digerweise verkürzt - unter den Stichwörtern Materialität und Medialität von Diskursen erläutern (vgl. dazu Sarasin 2011: 71 ff.). Generell lässt sich Diskursanalyse auffassen als ein Bemühen, Sinn- und Bedeutungs- bzw. Wissenskonstitution zu verstehen. Eine so verstandene Diskursanalyse stellt sich also die Frage, "wie die nichtsprachlichen Dinge ihre Bedeutung erlan­ gen" (Sarasin 2003: 36). Dabei behält sie die Materialität von Diskursen in zweifacher Hinsicht im Blick: Zunächst geht sie davon aus, dass Diskurse einer Ordnung unterliegen, die festlegt, über welche Gegenstände in weI­ cher Weise geredet werden kann. Das Reden über beliebige Gegenstände bedarf nun jeweils bestimmter Medien. Hier kann insbesondere die Geschichtswissenschaft "nach den ökonomischen und technischen Bedin­ gungen der Buchproduktion und nach den konkreten Lesepraktiken" fragen (Sarasin 2011: 71). Im Gegensatz zur traditionellen Geschichtswissenschaft legt eine diskursanalytisch orientierte also besonderes Gewicht auf die Eigenheiten der zugrunde liegenden Quellen, die sich durch eine nicht hin­ tergehbare "Eigenlogik" (ebd.: 82) auszeichnen. Wenn weiterhin Diskurse den sprechenden Subjekten bestimmte Handlungsrahmen vorgeben, dann muss eine diskursanalytisch orientierte Geschichtsschreibung diese Rahmen als Grenzen des Sagbaren im Blick behalten. Das Sprechen historischer Subjekte muss somit jeweils als unter bestimmten diskursiven Vorausset­ zungen Entstandenes interpretiert werden (vgl. ebd.: 83). Damit geht eine diskursanalytisch geprägte Geschichtswissenschaft laut Sarasin über "basale Hermeneutik" (ebd.: 82) hinaus und liefert Impulse für eine weitergehende Gesellschaftsanalyse: Diskurse regeln also das Sagbare, Denkbare und Machbare. Sie organisie­ ren Wirklichkeit. Offensichtlich geht diese diskursive Produktion von Wirk­ lichkeit jedoch nicht willkürlich vonstatten, sondern unterliegt gewissen Regeln, die es den Beteiligten ermöglichen, im Rahmen eines Diskurses korrekt zu sprechen, zu denken und zu handeln. Die historische Diskurs­ analyse will vor allem über die Aufdeckung solcher Regeln zur Identifizie­ rung entsprechender Diskurse gelangen und konzentriert sich darüber hi­ naus auf die Frage, wie und warum sich solche Diskurse im historischen Prozess verändern und damit zugleich eine veränderte Wirklichkeit hervor­ bringen.

(Landwehr

2008: 21)

Mithin hebt die historische Diskursanalyse darauf ab zu erforschen, welche Wirklichkeit in einer historischen Situation als gegeben aufgefasst wird, wie diese organisiert ist und nicht zuletzt wie das (historische) Wissen beschaffen ist, das diese Wirklichkeit "handhabbar" (ebd.: 22) machen soll.

Historisches Wissen

23

24

2. Diskurs in anderen Disziplinen

2.3 Diskurs in der Soziologie Entwicklung seit den 1990er Jahren

Auch in der Soziologie hat der Diskursbegriff spätestens seit den 90er Jah­ ren des letzten Jahrhunderts Konjunktur. Allerdings wurden diskursanalyti­ sche Methoden zumindest in der deutschsprachigen Soziologie (ähnlich wie in der deutschsprachigen Linguistik) zunächst mit Skepsis aufgenom­ men (vgl. Keller 2011a: 122). Inzwischen kann man jedoch - hier sind in erster Linie die Bemühungen einer Augsburger Forschergruppe um den Soziologen Reiner Keller zu erwähnen - von einer starken diskursanalytisch orientierten Bewegung sprechen, die im Anschluss an die Arbeiten Michel Foucaults

wissenssoziologische

Diskursanalysen

zu

ihrem

Programm

gemacht haben. Derartige Analysen, die hier nicht im Detail vorgestellt werden können, bauen auf der bahnbrechenden Arbeit von Berger/Luck­ mann (1969/2012) zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit auf. In dieser Arbeit hatten Berger und Luckmann zu zeigen versucht, dass Wirklichkeit und Wissen in einem permanenten Prozess gesellschaftlich konstruiert werden. Wirklichkeit wird durch Bedeutungszuschreibungen erst konstruiert und ist nach Berger/Luckmann nicht vorgängig "an sich" vorhanden: Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, daß die Gegenständlich­ keit der institutionalen Welt, so dicht sie sich auch dem Einzelnen darstel­ len mag, von Menschen gemachte, konstruierte Objektivität ist. [ ...] Mit anderen Worten: trotz ihrer Gegenständlichkeit für unsere Erfahrung ge­ winnt die gesellschaftliche Welt dadurch keinen ontologischen Status, der von jenem menschlichen Tun, aus dem sie hervorgegangen ist, unabhän­ gig wäre.

(Berger/Luckmann 1969/2012: 64f.)

Gesellschaftliche

Diesen Grundgedanken der Theorie Bergers und Luckmanns fasst Keller

Konstruktion von

(2011a: 42) anschaulich mit der Formulierung zusammen, dass es "kein

Wissen

begreifbares ,an sich' der Welt jenseits der Bedeutungszuschreibungen [gebe], auch wenn ihre materiale Qualität uns durchaus Widerstände entge­ gensetzt, Deutungsprobleme bereitet und nicht jede beliebige Beschreibung gleich evident erscheinen lässt. Unser Deutungs- und Handlungswissen über die Welt ist Teil gesellschaftlich hergestellter, mehr oder weniger kon­ flikthafter, im Fluss befindlicher symbolischer Ordnungen bzw. Wissensvor­ räte".

Kollektive

Die neueren soziologischen Diskurstheorien beziehen diese Perspektive

Wissensvorräte

Bergers und Luckmanns ein, um sie gleichzeitig zu erweitern. Insbesondere in empirischen Studien, die sich auf die Theorie von Berger und Luckmann berufen, stehen die "alltäglichen Verstehensleistungen und Sinnbezüge" im Vordergrund, während kollektive Wissensvorräte kaum berücksichtigt wer­ den (vgl. ebd.: 181). Inwieweit dieses Verständnis bei Berger/Luckmann bereits angelegt ist, muss hier nicht weiter diskutiert werden. Entscheidend für die neueren wissenssoziologischen Herangehensweisen ist nun aller­ dings, dass auch und gerade kollektive Wissensvorräte in den Blick genom­ men werden:

2.3 Diskurs in der Soziologie 2S

Die Wissenssoziologische Diskursanalyse beschäftigt sich mit Prozessen und Praktiken der Produktion und Zirkulation von Wissen auf der Ebene der institutionellen Felder der Gegenwartsgesellschaften. Ihr Forschungs­ gegenstand ist - mit anderen Worten - die Produktion und Transforma­ tion gesellschaftlicher Wissensverhältnisse durch Wissenspolitiken, d. h. diskursiv strukturierte Bestrebungen sozialer Akteure, die Legitimität und Anerkennung ihrer Weltdeutungen als Faktizität durchzusetzen. (Keller 2011 a: 193)

Eben diese Bestrebungen lassen sich in Diskursen verorten. Zu klären bleibt

Diskurs in der

demnach, wie im wissenssoziologischen Paradigma Diskurs zu verstehen

Wissenssoziologie

ist. Unter Diskurs wird hier eine kommunikative Praxis verstanden, in der Wirklichkeit konstituiert wird. Ähnlich wie in der diskursanalytisch geprägten Geschichtswissenschaft geht man also in der diskursanalytisch orientierten Soziologie davon aus, dass es keine sprachunabhängige Wirklichkeit gibt. Vielmehr wird diese in Diskursen konstituiert, von Akteuren ausgehandelt. Insofern kann man Diskurs mit Keller (2011 a: 235) definieren als "Komplex von Aussageereignissen und darin eingelassenen Praktiken, die über einen rekonstruierbaren Strukturzusammenhang miteinander verbunden sind und spezifische Wissensordnungen der Realität prozessieren". Mit dieser Definition gerät etwas in den Blick, das bisher nicht thematisiert wurde: Akteure und ihre Macht nämlich, ihren Aussagen und ihrer spezifischen Konstitution von Wirklichkeit Gehör zu verschaffen: Diskurse bilden ,Welt' nicht ab, sondern konstituieren Realität in spe­ zifischer

Weise.

