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German Pages 296 [300] Year 2007
Matthias Wunsch Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant
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Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Matthias Wunsch
Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und mit Hilfe der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-019317-6 ISSN 0340-6059 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Für Helle
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die leicht veränderte Fassung meiner im August 2005 an der Technischen Universität Berlin eingereichten Dissertation. Die Dissertation wurde von Hans Poser und Christa Hackenesch betreut und begutachtet. Hans Poser gilt mein Dank für seine vorbehaltlose und engagierte Unterstützung aller Aspekte des Dissertationsprojekts und insbesondere für die vielen aufschlussreichen Gespräche, die ich mit ihm über inhaltliche und konzeptionelle Fragen der Arbeit führen durfte. Christa Hackenesch hat in ihrem an der Technischen Universität Berlin durchgeführten Hauptseminar „Anschauung, Einbildungskraft und Begriff“ mein Interesse an der Thematik der Einbildungskraft geweckt. Dafür und für unsere unzähligen und für mich sehr wertvollen Diskussionen über die Themen meiner Arbeit danke ich ihr. Bei Angela Breitenbach, Stefan Degenkolbe, Kristina Engelhard und Gerhard Schwarz bedanke ich mich für die Lektüre von Teilen der Arbeit und wichtige Hinweise. Kristina Engelhard danke ich außerdem für eine Einladung an die Universität zu Köln, wo ich im Juni 2004 die Gelegenheit hatte, zentrale Thesen der Arbeit in einem Kolloquium zur Diskussion zu stellen. Gerhard Schwarz gilt mein besonderer Dank für den langjährigen intensiven Austausch über Kant und für seine kritischen Fragen zu den Kernpunkten meines Interpretationsansatzes. Für ihre kompetente Hilfe bei der Umwandlung des ursprünglich mit LaTeX erstellten Textes in das Format eines anderen Textverarbeitungsprogramms danke ich Stefanie Jansen. Bei der Studienstiftung des deutschen Volkes bedanke ich mich für die Gewährung eines Promotionsstipendiums. Ferner gilt mein Dank dem Verlag Walter de Gruyter für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Kantstudien-Ergänzungshefte. Für Druckkostenzuschüsse danke ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung. Den mit Abstand größten und umfassendsten Dank schulde ich Helle Wunsch für ihre Geduld, ihre detaillierte Kritik und ihre Korrekturvorschläge. Ihr ist die Arbeit gewidmet. Berlin, den 10.08.2007
Matthias Wunsch
Inhalt Vorwort ..............................................................................................................VII 1 Einführung.........................................................................................................1 1.1 Vorhaben und Methode ............................................................................... 1 1.2 Literatur zur Einbildungskraft bei Kant .................................................... 6 1.3 Eingrenzung des Themas und Gang der Untersuchung.......................10 2 Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft..................................18 2.1 Überblick: Die Einbildungskraft nach Kant und bis Heidegger..........18 2.2 Heideggers Ablehnung einer erkenntnistheoretischen Interpretation der KrV.........................................................................................................24 2.3 Zu Heideggers Wurzelthese.......................................................................31 3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft...........................................43 3.1 Strawson und die ‚dunkle Seite‘ der KrV.................................................43 3.2 Der Irrealitätseinwand ................................................................................47 3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand..........................................................51 3.4 Der Inkohärenzeinwand.............................................................................69 4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft..................................84 4.1 Das weitere Vorgehen im Überblick ........................................................84 4.2 Das Deduktionsproblem und die Struktur seiner Lösung....................87 4.2.1 Der Deduktionsbegriff und das Problem einer transzendentalen Deduktion ..........................................................87 4.2.2 Der vorläufige Deduktionsbeweis und das Nachforschungsprinzip der Deduktion........................................90 4.2.3 Die Bedeutung subjektiver Erkenntnisquellen für die verschiedenen Interessen des Deduktionskapitels......................93 4.3 Zur Theorie der Einbildungskraft ............................................................97 4.3.1 Die Funktionen der Einbildungskraft für die Deduktionsuntersuchung................................................................97 4.3.2 Der begriffliche Rahmen der Theorie der Einbildungskraft...102 4.4 Die Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung ............................104 4.4.1 Notwendige Bedingungen oder Gründe der Möglichkeit der Erfahrung?.......................................................................................104
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Inhalt
4.4.2 Empirische Erkenntnis im weiten Sinn und das Nacheinander unseres bewussten Vorstellens...........................108 4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?...............113 4.5.1 ‚Synthesis‘ und die Ausgangspunkte der Deduktion ................113 4.5.2 Der Psychologismuseinwand........................................................117 4.5.3 Transzendentale Synthesen als Fähigkeiten ...............................124 5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft ......131 5.1 Die Argumentationsstruktur der A-Deduktion ....................................131 5.2 Die Synopsis des Sinns .............................................................................133 5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion .........................137 5.3.1 Empfindungen und Anschauungen ............................................137 5.3.2 Durchlaufende und zusammennehmende Apprehension .......144 5.3.3 Präsenthaltende und wiedervorführende Reproduktion..........147 5.3.4 Transzendentale und reine Synthesis der Apprehension und Reproduktion ..................................................................................150 5.4 Die Synthesis der Rekognition ................................................................156 5.4.1 Gliedernde und bewahrende Rekognition .................................156 5.4.2 Die dreifache Synthesis, Begriffe und Regeln............................163 5.4.3 Regeln der notwendigen Reproduktion......................................167 5.4.4 Apperzeption und bewahrende Rekognition.............................175 5.5 Kants erster Entwurf einer ‚Deduktion von oben‘ (A 108) ...............181 6 Die ‚Deduktion von oben‘ ..........................................................................187 6.1 Kants Argument ........................................................................................187 6.2 Selbstbewusstsein ......................................................................................189 6.3 Einbildungskraft ........................................................................................197 6.3.1 Synthetische Einheit und Synthesis.............................................197 6.3.2 Transzendentale Synthesis ............................................................205 6.4 Verstand ......................................................................................................209 6.5 Kurzfassung der Rekonstruktion des Arguments ................................213 6.6 Zwei Schwierigkeiten des Arguments ....................................................215 6.6.1 Probleme der Definition des reinen Verstandes .......................215 6.6.2 Das Problem unverknüpfbarer Vorstellungsinseln...................222 7 Die ‚Deduktion von unten‘ .........................................................................224 7.1 Überblick über das Argument .................................................................224 7.2 Der Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation ............225 7.2.1 Der Sinn und die intuitive Einbildungskraft..............................225 7.2.2 Wahrnehmungsurteile und Assoziation......................................227 7.3 Affinität: Der objektive Grund der Assoziation...................................234 7.4 Das Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘............................242
Inhalt
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7.5 Der Abschluss der ‚Deduktion von unten‘ ...........................................249 7.5.1 Die Erzeugung der Affinität durch die Einbildungskraft ........249 7.5.2 Die Kategorien als Prinzipien der Erzeugung ...........................250 7.6 Das Problem eines Seinsgrundes der Affinität .....................................253 8 Die Theorie der Einbildungskraft in der A-Deduktion..........................258 8.1 Die Analyse der drei Synthesen...............................................................258 8.2 Die Ansätze zu einem Deduktionsargument ........................................262 8.3 Das definitive Deduktionsargument und sein Scheitern.....................265 8.4 Mögliche Auswege ....................................................................................267 Literatur ..............................................................................................................273 Personenregister ................................................................................................280 Sachregister ........................................................................................................282
1 Einführung 1.1 Vorhaben und Methode Kant stellt in der Kritik der reinen Vernunft (KrV) einen grundlegenden Zusammenhang zwischen dem Vermögen der Einbildungskraft und der Möglichkeit von Erkenntnis her. Die Einbildungskraft soll nicht nur eine begleitende oder ergänzende Rolle hinsichtlich einiger unserer Erkenntnisse spielen, sondern eine wesentliche bzw. konstitutive Rolle hinsichtlich all unserer Erkenntnisse. Kant formuliert diesen Anspruch in der KrV bereits an der ersten signifikanten Stelle zur Einbildungskraft, indem er erklärt, dass wir ohne die Einbildungskraft „überall gar keine Erkenntnis haben würden“ (A 78, B 103). Anders als seine empiristischen und rationalistischen Vorgänger diskutiert Kant die epistemische Dimension der Einbildungskraft aber nicht im Rahmen von erkenntnisgenetischen oder empirisch-psychologischen Fragestellungen, sondern weist der Einbildungskraft eine erkenntnistheoretische Funktion zu. Sie soll ein transzendentales Vermögen sein – ein Vermögen, dem eine Begründungsfunktion für die Möglichkeit unserer Erkenntnis zukommt. Die Einbildungskraft wird von Kant als eine Synthesisfähigkeit charakterisiert. „Synthesis überhaupt“, so Kant, ist die Leistung bzw. „Wirkung der Einbildungskraft“ (ebd.). Unter „Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung“ wird dabei „die Handlung“ verstanden, „verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“ (A 77, B 103) Kants Synthesiskonzeption liegt der Gedanke zugrunde, dass das, was uns durch die Rezeptivität unseres Gemüts – durch Eindrücke und Empfindungen – gegeben ist, von sich aus nicht diejenige Einheit besitzt, die für die Inhalte unserer Erkenntnis charakteristisch ist. Synthesis ist deshalb „dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammlet, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt; sie ist daher das erste worauf wir Acht zu geben haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen.“ (A 77 f., B 103) Doch die Einbildungskraft ist in der KrV nicht einfach nur eine Synthesisfähigkeit, sondern der Inbegriff verschiedener Synthesisfähigkeiten. Kant spricht etwa von empirischen, reinen, transzendentalen, figürlichen, apprehendierenden, reproduzierenden, rekognoszierenden und produkti-
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1 Einführung
ven Synthesen. Er unterscheidet also eine ganze Reihe unterschiedlicher Synthesistypen, und er weist Beziehungen auf, in denen diese zueinander stehen. Daher liegt die Einschätzung nahe, dass die KrV eine Theorie der Einbildungskraft enthält – einen argumentativen Zusammenhang von Sätzen, die die Einbildungskraft betreffen. Diese Arbeit will einen Beitrag zur argumentativen Rekonstruktion dieser Theorie leisten. In der KrV selbst bleibt die Theorie der Einbildungskraft implizit. Das zeigt sich äußerlich schon darin, dass es dort keinen Abschnitt gibt, der eigens der Einbildungskraft gewidmet wäre. Der Grund hierfür liegt darin, dass das Konzept der Einbildungskraft für Kant nicht um seiner selbst willen von Interesse ist, sondern ausschließlich in Bezug auf das theoretische Potential, das es zur Lösung bestimmter systematischer Probleme birgt. Für die Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft bedeutet dies, dass sie nur im Rahmen einer eingehenden Untersuchung dieser Probleme selbst durchgeführt werden kann. Bei diesen Problemen handelt es sich in erster Linie um erkenntnistheoretische: das Deduktionsund das Schematismusproblem. Kant entwickelt seine erkenntnistheoretische Konzeption der Einbildungskraft zuallererst in Hinblick auf die Lösung des Deduktionsproblems. Das Deduktionskapitel ist der Ort der KrV, an dem seine Theorie der Einbildungskraft Gestalt annimmt. Kant hat zwei Fassungen des Deduktionskapitels vorgelegt; eine in der ersten und eine in der zweiten Auflage der KrV. Beide Fassungen haben einen gemeinsamen Anfangsteil, in dem das Deduktionsproblem und die Struktur seiner Lösung entfaltet wird (A 84/94, B 116/27). Als Resultat der Überlegungen dieses Anfangsteils formuliert Kant ein Kriterium, dem eine erfolgreiche transzendentale Kategoriendeduktion genügen muss: Die Kategorien müssen „als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrungen erkannt werden“ (A 94, B 126). Im Anschluss an den Absatz, in dem Kant dieses Kriterium aufstellt, trennen sich die Wege beider Fassungen, so dass man von einer ‚A-Deduktion‘ und einer ‚B-Deduktion‘ sprechen kann. Sowohl in der A-Deduktion als auch in der B-Deduktion kommt der Einbildungskraft eine wesentliche systematische Funktion zu. Denn sie spielt eine begründende Rolle in der Argumentation der jeweiligen Deduktionsbeweise. Der A-Deduktion zufolge ist die Einbildungskraft eine der „ursprüngliche[n] Quellen [...], die die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung enthalten“ (A 94) bzw. eine der „subjektive[n] Quellen, welche die Grundlage a priori zur Möglichkeit der Erfahrung ausmachen“ (A 97). Und auch in der B-Deduktion soll sie einen apriorischen Beitrag „zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis“ liefern und gehört als solche nicht in die „Psychologie“, sondern in die „Transzendentalphilosophie“ (B 152).
1.1 Vorhaben und Methode
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Hinsichtlich der Einbildungskraft bestehen jedoch auch Unterschiede zwischen der A- und der B-Deduktion. Der augenfälligste ist, dass Kant der Entfaltung seiner Konzeption der Einbildungskraft in der ADeduktion wesentlich mehr Raum gibt als in der B-Deduktion. Dementsprechend ist diese Konzeption in der ersteren um einiges differenzierter als in der letzteren: Die A-Deduktion beginnt nach einigen Vorbereitungen unter den Stichworten ‚Apprehension‘, ‚Reproduktion‘ und ‚Rekognition‘ mit einer komplexen Analyse von drei verschiedenen Arten der Synthesis der Einbildungskraft (A 98 ff.). Auf eine solche Analyse hat Kant in der B-Deduktion komplett verzichtet. Er unterscheidet dort nicht mehr zwischen verschiedenen Arten der Synthesis der Einbildungskraft, sondern nimmt nur auf eine solche Synthesis Bezug, auf die figürliche Synthesis der Einbildungskraft („synthesis speciosa“, B 151). Der zentrale Unterschied zwischen der A- und der B-Deduktion in puncto Einbildungskraft ist jedoch nicht quantitativer, sondern qualitativer Natur. Zwar kommt der Einbildungskraft in beiden eine begründende Rolle innerhalb der Argumentation der jeweiligen Deduktionsbeweise zu; anders als in der B-Deduktion weist Kant der Einbildungskraft in der ADeduktion jedoch über diese systematische Funktion hinaus auch eine methodische Funktion zu. Die Einbildungskraft hat dort eine Leitfadenfunktion für die Deduktionsuntersuchung. Kant formuliert diesen für das Vorgehen der A-Deduktion entscheidenden Punkt in Bezug auf die drei Synthesen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition: „Diese geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche [...] alle Erfahrung möglich machen.“ (A 97 f.) Die Analyse der drei Synthesen soll die Deduktionsuntersuchung demnach auf das hinführen, was alle Erfahrung möglich macht. Diese ‚Leitung‘ ist aber von unmittelbarer Relevanz für Kants Deduktionsvorhaben. Denn in diesem Vorhaben geht es darum, die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung zu erweisen. Kants Konzeption der Einbildungskraft und ihrer drei Synthesen hat also in der A-Deduktion eine methodische Funktion für die Deduktionsuntersuchung. Da Kant seine Überlegungen zur Einbildungskraft in der ADeduktion nicht nur detaillierter als in der B-Deduktion ausführt, sondern der Einbildungskraft anders als in der B-Deduktion über ihre systematische Funktion hinaus auch eine Leitfadenfunktion für die Deduktionsuntersuchung zuweist, ist seine Konzeption der Einbildungskraft in der ADeduktion von vorrangigem Interesse. Dass Kant dieser Konzeption die skizzierte doppelte Funktion für seine Deduktionsuntersuchung zuweist, hat für das Vorhaben der Rekonstruktion dieser Konzeption die unausweichliche Konsequenz, dass es ein relativ aufwendiges Procedere erforderlich macht, und zwar eine umfassende Rekonstruktion der Dedukti-
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1 Einführung
onsuntersuchung selbst. Aus diesem Grund werde ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit weder auf die B-Deduktion noch auf Kants Schematismuslehre ausführlich eingehen und mich im Wesentlichen auf Kants Konzeption der Einbildungskraft in der A-Deduktion beschränken. 1 Eine argumentative Rekonstruktion unterscheidet sich von anderen Methoden des wissenschaftlichen Umgangs mit philosophischen Texten. Es handelt sich bei ihr weder nur um eine paraphrasierende Kommentierung (Erläuterung) dessen, was der Autor meinte, noch um eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung des Weges, der ihn zu seiner Meinung führte, sondern um eine systematische Auseinandersetzung mit dem argumentativen Anspruch des Textes. 2 Eine solche Rekonstruktion muss das Ziel, die Methode und die argumentative Struktur einer philosophischen Konzeption klären, Einwände aller Art gegen diese Konzeption prüfen und die Konzeption in einer konsistenten, kohärenten und argumentativ schlüssigen Gestalt darstellen, die den berechtigten Einwänden Rechnung trägt, aber ihren Ansatz und die von ihr beanspruchten Resultate so weit wie möglich wahrt. Es gibt Fälle, in denen eine argumentative Rekonstruktion einer bestimmten Konzeption überflüssig ist. Ein solcher Fall liegt etwa dann vor, wenn der Text, der diese Konzeption enthält, so transparent ist, dass er den Anforderungen, die an seine argumentative Rekonstruktion gestellt sind, selbst schon in ausreichendem Maße gerecht wird. Dies gilt für Kants erkenntnistheoretische Konzeption der Einbildungskraft in der KrV offenbar nicht. Denn gerade diejenigen Kapitel der KrV, in denen Kant diese Konzeption hauptsächlich entwickelt und in Anspruch nimmt, d. h. das Deduktions- und das Schematismuskapitel, gelten als dunkel, zumindest aber als schwer zugänglich. Eine argumentative Rekonstruktion einer bestimmten Konzeption ist auch dann nicht erforderlich, wenn sie in der Forschung bereits auf akzeptable Weise durchgeführt wurde. Es wird daher zu fragen sein, ob dies bei der erkenntnistheoretischen Konzeption der Einbildungskraft in der KrV der Fall ist. Bevor ich eine Übersicht über die Literatur zur Einbildungskraft bei Kant gebe, möchte ich jedoch auf den fundamentalen und kritischen Punkt hinweisen, dass der mögliche Erfolg jedes Projekts der Rekonstruktion dieser Konzeption (natürlich auch der des hier anvisierten) bereits von vornherein erheblichen Zweifeln ausgesetzt ist. Die prinzipiellen Bedenken, die gegen die Durchführbarkeit eines solchen Projekts bestehen, lassen sich zwei der bedeutendsten Interpretationen der KrV ent-
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Weiter unten (S. 10 ff.) werde ich zwei mögliche Einwände gegen diese Schwerpunktsetzung des hier verfolgten Rekonstruktionsvorhabens diskutieren. Vgl. Stegmüller 1967, 1 ff., Henrich 1976, 9 ff. und Aschenberg 1982, 60.
1.1 Vorhaben und Methode
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nehmen: M. Heideggers so genanntem ‚Kantbuch‘ Kant und das Problem der Metaphysik (1929) und P. F. Strawsons The Bounds of Sense (1966). Heidegger misst der Einbildungskraft zwar eine so zentrale Bedeutung zu wie kein anderer Interpret der KrV des 20. Jahrhunderts, lehnt aber eine erkenntnistheoretische Interpretation dieses Werks grundsätzlich ab. Die Einbildungskraft hat seiner Auffassung nach trotz der bereits erwähnten Hinweise Kants ausschließlich oder zumindest in erster Linie eine subjekttheoretische Funktion. Demnach wäre eine Rekonstruktion der erkenntnistheoretischen Konzeption der Einbildungskraft der KrV undurchführbar, weil es eine solche Konzeption im Grunde gar nicht gibt, zumindest aber müsste sie oberflächlich bleiben, weil die Diskussion der Einbildungskraft eigentlich in den Problemzusammenhang der Subjektivität des Subjekts gehört. Strawson umgekehrt erkennt zwar an, dass eine erkenntnistheoretische Interpretation der KrV erforderlich ist, bestreitet in The Bounds of Sense jedoch, dass Kants Konzeption der Einbildungskraft irgendeinen Beitrag zur Lösung erkenntnistheoretischer Probleme leisten kann. Ein Großteil der neueren Kantinterpreten ist ihm in diesem Punkt gefolgt. Die Einwände, die gegen die erkenntnistheoretische Konzeption der Einbildungskraft der KrV vorgebracht werden, sind vielfältig. Sie bestehen allgemein gesagt darin, dass diese Konzeption inakzeptable oder miteinander unvereinbare Annahmen enthält, unpräzise oder sogar inkohärente Begriffe verwendet, argumentative Mängel aufweist und ihren theoretischen Zweck nicht erfüllen kann. Wären diese Einwände triftig, so wäre der Versuch einer argumentativen Rekonstruktion dieser Konzeption in der Tat ein hoffnungsloses Unterfangen. Ob die genannten prinzipiellen Bedenken gegen die Durchführbarkeit einer argumentativen Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft der KrV berechtigt sind, kann diese Einführung noch nicht klären. Allerdings lassen sich aus diesen Bedenken zwei Forderungen gewinnen, die an jedes Vorhaben einer solchen Rekonstruktion zu stellen sind: Es muss erstens in der Auseinandersetzung mit Heideggers anti-erkenntnistheoretischer Interpretation der KrV und insbesondere deren Konzeption der Einbildungskraft verteidigt werden und es muss zweitens einen Weg finden, den gegen Kants erkenntnistheoretische Konzeption der Einbildungskraft erhobenen Einwänden Rechnung zu tragen. Die zweite dieser Forderungen versteht sich insofern von selbst, als eine argumentative Rekonstruktion einer bestimmten Konzeption schon ihrem Begriff nach eine Berücksichtigung von Einwänden aller Art gegen diese Konzeption verlangt. Die erste Forderung jedoch ist wegen ihres ausdrücklichen Bezugs auf Heidegger nicht unproblematisch. Denn von
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1 Einführung
der Idee einer argumentativen Rekonstruktion her kann eine Auseinandersetzung mit Sekundärtexten nicht gefordert werden. 3 Obwohl ich das anerkenne, möchte ich an der auf Heidegger bezogenen Formulierung dieser Forderung festhalten, weil Heideggers Kantbuch als das bis heute prominenteste Werk für die Diskussion über die Einbildungskraft bei Kant gelten muss. Sofern man also überhaupt bereit ist, sich im Rahmen einer argumentativen Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft auf Sekundärtexte einzulassen, kommt man nicht umhin, sich mit Heideggers Kantbuch auseinanderzusetzen.
1.2 Literatur zur Einbildungskraft bei Kant Es fällt auf, dass eingehende Untersuchungen zur Einbildungskraft bei Kant in der Forschung die Ausnahme sind. Einige von ihnen betreffen die KrV nur am Rande und konzentrieren sich auf die Kritik der Urteilskraft. 4 Andere fokussieren zwar die KrV, konzentrieren sich aber auf Kants Metaphysikkritik oder Architektonik. 5 Ferner gibt es einige Aufsätze zur Bedeutung der Einbildungskraft für Kants Erkenntnistheorie. 6 Doch so wertvoll die Anhaltspunkte, die diese Aufsätze liefern, im Einzelnen auch sein mögen, die erkenntnistheoretische Konzeption der Einbildungskraft in der KrV ist m. E. derart komplex, dass die Durchführung ihrer argumentativen Rekonstruktion im Rahmen der Textgattung ‚Aufsatz‘ prinzipiell nicht zu leisten ist. Es liegen jedoch auch Monographien zur Einbildungskraft bei Kant vor, die sich zumindest in wesentlichen Teilen auf die Rolle der Einbildungskraft in den Argumentationen des Deduktions- und Schematismuskapitels der KrV konzentrieren. Zu nennen sind hier H. Mörchens Die Einbildungskraft bei Kant, B. Freydbergs Imagination and Depth in Kant’s Critique of Pure Reason und S. L. Gibbons’ Kant’s Theory of Imagination. 7 Doch
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Ein weiteres Problem ist natürlich, dass diese erste Forderung vor dem Erscheinen von Heideggers Kantbuch trivialerweise nicht befolgt werden konnte. Trebels 1967, Makkreel 1990 u. Kneller 2007. Ersteres gilt für Sallis 1980, letzteres für Eichberger 1999. Siehe etwa Schaper 1971, Strawson 1974, Sellars 1978, O’Neill 1984, Young 1988, Aquila 1989, Lohmar 1993, Düsing 1995 u. Pendlebury 1996 – Zur Bedeutung der Einbildungskraft für Kants Philosophie der Mathematik, auf die ich im Rahmen dieser Arbeit nicht eingehen werde, siehe etwa Young 1992 u. Ferrarin 1995b. Mörchen 1930, Freydberg 1994, Gibbons 1994. – Einige ältere Monographien betreffen Kants Konzeption der Einbildungskraft im Verhältnis zu Spinoza (Frohschammer 1879) oder zu Hume (Mainzer 1881, Prehn 1901). – Die erst kürzlich zur Einbildungskraft in der Transzendentalen Analytik der KrV erschienene Arbeit von Banham 2006 kann ich hier leider nicht mehr berücksichtigen.
1.2 Literatur zur Einbildungskraft bei Kant
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keine dieser Arbeiten kann als argumentative Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft gelten. Bei H. Mörchens Die Einbildungskraft bei Kant (1930), der nach wie vor materialreichsten Arbeit zu Kants Konzeption der Einbildungskraft 8, handelt es sich um eine bei Heidegger verfasste Dissertation, die stark von einer Vorlesung zur KrV beeinflusst ist, die Heidegger 1927/8 gehalten hat. 9 Mörchen beabsichtigt eine „in der von Kant eingeschlagenen Richtung weitergehende Untersuchung des Phänomens der Einbildungskraft“, die dessen Ansatz, die Seele „von vornherein als Substanz, d. h. als etwas Naturhaftes, Vorhandenes im weitesten Sinne“ zu verstehen, „problematisch machen“ will. 10 Diese Ausrichtung führt ihn im Zusammenhang seiner Interpretation des Deduktionskapitels auf die für ihn zentrale Frage, „wie Rezeptivität und Spontaneität überhaupt aus einem einheitlichen Grunde ihrer Möglichkeit zu verstehen sind. Das Grundproblem der transzendentalen Deduktion ist die Möglichkeit dieses ursprünglichen Zusammenhangs der Subjektivität. Wie ist das Sein des ‚Subjekts‘ zu bestimmen, wenn es sowohl Rezeptivität als auch Spontaneität enthalten soll?“ 11
Wie Heidegger zielt Mörchen damit von vornherein nicht auf eine erkenntnistheoretische Interpretation der KrV, sondern verfolgt einen subjekttheoretischen Interpretationsansatz. Der Begriff der Synthesis der Einbildungskraft wird in diesem Rahmen daraufhin untersucht, „welche Möglichkeiten des Verständnisses der Zusammengehörigkeit von Rezeptivität und Spontaneität in der Einheit des Subjekts“ er bietet. 12 Da dabei immer die Frage nach der ursprünglichen Einheit des Subjekts leitend ist, bleibt die erkenntnistheoretische Dimension der Einbildungskraft weitgehend außen vor. Mörchens Arbeit kommt also schon ihrem Ansatz nach, dessen Legitimität ich zunächst nicht bestreiten will, nicht als eine argumentative Rekonstruktion der erkenntnistheoretischen Konzeption der Einbildungskraft der KrV in Frage. Auch B. Freydbergs Imagination and Depth in Kant’s Critique of Pure Reason (1994) ist stark von Heideggers Kantauffassung inspiriert. Freydberg interpretiert Kants Konzeption der Einbildungskraft in Zusammenhang mit dem, was er das „phenomenon of depth“ nennt. 13 Allgemein sieht er
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Mörchen 1930 behandelt in seiner Untersuchung zur Einbildungskraft bei Kant neben dem Deduktions- und Schematismuskapitel der KrV auch Kants Anthropologie sowie seine ästhetische Theorie in der Kritik der Urteilskraft und geht auch auf Kants Reflexionen zur Metaphysik der 1770er Jahre ein. Diese Vorlesung wurde unter dem Titel Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft veröffentlicht (Heidegger, GA 25). Mörchen 1930, 322. Ebd., 399. Ebd., 400. Freydberg 1994, 1.
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1 Einführung
dieses Phänomen darin, dass etwa „[e]veryday objects, poems, intentional actions [...] seem to point beyond themselves: both toward some possibility present yet concealed in them, and toward us (whose presence can also conceal possibilities).“ 14 Die zentrale These seiner Kantinterpretation ist, dass die Einbildungskraft als die Tiefendimension der KrV gelten muss. Vor dem Hintergrund von Kants Bemerkungen, dass die Einbildungskraft eine „blinde“, aber für Erkenntnis „unentbehrliche Funktion“ ist, der wir uns „selten nur einmal bewußt sind“, und dass „Synthesis überhaupt [...] die bloße Wirkung der Einbildungskraft“ ist (A 78, B 103), versucht Freydberg seiner These Kontur zu geben 15: Insofern die Einbildungskraft für Erkenntnis unentbehrlich ist, gehört sie zum Zentrum der KrV; insofern ihr gleichwohl Blindheit und Unbewusstheit zugeschrieben wird, ist sie durch eine für ‚Tiefe‘ konstitutive Dunkelheit und Verstecktheit ausgezeichnet; und insofern Synthesen und auch Bilder ihre Wirkungen sind, weist all das auf diese ‚Tiefe‘ hin, was sich irgendwie als synthetisch oder bildhaft beschreiben lässt. Nach Freydbergs Auffassung ist Kants Text insgesamt „imaginationdriven“ und „bears witness–-sometimes silently, sometimes openly–-to the omnipresence of imagination in human thought“, und zwar „[f]rom its first word to its last“. 16 Es überrascht deshalb nicht, dass Freydberg nahezu alles, wovon in der KrV die Rede ist, durch die Begriffe ‚Einbildungskraft‘, ‚Synthesis‘ und ‚Bild‘ zu beschreiben versucht. Diesen Beschreibungen, so ist kritisch einzuwenden, liegt jedoch eine extreme, durch die KrV nicht gedeckte Ausweitung der Bedeutung dieser Kantischen Termini zugrunde. 17 Eine solche Ausweitung ist aber für die Zwecke einer Rekonstruktion unbrauchbar. Außerdem besteht bei Freydberg die fragwürdige Tendenz, die Synthesis der Einbildungskraft, die Kant für erkenntnistheoretisch unverzichtbar hält, durchgängig so zu thematisieren, als habe sie ‚immer schon‘ stattgefunden. 18 Er spricht damit aus einer Perspektive, die nur dann begründet eingenommen werden kann, wenn die Annahme dieser Synthesis bereits erkenntnistheoretisch gerechtfertigt ist. Der Verweis auf die positiven Wissenschaften 19 reicht in Hinblick auf eine solche
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Ebd., 4. – Vgl. dazu den von Heidegger in Sein und Zeit konzipierten Phänomenbegriff: Phänomen ist, „was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht.“ (Heidegger, Sein und Zeit, 35.) Siehe Freydberg 1994, 6 u. 11. Ebd., 16, 20. Beispiele dafür finden sich etwa ebd., 16, 29, 45, 51, 75, 76, 88, 97, 100, 114. Siehe Beispiele dafür ebd., 16, 43, 47, 51, 52, 53, 55, 59, 67, 70, 76, 105. Siehe z. B. ebd., 16.
1.2 Literatur zur Einbildungskraft bei Kant
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Rechtfertigung aber nicht aus. Indem Freydberg betont, die Synthesis der Einbildungskraft habe immer schon stattgefunden und das durch sie Vermittelte sei aus ihr abstrahiert, setzt er sie als primäres Faktum an, überspringt auf diese Weise aber implizit die erkenntnistheoretischen Probleme, die Kant im Rekurs auf sie zu lösen beabsichtigt. Freydberg lässt sich damit auf den argumentativen Anspruch der KrV nicht wirklich ein. S. L. Gibbons bezieht sich in ihrer Arbeit Kant’s Theory of Imagination (1994), wie schon Mörchen, nicht nur auf die KrV, sondern auch auf die Kritik der Urteilskraft. Es geht ihr darum, „Kant’s views about judgement and imagination as they emerge in the critical philosophy taken as a whole“ 20 auf einheitliche Weise zu interpretieren. Anders als Mörchen aber richtet sie den Teil ihrer Arbeit, der sich mit der KrV beschäftigt, erkenntnistheoretisch aus. Sie beabsichtigt dort, „to spell out Kant’s view of the function of imagination in the application of concepts, especially pure concepts, to empirical intuition.“ 21 Ihre m. E. zutreffende Hauptthese ist, „that the synthesis of imagination is a distinct and more basic cognitive activity than that of conceptualization.“ 22 Das bedeutet, die Synthesis der Einbildungskraft ist zwar für die Begriffsanwendung erforderlich, lässt sich aber nicht auf ein durch Begriffe geleitetes Vereinigen des Anschauungsmannigfaltigen reduzieren. Eines ihrer wichtigsten Argumente hierfür ist: Da Begriffe Kant zufolge Regeln sind, es aber keine hinreichenden Regeln für das Regelfolgen geben kann, führt die Auffassung, dass es Begriffe gibt, „which adequately guide the application of concepts“, in einen unendlichen Regress. 23 Um diesem Regress zu entgehen, so Gibbons, ist es erforderlich, „to describe a non-conceptual order or coherence in experience which grounds the possibility of concept-guided judgement“ und damit „to avoid conflating synthesis in general with concept-guided combination.“ 24 Eine Stärke von Gibbons’ Ansatz einer einheitlichen Interpretation von Kants Konzeption der Einbildungskraft zeigt sich darin, dass sie das Erfordernis, „to distinguish synthesis from conceptualizing“, auch von der Kritik der Urteilskraft her verständlich machen kann: Denn Kant zufolge ist die Einbildungskraft in ästhetischen Beurteilungen offenbar synthetisierend tätig „without a specific rule which guides this synthesis being recognized in a determinant judgement.“ 25 Die Arbeit von Gibbons ist meiner Einschätzung nach die wichtigste der angesprochenen Monographien zur Einbildungskraft bei Kant. Den-
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Gibbons 1994, 16. Ebd., 7. Ebd., 15. Ebd., 9. Ebd. Ebd., 18.
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1 Einführung
noch sind auch ihre Überlegungen zur KrV, so aufschlussreich sie sind, für eine argumentative Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft nicht ausreichend. Das liegt erstens daran, dass Gibbons die innere Komplexität dieser Konzeption nicht deutlich genug macht. Das heißt, sie unternimmt keine präzise Bestimmung der Verhältnisse zwischen den verschiedenen von Kant ins Spiel gebrachten Synthesistypen der Einbildungskraft. Von einer argumentativen Rekonstruktion der erkenntnistheoretischen Konzeption der Einbildungskraft der KrV – vor allem von einer Arbeit über ‚Kant’s Theory of Imagination‘ – wird man dies aber verlangen dürfen. Zweitens müssen Gibbons’ Überlegungen zur erkenntnistheoretischen Konzeption der Einbildungskraft in der KrV auch insofern hinter einer argumentativen Rekonstruktion dieser Konzeption zurückbleiben, als Gibbons ausdrücklich nicht an einer „close analysis“ des Zentrums der Erkenntnistheorie Kants, d. h. der transzendentalen Kategoriendeduktion, interessiert ist. 26 Ohne eine solche Analyse lässt sich aber die erkenntnistheoretische Bedeutung der Einbildungskraft in der KrV nur bruchstückhaft bestimmen, weil Kant das erkenntnistheoretische Potential des Begriffs der Einbildungskraft im systematischen Zusammenhang seiner Versuche, das Deduktionsproblem zu lösen, entwickelt. Und ohne eine solche Analyse wird sich auch nicht klären lassen, ob die Einbildungskraft die begründende Rolle im Deduktionsbeweis spielen kann, die Kant ihr zuweist. Anders gesagt, die Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft der KrV erfordert eine umfassende Rekonstruktion der Deduktionsuntersuchung. Auf diese Rekonstruktion lässt sich Gibbons jedoch nicht ein.
1.3 Eingrenzung des Themas und Gang der Untersuchung Wie bereits erwähnt, werde ich mich in der vorliegenden Arbeit im Wesentlichen auf Kants Konzeption der Einbildungskraft in der ADeduktion beschränken. Gegen die Entscheidung für gerade diese Eingrenzung des Themas könnte man vorbringen, dass es sinnvoller wäre, stattdessen die Schematismuslehre oder die B-Deduktion in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Man könnte etwa erstens einwenden, das Schematismuskapitel, in dem die Einbildungskraft ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, behandele ein in systematischer Hinsicht grundlegenderes Problem als das Deduktionskapitel und müsse daher in einer Arbeit zur Konzeption der Einbildungskraft in der KrV im Mittelpunkt stehen; oder
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Siehe ebd., 13; vgl. ebd., 7 u. 15.
1.3 Eingrenzung des Themas und Gang der Untersuchung
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man könnte zweitens einwenden, der Konzeption der Einbildungskraft in der A-Deduktion könne kein vorrangiges Interesse zukommen, da Kant selbst diese Konzeption später verworfen hat, wie sich schon darin zeigt, dass er die A-Deduktion in der zweiten Auflage der KrV durch die BDeduktion ersetzt hat. Ich werde diesen Einwänden im Folgenden nachgehen und im Anschluss daran den Gang der Untersuchung skizzieren. Zunächst zum ersten Einwand, der etwa folgendermaßen formuliert werden könnte: Kants Konzeption der Einbildungskraft mag eine wesentliche Bedeutung für die Deduktionsuntersuchung besitzen; eine derartige Bedeutung besitzt sie aber auch für die Überlegungen des Schematismuskapitels; in systematischer Hinsicht ist das Schematismusproblem jedoch grundlegender als das Deduktionsproblem 27; daher ist es unangebracht, gerade die Deduktionsuntersuchung in den Mittelpunkt des hier anvisierten Rekonstruktionsvorhabens zu stellen. Diesem Einwand ist darin Recht zu geben, dass die Einbildungskraft in der Tat und offensichtlich von wesentlicher Bedeutung auch für das Schematismuskapitel ist. Was ich bestreite, ist allerdings, dass das Schematismusproblem in systematischer Hinsicht grundlegender als das Deduktionsproblem ist. Um dies zu erläutern, ist zunächst zu klären, worin sich die beiden Probleme unterscheiden. Das Deduktions- und das Schematismusproblem sind verwandt. Beide betreffen Fragen der Anwendbarkeit der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) auf Gegenstände. Um den spezifischen Unterschied beider Probleme zu klären, kann man von einer Passage des Schematismuskapitels ausgehen, in der Kant auf das Deduktionskapitel zurückblickt: Im Deduktionskapitel, so Kant, „haben wir gesehen, [...] daß reine Begriffe a priori, außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie, noch formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des innern Sinnes) a priori enthalten müssen, welche die allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgend einen Gegenstand angewandt werden kann.“ (A 139 f., B 178 f.; Hvh. v. Verf., M. W.)
Das Deduktionskapitel hat demnach gezeigt, dass die reinen Verstandesbegriffe auf Gegenstände angewandt werden können. Das legt die Vermutung nahe, dem Schematismuskapitel komme die Aufgabe zu, die Anwendungsbedingungen dieser Begriffe im Einzelnen zu spezifizieren und auf diese Weise zu klären, wie die reinen Verstandesbegriffe auf Gegenstände angewandt werden können. Diese Vermutung wird dadurch bestätigt, dass Kant im Schematismuskapitel erklärt, es soll einen Beitrag zur Lösung des Problems leisten, „wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen über-
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Dies ist etwa die Position Heideggers, der in Bezug auf das Schematismuskapitel erklärt, „daß diese elf Seiten der Kritik der reinen Vernunft das Kernstück des ganzen umfangreichen Werkes ausmachen“ (Heidegger, GA 3, 89.).
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haupt angewandt werden können.“ (A 138, B 177; Hvh. modif. v. Verf., M. W.) Kurz gesagt, handelt es sich demzufolge beim Deduktionsproblem um ein Dass-Problem und beim Schematismusproblem um ein WieProblem. Für diese Interpretation gibt es starke Anhaltspunkte. So erklärt Kant im letzten Paragraphen des Deduktionskapitels der zweiten Auflage, die Deduktion habe gezeigt, „daß [...] die Kategorien von Seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt enthalten. Wie sie aber die Erfahrung möglich machen, und welche Grundsätze der Möglichkeit derselben sie in ihrer Anwendung auf Erscheinungen an die Hand geben, wird das folgende Hauptstück von dem transz. Gebrauche der Urteilskraft das mehrere lehren.“ (B 167; Hvh. v. Verf., M. W.)
Da das auf das Deduktionskapitel „folgende Hauptstück“ das Schematismuskapitel ist, unterscheidet Kant auch hier eine Dass-Frage des ersteren von einer entsprechenden Wie-Frage des letzteren. Eine ähnliche Bemerkung findet sich auch im Anschluss an das ‚Deduktionsargument‘ der Prolegomena. In einer Anmerkung zum dortigen § 22 erläutert Kant, dass Erfahrung im Sinne von objektiver empirischer Erkenntnis durch den „Zusatz des reinen Verstandesbegriffs [...] zur Wahrnehmung erzeugt wird“; unmittelbar anschließend verweist er wiederum auf das entsprechende Wie-Problem: „Wie die Wahrnehmung zu diesem Zusatze komme, darüber muss die Kritik im Abschnitte von der transz. Urteilskraft, Seite 137 u. f. nachgesehen werden.“ 28 Der Abschnitt der KrV, der dort (A 137) beginnt, ist aber das Schematismuskapitel. Aufgrund dieser Belege ist davon auszugehen, dass es im Deduktionskapitel um das Problem geht, ob die Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen möglich ist bzw. ob Kategorien Erfahrung möglich machen, während es im Schematismuskapitel um das korrelative Wie-Problem geht. Die Frage, in welchem systematischen Verhältnis diese Probleme zueinander stehen, ist damit jedoch noch nicht beantwortet. Zwei Fälle sind denkbar: Es könnte sich erstens so verhalten, dass Kants Lösung des Wie-Problems im Schematismuskapitel unter der Voraussetzung der Lösung des Dass-Problems im Deduktionskapitel steht, oder zweitens so, dass die Lösung des ersteren von der Lösung des letzteren unabhängig sein soll. Trifft der erste Fall zu, so wäre das Deduktionsproblem in systematischer Hinsicht grundlegender als das Schematismusproblem und nicht, wie in dem Einwand behauptet, umgekehrt. Seine Lösung wäre eine Vor-
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Proleg, A 89 Anm. (AA 4.305 Anm.); Hvh. v. Verf., M. W.
1.3 Eingrenzung des Themas und Gang der Untersuchung
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aussetzung für die Schematismuslehre. 29 Im zweiten Fall – wenn die Lösung des Wie-Problems im Schematismuskapitel von der Lösung des Dass-Problems im Deduktionskapitel unabhängig sein soll – wäre die Lage etwas komplizierter. Trifft dieser Fall zu, so müsste die Lösung des Wie-Problems im Schematismuskapitel zugleich eine alternative Lösung des Dass-Problems im Deduktionskapitel bieten. 30 Soll die Lösung des Wie-Problems im Schematismuskapitel unabhängig von den Überlegungen des Deduktionskapitels sachlich von Belang sein, so müsste Kant, indem er zeigt, wie die Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen möglich ist bzw. wie sie Erfahrung möglich machen, zugleich zeigen, dass die Kategorien auf Erscheinungen anwendbar sind bzw. dass sie Erfahrung möglich machen. Wird die Wie-Frage so verstanden, dass ihre Beantwortung die Dass-Frage mitbeantworten muss, so kann es keine Lösung des Schematismusproblems ohne eine Lösung des Deduktionsproblems geben. Doch auch in diesem Fall wäre das erstere Problem in systematischer Hinsicht nicht grundlegender, sondern nur ebenso grundlegend wie das letztere. Doch dass der zweite Fall überhaupt der von Kant im Schematismuskapitel intendierte ist, ist aus mehreren Gründen zu bezweifeln. Erstens lässt sich in den Ausführungen des Schematismuskapitels kein Argument ausmachen, dass die Funktion einer Lösung des Dass-Problems auch nur ansatzweise erfüllt. Zweitens erklärt Kant im Schematismuskapitel – wie man dem oben mitgeteilten Zitat von A 139 f., B 178 f. entnehmen kann –, die Lösung des Dass-Problems sei etwas, das bereits im Deduktionskapitel erreicht wurde. Dass Kant im Schematismuskapitel vom Resultat der Deduktion ausgeht, zeigt sich drittens auch, wenn man sich vor Augen führt, wie Kant argumentiert, nachdem er im Schematismuskapitel die Frage aufgeworfen hat, „wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können“ (A 138, B 177; ohne dortige Hvh.): „Nun ist klar, daß es ein Drittes geben müsse, was [...] die Anwendung der ersteren auf die letzte[ren] möglich macht.“ (ebd.) Nur weil Kant davon ausgeht, die Anwendbarkeit der Kategorien bereits in der transzendentalen Deduktion gezeigt zu haben, und sich daher autorisiert sieht, sie im Schematismuskapitel vorauszusetzen, kann er hier wie selbstverständlich in Anspruch nehmen, dass „klar“ ist, dass es etwas „geben müsse“, das die Anwendung der Kategorien ermöglicht. 31
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Dieser Auffassung ist z. B. Detel 1978, 43. Dies behauptet z. B. Seel 1998, 245. Kants „Nun ist klar...“ ist damit keineswegs, wie E. R. Curtius meint, als „Dekorationsstück[] aufgeklebt, um einen Riss in der Mauer zu verdecken“, sondern eine Konsequenz der Deduktion (Curtius 1914, 348).
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Aus diesen Gründen ist m. E. davon auszugehen, dass die Schematismuslehre für Kant selbst vom Erfolg der transzendentalen Deduktion abhängig ist. Demnach ist aber das Deduktionsproblem in Kants Problemarchitektur in systematischer Hinsicht grundlegender als das Schematismusproblem. Und daher ist es keineswegs unangebracht, die Deduktionsuntersuchung in den Mittelpunkt des hier verfolgten Rekonstruktionsvorhabens zu stellen. Der zweite Einwand gegen die Entscheidung, das Thema der vorliegenden Arbeit gerade auf die A-Deduktion einzugrenzen, lässt sich mit Blick auf die B-Deduktion erheben und etwa folgendermaßen formulieren: Es mag sein, dass der Einbildungskraft in der A-Deduktion in vielerlei Hinsicht eine maßgebliche Bedeutung zukommt; dass Kant das Deduktionskapitel für die zweite Auflage der KrV neu verfasst hat, weist aber darauf hin, dass er selbst seine Konzeption der Einbildungskraft in der ADeduktion später für unzureichend gehalten hat; eine Rekonstruktion dieser Konzeption ist daher uninteressant. Gegen diesen entwicklungsgeschichtlich argumentierenden Einwand ist zunächst zu betonen: Sollte Kant seine Konzeption der Einbildungskraft in der A-Deduktion später für unzureichend gehalten haben, bedeutet das nicht, dass sie dies auch ist. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass Kants nachträgliche Äußerungen zur 1781 verfassten A-Deduktion eindeutig dagegen sprechen, dass er seine dortige Konzeption der Einbildungskraft aufgegeben hat. In den Prolegomena (1783) und den Metaphysischen Anfangsgründen (1786) moniert Kant lediglich die „Weitläuftigkeit“ und „Dunkelheit“ der A-Deduktion, nimmt jedoch nicht Abstand von ihrem sachlichen Gehalt oder ihren wesentlichen Theorieelementen. 32 Und in der Vorrede zur zweiten Auflage der KrV (1787), in der wiederum die „Dunkelheit der Deduktion der Verstandesbegriffe“ der ersten Auflage eingeräumt wird, betont Kant, er habe lediglich die „Darstellung“ einiger Kapitel, insbesondere des Deduktionskapitels verbessert. 33 All diese nachträglichen
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Siehe Proleg, A 219 (AA 4.381); Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA 4.476 Anm. KrV, B XXXVIII. – Beachte auch: „Mit dieser Verbesserung ist aber ein kleiner Verlust für den Leser verbunden, der nicht zu verhüten war, ohne das Buch gar zu voluminös zu machen, nämlich daß Verschiedenes, was zwar nicht wesentlich zur Vollständigkeit des Ganzen gehört, mancher Leser aber doch ungerne missen möchte, indem es sonst in anderer Absicht brauchbar sein kann, hat weggelassen oder abgekürzt vorgetragen werden müssen, um meiner, wie ich hoffe, jetzt faßlicheren Darstellung Platz zu machen, die im Grunde in Ansehung der Sätze und ihrer Beweisgründe schlechterdings nichts verändert, aber doch in der Methode des Vortrages hin und wieder so von der vorigen abgeht, daß sie durch Einschaltungen sich nicht bewerkstelligen ließ. Dieser kleine Verlust, der ohnedem, nach jedes Belieben, durch Vergleichung mit der ersten Auflage ersetzt werden kann, wird durch die größere Faßlichkeit, wie ich hoffe, überwiegend ersetzt.“ (B XLII)
1.3 Eingrenzung des Themas und Gang der Untersuchung
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Äußerungen zur A-Deduktion sprechen dagegen, dass Kant irgendeines ihrer wesentlichen Theorieelemente, beispielsweise seine Konzeption der Einbildungskraft, später für falsch gehalten hat. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass es Indizien dafür zu geben scheint, dass ein sachlicher Unterschied zwischen Kants Konzeption der Einbildungskraft in der A- und in der B-Deduktion besteht. In der Forschung wird häufig gesagt, während die Einbildungskraft in der ADeduktion ein selbständiges Vermögen ist, sei sie in der B-Deduktion ein gegenüber dem Verstand unselbständiges Vermögen. Diese Auffassung kann sich darauf berufen, dass Kant die Einbildungskraft in der ADeduktion als eine „ursprüngliche Quelle[]“ ansetzt, die „aus keinem andern Vermögen des Gemüts abgeleitet werden“ kann (A 94), aber in der B-Deduktion davon spricht, dass „die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft [...] eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit“ (B 152) bzw. ein „synthetischer Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn“ ist (B 154). Allerdings konfligiert die Auffassung, dass ein sachlicher Unterschied zwischen Kants Konzeption der Einbildungskraft in der A- und in der BDeduktion besteht, mit Kants bereits erwähnter Auskunft, lediglich die Darstellung der Deduktion verbessert zu haben. Denn die Einbildungskraft ist ein in systematischer Hinsicht wesentliches Theorieelement der A-Deduktion. Hätte Kant den systematischen Status dieses Theorieelements modifiziert, so wäre seine Aussage, lediglich die Darstellung der Deduktion verbessert zu haben, (vorausgesetzt, er wusste, was er tat) unaufrichtig. Diese Annahme ist, wie ich hier nur andeuten kann, jedoch nicht erforderlich. In der A-Deduktion erklärt Kant: „Die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand, und eben dieselbe Einheit, beziehungsweise auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, der reine Verstand.“ (A 119; Hvh. modif. v. Verf., M. W.) Demnach sind die Einbildungskraft bzw. ihre transzendentale Synthesis und die Apperzeption bzw. ihre Einheit die ursprünglichen Konstituenten des reinen Verstandes. Diese Charakterisierung des reinen Verstandes steht vor dem Hintergrund des in der A-Deduktion zusätzlich zum Deduktionsbeweis verfolgten Vorhabens, „den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjektiver Beziehung zu betrachten“ (A XVI f.). Geht man von der Charakterisierung des reinen Verstandes in A 119 aus, so könnte die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft bereits in der A-Deduktion als ‚Wirkung‘ oder ‚synthetischer Einfluss‘ des Ver-
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1 Einführung
standes bezeichnet werden 34, und zwar ohne den dort behaupteten systematischen Status der Einbildungskraft als einer ursprünglichen Quelle aufzugeben, der ihr als einer Konstituente des reinen Verstandes zukommt. Das bedeutet aber umgekehrt, dass Kants Aussagen der BDeduktion, die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sei eine „Wirkung“ oder ein „synthetischer Einfluß des Verstandes“ auf die Sinnlichkeit (B 152; B 154), nicht die Deutung erzwingen, die Einbildungskraft sei ein gegenüber dem Verstand unselbständiges Vermögen. 35 Unabhängig davon, möchte ich noch auf folgendes aufmerksam machen: In der drei Jahre nach der zweiten Auflage der KrV veröffentlichten Kritik der Urteilskraft (1790) entwickelt Kant die Position, dass der Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteils über das Schöne in einem interesselosen Wohlgefallen besteht, dem ein ‚freies Spiel‘ zwischen Einbildungskraft und Verstand zugrunde liegt. 36 Der entscheidende Punkt ist hier, dass ein solches freies Spiel gar nicht konzipierbar wäre, wenn die Einbildungskraft kein gegenüber dem Verstand selbständiges Vermögen wäre. – Kant verpflichtet sich damit auch nach der ersten Auflage der KrV auf die Konzeption einer selbständigen Einbildungskraft. Damit verliert jedoch die Einschätzung, die Einbildungskraft sei in der B-Deduktion ein gegenüber dem Verstand unselbständiges Vermögen, einiges an Glaubwürdigkeit. Denn sie hätte zur Konsequenz, dass Kant seine Position in der Frage der Selbständigkeit der Einbildungskraft seit 1781 zweimal gewechselt hat: 1787 von der 1781 vertretenen Position der Selbständigkeit der Einbildungskraft hin zur Position der Unselbständigkeit der Einbildungskraft und 1790 wieder zurück zur Position von 1781. Doch selbst, wenn man bereit ist, Kant dieses pendelartige Schwanken zu unterstellen, macht seine Position in der Kritik der Urteilskraft immerhin deutlich, dass die Konzeption einer selbständigen Einbildungskraft, wie sie in der A-Deduktion vertreten wird, für Kant selbst auch später noch (bzw. wieder) von maßgeblicher Bedeutung ist. Diese Konzeption lässt sich also nicht als ein einmal erwogenes, letztlich aber aufgegebenes Theoriekonstrukt in Kants Entwicklung diskreditieren. Daher lässt sich gegen das Interesse, das an einer Rekonstruktion von Kants Konzeption der
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Denn wenn der reine Verstand die Beziehung zwischen der Einheit der Apperzeption und der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft ist (A 119), dann besteht jede Ausübung des reinen Verstandes auch im Vollzug einer transzendentalen Synthesishandlung der Einbildungskraft. Diese Handlung ließe sich daher auch in der A-Deduktion als eine ‚Wirkung‘ des reinen Verstandes beschreiben. Zu einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen Einbildungskraft und Verstand, die die Frage nach der Selbständigkeit oder Unselbständigkeit der Einbildungskraft gegenüber dem Verstand unterläuft, siehe auch Wunsch 2007. Siehe Kritik der Urteilskraft, AA 5.217 f.; ebd., S. 240 f.
1.3 Eingrenzung des Themas und Gang der Untersuchung
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Einbildungskraft in der A-Deduktion besteht, entwicklungsgeschichtlich nicht argumentieren. Die vorliegende Untersuchung wird folgendermaßen vorgehen. In den beiden nächsten Kapiteln werde ich den oben erwähnten Forderungen nachkommen, die an jedes Vorhaben einer argumentativen Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft zu stellen sind. Das heißt, im zweiten Kapitel werde ich mich mit Heideggers Kritik an einer erkenntnistheoretischen Interpretation der KrV sowie mit seiner subjekttheoretischen Hauptthese, die Einbildungskraft sei die ‚Wurzel‘ von Sinnlichkeit und Verstand, auseinandersetzen; und im dritten Kapitel werde ich untersuchen, wie einigen grundlegenden Einwänden gegen Kants erkenntnistheoretische Konzeption der Einbildungskraft Rechnung getragen werden kann, und zwar dem Irrealitätseinwand, dem Konstitutionstheorie-Einwand und dem Inkohärenzeinwand. Das Ziel dabei ist nicht, an dieser Konzeption in jeder Hinsicht festzuhalten, sondern ein dem Text der KrV angemessenes, für die Rekonstruktion tragfähiges und sachlich aufschlussreiches Verständnis dieser Konzeption zu gewinnen. Vor dem dadurch gewonnenen Hintergrund wird dann die Konzeption der Einbildungskraft in der A-Deduktion im Mittelpunkt stehen. Das vierte Kapitel wird die methodische Bedeutung und die systematische Verankerung der Einbildungskraft in der Deduktionsuntersuchung herausstellen und den begrifflichen Rahmen von Kants Theorie der Einbildungskraft skizzieren. Außerdem wird es den für diese Theorie zentralen Begriff der Synthesis klären und das Konzept der transzendentalen Synthesis in der Auseinandersetzung mit dem Psychologismuseinwand entfalten. Im fünften Kapitel wird die Deduktionsuntersuchung anhand ihres von Kant vorgesehenen methodischen Leitfadens der Einbildungskraft rekonstruiert. Auf diese Weise wird Kants Analyse der drei transzendentalen Synthesisfähigkeiten der Apprehension, Reproduktion und Rekognition und damit das Zentrum seiner Theorie der Einbildungskraft expliziert. Außerdem werden einige Ansätze zu einem Deduktionsargument geprüft, die Kant vor dem Hintergrund bestimmter Eckpunkte seiner Theorie der Einbildungskraft gewinnt. Im sechsten und siebenten Kapitel werde ich dann die beiden von Kant als definitiv betrachteten Versionen seines Deduktionsbeweises rekonstruieren, um Aufschluss darüber zu gewinnen, ob die Einbildungskraft die ihr für diesen Beweis zugedachte tragende Rolle letztlich auch spielen kann. Das achte und letzte Kapitel führt die Resultate der argumentativen Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft in der ADeduktion zusammen und wird mit einem Ausblick schließen.
2 Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft 2.1 Überblick: Die Einbildungskraft nach Kant und bis Heidegger Die Zeit unmittelbar nach dem Erscheinen von Kants Kritiken und bis ins 19. Jahrhundert hinein kann als Blütezeit des Begriffs der Einbildungskraft gelten. Die Einbildungskraft spielt während dieser Zeit in drei unterschiedlichen Diskussionskontexten eine zentrale Rolle: im deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel), in der Tradition der Anthropologie und Psychologie (etwa bei Troxler und Fries sowie in den Einzeluntersuchungen von Maass und H. B. Weber) und in der Ästhetik bzw. Kunsttheorie (z. B. bei Schiller, Novalis und W. v. Humboldt). 1 Da es in der vorliegenden Arbeit in erster Linie um die erkenntnistheoretische Bedeutung der Einbildungskraft, nicht aber um ihre Bedeutung für die ästhetische Theorie oder die Anthropologie/Psychologie geht, können diese beiden Diskussionskontexte hier vernachlässigt werden. Darüber hinaus ist zu betonen, dass die etwa von Fries unternommene anthropologische Kantinterpretation 2 bereits die theoretischen Grundmotive der KrV so stark modifiziert, dass eine argumentative Rekonstruktion von deren erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft dort keine Anhaltspunkte finden kann. Dasselbe gilt – wenn auch aus anderen Gründen – in Hinblick auf den deutschen Idealismus. Denn sowohl Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/5) als auch Schellings System des transzendentalen Idealismus (1800) stellen die transzendentale Einbildungskraft als subjekttheoretische Grundbestimmung in den systematischen Rahmen einer „Geschichte des Selbstbewußtseins“ 3 – ein Projekt, das der KrV fern liegt. Auch Hegels in Glauben und Wissen (1802) geführte Auseinandersetzung mit Kants Konzeption der Einbildungskraft steht letztlich vor dem Hintergrund eines solchen Projekts. Hegel sieht in der transzendentalen Einbildungskraft
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Vgl. Homann 1970. Belege zu den drei genannten Kontexten finden sich ebd., 268/74, 274/84 u. 285/90. Fries 21828/31. Siehe dazu Düsing 1991, 300/4, 318 und Stolzenberg 2003. – Zur Bedeutung der Einbildungskraft bei Fichte siehe Inciarte 1970, Metz 1991, Düsing 1993 u. Hanewald 2001; zu ihrer Bedeutung bei Schelling siehe Hablützel 1954 u. Findler 2000.
2.1 Überblick: Die Einbildungskraft nach Kant und bis Heidegger
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einen Repräsentanten der von ihm vorausgesetzten absoluten und ursprünglichen Identität im menschlichen Geist, der gegenüber die Entgegensetzungen etwa von reiner sinnlicher Anschauung und reinem Denken sekundär bzw. derivativ sind. 4 Auf die Problematik einer solchen Auffassung, die die transzendentale Einbildungskraft, in Kants Formulierung, zur „gemeinschaftlichen [...] Wurzel“ von Sinnlichkeit und Verstand macht (A 15, B 29), werde ich in der Diskussion von Heideggers Kantinterpretation zurückkommen. 5 Verfolgt man die Geschichte des Begriffs der Einbildungskraft im 19. Jahrhundert, so ist festzustellen, dass er im Anschluss an die erwähnte Blütezeit einen rapiden Bedeutungsverlust erleidet. Spätestens am Ende des Jahrhunderts ist, wie K. Homann zeigt, „der quantitative Schwund des Begriffs ebensowenig zu übersehen wie die Einbuße an philosophischer Relevanz.“ 6 Die Gründe dafür sind vielfältig. So besteht die traditionelle Skepsis gegenüber der Einbildungskraft auch während ihrer Blütezeit und noch darüber hinaus fort. Die Einbildungskraft wird bei einigen Autoren ausschließlich negativ-kritisch (Maimon, Jacobi), häufiger jedoch ambivalent bewertet. In diesem Fall gilt sie beispielsweise als „eine sehr gefährliche Göttergabe“ (H. B. Weber 7) oder als ein „zweideutiges Geschenk“ (Schiller, Ulrici). Und als ungeregelte oder überspannte wird sie häufig – übrigens auch von Kant selbst 8 – mit Träumen, Wahnsinn, Geisteskrankheiten, Aberglaube und Fanatismus assoziiert. Es ist deshalb wenig überraschend, dass später Feuerbach gerade ‚Einbildungskraft‘ zu einem zentralen Begriff seiner Religionskritik macht. Ein weiterer Grund für den allgemeinen Niedergang des Begriffs der Einbildungskraft besteht darin, dass die spekulativen Systementwürfe des deutschen Idealismus, die der Einbildungskraft fundamentale Bedeutung beimessen, schon für die folgende Generation von Philosophen ihre Überzeugungskraft einbüßen. Außerdem wird der quantitative Schwund von ‚Einbildungskraft‘ im 19. Jahrhundert dadurch begünstigt, dass bei vielen Autoren zur Ästhetik oder zur Psychologie bzw. Anthropologie die Einbildungskraft der Phantasie untergeordnet wird (Jean Paul, Solger,
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Siehe Düsing 1991, 305/7. Zur Bedeutung der Einbildungskraft bei Hegel siehe außer dem genannten Aufsatz, der auch auf Hegels spätere, vor allem in der Enzyklopädie entwickelte Theorie der Einbildungskraft eingeht, auch Düsing 1986. Siehe unten Abschnitt 2.3, S. 31 ff. Homann 1970, 290 f. Zum Folgenden und den entsprechenden Belegen siehe ebd., 291/4. Webers Schrift Ueber Einbildungskraft und Gefühl... ist durch eine 1809 von der Preußischen Akademie der Wissenschaften gestellte Preisaufgabe über die Einbildungskraft veranlasst, die 1811 bezeichnenderweise wegen mangelnden Interesses zurückgenommen werden muss (siehe dazu Homann 1970, 280, 290). Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764), AA 2; Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), AA 7.
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2 Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft
Eschenmayer, Vischer, I. H. Fichte, Frohschammer). 9 Speziell in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts verliert die Einbildungskraft darüber hinaus in dem Maße an philosophischer Relevanz, in dem sich der Schwerpunkt des Interesses weg von der Analyse des Geschmacksurteils, von der Wirkung des Schönen auf das Subjekt, vom kreativen Schaffensprozess und vom Geniebegriff hin zur Analyse der Struktur und des Gehalts des Kunstwerkes verschiebt. Weiterhin wird die philosophische Relevanz der Einbildungskraft insgesamt und insbesondere ihre erkenntnistheoretische Bedeutung durch die allgemeine Kritik an der so genannten ‚Vermögenspsychologie‘ diskreditiert. Berühmt in diesem Zusammenhang ist Hegels kritische Sentenz, dass die Vermögenspsychologie den Geist „wie einen Sack voll Vermögen darstellt“. 10 Dass Kant der Einbildungskraft in seiner kritischen Philosophie offenbar eine maßgebliche Funktion zugewiesen hatte, musste vor dem Hintergrund des skizzierten allgemeinen Niedergangs des Begriffs als suspekt oder einfach nur obsolet erscheinen. Dieser Niedergang führte dazu, dass man das theoretische Potential, das Kant im Begriff der Einbildungskraft sah, im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr zu erkennen vermochte. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der Begriff auch für die Kantliteratur dieser Zeit uninteressant wird. Ein wichtigerer Grund dafür scheint jedoch der Aufstieg des Marburger Neukantianismus zu sein, der beginnend mit H. Cohens Buch Kants Theorie der Erfahrung (11871, 31918) maßgeblichen Einfluss auf die Deutung von Kants theoretischer Philosophie gewinnt. Denn auch Cohen, für den die Lösung des Problems der Möglichkeit und Begründung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis im Zentrum von Kants Erkenntnistheorie steht, misst der Einbildungskraft kaum Bedeutung bei. Das hängt mit der für seinen Interpretationsansatz charakteristischen Kritik an dem Versuch zusammen, Kants Begriff des Transzendentalen zu psychologisieren, wie er etwa von J. B. Meyer im Anschluss an Fries unternommen wurde. 11 Diese Kritik ist zwar gerechtfertigt, aber bei Cohen mit der irrigen Einschätzung verbunden, dass Kants Theorie der subjektiven Erkenntnisquellen, zu denen auch die Einbildungskraft gehört, eine psychologische Theorie ist. In Kants Vorhaben der A-Deduktion, „die subjektive[n] Quellen, welche die Grundlage a priori zur Möglichkeit der Erfahrung ausmachen“, zu untersuchen (A 97), kann Cohen nur das „Ver-
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Siehe Homann 1970, 293 u. 289 f., 283 sowie 284. Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 237 (1802); vgl. auch Hegels diesbezügliche Äußerungen in der Phänomenologie des Geistes (1807) (Hegel 1986, 230). – Und Herbart bezeichnet in seinem Lehrbuch zur Psychologie von 1816 insbesondere Kants Vermögenspsychologie als eine „Mythologie“ (S. 8). Cohen 31918, 378/84. Vgl. dazu Meyer 1870.