Die

gesellschaftlichen

Akteure,

die

als

Sprecher

in

Diskursen in Erscheinung treten, die jeweiligen Sprecherpositionen besetzen und mitunter ex- oder implizite Diskurskoalitionen bilden, verfügen über unterschiedliche und ungleich verteilte Ressourcen der Artikulation und Resonanzerzeugung.

(Keller 2011 b: 67; Hervorhebungen im Original)

Diskurse sorgen somit für eine "einschränkende und ermöglichende Struk­

Strukturierende

turierung von Aussageproduktionen, denen Teilnehmer/innen unterworfen

Wirkung von

sind" (Keller 2013: 42). In diesem Sinne ist Foucaults Diktum zu verstehen, dass der Diskurs nicht lediglich ein System sei, "was die Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache überträgt". Vielmehr sei er "dasjeni­ ge, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht" (Foucault 1974/2003: 11). Es geht bei der soziologischen Diskuranalyse also auch darum, was über­ haupt von wem mit dem Anspruch auf allgemeine Anerkennung gesagt wer­ den darf. Dies kann jeweils nur empirisch erforscht werden. Als ein Beispiel für einen Wandel von diskursiven Machtverhältnissen solcher Art führt KeI­ ler (2011 a: 238) die Ablösung eines religiösen Weltbildes durch eine wis­ senschaftlich fundierte Analyse von Naturphänomenen an: Das Erste hat im Laufe der letzten Jahrhunderte zugunsten des Zweiten erheblich an diskur­ siver Macht verloren. Dies äußert sich v. a. darin, dass religiös motivierte Wirklichkeitskonstitutionen heutzutage sehr viel weniger Anerkennung ge-

Diskursen

26 2. Diskurs in anderen Disziplinen nießen als beispielsweise im Mittelalter. Diskursive Positionen, die für sich erfolgreich "Wissenschaftlichkeit" reklamieren können, genießen dagegen in unserer Zeit hohes Ansehen. Davon unberührt bleibt freilich, dass auch die Prinzipien von Wissenschaftlichkeit einem diskursiven Wandel unterlie­ gen.

3. Diskurs in der Linguistik 3.1

Begriffsgeschichte als Vorläuferin der Diskurslinguistik

Die Begriffsgeschichte - wie sie insbesondere auch von Historikern betrie­ ben wurde (vgl. zusammenfassend Landwehr 2008: 31 ff.) - hat in der Lin­ guistik einen deutlichen (kritischen) Widerhall gefunden (vgl. zusammen­ fassend Wengeier 2003: 14ff. sowie Hermanns 1995: 85). Die kritische Auseinandersetzung mit der Begriffsgeschichte hat in der Folge aber zu methodischen Überlegungen geführt, die als Grundsteine einer linguisti­ schen Diskursanalyse gelten können, indem sie eine "neue Variante der ,Begriffsgeschichte"' (Hermanns 1995: 85) methodisch zu perfektionieren sucht. Insbesondere der Linguist Dietrich Busse hat sich in seiner Dissertation intensiv mit der historischen Begriffsgeschichte beschäftigt, als deren exem­

Busses Kritik an der Begriffsgeschichte

plarisches Ergebnis man das von Brunner, Conze und Koselleck (1972 ff.) herausgegebene Wörterbuch der geschichtlichen Grundbegriffe ansehen kann. Dieses Wörterbuch will 130 "Leitbegriffe der geschichtlichen Bewe­ gung" (Koselleck 1972: XIII) analysieren, die für die Sozialgeschichte von besonderer Bedeutung seien, nämlich zentrale Verfassungsbegriffe; Schlüsselworte der politischen, der wirtschaftlichen und der gesellschaftlichen Organisation; Selbstbenennungen entsprechender Wissenschaften; Leitbegriffe politischer Bewegungen und deren Schlagworte; Bezeichnungen dominierender Berufsgruppen und sozialer Schichtung; theoretisch anspruchsvolle Kernbegriffe, auch der Ideologien, die den Handlungsraum und die Arbeitswelt gliedern und auslegen (Koselleck 1972: XIV).

Die soziale und politische Sprache und ihre Terminologie sollen "zugleich

Sprache als Faktor

als Faktoren und als Indikatoren geschichtlicher Bewegung" (ebd.) angese­

und Indikator

hen werden. Insbesondere diese Formulierung, die einige Berühmtheit erlangt hat, macht auch die Problematik des zugrunde liegenden Ansatzes deutlich. Die Rede von Indikatoren nämlich deutet bereits eine Trennung zwischen Sach- und Begriffsgeschichte dergestalt an, dass eine vorgängige Sachgeschichte später in Begriffe gekleidet wird bzw. durch Begriffe

28 3. Diskurs in der Linguistik bezeichnet wird. Diese Trennung, die ja auch in der Geschichtswissenschaft seit dem linguistic turn problematisch geworden ist, scheint aber der Kon­ zeption der "Geschichtlichen Grundbegriffe" inhärent. Dies zeigen auch weitere Formulierungen in Kosellecks Einleitung, in denen davon die Rede ist, dass die im Wörterbuch versammelten Begriffsgeschichten "neue Sach­ verhalte" bezeugten (ebd.: XV), dass Wörter dazu dienten, "einen politisch­ sozial

wichtigen

Sachverhalt"

zu

bezeichnen

(ebd.:

XX) bzw. dass

,,[dlurchgehaltene Worte [ . . 1 kein hinreichendes Indiz für gleichbleibende .

Sachverhalte" seien (ebd.: XXI). Es wird somit die Bezeichnungs- bzw. Repräsentationsfunktion von Begriffen zu Lasten ihrer wirklichkeitskonstitu­ tiven Rolle überbetont: Der wesentliche Kritikpunkt ist, dass Koselleck Begriffsgeschichte auf der einen und Sachgeschichte auf der anderen Seite verortet und damit letzt­ lich die Indikator-Funktion von Begriffen für eine als außersprachlich auf­ gefasste Wirklichkeit sehr stark herausstellt

[...]. Ohne anzunehmen, es

gebe keine außersprachliche Wirklichkeit, kann gesagt werden, dass mit dieser Grundlage eine Analyse politisch-sozialer Begrifflichkeit Chancen verspielt, denn gerade für politisch-soziale "Begriffe" ist aufgrund ihrer Ab­ straktheit und Nicht-Referenz auf konkrete sinnlich fassbare Gegenstände die wirklichkeitskonstituierende und nicht-repräsentierende Funktion zen­ tral.

(Wengeier 2003:

14)

Fixierung auf

Weiterhin lässt sich kritisieren, dass die Fixierung auf einzelne Begriffe bzw.

Begriffe

Wörter insofern problematisch ist, als sie vorgängiges Wissen des Analysie­ renden über die relevanten Begriffe voraussetzt (vgl. ebd.: 15). Schließlich ist bemängelt worden, dass es sich bei den vorliegenden Analysen aufgrund der in erster Linie ausgewerteten "ei ite-publikationen" (von Polenz 1973:

236) eher um eine Ideen- als um eine Sozialgeschichte handele. Eine solche Ideengeschichte aber könne die jeweilige gesellschaftlich-kommunikative Von der Ideen- zur

Praxis nicht abbilden (vgl. Busse 1987: 66). Dazu hätte es der stärkeren

Begriffsgesc hichte

Berücksichtigung der Massenmedien (Zeitungen, Flugschriften, Plakate etc.) bedurft. Die Grundlage dafür wäre die Zusammenstellung eines Textkorpus gewesen (vgl. von Polenz 1973: 240), eines repräsentativen Textkorpus, das die vielfältige kommunikative Praxis einer Gesellschaft zumindest annähe­ rungsweise widerspiegeln sollte. Mit der Auswertung eines solchen Korpus wäre der Schritt von der Ideen- zu einer Begriffsgeschichte getan, die kol­ lektive Sprachgebräuche zum Untersuchungsgegenstand hätte (vgl. Her­ manns 1995: 85 f.).

Die Rolle von

Bevor in den nächsten Kapiteln dazu übergegangen werden soll, die

Textkorpora

Zusammenstellung und Auswertung solcher Textkorpora aus linguistischer Sicht näher zu beschreiben, bedarf es zuvor noch einer positiven Bestim­ mung dessen, was das Ziel linguistischer Diskursanalysen ist und durch welche linguistische(n) Methode(n) dieses Ziel erreichbar sein soll. üb lin­ guistische Diskursanalyse selbst sich eher als Theorie, Methode oder gar Haltung beschreiben lässt, darauf wird später zurückzukommen sein.

3.2 Annäherung an einen linguistischen Diskursbegriff

3.2 Annäherung an einen linguistischen Diskursbegriff Wie vielleicht bereits der kurze Überblick über die Diskurs-Terminologie in

Diskursanalyse als

anderen Disziplinen erahnen lässt, gibt es auch in der Linguistik nicht den

Erweiterung der

allgemein akzeptierten Diskursbegriff. Aber immerhin gibt es eine Reihe

Textlinguistik

von Gemeinsamkeiten, auf die sich linguistische Diskursforscher wohl eini­ gen könnten. Eine dieser Gemeinsamkeiten besteht darin, dass Diskurs­ analyse insofern eine Erweiterung der Textlinguistik darstellt, als sie über Textgrenzen hinweg geht und stets ein Ensemble von Texten (ein sogenann­ tes Textkorpus) in den Blick nimmt. Insofern kann man mit Spitzmüller! Warnke (2011) von einer transtextuellen Sprachanalyse sprechen. Dies ist wissenschaftshistorisch deshalb interessant, weil sich in der transtextuellen Sprachanalyse eine Bewegung vom Wort zum Satz zum Text fortsetzt, die über Einzeltexte hinausgeht. Zur Illustration ist hier ein Beispiel nützlich, das Spitzmüller/Warnke (2011: 24 f.) im Zusammenhang mit dem Diskurs über globale Erwärmung in der deutschsprachigen Tagespresse geben. Es wird hier leicht modifiziert wiedergegeben: Morphem: Kleinste bedeutungstragende Einheit in der Kommunikation über globale Erwärmung [{Klima-}]. Wort:

Lexikalische Einheit mit Zeichenrelevanz in der Kommunikation über globale Erwärmung [Klimawanden.

Satz:

Singuläre Aussage über globale Erwärmung in Gestalt einer rela­ tiv vollständigen grammatisch unabhängigen Einheit [Ob wir durch den Klimawandel in Zukunft mehr Angst vor solchen ex­ tremen Wetterlagen haben müssen, könne man allerdings nicht pauschal sagen.].

Text:

Primär monologische, schriftlich fixierte Handlung in der Kom­ munikation über globale Erwärmung [Artikel Wetterphänome­ ne: Hitze und Flut. In: Süddeutsche Zeitung v. 14.8.2010].

Diskurs:

Virtuelle Gesamtheit von Äußerungen zur globalen Erwärmung in einer analytisch gegebenen Zeit [Sammlung von Äußerungen über Klimawandel in deutschsprachigen Tageszeitungen].

Man mag solch eine aszendente Bewegung für eine gleichsam natürliche

Skepsis gegenüber

von kleineren zu größeren Sprachbestandteilen auffassen. In der Linguistik

der Diskursanalyse

jedoch war bereits das Hinausgehen über Satzgrenzen nicht unumstritten. Wenn also bereits gegenüber der Textlinguistik Vorbehalte angemeldet wur­ den, dann scheint es geradezu folgerichtig, dass auch der Diskursanalyse mit Skepsis begegnet wurde: Man kann viele Widerstände gegen den Diskurs-Begriff (genauso wie da­ mals gegen den Text-Begriff) in einem Punkt zusammenfassen: Abgelehnt wurde (und wird) - ob explizit oder aus einem untergründigen Gefühl he­ raus - jede Erweiterung der Sprachwissenschaft, welche die Semantik, d. h. die Bedeutungsanalyse sprachlicher Einheiten, über die Wort- oder Satz­ grenze hinaus ausdehnt.

(Busse/Teubert

1994: 12)

29

30 3. Diskurs in der Linguistik Methodische

Nun scheinen diese Bedenken seit dem Erscheinen von Busses und Teuberts

Grundlagen

Aufsatz im Jahr 1994 nicht mehr so gravierend zu sein, möglicherweise auch, weil das Potential diskursanalytischer Arbeiten in vielfältiger Weise deutlich geworden ist. Trotzdem scheint es berechtigt, nach den theoretischen und methodi­ schen Grundlagen der linguistischen Diskursanalyse zu fragen. Eine wichti­ ge Frage beispielsweise ergibt sich nahtlos aus der Tatsache, dass in Diskurs­ analysen nicht Einzeltexte, sondern Textkorpora zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Nach welchen Kriterien können bzw. müs­ sen solche Textkorpora zusammengestellt werden? Denn Textkorpora, die diskursanalytischen Studien zugrunde gelegt werden, zeichnen sich meist dadurch aus, dass sie von den Diskursanalytikern aktiv "gebündelt" und dadurch erst zu einem Textkorpus gemacht werden. Schließlich lässt sich mit gutem Grund fragen, mit welchen Analysekategorien denn schließlich das Textkorpus "befragt" werden soll. Diese dürften auch vom Interesse der jeweiligen Diskursanalytiker abhängen, das durchaus unterschiedlich moti­ viert sein kann. Bevor diesen Fragen nachgegangen werden kann, soll zunächst versucht werden, dem Untersuchungsobjekt Diskurs eine definito­ rische Grundlage zu geben.

Das Programm von BusselTeubert

In ihrem programmatischen Aufsatz aus dem Jahr 1994, der inzwischen durch einen Wiederabdruck in

BusselTeubert

(2013: 13-30) leichter

zugänglich ist, haben Dietrich Busse und Wolfgang Teubert einen ersten Versuch unternommen, den Diskursbegriff einzugrenzen und für Linguisten forschungspraktisch handhabbar zu machen. Ihr Begriffsverständnis wird hier zitiert, weil es zentrale Aspekte eines linguistisch fundierten Begriffsver­ ständnisses klar beschreibt. BusselTeubert (1994: 14) schreiben: Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinne virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinn inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird. Zu einem Diskurs gehören alle Texte, die - sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander seman­ tische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aus­ sage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang ste­ hen, - den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen in Hinblick auf Zeitraum/Zeitschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikati­ onsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen, - und durch explizite oder implizite (text- oder kontextsemantisch er­ schließbare) Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen inter­ textuellen Zusammenhang bilden. Virtuelle Textkorpora

Aus dieser Diskurs-Definition lässt sich folgern, dass Diskurse nur über Text­ korpora zugänglich sind, da sie "im forschungspraktischen Sinne" als "vir­ tuelle Textkorpora" aufgefasst werden. Mit gutem Recht lässt sich fragen, wie diese Passage zu verstehen ist bzw. sein soll.

3.2 Annäherung an einen linguistischen Diskursbegriff

Einerseits tragen Busse und Teubert in dieser Passage der Tatsache Rech­ nung, dass Linguisten - selbst wenn sie gesprochene Sprache untersuchen -

Weiter Textbegriff der Diskursanalyse

nahezu immer schriftliche Texte als Untersuchungsgegenstand bevorzugen. Für gesprächsanalytische Untersuchungen werden beispielsweise Gesprä­ che aufgezeichnet und aus diesen Aufzeichnungen Transkripte angefertigt, um das flüchtige gesprochene Wort zu konservieren und einer wissenschaft­ lichen Analyse überhaupt erst zugänglich zu machen. Insofern darf man in der Definition von Busse und Teubert einen weiten Textbegriff voraussetzen: Denkbar wäre demnach ein Diskurs, dem auch (oder sogar ausschließlich) gesprochene Texte zugrunde liegen. Um diese mündlichen Äußerungen einer diskursanalytischen Untersuchung zu unterziehen, müssen sie aller­ dings transkribiert und somit in schriftliche Texte transformiert werden. (Abgesehen davon ist der linguistische Textbegriff ohnehin nicht auf schrift­ liche Kommunikation eingegrenzt, sondern bezieht prinzipiell auch münd­ liche Äußerungen ein; vgl. dazu schon Brinker 1992: 10 ff.). Andererseits betont die Definition den transtextuellen Charakter von Diskursen: Ein Diskurs lässt sich immer nur über die Zusammenstellung