2.1 Überblick: Die Einbildungskraft nach Kant und bis Heidegger
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langen nach psychologischer Einsicht und Aufklärung“ erkennen. 12 Auf diese Weise bleibt ihm aber einerseits der erkenntnistheoretische Gehalt von Kants transzendentaler Konzeption der Einbildungskraft verborgen und andererseits redet er selbst damit der psychologischen Depotenzierung des Transzendentalen das Wort. 13 Es überrascht deshalb nicht, wenn Cohen die A-Deduktion zu einem nicht unwesentlichen Teil als „Abriss einer Psychologie des Erkennens“ versteht und in ihrer Interpretation zu dem Ergebnis kommt, dass „das psychologisch analysierende, und damit das subjektive Moment in dieser ganzen Entwickelung vorwiegend“ ist.14 Die für den Leser der A-Deduktion deshalb bestehende „Gefahr [...], in der psychologischen Theorie den Schwerpunkt der Frage zu erblicken“, wollte Kant, so Cohen, durch die Neufassung des Deduktionskapitels bannen. 15 Die Gründe für Cohens Präferenz der B-Deduktion, die vor allem mit Kants angeblicher Präzisierung des Verhältnisses zwischen Kategorien und Apperzeption zusammenhängen, brauchen hier nicht im Einzelnen dargelegt zu werden. 16 Wichtig ist aber, dass Cohen in der Interpretation der B-Deduktion seine Auffassung in puncto Einbildungskraft modifiziert. Auf den letzten beiden Seiten seiner Interpretation muss er anerkennen, wie wenig bei Kant „die Absicht bestand, mit der Einbildungskraft ein psychologisches Vermögen herzurichten“. 17 Denn aus einer von Cohen zitierten Bemerkung aus § 24 der B-Deduktion geht deutlich hervor, dass die produktive Einbildungskraft einen apriorischen Beitrag „zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis“ leistet und deshalb zur „Transzendentalphilosophie“ und nicht zur „Psychologie“ gehört (B 152). Dass die Einbildungskraft einen solchen Beitrag leistet, war aber genauso deutlich bereits die Position der A-Deduktion. Dort konzipierte Kant die Einbildungskraft, wie gesehen, als eine der „subjektive[n] Quellen, welche die Grundlage a priori der Erfahrung ausmachen“ (A 97). Da Cohen die genuin transzendentalphilosophische Dimension der Einbildungskraft an der genannten Stelle der B-Deduktion anerkennt, hätte er also seine Interpretation der A-Deduktion revidieren müssen. Was ihm dabei aber im
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Cohen 31918, 387. Vgl. ebd., 402: „So sehen wir in der produktiven Einbildungskraft, als einer ‚transzendentalen Funktion‘ die psychologische Tatsache anerkannt, dass die beiden Arten von Mitteln und Bedingungen der Erfahrung nicht isoliert bleiben dürfen, sondern, sofern sie psychologisch im Apparate des Erkennens betrachtet werden, vermittelt und verbunden werden müssen.“ Ebd., 405, 404. Ebd., 414. Siehe dazu ebd., 404 ff. Ebd., 419.
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2 Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft
Wege stand, war, dass er dort der ansonsten von ihm bekämpften psychologischen Kantdeutung so weit entgegengekommen war, dass er die Einbildungskraft der psychologischen Seite der Deduktion zuschlug und damit marginalisierte. Erst Heideggers so genanntes ‚Kantbuch‘, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), überwindet das mehr als hundert Jahre vorherrschende psychologische Verständnis von Kants Konzeption der Einbildungskraft. Neben Cohens Werk übt es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl den größten Einfluss auf die Forschung zu Kants theoretischer Philosophie aus. 18 Darüber hinaus muss es als das bis heute wichtigste Werk für die Diskussion um die Einbildungskraft bei Kant gelten. Heidegger wertet die Rolle der Einbildungskraft in Kants theoretischer Philosophie in spektakulärer Weise auf. Seine zentrale These, die ich im Folgenden ‚Wurzelthese‘ nenne, lässt sich mit Blick auf eine Bemerkung am Ende der Einleitung der KrV verständlich machen. Dort erklärt Kant, dass es mit Sinnlichkeit und Verstand „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen“ (A 15, B 29). Die Wurzelthese besagt nun, dass die transzendentale Einbildungskraft diese Wurzel ist und die reine Anschauung sowie das reine Denken sich auf sie zurückführen lassen bzw. in ihr ihren Ursprung haben. 19 Für den auf Rationalität pochenden Kant selbst jedoch, so Heidegger, sei die transzendentale Einbildungskraft, „wie sie im leidenschaftlichen Zuge des ersten Entwurfs [der KrV] ans Licht kam“, das „beunruhigende Unbekannte“ und auf diese Weise das mehr oder minder bewusste Motiv für die Neufassung des Deduktionskapitels gewesen. 20 Kant sei vor der transzendentalen Einbildungskraft als der „unbekannten Wurzel zurückgewichen“ und habe sie in der zweiten Auflage der KrV, wo sie „nur noch dem Namen nach da“ sei, „abgedrängt und umgedeutet – zugunsten der Verstandes“, letztlich, „um die Herrschaft der Vernunft zu retten.“ 21
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So konnte D. Henrich noch 1955 feststellen: „Die Breite der Wirkung, die das Kantbuch ausübt, ist erst heute recht zu übersehen. Methode und Interpretationsziel fast aller Publikationen sind von ihm mitbestimmt.“ (Henrich 1955, 29) Siehe Heidegger, GA 3, 138. Einerseits wird mit dieser These die Interpretation der transzendentalen Einbildungskraft durch den deutschen Idealismus und vor allem durch Hegel gewissermaßen erneuert, andererseits betont Heidegger, seine eigene Interpretation „bewegt sich gleichsam in entgegengesetzter Richtung wie die des deutschen Idealismus.“ (Ebd., 137 Anm. 196.) Zur Vorgeschichte von Heideggers Kantinterpretation im deutschen Idealismus siehe Henrich 1955, 55/60, und zur Abhebung dieser Interpretation insbesondere von der Hegels siehe ebd., 62 ff. Heidegger, GA 3, 161, 162. Ebd., 160, 164, 161, 170; vgl. ebd., 214 f.
2.1 Überblick: Die Einbildungskraft nach Kant und bis Heidegger
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Die sich an die Wurzelthese anschließende Spekulation Heideggers über Kants angebliches Zurückweichen vor der Einbildungskraft ist jedoch als quasi-psychologische philosophisch indiskutabel. 22 Sie bringt darüber hinaus einige sachliche Schwierigkeiten mit sich. Denn erstens kann die Auffassung, dass die Einbildungskraft in der zweiten Fassung des Deduktionskapitels von geringerer Relevanz als in der ersten ist, mit guten Gründen kritisiert werden. 23 Und zweitens ist im Schematismuskapitel, das für Heidegger das Kernstück der KrV ist 24, von einem Zurückweichen Kants nicht das geringste zu spüren, da dieses Kapitel für die zweite Auflage so gut wie gar nicht verändert wurde. Die Kritik an Heideggers Spekulation über Kants Zurückweichen vor der Einbildungskraft kann jedoch die Auseinandersetzung mit der Wurzelthese selbst und mit Heideggers Interpretationsansatz im Ganzen nicht überflüssig machen. Ich werde diese Auseinandersetzung in den beiden folgenden Abschnitten führen. Um jedoch hier schon zu einer ersten Einschätzung von Heideggers Position gelangen zu können, sei kurz auf den theoretischen Status der Wurzelthese und die generelle Orientierung seiner Kantdeutung hingewiesen. Die transzendentale Einbildungskraft als Wurzel der beiden Stämme ist für Heidegger das, was sich aus dem „Hineinfragen in die“ oder aus der „Enthüllung der Subjektivität des Subjektes“ ergibt. 25 Die Wurzelthese ist demnach als eine subjekttheoretische These zu verstehen. Dass sie diesen Status hat, hängt mit der fundamentalontologischen Orientierung von Heideggers Kantdeutung insgesamt und der damit verbundenen Frontstellung gegen eine erkenntnistheoretische und insbesondere die neukantianische Interpretation der KrV zusammen. 26 Aufgrund dieser Hinweise zu Heideggers Kantdeutung und der obigen Skizze von Cohens Interpretation lässt sich – wenn auch im Fall Heideggers nur vorläufig – zeigen, dass weder Cohen noch Heidegger den für Kants Konzeption der Einbildungskraft zentralen Punkt treffen: die erkenntnistheoretische Bedeutung der transzendental verstandenen Einbildungskraft. Während Cohen die transzendentale Konzeption der Einbildungskraft in der KrV trotz seiner allgemeinen Kritik an Fries und Meyer psychologisch depotenziert, versucht Heidegger, sie subjekttheoretisch, als fundamentalontologischen Tatbestand zu interpretieren. Auf ihre Weise verfehlen beide den entscheidenden systematischen Anspruch, der mit
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Vgl. dazu auch Cassirer 1931, 21/4. Dies zeigen Interpretationen der B-Deduktion, deren Fokus auf der Einbildungskraft liegt: etwa Freydberg 1994, vor allem aber Metz 1991. Heidegger, GA 3, 89. Ebd., 214. Ebd., 1, 16 f.
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2 Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft
dieser Konzeption erhoben wird: Die Einbildungskraft ist eine der „ursprüngliche[n] Quellen [...], die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten“ (A 94), bzw. eine der „subjektive[n] Quellen, welche die Grundlage a priori zur Möglichkeit der Erfahrung ausmachen“ (A 97). Cohen kann diesen Anspruch mit seiner psychologischen Lesart der Einbildungskraft nicht verständlich machen, wie ernst er auch insgesamt die erkenntnistheoretische Interpretation der KrV nimmt. Und Heidegger bleibt dieser Anspruch durch seine generelle Ablehnung einer solchen Interpretation verschlossen, wie ernst er auch insgesamt das Phänomen der Einbildungskraft nimmt. Heidegger verfehlt die grundlegende Bedeutung der zitierten Passagen (A 94 u. A 97), weil er übersieht, dass es vor allem um die Möglichkeit der Erfahrung geht, wenn auf die subjektiven Quellen rekurriert wird; und Cohen, weil er übersieht, dass es subjektive Quellen sind, die die Grundlage dieser Möglichkeit ausmachen sollen. Wie gesagt können diese Einschätzungen in Hinblick auf Heidegger jedoch nur als vorläufig gelten. Sie kritisieren ihn gewissermaßen von außen. Denn zum einen gehen sie einfach davon aus, dass die KrV in erster Linie erkenntnistheoretisch zu interpretieren ist, ohne die Gründe zu erwägen, die Heidegger für die Ablehnung gerade einer solchen Interpretation anführt. Und zum anderen beziehen sie nicht einmal Stellung zu der für Heideggers Auffassung der Einbildungskraft fundamentalen Wurzelthese. Beides ist aber unbefriedigend angesichts des in der Einführung dargelegten Kriteriums für eine argumentative Rekonstruktion der erkenntnistheoretischen Konzeption der Einbildungskraft der KrV, dass jedes derartige Rekonstruktionsvorhaben in der Auseinandersetzung mit Heideggers anti-erkenntnistheoretischer Interpretation der KrV und insbesondere deren Konzeption der Einbildungskraft verteidigt werden muss.
2.2 Heideggers Ablehnung einer erkenntnistheoretischen Interpretation der KrV Mit seiner These, dass die transzendentale Einbildungskraft als Wurzel der reinen Anschauung und des reinen Denkens zu gelten habe, macht Heidegger eine These zur ‚Subjektivität des Subjekts‘ zum Zentrum seiner Kantinterpretation; zugleich lehnt er den Ansatz einer erkenntnistheoretischen Interpretation der KrV und insbesondere der Einbildungskraft ab. Läge er damit richtig, so wäre mein Vorhaben, die erkenntnistheoretische Konzeption der Einbildungskraft der KrV zu rekonstruieren, von vornherein leer oder ginge zumindest an deren eigentlichem Thema vorbei. Denn dieses Vorhaben bliebe der KrV insgesamt unangemessen oder
2.2 Heideggers Ablehnung einer erkenntnistheoretischen Interpretation
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haftete bloß an deren Oberfläche, auf der die als fundamental behauptete subjekttheoretische Dimension gar nicht in den Blick käme. Eine kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Kantinterpretation ist deshalb unverzichtbar. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung werde ich für zwei Thesen argumentieren: Erstens ist Heideggers Auffassung unbegründet, dass die KrV keine erkenntnistheoretische Dimension besitzt bzw. dass deren subjekttheoretische Dimension als die grundlegende zu gelten hat; und zweitens ist Heideggers Wurzelthese nicht zu halten. Ich beginne mit der Argumentation für die erste These und werde der zweiten den folgenden Abschnitt widmen. 27 Heidegger zufolge wird die Absicht der KrV „grundsätzlich verkannt, wenn dieses Werk als ‚Theorie der Erfahrung‘ oder gar als Theorie der positiven Wissenschaften ausgelegt wird. Die Kritik der reinen Vernunft hat mit ‚Erkenntnistheorie‘ nichts zu schaffen.“ 28 Heidegger bringt sich damit in ausdrücklichen Gegensatz zum Marburger Neukantianismus. Zwar ist einzuräumen, dass er diesem gegenüber zu Recht betont, dass die KrV das Faktum der Wissenschaft nicht als Prämisse in Anspruch nimmt und nicht die Möglichkeit nur der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu begründen beabsichtigt. 29 Aber das bedeutet nicht, dass sie nichts mit Erkenntnistheorie zu tun habe. Sie ist vielmehr in dem Sinne selbst eine erkenntnistheoretische Untersuchung, dass sie nach Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt fragt. Seine Ablehnung, die KrV erkenntnistheoretisch zu interpretieren, begründet Heidegger damit, dass diese „nichts anderes als die Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft“ sei. 30 In der Tat ist für Kant der Zusammenhang zwischen Metaphysik und ‚Kritik‘ zentral. Denn „die Kritik“ ist für ihn „die notwendige vorläufige Veranstaltung zur Beförderung einer gründlichen Metaphysik als Wissenschaft“. 31 Das schließt jedoch nicht aus, dass sie eine erkenntnistheoretische Untersuchung ist, sondern erfordert es vielmehr. W. Carl hat im Rekurs auf Kants Konzeptionen von Metaphysik und einer Kategoriendeduktion überzeugend dargelegt, dass die KrV „eine Theorie der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung [entwickelt], weil sie sich mit der Metaphysik beschäftigt“. 32 Heideggers Argument, dass eine erkenntnistheoretische Interpretation die Absicht der
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Im Folgenden ziehe ich neben dem Kantbuch (Heidegger, GA 3) auch Heideggers Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft heran, die auf eine 1927/8 gehaltene Vorlesung zurückgeht (Heidegger, GA 25). Heidegger, GA 3, 16 f.; vgl. Heidegger, GA 25, 66 f. Heidegger, GA 25, 44; Heidegger, GA 3, 17. Heidegger, GA 25, 10. KrV, B XXXVI. Vgl. B XXIII; B XXX; A XII; A 841, B 869; Proleg, A 16 (AA 4.261). Siehe Carl 1992, 11/41, hier: 11.
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2 Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft
KrV verkennt, weil diese eine Grundlegung der Metaphysik sei, verkennt also selbst die Absicht der KrV, indem es den Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysikbegründung ignoriert und fälschlich suggeriert, beides würde einander ausschließen. Dass die Position, die KrV sei keine erkenntnistheoretische Untersuchung, nicht zu halten ist, zeigt sich übrigens dort bei Heidegger selbst, wo er auf Kants Terminus ‚Kritik‘ zu sprechen kommt. Heidegger ist gezwungen anzuerkennen, dass Kants Grundlegung der Metaphysik „zugleich Umgrenzung und Einschränkung der möglichen Erkenntnis a priori der reinen Vernunft, d. h. Kritik ist.“ 33 Das heißt aber, dass sie unsere berechtigten Ansprüche auf Erkenntnisse aus reiner Vernunft begründen und grundlose Anmaßungen solcher Erkenntnisse abweisen muss (vgl. A XI f.), und das bedeutet wiederum, dass sie genau das erfordert, womit sie angeblich „nichts zu schaffen“ hat: Erkenntnistheorie. Außerdem ist Kants Grundlegung der Metaphysik nicht nur irgendwie ‚zugleich‘ Kritik, sondern erst in dem mit Kritik verbundenen erkenntnistheoretischen Vorhaben entscheidet sich, ob und wie so etwas wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Trotz der dargelegten Kritik könnte Heidegger versuchen, an seiner Ablehnung einer erkenntnistheoretischen Interpretation der KrV festzuhalten, indem er eine Rückzugsposition einnimmt. Er könnte der KrV als Grundlegung der Metaphysik zwar eine erkenntnistheoretische Dimension konzedieren, aber behaupten, dass ihre wesentliche Dimension eine andere, ursprünglichere oder umfassendere, ist. Und in der Tat veranschlagt das Kantbuch eine derartige Dimension. Es sieht sie in einer bestimmten Theorie der Subjektivität. Heidegger entwickelt diese Theorie unter den Titeln ‚Fundamentalontologie‘ oder ‚Analytik der Transzendenz‘. Indem er die KrV als Grundlegung der Metaphysik interpretiert, verfolgt er das Ziel, „das Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor Augen zu stellen.“ 34 Die Fundamentalontologie soll als „ontologische Analytik des endlichen Menschenwesens“ bzw. „Enthüllung der Seinsverfassung des Daseins“ die Metaphysik ermöglichen bzw. den Grund ihrer Möglichkeit legen. 35 Heidegger stellt damit die von ihm fundamentalontologisch verstandene Theorie der Subjektivität Kants ins Zentrum seiner Interpretation der KrV und erhebt den Anspruch, dass sie die erkenntnistheoretische Dimension fundiert oder umgreift. Gegenüber Heideggers ganzem Interpretationsansatz ist jedoch von vornherein Skepsis geboten. Fundamentalontologie ist sein eigenes, zuerst
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Heidegger, GA 25, 61. Heidegger, GA 3, 1. Ebd., 1, 232 ff.; vgl Heidegger, GA 25, 36 f.
2.2 Heideggers Ablehnung einer erkenntnistheoretischen Interpretation
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mit Sein und Zeit verfolgtes Projekt. 36 Indem er nun dem Kantbuch die Aufgabe zuweist, die „Idee der Fundamentalontologie“ in der Interpretation der KrV zu „bewähren und dar[zu]stellen“ 37, wird ihm letztere zum bloßen Medium der Entfaltung seiner eigenen Philosophiekonzeption. 38 Dass die sich daraus schon im Vorhinein ergebenden Vorbehalte gegen seine Interpretation begründet sind, muss jedoch im Einzelnen gezeigt werden. Dies geschieht am besten anhand desjenigen Kapitels der KrV, das sowohl für die subjekttheoretischen als auch die erkenntnistheoretischen Interessen Kants zentral ist, d. h. anhand des Deduktionskapitels. Zu Beginn des Deduktionskapitels erläutert Kant, dass er mit seiner transzendentalen Deduktion eine ‚quaestio iuris‘ durchführt, die beabsichtigt, die Rechtmäßigkeit eines erfahrungsunabhängigen und gegenstandsbezogenen Gebrauchs der reinen Verstandesbegriffe, d. h. deren objektive Gültigkeit, zu erweisen. Darin besteht das erkenntnistheoretische Vorhaben des Deduktionskapitels. Kant bezeichnet es in der Vorrede zur ersten Auflage der KrV als „objektive“ Deduktion und stellt dieser ein als „subjektive Deduktion“ bezeichnetes subjekttheoretisches Vorhaben an die Seite, in dem es darum geht, „den reinen Verstand selbst nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjektiver Beziehung zu betrachten“ (A XVI f.). Heideggers ablehnende Haltung gegen eine erkenntnistheoretische Interpretation der KrV und sein Optieren für eine angeblich grundlegendere subjekttheoretische Interpretation kommt am deutlichsten darin zum Ausdruck, dass er erstens die quaestio iuris durch sein fundamentalontologisches Projekt ersetzt, und entsprechend zweitens die Bedeutung der Frage nach der objektiven Gültigkeit der Kategorien herunterspielt, sowie drittens die subjektive Deduktion der objektiven systematisch vorordnet. Anhand dieser eng zusammenhängenden Punkte lässt sich die Kritik an Heideggers Position nun konkretisieren. Zunächst zum ersten Punkt, der Ersetzung der quaestio iuris durch die fundamentalontologische Fragestellung. Heidegger zufolge „darf die quaestio juris nicht als solche der Geltung gefaßt werden, sondern [...] ist nur die Formel für die Aufgabe einer Analytik der Transzendenz, d. h. einer
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In Sein und Zeit wird ‚Fundamentalontologie‘ als diejenige Ontologie bestimmt, von der jede andere Ontologie abhängig ist, und in deren Zentrum die „existenziale“ oder „ontologische Analytik des Daseins“ steht (Heidegger, Sein und Zeit, 13 u. 14), wobei ‚Dasein‘ Heideggers terminus technicus für den Menschen ist (ebd., 11). Heidegger, GA 3, 1. Letztlich aus diesem Grund ist seine Kantinterpretation zu Recht immer wieder als gewaltsam kritisiert worden. Heidegger hat dazu im Vorwort zur vierten Auflage des Kantbuchs von 1973 erklärt, dass er „der Frage Kants eine ihr fremde, wenngleich sie bedingende Fragestellung untergelegt“ habe (ebd., XIV). Diese Bemerkung ist paradox. Sie gibt mit der einen Hand, was sie mit der anderen nimmt.
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2 Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft
reinen Phänomenologie der Subjektivität des Subjekts, und zwar als eines endlichen.“ 39
Um die Auffassung der quaestio iuris als „Analytik der Transzendenz“ zu verdeutlichen, ist zunächst auf den Begriff der Transzendenz einzugehen, der in Heideggers Texten unmittelbar nach Sein und Zeit (1927) zum Schlüsselbegriff der Fundamentalontologie avanciert. In seinem Aufsatz Vom Wesen des Grundes (1929), auf den er im Vorwort des Kantbuchs zur „weiteren Aufhellung der leitenden Fragestellung“ 40 seines Ansatzes hinweist, erläutert Heidegger: „[D]ie Transzendenz bezeichnet das Wesen des Subjekts, ist Grundstruktur der Subjektivität. [...] Subjekt sein heißt: in und als Transzendenz Seiendes sein.“ 41 Transzendenz ist für Heidegger die Grundverfassung des menschlichen Daseins, der zufolge das Dasein alles Seiende auf Welt hin übersteigt. 42 Im Kantbuch überträgt Heidegger dieses Konzept auf die KrV und spricht vom „Überschreiten (Transzendenz) der reinen Vernunft zum Seienden, so daß sich diesem jetzt allererst als möglichem Gegenstand Erfahrung anmessen kann.“ 43 Heideggers am Begriff der Transzendenz orientierter Interpretationsansatz der KrV bleibt aber hinter deren Problemniveau zurück. Denn wenn Transzendenz als die ontologische Grundstruktur der Subjektivität bereits unterstellt ist, dann ist die Behauptung der Transzendenz der reinen Vernunft nichts, für das eigens argumentiert werden müsste. Entsprechend ist die „Grundabsicht der transzendentalen Deduktion“ für Heidegger nicht die Begründung oder Rechtfertigung, sondern, wie er sich ausdrückt, die „Aufhellung“ der Transzendenz der Vernunft. 44 Und anderenorts heißt es, „die Grundbestimmung der Deduktion [ist] die ontologische Enthüllung der transzendentalen Beschaffenheit des Subjekts – ein
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Heidegger, GA 3, 87. Ebd., XVI. Heidegger, GA 9, 137 f. Vgl. ebd., 137/9. Zum Kern von Heideggers Konzeption der Transzendenz gehört erstens, dass das transzendierende Dasein „im Wesen seines Seins weltbildend“ ist (ebd., 158), und zweitens die Identifikation von Transzendenz und Freiheit (ebd., 163). Heidegger, GA 3, 16. – C. Hackenesch hat Heideggers Theorie der Transzendenz, die, wie sie zeigt, eine gegenüber derjenigen von Sein und Zeit eigenständige Theorie der Subjektivität ist, überzeugend dargestellt und kritisiert (Hackenesch 2001, 55 ff.). Indem sie sich dabei auf eine ganze Reihe von Aufsätzen und Vorlesungen Heideggers nach Sein und Zeit bezieht, gelingt es ihr insbesondere, „das ‚Kantbuch‘ als den Versuch einer systematischen Begründung dieser Theorie zu entziffern“ und als solchen zu kritisieren (ebd., 66 f. Anm. 149). Hier allerdings kann nicht Heideggers Begriff der Transzendenz selbst im Mittelpunkt stehen, sondern nur die Frage, ob sein an diesem Begriff orientierter Interpretationsansatz der KrV tragfähig ist. Heidegger, GA 3, 70, 76.
2.2 Heideggers Ablehnung einer erkenntnistheoretischen Interpretation
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Geltungsproblem ist innerhalb dieser Fragestellung sinnlos“. 45 Es ist aber zu betonen, dass die Begründung oder Rechtfertigung der Transzendenz der Vernunft unausweichlich ist, wenn ‚Transzendenz‘ der Begriff einer Struktur ist, die in menschlichem Dasein überhaupt instanziiert oder realisiert sein soll. Die Behauptung der Transzendenz der Vernunft erfordert also die Argumentation für etwas, das man in Anlehnung an Heideggers Terminologie ‚reine Transzendenzfunktionen‘ nennen könnte, d. h. für bestimmte Funktionen, die Transzendenz überhaupt erst realisieren. Bei Heidegger wird jedoch das Problem, ob und warum bestimmte Begriffe solche Transzendenzfunktionen sind, übersprungen. Da sich Heidegger gegen Kants Deduktionsproblem immunisiert, wird die Transzendenz der Vernunft zur bloßen Setzung. Es gibt im Rahmen von Heideggers Ansatz keinen Ort, an dem sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit irgendwelcher Transzendenzfunktionen bzw. eines a priori sachbezogenen Gebrauchs bestimmter reiner Begriffe (Kategorien) überhaupt stellen lässt. Auch die Erwartung, dass die „Analytik der Transzendenz“, als die Heidegger Kants quaestio iuris verstehen will, einen solchen Ort bestimmen könnte, erfüllt sich nicht. ‚Analytik‘ wird von Heidegger als „das Sehenlassen der Genesis des Wesens der endlichen reinen Vernunft aus ihrem eigenen Grunde“ bestimmt. 46 Die Analytik der Transzendenz soll also deren Genesis nachvollziehen. Doch wird die quaestio iuris, wenn ihr Thema die Genesis der Transzendenz sein soll, nicht in eine quaestio facti transformiert? Genau dies ist Heideggers Pointe. „Gerade nicht eine quaestio iuris, sondern eine quaestio facti ist das Zentrum des Problems der transzendentalen Deduktion“. 47 Zwar soll es sich dabei nicht um ein empirisches Faktum handeln, „sondern um ein Faktum im Sinne des ontologischen Wesensbestandes des Daseins, um die transzendentale Beschaffenheit des Subjekts.“ 48 Aber im Zuge der Erklärung der Genesis eines Faktums – sei dieses empirisch oder nicht-empirisch konzipiert – kann das Problem der Existenz und Legitimität reiner Transzendenzfunktionen (Kategorien) überhaupt nicht in den Blick kommen. Da Kant dies bewusst war, hat er seine eigene Genesiskonzeption, die Lehre der ursprünglichen Erwerbung reiner Vorstellungen 49, klar von deren Deduktion unterschieden. Damit zum zweiten Punkt, Heideggers Herunterspielen der Bedeutung von Kants Frage nach der objektiven Gültigkeit der Kategorien. Da die Beantwortung dieser Frage das Ziel der quaestio iuris ist, von der sich
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Heidegger, GA 25, 330 f. Heidegger, GA 3, 42. Heidegger, GA 25, 330. Ebd.; ohne dortige Hvh. Siehe dazu Kants Über eine Entdeckung..., AA 8.221/3.
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2 Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft
bereits in der Erörterung des ersten Punkts zeigte, dass an ihr gegen Heideggers Vereinnahmungsversuch festgehalten werden muss, reicht hier eine kurze Ergänzung aus. Für Heidegger ist die Frage nach der objektiven Gültigkeit nur „die äußere, einführende Formulierung der transzendentalen Deduktion“. 50 Sicherlich ist richtig, dass Kant das Problem der transzendentalen Deduktion als Problem der objektiven Gültigkeit der Kategorien einführt (z. B. A 89 f., B 122). Aber dieses Problem ist der transzendentalen Deduktion so wenig äußerlich, dass deren Resultat genau dessen Lösung ist: Kant erklärt auf seine Deduktionsargumentationen zurückblickend, dass die von ihm gezeigte objektive Gültigkeit der Kategorien „dasjenige war, was wir eigentlich wissen wollten“ (A 111) und die „transz. Deduktion der Kategorien [mehr] nicht zu leisten“ hatte (A 128). Schließlich zum dritten Punkt: Aus Heideggers Auffassung, in der KrV ginge es in erster Linie um die Subjektivität des Subjekts, um die Grundstruktur des menschlichen Daseins ergibt sich die These, die subjektive Seite der Deduktion sei der objektiven systematisch vorzuordnen. Heidegger behauptet sogar, dass „die radikale Durchführung der subjektiven Seite der Aufgabe der Deduktion die objektive Aufgabe mit erledigt, genauer gesagt, sie in dieser [juristischen; M. W.] Form als Aufgabe gar nicht aufkommen läßt.“ 51 Demgegenüber ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Heideggers These der systematischen Prävalenz der subjektiven vor der objektiven Deduktion als Kantinterpretation unhaltbar ist. Denn Kant stellt unmissverständlich klar, dass die subjektive Deduktion zwar „von großer Wichtigkeit“ hinsichtlich des „Hauptzwecks“ der KrV ist, aber „nicht wesentlich zu demselben [gehört]; weil die Hauptfrage immer bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen, und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?“ 52 Darüber hinaus ist es auch in sachlicher Hinsicht kein Vorzug von Heideggers Arbeit, sondern ihr essentielles Manko, dass sie die Aufgabe der objektiven Deduktion „gar nicht aufkommen läßt“. Wenn das Problem der objektiven Deduktion als Rechtfertigung der objektiven Gültigkeit der Kategorien in der Durchführung der subjektiven Deduktion nicht aufkommt, dann wird diese nicht ‚radikal‘ durchgeführt, sondern des Horizonts beraubt, in dem sie erst triftig werden kann. Da sich Heidegger nicht dem
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Heidegger, GA 3, 87. Heidegger, GA 25, 331. A XVII. – Kant selbst gibt also, in Heideggers Terminologie übersetzt, dem Problem der Transzendenz als Funktionsbegriff, dem Problem der Möglichkeit unseres Überschreitens des Seienden auf Welt hin, den systematischen Vorzug gegenüber dem Problem der Transzendenz als Wesensbegriff, dem Problem der Grundstruktur des Subjekts. Für Kant lässt sich letzteres nur im Rahmen des ersteren lösen.
2.3 Zu Heideggers Wurzelthese
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Problem stellt, wie die Funktionsbestimmung der Transzendenz, dass das Dasein alles Seiende auf Welt hin überschreitet, erfüllt werden kann, da er es also für überflüssig hält, die Möglichkeit dieses Überschreitens zu legitimieren, muss prinzipiell fraglich bleiben, ob das, was seine Wesensbestimmung der Transzendenz ergibt, als Grundstruktur des Subjekts gelten kann. Bisher hat sich gezeigt, dass es Heidegger weder gelingt, die erkenntnistheoretische Dimension der KrV abzuweisen, noch diese Dimension in deren subjekttheoretischer Dimension zu fundieren. Im Gegenteil spricht alles dafür, dass die erkenntnistheoretische gegenüber der subjekttheoretischen Dimension als primär zu gelten hat und man dem Problemniveau der KrV nur durch eine erkenntnistheoretisch orientierte Interpretation gerecht werden kann. Insbesondere stehen damit alle Thesen, die der transzendentalen Einbildungskraft eine zentrale theoretische Bedeutung für die KrV zuweisen, aber methodisch unabhängig von dieser Orientierung gewonnen werden, auf tönernen Füßen. Das gilt auch für Heideggers Wurzelthese. Gleichwohl ist dadurch nicht ausgeschlossen, dass diese These richtig ist. Aus welchen Gründen sie nicht zu halten ist, muss also noch gezeigt werden.
2.3 Zu Heideggers Wurzelthese Die Wurzelthese besagt, dass die transzendentale Einbildungskraft als die Wurzel gelten muss, aus der die reine Sinnlichkeit und der reine Verstand entspringen bzw. auf die sie sich zurückführen lassen. Da Heidegger die transzendentale Einbildungskraft zudem als Wurzel der theoretischen Vernunft im Sinne des Vermögens der Ideen und sogar als Wurzel der praktischen Vernunft zu begreifen versucht 53, kann man diesen Sinn der Wurzelthese als den ‚weiten‘ und den obigen als den ‚engen Sinn‘ dieser These bezeichnen. – Die folgende Auseinandersetzung mit der Wurzelthese muss sich auf einer allgemeinen Ebene bewegen, weil an dieser Stelle ein detailliertes Verständnis von Kants Konzeption der verschiedenen Vermögen und Quellen des Gemüts, vor allem der Einbildungskraft, noch nicht zur Verfügung steht. Trotzdem wird sie zu einer prinzipiellen Zurückweisung der Wurzelthese führen. Eine Möglichkeit, die Wurzelthese zurückzuweisen, liegt darin, die Unannehmbarkeit einer ihrer wesentlichen Konsequenzen aufzuweisen. Diesen Weg hat vor allem E. Cassirer beschritten, von dem die erste kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Kantbuch stammt. Cassirers
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Heidegger, GA 3, 151 f., 156/60.
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2 Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft
Haupteinwand besteht darin, dass in Heideggers Versuch, alle Vermögen auf die transzendentale Einbildungskraft zu beziehen und zurückzuführen, „nur eine einzige Bezugsebene, die Ebene des zeitlichen Daseins zurück[bleibt].“ 54 Dem ist in der Tat so, denn die transzendentale Einbildungskraft wird von Heidegger in engen Zusammenhang mit der Zeit gebracht, letztlich sogar mit dieser identifiziert. 55 Unter der Annahme von Heideggers „‚Monismus‘ der Einbildungskraft“, so Cassirer, gehört damit „alles Sein [...] der Dimension der Zeit“ an. Das impliziert jedoch die Aufgabe des für Kants Philosophie maßgeblichen Dualismus zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen, d. h. insbesondere überzeitlichen, Welt – eine Konsequenz, die Cassirer zufolge unannehmbar ist, weil Heidegger damit an die Stelle von Kants „Problem von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘“ sein eigenes „Problem von ‚Sein‘ und ‚Zeit‘“ setzt. 56 Heidegger wird so zum „Ursurpator, der gleichsam mit Waffengewalt in das Kantische System eindringt, um es sich zu unterwerfen und um es seiner Problematik dienstbar zu machen.“ 57 Cassirers Haupteinwand ist zwar triftig, aber in seiner Reichweite beschränkt. Dies wird deutlich, wenn Cassirer erklärt, dass „die Lehre von der ‚transzendentalen Einbildungskraft‘ [...] zwar im Mittelpunkt der Kantischen Analytik, aber nicht im Brennpunkt des Kantischen Systems“ steht. 58 Dass sie nicht im Brennpunkt von Kants gesamtem System stehen kann, hat sein Haupteinwand gezeigt. Aber indem Cassirer zugleich einräumt, die Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft stehe im Mittelpunkt der Transzendentalen Analytik der KrV, gesteht er Heidegger die Wurzelthese, wenn auch nur in ihrem engen Sinn, implizit zu. Dieses Zugeständnis scheint dadurch motiviert zu sein, dass Cassirer der Einbildungskraft im Rahmen seiner eigenen Philosophiekonzeption selbst eine zentrale Rolle zuweist; nicht zufällig verweist er in seiner Heideggerkritik dort, wo er „die Lehre von der ‚produktiven Einbildungskraft‘“ als „ein unendlich-fruchtbares Motiv“ der kritischen Philosophie bezeichnet, auf seine Phänomenologie der Erkenntnis, den dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen. 59 Cassirer muss zwar als ein entschiedener Kritiker von Heideggers Verabsolutierung der Einbildungskraft gelten, aber er weist dessen Wurzelthese nur in ihrem weiten Sinn zurück. Eine Zurückweisung der Wurzelthese auch in ihrem engen Sinn bedarf zusätzlicher Überlegungen.
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Cassirer 1931, 16. Heidegger, GA 3, 175 f., 196. Cassirer 1931, 16. Ebd., 17. Ebd., 17 f. Ebd., 9. Siehe Cassirer 81982, etwa 155 u. 185 f. Vgl. Cassirer 1995, 29.
2.3 Zu Heideggers Wurzelthese
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Dazu werde ich einen zweiten Argumentationsweg einschlagen, auf dem die Wurzelthese durch Reflexion auf die Frage, die durch diese These beantwortet werden soll, kritisiert wird. Man kann dabei von einer einfachen Überlegung ausgehen: Insofern die Wurzelthese eine These zur Interpretation der KrV ist, muss sie sich als die Lösung eines dort zumindest impliziten Problems einsichtig machen lassen. Zwar ist bemerkenswert, dass weder die Frage nach der Wurzel der beiden Stämme noch eine entsprechende Antwort in der KrV explizit formuliert sind. Es spricht jedoch zunächst nichts dagegen zu unterstellen, dass mit Kants Rede von der „Wurzel“ (A 15, B 29) eine solche Frage als philosophisch beantwortbare implizit gestellt ist. 60 Im Anschluss an diese Rede wäre die ‚Wurzelfrage‘ so zu formulieren: Worin besteht die gemeinschaftliche, aber uns unbekannte Wurzel, aus der Sinnlichkeit und Verstand als die beiden Stämme der menschlichen Erkenntnis entspringen? Weiterhin spricht zunächst nichts dagegen zu vermuten, dass sich in der KrV irgendwelche Hinweise zur Beantwortung dieser Frage finden. In der Tat lassen sich einige Bemerkungen Kants als solche Hinweise interpretieren. Problematisch ist aber, dass diese Hinweise so heterogen sind, dass man verschiedene, miteinander nicht verträgliche Lesarten des Wurzelproblems unterscheiden muss, und dass jede Lesart neben ihren Stärken charakteristische Schwächen besitzt. Wie die folgende Diskussion deutlich machen wird 61, ist Heideggers Wurzelthese nur eine von vielen, letztlich nicht haltbaren Varianten, auf das Wurzelproblem zu reagieren. Die Wurzelfrage unterstellt die Existenz von etwas, dem Sinnlichkeit (Rezeptivität) und Verstand (Spontaneität) „entspringen“ und das „uns unbekannt“ ist. Sie lässt sich demnach als Frage nach einer ursprünglichen Einheit von Rezeptivität und Spontaneität interpretieren. Auf eine solche Einheit deutet Kant mit den für uns bloß denkbaren Konzeptionen eines ‚intuitus originarius‘, einer ‚intellektuellen Anschauung‘ (B 68; B 72; B 159) oder eines Verstandes, „der selbst anschauete“ (B 139; B 145), hin. Eine intellektuelle Anschauung oder ein anschauender Verstand würden sich ihre Gegenstände selbsttätig geben. Spontaneität und Rezeptivität fielen für sie zusammen. Die Differenz beider wäre gegenüber dieser absoluten Einheit derivativ und in diesem Sinne eine Differenz zweier Stämme einer
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Zwar versieht Kant seine Rede mit dem hypothetischen Index, dass Sinnlichkeit und Verstand „vielleicht“ aus einer gemeinsamen Wurzel entspringen (A 15, B 29), aber an anderer Stelle spricht er von der „allgemeinen Wurzel unserer Erkenntniskraft“ (A 835, B 863) ohne einen solchen Index. Vgl. Sallis 1981, 1035/8 zu dieser Diskussion.
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ursprünglichen Wurzel. Als diese Wurzel würde dann ein uneingeschränktes, göttliches Erkenntnisvermögen gelten. 62 Das zeigt aber, dass der erste Versuch, das Wurzelproblem zu verstehen, eine gravierende Schwäche hat. Die Wurzel, wäre uns nicht nur unbekannt, sondern unter kritischen Vorzeichen gar nicht als solche ausweisbar. Hier kann ein zweiter Versuch, das Wurzelproblem zu verstehen, ansetzen. Dieser Versuch hat zu berücksichtigen, dass die Wurzel „uns unbekannt“ sein soll, ohne den kritischen Rahmen zu sprengen. Damit scheint sich die Einbildungskraft, die von Kant selbst als „ein Grundvermögen“ bezeichnet wird (A 124), als die gesuchte Wurzel anzubieten und der Weg für Heideggers Wurzelthese frei zu sein. Denn Kants Auffassung nach ist die transzendentale Einbildungskraft innerhalb der kritischen Grenzen konzipierbar. Zugleich ist sie einerseits in dem Sinne „uns unbekannt“, in dem Kant betont, dass ihre Leistungen „selten nur einmal bewußt sind“ und sich „in den Tiefen der menschlichen Seele“ abspielen 63; und sie ist es andererseits, insofern sich Kant sicher sein konnte, mit ihrer Konzeption philosophisches Neuland zu betreten. 64 Doch auch dieser Versuch, das Wurzelproblem zu verstehen, hat eine charakteristische Schwäche. Er fällt insofern wieder hinter den ersten Versuch zurück, als die Anwendung der Wurzelmetaphorik hier als deplaziert gelten muss. Die Einbildungskraft wird von Kant nicht in der subjekttheoretischen Funktion einer Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand, sondern in ihrer erkenntnistheoretischen Funktion von deren Vermittlung als „ein Grundvermögen“ bezeichnet. Kant führt seinen Gedanken eines Grundvermögens ‚Einbildungskraft‘ deshalb so aus: „Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen; weil jene sonst [...] keine Erfahrung geben würde.“ (A 124) Wenn Heidegger diese Überlegung dahingehend zu verstärken sucht, dass die transzendentale Einbildungskraft „nicht nur [...] ursprünglich einigende Mitte, sondern diese Mitte als Wurzel der beiden Stämme“ ist 65, so bleibt dies
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Zu Kants Begriff eines solchen Erkenntnisvermögens vgl. etwa Religionslehre Pölitz, AA 28 (PR 100 ff.). A 78, B 103; A 141, B 180 f. – Heidegger (GA 3, 137) fragt suggestiv: Wenn die transzendentale Einbildungskraft „jene ‚unbekannte gemeinsame Wurzel‘ wäre? Ist es Zufall, dass Kant bei der ersten Einführung der Einbildungskraft von ihr sagt, dass ‚wir uns [ihrer] aber selten nur einmal bewusst sind‘?“ A. Ferrarin kommt in der Konfrontation von Kants Konzeption der Einbildungskraft in der KrV mit ihren ‚angeblichen Vorläufern‘ (er bezieht sich vor allem auf Aristoteles, Descartes, Hobbes und Leibniz) zu dem Schluss, dass „we must recognize the originality of the Kantian definition of imagination. […] Kant integrates the orderliness and necessity of a method into the imagination for the first time.“ (Ferrarin 1995a, 86 f.) Heidegger, GA 3, 196.
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eine bloße Setzung. Für seine immer wieder vorgebrachte „vermeintliche Konsequenz“, so D. Henrich, „daß die Vermittlung nicht sie selbst sein kann, ohne daß das Vermittelte ihr entstammt, läßt sich im Kantbuch keine Begründung finden.“ 66 Auch der zweite Versuch, das Wurzelproblem zu verstehen, muss damit als gescheitert gelten. Vor dem Hintergrund dieser beiden Versuche kann nun als Aufgabe eines dritten gelten, etwas zu suchen, das innerhalb der kritischen Grenzen ausweisbar ist und sich sinnvoll als „Wurzel“ bezeichnen lässt. Einige Bemerkungen Kants legen nahe, die Wurzelfrage als Frage nach der Gattung von Sinnlichkeit und Verstand bzw. von Anschauung und Begriff zu interpretieren. Denn die Wurzel ist in der Wurzelfrage als „gemeinschaftliche“ bestimmt und an einer Stelle der KrV ist von der „allgemeine[n] Wurzel unserer Erkenntniskraft“ die Rede (A 835, B 863; Hvh. v. Verf., M. W.). Der fragliche Begriff der Wurzel qua Allgemeinbegriff wäre dann der des Vorstellungsvermögens bzw. der Vorstellung. Denn für Kant ist „Vorstellung überhaupt“ der Gattungsbegriff, in dessen ‚Gattungsbaum‘ die Stämme, d. h. Unterarten, „Anschauung“ und „Begriff“ vorkommen (A 320, B 376 f.; ohne dortige Hvh.). Diese Argumentationslinie, aber ebenso die Kritik an ihr, hat ihr historisches Vorbild in der Grundkraftdebatte des 18. Jahrhunderts. In dieser Debatte ging es um die Frage, ob die verschiedenen Handlungen, Vermögen und Kräfte der Seele auf eine Grundkraft reduzierbar sind. Wolff machte eine derartige Kraft in der Vorstellungskraft aus. Dagegen wies Crusius darauf hin, dass diese Kraft lediglich aus verschiedenartigen Wirkungen abstrahiert sei, und deshalb nur als ‚Generalkraft‘ gelten könne. Einer Grundkraft dagegen dürften andere Kräfte nicht bloß subsumiert sein, sondern sie müssten aus ihr hergeleitet werden. Crusius selbst lehnte die Annahme einer einzigen Grundkraft ab und vertrat die Auffassung eines Pluralismus von Grundkräften. Kant hat sich diese Position und die Wolffkritik Crusius' zu eigen gemacht: „Vergeblich bemüht man sich, alle Kräfte der Seele, aus Einer herzuleiten; noch viel weniger, daß als Grundkraft die vis repraesentativa universi könnte angenommen werden.“ 67 Kant selbst spricht sich damit gegen den Versuch, das Vorstellungsvermögen als Wurzel zu konzipieren, aus. Außerdem konterkariert dieser Versuch erstens die Metaphorik der Wurzelfrage, weil Sinnlichkeit und Verstand aus der Wurzel „entspringen“ sollen, d. h. abgeleitet werden
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Henrich 1955, 47. Vgl. etwa Heidegger, GA 3, 140, 58. Metaphysik L1, AA 28.262.26/9. – Zur Grundkraftdebatte des 18. Jahrhunderts insgesamt und den entsprechenden Belegen siehe Henrich 1955, 32/9. Dort kommt auch der hier vernachlässigte, aber zentrale Punkt zur Sprache, dass sich die Begriffe der Kraft, der Substanz und damit der Seele von Wolff zu Crusius und Kant verschieben.
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müssten, aber die „niedrigern Begriffe [...], nach dem was sie Verschiedenes haben, von den höheren niemals abgeleitet werden“ können. 68 Und zweitens wäre es unplausibel, das Vorstellungsvermögen als „uns unbekannt“ auszugeben. Da der erste Versuch genau an diesen beiden Punkten – am Entspringen aus der Wurzel und an der Unbekanntheit der Wurzel – ansetzte, beginnt man nun, sich im Kreis zu drehen. Überblickt man die dargelegten Varianten, so zeigt sich, dass jede sich zwar auf bestimmte Anhaltspunkte der KrV stützen kann, aber keine, auch Heideggers Wurzelthese nicht, ohne signifikante Schwächen ist. Die verschiedenen Varianten relativieren sich gegenseitig, da jede von ihnen vergleichbar gut oder schlecht begründet ist. Es scheint also, dass dem Wurzelproblem bei Kant überhaupt kein befriedigender Sinn abzugewinnen ist. Und genau darauf deutete die Diskussion der zuletzt dargelegten Variante im Grunde bereits hin. Kants Position eines Pluralismus der Grundkräfte bietet einer Antwort auf die Frage nach der einen Wurzel keinen Raum. Heideggers Wurzelthese wird dadurch weiter diskreditiert. Denn erstens setzt sie einen solchen Raum voraus. Und zweitens wird nun vollends deutlich, dass sie Kants Hinweis, die Einbildungskraft sei „ein Grundvermögen“ (A 124), nicht für sich verbuchen kann. Kant hat den unbestimmten Artikel ‚ein‘ mit Bedacht gesetzt. Er betont: „Es sind aber drei ursprüngliche Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele), die [...] selbst aus keinem andern Vermögen des Gemüts abgeleitet werden können, nämlich, Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption.“ (A 94; Hvh. modif. v. Verf., M. W.) Damit eröffnet sich eine neue kritische Perspektive auf Heideggers Wurzelthese. In ihr geht es nicht mehr darum, die Wurzelthese durch vergleichbar gut oder schlecht begründete andere Thesen zu relativieren oder aufgrund bestimmter Schwächen zu kritisieren, sondern darum zu zeigen, dass die Wurzelfrage insgesamt vom Standpunkt der KrV überholt ist. Für Kant kann es aus prinzipiellen Gründen keine Antwort auf die Wurzelfrage geben, da unter kritischen Vorzeichen jede Hoffnung auf ihre mögliche Beantwortung schwindet. Denn eine gemeinschaftliche Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand ist aufgrund von Kants erfolgreicher Kritik der Paralogismen unerkennbar und wäre nur für einen nicht-diskursiven Verstand bzw. eine intellektuelle Anschauung, also nicht für uns, zugänglich. 69 Deshalb ist es auch folgerichtig, wenn die „Idee der Grundkraft“ in der KrV nur noch als regulative Idee Sinn macht (A 648 f., B 676 f.). Die Auffassung, von der wir oben ausgingen, dass Kants Rede von der „uns
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Kant, Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, AA 8.181 Anm. Siehe dazu Henrich 1955, 42/4.
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unbekannten Wurzel“ (A 15, B 29) implizit die Wurzelfrage als eine philosophisch beantwortbare Frage stellt, ist also falsch. Das ‚uns unbekannt‘ steht hier für ‚uns prinzipiell unbegreiflich‘ und weist nicht auf ein spekulativ Einzulösendes hin. 70 Damit wird die basale Vorannahme hinfällig, auf die sich Heidegger in seiner Entwicklung der Wurzelthese beruft. Er versucht in seiner Interpretation der KrV auf eine Frage zu antworten, die diese für philosophisch unbeantwortbar hielt. Es bleiben allerdings noch zwei mögliche Auswege. Der erste besteht darin, dass man Heideggers Wurzelthese nicht mehr als These versteht, die zur Interpretation der KrV gehört, sondern die allein vor dem Hintergrund seines eigenen Ansatzes steht. Die Auseinandersetzung mit dieser These und dem Ansatz, zu dem sie gehört, wäre dann eine zwar vielleicht interessante, aber für die Rekonstruktion der KrV und deren Konzeption der Einbildungskraft irrelevante Aufgabe. Attraktiver scheint ein zweiter Ausweg zu sein. Man kann Heidegger so verstehen, dass seine Wurzelthese die Wurzelfrage nicht in dem Sinne, in dem Kant sie als unbeantwortbar erwiesen hat, beantworten soll. Die Wurzelthese wäre dann nicht als Antwort auf die Frage nach der Wurzel qua Grundkraft gedacht. Genau dies trifft offenbar Heideggers Intention. Er erklärt: Die transzendentale Einbildungskraft wird nicht „als ‚Grundkraft‘ in der Seele gedacht werden können. Nichts liegt dem Rückgang in den Wesensursprung der Transzendenz ferner als die monistischempirische Erklärung der übrigen Seelenvermögen aus der Einbildungskraft.“ 71 Sieht man einmal davon ab, dass gar keine empirische, sondern eine metaphysische Erklärung zur Lösung des Grundkraftproblems erforderlich wäre, so wird doch deutlich, dass es nicht dieses Problem ist, als dessen Lösung Heidegger seine Wurzelthese begreift. Dann stellt sich aber die Frage, in Bezug auf welches Problem der KrV die Wurzelthese entwickelt wird. In Heideggers Terminologie handelt es sich um das „Problem der Transzendenz“. 72 Oben zeigte sich bereits, dass Heidegger mit ‚Transzendenz‘ die Grundstruktur der Subjektivität und zugleich das Überschreiten alles Seienden auf Welt hin bezeichnet. 73 Das Problem der Transzendenz hat demnach zwei Facetten. Es betrifft einerseits das Problem der Einheit der Subjektivität und andererseits das
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Vgl. Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: „Verstand und Sinnlichkeit verschwistern sich bei ihrer Ungleichartigkeit doch so von selbst zu Bewirkung unserer Erkenntniß, als wenn eine von der anderen, oder beide von einem gemeinschaftlichen Stamme ihren Ursprung hätten; welches doch nicht sein kann, wenigstens für uns unbegreiflich ist, wie das Ungleichartige aus einer und derselben Wurzel entsprossen sein könne.“ (AA 7.177) Heidegger, GA 3, 139. Ebd., 17. Siehe oben S. 28.
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Problem der Einheit von Selbst und Welt. 74 Der für Kant genuine Ort der Lösung des letzteren Problems ist das Deduktionskapitel. Es ist jedoch oben deutlich geworden, dass Heidegger sich dem Deduktionsproblem letztlich nicht stellt. 75 Das bedeutet, die Wurzelthese wird allenfalls für das erstere Problem, das der Einheit der Subjektivität, aufschlussreich sein können. Anders als beim Grundkraftproblem handelt es sich bei diesem Problem tatsächlich um ein echtes Problem der KrV. Es kann folgendermaßen formuliert werden: Da Kant sich auf eine Vielzahl von Vermögen bzw. Kräften bezieht, die zu einem identischen Subjekt gehören sollen, müssen diese Vermögen bzw. Kräfte in einer Einheit stehen; wie aber ist diese Einheit, sofern sie nicht in einer Grundkraft fundiert sein kann, zu begreifen? Da seine subjekttheoretischen gegenüber seinen erkenntnistheoretischen Interessen zu weit im Hintergrund bleiben, behandelt Kant diese Frage nicht ausdrücklich genug. Umso dringlicher aber wird sie im Rahmen des subjekttheoretischen Interpretationsansatzes Heideggers. Fundamentalontologisch betrachtet ist das Problem der Einheit der Subjektivität das Problem der Einheit der Strukturmomente der Transzendenz. Wenn nun die Argumentation für die Wurzelthese einen Beitrag zur Lösung dieses Problems liefern soll, dann muss sie einen Strukturzusammenhang entfalten, der in der transzendentalen Einbildungskraft verwurzelt ist. Um dabei dem Vorwurf zu entgehen, die transzendentale Einbildungskraft de facto doch als Grundkraft zu konzipieren, reformuliert Heidegger die Wurzelthese. Zuerst heißt es, „die reine Anschauung und das reine Denken [sind] auf die transzendentale Einbildungskraft zurückzuführen“, dann aber ist von der „Rückführung auf die Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft“ die Rede. 76 Der innere Zusammenhang der Grundstruktur der Subjektivität (Transzendenz) soll also selbst in einer Struktur, der Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft, fundiert sein. Was das bedeutet, wird sich ohne vorherige Klärung des Begriffs der Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft nicht verdeutlichen lassen. Die Einbildungskraft ist das Vermögen der Synthesis. Unter Berufung auf Kants Aussage, dass „Synthesis überhaupt [...] die bloße Wirkung der Einbildungskraft“ ist (A 78, B 103), versteht Heidegger jede Synthesis,
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Den ersten Aspekt stellt Henrich 1955, 62 ff., den zweiten Hackenesch 2001, 68 ff., in den Vordergrund. Beide Aspekte hängen darin zusammen, dass für Heidegger die Ausarbeitung der subjektiven Deduktion, die er mit der „transzendentalen Enthüllung des Wesens der Subjektivität des Subjektes“ identifiziert (Heidegger, GA 3, 166), die objektive Deduktion umgreift. Vgl. dazu oben, S. 30, und die dortige Kritik. Siehe oben S. 29 f. Heidegger, GA 3, 138 oben (erstes Zitat), 139 (zweites Zitat; Hvh. v. Verf., M. W.). Zum zweiten Zitat vgl. auch die Formulierungen ebd, 140 u. 138 unten.
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gleich welchen Typs, als alleinige Wirkung der Einbildungskraft. 77 Terminologisch unterscheidet er unter anderem die beiden folgenden Typen von Synthesis: die veritative Synthesis (die Anschauung und Denken vereinigt) und die prädikative Synthesis (die die einigende Einheit des Begriffs in seinem Prädikatcharakter vorstellt). 78 Und im Grunde veranschlagt er auch die von Kant eingeführte „Synopsis des Mannigfaltigen a priori durch den Sinn“ (verstanden als anschauendes Einigen in der reinen Anschauung) als einen Synthesistyp. 79 Heidegger nennt diese Synthesistypen „Synthesisstrukturen“ oder spricht von „strukturalen Synthesen“. 80 Die Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft ist nun diejenige Struktur, die durch die verschiedenen Typen reiner Synthesis konstituiert ist. Damit lässt sich nun der Grundgedanke von Heideggers Argumentation für die Wurzelthese nachvollziehen, d. h. der Grundgedanke seiner Rückführung der reinen Anschauung und des reinen Denkens auf die Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft. Die reine Anschauung und das reine Denken sind für Heidegger im Kern synthetisch, beide sind durch bestimmte Typen reiner Synthesis konstituiert: die reine Anschauung durch die reine Synopsis und das reine Denken durch die reine prädikative Synthesis. Deshalb formuliert er das Problem ihrer Vereinigung, das „Problem der reinen veritativen Synthesis“, so: „wie sieht die ursprüngliche (veritative) ‚Synthesis‘ der reinen Synopsis und der reinen reflektierenden (prädikativen) Synthesis aus?“ 81 Darin, dass die reine veritative Synthesis „solches einigen soll, was in sich schon Synthesisstruktur zeigt“ 82, deutet sich nun der entscheidende Schritt an: Die reine Anschauung und das reine Denken haben „einen wesenhaften strukturalen Bezug“ 83 zur transzendentalen Einbildungskraft, insofern sie durch die Synthesistypen ‚reine Synopsis‘ und ‚reine prädikative Synthesis‘ konstituiert sind, die zur Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft gehören. Aus diesem Grund lassen sie sich auf die Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft zurückführen. Der Grundgedanke von Heideggers Argumentation für die Wurzelthese ist m. E. jedoch in sich fehlerhaft und hat eine fatale Konsequenz. Man könnte Heidegger ohne weiteres zugestehen, dass die reine Anschauung und das reine Denken gewisse Synthesistypen als konstitutive Mo-
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Heidegger GA 3, 63. Siehe Heidegger, GA 3, 29, 60. Siehe ebd., 60. Zu Kants Bestimmung der Synopsis siehe KrV, A 94 u. A 97. Heidegger, GA 3, 63 (vgl. 40) u. 60. Ebd., 60 f. Ebd., 61. Ebd., 137.
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mente besitzen. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht auch solche konstitutive Momente besitzen, die sich nicht als Synthesistypen beschreiben lassen und die deshalb nicht zur Wesensstruktur der transzendentalen Einbildungskraft gehören können. Die reine Anschauung hat ein solches konstitutives Moment aufgrund des Sinns bzw. dessen Formen. Denn die Formen der Anschauung können keine Wirkungen der Einbildungskraft sein, weil deren Synthesis diesen Formen „gemäß“ sein und sie damit voraussetzen muss (vgl. B 160). Ebenso hat das reine Denken aufgrund der reinen Apperzeption ein konstitutives Moment, das sich nicht als Synthesistyp beschreiben lässt. Kant drückt dies an einer Stelle so aus, dass die reine Apperzeption „zu der reinen Einbildungskraft hinzukommen muß, um ihre Funktion intellektuell zu machen.“ (A 124) Wenn demnach das reine Denken erfordert, dass etwas zur reinen Einbildungskraft hinzukommen muss, dann ist es analytisch ausgeschlossen, dieses Hinzukommende zur reinen Einbildungskraft selbst zu zählen. Das bedeutet, es reicht nicht aus, dass gewisse Synthesistypen für die reine Anschauung und das reine Denken konstitutiv sind, um letztere auf die Wesensstruktur der Einbildungskraft zurückzuführen. Denn die reine Anschauung und das reine Denken besitzen auch konstitutive Momente, die sich nicht als Synthesistypen beschreiben lassen. Der Grundgedanke von Heideggers Rückführungsversuch ist also in sich fehlerhaft. Heideggers Interpretation leugnet systematisch, dass Kant epistemische Leistungen vorsieht, die sich nicht als Wirkungen der Einbildungskraft fassen lassen. Für die KrV ist aber nicht nur die Einbildungskraft, sondern auch der Sinn sowie die Apperzeption eine „ursprüngliche“ und damit irreduzible Quelle der Erkenntnis (A 94). Heidegger weitet den Begriff der Einbildungskraft dagegen derart aus, dass deren Struktur alles aufnehmen kann, was Kant an Typen epistemischer Leistungen vorsieht. Sicher steht es ihm frei, eine derartige Ausweitung von Kants Terminologie vorzuschlagen, mit der KrV hat solche Verabsolutierung der Einbildungskraft allerdings nur wenig zu tun. Vor allem aber führt sie in eine unannehmbare Konsequenz: Wenn die Einbildungskraft Heidegger zufolge „zumal ein hinnehmendes (rezeptives) und ein schaffendes (spontanes) ‚Bilden‘“ ist und er behauptet, in „diesem ‚zumal‘ liegt das eigentliche Wesen ihrer Struktur“ 84, dann scheint sie die Rezeptivität der Sinnlichkeit und die Spontaneität des Verstandes von vornherein zu umfassen, statt sie entspringen zu lassen. Dass genau dies Heideggers Position ist, wird in einer Bemerkung seiner Rückführungsargumentation frappierend deutlich: „‚Synthesis‘“, und gemeint ist die Synthesis der transzendentalen Einbildungskraft, „muß hier durchaus so weit gefaßt werden, daß sie die Synop-
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sis der Anschauung und die ‚Synthesis‘ des Verstandes umgreift.“ 85 Auf diese Weise mag Heidegger zwar der Kritik entgehen, die transzendentale Einbildungskraft als Grundkraft konzipiert zu haben, aber nur um den Preis, dass seine Position der Wolffs analog wird: Die transzendentale Einbildungskraft wird zur Generalkraft, zur Gattung von reiner Anschauung und reinem Denken. Als ‚Wurzel‘ lässt sie bzw. ihre Wesensstruktur sich dann aber nicht mehr sinnvoll bezeichnen. Die Kritik am Grundgedanken von Heideggers Argumentation für die Wurzelthese hat zweierlei ergeben. Erstens: Die Rückführung der reinen Anschauung und des reinen Denkens auf die Wesensstruktur der Einbildungskraft scheitert, weil sie ihrem Grundgedanken nach nicht schlüssig ist. Zweitens: Selbst wenn man diese Rückführung als gelungen betrachtete, d. h. in Akzeptanz der Ausweitung des Begriffs der Einbildungskraft, hätte man es lediglich mit der Rückführung auf einen Gattungsbegriff, nicht aber auf eine Wurzel zu tun. Deshalb kann Heideggers Wurzelthese zur Lösung des Problems der Einheit der Subjektivität selbst in diesem Fall nichts beitragen. 86 Auf diese Weise hat sich von mehreren Seiten her und auf verschiedenen Diskussionsebenen gezeigt, dass die Wurzelthese und damit die zentrale These von Heideggers Kantbuch nicht zu halten ist. Trotz aller erforderlichen Kritik an der Kantinterpretation Heideggers halte ich dessen grundsätzliche Position, dass der Einbildungskraft in der KrV eine zentrale Bedeutung zukommt, für richtig. Doch da Heidegger in seinem Bestreben, transparent zu machen, welche Rolle genau die Einbil-
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Ebd., 142. Die m. E. überzeugendste Lösung dieses Problems der KrV hat A. Rosales vorgelegt, indem er Subjektivität bei Kant als organisierte Ganzheit mehrerer gleichursprünglicher Glieder ausweist. Siehe Rosales 2000, 4, 177/91. Eine Konzeption in dieser Richtung hätte eigentlich auch von Heideggers Ansatz her nahegelegen. Denn sein Begriff der Gleichursprünglichkeit erlaubt es, die Einheit einer ontologischen Struktur zu denken, ohne sie auf ein letztes Aufbauelement zurückführen zu müssen. Da Heidegger Kants transzendentale Vermögen als Instanzen interpretiert, die die „Wesensstruktur der ontologischen Transzendenz“ ermöglichen (Heidegger, GA 3, 134), und Kant mit Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption drei irreduzible Quellen mit transzendentalem Gebrauch annimmt (A 94), hätte es nahegelegen, diese Quellen als gleichursprüngliche Strukturmomente der Transzendenz zu interpretieren. Dass dies die Aufgabe der Wurzelthese erzwungen hätte, wäre aufgrund der obigen Kritik an dieser These für Heideggers Interpretation der KrV nur vorteilhaft gewesen. Heidegger hätte sogar trotz der Aufgabe der Wurzelthese versuchen können, an einem seiner Hauptmotive – der Fundierung des Wesens der Subjektivität in der Zeit(lichkeit) – festzuhalten, indem er die drei ursprünglichen Quellen auf die drei zeitlichen Ekstasen hin interpretiert. Dass er dennoch auf der Wurzelthese beharrt, hat m. E. mit einem anderen seiner Hauptmotive zu tun: individuelle Freiheit so zu konzipieren, dass sie nicht durch Rationalitätsstrukturen gebunden ist. (Vgl. dazu Hackenesch 2001, 88/92.) Denn diesem Motiv kommt es entgegen, wenn nichts als die Einbildungskraft Wurzel der Transzendenz und damit der Freiheit wäre (siehe oben S. 28 Anm. 42).
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dungskraft spielt, die für die KrV maßgebliche erkenntnistheoretische Dimension marginalisiert, gar leugnet, und mit der Wurzelthese eine unhaltbare These zum Zentrum seiner Interpretation macht, hat er seiner Sache einen Bärendienst erwiesen. Es ist deshalb nicht überraschend, dass seine Kantinterpretation meist abgelehnt wird. Überraschend ist aber, dass diese Ablehnung die Forschung nicht zu einer umfassenden Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft in der KrV angespornt hat. Es scheint paradoxerweise so, als hätte gerade Heideggers Insistieren auf der Bedeutung der Einbildungskraft das Terrain für den Versuch einer solchen Rekonstruktion verbaut. Jedenfalls muss eine solche Rekonstruktion bis heute als Desiderat der Kantforschung gelten. Denn auch die im Gegensatz zu Heidegger erkenntnistheoretisch ausgerichteten Interpreten der KrV werden der systematischen Bedeutung der Einbildungskraft nicht vollständig gerecht. Im Gegenteil herrscht unter ihnen die Tendenz vor, die Einbildungskraft aus Kants Erkenntnistheorie auszugrenzen. Als für diese Tendenz paradigmatisch kann die Kantinterpretation von P. F. Strawson gelten.
3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft 3.1 Strawson und die ‚dunkle Seite‘ der KrV In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nicht nur der Blick für die in der KrV anvisierte transzendentale Bedeutung der Einbildungskraft durch die damals einflussreichsten Kantdeutungen (Cohen, Heidegger) verstellt, sondern transzendentale Begründungsansprüche geraten insgesamt zunehmend unter Druck. 1 Sie gelten in der Perspektive der frühen analytischen Philosophie als nicht explizierbar oder gleich als inakzeptabel. Wittgenstein weist in seinem Tractatus der „logischen Form“ zwar eine transzendentale Dimension zu, diese Dimension lässt sich seiner Auffassung nach in sinnvoller Rede aber nicht darstellen, sondern kann sich nur in ihr zeigen. 2 Später dann, etwa im logischen Positivismus Carnapscher Prägung oder in der am so genannten ‚common sense‘ orientierten Philosophie Moores, gilt die Erwägung einer transzendentalen Dimension von Erkenntnis schon im Ansatz als verfehlt. 3 Umso bedeutender ist es, dass innerhalb der analytischen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts versucht wurde, eine analytische Rekonstruktion oder Transformation der Kantischen Transzendentalphilosophie durchzuführen. Der wichtigste Autor dieser Entwicklung ist P. F. Strawson, der mit Individuals (1959) und seiner Kantinterpretation The Bounds of Sense (1966) das begründet und maßgeblich beeinflusst hat, was man ‚Analytische Transzendentalphilosophie‘ nennen kann. Auch wenn das so bezeichnete Feld relativ heterogen ist und keine scharfen Grenzen hat, lässt es sich durch einige Grundzüge kennzeichnen 4: Die analytische Transzendentalphilosophie untersucht die Logik und Struktur sowie das antiskeptische und antirelativistische Potential so genannter ‚transzendentaler Argumente‘, versucht transzendentale Argumentationsstrategien innerhalb der analytischen Philosophie fruchtbar zu machen
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Auf die Phänomenologie E. Husserls, die im 20. Jahrhundert einen erneuten Anlauf zur Formulierung einer Transzendentalphilosophie unternimmt, werde ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingehen. Über Husserls Verhältnis zu Kant siehe Kern 1964 und zu Husserls Theorie der Imagination siehe Volonté 1997. Zur ‚Transzendentalphilosophie‘ des Tractatus und den entsprechenden Belegen siehe Stenius 1969, 279 ff. Vgl. Grundmann 1994, 11 f. Vgl. ebd., 19/21.
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und grenzt sich in methodischer Hinsicht gegenüber bestimmten Positionen Kants ab. 5 Vor allem dieser letzte Punkt ist hier von Bedeutung. Denn zu den Theorieelementen der KrV, die von der analytischen Transzendentalphilosophie und insbesondere von Strawson abgelehnt werden, gehört auch Kants Konzeption der Einbildungskraft. Im Unterschied zu Heideggers subjekttheoretischer Verabsolutierung der Einbildungskraft und ähnlich wie schon für Cohen ist für die analytisch geprägte Renaissance der Transzendentalphilosophie also eine Ausgrenzung der Einbildungskraft kennzeichnend. Bei Strawson steht diese Ausgrenzung vor dem Hintergrund der allgemeinen Einschätzung, dass die KrV insgesamt eine doppelgesichtige Theorie präsentiert, von deren ‚dunkler Seite‘ in der Rekonstruktion ihres analytischen Gehalts abstrahiert werden kann und muss. In dem „Two faces of the Critique“ betitelten Eingangsabschnitt von The Bounds Of Sense erläutert Strawson zunächst, dass Kants Projekt in „the investigation of the set of ideas which forms the limiting framework of all our thought about the world and experience of the world“ besteht bzw. eine Erforschung der Grenzen dessen beabsichtigt, „what we can conceive of, or make intelligible to ourselves, as a possible general structure of experience.“ 6 In der Beurteilung von Kants Durchführung dieses Projekts, so Strawsons zentrale Interpretationshypothese, müssen zwei Stränge oder Seiten der KrV unterschieden werden. Auf der einen Seite liefere Kant genügend Anhaltspunkte für ein haltbares „analytical argument“, das die Grenzziehung zwischen kontingenten und bestimmten a priori notwendigen Zügen des Begriffssystems der Erfahrung begründet. Auf der anderen Seite greife Kant in der Durchführung seines Projekts jedoch auf Theorieelemente zurück, die einer Rekonstruktion dieses analytischen Arguments im Wege stehen, letztlich weil sie inkohärent sind. Eine auf den Wahrheitsgehalt der KrV hin orientierte Interpretation sei deshalb nur unter der Bedingung möglich, dass diese Theorieelemente ausgegrenzt werden. Als Kriterium für die Legitimität und Kohärenz von Theorieelementen und Konzepten der KrV fungiert bei Strawson ein Grundsatz, den er „Kant’s principle of significance“ nennt. Dieser Grundsatz besagt, „that there can be no legitimate, or even meaningful, employment of ideas or
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Auf die verschiedenen Positionen und Probleme analytischer Transzendentalphilosophie kann hier nicht eingegangen werden, zumal dazu mit Aschenberg 1982, Niquet 1991 und Grundmann 1994 ausführliche Untersuchungen bereits vorliegen. Diese Arbeiten kommen trotz ihrer verschiedenen Ausrichtung darin überein, dass der Anspruch der analytischen Transzendentalphilosophie nicht erfüllt wurde. Niquet geht sogar weiter und behauptet im Anschluss an Davidsons On the Very Idea of a Conceptual Scheme (1974), dass (kategorial-) transzendentale Sinnkritik nicht möglich ist (Niquet 1991, 561/5, 569 ff.). Siehe dagegen jedoch Grundmann 1994, 352 Anm. 42. Strawson 1966, 15.
3.1 Strawson und die ‚dunkle Seite‘ der KrV
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concepts which does not relate them to empirical or experiential conditions of their application.“ 7 Demnach ist ein Gebrauch von Begriffen, der nicht erfahrungsbezogen ist, nicht nur illegitim, d. h. er kann keine Geltung beanspruchen, sondern es gehört sogar zu den Sinnbedingungen der Begriffsverwendung, dass Begriffe empirische Anwendungsbedingungen besitzen. 8 Strawson hebt zunächst hervor, dass das ‚principle of significance‘ für Kant „a major instrument“ sei, um die Erkenntnisansprüche, die die Philosophie legitimerweise erheben kann, zu begrenzen. 9 Denn eine Folgerung aus dem Prinzip sei die völlige Zurückweisung einer transzendenten Metaphysik, weil die zentralen Begriffe einer derartigen Metaphysik nach dem Maßstab des Prinzips inkohärent sind bzw. keine empirischen Anwendungsbedingungen haben. Von großer Bedeutung ist nun, dass Strawson das ‚principle of significance‘ nicht einfach nur zur Erläuterung des destruktiven Aspekts der KrV – der Zurückweisung transzendenter Erkenntnisansprüche –, sondern auch zur Kritik ihres konstruktiven Aspekts – der Sicherung unserer berechtigten Erkenntnisansprüche – verwendet. Er wendet „Kant’s principle of significance“ also gegen die Formulierung von dessen eigener Erkenntnistheorie. Im Einzelnen argumentiert er dafür, dass so fundamentale Konzepte dieser Theorie wie ‚Synthesis‘, ‚Mannigfaltiges‘ und das Konzept der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich selbst keine empirischen Anwendungsbedingungen besitzen. Demzufolge sind Kants Synthesislehre und sein transzendentaler Idealismus nach dem Maßstab seines eigenen Sinnprinzips inkohärent. Kant greife in seinem Argument dafür, dass der Bereich möglicher Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung eingegrenzt ist, auf Lehren zurück, deren Sätze innerhalb dieser Grenze keine Berechtigung haben, und überschreite damit von vornherein die Grenze, die er zu ziehen vorgibt. 10 In der Einführung dieser Arbeit ist erläutert worden, dass es für jede argumentative Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft in der KrV unverzichtbar ist, den Einwänden gegen diese Konzeption zu begegnen. Strawson hat vor dem Hintergrund des ‚principle of significance‘ einen der schwerwiegendsten Einwände gegen Kants Synthesislehre formuliert. Dieser Einwand, den ich im Fol-
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Ebd., 16. Strawson bringt diesen Punkt auch in einer alternativen Formulierung des ‚principle of significance‘ zum Ausdruck: es sei „the principle that we can make no significant use of concepts in propositions claiming to express knowledge unless we have empirical criteria for the application of those concepts“ (ebd., 241). Ebd., 16. Vgl. ebd., 12: Kant „seeks to draw the bounds of sense from a point outside them, a point which, if they are rightly drawn, cannot exist.“
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
genden den ‚Inkohärenzeinwand‘ nenne, besagt, dass die grundlegenden Begriffe von Kants Synthesislehre, ‚Mannigfaltiges‘ und ‚Synthesis‘, dem ‚principle of significance‘ zufolge illegitim bzw. inkohärent und damit unbegründet sind. Die Bedeutung Strawsons für die hier angestrebte Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft erschöpft sich jedoch nicht in dem Inkohärenzeinwand. Seine Kritik an Kants Synthesislehre ist so vielfältig, dass sie nahezu alle Einwände umfasst, denen diese Lehre auch heute noch ausgesetzt ist. Er hat diese Einwände zwar nicht als erster formuliert, ihnen aber eine bis heute wirkungsmächtige und gewissermaßen kanonische Gestalt gegeben. Es bietet sich deshalb an, die Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen Kants Synthesislehre anhand von Strawsons Kritik an dieser Lehre zu führen. Als der berühmteste und schon vor Strawson häufig erhobene Einwand gegen Kants Synthesislehre kann der so genannte ‚Psychologismuseinwand‘ gelten. Er besagt, dass Kants Rückgriff auf die Synthesislehre in seinem Deduktionsargument verfehlt ist, weil es in diesem Argument um Gründe der Möglichkeit der Erfahrung geht, Synthesen aber allenfalls als Ursachen bzw. Entstehungsbedingungen der Erfahrung in Frage kommen. Bei Strawson liest sich dieser Einwand so, dass die Transzendentale Deduktion, soweit sie auf die Synthesislehre rekurriert, „an essay in the imaginary subject of transcendental psychology“ sei, in dem es nur um „a description of the transcendental workings, whereby experience is produced“, geht. 11 Strawson glaubt deshalb, die Synthesislehre müsse aus der Rekonstruktion der Transzendentalen Deduktion ausgegrenzt werden. Mit anderen Worten, er hält Kants Konzeption der Einbildungskraft für erkenntnistheoretisch irrelevant. Zu den Theorieelementen der KrV, die Strawson vollständig ablehnt, gehört nicht nur Kants Synthesislehre, sondern, wie schon erwähnt, auch dessen transzendentaler Idealismus. Zwar muss im Folgenden die Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Synthesislehre im Vordergrund stehen; diese Auseinandersetzung erfordert es jedoch, auch auf den transzendentalen Idealismus einzugehen, weil einige von Strawsons Einwänden gegen die Synthesislehre von seiner Auffassung des transzendentalen Idealismus abhängig sind. Bei Strawson lassen sich zwei solcher Einwände unterscheiden: Der erste, den ich als ‚Irrealitätseinwand‘ bezeichne, behauptet, dass unsere Erkenntnis Kant zufolge nicht realitätsbezogen ist, und der zweite, den ich ‚Konstitutionstheorie-Einwand‘ nenne, unterstellt Kant die fragwürdige These, dass das Gemüt die Natur produziert.
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Ebd., 32, 88; vgl. ebd., 97.
3.2 Der Irrealitätseinwand
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Im vorliegenden Kapitel setze ich mich zuerst mit dem Irrealitätseinwand, dann mit dem Konstitutionstheorie-Einwand und schließlich mit dem Inkohärenzeinwand gegen Kants Synthesislehre auseinander. Den Psychologismuseinwand behandle ich erst am Ende des nächsten Kapitels, weil die eingehende Auseinandersetzung mit ihm erst vor dem Hintergrund einer genauen Verständigung über Projekt und Methode von Kants Kategoriendeduktion möglich ist. – Ich halte jeden der vier Einwände gegen Kants Synthesislehre für stark und glaube, dass sich für jeden von ihnen Anhaltspunkte in der KrV finden. Dennoch treffen die Einwände meiner Auffassung nach nicht das Zentrum von Kants Synthesislehre. Die Auseinandersetzung mit ihnen soll dabei helfen, dieses Zentrum kenntlich zu machen, und näherhin dem Ziel dienen, ein sowohl dem Text der KrV angemessenes als auch für die Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft tragfähiges und sachlich aufschlussreiches Verständnis seiner Synthesislehre zu gewinnen.
3.2 Der Irrealitätseinwand Strawson unterstellt Kant die unattraktive erkenntnistheoretische These, dass unsere Erkenntnis nicht realitätsbezogen sei. Sein Irrealitätseinwand besagt, Kant vertrete vor dem Hintergrund seiner Lehre des transzendentalen Idealismus das „senseless dogma that our conceptual scheme corresponds at no point with Reality“. 12 Denn diese Lehre besage „not merely that we can have no knowledge of a supersensible reality“, sondern „that reality is supersensible and we can have no knowledge of it.“ 13 Wenn Realität übersinnlich ist und wir keine Erkenntnis von ihr haben können, dann können unsere Begriffe ihr nicht korrespondieren. Für Strawson ist ‚Erscheinung‘ ein Gegenbegriff zu ‚Realität‘. 14 Deshalb schließe Kants transzendentaler Idealismus „according to which the whole world of Nature is merely appearance“ 15 einen „phenomenalistic idealism“ ein, demzufolge „physical things are nothing apart from our perceptions“ 16. Physikalische Gegenstände sind demnach bloßintentionale, aber keine realen, bzw. bewusstseinsimmanente, aber keine bewusstseinsunabhängigen Korrelate von Wahrnehmungen. Zugespitzt,
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Strawson 1966, 42. Ebd., 38. Siehe z. B. ebd., 250. Ebd., 21. Ebd., 245; vgl. ebd., 237.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
bedeutet dies: „Really, nothing comes within the scope of our experience but those subjective perceptions themselves.“ 17 Der Irrealitätseinwand wendet sich offenbar nicht speziell gegen Kants Synthesislehre, sondern richtet sich allgemein gegen dessen Erkenntnistheorie. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass insbesondere die Synthesislehre von ihm betroffen ist. Denn er hat zur Konsequenz, dass die Synthesis der Einbildungskraft, die Kant zufolge für die Möglichkeit unserer Erfahrung konstitutiv ist, sich immer nur auf subjektive Entitäten, nicht aber auf extramental Reales bezieht. Eine argumentative Rekonstruktion der erkenntnistheoretischen Konzeption der Einbildungskraft in der KrV bliebe prinzipiell zwar auch dann möglich, wenn Kant die Behauptung vertreten würde, dass unsere Erkenntnis nicht realitätsbezogen ist; ihre Aufschlusskraft wäre aber von vornherein begrenzt, weil diese Behauptung insofern unplausibel ist, als sie nicht dem intuitiven Gehalt dessen Rechnung trägt, was unser Erkennen leistet. Da Kants Erkenntnistheorie m. E. jedoch darauf beharrt, und zwar zu Recht darauf beharrt, dass unsere Erkenntnis und speziell die Synthesis der Einbildungskraft realitätsbezogen sind, beabsichtige ich, den Irrealitätseinwand zurückzuweisen. Strawsons Auffassung der transzendentalen Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich selbst besteht im Kern darin, dass die Dinge, die Kant ‚Erscheinungen‘ nennt, zwar erkennbare, aber keine realen Gegenstände sind, während Dinge an sich selbst zwar reale, aber keine erkennbaren Gegenstände sind. Vor dem Hintergrund dieser Auffassung können zwei Aspekte des Irrealitätseinwandes unterschieden werden: Insofern unser Begriffssystem den Erscheinungen korrespondiert, korrespondiert es nicht der Realität, weil Erscheinungen keine realen Gegenstände sind; und insofern Realität übersinnlich ist, korrespondiert unser Begriffssystem ebenfalls nicht der Realität, weil wir keine Erkenntnis von ihr haben können. In der Auseinandersetzung mit dem Einwand werde ich so weit wie möglich von der komplexen Debatte um Kants transzendentalen Idealismus absehen 18 und mich auf Kants Realitätskonzeption konzentrieren.
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Ebd., 91. Strawsons Auffassung des transzendentalen Idealismus, die sowohl von Strawson gegenüber kritischen Autoren (siehe Matthews 1982, 133) als auch von Strawson folgenden Autoren (siehe Wilkerson 1976, 181 f.) auf die Formel „phänomenalistischer Idealismus plus Noumenalismus“ gebracht wird, gilt als ‚Zwei-Welten-Interpretation‘ der Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich selbst. Demgegenüber haben vor allem G. Prauss (1971 u. 1974) sowie H. E. Allison (1983 u. 1996) eine ‚Zwei-AspekteInterpretation‘ dieser Unterscheidung entwickelt. Zur Debatte um diese Interpretationen und für weitere Literaturhinweise siehe Willaschek 2001.
3.2 Der Irrealitätseinwand
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Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Kant in der Tat einen Begriff von Realität kennt, demzufolge Realität übersinnlich ist. Realität in diesem Sinne könnte nicht sinnlich, sondern nur intellektuell vorgestellt werden. Der Begriff von „Realität“, die „nur durch den reinen Verstand vorgestellt wird“, ist der einer „realitas noumenon“ (A 264, B 320), der Begriff „reiner und sinnenfreier Realität“ (A 282 Anm., B 338 Anm.). Dass unsere Begriffe einer solchen Realität nicht korrespondieren, ihr gar nicht korrespondieren können, ist genau Kants These. Diese These ist aber keineswegs ein „senseless dogma“, sondern artikuliert die auch von Strawson geteilte Auffassung, dass eine transzendente Metaphysik unmöglich ist. 19 Der entscheidende Punkt ist aber nicht, dass die Auffassung, „that our conceptual scheme corresponds at no point with Reality“, in Hinblick auf die realitas noumenon unstrittig ist, sondern dass es falsch ist, Kant diese Auffassung allgemein zuzuschreiben. Von der „realitas noumenon“ unterscheidet Kant die „realitas phaenomenon“ und versteht darunter „das Reale in der Erscheinung“ (A 264 f., B 320), das er auch als „Realität in der Erscheinung“ (A 168, B 210) bezeichnet. 20 Dieses Reale aber ist Kant zufolge das in der Erscheinung, was der Empfindung entspricht oder korrespondiert. So sagt Kant beispielsweise im Grundsatz der Antizipationen der Wahrnehmung: „In allen Erscheinungen hat [...] das Reale, welches ihr [der Empfindung] an dem Gegenstande entspricht, (realitas phaenomenon) eine intensive Größe, d. i. einen Grad.“ 21 Zur Erscheinung selbst gehört also etwas Reales. Kants Position, dass in der Erscheinung Reales ist, läuft einer subjektivistischen Auffassung seines transzendentalen Erscheinungsbegriffs zuwider. Dieser Auffassung nach sind Erscheinungen bloß subjektive Gegenstände, d. h. in ihnen ist nicht das, was den Empfindungen korrespondiert, sondern in ihnen sind die Empfindungen selbst enthalten. Auf diese Weise werden Erscheinungen aber mit empirischen Anschauungen verwechselt. Denn allenfalls diese lassen sich als bloß subjektive Gegenstände im Sinne bloß mentaler Phänomene verstehen und nur sie „enthalten“ Empfindungen (A 50, B 74). Die Erscheinung jedoch ist ihrer Ausgangsdefinition nach von der empirischen Anschauung zu unterscheiden, weil sie als der „unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“
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Vgl. Strawson 1966, 17. Zu Kants Unterscheidung zwischen realitas phaenomenon und realitas noumenon siehe auch R 4817 (1775/6), AA 17.737 und Einige Bemerkungen zu Ludwig Heinrich Jakob’s Prüfung der Mendelssohn’schen Morgenstunden (1786), AA 8.154. A 166; ohne dortige Hvh. – In diesem Zitat habe ich an der gekennzeichneten Stelle die Worte „die Empfindung, und“ ausgelassen, weil sie Kant m. E. veranlasst haben, den Grundsatz in der B-Ausgabe der KrV zu reformulieren. Dort heißt es: „In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, d. i. einen Grad.“ (B 207; ohne dortige Hvh.)
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
gilt (A 20, B 34). 22 In welchem Sinn dieser Gegenstand ‚unbestimmt‘ ist, kann vorerst offen bleiben; zunächst kommt es nur darauf an, dass er kein bloß subjektiver Gegenstand ist, weil die Materie der Erscheinung nicht mit Empfindungen identisch ist, sondern mit dem, was diesen korrespondiert. Kant erklärt: „In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben“ (ebd.). Und später führt er aus, dass die „Materie (das Physische)“ der Erscheinung „ein Etwas bedeutet, das im Raume und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Dasein enthält und der Empfindung korrespondiert.“ (A 723, B 751) Als das der Empfindung Korrespondierende ist die Materie der Erscheinung also mit dem zu identifizieren, was Kant das ‚Reale‘ bzw. ‚Realität‘ in der Erscheinung oder ‚realitas phaenomenon‘ nennt. Allerdings ist einzuräumen, dass Kant die realitas phaenomenon nicht nur als das in der Erscheinung, sondern an einigen Stellen auch als das in der empirischen Anschauung bezeichnet, was der Empfindung korrespondiert. „Was nun in der empirischen Anschauung der Empfindung korrespondiert, ist Realität (realitas phaenomenon)“ (A 168, B 209). Ich verstehe diese Aussage so, dass ‚Anschauung‘ hier für das Angeschaute, also die Erscheinung steht. Auf dieselbe Weise ist m. E. auch Kants Rede vom „Realen in der sinnlichen Anschauung“ zu interpretieren (A 172, B 214). 23 Das Reale der empirischen bzw. sinnlichen Anschauung ist das Reale des Angeschauten, d. h. der Erscheinung. So verstanden revidieren diese Stellen nicht die Position, dass realitas phaenomenon das in der Erscheinung ist, was der Empfindung korrespondiert, sondern bestätigen sie. Von besonderer Bedeutung ist nun, dass Kant die realitas phaenomenon als extramentale Realität auffasst. Indem er „die Realität in der Erscheinung [...] als Ursache [...] der Empfindung [...] betrachtet“ (A 168, B 210), spricht er ihr eine von der Empfindung unabhängige Existenz und in diesem Sinn extramentale Realität zu. 24 Kants Rede vom Realen bzw. der Realität in der Erscheinung hat also die Konsequenz, dass sich unsere Begriffe, sofern sie sich auf Erscheinungen beziehen, auf etwas extramental Reales bzw. auf extramentale Realität beziehen. Unsere Begriffe korrespondieren dieser Realität insofern als sie Reales in der Erscheinung mittels Synthesis als Momente von realen empirischen Objekten oder
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Vgl. auch Kants Formulierung eines der Resultate der Transzendentalen Ästhetik: „Wir haben also sagen wollen: daß alle unsre Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei [...]“ (A 42, B 59). Vgl. auch Proleg, A 91 (AA 4.306) u. Metaphysische Anfangsgründe, AA 4.481. – Ähnlich ist m. E. auch Kants Aussage „sensatio [est] realitas phaenomenon“ (KrV, A 146, B 186; ohne dortige Hvh.) zu verstehen: Was sie als ‚realitas phaenomenon‘ bezeichnet, ist sensatio qua sensum. Vgl. dazu bereits Vaihinger 1892, 57.
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand
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objektiven Prozessen bestimmen. Auch wenn sich dieser letzte Punkt erst im Verlauf der Arbeit verdeutlichen lassen wird, ist bereits hier klar, dass Kant die im Irrealitätseinwand als „senseless dogma“ bezeichnete Position, „that our conceptual scheme corresponds at no point with Reality“, gar nicht vertritt, sofern ‚Reality‘ als realitas phaenomenon verstanden wird. Und das bedeutet, dass sich daraus auch kein Einwand gegen seine Synthesislehre konstruieren lässt. Mit der dargelegten Interpretation, dass die Materie der Erscheinung als extramental Reales zu verstehen ist, möchte ich nicht behaupten, dass sich Kants transzendentaler Erscheinungsbegriff durchgängig so verstehen lässt, sondern dass diese Auffassung unausweichlich ist, wenn Kant den Irrealitätseinwand abweisen und seinen empirischen Realismus, demzufolge „unseren äußeren Anschauungen etwas Wirkliches im Raume“ „korrespondiert“ (A 375), bewahren will. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Kant selbst auch einer subjektivistischen Auffassung von ‚Erscheinung‘ Vorschub leistet. Es gibt beispielsweise eine Reihe von Stellen, an denen er Erscheinungen als Vorstellungen oder „bloße Vorstellungen“ versteht. 25 Diese Stellen lassen zwar meist genug Deutungsspielraum, um Erscheinungen als Vorstellungen im Sinne anschaulich vorgestellter Gegenstände zu interpretieren. 26 An anderen Stellen scheint es aber unvermeidlich, ‚Erscheinung‘ subjektivistisch zu verstehen. Das gilt beispielsweise für Kants Aussagen, dass Erscheinungen „nur in unserer Sinnlichkeit“ „existieren“ (A 127), „eine bloße Modifikation unserer Sinnlichkeit“ sind (A 129), oder dem „Subjekt [...] inhärieren“ (B 164). Diese Aussagen sind mit der dargelegten Interpretation, dass die Materie der Erscheinung als extramental Reales zu verstehen ist, unvereinbar. Da ich jedoch unabhängig von dieser Interpretation keine Möglichkeit sehe, wie Kant dem Irrealitätseinwand begegnen und seinen empirischen Realismus aufrechterhalten kann, halte ich es in Hinblick auf die Rekonstruktion für erforderlich, seine Ansätze zu einer subjektivistischen Konzeption von Erscheinung aufzugeben.
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand Der Konstitutionstheorie-Einwand schreibt Kant die Auffassung zu, dass das Gemüt die Natur macht oder produziert, und weist diese Auffassung als inakzeptabel zurück.
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Eine Übersicht über solche Stellen findet sich bei Robinson 1994, 419. Siehe diesbezüglich etwa Allisons (1996, 12/4) Interpretation von Kants Definition des transzendentalen Idealismus (A 490 f., B 518 f.).
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
„The doctrines of transcendental idealism, and the associated picture of the receiving and ordering apparatus of the mind producing Nature as we know it out of the unknowable reality of things as they are in themselves, are undoubtedly the chief obstacles to a sympathetic understanding of the Critique.“ 27
Während der Psychologismuseinwand lediglich behaupten wird, Kants „transcendental subjectivism“ sei irrelevant für die Untersuchung der grundlegenden Züge jeder Konzeption von Erfahrung, die wir uns einsichtig machen können, stellt sich dieser Subjektivismus in Zusammenhang mit dem transzendentalen Idealismus sogar als eine absurde Konzeption dar – als „the theory of the mind making Nature“ 28. Liest man die KrV als Theorie der Naturproduktion durch das Gemüt, so wird man Kants Rede von Synthesis als einen wichtigen Bestandteil dieser Theorie auffassen müssen. Deshalb ist auch der Konstitutionstheorie-Einwand insbesondere als ein Einwand gegen Kants Synthesislehre zu verstehen. Er lehnt die Annahme einer natur- oder gegenstandskonstitutiven Synthesis der Einbildungskraft ab. Es mag vielleicht irritierend sein, Kant als Vertreter einer „theory of the mind making Nature“ kritisiert zu sehen. Gleichwohl wird zu sehen sein, dass der Einwand tatsächlich einige Thesen betrifft, die für Kant zentral sind. Da ich eine Verteidigung dieser Thesen nicht für möglich halte, werde ich dem Einwand im Wesentlichen sogar Recht geben. Für die hier angestrebte argumentative Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft ergibt sich daraus die Konsequenz, von einer Interpretation dieser Konzeption abzusehen, in der die Synthesis der Einbildungskraft als natur- oder gegenstandskonstitutiv gilt. Da eine Kritik an Kant als Vertreter einer „theory of the mind making Nature“, wie gesagt, irritierend sein mag, ist der Einwand zunächst zu präzisieren. Kant vertritt in den Prolegomena die Thesen, dass „Natur in materieller Bedeutung [...] als der Inbegriff der Erscheinungen [...] vermittelst der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit“ möglich ist und dass „Natur in formeller Bedeutung, als der Inbegriff der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, [...] nur möglich [ist] vermittelst der Beschaffenheit unseres Verstandes“. 29 Wenn Natur in der jeweiligen Bedeutung erst durch die Beschaffenheit des Gemüts möglich ist, dann scheint das Gemüt die Natur in gewissem Sinne zu machen. Dieses Machen betrifft allerdings nicht das Dasein der Gegenstände der Natur. Dass wir die Naturgegenstände Kant zufolge nicht ihrem Dasein nach machen, lässt sich relativ leicht belegen. Im Deduktionskapitel der KrV
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Strawson 1966, 22. Ebd. Proleg, A 110 (AA 4.318); ohne dortige Hvh.
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand
53
vertritt Kant die erkenntnistheoretische These, dass es Vorstellungen gibt, die Gegenstände möglich machen. Darauf, wie diese These positiv zu verstehen ist, werde ich später eingehen; im Augenblick kommt es nur darauf an, wie sie Kant zufolge nicht verstanden werden darf. Sie bedeutet nicht, dass die Vorstellung „ihren Gegenstand dem Dasein nach [...] hervorbringt“; denn von Zweckvorstellungen bzw. der „Kausalität [von Vorstellungen], vermittelst des Willens, ist hier gar nicht die Rede“ (A 92, B 125). Mit der These, Kant vertrete eine „theory of the mind making Nature“, darf ihm also kein subjektiver Idealismus unterstellt werden. Für das Verständnis von Kants Konzeption der Einbildungskraft bedeutet das, dass deren transzendentale Synthesis nicht als eine für die Gegenstände dem Dasein nach konstitutive Synthesis zu interpretieren ist. Die These, dass wir in irgendeinem Sinn die Natur machen, wird sich also allenfalls auf formale Aspekte der Natur beziehen lassen. Liest man nun Strawsons Rede von Kants „theory of the mind making Nature“ in ihrem Kontext, so wird deutlich, dass im Zentrum des Konstitutionstheorie-Einwandes der Angriff auf Kants so genannte ‚kopernikanische Wende‘ steht: „[T]he very possibility of knowledge of necessary features of experience is seen by him [Kant] as dependent upon his transcendental subjectivism, the theory of the mind making Nature. This indeed is the essence of the ‚Copernican Revolution‘ which he proudly announced as the key to a reformed and scientific metaphysics. It is only because objects of experience must conform to the constitution of our minds that we can have the sort of a priori knowledge of the nature of experience which is demonstrated, in outline, in the Critique itself.“ 30
Der Konstitutionstheorie-Einwand soll also die ‚Essenz‘, den Grundgedanken von Kants kopernikanischer Wende betreffen. Auch in M. Hossenfelders Arbeit Kants Konstitutionstheorie und die Transzendentale Deduktion wird Kant als „Ergebnis seiner ‚kopernikanischen Wendung‘“ eine „Theorie der Konstitution der Gegenstände durch das erkennende Subjekt“ zugeschrieben, die dann als der „schwächste Punkt der Kantischen Lehre“ bezeichnet wird. 31 Die Auseinandersetzung mit dem Konstitutionstheorie-Einwand wird sich also auf den Grundgedanken der kopernikanischen Wende konzentrieren müssen. Kant zufolge ist es unmöglich zu zeigen, wie wissenschaftliche Metaphysik bzw. wie synthetische Urteile a priori möglich sind, wenn man die im Empirismus gängige Annahme vertritt, „alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten“ (B XVI). Vor diesem Hintergrund, und dies ist der Grundgedanke der kopernikanischen Wende, nimmt Kant umgekehrt an, „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis rich-
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Strawson 1966, 22 f. Hossenfelder 1978, 5.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
ten“ (ebd.). Näherhin stellt er in diesem Zusammenhang zwei Behauptungen auf: Erstens muss sich jeder „Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens“ richten (B XVII), d. h. nach dem, was Kant als die Form unserer Anschauung bzw. die Form unserer Sinnlichkeit versteht (vgl. A 267, B 323; A 23, B 37 f.). Und zweitens müssen sich „alle Gegenstände der Erfahrung“ nach Regeln a priori des Verstandes bzw. nach „Begriffen a priori“, die diese Regeln ausdrücken, „richten“ (B XVII f.). Strawson zieht diese beiden Behauptungen in der oben zitierten Passage in einer zusammen – „objects of experience must conform to the constitution of our minds“ – und fasst sie offenbar so auf, dass die Gegenstände und ihre Beziehungen in formaler Hinsicht durch das erkennende Subjekt hervorgebracht werden, d. h. als Behauptungen einer „theory of the mind making Nature“. Sein Konstitutionstheorie-Einwand besagt dann: Kants Begründung der Möglichkeit apriorischen Wissens von notwendigen Merkmalen der Erfahrung im Rekurs auf den Grundgedanken der kopernikanischen Wende, und das heißt für Strawson auf eine Theorie der Naturproduktion durch das Gemüt, ist inakzeptabel. Im Folgenden wird sich zeigen, dass Kant in Zusammenhang mit seiner kopernikanischen Wende in der Tat Thesen vertritt, die sich als Elemente einer Theorie der Naturproduktion durch das Gemüt verstehen lassen. Außerdem wird sich zeigen, dass Kant keine stichhaltige Begründung dieser Thesen vorlegt. So betrachtet, besteht der Konstitutionstheorie-Einwand zu Recht. Im Rahmen des hier verfolgten Rekonstruktionsvorhabens wird dies negative Konsequenzen für ein bestimmtes Verständnis von Einbildungskraft haben: Abzulehnen ist eine Konzeption der Einbildungskraft, derzufolge deren transzendentale Synthesis nicht nur die Erfahrung von Gegenständen und von Natur, sondern die Gegenstände und die Natur selbst in gewissen formalen Grundzügen erzeugt bzw. konstituiert. Allerdings wird sich weiterhin zeigen, dass der Grundgedanke der kopernikanischen Wende nicht insgesamt aufgegeben werden muss. Denn Kant spezifiziert diesen Gedanken auch auf eine Weise, in der er unabhängig von einer Theorie der Naturproduktion durch das Gemüt ist. Anhand dieser Spezifikation wird sich erstmals dasjenige Verständnis der Einbildungskraft umreißen lassen, das für die hier angestrebte argumentative Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft zentral sein wird. Der Grundgedanke der kopernikanischen Wende besteht, wie gesagt, darin, dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten müssen. Ich möchte zunächst diejenige Lesart dieses Gedankens diskutieren, die dem Konstitutionstheorie-Einwand ausgesetzt ist.
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand
55
(a) Die Gegenstände müssen sich insofern nach unserer Erkenntnis richten, als ihre räumlich-zeitliche und kategoriale Grundbeschaffenheit bloß subjektiven Ursprungs ist bzw. vom erkennenden Subjekt erzeugt wird. Zuerst werde ich denjenigen Bestandteil dieser Lesart in den Vordergrund stellen, der die Räumlich-/Zeitlichkeit der Gegenstände betrifft, mich dabei aber auf den ‚Raum‘ konzentrieren, weil Entsprechendes auch für die ‚Zeit‘ gilt. Anschließend gehe ich auf den anderen, die Kategorialität der Gegenstände betreffenden Bestandteil dieser Lesart ein. Kant zufolge fungiert der Raum als eine Bedingung a priori der Möglichkeit äußerer Erfahrung. Diese Bedingung kann so formuliert werden, dass Gegenstände, die als verschieden von einem selbst und seinen Zuständen erfahren werden können, d. h. Gegenstände äußerer Erfahrung, räumliche Charakteristika haben müssen. Ich halte diese These für richtig, glaube aber, dass die konstitutionstheoretischen Konnotationen, die Kant ihr gibt und die zu der genannten Lesart des Grundgedankens der kopernikanischen Wende führen, nicht hinreichend zu begründen sind. Ein zentrales Resultat der Transzendentalen Ästhetik besagt: „Der Raum ist nichts anderes, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne“ (A 26, B 42). Unter Erscheinungen „äußerer Sinne“ sind dabei Gegenstände zu verstehen, von denen äußere empirische Anschauung, näherhin ein wahrnehmungsmäßiges Bewusstsein der Gegenstände als verschieden von einem selbst und seinen Zuständen möglich ist. Als ‚Form der Erscheinung‘ bezeichnet Kant zu Beginn der Transzendentalen Ästhetik „dasjenige [...] welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann“ (B 34). Der Raum bzw. die mit ihm identifizierte „Form aller Erscheinungen äußerer Sinne“ ist demnach als ein Ordnungsprinzip für das Mannigfaltige jedes Gegenstandes möglicher äußerer empirischer Anschauung zu verstehen. Die konstitutionstheoretischen Implikationen von Kants Raumkonzeption zeigen sich darin, dass die Form der Erscheinung seiner Ansicht nach „insgesamt im Gemüte a priori bereit liegen“ müsse (A 20, B 34). Denn das bedeutet vor dem Hintergrund des genannten Resultats der Transzendentalen Ästhetik, dass der Raum als ein nur zur subjektiven Beschaffenheit des Gemüts a priori gehörendes Ordnungsprinzip, als subjektive Form der Sinnlichkeit bzw. des sinnlichen Anschauens konzipiert wird (vgl. A 23, B 37 f.; B 41). Daraus ergibt sich die konstitutionstheoretische These, dass Gegenstände, von denen äußere empirische Anschauung möglich ist, und damit Gegenstände äußerer Erfahrung deshalb räumliche Charakteristika haben müssen, weil der Raum nichts als eine
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
subjektive Form des sinnlichen Anschauens ist. In diesem Sinn ist die Räumlichkeit dieser Gegenstände bloß subjektiven Ursprungs. Vor der Überprüfung von Kants Begründung dieser These, möchte ich auf den Zusammenhang aufmerksam machen, in dem diese These zu einem bestimmten Aspekt seiner Konzeption von Einbildungskraft steht. Im Rahmen der Zurückweisung des Irrealitätseinwandes hat sich gezeigt, dass sich unsere Begriffe und näherhin die Synthesis der Einbildungskraft Kant zufolge insofern auf Realität beziehen, als sie sich auf das beziehen, was in der Erscheinung der Empfindung korrespondiert, d. h. auf die Materie bzw. das Reale der Erscheinung. Dort ist auch eine Stelle angeführt worden, an der Kant die Frage, ob diese Materie räumlich-zeitlich ist, eindeutig bejaht, indem er erklärt, dass diese „Materie (das Physische) ein Etwas bedeutet, das im Raume und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Dasein enthält und der Empfindung korrespondiert.“ (A 723, B 751) Die Position der Räumlich-/Zeitlichkeit der Materie muss nun aber als zweifelhaft gelten. Denn wenn Raum und Zeit nichts als subjektive Formen der Erscheinung sein sollen, dann darf die ungeformte Materie, auf die sich die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft bezieht, nicht selbst schon als räumlich-zeitlich gelten. Dass Kant selbst zu dieser Ansicht neigt, zeigt sich an einer Stelle, an der „das, was an diesen [den Erscheinungen] der Empfindung entspricht, die transzendentale Materie aller Gegenstände als Dinge an sich (die Sachheit, Realität)“ genannt wird (A 143, B 182). Wenn die Materie der Erscheinung und die transzendentale Materie der Gegenstände als Dinge an sich identisch sind, dann kann diese Materie nicht als räumlich-zeitlich gelten, weil Raum und Zeit Kant zufolge keine Eigenschafts- oder Verhältnisbestimmungen, kurz: keine objektiven Bestimmungen der Dinge an sich selbst sind (A 26, B 42; A 32 f., B 49). Das zwingt aber dazu, die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft so zu konzipieren, dass sie sich auf eine nicht-räumlich-zeitliche Materie bezieht, deren Räumlichund Zeitlichkeit sie gemäß den subjektiven Formen der Erscheinung konstituiert. Anders gesagt, die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft verräumlicht und verzeitlicht jene Materie allererst. Die zur These des bloß subjektiven Ursprungs bzw. der subjektiven Erzeugtheit der räumlich-zeitlichen Grundbeschaffenheit der Gegenstände korrelative These ist also, dass die transzendentale Einbildungskraft diese Grundbeschaffenheit nach subjektiven Formen erzeugt. Wie begründet Kant die These des bloß subjektiven Ursprungs der Räumlichkeit der Gegenstände äußerer Erfahrung, also näherhin die These, dass der Raum nur eine subjektive Form der Sinnlichkeit ist? Die m. E. einleuchtendste Rekonstruktion von Kants Antwort auf diese Frage hat H. E. Allison vorgelegt. Das Resultat von Kants Metaphysischer Erörterung
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand
57
des Begriffs des Raums besteht darin, dass die Vorstellung des Raums eine Anschauung a priori ist. Allison argumentiert nun mit Kant, dass eine Anschauung a priori nur dann möglich sei, wenn sie dem Subjekt nichts anderes als eine Form seiner eigenen Sinnlichkeit präsentiert bzw. wenn sie nur eine subjektive Form der Sinnlichkeit enthält. 32 Das Argument für die These, dass der Raum nur eine subjektive Form der Sinnlichkeit ist, stellt sich also folgendermaßen dar: (i)
Unsere Vorstellung des Raums ist eine Anschauung a priori.
(ii)
Eine Anschauung a priori ist nur dann möglich, wenn ihr Inhalt nichts als eine subjektive Form unserer Sinnlichkeit ist.
(iii)
Also ist der Raum (qua Inhalt der Vorstellung des Raums) nichts als eine subjektive Form unserer Sinnlichkeit.
Satz (i) ist in dem Maße problematisch, in dem Kants Metaphysische Erörterung des Raumbegriffs problematisch ist. Doch auch wenn man unterstellt, er ließe sich verteidigen 33, ist es um das Argument schlecht bestellt. Denn dessen entscheidender Schwachpunkt liegt m. E. in Satz (ii). Eine Begründung dieses Satzes muss alle möglichen alternativen Konzeptionen einer Anschauung a priori ausschließen können. Deshalb versucht Allison den Satz durch ein „argument by elimination“ abzusichern. 34 K. R. Westphal hat jedoch zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es eine Alternative gibt, die weder von Allison noch von Kant in Betracht gezogen wird und die sich argumentativ nicht ausschließen lässt. Unsere Vorstellung des Raums könnte eine Anschauung sein, deren Inhalt auf der räumlichen Form unserer äußeren Sinnlichkeit basiert, wobei unter ‚räumliche Form‘ eine Sensibilität nur für räumliche Materie zu verstehen ist. 35 Eine solche Anschauung müsste als a priori gelten, weil es aufgrund des Inhalts dieser Anschauung, also aufgrund der genannten räumlichen Form unserer Sinn-
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Allison 1983, 105. Allison beruft sich dort auf eine Stelle aus § 9 der Prolegomena: „Es ist also nur auf eine einzige Art möglich, daß meine Anschauung vor der Wirklichkeit des Gegenstandes vorhergehe, und als Erkenntnis a priori stattfinde, wenn sie nämlich nichts anders enthält, als die Form der Sinnlichkeit, die in meinem Subjekt vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht, dadurch ich von Gegenständen affiziert werde.“ (Proleg, A 52 (AA 4.282), ohne dortige Hvh.) Wertvolle Hinweise für eine solche Verteidigung lassen sich etwa bei Allison 1983 und bei Scheffer 1993 finden. Allison 1983, 107 ff. Vgl. Westphal 1997, 183; vgl. 148 u. ö. Im Unterschied zu Westphal spreche ich hier von ‚räumlicher Materie‘ statt von ‚räumlichen Gegenständen‘. Denn was uns jeweils als ein räumlicher Gegenstand gilt, hängt nicht nur von unserer Rezeptivität ab, sondern auch von spontanen Leistungen etwa des Individuierens und Diskriminierens.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
lichkeit notwendig wäre, dass Gegenstände, wenn wir von ihnen äußere empirische Anschauungen haben können, räumliche Charakteristika haben. Die skizzierte Position konzipiert den Raum nicht wie Kant transzendental-idealistisch, sondern als ein transzendental-realistisches Merkmal eines Feldes von Materie – ein Merkmal, das allem, was sich in diesem Feld ausmachen lässt, unabhängig von uns zukommt. Trotzdem wird diese Position der Kantischen Einsicht gerecht, dass es eine Bedingung a priori der Möglichkeit äußerer Erfahrung ist, dass Gegenstände äußerer Erfahrung räumliche Charakteristika haben müssen. Denn wenn unsere äußere Sinnlichkeit in dem Sinn eine ‚räumliche‘ Form hat, dass wir nur für räumliche Materie sensibel sind, dann ist es nicht möglich, dass es einen Gegenstand gibt, von dem wir äußere empirische Anschauung haben können, der aber keine räumlichen Charakteristika hat. Das ist aber gleichbedeutend damit, dass es notwendig ist, dass Gegenstände räumliche Charakteristika haben, wenn wir äußere empirische Anschauung von ihnen haben können. 36 Entscheidend ist, dass die These, dass Gegenstände äußerer Erfahrung räumliche Charakteristika haben müssen, dadurch offenbar nicht konstitutionstheoretisch begründet wird. Gegenstände äußerer Sinne und damit Gegenstände äußerer Erfahrung müssen in der skizzierten Position nicht deshalb räumliche Charakteristika haben, weil der Raum nichts als eine subjektive Form unserer Sinnlichkeit ist, sondern deshalb, weil unsere äußere Sinnlichkeit in dem Sinne eine ‚räumliche‘ Form hat, dass wir nur für räumliche Materie sensibel sind. Kants These, dass die Räumlichkeit der Gegenstände bloß subjektiven Ursprungs ist, die ein zentraler Bestandteil der oben angeführten Lesart (a) des Grundgedankens der kopernikanischen Wende ist, basiert auf der Voraussetzung, dass der Raum nichts als eine subjektive Form der Sinnlichkeit ist. Da diese von den Sätzen (i) und (ii) abhängige Voraussetzung vor dem Hintergrund der skizzierten Alternative zu (ii) als unbegründet gelten muss, bleibt auch die These eines bloß subjektiven Ursprungs der Räumlichkeit der Gegenstände unbegründet. Analog ließe sich argumentieren, dass auch die entsprechende These eines bloß subjektiven Ursprungs der Zeitlichkeit der Gegenstände unbegründet bleibt. Da solche
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Bei dieser Notwendigkeit handelt es sich um eine de-dicto-Notwendigkeit (formal ausgedrückt: ɷx. Ax Rx), während es sich bei Kant um eine de-re-Notwendigkeit handelt (x. Ax ɷRx). Das heißt, Kant nimmt an: Wenn wir äußere empirische Anschauung von einem Gegenstand haben können, dann hat dieser Gegenstand notwendigerweise räumliche Charakteristika. Dass wir wissen können, dass solche Gegenstände nicht nur kontingenter-, sondern notwendigerweise räumliche Charakteristika haben, ist Kant zufolge konstitutionstheoretisch begründet, d. h. darin, dass wir selbst die Räumlichkeit der Gegenstände, von denen wir äußere empirische Anschauung haben können, erzeugen. Vgl. dazu Guyer 1987, 364.
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand
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Begründungen auch nicht in Sicht sind, ist die zur Lesart (a) des Grundgedankens der kopernikanischen Wende gehörende Konzeption des bloß subjektiven Ursprungs der räumlich-zeitlichen Grundbeschaffenheit der Gegenstände nicht stichhaltig. Damit hängt aber auch derjenige Aspekt von Kants Konzeption der Einbildungskraft in der Luft, demzufolge die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft die räumlich-zeitliche Grundbeschaffenheit der Gegenstände erzeugt bzw. konstituiert. Auf diesen Aspekt von Kants Konzeption der Einbildungskraft wird deshalb in der hier angestrebten Rekonstruktion dieser Konzeption zu verzichten sein. Damit zum zweiten Bestandteil der Lesart (a) des Grundgedankens der kopernikanischen Wende, der die Kategorialität der Gegenstände betrifft: Die Gegenstände müssen sich insofern nach unserer Erkenntnis richten, als ihre kategoriale Grundbeschaffenheit bloß subjektiven Ursprungs ist bzw. vom erkennenden Subjekt erzeugt wird. Dass Kant diese These vertritt, lässt sich anhand einer ganzen Reihe von Stellen belegen, an denen er dem Verstand oder der Apperzeption eine legislative Funktion für die Natur in materieller Bedeutung zuspricht und die sich unter dem Titel ‚Gesetzgebungsthese‘ 37 zusammenfassen lassen. 38 Die Gesetzgebungsthese besagt, dass das erkennende Subjekt der Natur ihre allgemeinsten Gesetze a priori vorschreibt. Da die Kategorien die Begriffe dieser Gesetze sind, bedeutet sie, dass wir die Natur in ihrer kategorialen Grundbeschaffenheit erzeugen, und ist damit einer „theory of the mind making Nature“ zuzurechnen. Obwohl Kant dies nicht ausdrücklich herausstellt, hat die Gesetzgebungsthese auch Konsequenzen für seine Konzeption der Einbildungskraft. Sie lässt sich sogar direkt als These zur Einbildungskraft verstehen.
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Ich übernehme diesen Ausdruck von Thöle 1991, 6. Zu den wichtigsten Formulierungen der Gesetzgebungsthese gehören die folgenden: Die „Natur“ hängt „in Ansehung ihrer Gesetzmäßigkeit“ von „unserm subjektiven Grunde der Apperzeption“ ab (A 114). „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein“ (A 125). Die Gesetze, die „a priori aus dem Verstande selbst herkommen, und nicht von der Erfahrung entlehnt sind“, sind derart, dass sie „den Erscheinungen ihre Gesetzmäßigkeit verschaffen, und eben dadurch Erfahrung möglich machen“ (A 126). Der „Verstand [...] ist selbst die Gesetzgebung für die Natur“ (ebd.) bzw. „der Quell der Gesetze der Natur“ (A 127). Er besitzt die Autorität, „durch Kategorien [...] der Natur gleichsam das Gesetz vorzuschreiben und sie sogar möglich zu machen“ (B 159). „Kategorien sind Begriffe, welche [...] der Natur als dem Inbegriff aller Erscheinungen (natura materialiter spectata) Gesetze a priori vorschreiben“ (B 163). Kategorien sind der „ursprüngliche[] Grund[]“ der „notwendigen Gesetzmäßigkeit“ der Natur (B 165). Die „oberste Gesetzgebung der Natur [muss] in uns selbst, d. i. in unserem Verstande, liegen“ (Proleg, A 112 (AA 4.319)). „[D]er Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“ (Ebd., A 113 (AA 4.320); ohne dortige Hvh.)
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
In vermögenstheoretischer Hinsicht ist es zwar nicht die Einbildungskraft, sondern der Verstand oder die Apperzeption, denen Kant mit der Gesetzgebungsthese legislative Autorität zuspricht. Die dieser legislativen korrelative exekutive Autorität muss bei Kant aber der Einbildungskraft zukommen. Da es Kant zufolge nicht möglich ist, dass der Verstand der Natur a priori Gesetze vorschreibt, nach denen sich die Natur aber nicht richtet, muss das apriorische Vorschreiben dieser Gesetze durch den Verstand zugleich ein apriorisches Einschreiben dieser Gesetze durch die transzendentale Einbildungskraft sein. Man kann die Gesetzgebungsthese deshalb auch so formulieren, dass die Einbildungskraft als Agent der Kategorien die Gesetzmäßigkeit der Natur erzeugt. Dass die Gesetzgebungsthese gilt, ist also gleichbedeutend damit, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft eine für die Gegenstände und die Natur in ihrer kategorialen Grundbeschaffenheit konstitutive Synthesis ist. Kant ist sich darüber im Klaren, dass seine Gesetzgebungsthese „übertrieben“ und „wohl sehr widersinnisch und befremdlich“ anmutet (A 127; A 114). Er hofft aber, diesen Eindruck durch den Hinweis zerstreuen zu können, dass die „Natur an sich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen, mithin [...] bloß eine Menge von Vorstellungen des Gemüts“ ist (A 114) und dass Erscheinungen, „als solche, nicht außer uns stattfinden“ können, sondern „nur in unserer Sinnlichkeit“ „existieren“ (A 127). 39 Wenn die Natur als „Inbegriff der Erscheinungen“ letztlich mit dem Inbegriff „der Vorstellungen in uns“ identisch ist, so wohl Kants Überlegung, dann ist es auch plausibel, „daß die oberste Gesetzgebung der Natur in uns selbst [...] liegen müsse“. 40 Die von Kant in Hinblick auf die Gesetzgebungsthese beanspruchte Voraussetzung, dass die Natur nur Vorstellungen in uns umfasst bzw. dass Erscheinungen nur in unserer Sinnlichkeit existieren, ist ein wesentlicher Schwachpunkt in seiner Argumentation für die Gesetzgebungsthese. Denn diese Voraussetzung, so ist im Anschluss an die Zurückweisung des Irrealitätseinwandes festzustellen, stellt eine subjektivistische Verkürzung von Kants eigenem Erscheinungsbegriff dar – eine Verkürzung, die seine Konzeption der realitas phaenomenon desavouiert, weil die in der Erscheinung enthaltene Materie damit ihren extramental realen Status ver-
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Vgl. die entsprechende Voraussetzung in der B-Deduktion: „Denn Gesetze existieren eben so wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhärieren, so fern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, so fern es Sinne hat.“ (B 164). Proleg, A 112 (AA 4.319). Vgl. wiederum die B-Deduktion: „Als bloße Vorstellungen aber stehen sie [die Erscheinungen] unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung, als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt.“ (B 164) Siehe auch Strawson 1966, 112 f.
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand
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liert und Erscheinungen selbst auf diese Weise keinerlei extramentale Realität mehr zukommt. Kant versucht also den Eindruck, dass seine Gesetzgebungsthese „widersinnisch und befremdlich“ anmutet, um den Preis dieser Verkürzung zu zerstreuen, d. h. letztlich um den Preis der Inkompatibilität mit seinem empirischen Realismus. Dieser Befund ist ein guter Grund, in Bezug auf die Gesetzgebungsthese skeptisch zu sein. In der Auseinandersetzung mit dem Irrealitätseinwand habe ich betont, dass ich es, um diesem Einwand zu begegnen, im Rahmen der Rekonstruktion für erforderlich halte, Kants Ansätze zu einer subjektivistischen Erscheinungskonzeption aufzugeben. Da Kant seine Gesetzgebungsthese aber durch genau diese Konzeption plausibilisieren möchte, halte ich es im Rahmen der Rekonstruktion daher ebenso für erforderlich, seine Gesetzgebungsthese aufzugeben. Welche Konsequenzen hat die Aufgabe der Gesetzgebungsthese? Da die These ihren systematischen Ort im Deduktionskapitel hat, Kant in diesem Kapitel aber auch den Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien und seine Konzeption der Einbildungskraft entwickelt, ist zu klären, welche Folgen es für die Rekonstruktion erstens des Deduktionsbeweises und zweitens der Konzeption der Einbildungskraft innerhalb dieses Beweises hat, die Gesetzgebungsthese aufzugeben. Zunächst zum ersten Punkt: Verschafft man sich im Deduktionskapitel einen Überblick über Kants verschiedene Anläufe, das Deduktionsproblem zu lösen, und über die Stellen zur Gesetzgebungsthese, so ist festzustellen, dass diese These allenfalls in einer Version des Deduktionsbeweises eine Rolle spielt, und zwar in der ‚Deduktion von unten‘ der ersten Auflage der KrV (A 119/25). 41 Für alle anderen Versionen dieses Beweises gilt dies nicht. Im zweiten Abschnitt der ADeduktion tritt die Gesetzgebungsthese erst auf, nachdem der dort (A 110 ff.) gelieferte vorläufige Deduktionsbeweis abgeschlossen ist (A 114). In der für den zweiten Abschnitt zentralen Argumentskizze eines Deduktionsbeweises (A 108) spielt die Gesetzgebungsthese überhaupt keine Rolle. Dasselbe gilt auch für Kants stärkstes Deduktionsargument der ADeduktion, die ‚Deduktion von oben‘ (A 116/9). In der B-Deduktion wird die Gesetzgebungsthese zu Beginn des zentralen § 26 –Transzendentale Deduktion des allgemein möglichen Erfahrungsgebrauchs der reinen Verstandesbegriffe – als These benannt (B 159), ihre Begründung beginnt aber erst am Ende des Paragraphen in einer vom Rest abgesetzten Passage (B 163). Auch hier ist das Beweisziel, die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung bzw. ihre apriorische Geltung für alle Gegenstände der Erfah-
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Zur Rekonstruktion und Kritik der ‚Deduktion von unten‘ siehe unten Kapitel 7, S. 224 ff. und insbesondere Abschnitt 7.6, S. 253 ff.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
rung zu erweisen, bereits erreicht (vgl. B 160). Das bedeutet, das Wissen um die objektive Gültigkeit der Kategorien lässt sich Kant zufolge unabhängig von der Gesetzgebungsthese gewinnen. Anders gesagt, der Deduktionsbeweis lässt sich Kant zufolge unabhängig von der Gesetzgebungsthese führen; die Skepsis gegenüber dieser These steht also der Rekonstruktion eines solchen Beweises nicht im Wege. Damit zum zweiten Punkt, den Konsequenzen der Aufgabe der Gesetzgebungsthese für die Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft. Oben ist bereits deutlich geworden, wie die Gesetzgebungsthese und ein bestimmter Aspekt von Kants Konzeption der Einbildungskraft zusammenhängen: Die Gesetzgebungsthese gilt genau dann, wenn die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft eine für die Gegenstände und die Natur in ihrer kategorialen Grundbeschaffenheit konstitutive Synthesis ist. Die Aufgabe der Gesetzgebungsthese hat also zur Konsequenz, dass dieser konstitutionstheoretische Aspekt von Kants Konzeption der Einbildungskraft in der Rekonstruktion nicht in Anspruch genommen werden darf. Wichtiger noch ist jedoch eine weitere Konsequenz. Aus der Unabhängigkeit des Deduktionsbeweises von der Gesetzgebungsthese und der Äquivalenz zwischen der Gesetzgebungsthese und der Annahme des konstitutionstheoretischen Aspekts von Kants Konzeption der Einbildungskraft folgt, dass der Deduktionsbeweis von der Annahme dieses Aspekts von Kants Konzeption der Einbildungskraft unabhängig ist. Es ist daher nicht erforderlich, Kants Konzeption der Einbildungskraft im Rahmen des Deduktionsbeweises in einer konstitutionstheoretischen Perspektive zu rekonstruieren, um seiner dortigen Bestimmung der Einbildungskraft als subjektive Quelle, die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthält (A 94), Rechnung zu tragen. Wie es positiv zu verstehen ist, dass die Einbildungskraft solche Bedingungen enthalten soll, muss vorerst offen bleiben. Dass sie aber solche Bedingungen enthält, darauf kommt es zunächst nur an, lässt sich allein aufgrund einer Kritik des konstitutionstheoretischen Aspekts von Kants Konzeption der Einbildungskraft nicht bestreiten. Denn Kants Deduktionsbeweis ist von der Annahme dieses Aspekts seiner Konzeption der Einbildungskraft unabhängig. Die bisherige Auseinandersetzung mit dem Konstitutionstheorie-Einwand lässt sich folgendermaßen rekapitulieren. Der Einwand besteht darin, dass Kants Begründung der Möglichkeit apriorischen Wissens von notwendigen Merkmalen der Erfahrung, sofern sie sich auf den Grundge-
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand
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danken der kopernikanischen Wende beruft, inakzeptabel ist. 42 Eine Möglichkeit, den Grundgedanken der kopernikanischen Wende – „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten“ (B XVI) – zu verstehen, ist in der Lesart (a) dieses Gedankens spezifiziert worden. Diese Lesart kommt dem am nächsten, was Strawson mit Kants „theory of the mind making Nature“ 43 meint. Denn ihr zufolge ist die räumlich-zeitliche und kategoriale Grundbeschaffenheit der Gegenstände und der Natur bloß subjektiven Ursprungs bzw. wird vom erkennenden Subjekt erzeugt. Bei den für diese Lesart charakteristischen Thesen handelt es sich um die These der exklusiven Subjektivität von Raum und Zeit und um die Gesetzgebungsthese. In der Auseinandersetzung ist deutlich geworden, dass es gute Gründe gibt, die Skepsis des Vertreters des KonstitutionstheorieEinwandes gegenüber diesen Thesen zu teilen und diese Thesen aufzugeben. Entsprechend wird im Rahmen der hier verfolgten Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft eine Auffassung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft abgelehnt, in der diese als eine für die Gegenstände und die Natur in ihrer räumlich-zeitlichen oder kategorialen Grundbeschaffenheit konstitutive Synthesis gilt. Das Rekonstruktionsvorhaben ist damit jedoch nur in negativer Hinsicht näher bestimmt. Von wo aus sich ein positives und tragfähiges Verständnis von Kants Konzeption der Einbildungskraft gewinnen lässt, wird sich abzeichnen, wenn nun, nachdem die Gründe für die Skepsis des Konstitutionstheorie-Einwandes am Grundgedanken der kopernikanischen Wende dargelegt sind, die Reichweite des Einwandes in den Blick genommen wird. Der Einwand richtet sich im Kern gegen den Grundgedanken der kopernikanischen Wende. Es besteht kein Zweifel daran, dass sowohl die These der exklusiven Subjektivität von Raum und Zeit als auch die Gesetzgebungsthese für Kant eng mit diesem Grundgedanken verbunden sind. Allerdings besitzt der Grundgedanke für Kant außer dem in der Lesart (a) formulierten einen weiteren Aspekt – einen Aspekt, der von einer „theory of the mind making Nature“ völlig unabhängig ist. Der zentrale Anhaltspunkt zur Identifizierung dieses Aspekts findet sich im Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien. Wie bereits erwähnt, behauptet Kant dort, es gäbe Vorstellungen, die Gegenstände möglich machen. Im erkenntnistheoretischen Kontext dürfe diese Behauptung aber nicht so verstanden werden, dass die Vorstellung „ihren Gegenstand dem Dasein nach [...] hervorbringt“ (A 92, B 125). Denn dies käme nur für Vorstellungen von Zwecken in Betracht, aber von deren
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Denn aus der Sicht des Einwandes läuft dieser Grundgedanke – „die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten“ (B XVI) – auf eine inakzeptable „theory of the mind making Nature“ (Strawson 1966, 22.) hinaus. Strawson 1966, 22.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
„Kausalität, vermittelst des Willens, ist hier gar nicht die Rede“ (ebd.) In welchem Sinne ist es aber dann zu verstehen, dass Vorstellungen Gegenstände möglich machen? Kants Antwort ist: in dem Sinne, dass sie Gegenstände der Erkenntnis nach möglich machen. Kant zufolge sind Vorstellungen „in Ansehung des Gegenstandes [...] a priori bestimmend, wenn durch sie allein es möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen.“ (Ebd.) Und die Anschauungen a priori von Raum und Zeit sowie die Begriffe a priori des Verstandes sollen solche Vorstellungen sein. Denn Kants Auffassung nach enthalten sie Formen unserer Sinnlichkeit und Funktionen bzw. Regeln a priori des Verstandes, die als Bedingungen a priori der Möglichkeit objektiver Erkenntnis fungieren. Es gibt demnach Vorstellungen, die Gegenstände in dem Sinne der Erkenntnis nach möglich machen, dass sie Formen oder Funktionen enthalten, aufgrund derer wir überhaupt erst etwas als Gegenstand erkennen können. Neben dem in der Lesart (a) hervorgehobenen Aspekt lässt sich damit ein weiterer Aspekt des Grundgedankens der kopernikanischen Wende herausstellen. (b) Die Gegenstände müssen sich insofern nach unserer Erkenntnis richten, als es allererst aufgrund von Formen unserer Sinnlichkeit und Regeln a priori des Verstandes möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen. Von großer Bedeutung ist nun, dass der Grundgedanke der kopernikanischen Wende in dieser Lesart nicht ausschließt, dass die Natur unabhängig von den genannten Formen unserer Sinnlichkeit und Regeln a priori des Verstandes räumlich-zeitlich und gesetzmäßig beschaffen sind. In dieser Lesart ist es also nicht erforderlich, den Grundgedanken der kopernikanischen Wende mit einer „theory of the mind making Nature“ in Verbindung zu bringen. Dass Erkenntnis von empirischen Objekten und Sachverhalten für uns nur aufgrund dieser Formen und Regeln a priori möglich ist, ist ohne weiteres damit verträglich, dass die Gegenstände bzw. die Natur in ihrer räumlich-zeitlichen und kategorialen Grundbeschaffenheit nicht von uns erzeugt werden. Vom Konstitutionstheorie-Einwand ist daher nur derjenige Aspekt des Grundgedankens der kopernikanischen Wende betroffen, den die Lesart (a) zum Ausdruck bringt, nicht aber derjenige, den die Lesart (b) zum Ausdruck bringt. Im Anschluss an die Lesart (b) des Grundgedankens der kopernikanischen Wende lässt sich nun auch der für die hier verfolgte Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft entscheidende Punkt herausstellen: Die Einbildungskraft ist nicht für die Gegenstände oder die Natur, sondern für die Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen und Natur konstitutiv. Sie hat diese Rolle, weil sie eine Fähigkeit des Bestimmens ist, das
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand
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„Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen“ (B 152). Für Kants Begriff des Bestimmens sind zwei Momente fundamental: Es gibt etwas, das bestimmt wird; und wenn etwas bestimmt wird, dann wird es als etwas bestimmt. Die minimale Struktur des Bestimmens besteht also darin, dass etwas als etwas bestimmt wird. Auch das „Erkennen“, das ein „Bestimmen des Objekts“ ist (B 166 Anm.), hat diese Struktur, ist also Erkennen von etwas als Objekt. Etwas als einen Gegenstand erkennen zu können, ist in zweierlei begründet; erstens darin, es aufgrund von Formen unserer Sinnlichkeit als Erscheinung bestimmen zu können, und zweitens darin, Erscheinungen aufgrund von Regeln a priori des Verstandes als empirische Objekte bestimmen zu können. Für beide Punkte misst Kant, wie ich nun zeigen möchte, der Einbildungskraft eine zentrale Bedeutung bei. Obwohl Kants Auffassung, Raum und Zeit seien nichts als subjektive Formen unserer Sinnlichkeit, unzureichend begründet ist, kann die Rede von ‚Formen unserer Sinnlichkeit‘, sofern auf die nähere Bestimmung dieser Formen als ‚bloß subjektive‘ verzichtet wird, beibehalten werden. Sie wäre dann so zu verstehen, dass unsere Sinnlichkeit in dem Sinn eine ‚räumlich-zeitliche‘ Form hat, dass wir nur für räumlich-zeitliche Materie empfänglich sind. 44 Der in Hinblick auf Kants Konzeption der Einbildungskraft entscheidende Punkt ist dann, dass für solche Materie empfänglich zu sein, nicht schon bedeutet, etwas anzuschauen. Die Form unserer Sinnlichkeit ist zwar eine Bedingung dafür, etwas in dem Feld räumlichzeitlicher Materie individuieren zu können, die Fähigkeit solchen Individuierens ist aber die Einbildungskraft. Ihre Ausübung besteht darin, etwas aus diesem Feld auszugrenzen sowie intern zu gliedern, und resultiert in der Anschauung eines sinnlichen Einzelnen (Erscheinung). Bedingung der Möglichkeit solcher Anschauungen ist die intuitive Synthesis der Einbildungskraft, d. h. diejenige Synthesis, die Kant in der A-Ausgabe in die ‚Synthesis der Apprehension‘ und ‚Synthesis der Reproduktion‘ einteilt (A 98/102) und in der B-Ausgabe als ‚synthesis speciosa‘ bezeichnet (B 151; B 154). Die Einbildungskraft ist also in erster Linie die Fähigkeit, räumlich-zeitliche Materie intuitiv, gestalthaft bzw. als Erscheinung, zu bestimmen und in einer empirischen Anschauung vorzustellen. Die empirische Anschauung ist als Vorstellung einer Erscheinung die Vorstellung von etwas, das intuitiv bestimmt ist. Wenn Kant erklärt, die Erscheinung ist „der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (A 20, B 34), dann kann ‚unbestimmt‘ hier also nicht schlechthin unbestimmt, sondern nur kategorial unbestimmt bedeuten. Dafür, dass Erscheinungen kategorial unbestimmte Gegenstände der empirischen Anschauung sind, spricht Kants Unterscheidung zwischen ‚Erscheinung‘
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Siehe dazu oben S. 57 ff.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
und ‚Phaenomenon‘: „Erscheinungen, sofern sie nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena.“ (A 248 f.) Als Phaenomena sind Erscheinungen nach der Einheit der Kategorien gedacht, d. h. kategorial bestimmt. 45 Ihrem primären Sinn nach, als unbestimmte Gegenstände der empirischen Anschauung, sind sie jedoch kategorial unbestimmt; gerade weil Kant dieser Auffassung ist, hält er eine Transzendentale Deduktion der Kategorien für erforderlich. Die Frage, warum die Kategorien „objektive Gültigkeit haben, d. i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis der Gegenstände abgeben“, stellt sich unter anderem deshalb, weil „ohne Funktionen des Denkens [...] allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden“ können (A 89, B 122). 46 Ebenso wenig wie die Formen unserer Sinnlichkeit schon hinreichend dafür sind, räumlich-zeitliche Materie als Erscheinung bestimmen zu können, sind die Kategorien als Funktionen des Denkens schon hinreichend dafür, Erscheinungen als empirische Objekte (Phaenomena) bestimmen zu können. Die kategoriale und damit objektive Bestimmbarkeit der Erscheinungen ist davon abhängig, dass es sinnliche Bedingungen der Anwendung der kategorialen Denkfunktionen auf Erscheinungen gibt. Kant weist diese sinnlichen Anwendungsbedingungen der kategorialen Denkfunktionen, die er im Schematismuskapitel unter der Bezeichnung ‚Schemata der Kategorien‘ spezifiziert, ausdrücklich der Einbildungskraft zu: Das „Schema eines reinen Verstandesbegriffs [...] ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt [...] betrifft“ (A 142, B 181). Und er ist der Auffassung, dass die kategoriale Bestimmung der im inneren Sinn gegebenen Erscheinungen als empirische Objekte eine schemafundierte Bestimmung sein muss. In diesem Sinne sind „Schemate der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf Objekte, mithin Bedeutung zu verschaffen“ (A 145 f., B 185; ohne dortige Hvh.). Die kategorialen Denkfunktionen sind demnach erst zusammen mit ihren in der Einbildungskraft begründeten Schemata hinreichend dafür, Erscheinungen als empirische Objekte bestimmen zu können. Kant entwickelt seine Position, dass die Einbildungskraft eine wesentliche Bedeutung für die Frage der kategorialen Bestimmbarkeit der Erscheinungen hat, allerdings nicht erst im Schematismuskapitel. Schon im
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Dass für Kant auch das Denken ein Bestimmen ist, zeigt sich in seiner Rede von der „Spontaneität meines Denkens, d. i. des Bestimmens“ (B 157 f. Anm.). Vgl. dazu auch die folgenden Aussagen Kants: Die „Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise“ (A 91, B 123). „Man kann etwas Anschauen, ohne etwas dabey oder darunter zu denken.“ (R 4636, AA 17.620.) – Man kann die transzendentale Deduktion deshalb als den Nachweis dafür verstehen, dass die Kategorien diejenigen Begriffe sind, aufgrund der Erscheinungen als empirische Objekte bestimmt werden können.