Unverzichtbarkeit von Textkorpora

mehrerer (möglicherweise sogar vieler) Texte "materialisieren", ein Textkor­ pus ist mithin unverzichtbar, um die Eigenheiten eines Diskurses zu erfor­ schen. Die Zusammenstellung eines solchen Textkorpus - auch das macht die zitierte Textpassage deutlich - beruht auf bestimmten Vorannahmen, Entscheidungen und Interpretationen des jeweiligen Diskursanalytikers. Insofern sind die zu analysierenden Diskurse also keine - wie auch immer zu denkenden - "realen Objekte", die unabhängig von den Interessen der Diskursanalytiker in der Welt existieren. Die Zusammenstellung eines Textkorpus erfordert also bereits Vorent­ scheidungen des Diskursanalytikers. Sie werden immer im Hinblick auf einen bestimmten Forschungsgegenstand getroffen: "Ob eine bestimmte Textmenge als zugehörig zu einem Diskurs X oder Diskurs Y aufgefasst wird, ist daher immer Ergebnis von objekt-konstituierenden Akten der wis­ senschaftlichen Beobachter und Analytiker" (Busse 2013c: 148). Betrachtet man vorliegende Diskursanalysen, so zeigt sich, dass die For­ schungsgegenstände von Diskursanalytikern in erster Linie thematisch und zeitlich bestimmt werden. So untersucht beispielsweise Spieß (2011) den Diskurs um die humane embryonale Stammzellforschung in den Jahren 1998 bis 2002, während Spitzmüller (2005) den Anglizismen-Diskurs der Jahre 1990 bis 2001 analysiert. Den in den 60er Jahren des letzten Jahrhun­ derts geführten Demokratie-Diskurs hat hingegen Kämper (2012) als For­ schungsgegenstand gewählt. Die Debatte um die provozierenden Thesen Thilo Sarrazins hat Stein (2012) diskursanalytisch aufgearbeitet. Und auch auf den für Universitäten und Studierende nicht ganz unwichtigen Bologna­ Diskurs hat sich die Aufmerksamkeit von Diskursanalytikern gerichtet (Angermüller/Scholz 2013). Diesen thematisch und zeitlich so unterschied­ lich situierten Analysen ist gemeinsam, dass sie einen thematisch bestimm­ ten Diskurs innerhalb eines definierten Zeitraums untersuchen. Zu diesem Zweck stellen die Diskursanalytiker Textkorpora zusammen, von denen sie

Zusammenstellung von Textkorpora

31

32

3. Diskurs in der Linguistik

annehmen, dass sie den zu untersuchenden Diskurs repräsentieren. Da­ rüber hinaus gibt es häufig auch die Möglichkeit, "zu anderen als linguisti­ schen Zwecken entstandene Textsammlungen" zu nutzen (Lemnitzer/Zins­ meister

2010: 8). Selbstverständlich gibt es auch andere als diskursanalyti­

sche Möglichkeiten, Textzusammenstellungen linguistisch zu analysieren. Hier sei beispielsweise auf die scharfsinnigen Überlegungen von Wichter

(2011) verwiesen, deren Ausgangspunkt die Sequentialität von Kommunika­ tion ist. Daraus leitet Wichter die Reihe als "Grundeinheit der Kommunika­ tion" (ebd.:

2) ab. Aus dem Reihencharakter, der für Sprechakte, Gespräche

wie auch Diskurse charakteristisch sei, leitet Wichter sein Konzept für eine Analyse gesellschaftlich übergreifender Reihen ( Diskurse) ab (vgl. ebd.: 298ff.), das hier jedoch nicht weiter verfolgt werden kann. =

Semantische Bezüge

Weiterhin - so gibt die Definition von Busse und Teubert vor - sollen die Texte entweder semantische Bezüge untereinander aufweisen oder aber in anderen Zusammenhängen stehen. Ein klassisches Beispiel für solche nicht nur semantischen Bezüge stellen etwa die verschiedenen Pressetextsorten dar: Während Nachrichten oder Berichte die Leser über bestimmte Sachver­ halte informieren sollen, werden die gleichen Sachverhalte in Kommenta­ ren meist argumentativ bewertet. Möglicherweise beziehen sich in der Fol­ ge Leserbriefschreiber auf diese Kommentare (und/oder die in ihnen kom­ mentierte Nachricht). Auf diese Leserbriefe wiederum (und/oder die ihnen vorgeschalteten Texte) könnte in Internet-Foren Bezug genommen werden. Auf diese wiederum könnten sich weitere (Internet)Texte beziehen. Und selbstverständlich gibt es darüber hinaus auch mündliche Beiträge, in denen solche Texte bzw. die in ihnen behandelten diskursiven Ereignisse bespro­ chen werden. So entsteht ein ständig sich erweiterndes und unüberschaubares Textge­ flecht, das allerdings durch die von Busse und Teubert genannten Kriterien miteinander verbunden ist. Diskursanalytiker, die einen durch solch ein Textgeflecht repräsentierten Diskurs untersuchen möchten, stehen also vor der Herausforderung, eine Auswahl aus der unüberschaubar großen Zahl der Texte zu treffen. Diese Auswahl kann zwar prinzipiell nicht-statistischen Kriterien genügen, ist aber dennoch keineswegs beliebig. Welchen methodischen Anforderungen die durch Auswahl erfolgende Zusammenstellung eines Textkorpus unterliegt, wird daher im folgenden Kapitel zu untersuchen sein.

3.3 Textkorpora als Grundlage Konstitution von

Diskurse sind - so haben wir im vorigen Abschnitt gesehen - prinzipiell nur

Textkorpora

über Textkorpora zugänglich. Da der Diskursanalytiker selbst sein Textkor­ pus zusammenstellt, trifft er damit bereits weitreichende Entscheidungen, weil er ja sein Untersuchungsobjekt selbst konstituiert. Dieser konstitutive Akt ist entscheidend für die gesamte Analyse, da durch ihn die später erziel­ baren Ergebnisse nachhaltig beeinflusst werden.

3.3 Textkorpora als Grundlage

Umso wichtiger scheint es deshalb, die Zusammenstellung von Textkor­ pora methodisch zu reflektieren. Wiewohl solche Zusammenstellungen immer von der jeweiligen Forschungsfrage abhängen, lassen sich doch grundsätzliche Standards formulieren. So dürfte es das Anliegen aller Diskursanalytiker sein, den zu untersu­ chenden (Teil)Diskurs möglichst repräsentativ abzubilden, um systema­ tische Verzerrungen zu verhindern: Die gemeinsame Grundüberzeugung dieser Operationalisierungen be­ steht darin, dass das abstrakte Phänomen Diskurs anhand einer konkreten Auswahl von Texten untersucht werden kann. Damit dies möglich ist, wird ein Korpus als Forschungsartefakt etabliert, das als konkrete Zusammen­ stellung sprachlicher Einheiten Rückschlüsse auf die kommunikativen Ver­ hältnisse im Wissens-, Sprach- und Handlungsraum des Diskurses ermögli­ chen soll. [ ...] Das Korpus ist nicht der Diskurs, sondern ein Artefakt, das vom Forscher arbiträr nach bestimmten Fragestellungen, Vorlieben, for­ schungspraktischen Strategien und Zufälligkeiten zusammengestellt wird. (Busch

2007: 150)

Aus dieser Passage lässt sich entnehmen, dass Busch der manchmal in der

Korpus und Diskurs

Literatur zu findenden pauschalen Identifizierung von Diskurs und Korpus nicht zustimmt. Diese Auffassung wird auch in der vorliegenden Einführung vertreten: Textkorpora dienen dazu, Teilmengen von Diskursen für die lin­ guistische Analyse verfügbar zu machen. Sie sind jedoch weder mit dem Gesamtdiskurs noch mit dem zu untersuchenden Teildiskurs identisch. Inso­ fern ist Hermanns (2007: 190) zuzustimmen, wenn er treffend anmerkt, dass es ein "Notbehelf" sei, "wenn wir Korpus und Diskurs gleichsetzen". Da Diskursanalysen letztlich jedoch darauf zielen, nicht nur Aussagen über die tatsächlich analysierten Textkorpora bzw. Teildiskurse zu treffen,