3.3 Der Konstitutionstheorie-Einwand
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Deduktionskapitel, so Kant im Rückblick, „haben wir gesehen, [...] daß reine Begriffe a priori, außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie, noch formale Bedingungen der Sinnlichkeit [...] a priori enthalten müssen, welche die allgemeine Bedingungen enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgendeinen Gegenstand angewandt werden kann.“ (A 139 f., B 178 f.) Im Schematismuskapitel wird dargelegt, wie die sinnlichen Anwendungsbedingungen der kategorialen Denkfunktionen für jede dieser Funktionen beschaffen sind, doch bereits im Deduktionskapitel, so das Zitat, wird gezeigt, dass es solche Anwendungsbedingungen geben muss. In dem Nachweis des Deduktionskapitels, dass es sinnliche Anwendungsbedingungen der kategorialen Denkfunktionen geben muss, dass also Erscheinungen kategorial bestimmbar sind, spielt wiederum die Einbildungskraft eine entscheidende Rolle. Die beiden in der A-Ausgabe der KrV von Kant als definitiv angesehenen Deduktionsargumente kulminieren geradezu in der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen den Kategorien und der Synthesis der Einbildungskraft: Die Kategorien enthalten „die notwendige Einheit der reinen Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung aller möglichen Erscheinungen“ (A 119). „Auf ihnen gründet sich also alle formale Einheit in der Synthesis der Einbildungskraft, und vermittelst dieser auch alles empirischen Gebrauchs derselben [...] bis herunter zu den Erscheinungen“ (A 125). Die kategoriale Bestimmbarkeit der Erscheinungen wird im Deduktionskapitel also letztlich als Bestimmbarkeit der Erscheinungen durch die Einbildungskraft anhand von Kategorien konzipiert. 47 Auch im Deduktionskapitel ist die Einbildungskraft daher als eine Fähigkeit des Bestimmens von Erscheinungen maßgeblich. Um die Auseinandersetzung mit dem Konstitutionstheorie-Einwand abzuschließen, möchte ich einige wichtige Punkte noch einmal eigens herausstellen. Der Konstitutionstheorie-Einwand hat sich als eine fundamentale Kritik an Kants erkenntnistheoretischem Ansatz, als eine Kritik am Grundgedanken der kopernikanischen Wende entpuppt. In der Auseinandersetzung wurden zwei verschiedene Aspekte dieses Grundgedankens identifiziert und in den Lesarten (a) und (b) hervorgehoben. Während die Lesart (a) die These einer bloß subjektiven Konstitution der räumlich-zeitlichen und kategorialen Grundbeschaffenheit der Gegenstände in den Vordergrund stellt, ist die Lesart (b) in Bezug auf diese Frage neutral und konzentriert sich auf die These, dass es mit den Formen unserer Sinnlichkeit und den Funktionen des Verstandes subjektive Gründe der Möglichkeit der Erkenntnis von etwas als Gegenstand gibt. Beide Lesarten ziehen verschiedene Modelle der Synthesis der Einbildungskraft nach sich. Die Synthesis kann (a) als eine für die Gegenstände
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Daran ändert sich auch in der B-Ausgabe nichts; vgl. B 152.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
oder die Natur in ihrer räumlich-zeitlichen und kategorialen Grundbeschaffenheit konstitutive Synthesis konzipiert werden oder (b) als eine Synthesis, die räumlich-zeitliche Materie intuitiv bzw. als Erscheinung und Erscheinungen kategorial bzw. als empirische Objekte bestimmt. Da ich die Skepsis des Konstitutionstheorie-Einwandes gegenüber den zentralen Thesen der Lesart (a) des Grundgedankens der kopernikanischen Wende teile 48, lehne ich das Modell der gegenstands- bzw. naturkonstitutiven Synthesis ab. In der Lesart (b) ist der Grundgedanke der kopernikanischen Wende jedoch von der zu Recht inkriminierten „theory of the mind making Nature“ unabhängig; entsprechend ist die dieser Lesart korrelative Konzeption der Einbildungskraft auch nicht vom KonstitutionstheorieEinwand betroffen. Im Mittelpunkt des hier angestrebten Rekonstruktionsvorhabens wird daher das Modell der bestimmenden Synthesis der Einbildungskraft stehen. Für dieses Modell ist die Auffassung charakteristisch, dass die Synthesis der Einbildungskraft das uns rezeptiv gegebene räumlich-zeitliche Mannigfaltige intuitiv (d. h. als Erscheinung) und Erscheinungen kategorial (d. h. als empirische Objekte bzw. objektive Prozesse) bestimmt. 49 Dabei hängt der Gedanke des intuitiven Bestimmens ebenso wenig von der These der exklusiven Subjektivität von Raum und Zeit ab wie der Gedanke des kategorialen Bestimmens von der Gesetzgebungsthese. Vorstellungen werden von Kant, wie gesehen, als „a priori bestimmend“ bezeichnet, wenn „durch sie allein es möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen.“ (A 92, B 125; ohne dortige Hvh.) Da in seiner Erklärung dessen, was für diese Möglichkeit hinreichend ist, der Einbildungskraft eine Schlüsselrolle zukommt, kann ihm die Auffassung zugeschrieben werden, dass auch die Einbildungskraft a priori bestimmend bzw. eine Fähigkeit des apriorischen Bestimmens ist. Kants Terminus für diese Fähigkeit ist ‚produktive‘ Einbildungskraft (vgl. A 118; A 123; B 152). Während reproduktive Synthesen lediglich bereits bestimmte Gehalte präsent halten oder wiedervorführen, sind produktiv all diejenigen Synthesen, die räumlich-zeitliche Materie als Erscheinung oder Erscheinungen
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Diese Skepsis ist im Kern darin begründet, dass Kants These der exklusiven Subjektivität von Raum und Zeit letztlich ohne zureichende Begründung bleibt und dass seine Gesetzgebungsthese von einer subjektivistischen Erscheinungskonzeption abhängt, die, um dem Irrealitätseinwand zu entgehen, aufzugeben ist. M. Hossenfelder hat für die (von der konstitutiven Synthesis abzugrenzende) bestimmende Synthesis den Ausdruck „interpretative Synthesis“ geprägt (Hossenfelder 1978, 90). Er unterscheidet allerdings nicht zwischen den beiden genannten Momenten der bestimmenden Synthesis, die sich hier aus der Lesart (b) des Grundgedankens der kopernikanischen Wende ergeben haben.
3.4 Der Inkohärenzeinwand
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als empirische Objekte bestimmen. 50 Demnach lässt sich Kants Konzeption der produktiven Einbildungskraft in erkenntnistheoretischer Hinsicht durch das Modell der bestimmenden Synthesis rekonstruieren.
3.4 Der Inkohärenzeinwand In seinem Inkohärenzeinwand gegen Kants Synthesislehre stützt sich Strawson auf den von ihm als „Kant’s principle of significance“ bezeichneten Grundsatz, demzufolge es zu den Geltungs- und sogar zu den Sinnbedingungen des Gebrauchs von Begriffen gehört, dass die Begriffe empirische Anwendungsbedingungen haben. 51 Strawson wendet gegen Kants Synthesislehre ein, dass sie inkohärent sei, weil sie gegen das ‚principle of significance‘ verstößt. Er erläutert dies folgendermaßen: „The theory of synthesis, like any essay in transcendental psychology, is exposed to the ad hominem objection that we can claim no empirical knowledge of its truth; for this would be to claim empirical knowledge of the occurence of that which is held to be the antecedent condition of empirical knowledge. Belief in the occurence of the process of synthesis as an antecedent condition of experience and belief in the antecedent occurence of disconnected impressions as materials for the process to work on are beliefs which support each other and are necessary to each other. But, by hypothesis, experience can support neither belief [...]“. 52
Im Zentrum dieser Kritik an Kants Synthesislehre stehen die Begriffe der unverbundenen Eindrücke – ich spreche mit Kant fortan vom sinnlichen ‚Mannigfaltigen‘ – und der Synthesis selbst. Der Einwand besagt, dass die Annahmen des Vorkommens eines Synthesisprozesses und des Vorkommens von Mannigfaltigem als Material für diesen Prozess, sofern sie als Vorbedingungen von empirischer Erkenntnis gelten sollen, nicht selbst auf empirischer Erkenntnis beruhen können und deshalb abzulehnen sind. Denn wenn diese Annahmen nicht auf Erfahrung beruhen können, dann besitzen die entsprechenden Begriffe des Mannigfaltigen und der Synthesis keine empirischen Anwendungskriterien, was nach dem ‚principle of significance‘ bedeutet, dass ihr Gebrauch weder legitim noch bedeutungsvoll ist. Allgemein gesagt, läuft der Inkohärenzeinwand darauf hinaus, dass Kants Erkenntnistheorie irreflexiv ist. Einerseits erkläre sie empirische Kriterien für die Anwendung von Begriffen zu einem wesentlichen Be-
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Der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen produktiven und reproduktiven Synthesen der Einbildungskraft betrifft demnach den Modus, in dem die Einbildungskraft Vorstellungen hervorbringt. Zum ‚principle of significance‘ siehe Strawson 1966, 16 u. 241 sowie oben S. 44. Strawson 1966, 32.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
standteil der Geltungs- und Sinnbedingungen des Gebrauchs dieser Begriffe, andererseits verwendet sie aber selbst Begriffe, die keine empirischen Anwendungskriterien besitzen, entzieht sich also durch ihre eigene Formulierung den Boden der Legitimität und Sinnhaftigkeit. Kant argumentiert dem Einwand zufolge dafür, dass Erkenntnisansprüche, in denen Begriffe über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus verwendet werden, leer sind, erhebt aber selbst in dem Teil seiner Argumentation, der sich auf die Synthesislehre beruft, genau solche Ansprüche. In der Auseinandersetzung mit dem Einwand werde ich zwei Argumentationswege verfolgen. Erstens werde ich die Triftigkeit des Inkohärenzeinwandes in Frage stellen, indem ich eine kritische Auseinandersetzung mit dem ‚principle of significance‘ führe. Zweitens werde ich mich gegen den Inkohärenzeinwand um eine Legitimation der Grundbegriffe von Kants Synthesislehre – ‚Mannigfaltiges‘ und ‚Synthesis‘ – bemühen. Ich beginne mit dem ersten Argumentationsweg. Strawson wendet das ‚principle of significance‘ gegen Kants Erkenntnistheorie, indem er es als Kriterium zur Entscheidung der Legitimität bestimmter Konzepte und Theorieelemente der KrV veranschlagt. Dass die Grundbegriffe von Kants Synthesislehre und damit diese Lehre selbst nach dem Maßstab des ‚principle of significance‘ inkohärent sind, möchte ich im Folgenden nicht bezweifeln. Was ich bestreite, ist, dass dieses Prinzip zur Kritik an Kants Synthesislehre und ihrer Begriffe geeignet ist. Zunächst ist festzustellen, dass Strawson die Auffassung vertritt, dass das ‚principle of significance‘ bei Kant nicht als Voraussetzung fungiert, sondern eine Folgerung darstellt 53, die zum Resultat der Transzendentalen Analytik der KrV gehört. 54 Da er jedoch zugleich der Auffassung ist, dass die Begrifflichkeit, in der dieses Prinzip bei Kant angeblich begründet wird, aufgrund eben dieses Prinzips zumindest teilweise inkohärent ist, darf er selbst dieses Prinzip nicht ohne weiteres annehmen. Das bedeutet, Strawson müsste eine eigene Begründung des Prinzips anstreben. Genau
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„Thus the principle of significance itself [...] is derived by Kant as a consequence of the nature of the part played by the faculty of understanding in ordering experience“ (ebd., 22). Kant „seems to regard this principle as a consequence of certain of the doctrines of transcendental idealism.“ (Ebd., 241) Die Stellen der KrV, an denen Strawson das ‚principle of significance‘ artikuliert sieht (siehe ebd., 16 Anm. 1), entsprechen der Sache nach dem von Kant formulierten „Resultat“ der „transzendentale[n] Analytik“, „daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren, und, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten könne. Seine Grundsätze sind bloß Prinzipien der Exposition der Erscheinungen [...]“ (A 246 f., B 303).
3.4 Der Inkohärenzeinwand
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dies unterlässt er aber. Deshalb ist der Konsequenz zuzustimmen, die R. Aschenberg zieht: „Da Strawson sich der Mühe enthebt“, die Setzung des Prinzips „zu rechtfertigen, besitzt sie philosophisch den Wert, der jeder dogmatischen Stipulation zukommt, nämlich gar keinen.“ 55 Strawsons Kantkritik anhand des ‚principle of significance‘ kann demnach schon vom Ansatz her nicht überzeugen, weil dieses Prinzip unbegründet bleibt. Man könnte jedoch dafür argumentieren, dass Strawson das Prinzip gar nicht zu begründen braucht, um es zur Kritik an Kant zu verwenden. Denn wenn das Prinzip, wie Strawson behauptet, „Kant’s principle of significance“ ist, dann handelt es sich bei seiner Wendung gegen Kants eigene Theorie um eine interne Kantkritik. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass sich das ‚principle of significance‘ Kant zuschreiben lässt. Dem Prinzip nach muss jede Begriffsverwendung, um legitim oder bedeutungsvoll zu sein, durch empirische Anwendungskriterien gedeckt sein. Empirische Kriterien setzen allerdings voraus, dass Erfahrung möglich ist. Die Möglichkeit der Erfahrung ist Kant zufolge aber in den Kategorien begründet. 56 Das bedeutet, der Kategoriengebrauch, der diese Begründungsfunktion hat und Erfahrung ermöglicht, kann nicht selbst empirischen Anwendungskriterien unterworfen sein. Das ‚principle of significance‘ gilt Kant zufolge und anders als von Strawson behauptet 57 also nicht für die Kategorien. Das wird auch mit Blick auf das Schematismuskapitel der KrV deutlich. Dort versteht Kant die transzendentalen Schemata der Kategorien nicht nur als die „einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf Objekte, mithin Bedeutung zu verschaffen“ (A 146, B 185), sondern auch als nicht-empirische sinnliche Anwendungsbedingungen der Kategorien: Das transzendentale Schema „ist eine formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch restringiert ist“ (A 140, B 179; Hvh. v. Verf., M. W.). Aus Kants Perspektive muss das ‚principle of significance‘ damit als externes Prinzip gelten. 58 Bei der Verwendung des Prinzips zur Kritik an Kant kann es sich also nicht um eine interne Kantkritik handeln. Wer dennoch darauf zu beharren versucht, dass das ‚principle of significance‘ zur Kantkritik geeignet ist, dem bleibt nur das folgende Argument: Selbst wenn das ‚principle of significance‘ kein Kantisches Prinzip, sondern lediglich ein Prinzip Strawsons ist, könnte es sich bei seiner An-
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Aschenberg 1982, 62. Kant behauptet, dass Kategorien „den objektiven Grund der Möglichkeit der Erfahrung abgeben“ (A 94, B 126) und dass „durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) möglich“ ist (A 93, B 126). Siehe Strawson 1966, 114 f. Vgl. dazu auch Aschenberg 1982, 209 u. 211/4.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
wendung auf Kants Theorie, wenn auch nicht um eine interne, so doch um eine gelungene Kritik dieser Theorie handeln. Die Bedingung dafür ist selbstverständlich, dass das Prinzip gerechtfertigt ist. Aber Zweifel daran, dass diese Bedingung erfüllt ist, ergaben sich schon aus dem Umstand, dass Strawson selbst keine Begründung des Prinzips vorlegt. Diese Zweifel verstärken sich, wenn man sich klar macht, dass das ‚principle of significance‘ nicht selbstanwendbar ist. T. Grundmann hat darauf hingewiesen, dass das Prinzip zufolge des Prinzips selbst erstens als Dogma gelten muss, weil es nicht auf empirischer Erkenntnis beruht, und zweitens sogar als bedeutungsleer, weil es die durch es selbst festgelegten Sinnbedingungen nicht erfüllen kann. 59 Auch Aschenberg spricht deshalb von der „offenkundigen Irreflexivität“ des ‚principle of significance‘: „[D]er Begriffsgebrauch in The Bounds of Sense dürfte wohl kaum durch empirische Anwendungsbedingungen gedeckt sein, soll aber dennoch nicht illegitim und bedeutungslos sein“. 60 Ironischerweise ist also das Prinzip, mit dessen Hilfe Strawson die Irreflexivität von Kants Theorie zu demonstrieren versucht, selbst irreflexiv. Wenn Kants Synthesislehre, vor allem die Begriffe des Mannigfaltigen und der Synthesis, also dem ‚principle of significance‘ nach inkohärent wären, so spricht dies nicht gegen die Legitimität und Sinnhaftigkeit dieser Begriffe. Umgekehrt folgt aus der Kritik an dem ‚principle of significance‘ aber auch nicht, dass sich die Frage nach der Legitimität dieser Begriffe gar nicht stellt. Denn auch, wenn sich dieses Prinzip nicht allgemein begründen lässt, bleibt im Einzelnen die Frage angemessen, mit welchem Recht bestimmte Begriffe verwendet werden. 61 Deshalb wird nun zu klären sein, wie sich die Begriffe des Mannigfaltigen und der Synthesis ausweisen lassen. Strawson weist in seinem Inkohärenzeinwand darauf hin, dass mit Kants Synthesislehre das Vorkommen von Synthesisprozessen sowie von unverbundenem Mannigfaltigen als Material für diese Prozesse angenommen wird. Der Einwand besagt, dass diese Annahmen, da sie beide nicht durch mögliche Erfahrung gestützt sind, von einem Standpunkt aus in Anspruch genommen werden, der durch das Resultat von Kants Theorie davon, was wir wissen können, nicht gedeckt ist.
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Grundmann 1993, 38. Aschenberg 1982, 208. Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe antwortet auf eine Frage genau dieses Typs. Hier stellt sich eine solche Frage in Bezug auf die Grundbegriffe von Kants Synthesislehre; es ist gewissermaßen eine Deduktion dieser Grundbegriffe erforderlich. Der Unterschied zwischen den beiden Deduktionen besteht darin, dass es einmal um die Frage geht, mit welchem Recht die reinen Verstandesbegriffe in der Erfahrung verwendet werden, und das andere Mal um die Frage, mit welchem Recht die Grundbegriffe der Synthesislehre in der Theorie der Erfahrung verwendet werden.
3.4 Der Inkohärenzeinwand
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Eine meiner Auffassung nach viel versprechende Entgegnung auf diesen Einwand kann an einem Punkt ansetzen, den Strawsons Formulierung des Einwandes selbst enthält: Die Annahmen von Synthesis und an sich unverbundenem Material für diesen Prozess „support each other and are neccessary to each other“. 62 Das bedeutet nicht nur, dass eine der beiden Annahmen mit der anderen fallen würde, sondern auch, dass, wenn für eine der beiden überzeugend argumentiert werden kann, es erforderlich ist, auch die andere zuzugestehen. Argumente für Kants Synthesislehre müssen also nicht unmittelbar Kants Synthesisbegriff verteidigen, sondern können auch als Argumente für die Annahme von sinnlichem Mannigfaltigen geführt werden. Es ist dieser Weg, den ich einschlagen möchte. Zunächst sieht es so aus, dass nichts gewonnen ist, wenn die Argumentationslast für Kants Synthesislehre vom Begriff der Synthesis auf den des Mannigfaltigen verschoben wird. Im Gegenteil sieht es so aus, als ob sich das Problem auf diese Weise nur verschärft. Denn man könnte etwa dafür argumentieren, dass wir wenigstens in einigen Fällen Synthesisprozesse vollziehen, derer wir uns bewusst sein können. Ein gutes Beispiel dafür scheint das Zählen bestimmter Einheiten zu sein, das von Kant ausdrücklich als Synthesis beschrieben wird. 63 Man könnte sagen, dass wir im Zählen unsere Aufmerksamkeit auch auf die Zählhandlung selbst richten können. Im Gegensatz dazu können wir auf das Mannigfaltige, in dem wir die Einheiten ausmachen, die wir zählen, keinesfalls aufmerksam werden. Denn dieses Mannigfaltige darf nicht mit den Einheiten verwechselt werden, die gezählt werden. Solche Einheiten, z. B. Striche auf einem Blatt Papier, sind für Kant in jedem Fall bereits synthetische Einheiten von Mannigfaltigem. Seine These ist, dass es in dem sinnlichen Mannigfaltigen von sich aus keinerlei Einheit gibt und alles, was wir ausmachen können, bereits individuiert und identifiziert, bereits zur Einheit gebrachtes Mannigfaltiges ist. Auf Mannigfaltiges als solches können wir demnach unter keinen Umständen aufmerksam werden. Der Ansatz am Begriff des Mannigfaltigen scheint also denkbar ungeeignet, um mit einer Verteidigung von Kants Synthesislehre zu beginnen. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Was ihm zugrunde liegt, ist das Vorurteil, dass der Begriff des Mannigfaltigen selbstverständlich als Konzept einer empirischen Psychologie verstanden werden muss. Von diesem Vorurteil her wird die Forderung erhoben, dass der Begriff auch in diesem Rahmen auszuweisen ist. Anschließend wird dann gesagt, dass diese Forderung nicht einlösbar ist, und daraus wird wiederum gefolgert, dass der Begriff
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Strawson 1966, 32. A 103. – Ein anderes, auch von Kant gewähltes Beispiel ist, dass wir uns das Bild einer bestimmten Stadt machen, indem wir verschiedene Perspektiven in Verbindung bringen. Vgl. Metaphysik L1, AA 28.235 f.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
illegitim oder sinnlos ist. 64 Anders als dieses Szenario nahe legt, halte ich den Ansatz am Begriff des Mannigfaltigen zur Verteidigung von Kants Synthesislehre jedoch für besonders geeignet; und zwar gerade weil er sich anders als der Synthesisbegriff ganz und gar nicht psychologisch verifizieren lässt. Erst wenn man die scheinbar selbstverständliche Auffassung fallen lässt, dass der Begriff des Mannigfaltigen ein Konzept der empirischen Psychologie ist, stellt sich die grundlegende Frage, welchen Status er überhaupt hat. Und erst wenn diese Frage beantwortet ist, kann sinnvoll gefragt werden, ob und warum der Begriff des Mannigfaltigen erforderlich ist. Im Folgenden werde ich deshalb zunächst Kants Konzept des sinnlichen Mannigfaltigen mit dem Ziel klären, dessen Status zu bestimmen. Es empfiehlt sich dabei, von derjenigen Passage auszugehen, in der Kant das erste Mal in der KrV auf dieses Konzept zu sprechen kommt: „In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung, in gewissen Verhältnissen geordnet, angeschauet wird, nenne ich die Form der Erscheinung.“ 65
Kant identifiziert hier „das Mannigfaltige der Erscheinung“ implizit mit deren „Materie“, und das heißt mit dem, „was der Empfindung korrespondiert“. 66 Das so verstandene Mannigfaltige wird von Kant näher bestimmt, indem er das, „was den Empfindungen überhaupt korrespondiert“, als „das Reale“ bezeichnet (A 175, B 217). Das Mannigfaltige der Erscheinung ist also mit dem Realen in der Erscheinung identisch, das sinnliche Mannigfaltige mit realitas phaenomenon. 67 Die Konzeption des sinnlichen Mannigfaltigen, zumindest der gerade skizzierte Teil dieser Konzeption, muss demnach als realistisches Element von Kants Erkenntnistheorie interpretiert werden. 68
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So fragt R. Rorty in polemischer Absicht: „Woher wissen wir aber, wenn wir Locke und Hume nicht gelesen haben, daß dem Bewusstsein ein Mannigfaltiges gegeben ist? [...] Daß dem so ist, können wir nicht durch Introspektion erkennen, da wir uns zu keiner Zeit unsynthetisierter Anschauungen bewusst werden“. (Rorty 1987, 172.) A 20. – In der B-Ausgabe hat Kant diesen Satz modifiziert: „[...] dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die Form der Erscheinung.“ (B 34). Vgl. Market 1981, 260 f. Kants Begriff für das Reale in der Erscheinung ist ‚realitas phaenomenon‘ und wird vom Begriff einer erkenntnistranszendenten ‚realitas noumenon‘ abgegrenzt. Zu diesen Begriffen und ihrer Differenz vgl. oben S. 49 f. Anhaltspunkte für diese Interpretation lassen sich bis in Kants Dissertatio (1770) zurückverfolgen. Dort ist etwa vom Mannigfaltigen, das die Sinne affiziert („varia, quae sensus afficiunt“), und vom Mannigfaltigen des Gegenstandes, das den Sinn affiziert („varia obiecti sensum afficientia“), die Rede (Dissertatio, § 4, A2 8.) Das Mannigfaltige ist demnach nicht,
3.4 Der Inkohärenzeinwand
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Weiterhin ist zu beachten, dass der Begriff des Mannigfaltigen, d. h. der Begriff des im phänomenalen Sinn Realen für Kant offenbar kein empirischer Begriff ist. Eine bestimmte „Qualität der Empfindung“, Kant nennt beispielsweise Farben und Geschmack, „ist jederzeit bloß empirisch, und kann a priori gar nicht vorgestellt werden“, aber, so Kant weiter, „das Reale, was den Empfindungen überhaupt korrespondiert, [...] stellet nur etwas vor, dessen Begriff an sich ein Sein enthält“, ist also kein empirisches Konzept (A 175, B 217; ohne dortige Hvh.). Entsprechend kann auch der Begriff des Mannigfaltigen nicht als empirischer Begriff gelten. Kant hält deshalb auch empirische Charakterisierungen des Mannigfaltigen bzw. Realen der Erscheinung für unzulässig. So möchte er etwa das „Reale im Raume [...] nicht Undurchdringlichkeit oder Gewicht nennen, weil dieses empirische Begriffe sind“ (A 173, B 215; ohne dortige Hvh.). Darin, dass der Begriff des Mannigfaltigen Kant zufolge kein empirischer Begriff ist und Kants Konzeption des Mannigfaltigen als realistisches Element seiner Erkenntnistheorie zu verstehen ist, zeigt sich, dass dem Begriff des Mannigfaltigen eine erkenntnistheoretische Funktion zukommt. Man würde diese Funktion jedoch missverstehen, wenn man Kants Konzeption des Mannigfaltigen als eine rechtfertigungstheoretische Position auffasst. Das Mannigfaltige fungiert bei Kant nicht als Fundament der Rechtfertigung empirischer Erkenntnis 69; es hat gar nicht die für diese Rolle erforderliche Bestimmtheit. Seine erkenntnistheoretische Funktion besteht vielmehr darin, den Realitätsbezug unserer empirischen Erkenntnis zu ermöglichen. Der Begriff des Mannigfaltigen fungiert in Kants Theorie der Erfahrung als eine transzendentale Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, und zwar als die einzige materiale bzw. nichtformale dieser Bedingungen. Das Mannigfaltige, das von Kant realistisch, als extramentale Realität konzipiert wird 70, soll unserer realistischen Intuition Rechnung tragen, dass es überhaupt eine vom erkennenden Subjekt unabhängige Wirklichkeit gibt, mit der es in seinem Erkennen zu tun hat. Diese Wirklichkeit lässt sich Kant zufolge aber nicht so begreifen, dass sie sich gewissermaßen selbst in Gegenstände und Arten einteilt oder eine ‚eingebaute‘ Struktur besitzt. Das bedeutet, unser theoretischer Zugang zu dieser Wirklichkeit besteht nicht im Abbilden einer irgendwie vorgefertigten Welt. Er trägt vielmehr einen Charakter, den Kant mit dem Begriff des
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wie Empfindungen oder Eindrücke, Ergebnis der Affektion, sondern selbst affizierend und insofern Ursache der Empfindungen und Eindrücke. Entsprechend fällt Kant nicht Sellars’ ‚Mythos des Gegebenen‘ zum Opfer. Zum Begriff und zur Kritik des „Myth of the Given“ siehe Sellars 1963. Vgl. dazu oben S. 50.
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Bestimmens beschreibt. Insbesondere das „Erkennen“ ist bei Kant als ein „Bestimmen“ gefasst (B 166 Anm.). Für Kants Begriff des Bestimmens sind, wie schon erwähnt, zwei Momente fundamental: Es gibt etwas, das bestimmt wird; und sofern etwas bestimmt wird, wird es als etwas bestimmt. Die minimale Struktur des Bestimmens besteht also darin, dass etwas als etwas bestimmt wird. Es ist selbstverständlich möglich, dass dasjenige im Bestimmen, was bestimmt wird, selbst als bestimmt gelten muss. Das ist beispielsweise in dem Erfahrungsurteil „Der Apfel ist rot“ der Fall; denn dieses Urteil bestimmt etwas durch ‚rot‘ näher, das als Apfel bestimmt ist. Kant zufolge ist aber der für unsere Erfahrungsurteile grundlegende Aspekt des Bestimmens anderer Art. Er besteht nicht darin, dass ein Gegenstand als P, etwa als Apfel, bestimmt wird, sondern darin, dass überhaupt erst etwas als Gegenstand bestimmt wird. Bei diesem Bestimmen handelt es sich nach Kant um ein apriorisches Bestimmen aufgrund der Anschauungen a priori von Raum und Zeit sowie der Begriffe a priori des Verstandes. Die Vorstellung ist hier, wie sich Kant ausdrückt, „in Ansehung des Gegenstandes a priori bestimmend“; und dieser Fall, so führt er unmittelbar anschließend aus, liegt dann vor, „wenn durch sie allein es möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen.“ (A 92, B 125) Im vorliegenden Kontext stellt sich nun die Frage, welchen Anforderungen der Gedanke desjenigen ‚Etwas‘, das wir in dem genannten grundlegenden Sinn a priori bestimmen, gerecht werden muss. Insofern dieses ‚Etwas‘ nur aufgrund eines solchen Bestimmens als ein Gegenstand erkannt werden kann, ist prinzipiell kein Standpunkt verfügbar, von dem her wir wissen können, dass es jenseits dieses Bestimmens, also schon von sich aus gegenständlich bestimmt ist. Damit liegt die Forderung nahe, dieses ‚Etwas‘ erstens nicht schon selbst als gegenständlich bestimmt zu konzipieren. Und wenn der Gegenstand, als der dieses ‚Etwas‘ bestimmt wird, wie beim empirischen Erkennen, ein realer Gegenstand sein soll, dann ist es zweitens als Reales zu konzipieren. Kants Konzeption des Mannigfaltigen trägt diesen beiden Anforderungen Rechnung. ‚Mannigfaltiges‘ ist der Begriff für etwas, das in gegenständlicher Hinsicht unbestimmt ist, und zugleich der Begriff für etwas Reales. Die Erläuterung des erkenntnistheoretischen Status’, der dem Begriff des Mannigfaltigen bei Kant zukommt, ist jedoch noch keine Legitimierung dieses Begriffs. Auf eine solche Legitimierung muss die Zurückweisung von Strawsons Inkohärenzeinwand jedoch abzielen. Deshalb ist zu fragen, wodurch sich Kants erkenntnistheoretischer Begriff des Mannigfaltigen rechtfertigen lässt. Für die Beantwortung dieser Frage gehe ich von der Annahme aus, dass jede gelingende Theorie der Erfahrung auf einen Realismus verpflichtet ist, der der oben genannten Intuition gerecht
3.4 Der Inkohärenzeinwand
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werden kann, dass es überhaupt eine vom erkennenden Subjekt unabhängige Wirklichkeit gibt, mit der es in seinem Erkennen zu tun hat. Zu einer in diesem Sinn realistischen Theorie der Erfahrung gehört die Auffassung, dass wir uns diese Wirklichkeit durch unser Erkennen in irgendeiner Weise aneignen. Von großer Bedeutung ist nun, dass es von den Begriffssystemen, die wir verwenden, abhängig ist, wie wir uns diese Wirklichkeit aneignen. Was wir aufgrund von Erkenntnis als Wirklichkeit ansehen, hängt von den in der Erkenntnis verwendeten Begriffssystemen ab. Dass das, was wir als Wirklichkeit ansehen, relativ zu unseren Begriffssystemen ist, lässt sich durch ein Phänomen verdeutlichen, das H. Putnam als ‚conceptual relativity‘ bezeichnet und dessen allgemeine erkenntnistheoretische Bedeutung m. E. kaum zu überschätzen ist. Dieses Phänomen, so Putnam, „turns on the fact that the logical primitives themselves, and in particular the notions of object and existence, have a multitude of different uses rather than one absolute ‚meaning‘.“ 71 Putnam exemplifiziert diese grundbegriffliche Relativität anhand einer Welt mit drei Individuen x1, x2 und x3. 72 Die Frage, wie viele Gegenstände es in dieser Welt gibt, wird mit „Drei“ beantwortet werden, wenn man ‚Individuum‘ und ‚Gegenstand‘ identifiziert. Die Antwort wird jedoch anders lauten, wenn man auf der Grundlage der von Leœniewski formalisierten Logik von Teilen und Ganzen annimmt, dass je zwei Einzeldinge zu einem Gegenstand, ihrer mereologischen Summe, zusammengefasst werden können. In diesem Fall gibt es in dieser Welt sieben Gegenstände: x1, x2, x3, x1+x2, x1+x3, x2+x3 und x1+x2+x3 (bzw. acht, wenn man auch das in einigen mereologischen Kalkülen vorgesehene ‚Nullelement‘ als Gegenstand ansieht). Wie viele Gegenstände es in dieser Welt gibt, hängt damit von der begrifflichen Wahl dessen ab, was als ‚Gegenstand‘ gilt. Putnam weist in Bezug auf dieses Beispiel nach, dass sich keine der beiden Beschreibungen im Vergleich zur anderen als die ‚korrekte‘ oder ‚richtige‘ Sicht der Dinge auszeichnen lässt und dass „one will be equally ‚right‘ in either case.“ 73 Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass die Betonung der grundbegrifflichen Relativität weder einem radikalen Kulturrelativismus das Wort redet, noch zur Aufgabe der Idee führt, dass es etwas gibt, das vom menschlichen Geist unabhängig ist. Zwar mögen unsere Begriffe kulturrelativ sein, daraus folgt aber nicht, dass auch die Wahrheit und Falschheit unserer Aussagen, in denen wir diese Begriffe verwenden, „is simply ‚decided‘ by the culture.“ 74 Wenn wir in Bezug auf
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Putnam 1987, 19; ohne dortige Hvh. Putnam 1987, 18. Vgl. auch die Diskussion anhand des weniger abstrakten Beispiels in Putnam 1999, 194 ff. Putnam 1987, 33/5; hier: 35. Ebd., 20.
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die oben genannte Beispielwelt wissen wollen, wie viele Gegenstände es in ihr gibt, dann mag zwar von unseren Entscheidungen oder von Konventionen abhängen, wie gezählt wird oder was als Gegenstand gilt, das bedeutet aber nicht, dass dadurch auch die Antwort eine Sache der Konvention wird. 75 In der einen Version muss ich „Drei“ antworten und in der anderen Version muss ich „Sieben“ antworten, weil es in der jeweiligen Version eben so viele Gegenstände gibt. Relativ auf die jeweilige Version handelt es sich dabei um ‚externe‘ Fakten. Putnam schließt: „What we cannot say – because it makes no sense – is what the facts are independent of all conceptual choices.“ 76 In der Hoffnung, das Phänomen der begrifflichen Relativität für eine Legitimation von Kants Begriff des Mannigfaltigen fruchtbar zu machen, könnte man nun auf die Idee kommen, dass sich dieses Phänomen durch die Annahme des Mannigfaltigen erklären lässt. Leider erweist sich dieser Ansatz jedoch als undurchführbar. Das lässt sich anhand der von Putnam so genannten Metapher des Plätzchenausstechers („‘cookie cutter’ metaphor“ 77) zeigen. Mit dieser Metapher wird die Welt unabhängig von unseren begrifflichen Entscheidungen, d. h. das Feld des Mannigfaltigen, als Teig betrachtet, während der Plätzchenausstecher und die von ihm verwendeten Formen für unseren begrifflichen Beitrag stehen. Putnam weist zu Recht darauf hin, dass „this metaphor is of no real assistance in understanding the phenomenon of conceptual relativity. Take it seriously, and you are at once forced to answer the question, ‘What are the various parts of the dough?’“ 78 Das Problem besteht darin: Soll die Metapher des Plätzchenausstechers etwas zum Verständnis des Phänomens der begrifflichen Relativität beitragen, dann darf der Frage nach den Teilen des Teigs weder ausgewichen werden, noch darf sie beantwortet werden. Denn weicht man ihr aus, indem man etwa sagt: „Es kommt darauf an, was Du als ‚Teil‘ verstehen willst“, dann nimmt man die Einsicht der begrifflichen Relativität, die durch die Metapher verdeutlicht werden sollte, bereits in Anspruch. Gibt man aber eine Antwort – z. B.: „Die mereologischen Summen von Teigpartikeln sind die Teile“ –, dann legt man sich im Rahmen des Modells, das dem Verständnis des Phänomens der begrifflichen Relativität dienen sollte, auf die Bedeutung von ‚Gegenstand‘ bzw. ‚Teil‘ fest, leugnet also dieses Phänomen. Putnam weist deshalb darauf hin, dass „the Cookie Cutter Metaphor tries to preserve [...] the naive idea that at least one Cate-
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Ebd., 32 f. Ebd., 33; ohne dortige Hvh. Siehe etwa ebd., 19. Ebd., 33.
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gory – the ancient category of Object or Substance – has an absolute interpretation.“ 79 Dies gilt zwar für Kants Konzeption des Mannigfaltigen nicht, da die Realität, für die es steht, kategorial gänzlich unbestimmt ist, aber eine Argumentation für diese Konzeption müsste ebenso wie der Vertreter der Cookie-Cutter-Metapher, der der Frage nach den Teilen des Teigs ausweichen möchte, das Phänomen der begrifflichen Relativität bereits voraussetzen. In diesem Scheitern deutet sich aber zugleich an, dass die Hoffnung, das Phänomen der begrifflichen Relativität für eine Legitimation von Kants Begriff des Mannigfaltigen fruchtbar zu machen, vielleicht nicht gänzlich verfehlt war. Denn anstatt in der Annahme des Mannigfaltigen eine Erklärung des Phänomens der begrifflichen Relativität zu suchen, könnte man umgekehrt versuchen, diese Annahme unter der Voraussetzung dieses Phänomens zu rechtfertigen. Genau diesen Weg werde ich nun einschlagen. 80 Das Phänomen der begrifflichen Relativität hat die Relativität dessen zur Folge, was als Wirklichkeit gilt. Die Einsicht, dass selbst unsere Grundbegriffe verschiedene und gleichermaßen legitime Verwendungsweisen haben, hat zur Folge, dass das, was wir als Wirklichkeit ansehen, von den von uns verwendeten Begriffssystemen abhängt. Man kann dies in einer Terminologie des Deutens zum Ausdruck bringen: Was uns als Wirklichkeit gilt, ist prinzipiell deutungsimprägniert. Die Einsicht, dass keine neutrale Beschreibung der Wirklichkeit verfügbar ist, kann so reformuliert werden, dass es prinzipiell keine perspektivenlose, deutungsunabhängige oder interpretationsfreie Erkenntnis gibt. 81 Diese deutungstheoretische Interpretation des Phänomens der grundbegrifflichen Relativität lässt sich nun in Hinblick auf eine Rechtfertigung von Kants Begriff des Mannigfaltigen fruchtbar machen.
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Ebd., 36. Das Phänomen der begrifflichen Relativität in der Rechtfertigung von Kants Begriff des Mannigfaltigen vorauszusetzen, mag problematisch erscheinen. Denn widerstreitet dieses Phänomen nicht einer zentralen These Kants – der These, dass die Kategorien apriorische sinnliche Anwendungsbedingungen haben? Ich denke, das ist nicht der Fall. Was innerhalb der empirischen Erkenntnis im Einzelnen als Substanz bzw. Akzidenz oder als existierend gilt, wird durch die formalen Anwendungsbedingungen der Kategorien, durch ihre transzendentalen Schemata, nicht festgelegt. Dies sind vielmehr empirische Fragen. Dass der Spielraum für die Beantwortung dieser Fragen durch die transzendentalen Schemata überhaupt eine sehr allgemeine Grenze hat, widerstreitet nicht dem Phänomen der begrifflichen Relativität. Damit ist eine Grundüberzeugung genannt, in der einige neuere philosophische Theorien übereinkommen – der ‚Perspektivismus‘ (F. Kaulbach), die ‚Deutungstheorie‘ (G. Prauss), die ‚Philosophie der Interpretationskonstrukte‘ (H. Lenk) und die ‚Interpretationsphilosophie‘ (G. Abel). Einen ersten Überblick über diese Positionen kann Steltzer 2001 bieten.
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Dazu ist zunächst das zu entfalten, was ich die ‚Logik des Deutens‘ nennen möchte. Die begriffliche Struktur des Deutens ist offenbar der des Kantischen Bestimmens analog: Etwas wird als etwas gedeutet. Aufgrund dieser Struktur setzt jede Deutung etwas als gegeben voraus, das gedeutet wird. Da es jedoch prinzipiell keine deutungsfreie Erkenntnis gibt, Erkennen mithin als Deuten verstanden werden muss, kann dieses Gegebene in keinem Fall als unabhängig von jeglicher Deutung erkannt werden. Wenn das jeweils in unserer Erkenntnis Gegebene im Rahmen unserer Erkenntnis aber selbst nur als Gedeutetes verfügbar ist, setzt es wiederum ein Gegebenes voraus etc. Angesichts dieses Befundes sind zwei erkenntnistheoretische Alternativen denkbar. Erstens, man setzt im Rahmen der Theorie der Erkenntnis etwas voraus, das unabhängig von jeglicher Deutung ist und all unseren Deutungen material zugrunde liegt, obwohl in unserem Erkennen ein schlechthin Gegebenes als solches prinzipiell nicht verfügbar ist, oder zweitens, man verzichtet auf eine solche Annahme. Der Verzicht auf diese Annahme impliziert aber, den Deutungszusammenhang so zu verstehen, dass all unseren Deutungen material immer nur Produkte von anderen Deutungen zugrunde liegen. Diese Auffassung ist jedoch mit einem schwerwiegenden Problem konfrontiert. Sie kann der realistischen Intuition, dass es überhaupt eine vom menschlichen Geist, d. h. seinen Deutungen, unabhängige Wirklichkeit gibt, mit der wir es in unserem Erkennen bzw. Deuten zu tun haben, letztlich nicht gerecht werden. Denn indem sie unseren Deutungen in materialer Hinsicht prinzipiell nur Deutungsprodukte zugrunde legt, lehnt sie die Konzeption von etwas Deutungsunabhängigem, das allen Deutungen material zugrunde liegt, ab und gibt so den Gedanken einer vom menschlichen Geist, d. h. seinen Deutungen, unabhängigen Wirklichkeit auf. Die zweite der oben genannten erkenntnistheoretischen Alternativen ist daher anhand des Kriteriums, dass sie unserer realistischen Intuition nicht gerecht wird, zurückzuweisen. Es kommt also nur die erste der genannten Alternativen in Betracht – die Annahme, dass unseren Deutungen und mithin unseren Erkenntnissen material letztlich etwas zugrunde liegt, das als deutungsunabhängig, als schlechthin Gegebenes zu konzipieren ist, obwohl es als solches in unserem Erkennen prinzipiell nicht verfügbar ist, weil deutungsfreie Erkenntnis nicht möglich ist. Der entscheidende Punkt ist nun: Da sich dieses Gegebene qua Deutungsunabhängiges nicht von unseren im Erkennen vollzogenen Deutungen her einsichtig machen lässt, muss es einer von diesen Deutungen und insofern vom erkennenden Subjekt unabhängigen
3.4 Der Inkohärenzeinwand
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Wirklichkeit zugeordnet werden. 82 Es trägt auf diese Weise unserer realistischen Intuition Rechnung und kann als ein „realistisches Minimum“ (W. Röd) gelten. 83 Da sich dieses realistische Minimum offenbar mit derjenigen unbestimmten Realität identifizieren lässt, die Kant das ‚Mannigfaltige‘ nennt, stellen die vorstehenden Überlegungen eine Rechtfertigung der Konzeption des Mannigfaltigen dar. Die Eckpunkte dieser Rechtfertigung sind das Phänomen der grundbegrifflichen Relativität, seine deutungstheoretische Interpretation, die skizzierte Logik des Deutens und unsere realistische Intuition, die als Ausschlusskriterium für die sich aus dieser Logik ergebenden erkenntnistheoretischen Alternativen fungiert. Was noch zu tun bleibt, ist, die bisherigen Überlegungen gebündelt auf den Inkohärenzeinwand gegen Kants Synthesislehre zu beziehen. Zunächst ist daran zu erinnern, dass sich die Legitimität und Sinnhaftigkeit der Grundbegriffe dieser Lehre – ‚Mannigfaltiges‘ und ‚Synthesis‘ – anders als der Inkohärenzeinwand suggeriert, nicht im Rekurs auf das ‚principle of significance‘ bestreiten lässt, da dieses Prinzip, mit dem die Irreflexivität von Kants Erkenntnistheorie nachgewiesen werden soll, selbst irreflexiv ist. Im Grunde genommen ist der Einwand damit bereits zurückgewiesen. Allerdings ist diese erste Zurückweisung für das Verständnis von Kants Synthesislehre wenig aufschlussreich. Denn sie lässt das Problem offen, wie sich die Annahme von Synthesisprozessen als Vorbedingung empirischer Erkenntnis und die Annahme von Mannigfaltigem als Material für diese Prozesse rechtfertigen lassen. Der Inkohärenzeinwand behauptet, dass diese Annahmen nicht auf empirischer Erkenntnis beruhen können und deshalb abzulehnen sind. Zeigt man demgegenüber im Einzelnen, wie sich diese Annahmen – obwohl sie tatsächlich nicht auf empirischer Erkenntnis beruhen können – rechtfertigen lassen, so kommt dies einer zweiten Zurückweisung des Einwandes gleich, die über die erste hinaus den Vorteil hat, dass sie für das Verständnis von Kants Synthesislehre aufschlussreich ist. Mit dem Ziel, diese zweite Zurückweisung des Inkohärenzeinwandes zu leisten, ist die Konzeption des Mannigfaltigen in den Mittelpunkt gestellt worden. Kants Annahme des Mannigfaltigen, so zeigte sich, ist weder eine empirisch-psychologische These, die zudem falsch ist, noch eine
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Mit H. Lenk möchte ich darauf hinweisen, dass diese Zuordnung und damit die Unterstellung und Distanzierung einer in gegenständlicher Hinsicht unbestimmten Realität ein Schritt der erkenntnistheoretischen Modellbildung ist und entsprechend „als ein Interpretationskonstrukt erkenntnistheoretischer Art“ aufgefasst werden sollte (Lenk 1995, 53 f.). Röd entwickelt diese Position unter dem Titel einer „Option für ein realistisches Minimum“ (Röd 1991, 178/82). Er glaubt allerdings, dass man einige allgemeine Strukturen dieser Wirklichkeit ermitteln kann (ebd., 174, 185 ff.). Siehe die berechtigte Kritik daran bei Lenk 1995, 54 f.
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3 Strawsons Ausgrenzung der Einbildungskraft
dogmatische Setzung schlechter Metaphysik, sondern lässt sich argumentativ ausweisen. Vor dem Hintergrund des Phänomens der grundbegrifflichen Relativität, seiner deutungstheoretischen Interpretation, der skizzierten Logik des Deutens und unserer als Ausschlusskriterium fungierenden realistischen Intuition erweist es sich als notwendig, ein deutungsunabhängiges, schlechthin Gegebenes in die Theorie der Erfahrung einzuführen. Dieses schlechthin Gegebene ist als Grenzbegriff zu konzipieren. Es ist in unserem Erkennen prinzipiell nicht verfügbar; darin artikuliert sich aber keine erkenntnispessimistische These, sondern die Einsicht, dass uns keine deutungsunabhängige Erkenntnis verfügbar ist. Entscheidend ist, dass dieses deutungsunabhängige, schlechthin Gegebene, weil es sich nicht im Rekurs auf unsere im Erkennen vollzogenen Deutungen, d. h. nicht im Rekurs auf das erkennende Subjekt, verständlich machen lässt, auf eine von diesem Subjekt unabhängige Wirklichkeit zu beziehen ist. Aus diesem Grund ist es mit derjenigen in gegenständlicher Hinsicht unbestimmten Realität zu identifizieren, die Kant das ‚Mannigfaltige‘ nennt. Wenn die Annahme des Mannigfaltigen auf diese Weise als gerechtfertigt gelten kann, dann lässt sich auch für die Annahme einer Synthesis des Mannigfaltigen argumentieren. Man braucht dafür lediglich die Zusatzprämisse, dass wir Erscheinungen im Sinne von intuitiv bestimmten, aber kategorial unbestimmten Gegenständen der empirischen Anschauung vorstellen können. Diese Zusatzprämisse ist relativ schwach, weil sie nicht einmal erfordert, dass wir objektive empirische Erkenntnis haben können. Sie ist aber stark genug, um den Begriff der Synthesis einführen zu können: Das Mannigfaltige weist von sich aus keinerlei Einheit auf; sind wir aber in der Lage Erscheinungen, d. h. etwas (Einheit), das der Materie nach ein Mannigfaltiges enthält, vorzustellen, so müssen wir auch in der Lage sein, Mannigfaltiges als Erscheinung zu bestimmen; bei diesem Bestimmen handelt es sich jedoch um eine Synthesisleistung. Der Schritt von der Annahme des Mannigfaltigen zur Annahme von Synthesis erfordert also lediglich, dass wir irgendwelche Einheiten in dem von sich aus einheitslosen Mannigfaltigen ausmachen können. Denn dies ist bereits eine Synthesis von Mannigfaltigem. Der auf diese Weise gerechtfertigte Begriff der Synthesis ist zwar relativ schwach; im Rahmen der Kritik des Inkohärenzeinwandes reicht jedoch die Rechtfertigung aus, dass die Grundbegriffe von Kants Synthesislehre – d. h. die Begriffe des Mannigfaltigen und der Synthesis – entgegen der Einschätzung dieses Einwandes überhaupt Legitimität und Sinnhaftigkeit beanspruchen können. Im Zuge dieser Rechtfertigung ist nun auch die erkenntnistheoretische Bedeutung von Kants Modell der bestimmenden Synthesis deutlicher hervorgetreten. Kants Annahme eines in gegenständlicher Hinsicht unbestimmten Mannigfaltigen bzw. Realen ist ein deutlicher Hinweis darauf,
3.4 Der Inkohärenzeinwand
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dass seiner Auffassung nach alle Bereiche unseres theoretischen Zugangs zur Wirklichkeit durch Leistungen des Bestimmens von etwas als etwas vermittelt sein müssen. Zuletzt hat sich noch einmal gezeigt, dass dies nicht erst im Bereich des Denkens, sondern bereits im Bereich des Anschauens gilt. Denn Kant zufolge bedeutet ‚etwas anschauen‘ seinem fundamentalen Sinn nach, ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Reales als Erscheinung zu bestimmen; und bei diesem intuitiven Bestimmen handelt es sich für ihn um eine Synthesisleistung der Einbildungskraft. Über Putnam hinaus wäre daher mit Kant nicht nur von einer ‚begrifflichen‘, sondern bereits von einer ‚anschaulichen Relativität‘ zu sprechen. Für Kant ist bereits das Individuieren und Diskriminieren von Gegenständen auf der intuitiven Ebene von Leistungen der bestimmenden Synthesis der Einbildungskraft abhängig.
4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft 4.1 Das weitere Vorgehen im Überblick Die im vorigen Kapitel geführte Auseinandersetzung mit einigen grundlegenden Einwänden gegen Kants Synthesislehre hat deutlich gemacht, dass diese Lehre nicht rundweg abgelehnt werden kann. Vielmehr hat sich gezeigt, dass es legitim und sinnvoll ist, ihren Grundbegriffen – den Begriffen des Mannigfaltigen und der Synthesis – einen zentralen Ort in der Erkenntnistheorie einzuräumen. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass ein Aspekt von Kants Synthesislehre aufzugeben ist, und zwar die Vorstellung, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft eine für die Gegenstände und die Natur in ihrer räumlich-zeitlichen oder kategorialen Grundbeschaffenheit konstitutive Synthesis ist. Diese Synthesis kann allenfalls für die Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen und Natur konstitutiv sein. Diese Funktion soll sie aber als bestimmende Synthesis übernehmen, als eine Synthesis, die räumlich-zeitliche Materie (Mannigfaltiges) intuitiv bzw. als Erscheinung und Erscheinungen kategorial bzw. als empirische Objekte bestimmt. Der haltbare Kern der erkenntnistheoretischen Konzeption der Einbildungskraft der KrV kann meiner Auffassung nach nur in Bezug auf Kants Modell der bestimmenden Synthesis identifiziert werden. Dieses Modell hat sich vor dem Hintergrund von Kants Spezifikation des Grundgedankens der kopernikanischen Wende im Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien ergeben. 1 Die Gegenstände müssen sich insofern nach unserer Erkenntnis richten, als es allererst aufgrund von Formen unserer Sinnlichkeit und Regeln a priori des Verstandes möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen. Soll Kants Konzeption der Einbildungskraft einen Beitrag zu der Begründung leisten, dass sich Gegenstände in diesem Sinn nach unserer Erkenntnis richten, dann ist man in der Rekonstruktion dieser Konzeption auf diejenige Untersuchung verwiesen, die auf den genannten Übergang folgt, d. h. auf die Deduktionsuntersuchung. Kants erkenntnistheoretische Konzeption der Einbildungs-
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Siehe oben Abschnitt 3.3, S. 63 ff.
4.1 Das weitere Vorgehen im Überblick
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kraft wird daher vor allem mit Blick auf die Deduktionsuntersuchung zu rekonstruieren sein. 2 Eine solche Rekonstruktion erfordert jedoch ein relativ aufwendiges Interpretationsverfahren. Erstens ist zu klären, worin das Deduktionsproblem überhaupt besteht und wie Kant dessen Lösung strukturiert. Denn nur auf dieser Grundlage lässt sich die Funktion bestimmen, die der Einbildungskraft in der Deduktionsuntersuchung zukommt. Dabei wird sich zeigen, dass Kant der Einbildungskraft nicht nur eine systematische, sondern auch eine methodische Funktion für diese Untersuchung zuweist. Letzteres hat zur Konsequenz, dass die Deduktionsuntersuchung mit einer Analyse verschiedener Synthesistypen der Einbildungskraft einsetzt. Zweitens werden die Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung zu klären sein. Denn wenn diese Untersuchung durch die Analyse verschiedener Synthesistypen der Einbildungskraft in Gang gesetzt wird, dann muss die Grundlage, auf der diese Synthesistypen aufgewiesen werden sollen, vor dem Hintergrund der Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung identifiziert werden. Drittens ist zu rekonstruieren, wie sich die verschiedenen Synthesistypen der Einbildungskraft auf der genannten Grundlage in der Deduktionsuntersuchung ausweisen lassen und wie sie zusammenhängen. Diese Rekonstruktion bildet gewissermaßen den Kern der Rekonstruktion von Kants Theorie der Einbildungskraft. Viertens schließlich sind die verschiedenen Beweisgänge, mit denen Kant das Deduktionsproblem zu lösen beabsichtigt, zu rekonstruieren. Denn nur so wird sich entscheiden lassen, inwieweit die Einbildungskraft die systematische Funktion, die Kant ihr für die Lösung dieses Problems zuweist, auch erfüllt. Diese vier Punkte bestimmen das Vorgehen der gesamten weiteren Arbeit. Die beiden zuletzt genannten werden in den folgenden Kapiteln behandelt. 3 Im gegenwärtigen Kapitel wird es um die beiden zuerst genannten Punkte gehen. Dabei werde ich so vorgehen, dass ich zunächst kläre, worin das Deduktionsproblem und die Struktur seiner Lösung besteht. Vor diesem Hintergrund werde ich auf die verschiedenen Interessen eingehen, die Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der KrV mit seinem Deduktionsprojekt verbindet, und einen genuin erkenntnistheoretischen sowie einen
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Aus Gründen, die ich im Einführungskapitel erläutert habe, werde ich mich hier auf die ADeduktion beschränken. Unter dem Ausdruck ‚Deduktionsuntersuchung‘ möchte ich im Folgenden all diejenigen Überlegungen des Deduktionskapitels der ersten Auflage der KrV verstehen, die mit dem letzten Absatz des ersten Abschnitts dieses Kapitels („Es sind aber drei ursprüngliche Quellen [...]“, A 94) beginnen (A 94/130). Der dritte Punkt wird das Hauptthema des fünften Kapitels dieser Arbeit sein. Um den vierten Punkt wird es vor allen im sechsten und siebenten Kapitel gehen.
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
subjekttheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung unterscheiden. In Hinblick auf beide Aspekte ist Kant zufolge ein Rekurs auf subjektive Erkenntnisquellen (Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption) erforderlich. Anschließend werde ich die komplexe Funktion herausarbeiten, die speziell der Einbildungskraft in der Deduktionsuntersuchung zukommt. Diese Funktion ist sowohl für den erkenntnistheoretischen als auch den subjekttheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung eine einerseits systematische und andererseits methodische. Doch nicht nur die Funktionen der Einbildungskraft für die Deduktionsuntersuchung sind vielfältig, sondern, wie ich überblicksartig deutlich machen werde, auch die von Kant unterschiedenen Synthesistypen der Einbildungskraft. Anschließend wird zu klären sein, worin die Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung bestehen. Denn sie bilden zugleich die Grundlage, auf der Kant seine Analyse verschiedener Synthesistypen der Einbildungskraft beginnt. Der erste ist die Möglichkeit von Erkenntnis in einem noch zu klärenden weiten Sinn, der zweite das Nacheinander all unseres bewussten Vorstellens. Vor dem Hintergrund dieser Ausgangspunkte wird eine detaillierte Interpretation von Kants Definition des Synthesisbegriffs (A 77, B 103), des zentralen Begriffs seiner Theorie der Einbildungskraft, durchgeführt. Dabei wird sich zeigen, dass insbesondere ein Aspekt dieser Ausgangsdefinition einen schwerwiegenden Einwand gegen die erkenntnistheoretische Relevanz von Kants Synthesislehre nach sich zieht, den Psychologismuseinwand. Kant zufolge steht „Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung“ für eine „Handlung“ (ebd.); demnach sind insbesondere transzendentale Synthesen Handlungen; Handlungen aber, so der Psychologismuseinwand, kommen allenfalls als Entstehungsbedingungen oder Ursachen der Erfahrung, nicht jedoch als Gründe ihrer Möglichkeit in Frage. Wie schon die Auseinandersetzung mit den im vorigen Kapitel diskutierten Einwänden möchte ich auch die Auseinandersetzung mit dem Psychologismuseinwand dazu nutzen, ein unter Gesichtspunkten der Textinterpretation angemessenes und unter sachlichen Gesichtspunkten aufschlussreiches Verständnis von Kants Synthesislehre (und hier speziell seiner Lehre der transzendentalen Synthesis) zu gewinnen. Um dem Psychologismuseinwand zu entgehen, werde ich vorschlagen, dass transzendentale Synthesen primär als Fähigkeiten und nur sekundär als Handlungen zu konzipieren sind. Am Ende des vorliegenden Kapitels werde ich ein Kriterium dafür formulieren, wann eine Synthesisfähigkeit als transzendental gelten kann.
4.2 Das Deduktionsproblem und die Struktur seiner Lösung
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4.2 Das Deduktionsproblem und die Struktur seiner Lösung 4.2.1 Der Deduktionsbegriff und das Problem einer transzendentalen Deduktion Kant verwendet den Ausdruck ‚Deduktion‘ im Deduktionskapitel im Anschluss an die Rechtslehre seiner Zeit, in der eine Deduktion die Rechtmäßigkeit erworbener Besitz- oder Gebrauchsansprüche einsichtig macht, indem sie den Ursprung des Besitzes oder Gebrauchs erklärt. 4 Die Aufgabe einer Deduktion ist aber nicht, die faktischen Umstände dessen zu klären, was zu diesem Besitz oder Gebrauch führte – dies wäre die Funktion der in juristischen Deduktionsschriften so genannten ‚Geschichtserzählungen‘ (Spezies facti), auf die Kant mit seiner „quid facti“?-Frage hinweist (A 84, B 116). Sie besteht, in Kants Worten, vielmehr darin, die „Frage über das, was Rechtens ist (quid iuris)“, zu beantworten, indem ein „Beweis [...], der die Befugnis, oder auch den Rechtsanspruch“ darlegt, gegeben wird (ebd.). Deduktionsfragen stellen sich somit als Fragen der Legitimation von Rechtsansprüchen und sollen durch Beweise beantwortet werden. 5 In Hinblick auf sein erkenntnistheoretisches Vorhaben bezieht Kant das Konzept der Deduktion auf Begriffe: In einer Reflexion aus den frühen 1780er Jahren erklärt er, dass es bei der „qvaestio iuris“ um die Frage gehe, „mit welchem Recht man [... einen Begriff] besitze und ihn brauche.“ 6 Dabei können der legitime Besitz und der legitime mögliche Gebrauch eines Begriffs identifiziert werden: Wir besitzen einen Begriff genau dann rechtmäßig, wenn wir ihn rechtmäßig gebrauchen können. Und dies ist, wie zu sehen sein wird, genau dann der Fall, wenn es einen Rechtsgrund dafür gibt, ihn auf Gegenstände zu beziehen. Die erkenntnistheoretische Deduktionsfrage lässt sich in Hinblick auf empirische und auf reine Begriffe stellen. Der Anspruch, dass ein empirischer Begriff rechtmäßig gebraucht wird, ist im Rekurs auf Erfahrung einlösbar. Wenn wir die Wahrnehmungen haben können, aufgrund derer sich der empirische Begriff bilden lässt, ist es möglich, ihn rechtmäßig zu gebrauchen, und zwar deshalb, weil wir ihn dann aufgrund von Erfahrung auf die Gegenstände dieser Wahrnehmungen beziehen können. Der
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Zum rechtshistorischen Hintergrund des Deduktionsbegriffs siehe Henrich 1989, 31/6. A. Rosales weist (gegen Henrich) zu Recht darauf hin, dass juristische ebenso wie transzendentale Deduktionen von Kant als Beweise verstanden werden, die nicht nur in Vernunftschlüssen (Syllogismen) bestehen, sondern auch nicht-syllogistische Begründungen umfassen. Siehe Rosales 2000, 126 (insbes. Anm. 8) sowie ebd., 118 Anm. 1. R 5336 (1780/3), AA 18.267.8 f. Nach Adickes (ebd., Z. 24 f.) ist diese Reflexion „vielleicht eine Vorarbeit in engerem Sinne zur 1. Aufl. der Krit. d. rein. Vern.“
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
Rechtsgrund für den Gegenstandsbezug reiner Begriffe muss jedoch anderer Art sein. Denn reine Begriffe, so Kant, sind „auch zum reinen Gebrauch a priori (völlig unabhängig von Erfahrung) bestimmt“ (A 85, B 117). Dieser Anspruch, von dem letztlich die Möglichkeit der Metaphysik als reiner Vernunftwissenschaft abhängt, kann nicht aufgrund von Erfahrung eingelöst werden. Der Nachweis der Rechtmäßigkeit eines apriorischen Gebrauchs von Begriffen besteht Kant zufolge in einer „Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“ und wird von ihm eine „transzendentale Deduktion“ dieser Begriffe genannt (ebd.). Die transzendentale Deduktion von Begriffen soll also erklären, wie sich Begriffe unabhängig von jeder besonderen Erfahrung und insofern notwendigerweise auf Gegenstände beziehen können. 7 Man kann Kants Definition einer transzendentalen Deduktion erstens entnehmen, dass es von empirischen Begriffen prinzipiell keine transzendentale Deduktion geben kann, weil solche Begriffe sich nur aufgrund bestimmter Erfahrungen auf Gegenstände beziehen können. Und in Bezug auf die verbleibenden nichtempirischen Begriffe, so kann man Kants Definition zweitens entnehmen, reicht es in Hinblick auf ihre transzendentale Deduktion nicht aus, wenn man zeigt, wie diese Begriffe im Verlauf der Erfahrung erworben werden, weil auf diese Weise die Frage eines erfahrungsunabhängigen Gegenstandsbezugs dieser Begriffe nicht einmal gestellt wird. 8 Das Deduktionsproblem besteht demnach im Kern darin, den Anspruch eines erfahrungs-
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Es ist zu beachten, dass der Ausdruck ‚a priori‘ in Kants oben zitierter Definition einer transzendentalen Deduktion adverbial fungiert. Es geht in der Definition also nicht um apriorische Begriffe, sondern um einen apriorischen Gegenstandsbezug von Begriffen. Diese Auffassung wird einige Sätze später bestätigt: In der transzendentalen Deduktion geht es um Begriffe, die „völlig a priori sich auf Gegenstände beziehen“ (A 85, B 118). Kant unterscheidet von der transzendentalen die empirische Deduktion, die er mit dem empiristischen Programm Lockes assoziiert. Diese zeigt die Art an, „wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über dieselbe erworben worden“ ist und betrifft „daher nicht die Rechtmäßigkeit, sondern das Faktum [...], wodurch der Besitz entsprungen“ (A 85, B 117). Die empirische Deduktion eines nicht-empirischen Begriffs, beispielsweise des Kausalitätsbegriffs, könnte allenfalls die Geschichte seines faktischen Erwerbs nachvollziehen. In dieser erkenntnisgenetischen bzw. -psychologischen Perspektive kann prinzipiell nicht verständlich werden, wie sich ein solcher Begriff erfahrungsunabhängig bzw. notwendigerweise auf Gegenstände beziehen kann. Denn selbst wenn es gelänge, den Besitz eines solchen Begriffs durch den „Geburtsbrief [...] der Abstammung von Erfahrungen“ zu erklären (A 86, B 119), wäre die Möglichkeit eines apriorischen Gegenstandsbezugs dieses Begriffs dadurch nicht einsichtig gemacht. Dementsprechend kann eine empirische Deduktion bzw. „physiologische Ableitung“ eines nicht-empirischen Begriffs Kant zufolge „eigentlich gar nicht Deduktion heißen [...], weil sie eine quaestionem facti betrifft“ (B 119). Sie ist die Erklärung des faktischen Besitzes dieses Begriffs, aber keine Erklärung der Rechtmäßigkeit seines Besitzes. Der Anspruch auf einen rechtmäßigen Besitz nicht-empirischer Begriffe ist demnach allenfalls durch eine transzendentale Deduktion einlösbar.
4.2 Das Deduktionsproblem und die Struktur seiner Lösung
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unabhängigen und zugleich gegenstandsbezogenen Gebrauchs nichtempirischer Begriffe zu rechtfertigen. Die transzendentale Deduktion der Kategorien wird Kants Anspruch nach im Deduktionskapitel durchgeführt und abgeschlossen. Da er die Aufgabe dieses Kapitels häufig so bestimmt, dass es gelte, die objektive Gültigkeit der Kategorien nachzuweisen 9, ist die Einlösung des Anspruchs einer transzendentalen Deduktion der Kategorien mit dem Nachweis ihrer objektiven Gültigkeit zu identifizieren. Ein rechtmäßiger erfahrungsunabhängiger und zugleich gegenstandsbezogener Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe muss sich aber in wahren Urteilen artikulieren lassen, in denen diese Begriffe an Prädikatstelle stehen, weil Kant zu Recht davon ausgeht, dass der Verstand von Begriffen „keinen andern Gebrauch machen [kann], als daß er dadurch urteilt“ (A 68, B 93) und dass Begriffe prinzipiell als „Prädikate möglicher Urteile“ fungieren können (A 69, B 94). Aus einer erfolgreichen transzendentalen Kategoriendeduktion und damit aus der objektiven Gültigkeit der Kategorien folgt also, dass es wahre Urteile dieser Art – ‚Grundsätze des reinen Verstandes‘ – geben muss.10 Diese Grundsätze im Einzelnen anzugeben und zu beweisen, ist jedoch nicht mehr die Aufgabe des Deduktionskapitels, sondern die des Grundsatzkapitels. Aus systematischen Gründen ist eine transzendentale Deduktion der Kategorien nicht nur wünschenswert, sondern „unumgänglich notwendig“ (A 87, B 119), wie Kant in einem Hinweis auf die Transzendentale Ästhetik erläutert. In der Transzendentalen Ästhetik, so Kant, habe er die objektive Gültigkeit der Begriffe des Raums und der Zeit gezeigt, indem er nachwies, dass Raum und Zeit reine Formen der Sinnlichkeit sind, die als Bedingungen a priori dafür fungieren, dass uns überhaupt Gegenstände in der empirischen Anschauung gegeben sein können. Da die reinen Vorstellungen des Raums und der Zeit solche Formen enthalten, sind sie a priori auf Gegenstände bezogen, weil nur aufgrund dieser Formen „uns ein Gegenstand erscheinen, d. i. ein Objekt der empirischen Anschauung sein kann“ (A 89, B 121). Die objektive Gültigkeit der reinen Vorstellungen des Verstandes, der Kategorien, sei dagegen nicht analogerweise zu sichern, da diese keine Bedingungen enthalten, „unter denen Gegenstände in der Anschauung gegeben werden, mithin können uns allerdings Gegenstände erscheinen, ohne daß sie sich notwendig auf Funktionen des Verstandes beziehen müssen“ (A 89, B 122). 11 Kant erläutert dies am Beispiel
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Dass es Kant im Deduktionskapitel um den Nachweis der „objektiven Gültigkeit“ geht, wird immer wieder deutlich: A 89 f., B 122; A 93, B 126; A 111; A 128; Proleg, A 14. Anders Carl 1992, 34 f. Das scheint jedoch nur für die dynamischen, nicht aber für die mathematischen Kategorien zu gelten. Denn die letzteren, d. h. die Kategorien der Quantität und Qualität, scheinen
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
des Begriffs der Ursache: Es mag zwar einen Begriff geben, nach dem „etwas A von der Art sei, daß ein anderes B daraus notwendig und nach einer schlechthin allgemeinen Regel folge“ (A 91, B 124), aber daraus folgt nicht, dass es Erscheinungen gibt, auf die er anwendbar sein muss, und eine solche Folgerung könnte prinzipiell nicht induktiv und empirisch gezogen werden. Dass „Gegenstände der sinnlichen Anschauung [...] den Bedingungen, deren der Verstand zur synthetischen Einheit des Denkens bedarf, gemäß sein müssen, davon ist die Schlußfolge nicht so leicht einzusehen.“ (A 90, B 122 f.) Diese Konsequenz herbeizuführen, ist nun die Aufgabe der transzendentalen Kategoriendeduktion. 4.2.2 Der vorläufige Deduktionsbeweis und das Nachforschungsprinzip der Deduktion Aus der Problemstellung der transzendentalen Kategoriendeduktion ergibt sich die Aufgabe, zu erklären, wie sich die Kategorien notwendigerweise auf Gegenstände beziehen können. In Hinblick auf diese Aufgabe stellt Kant in der letzten Passage, in der die A- und die B-Ausgabe des Deduktionskapitels übereinstimmen (A 92/4, B 124/7), die maßgeblichen (Vor-) Überlegungen an. Wie zu sehen sein wird, können diese Überlegungen einerseits als ein vorläufiger Deduktionsbeweis gelten, weisen aber andererseits lediglich das Prinzip auf, auf das hin die Deduktion zu orientieren ist. Sie enthalten folgende Argumentation: 12 (i)
Eine „synthetische Vorstellung“ kann sich genau dann notwendigerweise auf einen Gegenstand beziehen, wenn (a) der Gegen-
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Kant zufolge bereits dafür erforderlich zu sein, etwas als Erscheinung zu bestimmen. Dafür spricht m. E. Kants rückblickende Äußerung zu den mathematischen Grundsätzen: Diese „gingen auf Erscheinungen ihrer bloßen Möglichkeit nach, und lehrten, wie sie sowohl ihrer Anschauung, als dem Realen ihrer Wahrnehmung nach, nach Regeln einer mathematischen Synthesis erzeugt werden könnten“ (A 178, B 221). Ich verstehe das so, dass es ohne die mathematischen Kategorien nicht möglich wäre, etwas als Erscheinung zu bestimmen. Erst den dynamischen Kategorien, näherhin den Relationskategorien soll demgegenüber die Aufgabe zukommen, Erscheinungen als empirische Objekte bzw. objektive Prozesse zu bestimmen. Die von Kant in dem obigen Zitat (A 89, B 122) genannte Möglichkeit, dass uns Gegenstände erscheinen können, ohne „sich notwendig auf Funktionen des Verstandes [zu] beziehen“, wäre dann vor allem für die Relationskategorien auszuräumen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass Kant im Folgenden das Beispiel einer Relationskategorie (Kausalität) wählt. (Zur Unterscheidung der Bedeutung der mathematischen Kategorien und der Relationskategorien vgl. auch Prauss 1971, 103/5, 121 u. 163 f.) In der folgenden Rekonstruktion der Argumentation schließe ich mich in den wesentlichen Punkten Rosales 2000, 122/6 an.
4.2 Das Deduktionsproblem und die Struktur seiner Lösung
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stand die Vorstellung oder (b) die Vorstellung den Gegenstand möglich macht (A 92, B 124 f.). 13 (ii)
Der Fall (b) ist gleichbedeutend damit, dass (b1) die synthetische Vorstellung den Gegenstand dem Dasein nach hervorbringt, oder (b2) „in Ansehung des Gegenstandes [...] a priori bestimmend“ ist, d. h. als eine Bedingung der Möglichkeit dafür fungiert, „etwas als einen Gegenstand zu erkennen.“ (A 92, B 125)
(iii)
Unsere synthetischen Vorstellungen a priori können aber weder (a) durch den Gegenstand möglich gemacht werden, noch (b1) den Gegenstand dem Dasein nach hervorbringen (ebd.).
Aus (i)-(iii) folgt: (iv)
Unsere synthetischen Vorstellungen a priori können sich genau dann notwendigerweise auf einen Gegenstand beziehen, wenn sie als Bedingungen a priori der Möglichkeit dafür fungieren, etwas als einen Gegenstand zu erkennen.
(v)
Die Kategorien sind synthetische Vorstellungen a priori, die als Bedingungen a priori der Möglichkeit dafür fungieren, etwas, das durch empirische Anschauung gegeben ist, als einen Gegenstand zu erkennen.
Aus (iv) und (v) folgt: (vi)
Die Kategorien können sich notwendigerweise auf Gegenstände beziehen.
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Wie ergibt sich aus Kants Äußerungen der Startpunkt des Arguments, Satz (i)? Kant schreibt (ebd.): „Es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen [c] synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände [...] sich auf einander nothwendiger Weise beziehen [...] können: entweder wenn [a] der Gegenstand die Vorstellung, oder [b] diese den Gegenstand allein möglich macht.“ (A 92, B 124 f.) Da demnach nur diese beiden Fälle (keine anderen) möglich sind, in denen (c) gilt, ergibt sich erstens: Wenn (c) gilt, so liegt (a) oder (b) vor. Umgekehrt impliziert zweitens das Eintreten von irgendeinem der beiden Fälle (a) bzw. (b) jeweils (c). Das heißt: Wenn (a) eintritt, gilt (c), und wenn (b) eintritt, gilt (c). Außerdem können drittens die Fälle (a) und (b) nicht zugleich vorliegen. Diese drei Punkte zusammen implizieren, dass (c) genau dann gilt, wenn (a) eintritt oder (b) eintritt, d. h. sie implizieren den obigen Satz (i). – Rosales formuliert einen Satz (i) ähnlichen Satz in der Textanalyse zunächst als Replikation (2000, 123) und in der Darstellung des Beweises dann als Implikation (ebd., 124 f.) zwischen der Disjunktion von (a) und (b) einerseits und (c) andererseits. Wie gerade gesehen, ergibt sich aber bereits aus der Textanalyse die Biimplikation beider Seiten. Satz (i) kann also wie oben formuliert werden.
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
Offenbar gibt die in den Sätzen (i)-(vi) dargelegte Argumentation eine „Erklärung der Art, wie sich Begriffe [und zwar die Kategorien; M. W.] a priori auf Gegenstände beziehen können“ (A 85, B 117). Insofern liefert sie bereits eine transzendentale Kategoriendeduktion. Kant selbst versteht die dargelegte Argumentation jedoch nicht schon als eine solche Deduktion. Er bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass er sie unter der Überschrift Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien vorträgt (A 92, B 124). Als Teil des Übergangs zur Deduktion kann sie nicht mit der Deduktion selbst identisch sein. Dass sie für Kant noch keine Deduktion ist, zeigt sich weiterhin darin, dass er im direkten Anschluss an sie das „Principium“ der transzendentalen Deduktion, „worauf die ganze Nachforschung gerichtet werden muß“, formuliert (A 94, B 126). Dieses Prinzip, im Folgenden ‚Nachforschungsprinzip‘ der Deduktion genannt, lautet: (NP)
Die Kategorien müssen „als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden“ (ebd.).
Der sachliche Grund, aus dem die dargelegte Argumentation für Kant noch keine Deduktion ist, wird deutlich, wenn man das Nachforschungsprinzip auf sie bezieht. In (NP) ist unter ‚Erfahrung‘ die empirische Erkenntnis von Gegenständen durch Wahrnehmungen, kurz gesagt: objektive empirische Erkenntnis, zu verstehen. 14 Da das in Wahrnehmungen Gegebene Erscheinungen, d. h. unbestimmte Gegenstände der empirischen Anschauung, sind 15, fordert (NP) also eine Begründung dafür, dass die Kategorien als Bedingungen a priori der Möglichkeit dafür fungieren, Erscheinungen als Gegenstände (empirische Objekte) zu erkennen. Eine solche Begründung würde aber Satz (v) rechtfertigen. Kant sieht in der dargelegten Argumentation also deshalb noch keine Deduktion, weil sie mit Satz (v) eine Prämisse in Anspruch nimmt, deren Begründung noch aussteht und in (NP) gefordert wird. Während er die anderen Sätze nicht weiter problematisiert 16, liegt auf der Suche nach dieser Begründung sogar
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Vgl. dazu A 93, B 125 f., wo Erfahrung als „empirische Erkenntnis der Gegenstände“ gilt, und B 218: „Erfahrung ist ein empirisches Erkenntnis, d. i. ein Erkenntnis, das durch Wahrnehmungen ein Objekt bestimmt.“ Zu Kants Begriffen der Erscheinung und der Wahrnehmung siehe: „Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung.“ (A 19, B 34) „Erscheinung, [...] wenn sie mit Bewusstsein verbunden ist, [heißt] Wahrnehmung“ (A 120). Für die Sätze (iv) und (vi) ist dies auch nicht erforderlich, da sie sich nach den logischen Schlussregeln ergeben. – Eine Begründung für Satz (i) dagegen wäre angebracht, wird im Deduktionskapitel aber nicht geleistet. Zu einer solchen Begründung im Horizont der Kantischen Philosophie siehe Rosales 2000, 118/22. – Satz (ii) unterscheidet auf plausible Weise zwei Bedeutungen der Rede davon, dass eine Vorstellung einen Gegenstand möglich macht: Die Vorstellung kann den Gegenstand dem Dasein oder der Erkenntnis nach mög-
4.2 Das Deduktionsproblem und die Struktur seiner Lösung
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das Hauptaugenmerk seiner „ganze[n] Nachforschung“ bzw. des gesamten restlichen Deduktionskapitels. Festzuhalten ist: Die Argumentation (i)-(vi) kann, sofern ihre Prämissen zugestanden werden, bereits als transzendentale Kategoriendeduktion gelten. Kant selbst stuft sie jedoch nicht als Deduktion ein, sondern rechnet sie zum Übergang zur Deduktion. Denn er hält insbesondere Satz (v) für begründungsbedürftig. Das zeigt sich darin, dass die im Nachforschungsprinzip der Deduktion im Anschluss an (i)-(vi) aufgestellte Forderung als Forderung einer Begründung für Satz (v) zu verstehen ist. Das Nachforschungsprinzip formuliert demnach das Kriterium einer erfolgreichen transzendentalen Kategoriendeduktion. 4.2.3 Die Bedeutung subjektiver Erkenntnisquellen für die verschiedenen Interessen des Deduktionskapitels In der transzendentalen Deduktion der Kategorien geht es darum, einen Rechtsgrund dafür anzugeben und auszuweisen, dass sich die Kategorien notwendigerweise auf Gegenstände beziehen können. Im Anschluss an die vorigen Ausführungen lässt sich nun sagen: Dieser Rechtsgrund soll in Satz (v) bestehen, also darin, dass die Kategorien als Bedingungen a priori dafür fungieren, etwas, das durch empirische Anschauung gegeben ist, als einen Gegenstand zu erkennen. Damit ist der Rechtsgrund zwar benannt, aber nicht ausgewiesen. Seine Ausweisung wird durch das Nachforschungsprinzip (NP) der Deduktion gefordert. Das bedeutet, ein Rechtsgrund dafür, dass sich die Kategorien notwendigerweise auf Gegenstände beziehen können, ist genau dann ausgewiesen, wenn Satz (v) als wahr erwiesen bzw. das Nachforschungsprinzip eingelöst ist. Wie eingangs erwähnt, sollen juristische Deduktionen ihrem Begriff nach erworbene Rechtsansprüche im Rekurs auf den Ursprung des Besitzes der in Frage stehenden Rechte einsichtig machen. 17 Im Fall von Kants transzendentaler Kategoriendeduktion soll die genannte Ursprungsdimension in ursprünglichen subjektiven Erkenntnisquellen bestehen. 18 „Es sind aber drei ursprüngliche Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele),
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lich machen. – Satz (iii) wird von Kant auf akzeptable Weise kurz begründet: Erstens lässt sich ausschließen, dass (a) eine synthetische Vorstellung a priori durch einen Gegenstand möglich gemacht werden kann, weil die Vorstellung sonst „niemals a priori möglich“ wäre (A 92, B 125), und zweitens lässt sich ausschließen, dass (b1) eine synthetische Vorstellung a priori einen Gegenstand dem Dasein nach hervorbringen kann, weil von der „Kausalität“ der Vorstellung „vermittelst des Willens“ im theoretischen Untersuchungskontext „gar nicht die Rede“ ist (ebd.) und weil wir keinen archetypischen Verstand besitzen. Siehe oben Abschnitt 4.2.1, S. 87. Ebenso Carl 1992, 32.
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die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten [...]“ (A 94). Für die Art und Weise, wie Kant den angegebenen Rechtsgrund dafür, dass sich die Kategorien notwendigerweise auf Gegenstände beziehen können, auszuweisen beabsichtigt, d. h. das Nachforschungsprinzip der Deduktion einzulösen beabsichtigt, ist demnach der Bezug auf ursprüngliche subjektive Erkenntnisquellen charakteristisch. Da Kant mit dem Rekurs auf diese Quellen in seiner Deduktionsuntersuchung jedoch zwei verschiedene theoretische Interessen verfolgt – ein genuin erkenntnistheoretisches und ein subjekttheoretisches –, ist es sinnvoll, diese Interessen zunächst kenntlich zu machen. In der Vorrede der A-Auflage der KrV wird darauf hingewiesen, dass die Deduktionsuntersuchung zwei voneinander abzuhebende Aspekte, „zwei Seiten“ hat: „Die eine bezieht sich auf die Gegenstände des reinen Verstandes, und soll die objektive Gültigkeit seiner Begriffe a priori dartun und begreiflich machen [...]. Die andere geht darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er beruht, mithin in subjektiver Beziehung zu betrachten“ (A XVI f.).
Die Deduktionsuntersuchung verfolgt demnach einerseits ein genuin erkenntnistheoretisches Interesse, indem sie auf einen Nachweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien bzw. eine transzendentale Kategoriendeduktion hin orientiert ist. Im vorigen ist bereits deutlich geworden, dass dieser Nachweis dann erbracht ist, wenn die Kategorien als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung erwiesen sind. Andererseits, und dieser Punkt ist bisher nicht beachtet worden, verfolgt das Deduktionskapitel ein verstandes- bzw. subjekttheoretisches Interesse. Es soll erörtern, wie „das Vermögen zu denken selbst möglich“ ist (A XVII), näherhin, wie der reine Verstand durch ihn fundierende Erkenntniskräfte zu begreifen ist. Dem liegt offenbar die vermögenstheoretische Auffassung zugrunde, dass der reine Verstand selbst kein ursprüngliches, sondern ein derivatives und als solches ein erläuterungsbedürftiges Erkenntnisvermögen ist. Kant unterscheidet den erkenntnistheoretischen und den subjekttheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung in der Vorrede terminologisch als „objektive“ und „subjektive Deduktion“ (ebd.). Die in der Vorrede getroffene Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Deduktion tritt im Deduktionskapitel nicht mehr explizit auf. Gleichwohl ist sie dort implizit auf eine für das Verständnis dieses Kapitels aufschlussreiche Weise präsent. So erschließt sich etwa nur vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung die wegweisende Bedeutung einer Bemerkung, die Kant im Anschluss an das Nachforschungsprinzip macht:
4.2 Das Deduktionsproblem und die Struktur seiner Lösung
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„Es sind aber drei ursprüngliche Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele), die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten, und selbst aus keinem andern Vermögen des Gemüts abgeleitet werden können, nämlich, Sinn, Einbildungskraft, und Apperzeption. [...] Alle diese Vermögen haben außer dem empirischen Gebrauch, noch einen transz., der lediglich auf die Form geht, und a priori möglich ist.“ (A 94)
Kant formuliert damit programmatisch, dass die subjektiven Erkenntnisquellen Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption im Deduktionskapitel eine fundamentale Rolle spielen werden – und zwar in doppelter Hinsicht, wie den beiden Thesen des ersten Satzes des Zitats zu entnehmen ist. Die erste These ist, dass Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption „die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten“. Sie impliziert, dass die drei Quellen für den Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien, also für den erkenntnistheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung maßgeblich sind. Denn mit ihr wird folgendes Vorgehen für das weitere Beweisvorhaben festgelegt: Da die Kategorien dem Nachforschungsprinzip zufolge als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden müssen und Sinn, Einbildungskraft sowie Apperzeption derartige Bedingungen „enthalten“ sollen, ist in Hinblick auf den erkenntnistheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung gefordert, die Nachforschung auf die drei Quellen zu richten und sie mit den Kategorien in Verbindung zu bringen. Da die Kategorien näherhin als apriorische Bedingungen erkannt werden müssen, muss das Ziel dabei sein, einen Gebrauch dieser Quellen aufzuweisen, der, wie Kant oben sagt, „a priori möglich ist“ und den er ‚transzendental‘ nennt. Die zweite These besagt, dass Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption nicht-ableitbare, „ursprüngliche Quellen“ sind. Sie impliziert, dass andere Vermögen des Gemüts in den drei Quellen fundiert sind und deutet deshalb an, dass insbesondere für die Erörterung der Möglichkeit des Verstandes und damit für den subjekttheoretischen Zweck des Deduktionskapitels auf diese Quellen zu rekurrieren ist. Aus dem obigen Zitat, mit dem der erste Abschnitt des Deduktionskapitels schließt, ergibt sich also: Die drei subjektiven Erkenntnisquellen müssen als die entscheidenden Instanzen für die Realisierung sowohl des erkenntnis- als auch des subjekttheoretischen Interesses des Deduktionskapitels gelten. Die mit beiden Interessen verbundenen Untersuchungen haben also in diesen drei Quellen einen gemeinsamen Bezugspunkt. In der Einführung des zweiten Abschnitts des Deduktionskapitels (A 95/8) zeigt sich darüber hinaus, dass und wie das erkenntnistheoretische und das subjekttheoretische Problem der Deduktionsuntersuchung zueinander in Beziehung stehen. Kant erläutert dort zunächst nochmals, dass eine „hinreichende Deduktion“ der Begriffe, die „a priori das reine Denken bei jeder Erfahrung enthalten“ sollen, d. h. der „Kategorien“,
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
gegeben ist, „wenn wir beweisen können: daß vermittelst ihrer allein ein Gegenstand gedacht werden kann.“ 19 Hinsichtlich dieses Gedankens, d. h. des Gedankens der Erscheinung als empirisches Objekt, heißt es dann: „Weil aber in einem solchen Gedanken mehr als das einzige Vermögen zu denken, nämlich der Verstand beschäftiget ist, und dieser selbst, als ein Erkenntnisvermögen, das sich auf Objekte beziehen soll, eben so wohl einer Erläuterung, wegen der Möglichkeit dieser Beziehung, bedarf: so müssen wir die subjektive Quellen, welche die Grundlage a priori zu der Möglichkeit der Erfahrung ausmachen, nicht nach ihrer empirischen, sondern transzendentalen Beschaffenheit zuvor erwägen.“ (A 97)
Soll die Möglichkeit einsichtig werden, Erscheinungen als empirische Objekte zu denken, dann ist es erforderlich, eine Beziehung zwischen den Erscheinungen und dem reinen Verstand als „Vermögen zu denken“ herzustellen. 20 Diese Aufgabe birgt aber zwei Probleme. Erstens steht in Frage, warum wir uns auf empirische Objekte beziehen können – eine Möglichkeit, für die der reine Verstand „als ein Erkenntnisvermögen, das sich auf Objekte beziehen soll“, mittels der Kategorien aufkommen soll; bei diesem Problem handelt es sich um das erkenntnistheoretische Problem der Deduktionsuntersuchung. Zweitens aber steht der reine Verstand als ein solches Erkenntnisvermögen selbst in Frage, weil die ihm zugeschriebene Leistung der Objektbeziehung die Leistungen anderer Vermögen, subjektiver Quellen, voraussetzt. Damit lässt sich nun die Beziehung zwischen den beiden Problemen der Deduktionsuntersuchung bestimmen. Die im erkenntnistheoretischen Interesse angestrebte Einsicht in die Möglichkeit der Objektbeziehung verlangt eine Reflexion auf die subjektiven Quellen, da diese „die Grundlage a priori zu der Möglichkeit der Erfahrung“ und damit auch der Beziehung auf empirische Objekte „ausmachen“ sollen (A 97). Da die Leistung der Objektbeziehung dem reinen Verstand zugeschrieben wird und ihn als Erkenntnisvermögen charakterisiert, muss sich der Verstand aufgrund der für die Erklärung dieser Leistung erforderlichen Reflexion auf die subjektiven Quellen als ein Erkenntnisvermögen erweisen lassen, das
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A 96 f. – Dies ist m. E. im Sinne des Satzes (v) – siehe oben S. 91 – zu verstehen. Dass es hier nur um die Beziehung zwischen den Erscheinungen und dem reinen Verstand gehen kann, geht aus dem Kontext hervor, in dem es um das „reine Denken bei jeder Erfahrung“ geht (A 96). – Darüber hinaus ist zu betonen: Wenn nur die Beziehung zwischen den Erscheinungen und dem bloß-empirischen Verstand geklärt wird, wäre dadurch noch nicht einsichtig, warum Erscheinungen als empirische Objekte gedacht werden können. Denn es wäre möglich, dass die Begriffe dieses Verstandes sich ausschließlich auf Gegenstände beziehen, von denen wir gar nicht wissen könnten, ob sie prinzipiell die für empirische Objekte charakteristischen Konstanzbedingungen erfüllen können. In Kants Worten: Es „würde [...] möglich sein, daß ein Gewühle von Erscheinungen unsere Seele anfüllete, ohne daß daraus jemals Erfahrung [im Sinne objektiver empirischer Erkenntnis; M. W.] werden könnte.“ (A 111)
4.3 Zur Theorie der Einbildungskraft
97
in solchen Quellen fundiert ist. Kant wird also durch die Art und Weise, wie er das erkenntnistheoretische Problem der Deduktionsuntersuchung zu lösen beabsichtigt, dazu gedrängt, sich auch dem subjekttheoretischen Problem der Fundierung des reinen Verstandes durch diese Quellen zu stellen. Das subjekttheoretische stellt sich daher im Rahmen des erkenntnistheoretischen Problems. Aus diesem Grund muss die Erörterung des subjekttheoretischen Problems nur so weit durchgeführt werden, wie sie der Lösung des erkenntnistheoretischen dient. Und das ist der Grund, weshalb Kant in der Vorrede erklärt: „obgleich diese Erörterung in Ansehung meines Hauptzwecks von großer Wichtigkeit ist, so gehöret sie doch nicht wesentlich zu demselben“ (A XVII). Kant wird durch seine Strategie zur Lösung des erkenntnistheoretischen Problems zur Erörterung des subjekttheoretischen Problems gedrängt und weist dieser Erörterung hinsichtlich seiner „Hauptfrage“ – „was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen“ (ebd.) – deshalb ‚große Wichtigkeit‘ zu. Da aber die Erörterung des subjekttheoretischen Problems im Dienst der Lösung des erkenntnistheoretischen Problems steht, muss sie nur so weit verfolgt werden wie für diese Lösung erforderlich. Insofern also die Erörterung des subjekttheoretischen in Hinblick auf die Lösung des erkenntnistheoretischen Problems nicht vollständig durchgeführt werden muss, gehört sie ‚nicht wesentlich‘ zu Kants Hauptzweck. Dass sie aber für diesen Zweck nicht vollständig durchgeführt werden muss, behauptet Kant in einer der Untersuchung der subjektiven Quellen unmittelbar vorangestellten Vorläufigen Erinnerung, in der er erklärt, in der „Erörterung dieser Elemente des Verstandes“ und damit in der Erörterung der Frage der Fundierung des Verstandes auf „die Weitläuftigkeit einer vollständigen Theorie“ verzichten zu können (A 98).
4.3 Zur Theorie der Einbildungskraft 4.3.1 Die Funktionen der Einbildungskraft für die Deduktionsuntersuchung Im vorigen Abschnitt ist deutlich geworden, dass die Deduktionsuntersuchung einen erkenntnistheoretischen und einen subjekttheoretischen Aspekt besitzt und dass Kant zufolge für beide Aspekte der Rekurs auf die drei subjektiven Erkenntnisquellen Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption entscheidend ist. Damit ist in Hinblick auf die Deduktionsuntersuchung der Punkt erreicht, an dem die Einbildungskraft ins Zentrum gestellt werden kann. Das Ziel der folgenden Überlegungen ist, die
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
verschiedenen Funktionen herauszustellen, die Kant der Einbildungskraft in Hinblick auf die Deduktionsuntersuchung zuweist. Das ist deshalb nötig, weil der Facettenreichtum der Bedeutung der Einbildungskraft für die Deduktionsuntersuchung m. W. nirgends in der Forschung hinreichend deutlich wird, für ein Verständnis von Kants Konzeption der Einbildungskraft aber unverzichtbar ist. Zuvor gilt es, einige Grundbestimmungen der Einbildungskraft in der KrV nachzuvollziehen. Als ein Vermögen muss die Einbildungskraft für die Möglichkeit einer bestimmten Art von Leistungen stehen. Bei diesen Leistungen handelt es sich Kant zufolge um Synthesisleistungen. Die Einbildungskraft ist demnach ein Synthesisvermögen. An der ersten wichtigen Stelle zur Einbildungskraft in der KrV – und dies ist terminologisch wegweisend – macht Kant darüber hinaus deutlich, dass die Einbildungskraft nicht nur ein Synthesisvermögen – neben anderen – ist, sondern das Vermögen der Synthesis: „Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft“ (A 78, B 103). Alle Synthesisleistungen, wie verschiedenartig sie auch sein mögen, sind demnach Leistungen der Einbildungskraft. 21 Entsprechend weit ist auch Kants Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘: „Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“ (A 77, B 103) 22 Am Ende der Einführung des zweiten Abschnitts des Deduktionskapitels, also noch im Vorfeld der Deduktionsuntersuchung selbst greift Kant die Synthesisthematik wieder auf. Er unterscheidet dort erstmals drei Arten von Synthesis: die Synthesis der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition, und deutet an, dass diese Synthesen in einem inneren Zusammenhang stehen, indem er von „einer dreifachen Synthesis“ spricht (A 97). Da die Einbildungskraft, wie gesagt, als das Vermögen der Synthesis gilt, ist festzuhalten: x
Die drei Synthesen – die apprehendierende, reproduzierende und rekognoszierende – gehören qua Synthesen zur Einbildungskraft.
Vorerst kann offen bleiben, wie die drei Synthesen im Einzelnen und in ihrem Zusammenhang zu verstehen sind; denn zunächst ist lediglich zu bestimmen, welche Funktionen die Einbildungskraft für die Deduktions-
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Die zitierte Passage ist von Kant auch in die B-Ausgabe der KrV übernommen worden. In der B-Deduktion scheint Kant seine Aussage aber zurückzunehmen, indem er von einer „synthesis intellectualis“ (B 151) und einer „Synthesis der Apperzeption“ (B 162 Anm.) spricht. Auf diese Synthesisdefinition werde ich ausführlich in Abschnitt 4.5.1, S. 113 ff. eingehen.
4.3 Zur Theorie der Einbildungskraft
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untersuchung haben soll. Wie sich anhand von Kants Bemerkungen zu den drei Synthesen im letzten Absatz der Einführung des zweiten Deduktionsabschnitts zeigen lässt, hat die Einbildungskraft eine systematische und eine methodische Funktion für die Deduktionsuntersuchung. Die systematische Funktion betrifft sowohl den erkenntnistheoretischen als auch den subjekttheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung. Zunächst zu ersterem: Die drei Synthesen der Einbildungskraft sollen Kant zufolge „notwendiger Weise in allem Erkenntnis vorkomm[en]“ (A 97) und werden im zweiten Deduktionsabschnitt nacheinander unter der allgemeinen Überschrift Von den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung behandelt (A 95 ff.). Die drei Synthesen der Einbildungskraft sind demnach für die Möglichkeit der Erfahrung a priori konstitutiv. Da es im Deduktionskapitel darum geht, die Kategorien als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung zu erweisen, bedeutet dies, dass die drei Synthesen eine begründende Rolle im Deduktionsbeweis spielen sollen. Kant vertritt also die Auffassung: x
Die Einbildungskraft hat eine wesentliche systematische Funktion für den erkenntnistheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung: Ihre drei Synthesen spielen eine begründende Rolle im Deduktionsbeweis. 23
Nun zum subjekttheoretischen Aspekt. Kant bestimmt die Analytik der Begriffe, deren Herzstück das Deduktionskapitel ist, als „Zergliederung des Verstandesvermögens selbst“ (A 65, B 90). Dieses Projekt konkretisiert sich innerhalb der subjekttheoretischen Perspektive der Deduktionsuntersuchung in dem Vorhaben, „den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, [...] zu betrachten“ (A XVII f.). Als Erkenntniskräfte, durch die der Verstand letztlich fundiert ist, können nur der Sinn, die Einbildungskraft und die Apperzeption in Betracht kommen, da diese als die „drei ursprüngliche[n] Quellen“ gelten (A 94). Näher betrachtet scheidet dabei der Sinn als ursprüngliche rezeptive Quelle aus, weil der Verstand anfangs der Transzenden-
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Zur ‚Deduktionsuntersuchung‘ gehören all diejenigen Überlegungen des Deduktionskapitels, die Kant im Anschluss an das Nachforschungsprinzip (NP) anstellt (A 94, B 126). Der ‚Deduktionsbeweis‘ ist Teil der Deduktionsuntersuchung und enthält die Argumentation, durch die das Nachforschungsprinzip eingelöst werden soll. Deduktionsuntersuchung und Deduktionsbeweis können nicht miteinander identifiziert werden, weil Kant in der Deduktionsuntersuchung auch Überlegungen anstellt, die den Deduktionsbeweis erst vorbereiten sollen. Diese Überlegungen betreffen insbesondere die drei Synthesen. Da die drei Synthesen Kant zufolge für die Möglichkeit der Erfahrung a priori konstitutiv sind, spielen sie jedoch auch eine zentrale Rolle für die Einlösung des Nachforschungsprinzips und damit für den Deduktionsbeweis.
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
talen Logik mit der „Spontaneität des Erkenntnisses“ identifiziert wird (A 51, B 75). 24 Das bedeutet, dass die Einbildungskraft und die Apperzeption, sofern sie spontane Erkenntnisquellen sind, die Aufgabe von vermögenstheoretischen Konstituenten des Verstandes erfüllen sollen. Kant markiert nun insbesondere die Einbildungskraft im letzten Absatz der Einleitung des zweiten Deduktionsabschnitts als spontane Erkenntnisquelle, indem er „Spontaneität“ explizit als „Grund“ ihrer „dreifachen Synthesis“ bezeichnet (A 97). Er vertritt damit die Auffassung: x
Die Einbildungskraft hat eine wesentliche systematische Funktion für den subjekttheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung: Sie ist eine Konstituente des Verstandes.
Eine wesentliche systematische Funktion sowohl für den erkenntnistheoretischen als auch für den subjekttheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung soll außer der Einbildungskraft offenbar auch die Apperzeption besitzen. 25 Im Unterschied zur Apperzeption, und darauf kommt es im Folgenden an, weist Kant der Einbildungskraft aber über ihre systematische Funktion hinaus auch eine zentrale methodische Funktion für die beiden Aspekte der Deduktionsuntersuchung zu. Die Einbildungskraft ist vermöge ihrer drei Synthesen der methodische Ausgangspunkt der gesamten weiteren Deduktionsuntersuchung. Kant stellt dies in dem fortan ‚Leitungsthese‘ genannten letzten Satz der Einführung des zweiten Deduktionsabschnitts heraus: (LT)
Die drei Synthesen „geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand und, durch diesen, alle Erfahrung [...] möglich machen.“ (A 97 f.).
Diese für das Deduktionskapitel zentrale methodische Bemerkung kündigt an, dass all das, was für die Deduktionsuntersuchung überhaupt relevant ist, ausgehend von der Untersuchung der drei Synthesen der Einbildungskraft in den Blick geraten soll. Die Leitungsthese beinhaltet oder impliziert die folgenden vier Punkte:
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25
Der Verstand kann jedoch nicht als ursprüngliche Spontaneität aufgefasst werden, da er sich in der subjekttheoretischen Perspektive der Deduktionsuntersuchung als Vermögen erweisen soll, das in subjektiven Erkenntnisquellen fundiert ist, die allein ursprünglich sind. Im subjekttheoretischen Problemhorizont kann ‚Spontaneität‘ deshalb nur das Feld bezeichnen, auf dem der Verstand aus ursprünglichen Quellen zu erklären ist. Dass Einbildungskraft und Apperzeption diese zweifache systematische Funktion besitzen sollen, geht im Grunde bereits daraus hervor, dass beide als solche subjektive Quellen eingeführt werden, die zum einen „Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten“, und zum anderen „ursprünglich[]“ sind (A 94).
4.3 Zur Theorie der Einbildungskraft
x
101
Die Einbildungskraft ist in methodischer Hinsicht das basale Vermögen für die Deduktionsuntersuchung.
Denn ihre drei Synthesen ‚leiten‘ die Untersuchung zu den drei subjektiven Erkenntnisquellen. Dabei kommen die Einbildungskraft selbst, und zwar als ein komplex strukturiertes Vermögen, und der Sinn sowie die Apperzeption überhaupt erst in den Blick. In Bezug auf die letzteren gilt deshalb weiterhin: x
Die Einbildungskraft ist der methodische Ausgangspunkt, von dem aus der Zusammenhang zwischen erstens Einbildungskraft und Sinn sowie zweitens Einbildungskraft und Apperzeption etabliert wird.
Der Leitungsthese zufolge geraten die drei subjektiven Erkenntnisquellen ausgehend von der Analyse der drei Synthesen der Einbildungskraft in den Blick und machen den Verstand sowie letztlich alle Erfahrung möglich. Daraus ergeben sich schließlich die beiden wichtigsten Konsequenzen der Leitungsthese für die methodische Funktion der Einbildungskraft: x
Die Einbildungskraft hat Leitfadenfunktion für den subjekttheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung.
x
Die Einbildungskraft hat Leitfadenfunktion für den erkenntnistheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung. 26
Bereits die Betrachtung des Vorfeldes der Deduktionsuntersuchung macht also insgesamt deutlich, wie vielfältig Kants Inanspruchnahme der Einbildungskraft für die Deduktionsuntersuchung ist. Eine Perspektive, wie die H. J. Patons, nach der „[a]ll references to imagination are a sure sign that we are dealing with the Subjective Deduction“ 27, ist deshalb zu eng, um die komplexe Bedeutung zu verstehen, die die Einbildungskraft für die Deduktionsuntersuchung haben soll. Diese Bedeutung besteht zusammengefasst darin, dass die Einbildungskraft sowohl in systematischer als auch in methodischer Hinsicht eine wesentliche Funktion sowohl für den erkenntnistheoretischen als auch für den subjekttheoretischen Aspekt der Deduktionsuntersuchung hat, und dass sie methodisch gesehen die grundlegende der drei subjektiven Erkenntnisquellen ist.
_____________ 26 27
Vgl. dazu bereits A 78, B 103: Die Synthesis ist „das erste, worauf wir Acht zu geben haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen.“ Paton 1936, Bd. 1, 241.
102
4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
4.3.2 Der begriffliche Rahmen der Theorie der Einbildungskraft Nicht nur die Funktion der Einbildungskraft für die Deduktionsuntersuchung ist komplex, auch die von Kant diskutierten Typen von Synthesis der Einbildungskraft sind vielfältig. Das deutete sich oben bereits in Kants Rede von einem empirischen und einem transzendentalen Gebrauch insbesondere der Einbildungskraft (A 94) und in seiner Rede von den drei Synthesen bzw. der „dreifachen Synthesis“ an (A 97). Kant gibt nirgends einen Überblick über die verschiedenen Synthesistypen der Einbildungskraft. Angesichts der herausgestellten systematischen und methodischen Bedeutung der Einbildungskraft ist ein solcher Überblick aber wünschenswert. Die verschiedenen Typen von Synthesis der Einbildungskraft lassen sich nach drei Dimensionen unterscheiden. (D1)
Die erste Dimension lässt sich ‚Verschiedenartigkeit der Einbildungskraft‘ nennen und umfasst mit Apprehension, Reproduktion und Rekognition drei verschiedenen Arten von Synthesistypen (A 97).
(D2)
Weiterhin differenziert Kant drei verschiedene Schichten von Synthesistypen, die er durch die Termini ‚empirische‘, ‚reine‘ und ‚transzendentale‘ Synthesis bezeichnet. Für diese Dimension von Synthesis schlage ich den Titel ‚Vielschichtigkeit der Einbildungskraft‘ vor.
(D3)
Außerdem unterscheidet Kant reproduktive und produktive Synthesen. Er bringt diese Differenz explizit erst in der eigentlichen Durchführung der Deduktion, d. h. im dritten Abschnitt des Deduktionskapitels, ins Spiel (A 118; A 123). Diese Dimension von Synthesistypen kann ‚Hervorbringungsmodus der Einbildungskraft‘ heißen.
Kant unterscheidet demzufolge eine ganze Reihe von verschiedenen Synthesistypen. Diese stehen erstens in dimensionsinternen Verhältnissen, wie beispielsweise in Kants Äußerung zum Ausdruck kommt, dass die „Synthesis der Apprehension [...] mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden“ ist. 28 Sie stehen aber auch zweitens in dimensionsübergreifenden Verhältnissen. Dies belegen Wendungen Kants, in denen er etwa von einer „reine[n] Synthesis der Apprehension“, einer „reproduktive[n] Synthesis der Einbildungskraft [, die] zu den transzendentalen Handlungen des Gemüts“ gehört, einer „reinen (produktiven) Synthesis der Einbildungskraft“
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A 102; Hvh. v. Verf. (M. W.)
4.3 Zur Theorie der Einbildungskraft
103
oder einem „empirischen Vermögen[] der produktiven Einbildungskraft“ spricht. 29 Die Vielfalt von Synthesistypen und ihrer von Kant vorgesehenen dimensionsinternen und -übergreifenden Beziehungen legt die Einschätzung nahe, dass die KrV eine Theorie der Einbildungskraft enthält. Meiner Überzeugung nach muss es als Desiderat der Interpretation der KrV gelten, diese bei Kant implizit bleibende Theorie zu rekonstruieren. Dieses Desiderat ergibt sich vor allem daher, dass Kants Theorie der Einbildungskraft so eng mit seinen Theorien der Erkenntnis und des Verstandes verwoben ist, dass die Rekonstruktion ersterer zugleich grundlegende Züge der letzteren entfalten wird. Drei Punkte können dies verdeutlichen. Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Deduktionsuntersuchung das Fundament der Theorien der Erkenntnis und des Verstandes legen soll. Denn ihre Aufgabe ist einerseits, die objektive Gültigkeit der Kategorien zu erweisen, und andererseits, die Möglichkeit des reinen Verstandes durch ihn fundierende Erkenntniskräfte zu erörtern. Sie hat damit eine grundlegende Funktion für jene Theorien. Zweitens ist daran zu erinnern, dass das Vorfeld der Deduktionsuntersuchung mit der Leitungsthese schließt, die der Einbildungskraft vermöge ihrer drei Synthesen eine Leitfadenfunktion für die Deduktionsuntersuchung zuweist. Deshalb ist zu erwarten, dass Kant sich in den direkt an das Vorfeld der Deduktionsuntersuchung anschließenden Überlegungen an den drei Synthesen der Einbildungskraft orientiert. Und in der Tat folgen in der KrV drei Abschnitte, die der Reihe nach die Synthesen der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition diskutieren (A 99/110). Das bedeutet drittens, dass diese drei Synthesen den natürlichen Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der Theorie der Einbildungskraft bilden. – Insgesamt ergibt sich damit folgendes Bild: Da die Rekonstruktion der Theorie der Einbildungskraft am besten von den drei Synthesen ausgeht, die Einbildungskraft vermöge ihrer drei Synthesen Kant zufolge eine Leitfadenfunktion für die Deduktionsuntersuchung hat, diese Untersuchung aber das Fundament für die Theorie der Erkenntnis und des Verstandes der KrV legt, gilt: x
Die Rekonstruktion der Theorie der Einbildungskraft im Ausgang von den drei Synthesen entfaltet zugleich die grundlegenden Züge der Theorien der Erkenntnis und des Verstandes der KrV.
Abschließend können nun die bisher in diesem Kapitel angestellten Überlegungen auf das Projekt der Rekonstruktion der Theorie der Einbildungskraft bezogen werden. Da die Rekonstruktion dieser Theorie Hand
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A 100; A 102; A 118; A 141, B 181; sämtliche Hvh. v. Verf. (M. W.)
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
in Hand mit einer umfassenden Interpretation des Deduktionskapitels gehen muss, war es zuerst erforderlich, die Aufgabe und das Prinzip der transzendentalen Deduktion zu bestimmen und nicht nur das erkenntnistheoretische, sondern auch auf das subjekttheoretische Interesse des Deduktionskapitels hervorzuheben. Die darauf folgenden Überlegungen können nun rückblickend als Vorüberlegungen zur Theorie der Einbildungskraft eingestuft werden, weil sie die systematische und die methodische Funktion der Einbildungskraft in der Deduktionsuntersuchung herausstellten. Daran anschließend ist durch die drei oben genannten Dimensionen der Einbildungskraft sowie die zu ihnen gehörenden Synthesistypen das charakterisiert worden, was fortan als begrifflicher Rahmen der Theorie der Einbildungskraft gelten kann. Wie aufschlussreich und wichtig das Projekt der Rekonstruktion dieser Theorie für die Interpretation der KrV ist, machte schließlich der zuletzt genannte Punkt klar, nach dem diese Rekonstruktion zugleich die grundlegenden Züge der Theorien der Erkenntnis und des Verstandes entfaltet.
4.4 Die Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung 4.4.1 Notwendige Bedingungen oder Gründe der Möglichkeit der Erfahrung? Der Einbildungskraft kommt Kant zufolge vermöge ihrer drei Synthesen (der Apprehension, Reproduktion und Rekognition) eine Leitfadenfunktion für die Deduktionsuntersuchung zu. Die Deduktionsuntersuchung soll also durch die Analyse der drei Synthesen der Einbildungskraft in Gang gesetzt werden. Aber auf welcher Grundlage kommt diese Analyse selbst in Gang? Es ist ja nicht so, dass wir unseren Blick gleichsam nur nach innen kehren müssen, um dort die drei Synthesen zu finden. Der Ansatz der Deduktion ist bei Kant nicht die Selbstbeobachtung. Es stellt sich also die Frage nach den Grundlagen der Analyse der drei Synthesen, d. h. nach den Prämissen, von denen her diese Synthesen aufgewiesen werden können. Diese Frage ist nicht nur in Hinblick auf die Rekonstruktion von Kants Theorie der Einbildungskraft von großer Bedeutung, sondern auch von unmittelbarer Relevanz für das Verständnis der Deduktion. Da die Deduktionsuntersuchung mit der Analyse der drei Synthesen einsetzt, diese Synthesen aber eine begründende Rolle im Deduktionsbeweis spielen sollen, sind die argumentativen Grundlagen dieser Analyse von denjenigen Prämissen des Deduktionsbeweises her zu verstehen, die schon zu Beginn der Deduktionsuntersuchung im Spiel sind. Ich werde deshalb diejenigen Prämissen des Deduktionsbeweises, die diese
4.4 Die Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung
105
Eigenschaft erfüllen, im Folgenden als die ‚Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung‘ bezeichnen. Zugleich mit der Frage nach den Grundlagen der Analyse der drei Synthesen stellt sich also die Frage nach den Ausgangspunkten der Deduktionsuntersuchung. Jeder Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung ist trivialerweise eine Prämisse des Deduktionsbeweises. Umgekehrt muss aber nicht jede solche Prämisse auch ein Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung bzw. eine Grundlage für den Aufweis der drei Synthesen sein. Das Bestehen der Einheit der Apperzeption etwa ist zwar eine zentrale Prämisse der Deduktion, kommt aber als Grundlage der Analyse der drei Synthesen nicht in Frage, weil diese Analyse der Leitungsthese (LT) zufolge umgekehrt „eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen“ und damit insbesondere auf die reine Apperzeption „geben“ soll (A 97). Worin bestehen nun die Grundlagen der Analyse der drei Synthesen bzw. die Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung? Auf den ersten Blick scheint einer dieser Ausgangspunkte in der Formulierung des Nachforschungsprinzips (NP) der Deduktion selbst enthalten zu sein. Denn die Kategorien als Bedingungen a priori der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis zu erweisen, besagt, so könnte man annehmen, bestimmte Aussagen über die Kategorien unter der Voraussetzung zu begründen, dass objektive empirische Erkenntnis möglich ist. ‚Bedingungen‘ würde hier also notwendige Bedingungen bedeuten. Die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis wäre demnach ein Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung und damit eine Grundlage für den Aufweis der drei Synthesen. Meiner Auffassung nach handelt es sich bei der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis jedoch nicht um einen Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung. Außerdem bin ich der Auffassung, dass es sich bei dieser Möglichkeit auch nicht um eine Prämisse des Deduktionsbeweises handelt. Anders als die Einheit der Apperzeption, die zwar kein Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung, aber eine Prämisse des Deduktionsbeweises ist, ist die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis keine Prämisse des Deduktionsbeweises und deshalb schon kein Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung. Die für die gesamte weitere Rekonstruktion folgenreiche These, dass die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis keine Voraussetzung des Deduktionsbeweises ist, lässt sich sowohl textlich als auch systematisch begründen. Erstens bliebe die Reichweite eines Deduktionsarguments von vornherein auf empfindliche Weise beschränkt, wenn es voraussetzte, dass objektive empirische Erkenntnis möglich ist. Das heißt, ein solches Argument könnte nicht der skeptischen These begegnen, dass wir keine empirische Erkenntnis von Gegenständen (sondern allenfalls Erkenntnis von unseren Vorstellungen) haben können, wenn es die Möglichkeit ob-
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
jektiver empirischer Erkenntnis bereits unterstellt. Die Deduktion würde also ihr antiskeptisches Potential gegen Hume verlieren. 30 Schwerwiegender ist aber zweitens, dass die Annahme der Möglichkeit objektiver Erfahrungserkenntnis als Prämisse der Deduktion mit der Position des Deduktionskapitels, dass die Kategorien diese Möglichkeit überhaupt erst begründen sollen, unverträglich ist. Im letzten Absatz vor der Summarischen Vorstellung der Deduktion fasst Kant das Ergebnis der Deduktion dahingehend zusammen: „Der reine Verstand ist also in den Kategorien das Gesetz der synthetischen Einheit aller Erscheinungen, und macht dadurch Erfahrung ihrer Form nach allererst und ursprünglich möglich. Mehr [aber auch nicht weniger! (M. W.)] hatten wir in der transz. Deduktion der Kategorien nicht zu leisten“ (A 128; Hvh. v. Verf., M. W.). 31
Die objektive Gültigkeit der Kategorien kann also nicht auf der Prämisse basieren, dass objektive Erfahrungserkenntnis möglich ist, wenn umgekehrt die Möglichkeit solcher Erkenntnis auf den Kategorien bzw. ihrer objektiven Gültigkeit basieren soll. Es läge ein Zirkel vor. 32
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B. Thöle argumentiert dafür, dass Hume für Kant nicht als epistemologischer Skeptiker, der die Legitimität der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis in Zweifel zieht oder bestreitet, interessant war, sondern nur als metaphysischer Skeptiker, der bezweifelt, dass es apriorische Erkenntnis gibt (Thöle 1991, 24/35). Demgegenüber hat H. Klein mit Blick auf Kants nachträgliche Verständigung über die A-Deduktion in der Vorrede der Prolegomena und mit Blick auf das Deduktionskapitel der KrV selbst m. E. überzeugend dargelegt, dass Kants transzendentale Deduktion auch auf die „Rechtfertigung unseres Anspruchs auf eine objektiv gültige Erfahrungserkenntnis“ und in diesem Sinne auch auf die Widerlegung der epistemologischen Skepsis abzielt (Klein 2002, 12/22, hier: 18). Kant spricht hier vom ‚Möglichmachen‘. Grundsätzlich kann man eine Aussage, dass A B möglich macht, auf zwei verschiedene Weisen verstehen: erstens so, dass B nicht ohne A möglich ist, oder zweitens so, dass die Möglichkeit von B auf A gründet. Ein Beispiel: Ist objektive empirische Erkenntnis nicht durchgängig möglich, falls nicht alle Erscheinungen unter Kategorien stehen, so machen die Kategorien solche Erkenntnis im ersten Sinn möglich. Ist objektive empirische Erkenntnis dagegen deshalb durchgängig möglich, weil alle Erscheinungen unter Kategorien stehen, so machen die Kategorien solche Erkenntnis im zweiten Sinn möglich. In welchem der beiden skizzierten Sinne die Kategorien objektive empirische Erkenntnis möglich machen sollen, stellt Kant nicht an jeder Stelle eindeutig heraus. Diese Eindeutigkeit vermisst man insbesondere, wenn Kant in Bezug auf die Kategorien erklärt, „daß durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) möglich sei“ (A 93, B 126), oder dass sie „alle objektive Gültigkeit (Wahrheit) der empirischen Erkenntnis möglich machen“ (A 125). Die oben zitierte Stelle ist jedoch eindeutig: Weil (bzw. „dadurch“, dass) der „reine Verstand [...] in den Kategorien das Gesetz der synthetischen Einheit aller Erscheinungen“ ist, ist „Erfahrung ihrer Form nach allererst und ursprünglich möglich.“ (A 128; Hvh. v. Verf., M. W.) Das bedeutet, dass die Kategorien objektive empirische Erkenntnis im zweiten Sinn möglich machen sollen. Zu diesem Zirkeleinwand siehe Kroner 1961 (11921), 73: „Die Deduktion stützt sich auf die Tatsche der Erfahrung, die vielmehr ihrerseits durch die Deduktion gestützt sein will. Die Kritik blickt auf die Naturwissenschaft, aber die Naturwissenschaft soll durch die Kritik erst als möglich dargetan werden. [...] Woher die Gewißheit, daß Naturwissenschaft
4.4 Die Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung
107
Drittens lassen sich eine Reihe von Stellen anführen, die das belegen, was sich bereits in der eben genannten andeutet: Die Kategorien sollen im Sinne von Gründen als ‚Bedingungen‘ a priori der Möglichkeit der Erfahrung fungieren. So erklärt Kant, dass die Kategorien „als Bedingungen a priori aller Erfahrungserkenntnis zum Grunde liegen“ sollen (A 93, B 126). Außerdem präzisiert er sein Nachforschungsprinzip (NP), dass die Kategorien „als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden“ sollen, unmittelbar anschließend dahingehend, dass die Kategorien „den objektiven Grund der Möglichkeit der Erfahrung abgeben“ sollen (A 94, B 126). Ferner betitelt er den zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels Von den Gründen[!] a priori zur Möglichkeit der Erfahrung (A 95). Entsprechend versteht er auch hier wieder die „Bedingungen a priori [...], worauf die Möglichkeit der Erfahrung ankommt“, als solche, „die ihr zum Grunde liegen“ (A 96). Aus diesen Belegen ergibt sich, dass die Kategorien als ‚Bedingungen‘ der Möglichkeit der Erfahrung im Sinne von Gründen dieser Möglichkeit fungieren sollen. Wenn gezeigt werden soll, dass die Kategorien die Möglichkeit der Erfahrung allererst begründen, dann reicht der Nachweis, sie fungieren als notwendige Bedingungen dieser Möglichkeit, dafür nicht aus. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kants Projekt, die Kategorien als Bedingungen a priori der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis zu erweisen, nicht unter der Prämisse steht, dass solche Erkenntnis möglich ist. Was aber nicht als Prämisse des Deduktionsbeweises fungiert, kann trivialerweise auch kein Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung sein. 33 Und was kein Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung ist, kommt auch nicht als Grundlage für den Aufweis der drei Synthesen in Frage. Denn da die Deduktionsuntersuchung mit der Analyse der drei Synthesen einsetzt und diese Synthesen eine begründende Rolle im Deduktionsbeweis spielen sollen, müssen sie sich auf der Grundlage der Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung aufweisen lassen. 34 Die
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wahre Erkenntnis ist?“ Zur Diskussion dieses Zirkeleinwandes vgl. Ebbinghaus 1968; Hossenfelder 1978, 19 f. und Rosales 2000, 128/30. Meiner Auffassung nach trifft der Zirkeleinwand deshalb nicht zu, weil zu den Prämissen der Deduktion nicht die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis, sondern nur die Möglichkeit empirischer Erkenntnis in einem schwächeren Sinn gehört. Auf diesen schwächeren Sinn von empirischer Erkenntnis werde ich im folgenden Unterabschnitt eingehen. Denn Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung sind ihrem oben (S. 105) eingeführten Begriff nach diejenigen Prämissen des Deduktionsbeweises, die schon zu Beginn der Deduktionsuntersuchung im Spiel sind. In seinem Buch Synthesis bei Kant will H. Hoppe Kants Synthesislehre „im Ausgang von der empirischen Wirklichkeit der menschlichen Gegenstandserkenntnis und ihren realen Sinnvoraussetzungen auf einsichtige Weise rekonstruieren“ und insbesondere die „Lehre von den drei Synthesen als den Versuch einer Beschreibung der wirklichen Erfahrung von Gegenständen und Sachverhalten unter dem Gesichtspunkt von in die Erfahrung investierten
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
Frage nach diesen Ausgangspunkten ist bisher jedoch nur negativ beantwortet worden: Die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis und die Einheit der Apperzeption gehören nicht dazu. 4.4.2 Empirische Erkenntnis im weiten Sinn und das Nacheinander unseres bewussten Vorstellens Die Deduktionsuntersuchung hat zwei Ausgangspunkte. Diese herauszustellen, ist das Ziel der folgenden Überlegungen. Der erste lässt sich einer Bemerkung entnehmen, die Kant im Vorfeld der Analyse der drei Synthesen macht. „Wenn eine jede einzelne Vorstellung der andern ganz fremd, gleichsam isoliert, und von dieser getrennt wäre, so würde niemals so etwas, als Erkenntnis ist, entspringen, welche ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist.“ (A 97)
Kants Bestimmung, dass Erkenntnis „ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen“ ist, verfolgt den Zweck, die Behauptung, dass so verstandene Erkenntnis möglich ist, als einen Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung zu markieren, der für Vertreter konkurrierender erkenntnistheoretischer Positionen anschlussfähig ist. Kants Vorgehen, in strittigen erkenntnistheoretischen Fragen einen gemeinsamen Boden mit seinem jeweiligen Opponenten zu gewinnen, wird in aufschlussreicher Weise zu Beginn der Einleitung der zweiten Auflage der KrV sichtbar. Kant vertritt dort die Ansicht, dass wir „den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände [...] verarbeiten“, wobei diese Gegenstände „unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen“ (B 1). Er knüpft damit an die empiristische Erkenntnisauffassung Lockes an, derzufolge die Tätigkeiten des Vergleichens, Verknüpfens und Trennens die drei wichtigsten „acts of the mind“ 35 sind und wir durch diese Tätigkeiten anhand von einfachen Vorstellungen, vor allem den Vorstellungen der Sinne, nichteinfache Vorstellungen bilden und Erkenntnis gewinnen.