Textkorpora als Stichproben

kommt es darauf an, ein Textkorpus zusammenzustellen, das als Stichprobe für den gesamten Diskurs gelten kann. Dabei sollte jedoch nicht die Vorstel­ lung evoziert werden, dies I ieße sich durch ein quasi-statistisches Verfahren bewerkstelligen. Denn um eine im statistischen Sinne repräsentative Stich­ probe zu ziehen, ist es unerlässlich, die zugrunde liegende Grundgesamt­ heit zu kennen. Allein dies trifft für Diskursanalysen nur in Ausnahmefällen zu. Allerdings kann dies keinesfalls als Begründung für eine willkürliche Textzusammenstellung genommen werden. Es ist daher der Frage nachzu­ gehen, welche Kriterien für die Zusammenstellung von Textkorpora gelten müssen, damit diese als vertrauenswürdige Grundlage für die Analyse von Diskursen dienen können (vgl. dazu auch Lemnitzer/Zinsmeister 2010: 50 ff.). Schließlich ist zu klären, ob möglicherweise schon Korpora zur Ver­ fügung stehen, die für die Beantwortung der jeweiligen Frage geeignet sein könnten. Um hier zu einer begründeten Entscheidung zu kommen, sind zahlreiche Parameter zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 101 ff.). Betrachtet man Texte des öffentlichen Diskurses, so kann man unschwer feststellen, dass in diesen häufig nicht nur ein fest abgrenzbares Thema behandelt wird. Andererseits aber hebt der Diskursbegriff, wie er etwa von

Text- vs. Aussagenkorpora

33

34 3. Diskurs in der Linguistik Busse und Teubert (1994) begründet wurde, auf die thematische Gleichar­ tigkeit der Korpustexte ab: Kein Text läßt sich durch seine Zugehörigkeit zu einem Diskurs vollständig erfassen. Auch in thematisch einschlägigen Texten kommen Inhalte vor, die man nicht zum gleichen Diskurs rechnen möchte, weil offensichtlich zwischenzeitlich das Thema wechselt, d.h. an anderen Diskursen weiterge­ sponnen wird. Solche Passagen wird der an einem Diskurs interessierte Analytiker aber in der Regel stillschweigend übergehen. [ ...] Hinzu kom­ men prominente Textsorten wie Regierungserklärungen, die verschiedene Themen in klar voneinander abgrenzbaren Passagen abspulen. Zählt man nun trotzdem den ganzen Text zu einem Diskurs oder berücksichtigt man ihn überhaupt nicht, obwohl darin ein sehr prominentes Textstück vor­ kommt, auf dem viele spätere Texte beruhen?

(Jung 1996: 459f.)

Diskurs als

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist Jungs Vorschlag zu verstehen,

Aussagengeflecht

für die Analyse von Diskursen nicht Text-, sondern Aussagenkorpora zu­ grunde zu legen. Ein Diskurs bestünde demnach aus einem "Aussagenge­ flecht" (ebd.: 461) zu einem bestimmten Thema. Die zum Korpus gehörigen

Text als Zwischenetappe

Aussagen entstammten Texten, in denen allerdings auch andere Diskurse weitergesponnen würden. Zur Verdeutlichung dieser Konstellation präsen­ tieren JungIWengeier (1999: 147) die folgende Grafik (s. Abb.1). Jung weist darauf hin, dass sein Diskursverständnis methodische Konse­ quenzen insofern habe, als es den Blick weg von Texten hin zu diskursrele­ vanten Aussagen richte. Damit aber würden textlinguistische Phänomene wie Textaufbau, -strategie und -intention in den Hintergrund treten zuguns­ ten diskursanalytisch relevanterer Einheiten. Text sei somit "lediglich eine notwendige Zwischenetappe" Uung 1996: 461) diskursanalytischer Unter­ suchungen, nicht aber deren primärer Untersuchungsgegenstand. For­ schungspraktisch gesehen ist freilich der Zugang zu Aussagen ohnehin nicht direkt möglich. Hier ist der "Umweg" über Texte unumgänglich, da Aussa­ gen stets an Texte gebunden sind. Darüber hinaus bieten die jeweiligen Texte, die die zu untersuchenden Aussagen enthalten, wichtige Informatio­ nen, auf die eine diskursanalytische Aussagen-Interpretation nicht verzich­

Kriterien der Korpuszusammen­ stellung

Generalisierung

ten kann. So kann die Kenntnis des Äußerungskontextes von entscheidender Bedeutung sein, um eine Aussage angemessen analysieren zu können (vgl. ebd.: 463). Busch (2007: 151 ff.), dessen konziser Zusammenstellung von Standards der qualitativen Sozialforschung hier gefolgt wird, fasst diese unter den Stichwörtern "Generalisierung statt Repräsentativität", "diskurslinguistische Validität" und "diskurslinguistische Interpretations-Reliabilität" zusammen. Das erste Stichwort geht auf das bereits angesprochene Phänomen ein, dass in diskurslinguistischen Untersuchungen keine Rede von statistischer Repräsentativität sein kann. Dies scheitert meist schon daran, dass das Gesamtkorpus aller Texte des zu untersuchenden Diskurses den untersu­ chenden Linguisten kaum jemals bekannt ist. Demzufolge fehlt die Bezugs­ größe, aus der mittels statistischer Verfahren eine repräsentative Stichprobe

3.3 Textkorpora als Grundlage 35

gezogen werden könnte. Da Diskursanalysen darauf zielen, Musterhaftes, Typisches im Diskurs zu erkennen und zu interpretieren, muss es also da­ rum gehen, durch die Korpuszusammenstellung das Typische bzw. Muster­ hafte im Diskurs sichtbar werden zu lassen. Das Textkorpus soll mithin typi­ sche Fälle enthalten, die Rückschlüsse auf den Gesamtdiskurs zulassen, Selbstverständlich kann solch ein Textkorpus nicht durch eine Zufallsaus­ wahl generiert werden, sondern bedarf einer systematischen Textauswahl aufgrund von Kriterien, Insgesamt kann in Bezug auf das Verhältnis von Textkorpus und Gesamtdiskurs also eher von Repräsentanz als von Reprä­ sentativität im statistischen Sinne gesprochen werden (vgl. ebd.: 153),

Diskurs als in Texten realisiertes Aussagenkorpus Al

Text

.

.

-

An

Text ... "

.

Textn, Z,

Z,.

z,,,

z"

Zeitachse A-A I n

B-F 1

n

Al, ete. Textl' eie.

Zo' Z, ZI-Z...

Menge aller Aussagen (Topoi, Argumente ... ) des Diskurses A Aussagen Aller Diskurse B-F in einem späteren Text wiederaufgenommene Aussage A I . . . Wlederau fnahme des Textes TI m emem späteren Text

}

In tertext ua l't"t I a

Anfangs-, Endzeitpunkt eines Diskurses Zeitpunkt

1-...

Texl1-Text, Menge aller

zu

einem bestimmten Zeitpunkt Z produzierter Texte

Abb. 1: Diskurs als in Texten realisiertes Aussagenkorpus (JunglWengeler 1999: 147)

36 3. Diskurs in der Linguistik

Validität

Diskurslinguistische Validität rekurriert auf das Problem, dass sowohl die Korpuszusammenstellung als auch die anschließende Textinterpretation intersubjektiv überprüfbar sein sollten, um nicht dem Vorwurf der Beliebig­ keit ausgesetzt werden zu können. Bei der Korpuszusammenstellung muss mithin für jeden einzelnen Text auf der Grundlage nachvollziehbarer Krite­ rien entschieden werden, ob er in das Korpus aufgenommen werden soll oder nicht: Das Korpus repräsentiert einen Diskurs und jeder Korpustext repräsentiert einen oder mehrere Diskursaspekte. Das erfordert, dass die Diskurs­ zugehörigkeit jedes einzelnen Textes, der Eingang in ein Diskurskorpus fin­ det, überprüft und reflektiert werden muss.