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synthetischen Leistungen“ interpretieren (Hoppe 1983, 18 u. 194). Für die hier von mir beabsichtigte argumentative Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft ist Hoppes Untersuchung jedoch kaum hilfreich, weil ich aus den genannten Gründen anders als Hoppe (ebd., 15) der Auffassung bin, dass Kant die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis in seinem Deduktionsprojekt und im Zuge seiner Analyse der drei Synthesen nicht voraussetzt, sondern begründen will. Locke, An Essay concerning Human Understanding, II.12.1.
4.4 Die Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung
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Der entscheidende Punkt ist, dass diese Erkenntnisauffassung für Kant einen neutralen Ausgangspunkt der erkenntnistheoretischen Kontroverse darstellt. Denn aus dieser Erkenntnisauffassung, so Kant, mag zwar hervorgehen, dass „alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt“ oder „anfange“, aber nicht, dass sie auch „aus der Erfahrung“ entspringt (B 1). Nimmt man also die Möglichkeit von Erkenntnis als Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen an, so scheint darin weder schon eingeschlossen zu sein, was Kant bekanntlich zu zeigen versucht: dass es erfahrungsunabhängige Erkenntnis gibt, derzufolge alle Erscheinungen apriorischen Gesetzen bzw. reinen Verstandesbegriffen unterworfen sind; noch ist damit ausgeschlossen, dass es solche apriorische Erkenntnis gibt. Da die Möglichkeit von Erkenntnis als Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen vom empiristischen Erkenntnistheoretiker eingeräumt und akzeptiert wird und den anvisierten Resultaten des kritischen Erkenntnistheoretikers nicht zuwiderläuft, kann dieser sie als einen neutralen Ausgangspunkt für seine Argumentation betrachten. Kant bewegt sich mit der Annahme, dass empirische Erkenntnis im Sinne eines Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen möglich ist, aber nicht nur auf dem Boden des klassischen Empirismus (Locke), sondern auch auf dem Boden der skeptischen Vollendung desselben (Hume). Denn er geht mit dieser Annahme nicht nur nicht von der apriorischen Gesetzmäßigkeit und Kategorialität unserer Erfahrung aus, sondern nicht einmal davon, dass unsere Erfahrung auf empirische Objekte bezogen ist. Das ergibt sich bereits durch eine einfache Überlegung: Da die Möglichkeit von Erkenntnis als Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ein Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung und damit eine Prämisse des Deduktionsbeweises sein soll, muss der Begriff dieser Erkenntnis weiter oder schwächer als der Begriff objektiver Erkenntnis sein, weil die Möglichkeit objektiver Erkenntnis diesem Beweis, wie gesehen, nicht als Prämisse dienen darf. Aber was ist nun empirische Erkenntnis im Sinne eines Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen? Einen wichtigen Hinweis darauf erhält man mit Blick auf Kants Rede von ‚Vergleichen‘ und ‚Verknüpfen‘ im Kontext seiner Diskussion des empirischen Urteils der Prolegomena. Dort erklärt Kant, dass wir empirisch urteilen, indem wir gegebene Vorstellungen ‚vergleichen‘ und mit Hilfe von daraus abgezogenen Begriffen und anhand von Urteilsformen logisch ‚verknüpfen‘. 36 Solche Urteile lassen sich sicher als Ganze verglichener und verknüpfter Vorstellungen und in diesem Sinne als Erkenntnisse beschreiben. Der Begriff solcher Erkenntnis ist aber weiter als der Begriff objektiver empirischer Erkenntnis. Denn
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Proleg, A 82, 84 u. 87.
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
Kant lässt in den Prolegomena keinen Zweifel daran, dass die genannten Fähigkeiten des Vergleichens und Verknüpfens zwar notwendig, aber nicht hinreichend dafür sind, dass die durch ihren Gebrauch zustandegebrachten empirischen Urteile als Erkenntnisse in dem engeren Sinn gelten können, dass sie „auf ein Objekt“ bezogen sind bzw. „mit einem Gegenstande übereinstimm[en]“. 37 Anders gesagt, diese Fähigkeiten sind hinreichend für Wahrnehmungsurteile, aber nur notwendig und nicht hinreichend für Erfahrungsurteile. Unter dem „Objekt“, auf das Erfahrungsurteile bezogen sind, bzw. dem „Gegenstande“, mit dem sie übereinstimmen, ist m. E. ein empirisches Objekt zu verstehen, d. h. eine durch Kategorien und insbesondere durch die Relationskategorien bestimmte Erscheinung. Kant erklärt, im Fall eines Erfahrungsurteils bedarf es über das Vergleichen und das bloße Verknüpfen hinaus des „Zusatz[es]“ von reinen Verstandesbegriffen 38, d. h. von Begriffen der „notwendigen“ Verknüpfung der Wahrnehmungen 39. Dass dieser Zusatz bei einem Wahrnehmungsurteil fehlt, bedeutet jedoch nicht, dass es in gar keinem Sinn von ‚Gegenstand‘ auf einen Gegenstand bezogen sein kann. Ein solcher Gegenstand darf nur nicht als (relations)kategorial bestimmter Gegenstand gelten; er darf also insbesondere nicht als Gegenstand gelten, der bereits als beharrlich oder als in kausalen Zusammenhängen stehend bestimmt ist. Von daher bietet es sich an, auch Wahrnehmungsurteilen einen Bezug auf Gegenstände, und zwar auf kategorial unbestimmte Gegenstände von empirischen Anschauungen, d. h. auf Erscheinungen, zu konzedieren. Der Begriff von Erkenntnis als einem Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist ein weiter Erkenntnisbegriff. Unter ihn fallen lediglich auf kategorial unbestimmte Erscheinungen bezogene – und in diesem Sinne ‚vorobjektive‘ – empirische Urteile (Wahrnehmungsurteile) und auf empirische Objekte bezogene empirische Urteile (Erfahrungsurteile). Beide müssen als Erkenntnisse im weiten Sinn gelten und können terminologisch als Erkenntnisse im schwachen Sinn und als Erkenntnisse im starken bzw. engen Sinn unterschieden werden. Die Bestimmung von Erkenntnis im Sinne eines Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen als empirisches Urteil muss aber noch erweitert werden. In Hinblick auf das Deduktionskapitel ist es von großer Bedeutung, dass Kant sich mit seinem weiten Erkenntnisbegriff nicht darauf festlegt, dass es sich bei solchen Erkenntnissen um Urteile handeln
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Proleg, A 78. Proleg, A 89 Anm.; vgl. ebd., A 80 Anm. Proleg, A 88 f.
4.4 Die Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung
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muss. 40 Auch Anschauungen lassen sich als Ganze verglichener und verknüpfter Vorstellungen verstehen. Denn jede Anschauung besitzt intuitive Merkmale 41, sinnliche Teilvorstellungen, die zusammen ein verknüpftes Ganzes, eben diese Anschauung, ausmachen. Auch Anschauungen sind also Erkenntnisse im weiten Sinn. 42 Weiterhin lässt sich der Einteilung von empirischen Urteilen in Erfahrungs- und Wahrnehmungsurteile eine entsprechende Einteilung von empirischen Anschauungen zur Seite stellen. Unter ‚empirischen Anschauungen‘ können sinnliche Vorstellungen von kategorial bestimmten oder von kategorial unbestimmten Einzelnen verstanden werden. In Anlehnung an den Sprachgebrauch der Prolegomena schlage ich vor, diese beiden Typen empirischer Anschauung terminologisch als ‚Erfahrungsanschauungen‘ und ‚Wahrnehmungsanschauungen‘ zu unterscheiden. 43 Im ersten Fall wäre der Gegenstand der Anschauung etwas, das als empirisches Objekt verstanden wird; im zweiten Fall wäre er eine „Erscheinung“, d. h. der kategorial „unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (A 20, B 34). 44 Die bisherigen Überlegungen dieses Abschnitts lassen sich nun folgendermaßen resümieren. Der erste Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung und damit der Analyse der drei Synthesen ist, dass empirische Erkenntnis im Sinne eines Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen möglich ist. Bei dem Begriff dieser Erkenntnis handelt es sich um einen weiten Erkenntnisbegriff, unter den zwei Arten von Erkenntnissen fallen: Erkenntnisse im schwachen Sinn und Erkenntnisse im starken bzw. engen Sinn. Zu den ersteren gehören Wahrnehmungsurteile und Wahrnehmungsanschauungen, zu den letzteren Erfahrungsurteile und Erfahrungsanschauungen. Die Annahme, dass wir empirische Erkenntnis im weiten Sinn haben können, impliziert nicht, dass Erscheinungen apriorischen Gesetzen oder Kategorien unterworfen sind. Da es mit dieser An-
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Der Urteilsbegriff ist für die A-Deduktion sogar von untergeordneter Bedeutung. Das zeigt sich äußerlich schon darin, dass er dort nur ein einziges Mal, in A 126, beiläufig vorkommt. R 2286 (1780/9), AA 16.299 f.: „Merkmal ist eine theilvorstellung [...]. Es ist entweder intuitiv (g synthetischer theil): ein theil der Anschauung, oder discursiv: ein theil des Begrifs [...]. vel intuitus vel conceptus partialis.“ Da auch Begriffe Teilvorstellungen, und zwar diskursive Merkmale besitzen (siehe die vorige Anm.), lassen auch sie sich als Ganze verschiedener Vorstellungen und damit als Erkenntnisse im weiten Sinn verstehen. Dass Kant selbst nicht nur Urteile (etwa in A 68, B 93), sondern hin und wieder auch Anschauungen und Begriffe als ‚Erkenntnisse‘ versteht, wird beispielsweise in A 320, B 376 f. deutlich. Dafür, dass Kant solche Wahrnehmungsanschauungen annimmt, spricht, dass er in den Prolegomena, wenn er die vorobjektive Dimension der Erkenntnis thematisiert, nicht nur von ‚Wahrnehmungsurteilen‘, sondern häufig auch von ‚Wahrnehmungen‘ redet. Zum Verständnis von Erscheinungen als kategorial unbestimmten Gegenständen der empirischen Anschauung siehe oben S. 65.
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
nahme logisch verträglich wäre, dass sich unsere gesamte Erfahrung in Wahrnehmungsurteilen und -anschauungen erschöpft, impliziert sie nicht einmal, dass wir objektive empirische Erkenntnis haben können. Darin zeigt sich, dass sie ein geeigneter Ausgangspunkt für die Deduktionsuntersuchung ist. Denn im Rahmen dieser Untersuchung kann die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis nicht als Prämisse fungieren. Ist die Möglichkeit von Erkenntnis im weiten Sinn ein Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung, darf aber im Rahmen dieser Untersuchung nicht vorausgesetzt werden, dass wir empirische Erkenntnis im engen Sinn haben können, so kann diese Untersuchung zunächst nur in Anspruch nehmen, dass wir empirische Erkenntnis im schwachen Sinn haben können. Man kann den ersten Ausgangspunkt daher auch so formulieren, dass wir Erkenntnis im schwachen Sinn, d. h. Wahrnehmungsurteile und Wahrnehmungsanschauungen, haben können. Bevor ich zum zweiten Ausgangspunkt übergehe, möchte ich auf einen Punkt hinweisen, um den Kants Einführung des Konzepts der Erkenntnis im weiten Sinn ergänzt werden sollte. Kant bestimmt Erkenntnis im weiten Sinn als „ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen“ (A 97). Es scheint mir dagegen sinnvoll zu sein, Erkenntnis im weiten Sinn als ein solches Ganzes zu verstehen, das selbst auch Vorstellungs- bzw. Bewusstseinscharakter besitzt. Denn ein durch Vergleichen und Verknüpfen (mit oder ohne kategorialen ‚Zusatz‘) zustandegebrachtes empirisches Urteil ist nicht nur ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen, sondern zugleich die Vorstellung oder das Bewusstsein eines solchen Ganzen. Und auch eine Anschauung ist Kant zufolge eine „Vorstellung mit Bewusstsein“ (A 320, B 376 f.). Sie ist also nicht nur ein Ganzes verschiedener intuitiver Merkmale, sondern zugleich das Bewusstsein eines solchen Ganzen. Ich werde deshalb im Folgenden davon ausgehen, dass es sich bei Erkenntnis im weiten Sinn nicht bloß um ein „ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen“ (A 97), sondern zugleich um das Bewusstsein eines solchen Ganzen handelt. Damit zum zweiten Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung und der Analyse der drei Synthesen. Er ist leichter als der erste zu identifizieren, da er sich direkt aus einer „allgemeine[n] Anmerkung“ ergibt, die Kant diesen Untersuchungen voranstellt und von der er ausdrücklich sagt, dass man sie „bei dem Folgenden durchaus zum Grunde legen muß“ (A 99): Woher auch immer unsere Vorstellungen entspringen mögen, sie gehören „als Modifikationen des Gemüts zum innern Sinn, und als solche sind alle unsere Erkenntnisse zuletzt doch der formalen Bedingung des innern Sinnes, nämlich der Zeit unterworfen, als in welcher sie insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden müssen.“ (Ebd.)
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?
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Dass alle unsere Vorstellungen als Modifikationen des Gemüts der Zeit als formaler Bedingung unterworfen sind, lässt sich zunächst so verstehen, dass je zwei verschiedene Vorstellungen, die wir haben, prinzipiell in den Zeitverhältnissen des ‚Nacheinander‘ und ‚Zugleich‘ stehen. Näherhin betrachtet kommt jedoch dem ‚Nacheinander‘ gegenüber dem ‚Zugleich‘ insofern eine Vorzugsstellung zu, als je zwei verschiedene unserer Vorstellungen uns nicht zugleich, sondern nur nacheinander bewusst sein können. 45 Und dies ist der zweite Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung und der Analyse der drei Synthesen, den ich im Folgenden als das ‚Nacheinander unseres bewussten Vorstellens‘ bezeichne.
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft? 4.5.1 ‚Synthesis‘ und die Ausgangspunkte der Deduktion Vor dem Hintergrund der vorigen Überlegungen lässt sich Kants bereits mehrfach erwähnte Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘ besser verstehen. „Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“ (A 77, B 103)
Wie sich anhand der verschiedenen Aspekte dieser Definition zeigen lassen wird, bildet diese das Pendant zu den beiden Ausgangspunkten der Deduktionsuntersuchung – zum Nacheinander unseres bewussten Vorstellens und zur Möglichkeit von Erkenntnis im weiten Sinne des Bewusstseins eines Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen. Die Rede, dass verschiedene Vorstellungen durch Synthesishandlungen ‚zueinander hinzugetan‘ werden, deutet darauf hin, dass solche Handlungen zeitliche Prozesse sind und insofern dem Nacheinander unseres bewussten Vorstellens korrelieren sollen. Im Rahmen des zweiten Ausgangspunktes hatte Kant erklärt, alle unsere Vorstellungen seien als zum inneren Sinn gehörende Modifikationen des Gemüts „der formalen Bedingung des innern Sinnes, nämlich der Zeit unterworfen, als in welcher sie insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden müssen.“ (A 99) Demnach müssen nicht nur unsere Vorstellungen, sondern auch die Handlungen, durch die wir diese Vorstellungen ordnen, verknüpfen und in Verhältnisse bringen, dem zeitlichen Verlauf unterwor-
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Kant behauptet m. E. nicht, dass wir zwei verschiedene Vorstellungen nicht zugleich haben können, sondern nur, dass wir uns ihrer nur nacheinander bewusst sein können. Der im Zitat erwähnte innere Sinn ist mit der empirischen Apperzeption identisch (vgl. A 107); und das Nacheinander ist die sinnliche Form dieses Bewusstseins.
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
fen sein. 46 Da Synthesishandlungen als solche Ordnungs- und Verknüpfungsleistungen gelten müssen, sind auch sie als zeitliche Prozesse aufzufassen. Entsprechend eindeutig erklärt Kant in einem Entwurf der transzendentalen Kategoriendeduktion aus dem Frühjahr 1780 in Bezug auf alle Typen von Synthesishandlungen: „Die Synthesis geschieht in der Zeit.“ 47 Insbesondere transzendentale Synthesishandlungen sind demzufolge Handlungen, die in der Zeit geschehen. Auch Kants Konzept der Erkenntnis im weiten Sinn des Bewusstseins eines Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen schlägt sich in seiner Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘ nieder. Dass Synthesen die Mannigfaltigkeit verschiedener Vorstellungen in einer Erkenntnis begreifen, bedeutet nicht mehr, als dass sie sie in einem Bewusstsein eines Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen begreifen. Und der Ausdruck ‚Begreifen‘ ist dabei unspezifisch zu verstehen und bedeutet so viel wie ‚Zusammenfassen‘ oder ‚Vereinigen‘. Dafür, dass ‚Begreifen‘ in Kants Definition von Synthesis „in der allgemeinsten Bedeutung“ diesen unspezifischen Sinn hat, sprechen eine Reihe von Indizien. Erstens erklärt Kant in einer Paraphrase seiner Definition: „Synthesis ist [...] dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammlet, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt“ (A 77 f., B 103; Hvh. v. Verf., M. W.). Zweitens nennt Kant den Aspekt, der in seiner Ausgangsdefinition von Synthesis ‚Begreifen‘ heißt, im Zusammenhang seiner Diskussion der Apprehensionssynthesis die „Zusammennehmung“ in eine Anschauung (A 99; Hvh. v. Verf., M. W.). Vor allem aber unterscheidet Kant drittens das für die Synthesis selbst charakteristische Begreifen sorgfältig vom Auf-den-Begriff-bringen der Synthesis. Die Funktion, die „Synthesis auf Begriffe zu bringen“, ist eine „Funktion, die dem Verstande zukommt“, während „Synthesis überhaupt [...] die bloße Wirkung der Einbildungskraft“ ist (A 78, B 103). Erst durch die Funktion, die Synthesis auf Begriffe zu bringen, so Kant, „verschaffet“ uns der
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Ebenso Klein 2002, 90. ‚Loses Blatt‘ ‚B 12‘, AA 23.18.36. Der zitierte Satz ist der letzte Satz eines Absatzes, in dem von der empirischen, der reinen und der transzendentalen Synthesis die Rede ist. Da es unmittelbar vor dem zitierten Satz um die transzendentale Synthesis geht, bezieht sich der Satz insbesondere auf diesen Typ von Synthesishandlungen. – Der genannte Absatz lautet vollständig: „Die reine Synthesis der Einbildungskraft ist der Grund der möglichkeit der empirischen in der Apprehension also auch der Warnehmung. Sie ist a priori möglich u. bringt nichts als Gestalten hervor. Die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft geht blos auf die Einheit der Apperception in der synthesis des Manigfaltigen überhaupt durch die Einbildungskraft. Dadurch wird ein Begrif vom Gegenstande überhaupt gedacht nach den verschiedenen Arten der transscendentalen Synthesis. Die Synthesis geschieht in der Zeit.“ (AA 23.18.29/36; Hvh. v. Verf., M. W.) – Der Text des ‚Losen Blatts‘ ‚B 12‘ befindet sich auf der Rückseite eines Briefs an Kant vom 20.01.1780 und dürfte Kants Gewohnheit gemäß kurze Zeit später verfasst worden sein.
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?
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Verstand „Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung“ (ebd.), d. h. Erkenntnis im engen Sinn. Die Unterscheidung zwischen Synthesis „in der allgemeinsten Bedeutung“ und dem Auf-den-Begriff-bringen der Synthesis ist jedoch nicht als ein Hinweis dafür zu werten, dass es Kant darum geht, den Erkenntnisprozess so zu konzipieren, als liefe dieser in zwei zeitlich aufeinander folgenden Phasen ab: einer Synthesisphase und einer Phase, in der die Synthesis auf den Begriff gebracht wird. Kant will mit dieser Unterscheidung nicht ausschließen, dass Synthesishandlungen während ihres Vollzuges auf Begriffe gebracht werden können. Seine Unterscheidung spiegelt eher eine konzeptionelle Entscheidung wider, die vor dem Hintergrund der Ausgangslage der Deduktionsuntersuchung zu sehen ist. Würde Kant das Auf-den-Begriff-bringen der Synthesis als einen nicht einmal begrifflich unterscheidbaren Aspekt der Synthesis selbst konzipieren, so könnte das Konzept der Synthesis im Rahmen der Deduktionsuntersuchung keine Rolle spielen. Denn ‚Synthesis‘ wäre auf diese Weise bereits als etwas angesetzt, das uns „Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschaffet.“ (A 78, B 103) Damit wäre aber mit der Annahme von Synthesis zugleich vorausgesetzt, dass solche Erkenntnis und damit Erkenntnis im engen Sinn möglich ist. Auf diese Prämisse will Kant in seinem Deduktionsbeweis jedoch verzichten. Indem Kant also das Konzept der Synthesis „in der allgemeinsten Bedeutung“ vom Konzept der Funktion, die Synthesis auf Begriffe zu bringen, unterscheidet, setzt er Synthesis nicht von vornherein als etwas an, das uns Erkenntnis im engen Sinn „verschaffet“. Das bedeutet aber, dass unter ‚Erkenntnis‘ in seiner Synthesisdefinition, Erkenntnis im weiten Sinn, d. h. ein Bewusstsein eines Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen, zu verstehen ist. Es ist weiterhin bemerkenswert, dass Kants Definition nicht lautet: Synthesis ist die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun und sie (diese Vorstellungen) in einer Erkenntnis zu begreifen. Kant erklärt vielmehr: Synthesis ist die „Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“ (A 77, B 103; Hvh. v. Verf., M. W.) Durch Synthesishandlungen werden demnach nicht verschiedene Vorstellungen, sondern wird das in diesen enthaltene bzw. mit ihnen gegebene Mannigfaltige vereinigt. Bei diesem Mannigfaltigen kann es sich Kant zufolge um Mannigfaltiges handeln, das uns „empirisch oder a priori gegeben“ ist (ebd.). Unter einem ‚a priori gegebenen‘ Mannigfaltigen versteht Kant ein in „Raum und Zeit enthalten[es] [...] Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori“ (A 77, B 102). Ich werde zunächst von diesem Konzept des Mannigfaltigen absehen und das Konzept des empirisch gegebenen Mannigfaltigen in den Mittelpunkt stellen. Unter einem ‚empirisch gegebenen‘ Mannigfaltigen ist
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ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Reales (realitas phaenomenon) zu verstehen, das uns lediglich durch den Sinn bzw. allein durch die Rezeptivität unseres Gemüts gegeben ist. Synthesishandlungen, die ein empirisch gegebenes Mannigfaltiges bzw. Reales in einer Erkenntnis vereinigen, sind offenbar realitätsbezogen. Das Vereinigen besteht darin, dass dieses Mannigfaltige bzw. Reale als eine komplexe Einheit und näherhin als ein Ganzes verschiedener voneinander abgehobener Elemente dieses Mannigfaltigen vorgestellt wird (wobei diese Elemente Gehalte der ‚verschiedenen Vorstellungen‘, die durch die Synthesishandlung ‚zueinander hinzugetan‘ werden, sind). 48 Dass Synthesishandlungen, die ein empirisch gegebenes Mannigfaltiges vereinigen, realitätsbezogen sind, hat nun eine wichtige Konsequenz für das Verständnis des Konzepts der empirischen Erkenntnis im weiten Sinn. Denn wenn diese Synthesishandlungen realitätsbezogen sind, dann ist auch die empirische Erkenntnis im weiten Sinn, in der sie empirisch gegebenes Mannigfaltiges vereinigen, realitätsbezogen. Das bedeutet, eine empirische Erkenntnis im weiten Sinn stellt das Mannigfaltige bzw. Reale verschiedener Vorstellungen als ein Ganzes verschiedener voneinander abgehobener und durch diese Vorstellungen vorgestellter Elemente dieses Mannigfaltigen vor. Insofern empirische Erkenntnis im weiten Sinn eine solche Vorstellung ist, ist ihre Charakterisierung als empirisches Bewusstsein eines Ganzen verglichener und verknüpfter Vorstellungen dahingehend zu interpretieren, dass der Ausdruck ‚Vorstellungen‘ für das Vorgestellte, für vorgestellte Elemente des Mannigfaltigen bzw. Realen steht. Was in einer empirischen Erkenntnis im weiten Sinn verglichen und verknüpft ist, sind demnach die realen Gehalte von Vorstellungen. Empirische Erkenntnis im weiten Sinn ist daher eine empirische Vorstellung eines Ganzen verglichener und verknüpfter realer Vorstellungsgehalte bzw. das empirische Bewusstsein eines solchen Ganzen. Im Fall von empirischer Erkenntnis im schwachen Sinn handelt es sich bei diesem Ganzen um eine kategorial unbestimmte Erscheinung und im Fall von empirischer Erkenntnis im starken Sinn um eine kategorial bestimmte Erscheinung, d. h. um ein empirisches Objekt. Ein weiterer Aspekt von Kants Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘, der im vorigen schon mehrfach beiläufig erwähnt wurde, ist noch einmal eigens hervorzuheben. Denn mit Blick auf diesen Aspekt ist die erkenntnistheoretische Relevanz der Synthesislehre Kants von seinen um Rekonstruktion bemühten Interpreten immer wieder bestritten worden. Nach Kants Synthesisdefinition ist jede Synthesis eine Handlung. Und aus dieser
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Genau auf diese Weise ist m. E. Kants oben schon zitierte Paraphrase seiner Synthesisdefinition zu verstehen, derzufolge die Synthesis eines empirisch gegebenen Mannigfaltigen dasjenige ist, „was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammlet, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt“ (A 77 f., B 103).
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?
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Definition geht hervor, dass der Vollzug einer solchen Handlung jeweils zu Erkenntnis führt, oder deutlicher gesagt, dass Synthesishandlungen solche Erkenntnisse hervorbringen oder erzeugen. In diesem Sinn müssen Synthesishandlungen als Ursachen oder Entstehungsbedingungen von Erkenntnis gelten. Legt man Kants Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘ zugrunde, so müssen auch transzendentale Synthesen qua Synthesen Handlungen sein. Und daran, dass Kant transzendentale Synthesishandlungen annimmt, kann kein Zweifel bestehen. So wird von ihm beispielsweise „die reproduktive Synthesis der Einbildungskraft zu den transzendentalen Handlungen des Gemüts“ gezählt (A 102). Insofern also transzendentale Synthesen als Synthesishandlungen unter Kants Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘ fallen, müssen sie wie alle solchen Handlungen als Ursachen oder Entstehungsbedingungen von Erkenntnis gelten. Vor allem dieser Aspekt von Kants Synthesislehre gibt nun Anlass zu einem schwerwiegenden Einwand gegen seine Erkenntnistheorie: dem Psychologismuseinwand. Die folgende Diskussion dieses Einwandes soll dazu beitragen, ein vorläufiges Verständnis von Kants Konzeption der transzendentalen Einbildungskraft zu gewinnen. 4.5.2 Der Psychologismuseinwand Der Psychologismuseinwand lautet, kurz gesagt, dass Kant selbst seiner Problemstellung einer transzendentalen Deduktion der Kategorien nicht gerecht werde, weil er in seiner Argumentation auf Entstehungsbedingungen bzw. Ursachen der Erfahrung rekurriert, statt Gründe ihrer Möglichkeit auszuweisen. Offenbar steht dieser Einwand im Widerspruch zu Kants Selbsteinschätzung. Paradoxerweise ist es sogar Kant selbst, der seinen Vorgängern (vor allem Tetens und Locke) ähnliche Vorhaltungen macht. In Reflexionen von 1776/8 erklärt er: „Tetens untersucht die Begriffe der reinen Vernunft blos subiectiv (Menschliche Natur), ich obiectiv. Jene analysis ist empirisch, diese transscendental.“ – „Ich beschaftige mich nicht mit der Evolution der Begriffe wie Tetens (alle Handlungen, dadurch Begriffe erzeugt werden), [...] sondern blos mit der obiectiven Gültigkeit derselben.“ 49
Die von Kant beabsichtigte ‚transzendentale Analysis‘ betrifft ausdrücklich nicht das Problem der subjektiven Erzeugung der reinen Begriffe, sondern soll deren objektive Gültigkeit sicherstellen. Da sich dieses Argumentationsziel mit dem der transzendentalen Deduktion der Kategorien deckt, ist es nicht überraschend, dass Kant sein Vorhaben zu Beginn des
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R 4901 (1776/8), AA 18.23.17/9 u. R 4900 (1776/8), ebd. Z. 12/5.
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
Deduktionskapitels auf dieselbe Weise kontrastiv konturiert (diesmal allerdings in Bezug auf Locke). Das Problem der objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe wird Kant zufolge nicht einmal berührt, wenn man, wie seiner Auffassung nach Locke, lediglich „die Art anzeigt, wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über dieselbe erworben“ wird (A 85, B 117) bzw. eine genetische „Erklärung des Besitzes einer reinen Erkenntnis“ im Rekurs auf Erfahrung gibt (A 86 f., B 119; ohne dortige Hvh.). 50 Vor dem Hintergrund von Kants Selbsteinschätzung scheint dem Psychologismuseinwand also von vornherein der Boden entzogen zu sein. Doch so einfach liegt die Sache nicht. Die Orientierung an Kants Selbsteinschätzung ist problematisch. Denn erstens und allgemein gesagt kann die Selbsteinschätzung des Autors einer Theorie nicht als der Maßstab für die Beurteilung der Theorie gelten. Wichtiger noch ist hier aber zweitens, dass sich der Psychologismuseinwand auch dann aufrechterhalten lässt, wenn Kants skizzierte Selbsteinschätzung richtig wäre. Denn der Proponent des Einwandes wird in der Regel nicht behaupten, Kant versuche, dem Problem der objektiven Gültigkeit der Kategorien durch eine empirische Untersuchung bzw. durch die Angabe von empirischen Entstehungsbedingungen der Erfahrung beizukommen, sondern ihm unterstellen, zur Lösung dieses Problems transzendentale Entstehungsbedingungen zu konzipieren und heranzuziehen. Da Entstehungsbedingungen, d. h. Ursachen, der Erfahrung aber prinzipiell nicht die Stelle von Gründen ihrer Möglichkeit einnehmen können, wäre Kants Deduktionsprojekt schon vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt. Rorty beispielsweise hat Kants Theorie als eine „kausale Theorie“ bezeichnet, da sie erklärenden, aber nicht begründenden Charakter habe: Sie suche „nach Ursachen von, also gerade nicht nur nach Gründen für empirische Wissensansprüche“; denn Kants „Gedanke der ‚transzendentalen Konstitution‘“ der Erfahrung hänge „entschieden von der CartesischLockeschen Vorstellung einer Mechanik des inneren Raums ab“. 51 In vergleichbarer Gestalt tritt der Psychologismuseinwand auch bei Strawson auf. Strawson wirft Kant vor, die erkenntnistheoretische Untersuchung der „fundamental structure of ideas in terms of which we can make intelligible to ourselves the idea of experience of the world“ in einer verzerrenden Analogie („strained analogy“) zu einer Untersuchung zu konzipieren, die eigentlich Sache der Erfahrungswissenschaft sei, nämlich der Untersuchung der „workings of the human perceptual mechanism“ und der „ways in which our experience is causally dependent on those
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Vgl. oben S. 88 Anm. 8 sowie R 4866 (1776/8), AA 18.14.18/20. Rorty 1979, 169 (ohne dortige Hvh.) u. 169 f. Anm. 31.
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?
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workings“. 52 Zwar sei sich Kant darüber bewusst gewesen, dass die erstgenannte Untersuchung philosophischer Art und die letztgenannte empirischer Art ist, aber indem er behaupte, dass die Quelle aller „limiting or necessary general features of experience [...] in our own cognitive constitution“ liegt 53, rekurriere seine Suche nach Wissen von der notwendigen Struktur der Erfahrung auf eine Untersuchung der „transcendental workings of the subjective faculties“, d. h. auf „transcendental psychology“.54 Strawson versteht die von ihm so genannte transzendentale Psychologie Kants als Unternehmen, die Produktion der notwendigen Einheit der Erfahrung durch gewisse transzendentale Operationen des Geistes nachzuvollziehen 55 und damit transzendentale Entstehungsbedingungen der Erfahrung zu identifizieren. Strawson nennt diese Bedingungen „the transcendental workings of the subjective faculties, whereby experience is produced“ 56, und sieht die Untersuchung dieser ‚workings‘ vor allem in Kants Synthesislehre. Sein Psychologismuseinwand besagt, dass das Projekt einer transzendentalen Deduktion auf diesem Wege undurchführbar ist. Denn selbst wenn transzendentale Psychologie ein sinnvolles Unternehmen wäre, könne sie bestenfalls „an explanation, a description, a story“ liefern, die transzendentale Deduktion jedoch soll eine Begründung bzw. einen Beweis erbringen. 57 Die transzendentale Psychologie ist dem-
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Strawson 1966, 15. Ebd.; vgl. ebd., 19/21. Ebd., 88. Vgl. ebd., 32. Obwohl der Psychologismuseinwand m. E. eine der wichtigsten Herausforderungen für die argumentative Rekonstruktion von Kants erkenntnistheoretischer Konzeption der Einbildungskraft darstellt, halte ich Strawsons Rede von Kants ‚transzendentaler Psychologie‘ für einen terminologischen Missgriff. Sie ist irreführend, weil Kant selbst den Ausdruck auf eine ganz andere Weise als Strawson verwendet. In der A-Auflage der KrV weist Kant die traditionelle rationale Psychologie zurück und kritisiert in diesem Zusammenhang die Paralogismen der „transzendentalen Psychologie“ (A 350; A 351; A 361; A 367; A 397). In der B-Auflage, für die Kant das Paralogismenkapitel neu bearbeitet hat, ist dieser Ausdruck zwar entfallen, aber auch hier ist in demselben Sinn von der „transzendentalen Seelenlehre“ die Rede (A 334, B 391; A 345, B 403; A 478 Anm., B 506 Anm.). Da sich Kant zufolge gerade keine transzendentale Psychologie etablieren lässt, sollte die Rede von seiner transzendentalen Psychologie vermieden werden. Aus diesem Grund kann auch der von P. Kitcher (1990) in ihrer funktionalistischen Kantinterpretation gegen Strawson unternommene Schachzug, den Ausdruck ‚transzendentale Psychologie‘ affirmativ zu besetzen, in terminologischer Hinsicht wenig überzeugen. Strawson 1966, 88; vgl. ebd., 97. Ebd., 85 f. Strawson zufolge hat Kants Deduktionskapitel zwei Aspekte; es enthält einerseits „an essay in the imaginary subject of transcendental psychology“, andererseits aber ein analytisches Argument (ebd., 31 f.). Für die Interpretation kommt es seiner Auffassung nach darauf an, „to disentangle the two elements, while remaining aware of them both“ (ebd., 89). Tatsächlich aber verbannt er die sogenannte transzendentale Psychologie aus seiner Interpretation (vgl. ebd., 11), um sich auf das analytische Argument – das „objectivi-
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
nach erkenntnistheoretisch irrelevant und die Deduktionsargumentation kann, wenn überhaupt, nur „without dependence on the doctrines of transcendental psychology“ gelingen. 58 Der Psychologismuseinwand muss in Hinblick auf das in dieser Arbeit verfolgte Vorhaben als außerordentlich schwerwiegend gelten. Denn wäre Kants Konzeption der Einbildungskraft tatsächlich erkenntnistheoretisch irrelevant, so hätte die hier beabsichtigte Rekonstruktion der erkenntnistheoretischen Konzeption der Einbildungskraft in der KrV gar keinen Gegenstand, geschweige denn, dass Kants Theorie der Einbildungskraft die Grundlage seiner Theorie der Erfahrung bilden könnte. Es wird deshalb nicht überraschend sein, wenn ich die Auffassung vertrete, dass sich der Psychologismuseinwand zurückweisen lässt. Um eine solche Zurückweisung formulieren zu können, möchte ich zunächst das Argument darlegen, auf das sich der Einwand stützt. Oben ist deutlich geworden, dass das Erfolgskriterium der Transzendentalen Deduktion durch die Frage gegeben ist, ob es gelingt, die Kategorien als Gründe a priori der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis zu erweisen. Dies vorausgesetzt, versucht das Argument, das den Psychologismuseinwand begründen soll, zu zeigen, dass Kants Deduktion – entgegen ihrem Anspruch und zumindest in Bezug auf die Einbildungskraft – auf Entstehungsbedingungen objektiver empirischer Erkenntnis rekurriert. Es lautet folgendermaßen: (i)
Kant führt den Deduktionsbeweis im Rekurs auf subjektive Quellen, insbesondere die Einbildungskraft und die Apperzeption.
(ii)
Der Rekurs auf die Einbildungskraft ist im Kern ein Rekurs auf deren transzendentale Synthesen.
(iii)
Transzendentale Synthesen sind Handlungen.
(iv)
Handlungen können allenfalls als Ursachen oder Entstehungsbedingungen der Erfahrung, nicht jedoch als Gründe ihrer Möglichkeit gelten.
(v)
Also rekurriert Kants Deduktionsbeweis – zumindest in puncto Einbildungskraft – nur auf Entstehungsbedingungen der Erfahrung.
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ty argument“ (ebd., 97/112) – zu konzentrieren. Siehe dessen kritische Rekonstruktion bei Grundmann 1994, 130 ff. Strawson 1966, 97.
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?
121
Unter Voraussetzung der Sätze (i)-(iv) ist die in Satz (v) genannte Konsequenz unvermeidlich. Da sich aus dieser Konsequenz aber der Psychologismuseinwand ergibt, besteht die Aufgabe einer Zurückweisung dieses Einwandes nun darin, zu zeigen, dass mindestens einer der Sätze (i)-(iv) unzutreffend ist. Prima facie ist jeder dieser Sätze allerdings gut begründet. Dass Kant seinen Deduktionsbeweis im Rekurs auf subjektive Quellen führt – Satz (i) –, ist unzweifelhaft. Denn die Kategorien sollen durch diesen Beweis als Bedingungen bzw. Gründe a priori der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis erwiesen werden; die subjektiven Quellen sollen aber Kant zufolge solche Bedingungen bzw. Gründe enthalten, und zwar aufgrund ihrer „transzendentalen Beschaffenheit“ (A 97) bzw. ihres „transz.“ Gebrauchs (A 94); Kant beabsichtigt daher, den Deduktionsbeweis so zu führen, dass er auf diese Quellen rekurriert; und er präzisiert das dahingehend, dass es dabei vor allem um die transzendentale Einbildungskraft und die transzendentale Apperzeption geht (A 94 f.). Auch Satz (ii), dass der Rekurs auf die Einbildungskraft in Kants Deduktionsbeweis im Kern ein Rekurs auf transzendentale Synthesen ist, scheint unproblematisch zu sein. Denn da für den Deduktionsbeweis die „transzendentale Beschaffenheit“ (A 97) bzw. der „transz.“ Gebrauch (A 94) der Einbildungskraft entscheidend ist, die Einbildungskraft aber das Vermögen der Synthesis ist, muss es sich bei dem Rekurs auf die Einbildungskraft in Kants Deduktionsbeweis im Wesentlichen um einen Rekurs auf transzendentale Synthesen handeln. Satz (iii), dass transzendentale Synthesen Handlungen sind, scheint schon dadurch gut begründet zu sein, dass Synthesen der Ausgangsdefinition des Ausdrucks ‚Synthesis‘ zufolge Handlungen sind (A 77, B 103). Vor diesem Hintergrund scheint aber auch jeder Typ von Synthesis, den Kant ins Spiel bringt, für eine Handlung stehen zu müssen. Auch transzendentale Synthesen müssen demnach als Handlungen gelten. In Hinblick auf Satz (iv) – dass Handlungen allenfalls als Ursachen der Erfahrung, nicht aber als Gründe ihrer Möglichkeit gelten können – ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ‚Handlung‘ (actio) von Kant bereits in seiner vorkritischen Phase zur Bezeichnung von Wirkungszusammenhängen unterschiedlichster Art verwendet wird; der allgemeine Handlungsbegriff steht näherhin für einen Übergang von ‚Ursachen‘ in ‚Wirkungen‘ und verweist, beide vermittelnd, auf eine ‚Substanz‘, die sich in diesem Übergang durchhält. 59 V. Gerhardt hat überzeugend dargelegt, dass diese Grundstruktur von Kants Handlungsbegriff auch in dessen kritischer Phase maßgeblich bleibt. 60 Damit scheint man auf Handlungen aber nur
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Siehe dazu Gerhardt 1986; insbes. 103 f. Ebd., 109 ff.
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
in solchen Untersuchungskontexten zurückgreifen zu können, in denen es um Ursachen oder um Gründe der Wirklichkeit, nicht aber um Gründe der Möglichkeit geht. Welcher der vier Sätze sollte in Hinblick auf eine mögliche Zurückweisung des Psychologismuseinwandes nun näher in Betracht gezogen werden? Da ich die Sätze (i) und (ii) für evidenter Weise unbestreitbar halte, möchte ich noch einmal auf die Sätze (iii) und (iv) zurückkommen. Zunächst zu Satz (iv). Dass Handlungen selbst nur als Ursachen oder als Gründe der Wirklichkeit, nicht aber als Gründe der Möglichkeit der Erfahrung gelten können, muss nicht bedeuten, dass sie in einem Untersuchungskontext, in dem es um Gründe der Möglichkeit der Erfahrung geht, gar keine Rolle spielen können. Denn vielleicht kann man zeigen, dass Handlungen eines bestimmten Typs, näherhin transzendentale Synthesishandlungen, zwar Ursachen der Erfahrung sind, dass die Möglichkeit derartiger Handlungen aber nur verständlich wird, wenn diese Handlungen Bestimmungsgründe besitzen, die von der reinen Apperzeption und letztlich von den Kategorien her expliziert werden müssen. Gelingt dies, so hätte man ein Argument, in dem erstens transzendentale Synthesishandlungen eine zentrale Rolle spielen, das vor allem aber zweitens ein erfolgreiches Deduktionsargument wäre, weil es die Kategorien als Gründe der Möglichkeit dieser Synthesishandlungen und damit der Erfahrung erweist. Ein Problem dieser Interpretationsstrategie ist, dass sie, selbst wenn ihre Durchführung gelänge, nicht zu einer Zurückweisung des in Satz (v) formulierten Psychologismuseinwandes führt. Denn in puncto Einbildungskraft würde das Deduktionsargument eben nur auf Ursachen oder Entstehungsbedingungen der Erfahrung rekurrieren. Immerhin könnte man der Einbildungskraft trotzdem insofern eine mittelbare erkenntnistheoretische Relevanz konzedieren, als es ihre transzendentalen Handlungen sind, die im Deduktionsargument eine wichtige Rolle spielen würden. Letztlich bleibt diese Interpretationsstrategie aber unbefriedigend. Denn sie erfordert, eine Kernthese von Kants Theorie der Einbildungskraft aufzugeben, und zwar die These, dass die Einbildungskraft eine derjenigen subjektiven Quellen ist, die Gründe der Möglichkeit der Erfahrung enthält. Die transzendentalen Synthesen würden trotz ihrer Relevanz für den Deduktionsbeweis nur als Gründe der Wirklichkeit der Erfahrung fungieren. Um die Preisgabe der genannten Kernthese von Kants Theorie der Einbildungskraft zu vermeiden, sollte die Zurückweisung des Psychologismuseinwandes deshalb an Satz (iii), demzufolge transzendentale Synthesen Handlungen sind, ansetzen. Dabei ist allerdings folgendes zu bedenken: Satz (iii) lässt sich nicht vollständig verwerfen, wenn man Kants Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘ nicht ganz aufgeben möchte. Denn
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?
123
dieser Definition nach sind Synthesen Handlungen und da es sich bei transzendentalen Synthesen um Synthesen handelt, müssen auch sie sich als Handlungen verstehen lassen. Meiner Auffassung nach würde es aber einen zu starken Eingriff in Kants Konzeption der Einbildungskraft darstellen, wenn man die Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘, d. h. des Grundbegriffs dieser Konzeption, ganz aufgeben würde. Es wäre äußerst zweifelhaft, ob man dann überhaupt noch von einer Rekonstruktion von Kants Konzeption der Einbildungskraft sprechen könnte. Doch Satz (iii) muss m. E. gar nicht in toto verworfen werden, um den Psychologismuseinwand zurückzuweisen. Man kann etwa folgende Interpretationsstrategie verfolgen: Kants Ausdruck ‚Synthesis‘ oder ‚transzendentale Synthesis‘ hat verschiedene Bedeutungsaspekte; einer dieser Aspekte ist, dass Synthesen oder transzendentale Synthesen Handlungen sind; dieser Aspekt soll im Deduktionsargument aber keine Begründungslast tragen; es ist ein anderer (noch zu identifizierender) Aspekt des Ausdrucks ‚Synthesis‘ bzw. ‚transzendentale Synthesis‘, auf den es im Deduktionsargument ankommt. – Wenn man diese Interpretationsstrategie wählt, dann muss die Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘ nicht verworfen, sondern ergänzt werden. Die Kriterien, denen eine solche Ergänzung genügen muss, sind relativ leicht zu spezifizieren: Worin auch immer die Ergänzung der Ausgangsdefinition von ‚Synthesis‘ bestehen mag, sie muss sich erstens vor dem Hintergrund von Kants tatsächlicher Verwendung des Ausdrucks ausweisen lassen; und sie muss zweitens so beschaffen sein, dass sich das Problem, auf das der Psychologismuseinwand aufmerksam macht, auflöst. – Es ist diese Interpretationsstrategie, die ich im folgenden Abschnitt einschlagen werde. Zuvor möchte ich jedoch kurz darlegen, dass Kant in seiner Lehre der Begriffsdefinitionen von vornherein Raum für die Ergänzung von Ausgangsdefinitionen philosophischer Begriffe vorsieht. Die Rede von ‚Ausgangsdefinitionen‘ philosophischer Begriffe ist in der Perspektive von Kants Definitionslehre streng genommen sogar deplaziert; denn die Philosophie kann Kant zufolge anders als die Mathematik nicht von Definitionen ihrer Begriffe ausgehen. Nur die Mathematik erzeugt oder macht ihre Begriffe allererst durch Definitionen, philosophische Begriffe aber sind „durch die Natur des Verstandes“ gegebene Begriffe (A 729 f., B 757 f.), die anfänglich verworren sind. Die Untersuchung muss sich über diese Begriffe zwar schon vorab verständigen; diese Verständigung besteht aber nicht in einer vollständigen bzw. ausführlichen Bestimmung des Begriffs und damit nicht in einer Definition (A 241; A 727, B 755), sondern in dem, was Kant eine „Exposition“ nennt, d. h. in einer „deutliche[n] (wenn gleich nicht ausführliche[n]) Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört“ (B 39).
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
Was ich oben als ‚Ausgangsdefinition‘ des Synthesisbegriffs bezeichnet habe, ist also vor dem Hintergrund von Kants Definitionslehre nicht mehr als dessen einführende Exposition. Die Exposition eines philosophischen Begriffs mag zwar „Elemente“ zu oder „Annäherungen“ an eine Definition liefern (A 731 Anm., B 759 Anm.), aber es ist damit zu rechnen, dass der Begriff einige „dunkele Vorstellungen enthalten kann, die wir in der Zergliederung [d. h. hier Exposition; M. W.] übergehen, ob wir sie zwar in der Anwendung jederzeit brauchen“ (A 728, B 756). In diesem Fall muss die Ausgangsdefinition bzw. einführende Exposition des Begriffs ergänzt werden. ‚Synthesis‘ ist ein Paradebeispiel für einen solchen Begriff. 4.5.3 Transzendentale Synthesen als Fähigkeiten Der Rekurs auf die Einbildungskraft in Kants Deduktionsbeweis ist im Kern ein Rekurs auf transzendentale Synthesen. Aus Kants Verwendungsweise der Ausdrücke ‚transzendentale Synthesis‘ und ‚Synthesis‘ geht jedoch hervor, dass diese Ausdrücke nicht in jedem Fall für bestimmte Handlungen stehen, sondern an einigen Stellen auch für die Fähigkeiten bzw. Vermögen 61, solche Handlungen zu vollziehen. Transzendentale Synthesen sind bei Kant sogar primär als Synthesisfähigkeiten und nur sekundär als Ausübung solcher Fähigkeiten zu verstehen. Denn es sind diese Fähigkeiten und nicht die Handlungen, in denen sie ausgeübt werden, die als Gründe der Möglichkeit der Erfahrung fungieren sollen. Einen wichtigen Hinweis darauf, dass Kant eine Konzeption von Synthesis vertritt, in der Synthesen nicht nur als Handlungen, sondern auch als Fähigkeiten gelten, findet sich in einem Nachlasstext Kants, dem ‚Losen Blatt‘ ‚B 12‘, einem im Frühjahr 1780 verfassten Entwurf der transzendentalen Kategoriendeduktion im Rückgriff auf die ‚transzendentale Synthesis‘. 62 Dort erklärt Kant: „Die Einbildungskraft ist eine synthesis theils eine productive theils reproductive.“ 63 Die Unterscheidung zwischen produktiver und reproduktiver Einbildungskraft kann an dieser Stelle vernachlässigt werden; worauf es allein ankommt, ist Kants Aussage, dass die Einbildungskraft eine Synthesis ist. Da man davon ausgehen muss, dass die Einbildungskraft ein Vermögen ist, wäre diese Aussage
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Ich verwende die Ausdrücke ‚Fähigkeit‘ und ‚Vermögen‘ im Folgenden synonym, obwohl Kant den Ausdruck ‚Fähigkeit‘ manchmal auf die Rezeptivität des Gemüts einzuschränken scheint (siehe etwa A 19, B 33). AA 23.18/20. – Zur Rekonstruktion des Deduktionsarguments von ‚B 12‘ siehe Carl 1989, 103 ff., insbesondere 139/44. AA 23.18.21 f.
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?
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sinnlos, wenn ‚Synthesis‘ hier eine Handlung bezeichnete. Denn Vermögen können keine Handlungen sein, sondern nur in ihnen ausgeübt werden. Wenn Kant also sagt, die Einbildungskraft sei eine Synthesis, dann muss ‚Synthesis‘ für das Vermögen oder die Fähigkeit zu synthetisieren stehen. Das bedeutet, Kant bezeichnet mit dem Ausdruck ‚Synthesis‘ nicht nur den Synthesisakt, sondern auch die Fähigkeit, solche Akte zu vollziehen. Man könnte die Relevanz dieser Bedeutung von ‚Synthesis‘ anzweifeln, indem man hervorhebt, dass Positionen, die Kant in Vorarbeiten zur KrV vertritt, nicht unbedingt mit solchen der KrV selbst identisch sind. Das ist selbstverständlich richtig. Doch auch einige Passagen der KrV machen es zwingend erforderlich, ‚Synthesis‘ im Sinne von ‚Fähigkeit‘ zu verstehen. Kant erklärt im Deduktionskapitel: Die „Synthesis der Apprehension muß nun auch a priori [...] ausgeübt werden.“ (A 99) Ähnlich heißt es später in demselben Kapitel, dass „die Synthesis der Einbildungskraft [...] a priori ausgeübt“ wird (A 124). 64 Entscheidend ist hier jeweils die Rede vom Ausüben der Synthesis. Streng genommen lässt sich von einer einzelnen Handlung nicht sinnvoll sagen, sie werde ausgeübt; einzelne Handlungen ‚finden statt‘, ‚geschehen‘ oder werden ‚vollzogen‘, aber sie werden nicht ‚ausgeübt‘. 65 Was ‚ausgeübt‘ wird, hat immer den Charakter einer Fähigkeit. 66 Wenn Kant sagt, die Synthesis werde ausgeübt, dann verwendet er ‚Synthesis‘ also auch hier nicht im Sinne von ‚Handlung‘, sondern im Sinne von ‚Vermögen‘ oder ‚Fähigkeit‘. Der Ausdruck ‚transzendentale Synthesis‘ – und um solche Synthesen geht es in den beiden genannten Zitaten (A 99 u. A 124) – wird von Kant also nicht nur aktionistisch, sondern auch dispositional, d. h. im Sinne einer bestimmten Fähigkeit zu Synthesisakten, verwendet. Sicherlich stellt Kant die zweifache Bedeutung der Begriffe der transzendentalen Synthesis und der Synthesis überhaupt nicht mit wünschenswerter Klarheit heraus. Da diese zweifache Bedeutung aber in Kants tat-
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Zum Ausdruck ‚Ausüben einer Synthesis‘ vgl. auch A 471, B 499 sowie Kants Rede von der „bildende[n] Synthesis [...], welche wir in der Apprehension einer Erscheinung ausüben“ (A 224, B 271). Kant sagt zwar selbst an einer Stelle der A-Deduktion von der Einbildungskraft, dass er „deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung“ ‚Apprehension‘ nennt (A 121), aber das ist eine ungenaue Formulierung der Aussage, dass die unmittelbar an den Wahrnehmungen vollzogene Ausübung der Einbildungskraft eine Handlung ist, die ‚Apprehension‘ heißen soll. Eine auf dieselbe Weise ungenaue Formulierung findet sich auch an einer Stelle der B-Deduktion, wo Kant davon spricht, dass der Verstand eine bestimmte Handlung ‚ausübt‘ (B 153). Zwar ist die Ausübung eines Vermögens eine Handlung; was aber ausgeübt wird, ist nicht diese Handlung, sondern das Vermögen. Entsprechend gibt es in der KrV eine ganze Reihe von Stellen, an denen von der ‚Ausübung‘ eines Vermögens die Rede ist (B 1; A 53, B 77; A 328, B 385; A 798, B 826).
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4 Kants Entwurf einer Theorie der Einbildungskraft
sächlicher Verwendungsweise des Begriffs präsent ist, ist es sinnvoll, die einführende Exposition von ‚Synthesis‘ entsprechend zu ergänzen. Unter ‚Synthesis‘ ist dann die Handlung oder Fähigkeit zu verstehen, „verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“ (A 77, B 103). Da nun auch transzendentale Synthesen qua Synthesen unter diese Charakterisierung fallen müssen, wird deutlich, inwiefern Satz (iii) der Fundierung des Psychologismuseinwandes – transzendentale Synthesen sind Handlungen – allenfalls die halbe Wahrheit zum Ausdruck bringt; denn ‚transzendentale Synthesis‘ kann auch für eine bestimmte Fähigkeit stehen. Der entscheidende Punkt ist dann folgender: Rekurriert Kants Deduktionsbeweis auf subjektive Quellen, insbesondere auf die Einbildungskraft (Satz (i)), und handelt es sich bei diesem Rekurs um einen Rekurs auf deren transzendentale Synthesen (Satz (ii)), dann mag es zwar so sein, dass Handlungen allenfalls als Ursachen der Erfahrung, nicht aber als Gründe ihrer Möglichkeit gelten können (Satz (iv)), aber das bedeutet nicht, dass Kants Deduktionsbeweis in puncto Einbildungskraft auf Ursachen der Erfahrung rekurriert (Satz (v)); und zwar dann nicht, wenn der Beweis in puncto Einbildungskraft auf transzendentale Synthesen ausschließlich qua Fähigkeiten rekurriert. Das Problem, auf das der Psychologismuseinwand mit Blick auf Kants Konzeption der Einbildungskraft aufmerksam macht, löst sich also auf, wenn man den Deduktionsbeweis so versteht, dass er sich auf transzendentale Synthesen nur im Sinne von Fähigkeiten beruft. Die Auseinandersetzung mit dem Psychologismuseinwand führt auf diese Weise zu einem allgemeinen Interpretationsansatz von Kants Konzeption der transzendentalen Einbildungskraft: Transzendentale Synthesen mögen zwar auch Handlungen sein, aber sie müssen im Rahmen des Deduktionsbeweises primär als Fähigkeiten verstanden werden. Ob dieser Interpretationsansatz angemessen und fruchtbar ist, muss durch die Rekonstruktion der Deduktionsargumentation selbst entschieden werden. Bevor ich diese Rekonstruktion mit dem nächsten Kapitel in Angriff nehme, möchte ich hier bereits allgemein erläutern, was nun eigentlich transzendentale Synthesisfähigkeiten und transzendentale Synthesishandlungen sind. 67 Die Auseinandersetzung mit dem Psychologismuseinwand hat gezeigt, dass transzendentale Synthesen im Rahmen des Deduktionsbeweises primär als Fähigkeiten verstanden werden müssen. Gleichwohl thematisiert Kant im Deduktionskapitel auch transzendentale Synthesis-
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Zu dem im Folgenden dargelegten Interpretationsansatz vgl. den sehr aufschlussreichen Aufsatz O’Neill 1984.
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?
127
handlungen. Der Begriff solcher Synthesishandlungen lässt sich am besten im Unterschied zum Begriff empirischer Synthesishandlungen erläutern. Vor dem Hintergrund der Korrelation von Kants Begriffen der Synthesis und der Erkenntnis im weiten Sinn, bietet es sich an, Synthesishandlungen ‚empirisch‘ zu nennen, falls sie empirisch gegebenes Mannigfaltiges betreffen und empirische Erkenntnisse im weiten Sinn hervorbringen. Aus dieser Bestimmung geht analytisch hervor, dass jede empirische Synthesisleistung eine empirische Erkenntnis im weiten Sinn hervorbringt. Die Definition impliziert aber nicht umgekehrt, dass jede empirische Erkenntnis im weiten Sinn durch eine empirische Synthesishandlung zustande kommen muss. Dass wir empirische Erkenntnis im weiten Sinn angesichts des Nacheinanders all unseres bewussten Vorstellens auf keinem anderen Wege haben können als durch empirische Synthesishandlungen, ist m. E. die zentrale These hinsichtlich des Begriffs der empirischen Synthesishandlung. Wie lässt sich diese These begründen? Oben ist deutlich geworden, dass empirische Erkenntnis im weiten Sinn in der empirischen Vorstellung eines Ganzen verglichener und verknüpfter realer Vorstellungsgehalte besteht. 68 Eine solche empirische Vorstellung ist auf Gegenstände bezogen, und zwar entweder auf Gegenstände in dem schwachen Sinn von kategorial unbestimmten Erscheinungen oder auf Gegenstände in dem starken Sinn von kategorial bestimmten Erscheinungen, d. h. von empirischen Objekten. Kant zufolge sind aber nicht alle empirischen Vorstellungen auf Gegenstände bezogen. Seiner Auffassung nach können empirische Vorstellungen, die sich allein der Rezeptivität unseres Gemüts verdanken (Empfindungen bzw. Eindrücke), für sich genommen nicht als gegenstandsbezogene Vorstellungen gelten (vgl. A 320, B 376 f.). Denn diese Vorstellungen sind nur die subjektiven Korrelate des uns lediglich durch unsere Rezeptivität gegebenen empirischen Mannigfaltigen bzw. Realen; und dieses Mannigfaltige bzw. Reale ist Kant zufolge als ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Mannigfaltiges bzw. Reales anzusetzen, weil die von uns unabhängige Wirklichkeit, mit der wir es in unserem Erkennen zu tun haben, seiner Auffassung nach nicht als eine von sich aus in gegenständlicher Hinsicht festgelegte Wirklichkeit gelten darf. Können empirische Vorstellungen, die allein der Rezeptivität unseres Gemüts entstammen, für sich genommen jedoch nicht als gegenstandsbezogene Vorstellungen gelten, so bedeutet dies umgekehrt, dass diejenigen empirischen Vorstellungen, die empirische Erkenntnisse im weiten Sinn und damit gegenstandsbezogen sind, nicht allein der Rezeptivität unseres Gemüts entstammen. Angesichts des Nacheinanders all unseres bewuss-
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Siehe oben S. 116.
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ten Vorstellens könnten wir solche Erkenntnisse nicht haben, wenn wir als vorstellende Subjekte nur durch Rezeptivität charakterisiert wären und nicht auch spontane Leistungen vollziehen könnten, durch die wir die in sukzessive aufeinander folgenden Empfindungen gegebenen realen Gehalte im Bewusstsein eines Ganzen solcher Gehalte vereinigen. Bei diesen spontanen Leistungen handelt es sich aber um empirische Synthesishandlungen. Dass wir empirische Synthesishandlungen vollziehen können, ist daher eine notwendige Bedingung dafür, dass wir angesichts des Nacheinanders all unseres bewussten Vorstellens empirische Erkenntnisse im weiten Sinn haben können. Anders gesagt: Dass wir empirische Synthesishandlungen vollziehen können, ist eine notwendige Bedingung der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung. In welchem Verhältnis stehen nun empirische und transzendentale Synthesishandlungen? Der Unterschied beider besteht m. E. nicht darin, dass erstere innerhalb, letztere aber außerhalb der empirischen Zeitfolge stehen. 69 Dass alle Synthesishandlungen dem zeitlichen Verlauf unterworfen sind, gilt auch für transzendentale Synthesishandlungen. 70 Doch nicht nur die Auffassung der Zeitlosigkeit transzendentaler Synthesishandlungen, auch die Auffassung, diese hätten irgendwie ‚immer schon‘ stattgefunden und ihr Effekt bestehe darin, dass nun empirische Synthesishandlungen und empirische Erkenntnis möglich seien, scheint mir nicht ausweisbar zu sein. Und selbst wenn sich zeigen lassen sollte – etwa im Rahmen einer Theorie der Urstiftung 71 –, dass es derartige Handlungen gibt, hätten sie nichts mit den von Kant konzipierten transzendentalen Synthesishandlungen zu tun. Transzendentale Synthesishandlungen sind in Kants Konzeption weder zeitlos noch auf ein frühes Entwicklungsstadium eines erkennenden Subjekts beschränkt. Vielmehr finden sie ebenso wie empirische Synthesishandlungen innerhalb der empirischen Zeitfolge statt, und zwar ebenso wie diese ständig. Transzendentale Synthesishandlungen sind nicht Antezedenzbedingungen empirischer Synthesishandlungen, sondern ausgezeichnete Komponenten von ihnen: Wenn jede empirische Synthesishandlung eine Komponente derselben Art aufweisen muss, dann handelt es sich bei dieser Komponente jeweils um eine transzendentale Synthesishandlung und bei dieser Art um eine Art von transzendentalen Synthesis-
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Zu den Schwierigkeiten eines solchen Verständnisses von transzendentalen Synthesishandlungen siehe Bennett 1966, 111 ff. Siehe dazu oben S. 114. Zum Begriff der Urstiftung siehe Husserl 1995, 82, 114 f.