Reliabilität

(Busch 2007: 154)

Interpretations-Reliabilität meint in diesem Kontext keine messtechnische Größe wie in der empirischen Sozialforschung. Vielmehr geht es darum, die Zuverlässigkeit der Interpretationsergebnisse zu maximieren, indem bei­ spielsweise die Forschungsprozesse offengelegt werden, die Vereinbarkeit von Forschungszielen und -methoden reflektiert wird und die Ergebnisse hinterfragt werden, statt blindes Vertrauen "in die Fiktion der scientific com­ munity" zu setzen (ebd.: 156). Durch den Einsatz elektronischer Textanaly­ setools kann der Reliabilitätsgrad diskursanalytischer Untersuchungen prin­

Textkorpus und Gesamtdiskurs

Teildiskurs und Gesamtdiskurs

zipiell erhöht werden (vgl. SpitzmüllerlWarnke 2011: 36). Da das Textkorpus also den Gesamtdiskurs im beschriebenen Sinne repräsentieren soll, müssen bei der Korpuszusammenstellung detaillierte Überlegungen angestellt werden, wie eine solche Repräsentanz zu errei­ chen sein könnte. Busch (2007: 155) spricht in diesem Zusammenhang von Öffentlichkeits-, Perspektiven-, Diachronie- und Vertikalitätsadäquatheit. Was damit im Einzelnen gemeint ist, wird im Folgenden anhand verschiede­ ner Beispiele erläutert. Eine basale Überlegung, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt, besteht darin, dass Linguisten stets nur Teildiskurse untersuchen können. Sie müssen also vorab entscheiden, wie der von ihnen zu analysierende Teildiskurs zugeschnitten werden soll. Um hier zu einer sachgerechten Ent­ scheidung zu kommen, dürfte es von Vorteil sein, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, wie der jeweilige Gesamtdiskurs beschaffen ist und wo der zu untersuchende Ausschnitt aus diesem Diskurs zu verorten ist. Jung (1996: 457) hat zu dieser Überlegung ein Würfelmodell entworfen, dessen überarbeitete Form UunglWengeler 1999: 148) hier herangezogen werden soll (s. Abb. 2).

Jungs Würfelmodell

Diese Veranschaulichung soll nicht nur verdeutlichen, dass sich jeder Diskurs aus einer (unüberschaubar großen) Menge von Teildiskursen zusammensetzt. Vielmehr müssen Diskursanalytiker sich stets darüber im Klaren sein, dass sie immer nur einen Bruchteil des jeweiligen (Gesamt-) Diskurses, einen jeweils speziell zugeschnittenen Teildiskurs, in den Blick nehmen können. Derartige Teildiskurse enthalten Texte, die verschiedenen Diskursebenen bzw. Kommunikationsbereichen entstammen und deshalb wiederum verschiedenste Textsorten enthalten. Ein zu analysierendes Kor­ pus (im Modell durch den Würfel in der vorderen linken, oberen Ecke des

3.3 Textkorpora als

Gesamtdiskurs D

Grundlage 37

Textsorten

Korpus {A/B/C,}

A2

A"

Teildiskurse

Diskursebenen

Abb. 2:

Würfelmodell OungIWengeler 1999: 148)

großen Würfels angedeutet) sollte deshalb nach Möglichkeit dieser Diversi­ tät der Textsorten und Kommunikationsbereiche Rechnung tragen. Sollte dies jedoch aus forschungspraktischen Gründen nicht möglich sein, ist zumindest ein Bewusstsein von der Komplexität der Diskurszusammenset­ zung vonnöten. Diese geht im Übrigen über die von Jung skizzierten Aspek­ te noch hinaus. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an historische Diskurse oder Diskurse, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken (vgl. dazu detailliert Niehr 2012a). Zu entscheiden ist, ob man eine eher synchrone oder eher diachrone Analyse anstrebt. Letztere ist besonders geeignet, um linguistisch relevante Veränderungen in Diskursen aufzuzei­ gen, jedoch methodisch mit besonderen Schwierigkeiten befrachtet. Insbe­ sondere wenn historische Gegebenheiten in der Analyse zu berücksichtigen sind, bedarf die Korpuszusammenstellung besonderer Aufmerksamkeit. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an Sprachwandelphänomene wie beispielsweise Bedeutungsveränderungen. Solche Bedeutungsverände­ rungen, die innerhalb der Geschichte einer Sprache keine Besonderheit oder Abweichung bedeuten (vgl. Keller/Kirschbaum 2003), erlauben es nicht, bei einer quantitativen Analyse von Wortgebrauchsfrequenzen ste­ henzubleiben. Vielmehr müsste die Inhaltsveränderung bei gleichbleiben­ dem Ausdruck in der Analyse berücksichtigt werden. Linguistische Diskursanalyse muss deshalb als hermeneutische Wissenschaft verstanden werden, der es weniger um Gesetzmäßigkeiten (im natur­ wissenschaftlichen Verständnis) geht:

Hermeneutik

38 3. Diskurs in der Linguistik Da Diskursanalyse als Korpus (wie wir Linguisten sagen, d. h. als Material, das der Analyse als Objekt dient) vorrangig Texte vorliegen hat (oder, wenn man diese Eingrenzung nicht akzeptiert, kulturelle Artefakte, von den die Texte aber immer den Löwenanteil ausmachen), müssen die lee­ ren, physikalisch präsenten Formen der Texte (wie übrigens auch die Arte­ fakte) erste einmal je für sich mit Sinn gefüllt, mithin interpretiert, gedeu­ tet werden, bevor eine diskursanalytische Arbeit überhaupt erst anfangen kann. Natürlich wirkt sich eine kompetente diskursanalytische Herange­ hensweise wiederum auf die Interpretation, das Verstehen der Texte oder Artefakte aus, kann diese verändern, differenzieren, ggf. auch korrigieren. (Busse 2013a: 54 f.)

Eine so verstandene Diskursanalyse nimmt also eine "hermeneutisch-philo­ logische Perspektive" (ebd.: 53) ein. Um ihre Interpretationen reliabel zu machen, unterliegt sie speziellen Bedingungen, die bereits weiter oben skiz­ ziert wurden. Beispiel einer

Um diese Überlegungen etwas konkreter darzustellen, soll hier die Kor­

Korpuszusammen­

puszusammenstellung einer Diskursanalyse vorgestellt werden, die sich mit

stellung

dem sicherheitspolitischen Diskurs über die EU-Verfassung in Deutschland, Großbritannien und der Türkei beschäftigt (Gür-�eker 2012). Als besondere Herausforderung erweist sich in diesem Fall, dass es sich um eine verglei­ chende Studie handelt, die den entsprechenden Diskurs in verschiedenen Ländern (mithin "transnational", was im Folgenden synonym zu "internatio­ nal" verwendet wird) vergleichend untersuchen will. Mit Böke/jungiNiehr/ Wengeier (2000: 12) lassen sich bei Diskursvergleichen folgende Konstella­ tionen denken:

international

intranational

mehrere Staaten

ein Staat





interlingual

intralingual

intrathematisch

interthematisch

mehrere Sprachen

eine Sprache

ein Diskurs

mehrere Diskurse

Abb. 3: Diskursvergleiche (Böke/JungiNiehrlWengeler 2000:

Diskursvergleich

12)

Zu ergänzen bleibt hier lediglich, dass auch intranational-interlinguale Diskursvergleiche denkbar sind, und zwar im Hinblick auf Länder, in denen mehrere Sprachen gesprochen werden. Für solche Vergleiche böten sich beispielsweise Länder wie die Schweiz oder Kanada an, die sich bekannt­ lich durch ihre Mehrsprachigkeit auszeichnen. Die vorliegende Studie von Gür-�eker ist hingegen ein international-interlingualer Diskursvergleich,

3.3 Textkorpora als Grundlage

dem Diskurse in verschiedenen Staaten, in denen unterschiedliche Spra­ chen gesprochen werden, zugrunde liegen. Ein international-intralingualer Diskursvergleich liegt dagegen beispielsweise mit Niehr (2004) vor, der die (deutschsprachigen) Migrationsdiskurse in Deutschland, Österreich und der Schweiz untersucht. Gür-�eker hat sich entschieden, die sicherheitspoliti­ schen Diskurse in Deutschland, Großbritannien und der T ürkei anhand der massenmedialen Berichterstattung zu analysieren. Dies scheint eine sinn­ volle Herangehensweise, allerdings keineswegs die einzig mögliche. Denk­ bar wäre auch ein Vergleich der inhaltlich einschlägigen Parlamentsdebat­ ten in den drei Ländern. Damit ergäbe sich ein anderes Textkorpus, dessen Analyse selbstverständlich zu anderen Ergebnissen führen würde. Legt man wie Gür-�eker der Analyse die massenmediale Print-Berichterstattung zu einem Thema zugrunde, so ergibt sich eine weitere Schwierigkeit bei der Korpuszusammenstellung: Betrachtet man lediglich die Presselandschaft in Deutschland, so stellt sich die Frage, aufgrund welcher Kriterien welche Medien in das jeweilige Textkorpus aufzunehmen sind. Um an dieser Stelle nicht bereits systematische Verzerrungen zu riskieren, sollte die Zusammen­ stellung des Textkorpus im Sinne von Busch (s. o.) möglichst repräsentativ sein, d. h. es sollte nach Möglichkeit das politische Spektrum vollständig abdecken. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bestimmte Medien für speziel­ le Diskurse möglicherweise relevanter als andere sind. Ein solch "ausgewo­ genes" Korpus (vgl. dazu Böke/jungiNiehrlWengeler 2000: 16f.) bietet aller­ dings noch keine Gewähr für die Ausgewogenheit eines Diskursvergleichs. Das Bestreben des Diskursanalytikers muss dahin gehen, für die zu ver­ gleichenden Diskurse annähernd gleichartige Textkorpora zusammenzu­ stellen (vgl. Niehr 2012a: 245 ff.). Dies ist bei der Heterogenität der inter­ nationalen Presse sicherlich keine einfache Aufgabe. Im folgenden Zitat wird deutlich, wie Gür-�eker dieses Problem für ihren Diskursvergleich gelöst hat: Bei der Medienauswahl wurden neben der Relevanz des jeweiligen Me­ diums für die öffentliche Meinungsbildung, Auflagenstärke bzw. Verbrei­ tung und insbesondere die redaktionellen Leitlinien berücksichtigt. In al­ len drei Teilkorpora sind konservative bis hin zu liberal oder links eingestuften Redaktionen vertreten [...]. Auch wurde auf das Vorkommen sowohl seriöser als auch populärer Medien geachtet, wobei der Schwer­ punkt auf seriöser Presse liegt. [...] Auch ist der Schwerpunkt auf seriöse Presse damit zu begründen, dass [...] Qualitätszeitungen eine Offenheit gegenüber europäischen Themen aufweisen, wohingegen die Berichter­ stattung von Medien, die der Boulevardpresse zugeordnet werden, sich eher auf den Nationalstaat richten [...].

(Gür-?eker 2012: 85 f.)

Nachdem die für das Textkorpus infrage kommenden Massenmedien für

Thematische

alle drei Länder ausgewählt wurden, erfolgte eine weitere thematische (und

und zeitliche

gegebenenfalls zeitliche) Einschränkung. Diese folgt beispielsweise den von BusselTeubert (s. o.) aufgestellten Kriterien. Für die konkrete Analyse Gür-

Einschränkung des Textkorpus

39

40 3. Diskurs in der Linguistik �ekers ergibt sich auf diese Weise ein Textkorpus, das mehr als 1.000 Texte mit nahezu 1 Mio. laufenden Wortformen enthält. Dieses Korpus setzt sich aus Texten von je sieben öffentlichen Medien der drei Länder zusammen und umfasst unterschiedliche Textsorten wie z. B. Nachrichten, Kommentare, Interviews (vgl. ebd.: 93). Textkorpora

Zwar ist dies eine große Zahl von Texten, die für einen einzelnen Linguis-

als Auswahl

ten kaum überschaubar zu sein scheint. Dennoch ist zu bedenken, dass die Diskurse, die in den drei Ländern geführt wurden, zweifelsohne noch sehr viel mehr Texte umfassen. Dies betrifft nicht nur institutionelle Texte wie die bereits angesprochenen Parlamentsdebatten. Vielmehr ist auch an Texte im Internet, Material der politischen Parteien, Fernsehberichterstattung und mündliche Diskussionen zum Thema zu denken - um nur eine erste, unge­ ordnete und spontane Auswahl aus dem Gesamtkorpus zu nennen. Deutlich wird also, dass Diskursanalytiker immer nur einen Bruchteil des Gesamtdiskurses bzw. eines von den zahlreichen Diskurs-Würfelchen aus Jungs Modell analysieren können. Vor diesem Hintergrund hat der Linguist Fritz

Hermanns den Versuch unternommen,

terminologische

Klarheit

sowohl über die zu analysierenden wie über die im Verborgenen bleibenden Teile eines Gesamtkorpus zu schaffen. Das imaginäre

Hermanns (1995: 89f.) geht zu Recht davon aus, dass der weitaus größte

Textkorpus

Teil des jeweiligen Diskurses für analysierende Wissenschaftler im Normal­ fall überhaupt nicht zur Verfügung steht. Dies liegt einerseits daran, dass dieser Teil häufig unwiederbringlich verloren ist, da er niemals aufgezeich­ net wurde. Zu denken ist hier etwa an mündliche Alltagsäußerungen oder auch schriftliche Aufzeichnungen, die jedoch - anders als offizielle Doku­ mente - nie archiviert wurden und vermutlich auch nicht als diskursrelevan­ te Schlüsseltexte einzustufen wären. Aber auch diese verlorenen Äußerun­ gen gehören zu einem Diskurs, wiewohl sie nicht mehr zugänglich sind. Diesen verschwundenen Teil des Korpus nennt Hermans (1995: 89) "ein imaginäres Korpus".

Das virtuelle

Schi ießlich ist davon auszugehen, dass es ein ebenfalls unüberschaubar

Textkorpus

großes Textkorpus gibt, das zwar erhalten geblieben ist, von den Diskursfor­ schern aus unterschiedlichen Gründen aber nicht analysiert werden kann: Zu denken ist an Äußerungen, die zwar erhalten sind, ohne je einem Dis­ kursanalytiker zugänglich gemacht zu werden. Dies gilt beispielsweise für die meisten privaten Aufzeichnungen. Weiterhin können weite Teile des jeweiligen Gesamtdiskurses allein aus forschungspraktischen Gründen nicht analysiert werden, weil dies die üblicherweise zur Verfügung stehen­ den Ressourcen übersteigen würde. Diese Bestandteile eines Diskurskorpus nennt Hermanns (ebd.) "das virtuelle Korpus". Dieses muss schließlich durch bewusste Auswahl und Einschränkung auf ein forschungspraktisch handhabbares Maß reduziert werden: Durch gezielte Sammlung, Sichtung und Gewichtung wird (nach Elimina­ tion des Unbrauchbaren und des weniger Ergiebigen) das virtuelle Korpus zum konkreten Korpus aller jener Texte des Diskurses, die der sprachhisto­ rischen Untersuchung dann zugrundeliegen. Dessen Repräsentativität (ein

3.3 Textkorpora als Grundlage 41

problematischer, doch nötiger Begriff) ist entscheidend für die Qualität der Resultate [ ...].

(Hermanns 1995: 90)

Die Zusammenstellung eines solchen Textkorpus beruht offensichtlich auf Entscheidungen des Diskursanalytikers. Sie sind vergleichbar mit den Ent­ scheidungen, die die Herausgeber von Textausgaben zu treffen haben. Dies macht Foucault (1973a: 37) deutlich, wenn er sich Gedanken über das Text­ korpus macht, das das Werk eines Autors ausmacht: Die Konstitution eines Gesamtwerks oder eines opus setzt eine bestimmte Anzahl von Wahlmöglichkeiten voraus, die nicht einfach zu rechtfertigen, ja nicht einmal einfach zu formulieren ist: genügt es, den vom Autor veröf­ fentlichten Texten diejenigen hinzuzufügen, die er in Druck zu geben vor­ hatte und die nur unvollendet geblieben sind, weil er gestorben ist? Muß man außerdem jeden Schmierzettel, jeden ersten Entwurf, Korrekturen und Durchstreichungen der Bücher hinzuzählen? Muß man die verworfe­ nen Skizzen hinzufügen? Und welchen Status soll man den Briefen, den Anmerkungen, den berichteten Gesprächen, den von Hörern niederge­ schriebenen Äußerungen, kurz: jenem ganzen Gewimmel sprachlicher Spuren geben, die ein Individuum bei seinem Tode hinterläßt und die in einem unbestimmten Verkreuzen so viele verschiedene Sprachen spre­ chen?