4.5 Was sind transzendentale Synthesen der Einbildungskraft?
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handlungen. 72 Kants These ist, dass ‚Apprehension‘, ‚Reproduktion‘ und ‚Rekognition‘ solche Arten von transzendentalen Synthesishandlungen bezeichnen. Demnach müssen Synthesishandlungen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition Bestandteile jeder empirischen Synthesishandlung sein. Daher spricht Kant davon, dass die dreifache Synthesis der Apprehension, Reproduktion und Rekognition „notwendiger Weise in allem Erkenntnis vorkommt“ (A 97). Die Frage, was eine transzendentale Synthesisfähigkeit ist, lässt sich vor dem skizzierten Hintergrund relativ leicht beantworten: Es ist eine Fähigkeit, deren Ausübung in einer transzendentalen Synthesishandlung besteht. Im Rückgriff auf die gegebene Erläuterung von transzendentalen Synthesishandlungen ließen sich dann diejenigen Synthesisfähigkeiten als ‚transzendental‘ qualifizieren, die wir besitzen müssen, um empirische Synthesishandlungen vollziehen zu können. Wie sich zeigen lässt, entspricht genau dies Kants Charakterisierung der transzendentalen Einbildungskraft, d. h. des Inbegriffs transzendentaler Synthesisfähigkeiten. Die Einbildungskraft und die beiden anderen ursprünglichen subjektiven Erkenntnisquellen (Sinn und Apperzeption) sind Kant zufolge nicht nur empirische, sondern auch transzendentale Fähigkeiten bzw. Vermögen. Alle drei subjektiven Quellen, so Kant, haben nicht nur eine „empirische[]“, sondern auch eine „transzendentale[] Beschaffenheit“ (A 97); „jede derselben kann als empirisch, nämlich in der Anwendung auf gegebene Erscheinungen, betrachtet werden, alle aber sind auch Elemente oder Grundlagen a priori, welche selbst diesen empirischen Gebrauch möglich machen.“ (A 115) Demnach ist diejenige Einbildungskraft bzw. diejenige Synthesisfähigkeit der Einbildungskraft transzendental, die den empirischen Gebrauch der Einbildungskraft und damit empirische Synthesishandlungen möglich macht. Wie dieses ‚Möglichmachen‘ zu interpretieren ist, ist zunächst jedoch unklar. Ich habe oben darauf hingewiesen, dass die Aussage, A macht B möglich, auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden kann: erstens so, dass B nicht ohne A möglich ist, oder zweitens so, dass die Möglichkeit von B auf A basiert. 73 Im ersten Fall fungiert A als eine notwendige und im zweiten als eine hinreichende Bedingung der Möglichkeit von B. In welchem Sinn macht nun eine transzendentale Synthesisfähigkeit empirische Synthesishandlungen möglich? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich mit Blick auf den bereits mehrfach erwähnten, von Kant im Frühjahr 1780 verfassten Nachlasstext ‚B 12‘ geben, aus dem hervorgeht, dass die
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Man kann Kant m. E. sogar die darüber hinausgehende Auffassung zuschreiben, dass keine Synthesishandlung ausschließlich transzendental ist. Transzendentale Synthesishandlungen sind prinzipiell Komponenten von empirischen oder reinen Synthesishandlungen. Siehe oben S. 106 Anm. 31.
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empirische Einbildungskraft die transzendentale Einbildungskraft ‚voraussetzt‘. 74 Ich entnehme dem, dass empirische Synthesishandlungen insofern durch eine transzendentale Synthesisfähigkeit möglich gemacht werden, als sie diese Fähigkeit voraussetzen. Dass B A voraussetzt, scheint mir eindeutig zu besagen, dass A als eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von B fungiert. Ich möchte dies beispielhaft erläutern: Dass eine Zahl durch 4 teilbar ist, setzt voraus, dass sie durch 2 teilbar ist; d. h. sie kann nicht durch 4 teilbar sein, ohne durch 2 teilbar zu sein. Dass ein Auto fährt, setzt voraus, dass es betankt worden ist; d. h. es könnte nicht fahren, ohne betankt worden zu sein. – Dass empirische Synthesishandlungen eine transzendentale Synthesisfähigkeit voraussetzen, heißt m. E., dass wir keine empirische Synthesishandlung vollziehen können, ohne diese transzendentale Synthesisfähigkeit zu besitzen. Mit anderen Worten: Eine transzendentale Synthesisfähigkeit macht empirische Synthesishandlungen in dem Sinn möglich, dass ihr Besitz eine notwendige Bedingung dafür ist, solche Handlungen vollziehen zu können. Vor diesem Hintergrund möchte ich folgendes Kriterium für die Transzendentalität einer Synthesisfähigkeit vorschlagen: Transzendental sind all diejenigen Synthesisfähigkeiten, deren Besitz eine notwendige Bedingung dafür ist, empirische Synthesishandlungen vollziehen zu können. In Bezug auf empirische Synthesishandlungen hat sich aber gezeigt: Dass wir sie vollziehen können, ist eine notwendige Bedingung der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung. 75 Nimmt man dies hinzu, so lässt sich das vorgeschlagene Kriterium auch so formulieren: Transzendental sind all diejenigen Synthesisfähigkeiten, deren Besitz eine notwendige Bedingung der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung ist. Im folgenden Kapitel wird deutlich werden, dass sich die Synthesen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition anhand dieses Kriteriums als transzendentale Synthesisfähigkeiten ausweisen lassen.
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Siehe ‚Loses Blatt‘ ‚B 12‘, AA 23.18.25/8. Siehe oben S. 128.
5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft 5.1 Die Argumentationsstruktur der A-Deduktion Das Deduktionskapitel der ersten Auflage der KrV ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste ist bereits ausführlich im vorigen Kapitel der vorliegenden Arbeit untersucht worden. Er erarbeitet unter dem Titel Von den Prinzipien einer transzendentalen Deduktion überhaupt den Begriff und das Problem einer transzendentalen Deduktion und erläutert, warum eine transzendentale Kategoriendeduktion erforderlich ist. Außerdem entwickelt er im Übergang zur transzendentalen Deduktion der Kategorien bereits den vorläufigen Deduktionsbeweis. Dieser Beweis hängt jedoch von der unausgewiesenen Prämisse ab, dass die Kategorien als apriorische Bedingungen (Gründe) der Möglichkeit der Erfahrung fungieren. Kant macht daher die Forderung, diese Prämisse auszuweisen, zum „Principium, worauf die ganze [weitere] Nachforschung gerichtet werden muß“ (A 94, B 126). Der von Kant angestrebte vollständige Deduktionsbeweis soll also aus dem im Übergang entwickelten vorläufigen Deduktionsbeweis und der Einlösung dieses ‚Nachforschungsprinzips‘ zusammengesetzt sein. 1 – Da sich das Problem eines vollständigen Deduktionsbeweises vor dem Hintergrund von Kants Überlegungen im Übergang damit auf das Problem der Einlösung des Nachforschungsprinzips reduziert, werde ich eine solche Einlösung im Folgenden bereits als ‚Deduktionsbeweis‘ oder ‚Deduktionsargument‘ bezeichnen. Der zweite Abschnitt des Deduktionskapitels handelt Von den Gründen a priori zur Möglichkeit der Erfahrung. Im seinem Mittelpunkt stehen die drei Synthesen der Einbildungskraft, die als solche Gründe fungieren sollen. Kants Aufweis dieser Synthesen steht auf der Grundlage derjenigen Prämissen des Deduktionsbeweises, die schon zu Beginn der Deduktionsuntersuchung im Spiel sind. Im vorigen Kapitel habe ich diese Prämissen als die ‚Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung‘ bezeichnet. Sie bestehen erstens in der Möglichkeit von Erkenntnis im weiten Sinn und zweitens in dem Nacheinander all unseres bewussten Vorstellens. 2 Kants auf
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Vgl. dazu oben Abschnitt 4.2.2, S. 90 ff. Siehe dazu oben Abschnitt 4.4, S. 104 ff.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
dieser Grundlage durchgeführte Analyse der drei Synthesen ist das Hauptthema des gegenwärtigen Kapitels. Die Rekonstruktion dieser Analyse wird Kants erkenntnistheoretische Konzeption der Einbildungskraft in ihren zentralen Punkte entfalten. Vor dem Hintergrund seiner Analyse der drei Synthesen entwickelt Kant bereits im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels einige Ansätze zu einem Deduktionsbeweis bzw. Skizzen eines solchen Beweises. Der dritte Abschnitt des Deduktionskapitels – Von dem Verhältnisse des Verstandes zu Gegenständen überhaupt und der Möglichkeit, diese a priori zu erkennen – enthält die Ausführung des von Kant in der ersten Auflage der KrV als definitiv betrachteten Deduktionsbeweises. Während Kant im zweiten Abschnitt vorhat, „den Leser mehr vorzubereiten, als zu unterrichten“ (A 98), erklärt er eingangs dieses dritten Abschnitts: „Was wir im vorigen Abschnitte abgesondert und einzeln vortrugen, wollen wir jetzt vereinigt und im Zusammenhange vorstellen.“ (A 115) Worauf der Leser im zweiten Abschnitt vorbereitet werden soll, ist der definitive Deduktionsbeweis. Die in Hinblick auf einen solchen Beweis relevanten Punkte sollen im dritten Abschnitt in die Ausarbeitung dieses Beweises integriert werden. Die Rekonstruktion dieses Beweises, genauer gesagt, der beiden von Kant formulierten Versionen dieses Beweises wird Gegenstand der beiden folgenden Kapitel sein. Die Bedeutung, die Kant seiner Analyse der drei Synthesen der Einbildungskraft für seine Deduktionsuntersuchung zumisst, ist bereits im vorigen Kapitel herausgestellt worden. 3 Dort wurde erstens deutlich, dass die Einbildungskraft vermöge ihrer drei Synthesen eine begründende Rolle in Kants Deduktionsbeweis spielen soll. Und darüber hinaus hat sich zweitens gezeigt, dass die drei Synthesen neben dieser systematischen auch eine methodische Funktion für die Deduktionsuntersuchung besitzen sollen. Dies ergab sich aus der für Kants Vorgehen in der Deduktionsuntersuchung maßgeblichen ‚Leitungsthese‘: Die drei Synthesen „geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand und, durch diesen, alle Erfahrung [...] möglich machen.“ (A 97 f.) Im gegenwärtigen Kapitel soll nun die Deduktionsuntersuchung, soweit sie von Kant im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels durchgeführt wird, anhand des von Kant vorgesehenen Leitfadens der Einbildungskraft rekonstruiert werden. Bei den drei Erkenntnisquellen, auf die die drei Synthesen der Einbildungskraft „eine Leitung“ geben sollen (ebd.), handelt es sich um den Sinn, die Einbildungskraft selbst und die Apperzeption (vgl. A 94; A 115). Dass die drei Synthesen eine Leitung auf die Einbildungskraft selbst geben
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Siehe oben Abschnitt 4.3, S. 97 ff.
5.2 Die Synopsis des Sinns
133
sollen, bedeutet, dass die Analyse dieser Synthesen die Einbildungskraft als eine komplex strukturierte Synthesisfähigkeit erweisen soll. Dass sie eine Leitung auf den Sinn und die Apperzeption geben sollen, bedeutet, dass die Analyse dieser Synthesen die Deduktionsuntersuchung auf zwei von der Einbildungskraft unabhängige subjektive Erkenntnisquellen hinführen soll, die in systematischer Hinsicht ebenso ursprünglich wie sie sein und ebenfalls als apriorische Gründe objektiver empirischer Erkenntnis fungieren sollen. Für die Deduktionsuntersuchung von besonderer Bedeutung ist dabei die Hinführung auf die Apperzeption. Denn die Einheit der Apperzeption soll neben den beiden Ausgangspunkten der Deduktionsuntersuchung als zusätzliche Prämisse des zentralen Deduktionsbeweises des dritten Abschnitts des Deduktionskapitels – der ‚Deduktion von oben‘ (A 116/9) – dienen. Doch schon im zweiten Abschnitt entwirft Kant im Anschluss an die Hinführung auf die Apperzeption die Skizze eines Deduktionsbeweises aus der Einheit der Apperzeption (A 108). Er skizziert dort eine Begründung dafür, dass die Einheit, in der alle unsere Vorstellungen aufgrund der reinen Apperzeption stehen, durch allgemeine Gesetze (und das heißt letztlich: durch Kategorien) geregelt ist. Diese Skizze werde ich am Ende des gegenwärtigen Kapitels rekonstruieren. Zuvor gilt es jedoch, Kants Analyse der drei Synthesen der Einbildungskraft, die schließlich auf die reine Apperzeption hinführen soll, nachzuvollziehen. Die Rekonstruktion dieser Analyse bildet den Kern der Rekonstruktion von Kants Theorie der Einbildungskraft.
5.2 Die Synopsis des Sinns Ich möchte die Rekonstruktion von Kants Analyse der drei Synthesen der Einbildungskraft mit der Frage beginnen, inwiefern diese drei Synthesen Kant zufolge eine Leitung auf das der Apperzeption gewissermaßen entgegengesetzte Ende der Skala der drei subjektiven Erkenntnisquellen, d. h. auf den Sinn, geben. Diese Frage lässt sich m. E. schon vor einer detaillierten Interpretation des Konzepts der drei Synthesen selbst beantworten, da man von den drei Synthesen, um ihre Leitungsfunktion auf den Sinn zu verstehen, lediglich zu wissen braucht, dass sie letztlich auf etwas bezogen sind, das von Kant als sensual gegebenes und unbestimmtes Mannigfaltiges konzipiert wird. Im dritten Kapitel ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Kants Annahme eines unbestimmten Mannigfaltigen von einigen Interpreten
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
kritisiert wird, weil sie sich prinzipiell nicht durch Erfahrung stützen lässt. 4 Dagegen ist, ebenfalls im dritten Kapitel, dargelegt worden, dass sich die Annahme eines solchen Mannigfaltigen legitimieren lässt, wenn man den Begriff des Mannigfaltigen nicht als ein empirisches, sondern als ein erkenntnistheoretisches Konzept versteht. Erkennen ist für Kant (wie ich denke: zu Recht) von der Struktur, dass etwas als etwas bestimmt bzw. gedeutet wird. Es gibt demnach prinzipiell keine deutungsfreie Erkenntnis, d. h. keine neutrale Beschreibung der Wirklichkeit. Das bedeutet zwar, dass auch das erste ‚etwas‘ in der Formel ‚etwas als etwas‘ in unserer Erkenntnis nie deutungsfrei verfügbar ist. Wenn aber unseren Deutungen material nicht ad infinitum immer nur andere Deutungen zugrunde liegen sollen, dann scheint es sinnvoll, den Begriff eines schlechthin ungedeuteten Realen als Grenzbegriff in die Erkenntnistheorie einzuführen. Kants Begriff des Mannigfaltigen ist ein solcher Grenzbegriff. Er wird von Kant mit der Materie bzw. dem Realen der Erscheinung identifiziert, d. h. mit dem, was der Empfindung korrespondiert (vgl. A 20, B 34 u. A 723, B 751). Kant konzipiert das unbestimmte Mannigfaltige als sensual Gegebenes. Auf diese Weise wird ein erster Aspekt seiner These, dass die drei Synthesen eine Leitung auf den Sinn geben, deutlich. Die drei Synthesen sind letztlich auf ein unbestimmtes Mannigfaltiges bezogen, das ihnen material zugrunde liegt; dieses Mannigfaltige ist dem Subjekt dieser Synthesen nur durch seine Rezeptivität zugänglich; Rezeptivität ist aber ein grundlegendes Charakteristikum des Sinns bzw. der Sinnlichkeit. Kurz gesagt: Die drei Synthesen geben eine Leitung auf den Sinn und näherhin auf dessen ursprüngliche Qualifizierung als rezeptiv. Von diesem ersten Aspekt von Kants These, dass die drei Synthesen eine Leitung auf den Sinn geben, ist ein zweiter zu unterscheiden. Er lässt sich meiner Auffassung nach im Zuge einer Klärung der von Kant so genannten ‚Synopsis‘ des Sinns verdeutlichen. Der Ausdruck ‚Synopsis‘ kommt, so weit ich sehe, nur an zwei Stellen in Kants gesamtem Œuvre vor. Beide befinden sich ausschließlich in der A-Ausgabe der KrV. An der ersten Stelle sagt Kant: Auf die drei ursprünglichen Erkenntnisquellen Sinn, Einbildungskraft und Apperzeption „gründet sich 1) die Synopsis des Mannigfaltigen a priori durch den Sinn; 2) die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft; endlich 3) die Einheit dieser Synthesis durch ursprüngliche Apperzeption.“ (A 94)
An der zweiten Stelle, die sich unmittelbar nach der Einführung des Begriffs der Erkenntnis im weiten Sinn befindet, erklärt Kant:
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Siehe Strawson 1966, 32 und Rorty 1992, 172.
5.2 Die Synopsis des Sinns
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„Wenn ich also dem Sinne deswegen, weil er in seiner Anschauung eine Mannigfaltigkeit enthält, eine Synopsis beilege, so korrespondiert dieser jederzeit eine Synthesis und die Rezeptivität kann nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnisse möglich machen. Diese ist nun der Grund einer dreifachen Synthesis [...]“ (A 97).
An beiden Stellen wird die Synopsis dem Sinn zugewiesen und so konzipiert, dass sie das sinnliche Mannigfaltige betrifft. 5 Worin die Synopsis genau besteht, wird jedoch an keiner der beiden Stellen bestimmt. Da auch die Synthesis der Einbildungskraft das sinnliche Mannigfaltige betrifft, bleibt insbesondere unklar, worin sich die Synopsis des Sinns und die ihr korrespondierende Synthesis der Einbildungskraft unterscheiden sollen. Die zweite Stelle deutet immerhin eine Begründung der Synopsis an, aus der sich vielleicht entnehmen lässt, was Kant unter ‚Synopsis‘ selbst versteht: Dem Sinn ist deshalb eine Synopsis beizulegen, „weil er in seiner Anschauung eine Mannigfaltigkeit enthält“ (A 97). Diese Begründung ist jedoch nicht ohne weiteres verständlich. Da der Ausdruck ‚Synopsis‘ mit ‚Zusammenschau‘ übersetzt werden kann, soll die Synopsis offenbar irgendein ‚Zusammen‘ des sinnlichen Mannigfaltigen verbürgen. Aber ist für Kant nicht jedes Zusammen von sinnlichem Mannigfaltigen durch Synthesis begründet? Worin unterscheiden sich Synopsis und Synthesis? Der Unterschied zwischen Synopsis und Synthesis muss m. E. vor dem Hintergrund von Kants Lehre der sinnlichen Vorstellung von Ganzheiten interpretiert werden. Synthesishandlungen werden von Kant für die Erzeugung der sinnlichen Vorstellung eines Ganzen aus sinnlichem Mannigfaltigen in Anspruch genommen. Solche Synthesishandlungen können der KrV zufolge nur in Bezug auf ein vorgegebenes sinnliches Mannigfaltiges stattfinden. Jede durch Synthesis von sinnlichem Mannigfaltigen erzeugte sinnliche Vorstellung eines Ganzen ist deshalb der Gegebenheit dieses Mannigfaltigen erkenntnistheoretisch nachgeordnet. Es ist jedoch zu beachten, dass die Gegebenheit von sinnlichem Mannigfaltigen nicht als der erkenntnistheoretisch fundamentale Punkt in Kants Theorie der Sinnlichkeit gelten kann. Dieser Punkt besteht vielmehr in der anschaulichen Gegebenheit der wesentlich einheitlichen und unendlichen Ganzen von Raum und Zeit. Unsere Anschauungen dieser Ganzen sind demnach der Gegebenheit von deren Teilen sowie von räumlich-zeitlichem Mannigfaltigen erkenntnistheoretisch bzw. transzendental-ästhetisch vorgeordnet.
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Der ersten Stelle zufolge betrifft die Synopsis das „Mannigfaltige[] a priori“ (A 94). Bei diesem Mannigfaltigen handelt es sich um das Mannigfaltige, das „nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit)“ (A 77, B 103), um „ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori“, das in „Raum und Zeit enthalten“ ist (A 77, B 102). Da die zweite Stelle (A 97) die Beschränkung der Synopsis auf das a priori gegebene Mannigfaltige aufhebt, muss die Synopsis so verstanden werden, dass sie auch das empirisch gegebene Mannigfaltige betrifft.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
Denn einzelne Räume und Zeiten sowie das in irgendwelchen sinnlichen Anschauungen enthaltene räumlich-zeitliche Mannigfaltige können Kant zufolge nur durch Einschränkung (Limitation) des Raums und der Zeit vorgestellt werden. 6 Die von Kant angedeutete Begründung der Synopsis des Sinns lässt sich nun in Bezug auf das Limitationskonzept folgendermaßen ausführen: Der Sinn enthält „in seiner Anschauung eine Mannigfaltigkeit“ (A 97). Alles sinnliche Mannigfaltige beruht aber seiner Möglichkeit oder formalen Beschaffenheit nach auf der Limitation des Ganzen von Raum und Zeit. Es gehört deshalb seiner formalen und das heißt räumlich-zeitlichen Beschaffenheit nach in einer ursprünglichen und vorsynthetischen Weise in diesem Ganzen zusammen. Und ‚Synopsis‘ ist die Bezeichnung für dieses vorsynthetische Zusammen des sinnlichen Mannigfaltigen in Raum und Zeit. – Synopsis und Synthesis unterscheiden sich demnach vor allem darin, dass sie in verschiedene Kontexte von Kants Lehre von sinnlichen Ganzen gehören. Unter dem Gesichtspunkt der Synthesis der Einbildungskraft ist die Gegebenheit des sinnlichen Mannigfaltigen ursprünglicher als die Vorstellung eines Ganzen aus solchem Mannigfaltigen. Die Gegebenheit des sinnlichen Mannigfaltigen ist jedoch ihrerseits unter dem Gesichtspunkt der Synopsis des Sinns gegenüber der primordialen Anschauung der Ganzen von Raum und Zeit derivativ. Der Gesichtspunkt der Synopsis ist in diesem Sinne grundlegender als der der Synthesis. Anders gesagt: Die drei Synthesen geben, sofern sie Synthesen von Mannigfaltigem sind, eine Leitung auf den Sinn und näherhin auf dessen ursprüngliche Qualifizierung als synoptisch. Insgesamt ist festzuhalten, dass die drei Synthesen in doppelter Hinsicht eine Leitung auf den Sinn geben, und zwar auf den Sinn qua rezeptiv und qua synoptisch. Im Ausgang vom Konzept der Synthesis der Einbildungskraft kommt auf diese Weise die von der Einbildungskraft unabhängige, aber hinsichtlich der Möglichkeit von Erkenntnis ebenso konstitutive Erkenntnisquelle des Sinns in den Blick. Ohne die Rezeptivität des Sinns wäre uns nichts gegeben, an dem wir synthetisierend tätig sein könnten und ohne die Synopsis des Sinns könnte dieses Gegebene schon seiner formalen Beschaffenheit nach derart voneinander getrennt sein, dass die Vorstellung jedweder synthetischer Einheit dieses Gegebenen prinzipiell ausgeschlossen wäre.
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Siehe A 25, B 39 f.; A 31 f., B 47 f. – Vgl. außerdem Dissertatio, Sectio III, Corollarium, A2 22 sowie R 4183 (1769/70?), AA 17.448; R 4212 (1769/70), AA 17.458; R 4257 (1769/70?), AA 17.485; R 4262 (1769/70?), AA 17.487.
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
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5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion 5.3.1 Empfindungen und Anschauungen Die Synthesis der Apprehension ist die erste der drei Synthesen, die Kant im Rahmen des zweiten Abschnitts des Deduktionskapitels diskutiert. Kant zählt sie zur Einbildungskraft. Das geht zum einen ganz allgemein aus seiner Aussage hervor, dass „Synthesis überhaupt [...] die bloße Wirkung der Einbildungskraft“ ist (A 78, B 103); zum anderen aber aus der Identifikation von „Apprehension“ und „Aufnahme in die Synthesis der Einbildungskraft“ (A 190, B 235) sowie der Bemerkung, dass wir „ein tätiges Vermögen der Synthesis“ besitzen, „welches wir Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne.“ (A 120) Kants Überlegungen zur Synthesis der Apprehension gehören deshalb unmittelbar zu seiner Theorie der Einbildungskraft. Wie der Titel des Abschnitts zur Apprehensionssynthesis – 1. Von der Synthesis der Apprehension in der Anschauung (A 98) – anzeigt, bezeichnet ‚Anschauung‘ den Ort dieser Synthesis. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Kants Theorie der Einbildungskraft von unmittelbarer Relevanz für seine Theorie der Anschauung ist. Im vorigen Kapitel habe ich dargelegt, dass der Ausdruck ‚Synthesis‘ bei Kant für eine Handlung oder für eine Fähigkeit stehen kann. 7 Dass die Anschauung der Ort der Synthesis der Apprehension sein soll, bedeutet daher zweierlei: dass diese Synthesis qua Handlung eine Anschauung hervorbringen soll und dass sie qua Fähigkeit als eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Anschauungen fungieren soll. In eben demselben Kapitel habe ich erläutert, dass die Rekonstruktion der Deduktionsargumentation, um dem Psychologismuseinwand zu entgehen, darauf achten muss, Synthesen als Handlungen keine begründende Funktion aufzubürden, weil Handlungen allenfalls als Gründe der Wirklichkeit (Ursachen), nicht aber als Gründe der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis gelten können. Im Rahmen des Deduktionsbeweises ist die Synthesis der Apprehension (wie die Synthesis der Reproduktion und die der Rekognition) daher als Fähigkeit zu rekonstruieren. Denn nur der Besitz einer Synthesisfähigkeit, nicht aber das Stattfinden von Synthesishandlungen kann als ein Grund der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis in Frage kommen. Das Argument für die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension, das sich dem Apprehensionsabschnitt (A 98/100) entnehmen lässt, hängt wesentlich von den beiden Ausgangspunkten der Deduktionsuntersu-
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Siehe oben 4.5.3, S. 124 ff.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
chung ab: Wir können erstens Erkenntnis im schwachen Sinn haben und können uns zweitens unserer Vorstellungen und ihrer Gehalte nur nacheinander bewusst sein. Das Argument selbst kann in zwei Schritte eingeteilt werden. Im ersten Schritt wird vor dem Hintergrund des ersten der beiden Ausgangspunkte (Erkenntnis im schwachen Sinn) und einiger Grundbestimmungen Kants nachgewiesen, dass wir die Fähigkeit besitzen, ein lediglich durch die Rezeptivität unseres Gemüts gegebenes Mannigfaltiges so einer Erscheinung zuzuordnen, dass es als eine Verschiedenheit von Teilen oder Aspekten dieser Erscheinung vorgestellt wird. 8 Und im zweiten Schritt wird vor dem Hintergrund des zweiten der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung (der Zeitlichkeit unseres bewussten Vorstellens) gezeigt, dass wir, um diese Fähigkeit besitzen zu können, die Fähigkeit einer ‚durchlaufenden‘ und ‚zusammennehmenden‘ Synthesis der Apprehension besitzen müssen. Den ersten Schritt wird der vorliegende und den zweiten der darauf folgende Unterabschnitt erläutern. Der erste Schritt des Arguments hängt, wie gesagt, von einigen Hintergrundannahmen Kants ab. Diese Annahmen hängen vor allem mit Kants Charakterisierungen der Konzepte der Empfindung und der empirischen Anschauung zusammen. Eine empirische Anschauung ist Kant zufolge die sinnliche Vorstellung eines Gegenstandes, näherhin einer Erscheinung. Die Erscheinung wird als der (kategorial) „unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“ eingeführt (A 20, B 34). Man kann nun im Rahmen von Kants Terminologie zwar sagen, dass uns Erscheinungen durch die Sinnlichkeit oder in Anschauungen (sinnlichen Vorstellungen) gegeben sind 9, das bedeutet aber nicht, dass sie uns durch den Sinn oder in Empfindungen (sensualen Vorstellungen) gegeben sind. Was uns lediglich durch den Sinn, d. h. allein durch die Rezeptivität unseres Gemüts und in Empfindungen gegeben ist, sind nicht Erscheinungen und damit Gegenstände, sondern ist als ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Reales anzusetzen. Das liegt daran, dass man nicht davon ausgehen kann, dass die von uns unabhängige Wirklichkeit, mit der wir es in unserem Erkennen zu tun haben, eine von sich aus in gegenständlicher Hinsicht festgelegte Wirklichkeit ist. Dem Realen, das uns lediglich durch unsere Rezeptivität gegeben ist, kann daher nicht diejenige Einheit zugesprochen werden, die in der Rede von einem Gegenstand mitgesetzt ist. Was uns lediglich durch unsere Rezeptivität und in Empfindungen gegeben ist, ist daher als Man-
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Bei Kant selbst wird dieser erste Schritt nicht ausgeführt, sondern nur angedeutet. Siehe dazu unten S. 143 Anm. 15. „Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen“ (A 19, B 33; vgl. A 17, B 29). Gegenstände bzw. Erscheinungen sind uns „in der Anschauung gegeben“ (A 62, B 87; A 89 f., B 122).
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
139
nigfaltiges, d. h. als ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Reales, in Ansatz zu bringen. Diesem Mannigfaltigen, sofern wir als vorstellende Subjekte mit ihm konfrontiert sind, korrelieren Vorstellungen eines bloß rezeptiv Gegebenen, die Kant als ‚Empfindungen‘ oder ‚Eindrücke‘ bezeichnet. 10 Da Kant diese beiden Ausdrücke, soweit ich sehe, synonym verwendet 11, werde ich der Einfachheit halber fortan nur von ‚Empfindungen‘ sprechen. Es gibt eine ganze Reihe von Stellen in der KrV, an denen Kant dasjenige, was der Empfindung „entspricht“ oder „korrespondiert“ als das Reale (realitas phaenomenon) versteht. 12 Dass dieses Reale, sofern es uns bloß rezeptiv gegeben ist, als ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Reales zu konzipieren ist, bedeutet nun, dass Empfindungen, sofern sie nichts als Vorstellungen eines solchen Realen sind, (zwar als realitätsbezogene, aber) nicht als gegenstandsbezogene Vorstellungen gelten können. Vor diesem Hintergrund lässt sich gut verstehen, dass Kant die Empfindung dadurch von Anschauung und Begriff unterscheidet, dass er sie im Unterschied zu diesen nicht als objektive, sondern als subjektive Perzeption charakterisiert, d. h. als „Vorstellung mit Bewußtsein (perceptio)“, „die sich lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines Zustandes bezieht“ (A 320, B 376). Eine Empfindung ist aus dem Grund keine „objektive Perzeption“ (ebd.), d. h. keine gegenstandsbezogene Vorstellung, weil sie die Vorstellung eines in gegenständlicher Hinsicht unbestimmten Mannigfaltigen (Realen) ist.
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Dem scheint Kants Ausgangsdefinition von ‚Empfindung‘ entgegenzustehen, derzufolge Empfindung die „Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden“, ist (A 19 f., B 34; Hvh. v. Verf., M. W.). Hinter dieser Ausgangsdefinition steht m. E. die Annahme, dass in empirischer Hinsicht ohne weiteres gesagt werden kann, dass uns Gegenstände, etwa Tische und Stühle, affizieren. In erkenntnistheoretischer Hinsicht geht Kant allerdings nicht davon aus, dass die von uns unabhängige Wirklichkeit, mit der wir es in unserem Erkennen zu tun haben, als eine von sich aus in gegenständlicher Hinsicht festgelegte Wirklichkeit gelten kann. Und in dieser Hinsicht ist das, was uns affiziert, streng genommen nicht als Gegenstand, sondern nur als ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Reales, zu konzipieren. Ein direkter Anhaltspunkt dafür, dass Kant selbst eine solche Konzeption vertreten hat, lässt sich seiner Dissertatio (1770) entnehmen, in der vom Mannigfaltigen, das die Sinne affiziert („varia, quae sensus afficiunt“ die Rede ist (§ 4, A2 8). Was uns affiziert und Empfindungen bzw. Eindrücke in uns hervorruft, ist demnach nicht ein Gegenstand, sondern das Mannigfaltige. Vgl. etwa Welches sind die Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf's Zeiten in Deutschland gemacht hat?, AA 20.276. Das „Reale [...] (realitas phaenomenon)“ ist dasjenige, was der Empfindung „entspricht“ (A 166). Dieses Reale ist der „Gegenstand der Empfindung“ (B 207). Was „der Empfindung korrespondiert“, ist „die Materie“ der Erscheinung (A 20, B 34; ohne dortige Hvh.; vgl. A 723, B 751) bzw. „Realität (realitas phaenomenon)“ (A 168, B 209; vgl. A 175, B 217).
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
Anders als bei einer Empfindung handelt es sich bei einer Anschauung (ebenso wie bei einem Begriff) um eine „objektive Perzeption“, d. h. um eine Vorstellung, die auf einen Gegenstand bezogen ist (A 320, B 376 f.). Das bedeutet aber, dass Anschauungen keine Vorstellungen von bloß rezeptiv Gegebenem sind. Denn Vorstellungen von bloß rezeptiv Gegebenem (Empfindungen) sind als solche lediglich auf das in gegenständlicher Hinsicht unbestimmte Reale, nicht aber auf Gegenstände bezogen. Um zu verstehen, warum wir mit Anschauungen gegenstandsbezogene Vorstellungen haben können, wird daher über den Rekurs auf die Rezeptivität unseres Gemüts hinaus, ein Rekurs auf die Spontaneität unseres Gemüts erforderlich sein. In welcher Weise Kant diese Spontaneität in Hinblick auf die Möglichkeit von Anschauungen für erforderlich hält, wird sich auf der Grundlage seiner Spezifizierung des Gegenstandsbezugs der Anschauung verdeutlichen lassen. Im Unterschied zu Begriffen, die sich „mittelbar, vermittelst eines Merkmals“ auf den Gegenstand beziehen, beziehen sich Anschauungen „unmittelbar auf den Gegenstand“ (A 320, B 376 f.). 13 Dass der Gegenstandsbezug der Anschauung ein unmittelbarer ist, ist vor dem Hintergrund dieses Unterschieds so zu verstehen, dass er nicht vermittels eines Merkmales besteht, d. h. nicht durch Begriffe vermittelt ist. Das bedeutet Kant zufolge aber nicht, dass der Gegenstandsbezug der Anschauung gar keiner Vermittlung oder gar keines Mittels bedarf. Kant sieht sogar ausdrücklich ein Mittel vor, durch das sich die empirische Anschauung auf einen Gegenstand (Erscheinung) bezieht: „Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch.“ (A 20, B 34; Hvh. modif. v. Verf., M. W.) Diese Auskunft steht zwar nicht im Widerspruch zu der These von der Unmittelbarkeit des Gegenstandsbezugs der empirischen Anschauung. Denn diese Unmittelbarkeit besteht, wie gesagt, darin, dass dieser Bezug nicht durch Begriffe vermittelt ist; und was relativ zum Gebrauch von Begriffen unmittelbar
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Vgl. A 68, B 93. – Kant formuliert seine Auffassung von einem unmittelbaren Gegenstandsbezug der Anschauung bereits im ersten Satz der Transzendentalen Ästhetik: „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung.“ (A 19, B 33) Wie passt dies zu Kants Position, dass Anschauungen ohne Begriffe „blind“ sind (A 51, B 75) bzw. Anschauungen ohne Begriffe „Vorstellungen [sind], die wir auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen können.“ (A 258, B 314)? Zur Auflösung dieses Konflikts hat H. Vaihinger vorgeschlagen, dass hier „‚Gegenstand‘ bald in laxerem, bald in strengerem Sinne“ zu verstehen ist (Vaihinger 1892, 4). Ich halte diesen Vorschlag für richtig. Die Gegenstände, auf die sich die empirische Anschauung unmittelbar bezieht, sind Erscheinungen, verstanden als kategorial unbestimmte Gegenstände der empirischen Anschauung; und Gegenstände, auf die wir uns nicht durch empirische Anschauung allein, sondern nur mit Hilfe von kategorial fundierten Begriffen beziehen können, sind empirische Objekte, Phaenomena.
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
141
ist, kann in anderer Hinsicht vermittelt sein. Von daher spricht also nichts gegen Kants Annahme, dass der Gegenstandsbezug der empirischen Anschauung durch Empfindungen vermittelt ist. Gleichwohl steht diese Annahme in einer Spannung zu Kants Auffassung, dass Empfindungen keine gegenstandsbezogenen Vorstellungen sind. Wie kann Empfindungen einerseits der Gegenstandsbezug abgesprochen werden und andererseits gesagt werden, dass sich empirische Anschauungen durch Empfindungen auf Gegenstände beziehen? Um dieser Spannung begrifflich Rechnung zu tragen, muss m. E. zwischen zwei Perspektiven auf Empfindungen unterschieden werden: (a) Für sich genommen sind Empfindungen keine Vorstellungen von Gegenständen, (b) aber innerhalb von empirischen Anschauungen besitzen sie eine gegenstandsbezogene Funktion. (Ad a) Wenn Kant von Empfindungen als nicht-objektiven bzw. subjektiven Perzeptionen spricht, dann ist damit gemeint, dass Empfindungen für sich genommen weder Gegenstände noch Teile oder Aspekte von Gegenständen vorstellen. Sofern sie nichts als Vorstellungen eines in gegenständlicher Hinsicht unbestimmten Realen sind, sind Empfindungen keine gegenstandsbezogenen Vorstellungen. (Ad b) Kant thematisiert Empfindungen aber nicht nur für sich genommen, sondern auch als Vorstellungen, die in einer empirischen Anschauung „enthalten“ sind (A 50, B 74). Und innerhalb einer empirischen Anschauung, die ja die Vorstellung eines Gegenstandes ist, kommt Empfindungen eine gegenstandsbezogene Rolle zu, da sich die empirische Anschauung „durch Empfindung“ auf den Gegenstand bezieht (A 20, B 34). Sofern sie zu einer empirischen Anschauung gehören, sind Empfindungen demnach mehr als Vorstellungen eines in gegenständlicher Hinsicht unbestimmten Realen: Sie leisten einen Beitrag zur gegenständlichen Bestimmung dieses Realen. Die gegenstandsbezogene Funktion, die verschiedenen Empfindungen innerhalb einer empirischen Anschauung zukommt, besteht darin, dass die Empfindungen als Vorstellungen von Teilen oder Aspekten des Gegenstandes aufgefasst sind, auf den sich die Anschauung bezieht. 14 Da Emp-
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Kant verdeutlicht seine Position, dass Empfindungen im Rahmen von empirischen Anschauungen eine gegenstandsbezogene Rolle zukommt, anhand eines Beispiels, in dem er erst die intellektuellen und dann die sensualen Komponenten von der Vorstellung eines Körpers abstrahiert: „So, wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Teilbarkeit etc., imgleichen, was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc. absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt.“ (A 20 f., B 35). Nach dem ersten Abstraktionsschritt, der Absonderung der intellektuellen Komponenten „Substanz, Kraft, Teilbarkeit etc.“ bleibt die „empirische[] Anschauung“ eines Körpers übrig. Die Empfindungen, die zu dieser Anschauung gehören, gelten Kant als gegenstandsbezogene Vorstellungen, und das bedeutet, sie sind im Rahmen dieser An-
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
findungen diese Funktion für sich genommen nicht besitzen und da empirische Anschauungen keine Vorstellungen von bloß rezeptiv Gegebenem sind, ist in Hinblick auf die Möglichkeit von empirischen Anschauungen ein Vermittlungsfaktor erforderlich, der dafür verantwortlich ist, dass Empfindungen die genannte Funktion erhalten, und der sich nicht im Rekurs auf die unabhängige Wirklichkeit, mit der wir es in unserem Erkennen zu tun haben, oder im Rekurs auf die Rezeptivität unseres Gemüts allein einsichtig machen lässt. Das bedeutet aber: Wenn wir empirische Anschauungen, d. h. sinnliche Vorstellungen, die sich durch Empfindungen auf einen Gegenstand beziehen, haben können sollen, dann müssen wir die Fähigkeit besitzen, verschiedene Empfindungen, d. h. Vorstellungen von bloß rezeptiv Gegebenem, die für sich genommen nicht gegenstandsbezogen sind, so in die Vorstellung eines Gegenstandes zu integrieren, dass sie als Vorstellungen von verschiedenen Teilen oder Aspekten dieses Gegenstandes aufgefasst sind. Die bisher dargelegte Argumentation lässt sich damit in folgende Kurzfassung bringen: (i)
Wir können empirische Anschauungen haben.
(ii)
Was allein durch die Rezeptivität unseres Gemüts gegeben ist, ist als ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Mannigfaltiges (Reales) anzusetzen.
(iii)
Empfindungen, d. h. Vorstellungen von bloß rezeptiv Gegebenem, können daher für sich genommen nicht als gegenstandsbezogene Vorstellungen gelten.
(iv)
Empirische Anschauungen dagegen sind auf Gegenstände bezogen; sie können daher nicht als Vorstellungen von bloß rezeptiv Gegebenem gelten.
(v)
Empirische Anschauungen sind durch Empfindungen, die in ihnen enthalten sind, auf Gegenstände bezogen.
(vi)
Wir können keine empirischen Anschauungen haben, wenn wir nicht die Fähigkeit besitzen, verschiedene Empfindungen so in die Vorstellung eines Gegenstandes zu integrieren, dass sie als Vorstellungen von verschiedenen Teilen oder Aspekten dieses Gegenstandes aufgefasst sind.
_____________ schauung als Vorstellungen der „Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc.“ des Körpers aufgefasst.
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
143
Aus (i) und (vi) folgt: (vii)
Wir besitzen die Fähigkeit, verschiedene Empfindungen so in die Vorstellung eines Gegenstandes zu integrieren, dass sie als Vorstellungen von verschiedenen Teilen oder Aspekten dieses Gegenstandes aufgefasst sind.
Die Empfindungen, an denen die Ausübung dieser Fähigkeit ansetzt, sind Vorstellungen von bloß rezeptiv Gegebenem, die für sich genommen nicht gegenstandsbezogen sind. Die Fähigkeit, solche Empfindungen so in die Vorstellung eines Gegenstandes zu integrieren, dass sie als Vorstellungen von verschiedenen Teilen oder Aspekten dieses Gegenstandes aufgefasst sind, ist daher zugleich die Fähigkeit, ein bloß rezeptiv Gegebenes so einem Gegenstand zuzuordnen, dass es als eine Verschiedenheit von Teilen oder Aspekten dieses Gegenstandes vorgestellt wird. Wenn wir die in Satz (vii) genannte Fähigkeit besitzen, dann gilt also auch: (viii)
Wir besitzen die Fähigkeit, ein lediglich durch die Rezeptivität unseres Gemüts gegebenes Mannigfaltiges so einem Gegenstand zuzuordnen, dass es als eine Verschiedenheit von Teilen oder Aspekten dieses Gegenstandes vorgestellt wird.
Der erste Schritt des Arguments dafür, dass wir die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension besitzen, ist damit nahezu abgeschlossen. 15 Ich sage ‚nahezu‘, weil noch der Status der Prämisse (i), dass wir empirische Anschauungen haben können, zu klären ist. Dazu ist daran zu erinnern, dass bei Kant verschiedene Arten von empirischen Anschauungen zu unterscheiden sind, und zwar Wahrnehmungs- und Erfahrungsanschauungen. Wahrnehmungsanschauungen sind sinnliche Vorstellungen von kategorial unbestimmten empirischen Einzelnen (Erscheinungen); Erfahrungsanschauungen sind demgegenüber sinnliche Vorstellungen von kategorial bestimmten empirischen Einzelnen (empirische Objekte bzw. Phaenomena). 16 Da die Möglichkeit von Erfahrungsanschauungen von der kategorialen Bestimmbarkeit von Einzelnem abhängt, solche Bestimmbarkeit aber im Rahmen der Deduktionsuntersuchung nicht schon vorausgesetzt werden
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Im Abschnitt Von der Synthesis der Apprehension in der Anschauung selbst wird dieser erste Schritt nicht ausgeführt, sondern nur durch die Bemerkung angedeutet, dass jede Anschauung „ein Mannigfaltiges in sich“ „enthält“, und wir dieses Mannigfaltige „als ein solches“ vorstellen können (A 99). Einige Sätze später erläutert Kant den Begriff dieses Vorstellens etwas näher: Dieses Mannigfaltige kann „als ein solches, und zwar in einer Vorstellung enthalten“, vorgestellt werden. Meiner Auffassung nach wird diese Fähigkeit durch die Sätze (vii) und (viii) spezifiziert; und die dargelegte Argumentation für diese Sätze liefert die Begründung der Annahme der so spezifizierten Fähigkeit. Vgl. dazu oben Abschnitt 4.4.2, insbes. S. 111.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
kann, darf in diesem Rahmen nicht in Anspruch genommen werden, dass wir empirische Anschauungen im Sinne von Erfahrungsanschauungen haben können. Dass wir empirische Anschauungen im Sinne von Wahrnehmungsanschauungen haben können, ist dagegen eine unproblematische Prämisse, da Wahrnehmungsanschauungen Erkenntnisse im schwachen Sinn sind und die Möglichkeit solcher Erkenntnisse der erste Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung ist. Da die Gültigkeit der Prämisse (i) im Rahmen der Deduktionsuntersuchung also auf Wahrnehmungsanschauungen beschränkt ist, sind die ‚Gegenstände‘, von denen in der bisherigen Argumentation die Rede war, als Erscheinungen im Sinne kategorial unbestimmter Gegenstände zu verstehen. Das bedeutet insbesondere, dass es sich bei dem Gegenstand, in dessen Vorstellung wir nach Satz (vii) verschiedene Empfindungen integrieren können und dem wir nach Satz (viii) ein bloß rezeptiv gegebenes Mannigfaltiges zuordnen können, um eine Erscheinung (und nicht um ein empirisches Objekt) handelt. 5.3.2 Durchlaufende und zusammennehmende Apprehension Die mit den Sätzen (vii) und (viii) aufgewiesene Fähigkeit ist nicht die Synthesis der Apprehension, sondern, wie ich zeigen möchte, diejenige Fähigkeit, aus deren Annahme sich die Annahme der Synthesis der Apprehension ergibt, wenn man den im bisherigen vernachlässigten zweiten Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung hinzunimmt. Bei diesem Ausgangspunkt handelt es sich um die Zeitlichkeit unseres bewussten Vorstellens, darum, dass wir uns unserer Vorstellungen und ihrer Gehalte nur nacheinander bewusst sein können. Die Synthesis der Apprehension besitzt Kant zufolge zwei Aspekte, die die ‚durchlaufende Apprehension‘ und die ‚zusammennehmende Apprehension‘ genannt werden können. „Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde [...], so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und denn die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne“. (A 99)
Es ist nicht ganz unproblematisch, dass Kant hier von der ‚Handlung‘ der Synthesis der Apprehension spricht. Dürfte die Synthesis der Apprehension lediglich als Handlung verstanden werden, so könnte sie in der Deduktionsargumentation keine tragende Rolle spielen. Denn durch diese Handlung mag zwar das Zustandekommen von Anschauungen erklärt werden, aber Handlungen können im Rahmen des Deduktionsbeweises, wie bereits erläutert, keine Begründungsfunktion übernehmen, weil sie nicht als
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
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Gründe der Möglichkeit der Erfahrung, sondern nur als deren Ursachen in Frage kommen können. 17 Es ist deshalb erforderlich, dass unter dem Ausdruck ‚Synthesis der Apprehension‘ auch die Fähigkeit zu Handlungen der Synthesis der Apprehension verstanden werden darf. Denn nur der Besitz der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension, nicht aber das Stattfinden der Handlung der Synthesis der Apprehension kann als ein Grund der Möglichkeit der Erfahrung in Frage kommen. Die Aufgabe, die sich für die Rekonstruktion stellt, ist damit, die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension mit ihren beiden Aspekten bzw. Teilfähigkeiten der durchlaufenden und der zusammennehmenden Apprehension auszuweisen. Kant zufolge setzt die Ausübung dieser Fähigkeit, d. h. die Handlung der Synthesis der Apprehension, an Mannigfaltigem an und macht „aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung“ (A 99). Das Mannigfaltige, das durch sie in die Einheit einer Anschauung bzw. eines Angeschauten gebracht werden soll, darf offenbar nicht so in Ansatz gebracht werden, dass es bereits in einer solchen Einheit steht. Allerdings lässt sich die Frage des ‚ontologischen‘ Status dieses Mannigfaltigen anhand des Apprehensionsabschnitts nicht eindeutig entscheiden. Es kann sich bei diesem Mannigfaltigen entweder erstens um ein bloß rezeptiv Gegebenes bzw. ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Reales oder zweitens um Empfindungen im Sinne von für sich genommen nicht gegenstandsbezogenen Vorstellungen handeln. Um diese Ambiguität zu vermeiden, argumentiere ich im Folgenden entlang der ersten, realistischen Lesart. Ein Vorteil dieser Lesart besteht darin, dass in ihr der Realitätsbezug der Synthesis der Apprehension deutlicher hervortritt. Entsprechend verstehe ich die Ausübung der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension so, dass sie an einem bloß rezeptiv Gegebenen bzw. an einem in gegenständlicher Hinsicht unbestimmten Realen ansetzt. Da genau dies auch der Ansatzpunkt der Ausübung derjenigen einheitsstiftenden Fähigkeit ist, die im vorigen Abschnitt begründet und in Satz (viii) herausgestellt wurde, liegt es nahe, an diese Fähigkeit anzuknüpfen, um die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension mit ihren beiden Aspekten des Durchlaufens und Zusammennehmens auszuweisen. 18
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Dies ist die m. E. richtige Grundüberzeugung, die dem Psychologismuseinwand zugrunde liegt. Zur Diskussion und Zurückweisung dieses Einwandes gegen Kants Deduktionsbeweis siehe oben die Abschnitte 4.5.2 u. 4.5.3, S. 117 ff. Meiner Auffassung nach hängt von der Wahl der ersten, realistischen an Stelle der zweiten, an Empfindungen orientierten Lesart von ‚Mannigfaltiges‘ hier nicht allzuviel ab. Denn auch wenn man die Synthesis der Apprehension so versteht, dass sie an Empfindungen im Sinne von für sich genommen nicht gegenstandsbezogenen Vorstellungen ansetzt, würde es sich bei ihr (wenn auch auf eine weniger direkte Weise) um eine realitätsbezogene Synthesis handeln, da solche Empfindungen Vorstellungen bzw. unmittelbare subjektive Korrelate des in gegenständlicher Hinsicht unbestimmten Realen sind. Und auch für den Aus-
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
Satz (viii) zufolge besitzen wir die Fähigkeit, ein lediglich rezeptiv gegebenes Mannigfaltiges so einem Gegenstand zuzuordnen, dass es als eine Verschiedenheit von Teilen oder Aspekten dieses Gegenstandes vorgestellt wird. Das heißt unter anderem, dass wir dieses Mannigfaltige als Verschiedenes vorstellen können. Wir können etwas aber nur dann als Verschiedenes vorstellen, wenn wir darin einzelne Elemente ausmachen und voneinander unterscheiden können. Um ein solches Element ausmachen zu können, müssen wir ein Bewusstsein von ihm gewinnen können. Und um ein solches Element von irgendeinem anderen solchen Element unterscheiden zu können, müssen wir auch ein Bewusstsein von diesem Element gewinnen können und dieses Bewusstsein vom Bewusstsein des ersten Elements abheben können. Nimmt man nun den zweiten Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung hinzu, dass uns diese Elemente nur nacheinander bewusst sein können, so ergibt sich, dass wir etwas, das wir als Verschiedenes vorstellen können, sukzessive ‚durchlaufen‘ können müssen. Wenn wir also die in Satz (viii) genannte Fähigkeit besitzen, dann müssen wir aufgrund des zweiten Ausgangspunktes der Deduktionsuntersuchung auch die Fähigkeit des sukzessiven Durchlaufens des lediglich rezeptiv gegebenen Mannigfaltigen besitzen. 19 Diese Fähigkeit, die näherhin darin besteht, in diesem Mannigfaltigen nacheinander einzelne Elemente ausmachen und unterscheiden zu können, ist der erste Aspekt der Synthesis der Apprehension. Besitzen wir die in Satz (viii) genannte Fähigkeit, so können wir ein lediglich rezeptiv gegebenes Mannigfaltiges aber nicht nur als Verschiedenes vorstellen, sondern auch als Verschiedenes, das in einer Einheit steht. Denn diese Fähigkeit zu besitzen, heißt insbesondere, dieses Mannigfaltige als eine Verschiedenheit von Teilen oder Aspekten eines Gegenstandes und damit als Verschiedenes, das in der Einheit eines Gegenstandes steht, vorstellen zu können. Deshalb müssen wir ein lediglich rezeptiv gegebenes Mannigfaltiges, das wir als in der Einheit eines Gegenstandes stehendes Verschiedenes vorstellen können, nicht nur sukzessive durchlaufen können, sondern es bzw. die im Durchlaufen ausgemachten und unterschiedenen Elemente, auch in die Einheit eines Gegenstandes ‚zusammennehmen‘ können. Und diese Fähigkeit ist der zweite Aspekt der Synthesis der Apprehension. Sie besteht näherhin darin, diese verschiedenen Elemente in
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weis der so verstandenen Synthesis der Apprehension läge mit der im vorigen Abschnitt in Satz (vii) aufgewiesenen Fähigkeit ein naheliegender Anknüpfungspunkt vor. Es gibt eine ganze Reihe von Stellen, an denen Kant die Sukzessivität der Apprehension betont; er spricht von der „sukzessiven Apprehension eines Gegenstandes“ (A 145, B 184), der „sukzessive[n] Synthesis (von Teil zu Teil) in der Apprehension“ (A 163, B 204) und erklärt: „Die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv.“ (A 189, B 234; vgl. A 182, B 225)
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
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der Vorstellung eines Gegenstandes vereinigen zu können, so dass durch die Vorstellungen dieser Elemente verschiedene Teile oder Aspekte dieses Gegenstandes vorgestellt werden. Damit liegt nun zweierlei vor: zum einen eine Begründung der Annahme, dass wir die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension besitzen, und zum anderen die Spezifikation der beiden Aspekte dieser Fähigkeit, d. h. des Durchlaufens und des Zusammennehmens. Die Spezifikation dieser beiden Aspekte kann in folgender Erläuterung der Synthesis der Apprehension zusammengefasst werden: Die Synthesis der Apprehension ist die Fähigkeit, im Durchlaufen eines uns lediglich rezeptiv gegebenen Mannigfaltigen verschiedene Elemente in diesem Mannigfaltigen auszumachen sowie zu unterscheiden und diese Elemente in die Vorstellung eines Gegenstandes zusammenzunehmen, in der durch die verschiedenen Vorstellungen dieser Elemente verschiedene Teile oder Aspekte dieses Gegenstandes vorgestellt werden. Und die Begründung dieser Fähigkeit beruht im Wesentlichen darauf, dass wir die in Satz (viii) genannte Fähigkeit besitzen und dass uns etwas nur nacheinander bewusst sein kann. 5.3.3 Präsenthaltende und wiedervorführende Reproduktion Die zweite der von Kant im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels diskutierten drei Synthesen ist die Synthesis der Reproduktion. Auch sie wird von Kant zur Einbildungskraft gezählt. Er bezeichnet sie explizit als eine „Synthesis der Einbildungskraft“ (A 101) und spricht von einer „reproduktive[n] Synthesis der Einbildungskraft“ (A 102). 20 Mit der Synthesis der Reproduktion thematisiert Kant daher zugleich eine zweite Facette seiner Theorie der Einbildungskraft. Indem Kant Reproduktionsleistungen an die Einbildungskraft knüpft, schließt er terminologisch an die traditionelle Metaphysik an. Christian Wolff hatte die Einbildungskraft in seiner ‚Deutschen Metaphysik‘ folgendermaßen eingeführt: „Die Vorstellungen solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pfleget man Einbildungen zu nennen. Und die Kraft der Seele dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man die Einbildungskraft“. 21 Vor diesem terminologischen Hintergrund spricht Kant Von der Synthesis der Reproduktion in der Einbildung (A 100), bestimmt also die Einbildung als den Ort der Synthesis der Reproduktion. Dabei darf unter ‚Ein-
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Vgl. A 121: „ein reproduktives Vermögen der Einbildungskraft“; A 156, B 195: „reproduktive Einbildungskraft“. Wolff, Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, § 235. – Zum Begriff der Einbildungskraft bei Wolff und seinem Schüler A. G. Baumgarten siehe Pimpinella 1988.
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bildung‘ jedoch nicht nur die Vorstellung von etwas gelten, das in der gegenwärtigen Wahrnehmungssituation nicht mehr präsent ist, sondern auch die Vorstellung von etwas, das in dieser Wahrnehmungssituation noch präsent, aber nicht mehr unmittelbar bewusst ist. Sowohl die Vorstellung einer vormals (in einer vergangenen Wahrnehmungssituation) apprehendierten Erscheinung als auch die Vorstellung eines soeben (in der gegenwärtigen Wahrnehmungssituation) im durchlaufenden Apprehendieren ausgemachten Elementes sind Kant zufolge Einbildungen. Wie schon bei der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension lassen sich daher auch bei der Fähigkeit der Synthesis der Reproduktion zwei Aspekte unterscheiden. Während die beiden Aspekte der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension – durchlaufende und zusammennehmende Apprehension – zu jeder Ausübung dieser Fähigkeit gehören, sind die beiden Aspekte der Fähigkeit der Synthesis der Reproduktion – die ich im Folgenden ‚präsenthaltende‘ und ‚wiedervorführende‘ Reproduktion nennen werde – eher verschiedene Arten, diese Fähigkeit auszuüben. Das heißt, jeder Akt der Synthesis der Apprehension ist sowohl durchlaufend als auch zusammennehmend und jeder Akt der Synthesis der Reproduktion ist entweder präsenthaltend oder wiedervorführend. Ich werde zunächst die präsenthaltende Reproduktion diskutieren. Die Annahme der Fähigkeit der präsenthaltenden Synthesis der Reproduktion wird durch die Annahme der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension erfordert. Um die durch durchlaufende Apprehension ausgemachten Elemente des Mannigfaltigen in der Vorstellung eines Gegenstandes zusammennehmen zu können, müssen diese Elemente dem Bewusstsein irgendwie gegenwärtig bleiben können. Kant nennt die Fähigkeit, sie präsent zu halten, ‚Synthesis der Reproduktion‘. Würde ich im sukzessiven Apprehendieren, so Kant, die „vorhergehende[n]“ Vorstellungen der bisher ausgemachten Elemente (z. B. „die erste[n] Teile“ einer „in Gedanken“ gezogenen „Linie“) „immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung“ (im Beispiel: der Linie) „entspringen können.“ (A 102) Die präsenthaltende Synthesis der Reproduktion ist demnach die Fähigkeit, die im Apprehendieren des Mannigfaltigen ausgemachten Elemente in den folgenden Vorstellungszuständen durch reproduktive Vorstellungen (Einbildungen) präsent zu halten. Dass zusammennehmendes Apprehendieren ohne präsenthaltendes Reproduzieren nicht möglich ist, rechtfertigt die Annahme dieser Fähigkeit. Kant drückt dies so aus, dass die „Synthesis der Apprehension [...] mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden“ ist (A 102). Wir können Kant zufolge aber nicht nur die gerade im Durchlaufen eines Mannigfaltigen ausgemachten Elemente reproduzieren (präsent hal-
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
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ten), sondern wir können auch vormals apprehendierte Erscheinungen reproduzieren (wiedervorführen 22). Diese zweite Reproduktionsfähigkeit wird nicht wie die erste im Rahmen einer Apprehensionshandlung ausgeübt, sondern besteht in der späteren Vergegenwärtigung dessen, was wir aufgrund einer solchen Handlung vorstellen. Sie soll also anders als die präsenthaltende Synthesis der Reproduktion über die gegenwärtige Wahrnehmungssituation hinausreichen. Dass wir die Fähigkeit der präsenthaltenden Reproduktionssynthesis besitzen, hat sich bereits ergeben. Die Frage, die sich nun stellt, ist, wie sich der Besitz der Fähigkeit der wiedervorführenden Synthesis der Reproduktion ausweisen lässt. Da wir dem ersten Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung zufolge Erkenntnis im schwachen Sinn haben können, können wir die Gehalte von verschiedenen Vorstellungen miteinander vergleichen und verknüpfen. Das bedeutet insbesondere, dass wir die Gehalte derjenigen Vorstellungen, die wir durch Apprehensionshandlungen gewonnen haben, miteinander vergleichen können. Vergleichen, so Kant in einer Nachlassreflexion, besteht darin, zu prüfen, wie sich diese Gehalte „zu einander in einem Bewustseyn verhalten.“ 23 Verschiedene Gehalte von Vorstellungen können uns nach dem zweiten Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung aber nur nacheinander bewusst sein. Deshalb kann man nur dann prüfen, wie sich der Gehalt einer gegenwärtigen Vorstellung zu dem einer vergangenen Vorstellung „in einem Bewustseyn“ verhält, wenn man den Gehalt der letzteren reproduzieren im Sinne von wiedervorführen kann. Dass wir die Fähigkeit der wiedervorführenden Synthesis der Reproduktion besitzen, kann daher aufgrund der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung als gerechtfertigt gelten. 24
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‚Wieder-vor-führen‘ ist M. Heideggers wörtliche, den von Kant hier gemeinten Sachverhalt treffende Übersetzung von ‚Re-pro-duzieren‘ (Heidegger, GA 25, 349). R 2876 (1776/8?), AA 16.555.8. Es gibt außer den genannten noch eine ganze Reihe von Punkten, die Kant im Abschnitt zur Synthesis der Reproduktion anspricht. Dazu gehören das empirische Gesetz der Vergesellschaftung von Vorstellungen (Assoziationsgesetz) (A 100), die These, dass dieses Gesetz faktische Regelmäßigkeiten unter den Erscheinungen selbst voraussetzt (ebd.) sowie die These, dass es einen apriorischen Grund dafür geben muss, dass alle Erscheinungen in einer notwendigen Einheit stehen (A 101). Im Hintergrund dieser letzten These steht die Skizze eines ersten Deduktionsarguments, das Kant bereits im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels entwirft. Da diese Skizze inhaltlich in den Kontext der ‚Deduktion von unten‘ gehört, werde ich sie (ebenso wie die anderen gerade genannten Punkte) im Zusammenhang der Rekonstruktion von Kants ‚Deduktion von unten‘ im siebenten Kapitel dieser Arbeit diskutieren.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
5.3.4 Transzendentale und reine Synthesis der Apprehension und Reproduktion In der Skizzierung des begrifflichen Rahmens von Kants Theorie der Einbildungskraft habe ich darauf hingewiesen, dass die verschiedenen von Kant vorgesehenen Typen von Synthesis der Einbildungskraft verschiedenen Dimensionen angehören. 25 Von der Dimension der Verschiedenartigkeit der Einbildungskraft, zu der Apprehension, Reproduktion und Rekognition als Arten von Synthesistypen gehören, ist die Dimension der Vielschichtigkeit der Einbildungskraft zu unterscheiden, die durch empirische, reine und transzendentale Synthesistypen konstituiert ist. Der zweite Abschnitt des Deduktionskapitels orientiert sich insgesamt an der Dimension der Verschiedenartigkeit der Einbildungskraft. Das zeigt sich darin, dass Kant den drei Synthesen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition dort je einen Unterabschnitt widmet. In systematischer Hinsicht kann jedoch in Bezug auf jeden dieser drei Unterabschnitte von einer Binnenstruktur gesprochen werden, deren Elemente der Dimension der Vielschichtigkeit der Einbildungskraft angehören. Das heißt, für jede der drei Arten von Synthesen – Apprehension, Reproduktion und Rekognition – lassen sich empirische, reine und transzendentale Schichten unterscheiden. 26 Ich werde dies im Folgenden für die bereits diskutierten Synthesen der Apprehension und Reproduktion erläutern. Bisher ist weder in Hinblick auf die Apprehensionssynthesis noch in Hinblick auf die Reproduktionssynthesis von empirischen, reinen oder transzendentalen Synthesen die Rede gewesen. Allerdings ist gegen Ende des vierten Kapitels dieser Arbeit bereits grundsätzlich geklärt worden, was empirische Synthesishandlungen, transzendentale Synthesishandlun-
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Siehe oben Abschnitt 4.3.2, S. 102 f. Man kann nicht behaupten, dass Kant diese Binnenstruktur in den Unterabschnitten zu den Synthesen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition explizit machen würde. Im Apprehensionsabschnitt ist zwar am Ende von einer „reine[n] Synthesis der Apprehension“ die Rede (A 100), die von der zuvor eingeführten Synthesis der Apprehension unterschieden wird; aber es wird von Kant nicht ausdrücklich herausgestellt, was denn zuvor eingeführt wurde, die empirische oder die transzendentale Synthesis der Apprehension. In dieser Hinsicht scheint der Reproduktionsabschnitt transparenter zu sein. Denn dort ist zunächst explizit von einer „empirische[n] Synthesis der Reproduktion“ (A 101) und dann wohl auch implizit von einer reinen Synthesis der Reproduktion die Rede (A 102). Am Ende dieses Abschnitts spricht Kant schließlich davon, dass „reproduktive Synthesis der Einbildungskraft zu den transzendentalen Handlungen des Gemüts“ gehört (ebd.) Im Rekognitionsabschnitt hat Kant am wenigsten Klarheit geschaffen. Denn der Ausdruck ‚Synthesis der Rekognition‘ kommt dort außer in der Überschrift (A 103) überraschenderweise überhaupt nicht vor.
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
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gen und transzendentale Synthesisfähigkeiten sind. 27 Daran lässt sich nun anschließen. Empirische Synthesishandlungen betreffen ein empirisch gegebenes Mannigfaltiges und bringen empirische Erkenntnisse im weiten Sinn und insbesondere empirische Anschauungen hervor. Entsprechend kann nun eine Synthesishandlung der Apprehension oder der präsenthaltenden Reproduktion insofern ‚empirisch‘ genannt werden, als sie Moment einer empirischen Synthesishandlung ist, d. h. an der Hervorbringung einer empirischen Anschauung beteiligt ist. Synthesishandlungen der Apprehension und der präsenthaltenden Reproduktion können jedoch zugleich als ‚transzendentale‘ Synthesishandlungen bezeichnet werden. Denn Synthesishandlungen dieser Art sind nicht nur Komponenten dieser oder jener einzelnen empirischen Synthesishandlung, sondern müssen Komponenten von jeder empirischen Synthesishandlung sein. 28 Denn in jeder empirischen Synthesishandlung, die eine empirische Anschauung hervorbringt, müssen durch durchlaufende Apprehension in einem empirisch gegebenen Mannigfaltigen verschiedene Elemente ausgemacht, durch präsenthaltende Reproduktion behalten und durch zusammennehmende Apprehension vereinigt werden. Synthesishandlungen der Apprehension und präsenthaltenden Reproduktion sind demnach ausgezeichnete empirische Synthesishandlungen, und zwar transzendentale Synthesishandlungen. Denn Synthesishandlungen der Art ‚Apprehension‘ und ‚Reproduktion‘ müssen Komponenten von jeder empirischen Synthesishandlung sein. Worauf es in der Deduktionsuntersuchung ankommt, sind jedoch nicht die transzendentalen Synthesishandlungen der Apprehension oder Reproduktion, sondern die entsprechenden transzendentalen Synthesisfähigkeiten. Als Kriterium für die Transzendentalität einer Synthesisfähigkeit hatte sich am Ende des vierten Kapitels dieser Arbeit folgendes ergeben: Eine Synthesisfähigkeit ist transzendental, falls ihr Besitz eine notwendige Bedingung der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung ist.29 In der Diskussion der Synthesis der Apprehension hat sich gezeigt, dass wir diese Fähigkeit im Wesentlichen 30 deshalb besitzen, weil wir erstens empirische Anschauungen haben können und wir uns zweitens all
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Siehe oben Abschnitt 4.5.3, S. 126 ff. Genau dies war das Kriterium für die Transzendentalität einer Synthesishandlung: Wenn jede empirische Synthesishandlung eine Komponente derselben Art aufweisen muss, dann handelt es sich bei dieser Komponente jeweils um eine transzendentale Synthesishandlung und bei dieser Art um eine Art von transzendentalen Synthesishandlungen (vgl. oben S. 128). Siehe oben Abschnitt 4.5.3, S. 130. Von den oben (S. 138 ff.) thematisierten Hintergrundannahmen, auf denen die Annahme der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension ebenfalls basiert, sehe ich hier ab.