Folgt man dem terminologischen Vorschlag Hermanns' so wird deutlich,

Das konkrete

dass für konkrete Diskursanalysen in den meisten Fällen nur ein kleiner Ausschnitt eines Diskurses untersucht werden kann. Dieser ist einerseits be­

Textkorpus

stimmt durch das überhaupt erhaltene Material, das dem Diskursanalytiker zugänglich ist, und andererseits durch gezielte Auswahl aus diesem Mate­ rial. Insbesondere bei öffentlichen Diskursen unserer Zeit, die immer auch massenmedial geführt werden, ist offensichtlich, dass das jeweilige konkre­ te Korpus - eben aufgrund seines Auswahlcharakters - wohlüberlegt zusam­ mengestellt werden muss. Die quantitativen Verhältnisse zwischen imagi­ närem, virtuellem und konkreten Textkorpus versucht die folgende Abbil­ dung zu verdeutlichen (s. Abb. 4). Seit einigen Jahren gibt es für Diskursanalytiker die komfortable Möglich­ keit, auf bestehende Textkorpora zurückzugreifen (vgl. die Zusammenstel­ lung bei Lemnitzer/Zinsmeister 2010: 41 ff., 112 ff.). Diese umfassen ganz unterschiedliche Texte wie beispielsweise Zeitungsartikel, Wörterbücher, Parlamentsprogramme oder literarische Texte. Große Textsammlungen finden sich etwa im DWDS-Korpus (www.dwds.de) der Berlin-Branden­ burgischen Akademie der Wissenschaften. Auf Grundlage der hier enthalte­ nen Korpora entsteht das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts. Zugang zu zahlreichen (historischen) Wörterbüchern bie­ tet das Wörterbuchnetz (www.woerterbuchnetz.de). und historische Texte aus der Periode von 1600 bis 1900 finden sich im Deutschen Textarchiv (www.deutschestextarchiv.de). Insbesondere für den öffentlichen Sprachge­ brauch sind Textkorpora nützlich, die serielle Quellen wie etwa Zeitungen enthalten. In diesem Zusammenhang sind die Textkorpora des Instituts für

Textkorpora im Internet

42 3. Diskurs in der Linguistik Deutsche Sprache (lDS) für die linguistische Diskursanalyse von besonde­ rem Interesse. Das IDS verfügt über große Textkorpora, die (nach einer Re­ gistrierung) kostenlos zur Recherche genutzt werden können. Über das Recherchewerkzeug Cosmas 11 hat der Nutzer Zugriff auf z. Zt. 112 Textkor­ pora mit etwa 8,7 Mrd. laufenden Wortformen. Dies entspricht ungefähr 21,8 Mio. Buchseiten mit ca. 400 Wörtern pro Seite (vgl. http://www.ids­ mannheim.de/cosmas2/projektireferenz/korpora.html). Diese

Textkorpora

werden laufend ergänzt, die hier gemachten Angaben beziehen sich auf den Sommer 2013. Für Diskursanalytiker ist es dabei interessant, dass sie sich aus den insgesamt zur Verfügung stehenden Korpora nach den jeweili­ gen Recherche-Bedürfnissen und -Kriterien ein eigenes Korpus zusammen­ stellen können, das beispielsweise ausschließlich Zeitungstexte, Plenar­ protokolle oder biografische Literatur enthält. Auch eine Suche über alle Korpora ist möglich und mittels einer webbasierten Abfrage leicht durchzu­ führen. Grundlegende Möglichkeiten der Korpusrecherche sollen anhand eines einfachen Beispiels hier kurz aufgezeigt werden. Beispiel:

Der ausgewählte Suchbegriff lautet Nachhaltigkeit, gesucht wird in allen

Nachhaltigkeit in

Textkorpora. Führt man eine entsprechende Suche aus, so erhält man

den lOS-Korpora

29.548 Treffer in 19.011 Texten. Diese Texte umfassen insgesamt 26 Text­ sorten vom Sportbericht bis hin zur Veranstaltungsinformation. Die gefun­ denen Belege stammen aus den Jahren 1985 bis 2012. Diese dürren statisti­ schen Informationen sind nicht besonders aussagekräftig, Cosmas 11 hält

Abb. 4: Imaginäres, virtuelles und konkretes Textkorpus

3.3 Textkorpora als Grundlage

jedoch weitere Informationen bereit: Betrachtet man die Verteilung der Tref­ fer auf die Textsorten, so zeigt sich, dass mehr als 8.000 Treffer aus Plenar­ protokollen der Jahre 1995 bis 2012 stammen. Dies spricht für politische Brisanz, die durch eine vergleichende Abfrage anderer Suchbegriffe in Ple­ narprotokollen überprüft werden könnte. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass fast 2.000 Treffer in Wikipedia zu verorten sind. Diese Treffer könnten gege­ benenfalls bei einer weiteren Recherche ausgeklammert oder umgekehrt zum Ausgangspunkt einer vergleichenden Wörterbuchrecherche gemacht werden. Die anhaltende bzw. steigende Brisanz des Begriffs Nachhaltigkeit offenbart die Verteilung der Treffer über Jahrzehnte: Während für den Zeit­ raum 1980 bis 1989 lediglich 5 Treffer zu verzeichnen sind, steigt die Anzahl für 1990 bis 1999 auf 2.802, für 2000 bis 2009 auf 14.552 und für 2010 bis 2019 auf 12.189. Rechnet man diesen letzten Wert auf die verblei­ bende Zeit des laufenden Jahrzehnts um, so scheint der Trend einer stei­ genden Verwendungsfrequenz von Nachhaltigkeit bis auf Weiteres anzu­ halten. Die Angaben zur Verwendungsfrequenz können durch eine Jahres-, Monats- und Tagesansicht je nach Bedarf verfeinert werden. Ebenfalls mög­ lich ist eine Länderansicht, die für Nachhaltigkeit 3.344 Treffer für Öster­ reich, 4.372 Treffer für die Schweiz und 21.832 Treffer für Deutschland aus­ weist. Bevor man aus diesen Zahlen Schlüsse zieht, sind sie jedoch mit zwei Variablen in Bezug zu setzen, nämlich mit der Zahl der pro Land berücksichtigten Texte und den abgedeckten Zeiträumen. Berücksichtigt man, dass die Treffer sich auf nur 2.737 Texte aus Österreich und 3.283 Texte aus der Schweiz gegenüber 12.891 Texten aus Deutschland verteilen, so relativiert sich der große Unterschied. Hinzu kommt, dass die Treffer für Deutschland über eine größere Zeitspanne verteilt sind, nämlich über die Jahre 1985 bis 2012, während für Österreich die Jahre 1991 bis 2012 und für die Schweiz die Jahre 1996 bis 2012 im Korpus abgedeckt sind. Quanti­ tative Vergleiche müssten derartige Korpusunterschiede berücksichtigen, um nicht zu ungültigen Ergebnissen zu gelangen (vgl. ausführlicher zu quantitativen Korpusanalysen Lemnitzer/Zinsmeister 2010: 33 ff.). Von besonderem Interesse für linguistische Diskursanalysen sind die soge­ nannten Kookkurrenzen oder Kollokationen eines Ausdrucks. Damit wird berechnet, welche Wörter in einem (zu definierenden) Abstand statistisch besonders häufig gemeinsam vorkommen. So werden in der Umgebung von Hundfinite Formen von bellen oder beißen mit größerer Wahrscheinlichkeit anzutreffen sein, als Formen von lesen oder fliegen. Derartige Frequenzen können nun innerhalb von Textkorpora mit einer Kollokationsanalyse berechnet werden (vgl. Abb. 5). Für Nachhaltigkeitergibt sich im Cosmas-II­ Korpus folgendes Bild:

Besonders häufig kommen (neben Prinzip) die

Ausdrücke Generationengerechtigkeit, Ökologie/ökologisch und Umwelt­ schutz vor. Dies markiert das thematische Umfeld, in dem Nachhaltigkeit besonders häufig verwendet wird. Für diskursanalytische Fragestellungen von besonderem Interesse ist allerdings, dass an 6. Stelle der Kookkurrenz­ Liste von Nachhaltigkeit der Ausdruck Begriff verzeichnet wird. Dies wiede­ rum deutet auf eine gehäufte Thematisierung der Vokabel Nachhaltigkeit und damit gleichzeitig auf ihre Brisanz im öffentlichen Sprachgebrauch hin.

Kookkurrenzen von Nachhaltigkeit

43

44

3. Diskurs in der Linguistik

Ob diese Annahme der diskursiven Realität entspricht, kann nur durch einen Blick in die einzelnen Belege geklärt werden. Darauf werden wir bei der Analyse der diskursrelevanten Lexik erneut zu sprechen kommen. ��'7';::-=hu>

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