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unserer bewussten Vorstellungen und ihrer Gehalte nur nacheinander bewusst sein können. Das bedeutet, dass der Besitz der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension eine notwendige Bedingung der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung ist. Und aus diesem Grund ist die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension eine transzendentale Synthesisfähigkeit. Auch die Fähigkeit der Synthesis der präsenthaltenden Reproduktion muss dann aber als transzendentale Synthesisfähigkeit gelten. Denn die Annahme dieser Fähigkeit ist eine notwendige Bedingung der Annahme der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension und damit eine notwendige Bedingung der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung. Da weiterhin auch der Besitz der Fähigkeit der wiedervorführenden Synthesis der Reproduktion im Rekurs auf die beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung gerechtfertigt wurde, ist auch der Besitz dieser Fähigkeit eine notwendige Bedingung dieser beiden Ausgangspunkte. Das heißt, beide Teilfähigkeiten der Synthesis der Reproduktion, die präsenthaltende und die wiedervorführende, sind transzendentale Synthesisfähigkeiten. Daher kann nun insgesamt festgehalten werden: Was in der bisherigen Untersuchung der Synthesen der Apprehension und Reproduktion ausgewiesen wurde, sind transzendentale Synthesisfähigkeiten. Von empirischen und transzendentalen Synthesen unterscheidet Kant reine Synthesen. Unmittelbar nach seiner einführenden Exposition des allgemeinen Synthesisbegriffs, derzufolge ‚Synthesis‘ die Handlung bezeichnet, „verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen“, erklärt Kant: „Eine solche Synthesis ist rein, wenn das Mannigfaltige nicht empirisch, sondern a priori gegeben ist (wie das im Raum und der Zeit).“ (A 77, B 103) Demnach sind reine Synthesen gewissermaßen Spezialfälle von Synthesis „in der allgemeinsten Bedeutung“ (ebd.). Als diese Spezialfälle sind sie durch den besonderen Status des Mannigfaltigen charakterisiert, das sie in einer Erkenntnis vereinigen. Reine Synthesishandlungen sind nicht auf empirisch gegebenes, sondern exklusiv auf a priori gegebenes bzw. reines sinnliches Mannigfaltiges bezogen. 31 Entsprechend muss die Erkenntnis, in
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Zum Begriff dieses reinen Mannigfaltigen vgl. A 77, B 102: „Raum und Zeit enthalten nun ein Mannigfaltiges der reinen Anschauung a priori“. Aus einer anderen Stelle geht hervor, dass es sich bei dem reinen Mannigfaltigen um ein Mannigfaltiges handelt, „welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet“ (A 100). Im Anschluss an die obigen Ausführungen zur Synopsis des Sinns ist zu betonen, dass diese ‚Darbietung‘ des reinen räumlich-zeitlichen Mannigfaltigen von der transzendental-ästhetisch vorrangigen Gegebenheit der wesentlich einheitlichen und unendlichen Ganzen von Raum und Zeit transzendental-ästhetisch abhängt, d. h. es kann nur vor dem Hintergrund von Einschränkungen (Limitationen) des Raums und der Zeit bestehen (vgl. dazu oben S. 135).
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
153
der sie dieses Mannigfaltige vereinigen als eine reine sinnliche bzw. mathematische Erkenntnis gelten. Im Abschnitt zur Synthesis der Apprehension behauptet Kant ausdrücklich, dass „wir eine reine Synthesis der Apprehension“ haben (A 100). Angesichts seiner allgemeinen Bestimmung von reinen Synthesen überrascht es nicht, dass es sich bei dieser Synthesisfähigkeit um eine Synthesisfähigkeit handeln soll, die „a priori, d. i. in Ansehung der Vorstellungen, die nicht empirisch sein, ausgeübet“ wird (A 99). Und im Abschnitt zur Synthesis der Reproduktion nimmt Kant implizit auch eine reine Synthesis der (präsenthaltenden) Reproduktion an. Wenn ich etwa „eine Linie in Gedanken ziehe, oder die Zeit von einem Mittag zum andern denken [...] will“, muss „ich erstlich notwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen nach der andern in Gedanken fassen“, aber ich muss auch zweitens das jeweils Vorgestellte „reproduzieren, indem ich zu den folgenden [Vorstellungen (M. W.)] fortgehe“, um eine „ganze Vorstellung“ im Sinne einer einzelnen einheitlichen reinen Raum- oder Zeitvorstellung zu bekommen (A 102). Die für Kant durch die Transzendentale Ästhetik gesicherte Möglichkeit solcher Vorstellungen erfordert daher, dass wir in dem reinen Mannigfaltigen, „welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet“ (A 100), durch reine Synthesen der Apprehension und Reproduktion reine räumlich-zeitliche Einheiten vorstellen können. 32 Kant kommt im gesamten Deduktionskapitel immer wieder und insbesondere an entscheidenden Stellen auf die reine Synthesis bzw. die reine Einbildungskraft zurück. Am Ende der ‚Deduktion von oben‘ erklärt er etwa, dass die Kategorien „die notwendige Einheit der reinen Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung aller möglichen Erscheinungen, enthal-
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Kant beansprucht, die reine Apprehensions- bzw. Reproduktionssynthesis letztlich damit zu begründen, dass wir „ohne sie [...] weder die Vorstellungen des Raumes, noch der Zeit a priori haben können“ (A 99) bzw. dass ohne sie „nicht einmal die reineste und erste Grundvorstellung von Raum und Zeit entspringen können.“ (A 102) In der Transzendentalen Ästhetik wird vorausgesetzt, dass wir Vorstellungen des Raums und der Zeit haben. Die Frage ist dort, welcher Art diese Vorstellungen sind. Und die Antwort, die Kant darauf in der Metaphysischen Erörterung gibt, lautet: Bei unseren Vorstellungen des Raums und der Zeit handelt es sich um reine Anschauungen a priori. Das Haben- und Entspringenkönnen dieser Vorstellungen, so nun Kants Punkt im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels, setzt die reinen Synthesen der Apprehension und Reproduktion und damit imaginative Spontaneität voraus. Es wäre ein Missverständnis, dem zu entnehmen, dass der Raum und die Zeit selbst, die Kant zufolge Formen unserer Rezeptivität bzw. Anschauung sind, durch die Einbildungskraft erzeugt werden sollen. Alle Synthesisleistungen der Einbildungskraft müssen vielmehr diesen Formen gemäß sein. In der B-Deduktion ist Kant dem genannten Missverständnis durch seine Unterscheidung zwischen ‚Form der Anschauung‘ und ‚formaler Anschauung‘ begegnet (siehe B 160 Anm.). Allerdings ist auch einzuräumen, dass Kant diesem Missverständnis durch seine Erklärung im Schematismuskapitel Vorschub geleistet hat, „daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge.“ (A 143, B 182)
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ten.“ (A 119) Und in der ‚Deduktion von unten‘ gilt ihm die „reine Einbildungskraft als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnis a priori zum Grunde liegt“ und daher eine „transzendentalen Funktion“ besitzt (A 124). Durch solche Passagen gewinnt man den Eindruck, dass es in der Deduktionsuntersuchung vor allem auf die reine Synthesis bzw. die reine Einbildungskraft ankommt. Kant vermittelt diesen Eindruck bereits kurz nach der Einführung des Konzepts der reinen Synthesis, indem er erklärt, die „reine Synthesis, allgemein vorgestellt, gibt nun den reinen Verstandesbegriff“, und darauf hinweist, dass sich die „transz. Logik“ mit der Frage beschäftigt, wie „die reine Synthesis der Vorstellungen auf Begriffe zu bringen“ ist (A 78, B 104; ohne dortige Hvh.). Bei den Begriffen, auf die die reine Synthesis gebracht wird bzw. die der „reinen Synthesis Einheit geben“ (A 79, B 105; ohne dortige Hvh.), soll es sich wohl letztlich um Kategorien handeln. Die Beweisstrategie der Kategoriendeduktion scheint somit darin zu bestehen, die Kategorien als Einheitsbegriffe der reinen Synthesis auszuweisen. Meiner Auffassung nach hat Kant die systematische Rolle, die die reine Synthesis bzw. die reine Einbildungskraft in Hinblick auf die Lösung des Deduktionsproblems spielen kann, überschätzt. Da es die reine Synthesis ihrem Begriff nach nicht mit einem empirisch gegebenen, sondern ausschließlich mit einem a priori gegebenen, reinen sinnlichen Mannigfaltigen zu tun hat (A 77, B 103), wäre durch den Nachweis, dass die Kategorien als Einheitsbegriffe der reinen Synthesis fungieren, lediglich gezeigt, dass sie sich wie diese Synthesis selbst nur auf reine, nicht aber auf empirische Anschauungen beziehen. Das reicht allerdings nicht aus. Denn Kant selbst zufolge sollen sich die Kategorien auch auf empirische Anschauungen beziehen. So betont er etwa im letzten Hauptstück des Grundsatzkapitels: „Also beziehen sich alle Begriffe und mit ihnen alle Grundsätze, so sehr sie auch a priori möglich sein mögen, dennoch auf empirische Anschauungen, d. i. Data zur möglichen Erfahrung.“ (A 239, B 298; Hvh. v. Verf., M. W.) Darüber hinaus bliebe es für bestimmte Kategorien, etwa ‚Realität‘, ‚Substanz‘ und ‚Kausalität‘, auch unverständlich, wie sie im Bereich exklusiv reiner Anschauung realisierbar sein sollten. Diese Kategorien können ihre Bedeutung nur als Begriffe einer Synthesis gewinnen, die auf empirisch gegebenes Mannigfaltiges bezogen ist. Entsprechend erklärt Kant, „wenn mir der transzendentale Begriff einer Realität, Substanz, Kraft etc. gegeben ist, so bezeichnet er weder eine empirische, noch reine Anschauung, sondern lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen (die also a priori nicht gegeben werden können)“ (A 722, B 750). Die von Kant hier genannten Kategorien (und die Prädikabilie ‚Kraft‘) ‚bezeichnen‘ demnach keine reine Synthesis, sondern eine auf Empirisches bezogene
5.3 Die Synthesen der Apprehension und Reproduktion
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Synthesis. Kant bekräftigt dies am Beispiel „des Begriffs der Ursache“, der „eine Regel der Synthesis der Wahrnehmungen ist, die keine reine Anschauungen sind, und sich also a priori nicht geben lassen.“ (A 722 Anm., B 750 Anm.; ohne dortige Hvh.) 33 Allenfalls die Quantitätskategorien könnten als Einheitsbegriffe der reinen Synthesis fungieren. Aus diesem Grund kann ein Deduktionsargument, das sich in puncto Einbildungskraft nur auf deren reine Synthesis konzentriert, bestenfalls zu einer transzendentalen Deduktion der Quantitätskategorien führen. 34 Alle anderen Kategorien müssen, wenn sie überhaupt Einheitsbegriffe der Synthesis der Einbildungskraft sein sollen, Einheitsbegriffe einer nicht-reinen, auf empirisch Reales bezogenen Synthesis sein. 35 Anders als von Kant selbst an einigen Stellen nahe gelegt, kann die reine Synthesis bzw. die reine Einbildungskraft deshalb keine systematisch entscheidende Funktion in Hinblick auf eine umfassende Lösung des Deduktionsproblems besitzen. 36 In der Rekonstruktion der Deduktionsargumentation kann daher von den zur Dimension der Vielschichtigkeit der Einbildungskraft gehörenden Synthesistypen nicht die reine, sondern muss die transzendentale Synthesis im Zentrum stehen. 37
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K. Cramer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es einen „offensichtlichen Widerspruch“ gibt zwischen Kants „Erklärung, daß jeder reine Verstandesbegriff, qua talis, eine reine Synthesis allgemein vorstellt“ (vgl. A 78, B 104), und seiner soeben erwähnten „Erklärung, dass eine Kategorie wie die der Substanz eine Synthesis der empirischen Anschauung ‚bezeichnet‘.“ (Cramer 1985, 255.) W. Hinsch kommt in seiner Rekonstruktion der B-Deduktion, die sich in ihrem zweiten Beweisschritt (§ 26, B 160 f.) entscheidend auf die a priori gewisse Einheitlichkeit der reinen Anschauungen von Raum und Zeit stützt, zu dem Resultat, dass die Reichweite von Kants Argument tatsächlich auf die Quantitätskategorien beschränkt bleibt (Hinsch 1986, 104). Dies geht insbesondere aus Kants Charakterisierungen ihrer Schemata hervor (A 142/5, B 182/4). Vgl. Düsing 1995, 69: „Alle Schemata – mit Ausnahme der Schemata der Quantitätskategorien – sind irgendwie Bestimmungen eines Realen in der Zeit.“ Es ist daher interessant, dass Kant in dem Abschnitt Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien, in dem er die Kategorien zunächst als Einheitsbegriffe der reinen Synthesis eingeführt hatte (A 78, B 104), die Orientierung an der reinen Synthesis in der Folge fallen lässt. Er bestimmt die Kategorien dann als Funktionen, die „der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit“ geben; und er erklärt, dass der Verstand „vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt“ einen transzendentalen Inhalt in seine Vorstellungen bringt, bzw. dass dessen reine Begriffe „a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen“ (A 79, B 105; Hvh. modif. v. Verf., M. W.). Weiterhin werden die Kategorien im Anschluss an die Präsentation der Kategorientafel als die „ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis“ und nicht als ursprüngliche Begriffe der reinen Synthesis bestimmt (A 80, B 106). Zu diesen Stellen siehe ausführlicher Cramer 1985, 256 f. Unabhängig von jeder besonderen Erfahrung (d. h. „a priori“) geht nur diejenige Synthesis „ohne Unterschied der Anschauungen [...] auf die Verbindung des Mannigfaltigen“, die Kant die ‚transzendentale‘ nennt (A 118; Hvh. v. Verf., M. W.). Die reine Synthesis dagegen macht einen solchen Unterschied; sie betrifft exklusiv das Mannigfaltige der reinen Anschauung.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
5.4 Die Synthesis der Rekognition 5.4.1 Gliedernde und bewahrende Rekognition Kant beabsichtigt, neben den beiden skizzierten Arten von Synthesis mit der Synthesis der Rekognition eine weitere Synthesisart aufzuweisen. Auch die Synthesis der Rekognition wird von ihm zur Einbildungskraft gerechnet. Das ergibt sich erstens aus seiner allgemeinen Aussage, dass „Synthesis überhaupt [...] die bloße Wirkung der Einbildungskraft“ ist (A 78, B 103). Zweitens ist aber auch auf eine These hinzuweisen, die Kant am Ende der ‚Deduktion von unten‘ formuliert: „Auf ihnen [den Kategorien] gründet sich also alle formale Einheit in der Synthesis der Einbildungskraft, und vermittelst dieser auch alles empirischen Gebrauchs derselben (in der Rekognition, Reproduktion, Assoziation, Apprehension) bis herunter zu den Erscheinungen“ (A 125). Der empirische Gebrauch der Kategorien findet demnach mittels der „Synthesis der Einbildungskraft“ statt, so dass die in Parenthese genannten Leistungen, also insbesondere die Rekognition, ihr zuzurechnen sind. 38 Damit müssen auch Kants Überlegungen zur Synthesis der Rekognition als integraler Bestandteil seiner Theorie der Einbildungskraft gelten. Worin besteht nun die Synthesis der Rekognition? Diese Frage ist insofern nicht ganz leicht zu beantworten, als der Ausdruck ‚Synthesis der Rekognition‘ in dem gesamten Abschnitt, der dieser Synthesis gewidmet ist, nicht ein einziges Mal vorkommt. Meiner Auffassung nach ist für das, was Kant unter diesem Ausdruck versteht, der erste Satz dieses Abschnitts maßgeblich. Kant erklärt dort, dass wir ein „Bewußtsein“ davon haben müssen, „daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten“, weil sonst „alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich“ wäre (A 103). Was Kant hier als notwendige Bedingung der Nicht-Vergeblichkeit der Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen ins Spiel bringt, ist m. E. das Resultat der Synthesis der Rekognition, und zwar das Wissen um eine gewisse Identität. Das bedeutet, diese Synthesis soll eine identifizierende Synthesis sein; sie identifiziert „das, was wir denken“, mit dem, „was wir einen Augenblick zuvor dachten“. Diese Auskunft ist aber nicht eindeutig und muss präzisiert werden. Um diese Präzisierung zu geben, wird es hilfreich sein, den Prozess der Synthesis der Apprehension cum (präsenthaltenden) Reproduktion, wie Kant ihn sich vorstellt, zu beschreiben. Durch das sukzessive Durchlaufen des Mannigfaltigen gewinnen wir nacheinander Vorstellungen von Elementen dieses Mannigfaltigen. In der Anfangsphase des Durchlaufens
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Ebenso Rosales 2000, 147.
5.4 Die Synthesis der Rekognition
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gewinnen wir die Vorstellung eines ersten Elements und halten dieses Element in den folgenden Vorstellungszuständen präsent. Wir gewinnen dann die Vorstellung eines zweiten Elements; unser Vorstellungszustand besteht dann in einer reproduktiven Vorstellung des ersten Elements und in der apprehendierten Vorstellung des zweiten Elements; auch dieses zweite Element halten wir in den folgenden Vorstellungszuständen präsent. Wir gewinnen dann die Vorstellung eines dritten Elements etc. In der Endphase des Durchlaufens gewinnen wir die Vorstellung eines letzten Elements; unser Vorstellungszustand besteht dann in reproduktiven Vorstellungen aller zuvor gewonnenen Elemente und in der apprehendierten Vorstellung dieses letzten Elements; auch dieses Element halten wir im Folgenden präsent. Der Synthesisprozess wird dann abgeschlossen, indem die Elemente einiger 39 Vorstellungen unseres Vorstellungszustandes zusammengenommen werden, d. h. indem wir die Vorstellung von einem Ganzen dieser Elemente bilden. Auf diese Weise haben wir am Ende des Prozesses der Synthesis der Apprehension cum Reproduktion die Vorstellung eines Ganzen von verschiedenen Elementen (realen Vorstellungsgehalten). Die Synthesis der Rekognition soll, wie gesagt, „das, was wir denken“, mit dem identifizieren, „was wir einen Augenblick zuvor dachten“ (A 103). Wie sie zu verstehen ist, hängt damit davon ab, wie das durch sie zu Identifizierende zu interpretieren ist. Im Anschluss an die Beschreibung des Prozesses der Apprehension cum Reproduktion bieten sich zwei Möglichkeiten einer solchen Interpretation an, die ich im Folgenden unter den Stichworten ‚gliedernde‘ und ‚bewahrende‘ Rekognitionssynthesis diskutieren werde. Gliedernde Rekognitionssynthesis. Was wir am Ende dieses Prozesses denken, ist ein Ganzes; was wir vorher dachten, waren die sukzessiv apprehendierten Elemente (Teile) dieses Ganzen. Das mit Hilfe der Synthesis der Rekognition erzeugte „Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten“, ist dann (a) ein Bewusstsein von einem Ganzen als aus diesen Elementen (Teilen) zusammengesetzt bzw. (b) ein Bewusstsein von diesen Elementen als Teilen desselben Ganzen. Ich werde ein Bewusstsein im Sinne von (a) bzw. (b) im Folgenden als Bewusstsein eines ‚gegliederten‘ Ganzen von Teilen und die Synthesis der Rekognition, mit deren Hilfe wir dieses Bewusstsein gewinnen, als die ‚gliedernde‘ Synthesis der Rekognition bezeichnen. Der zweite Satz des Rekognitionsabschnitts macht deutlich, dass Kant eine solche gliedernde Synthesis der Rekognition annimmt. Er erklärt
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Nicht unbedingt: „aller“; weil eventuell nicht alle Elemente in Frage kommen. Welche Elemente jeweils in Frage kommen, hängt von empirischen Bedingungen ab.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
dort, wir hätten ohne das mit Hilfe der Synthesis der Rekognition erzeugte Bewusstsein „eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande, die zu dem Actus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörete, und das Mannigfaltige derselben würde immer kein Ganzes ausmachen“ (A 103). Falls wir nicht die Fähigkeit der gliedernden Rekognitionssynthesis hätten, wäre unsere Vorstellungssituation am Ende eines Prozesses der Synthesis der Apprehension cum Reproduktion durch die beiden folgenden Merkmale gekennzeichnet. (a) Wir hätten zwar eine Vorstellung eines Ganzen, würden sie aber nicht „dem Actus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen“, zuordnen (ebd.), uns ihrer also nicht als Produkt einer Synthesishandlung bewusst sein; daher würden wir das Ganze nicht als aus den zuvor betrachteten Elementen zusammengesetzt vorstellen; und in diesem Sinn wäre die Vorstellung dieses Ganzen „eine neue Vorstellung“. (b) Das Mannigfaltige der Vorstellung des Ganzen und näherhin die in diesem Mannigfaltigen sukzessiv ausgemachten und dann präsent gehaltenen Elemente würden für uns „immer kein Ganzes ausmachen“, d. h. wir würden diese Elemente nicht als Teile desselben Ganzen vorstellen. Fasst man diese beiden Punkte zusammen, so ist festzustellen: Dass wir die Fähigkeit der gliedernden Rekognitionssynthesis besitzen, ist eine notwendige Bedingung der Möglichkeit, Bewusstsein von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt oder von diesen Elementen als Teilen desselben Ganzen zu gewinnen. Bewahrende Rekognitionssynthesis. Zu dem, was wir in irgendeiner nichtinitialen Phase des Prozesses der Synthesis der Apprehension cum Reproduktion denken, gehören verschiedene Elemente, die uns durch reproduktive Vorstellungen bewusst sind 40; was wir vorher dachten, waren Elemente, die wir im sukzessiven Durchlaufen des Mannigfaltigen ausgemacht haben und die uns durch apprehendierte Vorstellungen bewusst waren. Das durch die Synthesis der Rekognition erzeugte „Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten“, ist dann ein Bewusstsein, dass die durch reproduktive Vorstellungen bewussten Elemente mit denjenigen Elementen numerisch identisch sind, die uns durch die ursprünglichen, apprehendierten Vorstellungen bewusst waren. Ich werde die Rekognitionssynthesis, durch die wir dieses Bewusstsein gewinnen, als die ‚bewahrende‘ Synthesis der Rekognition bezeichnen. Dass Kant eine solche bewahrende Synthesis der Rekognition annimmt, lässt sich anhand einer der wenigen Stellen belegen, an der explizit von ‚Rekognition‘ die Rede ist. Kant erklärt dort, wir müssen die „repro-
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Ich spreche von irgendeiner nicht-initialen Phase dieses Prozesses, weil wir in der initialen Phase noch kein Element ausgemacht haben oder präsent halten.
5.4 Die Synthesis der Rekognition
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duktiven Vorstellungen“ „in dem empirischen Bewußtsein“ ihrer „Identität [...] mit den Erscheinungen, dadurch sie gegeben waren, mithin in der Rekognition“ vorstellen können (A 115). Die durch reproduktive Vorstellungen bewussten Elemente (hier: „Erscheinungen“) müssen demnach als genau diejenigen Elemente rekognosziert werden können, die wir zuerst in der Apprehension vorgestellt haben. Nicht nur der Besitz der Fähigkeit der gliedernden, sondern auch der Besitz der Fähigkeit der bewahrenden Rekognitionssynthesis ist eine notwendige Bedingung dafür, Bewusstsein von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt gewinnen zu können. Für ein solches Bewusstsein müssen wir die nacheinander apprehendierten Elemente durch reproduktive Vorstellungen präsent halten. Besäßen wir nun nicht die Fähigkeit der bewahrenden Rekognition, so wäre es nicht möglich, die durch diese reproduktiven Vorstellungen bewussten Elemente als genau diejenigen Elemente zu rekognoszieren, die wir zuvor apprehendiert haben. Wir könnten ohne diese Fähigkeit zwar vielleicht ein Bewusstsein von einem Ganzen als aus solchen Elementen zusammengesetzt gewinnen, die uns durch reproduktive Vorstellungen bewusst sind, wären aber nicht in der Lage, diese Elemente als diejenigen zu identifizieren, die wir nacheinander apprehendiert haben. Das bedeutet, wir können nur dann Bewusstsein von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt gewinnen, wenn wir die Fähigkeit zur bewahrenden Rekognitionssynthesis besitzen. Wenn Kant im ersten Satz des Rekognitionsabschnitts sagt: „Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten, würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein“, so macht dies also sowohl in Hinblick auf die gliedernde als auch in Hinblick auf die bewahrende Rekognitionssynthesis einen guten Sinn. Ohne die gliedernde Rekognition bliebe „alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen“ insofern „vergeblich“, als wir die nacheinander apprehendierten Elemente, obwohl wir sie jeweils durch reproduktive Vorstellungen präsent halten, nicht als Teile desselben Ganzen vorstellen könnten. Und ohne die bewahrende Rekognition bliebe „alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen“ insofern „vergeblich“, als wir die Elemente der nacheinander apprehendierten Vorstellungen durch reproduktive Vorstellungen zwar präsent halten, aber nicht wissen könnten, dass es sich bei diesen Elementen um die zuvor apprehendierten handelt. In der Kantliteratur ist es üblich, jeweils eine der beiden Arten von Rekognitionssynthesis in den Vordergrund zu stellen. Einige Autoren konzentrieren sich auf die gliedernde Synthesis der Rekognition und ver-
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
nachlässigen tendenziell die bewahrende Synthesis der Rekognition 41, bei anderen Autoren ist es umgekehrt 42. Zu den wenigen Autoren, die der zweifachen Bedeutung der Rekognitionssynthesis ausdrücklich Rechnung tragen, gehört R. P. Wolff: „In general, when I apprehend a succession of representations by reproducing them in imagination, I must become conscious of two things: first, that the present representations exactly resemble those which they reproduce, and second, that the representations before my mind belong to one set or group, and hence are unified. The process whereby I become conscious of these two facts is called by Kant ‘the Synthesis of Recognition in a Concept’“. 43
Der erste von Wolff genannte Punkt betrifft diejenige Synthesis der Rekognition, die ich die ‚bewahrende‘, und der zweite Punkt diejenige, die ich die ‚gliedernde‘ Synthesis der Rekognition genannt habe. Allerdings ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass Wolffs erster Punkt, seine Bestimmung der bewahrenden Synthesis der Rekognition nicht ganz korrekt ist. Denn seiner Formulierung zufolge werde ich mir durch die bewahrende Rekognitionssynthesis der genauen Ähnlichkeit bzw. qualitativen Identität von reproduktiver Vorstellung und Originalvorstellung bewusst. Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer: Aufgrund der Fähigkeit der bewahrenden Synthesis der Rekognition kann ich mir darüber bewusst werden, dass die reproduktive Vorstellung und die Originalvorstellung ein und denselben Gehalt haben. Es geht bei der bewahrenden Synthesis der Rekognition also nicht um das Bewusstsein der qualitativen Identität von Vorstellungen, sondern um das Bewusstsein der numerischen Identität ihrer Gehalte. 44 Es ist deutlich geworden, dass Kant annimmt, wir besäßen die Fähigkeit der gliedernden und der bewahrenden Synthesis der Rekognition. Die Frage ist nun, wie sich diese Annahme ausweisen lässt. Bisher ist zweierlei deutlich geworden: Erstens ist der Besitz der Fähigkeit der gliedernden Rekognitionssynthesis eine notwendige Bedingung der Möglichkeit, Bewusstsein von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt oder von diesen Elementen als Teilen desselben Ganzen zu haben; und zweitens ist der Besitz der Fähigkeit der bewahrenden Rekognitionssynthesis eine notwendige Bedingung der Möglichkeit, Bewusstsein von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt zu haben. Wenn sich also nachweisen lässt, dass wir
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Thöle 1991, 223 Anm. 6; Carl 1992, 163 Anm. 52. Henrich 1976, 74 f.; Rosales 2000, 147 ff. Wolff 1963, 129. An einer anderen Stelle scheint Wolff dies ebenso zu sehen: „I must also be aware that what I have just reproduced is identical with what I apprehended a moment ago.“ (Wolff 1963, 129.)
5.4 Die Synthesis der Rekognition
161
uns eines Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt und dieser Elemente als Teilen desselben Ganzen bewusst sein können, dann müssen wir beide Fähigkeiten der Synthesis der Rekognition besitzen. Zunächst ist zu betonen, dass die Möglichkeit solchen Bewusstseins sich nicht allein daraus ergibt, dass wir die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension cum präsenthaltenden Reproduktion besitzen. Durch die Ausübung dieser Fähigkeit gewinnen wir zwar die Vorstellung bzw. das Bewusstsein von einem Ganzen, das aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt ist, und sind uns durch die Teilvorstellungen dieser Vorstellung auch der Elemente (Teile) des Ganzen bewusst, aber wir sind uns allein dadurch weder des Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt noch dieser Elemente als Teilen des Ganzen bewusst. Denn die Vorstellung eines komplexen Ganzen ist nicht unbedingt die Vorstellung von einem Ganzen als komplex und Vorstellungen von Bestandteilen eines Ganzen stellen diese Bestandteile nicht unbedingt als solche, d. h. als Bestandteile dieses Ganzen, vor. Was in Hinblick auf die Möglichkeit des Bewusstseins von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt oder des Bewusstseins von diesen Elementen als Teilen desselben Ganzen zum Besitz der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension cum präsenthaltenden Reproduktion gewissermaßen hinzukommen muss, ist ein Reflexionsmoment, durch das dieses Ganze als solches bewusst sein kann und seine Teile als solche bewusst sein können. Die Frage ist daher, ob Kant vor dem Hintergrund seiner schwachen Voraussetzungen, d. h. der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung, über Ressourcen verfügt, dieses Reflexionsmoment einsichtig zu machen. In welcher Richtung diese Ressourcen zu suchen sind, lässt sich relativ leicht bestimmen: Es müsste sich um Ressourcen handeln, die durch die Argumentation für die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension cum präsenthaltenden Reproduktion nicht ausgeschöpft wurden. Denn der Besitz dieser Fähigkeit reicht, wie gerade gesehen, nicht aus, um das fragliche Reflexionsmoment einsichtig zu machen. Der erste Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung besagt, dass wir empirische Erkenntnis im weiten Sinn haben können. Solche Erkenntnis besteht in dem empirischen Bewusstsein eines Ganzen verglichener und verknüpfter realer Vorstellungsgehalte. 45 Dass wir solche Erkenntnis haben können, impliziert insbesondere, dass wir reale Vorstellungsgehalte bzw. die im Durchlaufen des empirischen Mannigfaltigen sukzessiv ausgemachten Elemente, die zusammen ein Ganzes bilden,
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Siehe oben Abschnitt 4.5.1, S. 116.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
miteinander vergleichen können. Auf diesen Punkt musste die Rechtfertigung der Annahmen der Synthesen der Apprehension und der präsenthaltenden Reproduktion nicht zurückgreifen. 46 Für den Aufweis der Synthesis der Rekognition ist er jedoch entscheidend. Allgemein gesagt, besteht ein Vergleich verschiedener Gehalte für Kant darin, dass geprüft wird, wie sie sich „zu einander in einem Bewustseyn verhalten“. 47 Wenn wir sukzessiv apprehendierte Elemente eines Ganzen und damit Teile dieses Ganzen miteinander vergleichen können, dann können wir also wissen, wie sich diese Teile „in einem Bewustseyn“, und das heißt hier im Bewusstsein des von ihnen gebildeten Ganzen, zueinander verhalten. Das bedeutet, dass wir dann um den Unterschied und die Beziehung zwischen diesen Teilen in dem von ihnen gebildeten Ganzen wissen können. Um aber wissen zu können, in welcher Beziehung verschiedene Teile eines Ganzen in diesem Ganzen zueinander stehen, müssen wir diese Teile als Teile des Ganzen und dieses Ganze als aus diesen Teilen bestehend vorstellen können. Das fragliche Reflexionsmoment ist damit im Rekurs auf das zur Erkenntnis im weiten Sinn gehörende Vergleichen einsichtig geworden. Zusammenfassend kann nun festgehalten werden: Da wir zufolge des ersten Ausgangspunktes der Deduktionsuntersuchung empirische Erkenntnis im weiten Sinn haben können, können wir Bewusstsein von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt und Bewusstsein von diesen Elementen als Teilen desselben Ganzen haben. Da deutlich geworden ist, dass der Besitz der Fähigkeiten der gliedernden und der bewahrenden Rekognitionssynthesis eine notwendige Bedingung der Möglichkeit solchen Bewusstseins ist, kann die Annahme dieser Fähigkeiten als gerechtfertigt gelten. Die Rechtfertigung dieser Annahme erfordert keine stärkeren Voraussetzungen als die beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung und insbesondere die Möglichkeit von empirischer Erkenntnis im weiten Sinn. Diese Fähigkeiten, so ist zu ergänzen, können zugleich als transzendentale Synthesisfähigkeiten gelten. Denn transzendental sind wie gesehen diejenigen Synthesisfähigkeiten, deren Besitz eine notwendige Bedingung der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung ist. 48 Die Rekonstruktion des Aufweises der Synthesisfähigkeiten der Apprehension, Reproduktion und Rekognition sowie ihrer verschiedenen Aspekte ist damit abgeschlossen. Kant selbst macht diese systematische Zäsur im Text des zweiten Abschnitts des Deduktionskapitels nicht
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Das Vergleichen war lediglich in der Rechtfertigung der Annahme der wiedervorführenden Synthesis der Reproduktion von Bedeutung; siehe oben S. 149. R 2876 (1776/8?), AA 16.555.8. Vgl. dazu oben Abschnitt 4.5.3, S. 130.
5.4 Die Synthesis der Rekognition
163
kenntlich. Denn er weist in dem Abschnitt Von der Synthesis der Rekognition im Begriffe nicht nur die dritte und letzte derjenigen Synthesisfähigkeiten auf, die zur Dimension der Verschiedenartigkeit der Einbildungskraft gehören, sondern er versammelt unter derselben Überschrift auch eine Reihe von Überlegungen, die im Ausgang von den herausgestellten Synthesisfähigkeiten, vor allem der Synthesis der Rekognition, in Richtung auf das Beweisziel der Deduktion fortschreiten. Diese Überlegungen lassen sich m. E. in zwei Gruppen einteilen. Den Anknüpfungspunkt für die Überlegungen der ersten Gruppe bildet die gliedernde und den für die Überlegungen der zweiten die bewahrende Synthesis der Rekognition. Ich werde nun damit beginnen, die Überlegungen der ersten Gruppe zu rekonstruieren. 49 5.4.2 Die dreifache Synthesis, Begriffe und Regeln Die Fähigkeit zu gliedernden Rekognitionssynthesen zu besitzen, bedeutet, in der Lage zu sein, solche Synthesen zu vollziehen. Gliedernde Rekognitionssynthesen sind oben als diejenigen Leistungen eingeführt worden, mit deren Hilfe wir Bewusstsein von einem Ganzen als aus Elementen (Teilen) zusammengesetzt bzw. von diesen Elementen als Teilen desselben Ganzen gewinnen. In die Erzeugung solchen Bewusstseins sind aber offenbar nicht nur Synthesisleistungen der gliedernden Rekognition, sondern auch solche der Apprehension und präsenthaltenden Reproduktion involviert. Denn ohne diese Leistungen könnten wir weder in dem gegebenen Mannigfaltigen Elemente ausmachen noch diese Elemente in Hinblick auf die Vorstellung eines Ganzen gegenwärtig halten und zusammennehmen. Man kann deshalb von einer ‚dreifachen Synthesis der Einbildungskraft‘ sprechen, die die Komponenten der Apprehension, präsenthaltenden Reproduktion und gliedernden Rekognition besitzt und durch die ein Bewusstsein von einem Ganzen als aus Elementen zusammengesetzt bzw. von diesen Elementen als Teilen des Ganzen erzeugt wird. 50 Während der Besitz der Fähigkeit der gliedernden Rekognitionssynthesis, der Besitz der Fähigkeit der Apprehensionssynthesis und der Besitz der Fähigkeit der präsenthaltenden Reproduktionssynthesis jeweils
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50
Die Überlegungen der ersten Gruppe sind das Thema der beiden folgenden Abschnitte (5.4.2 u. 5.4.3); die Überlegungen der zweiten Gruppe werden in den darauf folgenden Abschnitten diskutiert (5.4.4 u. 5.5). Dabei kommt dem Abschnitt 5.5 eine besondere Bedeutung zu. Denn dort wird es um das stärkste Deduktionsargument gehen, das Kant im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels aufbietet (A 108). Ich werde weiter unten (S. 178) verdeutlichen, dass auch die Komponente der bewahrenden Rekognition zur dreifachen Synthesis zu zählen ist.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
eine notwendige Bedingung der Möglichkeit solchen Bewusstseins ist, ist der Besitz der Fähigkeit derjenigen Synthesis, die aus diesen Komponenten besteht, d. h. der Besitz der Fähigkeit der dreifachen Synthesis, eine hinreichende Bedingung der Möglichkeit solchen Bewusstseins. Und die Ausübung dieser Fähigkeit erzeugt ein solches Bewusstsein. Als der nächste Schritt, den Kant im Abschnitt Von der Synthesis der Rekognition im Begriffe unternimmt, muss die These gelten: Um Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt und Bewusstsein von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen gewinnen zu können, sind Begriffe erforderlich. Diese These lässt sich anhand von Beispielen konkretisieren. Sich ein Ganzes von Elementen, die man im Durchlaufen eines Mannigfaltigen ausgemacht hat, als aus diesen Elementen zusammengesetzt vorzustellen, kann beispielsweise heißen, sich ein Haus als aus Dach, Tür, Fenstern etc. bestehend vorzustellen oder sich einen Satz als so-und-soviele Wörter umfassend vorzustellen. Und sich im Durchlaufen eines Mannigfaltigen ausgemachte Elemente als Teile desselben Ganzen vorzustellen, kann beispielsweise heißen, sich solche Elemente als Dach, Tür, Fenster etc. eines Hauses oder sich solche Elemente als erstes, zweites, drittes usw. Wort eines Satzes vorzustellen. Für jeden dieser Fälle ist charakteristisch, dass etwas als F vorgestellt wird (wobei ‚F‘ für einen Begriff steht). Daraus lassen sich zwei Konsequenzen ziehen. Erstens können wir nur dann Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt und Bewusstsein von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen gewinnen, wenn wir über Begriffe verfügen; und zweitens ist jedes solche Bewusstsein ein begriffliches bzw. ein durch Begriffe bestimmtes Bewusstsein. Diese beiden Konsequenzen lassen sich zu den beiden Punkten in Beziehung setzen, die sich eingangs dieses Abschnitts hinsichtlich der dreifachen Synthesis der Einbildungskraft ergaben. Dort zeigte sich erstens, wenn wir die Fähigkeit zur dreifachen Synthesis besitzen, dann können wir ein Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt und von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen gewinnen, und zweitens, dass ein solches Bewusstsein durch Ausübung dieser Fähigkeit erzeugt wird. Nimmt man nun diese beiden Punkte mit den beiden zuvor genannten Konsequenzen zusammen, so folgt erstens: wenn wir die Fähigkeit zur dreifachen Synthesis besitzen, dann verfügen wir über Begriffe – und zweitens: durch die Ausübung dieser Fähigkeit wird ein begriffliches Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt und von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen erzeugt. Wie gleich anhand von Kants Beispiel des Zählens deutlich wird, ist es vor allem die zweite der beiden zuletzt genannten Folgerungen, auf die es
5.4 Die Synthesis der Rekognition
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Kant ankommt. Im Ausgang von dieser Folgerung führt Kant den Begriff der Regel der dreifachen Synthesis der Einbildungskraft ein. Der dafür maßgebliche Gedanke lässt sich folgendermaßen formulieren: Ein begriffliches Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt und von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen kann nur dann durch Ausübung der Fähigkeit zur dreifachen Synthesis erzeugt werden, wenn diese Ausübung nach einer Regel vorgestellt werden kann. Kants Beispiel des Zählens lautet folgendermaßen: „Vergesse ich im Zählen: daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zu einander von mir hinzugetan worden sind, so würde ich die Erzeugung der Menge, durch diese sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem, mithin auch nicht die Zahl erkennen; denn dieser Begriff besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis.“ (A 103)
Das Zählen der Elemente einer Menge wird von Kant als „sukzessive Hinzutuung von Einem zu Einem“ und damit als Synthesis beschrieben. Bei der Synthesishandlung des Zählens muss es sich um eine dreifache Synthesis handeln. Zähle ich beispielsweise die Wörter des vorigen Satzes, so muss ich diese Wörter in irgendeiner Reihenfolge individuieren (Apprehensionskomponente), außerdem muss ich, wenn ich fortfahre, das gerade individuierte Wort präsent halten (Reproduktionskomponente), und die Gruppe der durch reproduktive Vorstellungen präsent gehaltenen Wörter als so-und-soviele Wörter umfassend vorstellen (Rekognitionskomponente). Kann ich mich nun, wenn ich ein neues Wort des Satzes individuiert habe, nicht daran erinnern, dass ich die vorher beim Zählen apprehendierten und nun präsent gehaltenen Wörter sukzessive als sound-soviele Wörter bestimmt habe, so könnte ich das Zählen der Wörter des Satzes nicht fortsetzen, würde also kein durch den Anzahlbegriff bestimmtes Bewusstsein von diesem Satz als so-und-soviele Wörter umfassend gewinnen, d. h. „nicht die Zahl erkennen“. Ein erfolgreiches Zählen der Wörter des Satzes kann jedoch nicht nur daran scheitern, dass ich, wenn ich ein neues Wort des Satzes individuiert habe, mich nicht daran erinnern kann bzw. vergesse, dass ich die vorher beim Zählen vorgestellten Wörter des Satzes als so-und-soviele Wörter bestimmt habe. Um bei dem neuen Wort etwa „fünf“ sagen zu können, muss ich mich nicht nur daran erinnern können, dass ich bereits vier Wörter des Satzes gezählt habe bzw. vorher „vier“ sagte, sondern ich muss auch wissen, dass 4 der Vorgänger von 5 ist. Erfolgreiches Zählen setzt ein Wissen um die Vorgänger-/Nachfolger-Relation der Zahlen, ein Wissen um die Regel des Zählens voraus. Ich kann daher die Anzahl der Wörter eines Satzes nicht erkennen, wenn ich die auf das Mannigfaltige des Satzes bezogene dreifache Synthesis nicht nach der Regel des Zählens vorstellen kann. Genau diesen Punkt spricht Kant am Ende des obigen Zitats an:
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Der „Begriff“ der Anzahl der Elemente einer Menge „besteht lediglich in dem Bewußtsein dieser Einheit der Synthesis.“ Wenn wir die dreifache Synthesis nicht durchgehend in einer und derselben Weise, d. h. nach der Regel des Zählens, vorstellen könnten, dann könnten wir durch sie weder die verschiedenen Elemente als das erste, zweite, dritte usw. Element derselben Menge noch die Anzahl der Elemente der Menge bestimmen. Kant will durch das Beispiel des Zählens auf einen allgemeinen Zusammenhang aufmerksam machen. Dieser Zusammenhang besteht für ihn darin, dass wir durch die dreifache Synthesis nur dann ein begriffliches Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt und von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen gewinnen können, wenn wir diese Synthesis nach einer Regel vorstellen können. Verdeutlicht man sich diesen Zusammenhang lediglich aus der Perspektive des Zählbeispiels, so besteht jedoch die Gefahr, ihn und näherhin das Verhältnis zwischen dreifacher Synthesis und Regel misszuverstehen. Denn Zählen ist in einem gewissen Sinn ein untypischer Fall dreifacher Synthesis. Wenn wir zählen, visieren wir mit der entsprechenden dreifachen Synthesis von Beginn an die Erkenntnis der Anzahl der Elemente einer Menge an. Dem Zählen, „vornehmlich ist es in größeren Zahlen merklicher“ (A 78, B 104), etwa dem Zählen der Anzahl der Buchstaben dieses Satzes, geht der Entschluss zu zählen voraus. 51 Sich die dreifache Synthesis nach der Regel des Zählens vorzustellen, bedeutet daher, die gesamte Synthesis, all ihre Phasen nach dieser Regel zu vollziehen. Und das bedeutet insbesondere, die verschiedenen Elemente bereits nach der Regel des Zählens als erstes, zweites, drittes usw. Element der Menge zu apprehendieren. In Fällen des Wahrnehmens allerdings stellt sich die Situation anders dar. Wenn wir in einem gegebenen Mannigfaltigen etwa ein Haus als aus Teilen bestehendes Ganzes wahrnehmen (was Kant zufolge nur sukzessiv möglich ist), wissen wir nicht unbedingt schon zu Beginn des Prozesses der dreifachen Synthesis, was wir im Begriff sind wahrzunehmen. Wir werden uns möglicherweise erst im Laufe oder am Ende dieses Prozesses der Regel der Wahrnehmung eines Hauses bewusst und können dann nach dieser Regel auch diejenigen Elemente bestimmen, die wir in diesem Prozess zuvor schon (also ohne ein Bewusstsein der Regel) apprehendiert haben. Die dreifache Synthesis lässt sich in diesem Fall, obwohl sie in ihren ersten Phasen nicht im Bewusstsein der Regel der Wahrnehmung eines Hauses vollzogen wurde, auch hinsichtlich dieser Phasen ex post nach dieser Regel vorstellen. Das bedeutet, diese Phasen und die darin apprehen-
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Dem Zählen liegt, wie H. Hoppe zu Recht betont, ein „Abzählplan“ bzw. „Abzählvorhaben“ zugrunde (Hoppe 1998, 168).
5.4 Die Synthesis der Rekognition
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dierten, nun präsent gehaltenen Elemente werden anhand der Regel auf eine bestimmte Weise reproduziert. Das allgemeine Verhältnis zwischen dreifacher Synthesis und Regel ist so zu konzipieren, dass die dreifache Synthesis nach einer Regel vorgestellt werden kann. Sich die dreifache Synthesis nach einer Regel vorzustellen, bedeutet im allgemeinen, die verschiedenen Phasen der Synthesis und die darin apprehendierten und dann präsent gehaltenen Elemente auf eine bestimmte Weise, also auf der Regel basierend zu reproduzieren. 52 Das gilt nicht nur für die Fälle des Wahrnehmens, sondern auch für das Zählen. Denn im Zählen darf ich nicht ‚vergessen‘, „daß die Einheiten, die mir jetzt vor Sinnen schweben, nach und nach zu einander von mir hinzugetan worden sind“ (A 103). Ich muss also im Zählen, die vorigen Phasen des Zählens als Zählen so-und-sovieler Elemente und die darin ausgemachten Elemente als so-und-soviele reproduzieren können. Da für das Zählen (anders als in anderen Fällen dreifacher Synthesis) darüber hinaus gilt, dass die Einheiten von Beginn an regelbasiert apprehendiert werden, ist das Zählen ein untypischer Fall dreifacher Synthesis. Im allgemeinen muss es sich bei der Regel, nach der wir die dreifache Synthesis vorstellen können, wenn wir durch diese Synthesis ein begriffliches Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt und von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen gewinnen können, lediglich um eine Regel der Reproduktion handeln. 5.4.3 Regeln der notwendigen Reproduktion Die zentralen Überlegungen des vorigen Abschnitts lauteten: Jedes Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt und jedes Bewusstsein von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen ist ein begriffliches Bewusstsein. Jedes derartige Bewusstsein wird durch eine dreifache Synthesis der Einbildungskraft erzeugt. Das ist aber nur dann möglich, wenn diese Synthesis nach einer Regel vorgestellt werden kann. Bei dieser Regel handelt es sich in jedem Fall um eine Regel der Reproduktion. Der nächste wichtige Schritt in Kants Argumentation besteht in der Begründung der These, dass die Regel der Reproduktion, nach der eine dreifache Synthesis vorstellbar ist, einer besonderen Metaregel untersteht oder eine besondere Komponente besitzt, aufgrund der sie eine notwendige Reproduktionsregel ist und die wohl letztlich als kategoriale verstanden
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Eine solche Phase wird als ein Wahrnehmen beispielsweise der Tür des Hauses reproduziert, und das darin ausgemachte Element als Tür des Hauses.
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werden soll. Diese These lässt sich einer Passage entnehmen, in der Kant erklärt, dass „die Anschauung [...] durch eine solche Funktion der Synthesis nach einer Regel hat hervorgebracht werden können, welche die Reproduktion des Mannigfaltigen a priori notwendig [...] macht.“ (A 105)
Was ich gerade eine besondere ‚Metaregel‘ bzw. ‚Komponente‘ der Regel der Reproduktion genannt habe, bezeichnet Kant hier als diejenige „Funktion der Synthesis [...], welche die Reproduktion des Mannigfaltigen a priori notwendig [...] macht.“ 53 Und die Regel der Reproduktion, nach der die dreifache Synthesis vorstellbar ist, bezeichnet er als Regel, nach der die Anschauung „hat hervorgebracht werden können“. 54 Die von Kant in der zitierten Passage vertretene These lässt sich damit folgendermaßen formulieren: (NR)
Die Regel, nach der eine dreifache Synthesis vorstellbar ist, untersteht einer Metaregel oder besitzt eine Komponente, aufgrund der sie nicht nur eine Regel der Reproduktion, sondern eine Regel der notwendigen Reproduktion ist.
Kant scheint mit (NR) die Hoffnung zu verbinden, letztlich nachweisen zu können, dass die genannte Metaregel bzw. die genannte Komponente als kategoriale verstanden werden muss. Vor diesem Hintergrund kommt der Frage, wie sich (NR) begründen lässt, im Rahmen der Rekonstruktion von Kants Deduktionsargumentation große Bedeutung zu. Im Text lassen sich zwei Ansätze zu einer solchen Begründung ausmachen. Der erste Ansatz findet sich in den der zitierten Passage (A 105) vorangehenden und der zweite in den auf sie folgenden Ausführungen. Im Folgenden werde ich beide nacheinander darstellen und ihre Erfolgsaussichten für ein erfolgreiches Deduktionsargument bewerten.
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Der Status, den der Ausdruck ‚a priori‘ hier hat, ist nicht ganz klar. Bezieht sich ‚a priori‘ auf ‚Mannigfaltiges‘, so wäre von dem Mannigfaltigen nur der reinen Anschauung die Rede (vgl. A 77, B 103). Diese Deutung ist jedoch unbefriedigend, weil es Kant im Rahmen der Deduktionsargumentation nicht nur um reine Synthesen gehen darf. Ist ‚a priori‘ dagegen eine nähere Bestimmung von ‚notwendig‘, so bleibt unklar, worin diese nähere Bestimmung bestehen soll. Ich halte den Ausdruck ‚a priori‘ hier für redundant. Das Beispiel des Körpers, das Kant weiter unten gibt, bestätigt diese Auffassung. Er erklärt dort, dass der Begriff des Körpers bei „gegebenen Erscheinungen die notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen derselben [...] vorstellt.“ (A 106) Auf dieses Beispiel werde ich auf S. 173 zurückkommen. Kant sagt nicht, dass die Anschauung nach einer Regel hervorgebracht wurde, sondern dass sie nach einer Regel hat hervorgebracht werden können. Das bestätigt noch einmal den im vorigen Abschnitt betonten Punkt, dass es sich bei dieser Regel um eine Regel der Reproduktion (und nicht unbedingt um eine Regel schon der Apprehension) handelt.
5.4 Die Synthesis der Rekognition
169
Der erste Ansatz zu einer Begründung von (NR) steht vor dem Hintergrund von Kants ‚Objektanalyse‘, d. h. seiner Analyse des „Ausdruck[s] eines Gegenstandes der Vorstellungen“ und „unser[es] Gedanke[ns] von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand“ (A 104). Um diesen Begründungsansatz einschätzen und seine Prämissen identifizieren zu können, wird es erforderlich sein, die Objektanalyse nachzuvollziehen. Kant visiert mit dem „Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellungen“ (ebd.) einen starken Gegenstandsbegriff an. Denn der Gegenstand der Vorstellungen, um den es ihm geht, soll „etwas von allen unsern Vorstellungen Unterschiedenes sein“ (A 105). Es liegt deshalb nahe, diesen Gegenstand als „einen der Erkenntnis korrespondierenden“ Gegenstand in Ansatz zu bringen (A 104). Denn Gegenstände, die der Erkenntnis korrespondieren oder nicht korrespondieren können, müssen von ihr verschieden sein. Die Ausgangsfrage, „was man denn unter dem Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellungen meine“, wird damit zur Frage, was es bedeutet, „wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstande redet“ (ebd.). Kants lapidare Antwort auf diese Frage lautet: „Es ist leicht einzusehen, daß dieser Gegenstand nur als etwas überhaupt = X müsse gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis gegen über setzen könnten.“ (ebd.) Im Hintergrund dieser Antwort steht Kants Bewusstsein um ein Problem, das mit der Konzeption einer Korrespondenz zwischen Erkenntnis und Gegenstand zusammenhängt. 55 In der Jäsche-Logik ist zu lesen: „Wahrheit, sagt man, besteht in der Übereinstimmung der Erkenntniß mit dem Gegenstande. Dieser bloßen Worterklärung zufolge soll also mein Erkenntniß, um als wahr zu gelten, mit dem Object übereinstimmen. Nun kann ich aber das Object nur mit meinem Erkenntnisse vergleichen, dadurch daß ich es erkenne. Meine Erkenntniß soll sich also selbst bestätigen, welches aber zur Wahrheit noch lange nicht hinreichend ist. Denn da das Object außer mir und die Erkenntniß in mir ist, so kann ich immer doch nur beurtheilen: ob meine Erkenntniß vom Object mit meiner Erkenntniß vom Object übereinstimme. Einen solchen Cirkel im Erklären nannten die Alten Diallele.“ 56
Die Wahrheit einer Erkenntnis kann demnach nicht durch einen Vergleich zwischen der Erkenntnis und einem irgendwie vorepistemisch zugänglichen Gegenstand festgestellt werden. Wir müssen den Gegenstand erkennen, um ihn mit einer Erkenntnis vergleichen zu können. Übereinstim-
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Vgl. dazu Carl 1992, 168 f. Anm. 63 sowie Klein 2002, 130 f., der ebenfalls auf das oben im Text folgende Zitat aufmerksam macht. Logik, AA 9.50. Wegen des umstrittenen Status der Jäsche-Logik (dazu Reich 1948, 21/4) sei außerdem auf R 2143 (1773/8?) hingewiesen: „Mein Urtheil soll mit dem obiect übereinstimmen. Nun kan ich das obiect nur mit meiner Erkentnis vergleichen dadurch, daß ich es erkenne. dialele.“ (AA 16.251)
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
mung oder Nichtübereinstimmung kann deshalb nur zwischen Erkenntnissen festgestellt werden. Der von allen unseren Vorstellungen verschiedene Gegenstand, mit dem die Erkenntnis korrespondieren soll, ist daher unabhängig von unserer Erkenntnis gar nicht bestimmbar und vor diesem Hintergrund „als etwas überhaupt = X“ zu konzipieren. Indem Kant die Auffassung vertritt, dass Wahrheit nicht durch den Vergleich zwischen der Erkenntnis und dem Gegenstand selbst, sondern nur durch den Vergleich verschiedener Erkenntnisse desselben Gegenstandes festgestellt werden kann 57, versteht er den der Erkenntnis korrespondierenden Gegenstand nicht nur als etwas, das unabhängig von unserer Erkenntnis nicht bestimmbar ist, sondern auch als etwas, das ein gemeinsamer Bezugspunkt vieler verschiedener Erkenntnisse ist. Wenn eine Erkenntnis dem Gegenstand korrespondiert, dann korrespondieren ihm mehrere Erkenntnisse. In Hinblick auf „unser[en] Gedanken von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand“ (A 104) lässt sich das so ausdrücken: Wenn sich eine Erkenntnis auf einen Gegenstand bezieht, dann ist sie Teil der „vollständige[n] Erfahrung“ bzw. Erkenntnis dieses Gegenstandes (vgl. A 8). 58 Und eine Erkenntnis ist genau dann Teil der vollständigen Erkenntnis eines Gegenstandes, wenn es notwendig ist, dass sie mit allen anderen Teilen der vollständigen Erkenntnis dieses Gegenstandes übereinstimmt bzw. vereinbar ist. Dies ist der Sinn, in dem Kant erklärt, „daß unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit bei sich führe“ (A 104); für verschiedene Erkenntnisse, die auf denselben Gegenstand bezogen sind, gilt,
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Zu dieser Auffassung siehe auch die Vorlesungsnachschrift Logik Philippi: „Ich kann den Gegenstand selbst mit meiner Erkenntnis nicht vergleichen, sondern nur die Erkenntnis des Gegenstandes mit der Erkenntnis desselben Gegenstandes, und wenn sie stimmen, so sage ich, die Erkenntnis ist wahr [...]. Die Wahrheit ist die Zusammenstimmung der Erkenntnisse vom Gegenstande mit sich selbst.“ (AA 24.387) Mit diesem letzten Satz vertritt Kant (sofern die Vorlesungsnachschrift seine Position adäquat wiedergibt) eine Kohärenztheorie der Wahrheit. Auf die Frage, ob Kant ‚Wahrheit‘ insgesamt eher kohärenz- oder korrespondenztheoretisch interpretiert, werde ich hier nicht eingehen. Ersteres ist die Auffassung etwa von G. Prauss (1980, 165/71) und W. Becker (1984, 59/63), letzteres die von T. Nenon (1986, insbes. 209/31). Kant führt den Begriff der vollständigen Erfahrung eines Gegenstandes im Kontext seiner Diskussion synthetischer Urteile a posteriori ein. Im Unterschied zu analytischen Urteilen, so Kant, gilt für synthetische Urteile, dass „ich außer dem Begriff des Subjekts noch etwas anderes (X) haben müsse, worauf sich der Verstand stützt, um ein Prädikat, das in jenem Begriffe nicht liegt, doch als dazu gehörig zu erkennen. [/] Bei empirischen oder Erfahrungsurteilen hat es hiermit gar keine Schwierigkeit. Denn dieses X ist die vollständige Erfahrung von dem Gegenstande, den ich durch den Begriff A denke, welcher nur einen Teil dieser Erfahrung ausmacht.“ (A 8) Der Begriff der vollständigen Erfahrung eines Gegenstandes kann einerseits als Idee gelten, auf die hin die Erkenntnisbemühungen um diesen Gegenstand auszurichten sind, und andererseits als Inbegriff der bisherigen Erfahrung dieses Gegenstandes.
5.4 Die Synthesis der Rekognition
171
dass sie „notwendiger Weise in Beziehung auf diesen unter einander übereinstimmen, d. i. diejenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht.“ (A 104 f.) Kant bringt seine Objektanalyse zu einem provisorischen Abschluss 59, indem er erklärt: „Es ist aber klar, daß [...] die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht, nichts anders sein könne, als die formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen“ (A 105). Mit der „Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht“, ist keine Einheit des Gegenstandes gemeint, sondern diejenige Einheit der Erkenntnis, die im Fall der Beziehung dieser Erkenntnis auf einen Gegenstand vorliegen muss, d. h. die notwendige Übereinstimmung bzw. Vereinbarkeit dieser Erkenntnis mit allen Teilen der vollständigen Erkenntnis dieses Gegenstandes. Diese Einheit wird in dem genannten Zitat mit einer gewissen „formale[n] Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen“ identifiziert, die in dem darauf folgenden Satz dann als eine gewisse „synthetische Einheit“, die „wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung [...] bewirkt haben“, bezeichnet wird (ebd.). Wenn Kant selbst auch unklar lässt, worin diese formale oder synthetische Einheit genau bestehen soll 60, so wird doch deutlich, worauf er hinaus will: Die Möglichkeit dieser formalen oder synthetischen Einheit soll eine hinreichende Bedingung für (NR) sein. Denn diese Einheit, so Kant, wäre „unmöglich, wenn die Anschauung nicht durch eine solche Funktion der Synthesis nach einer Regel hat hervorgebracht werden können, welche die Reproduktion des Mannigfaltigen a priori notwendig [...] macht.“ (A 105) Damit ist zumindest die Struktur des Begründungsansatzes für (NR) deutlich geworden, den Kant vor dem Hintergrund seiner Objektanalyse formuliert: In diesem Ansatz beabsichtigt Kant, (NR) im Rekurs darauf zu begründen, dass eine gewisse formale oder synthetische Einheit möglich ist, die selbst zwar nicht weiter spezifiziert wird, von Kant aber – und darauf kommt es hier an – mit derjenigen Einheit identifiziert wird, die im Fall der Beziehung einer Erkenntnis auf einen von ihr unterschiedenen Gegenstand vorliegen muss. (NR) hängt diesem Begründungsansatz zufolge also davon ab, dass eine solche Beziehung möglich ist, und damit davon, dass objektive Erkenntnis möglich ist. Das ist jedoch eine zu starke Prämisse. Denn soll (NR) einen Beitrag zu einem Deduktionsargument
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Ich spreche von einem ‚provisorischen‘ Abschluss, da Kant diese Analyse an einer späteren Stelle des Rekognitionsabschnitts – nach der Präsentation des zentralen Arguments des Abschnitts (A 108) – wieder aufnehmen und präzisieren wird. Kant erklärt dort: „Nunmehro werden wir auch unsere Begriffe von einem Gegenstande überhaupt richtiger bestimmen können [...]“ (A 108). Zu Kants definitivem Abschluss seiner Objektanalyse siehe unten S. 177 Anm. 66. Siehe dazu Carl 1992, 172 Anm. 66.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
liefern können und soll dieses Argument nicht auf der Prämisse basieren, dass objektive Erkenntnis möglich ist, so darf auch (NR) nicht im Rückgriff auf diese Prämisse begründet werden. Der erste Begründungsansatz, den Kant für (NR) formuliert, ist daher unbefriedigend. Kants zweiter Ansatz zu einer Begründung der These (NR) lässt sich einigen seiner Ausführungen im Anschluss an das Zitat von A 105, aus dem sich die These ergab, entnehmen. Kant diskutiert dort zwei Beispiele, den Begriff des Dreiecks und den Begriff des Körpers. Im Hintergrund beider Beispiele stehen folgende Auffassungen Kants: „Alles Erkenntnis erfordert einen Begriff“ und ein Begriff ist etwas, „was zur Regel dient.“ (A 106). Diese Auffassungen lassen sich vor dem Hintergrund der bisherigen Resultate so verstehen, dass bereits jedes Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt und jedes Bewusstsein von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen einen Begriff erfordert, näherhin sogar ein begriffliches Bewusstsein ist, und dass jedes solche begriffliche Bewusstsein durch eine dreifache Synthesis erzeugt wird, die nach einer Regel vorstellbar ist. Der geometrische Begriff des Dreiecks ist der „Begriff von einer Figur, die in drei geraden Linien eingeschlossen ist“ (A 716, B 744). Die Regel, zu der der Begriff dient, ist die Regel, die bestimmt, wie solche Linien zu einem Dreieck zusammenzusetzen sind bzw. die allgemeine Regel der anschaulichen Darstellung von Dreiecken. „So denken wir uns einen Triangel als Gegenstand, indem wir uns der Zusammensetzung von drei geraden Linien nach einer Regel bewußt sind, nach welcher eine solche Anschauung jederzeit dargestellt werden kann.“ (A 105) Wie die Regel des Zählens kann die Darstellungsregel für Dreiecke als eine Regel gelten, nach der die dreifache Synthesis nicht nur vorgestellt, sondern vollzogen werden kann. Gleichwohl muss sie wie die Regel des Zählens als Regel auch der Reproduktionskomponente der dreifachen Synthesis gelten. Wenn ich die zweite Linie apprehendiere oder ziehe, muss ich die erste als eine Linie, die einen Schnittpunkt mit ihr hat, reproduzieren können; und wenn ich die dritte Linie apprehendiere oder ziehe, muss ich die beiden vorigen Linien als Linien, die einen Schnittpunkt mit ihr haben, reproduzieren können. Mit (NR) behauptet Kant, dass die Regel, nach der eine dreifache Synthesis vorstellbar ist, einer Metaregel untersteht oder eine Komponente besitzt, aufgrund der sie eine Regel der notwendigen Reproduktion ist. In Hinblick auf das Dreieckbeispiel lässt sich diese Behauptung folgendermaßen einholen. Die Darstellungsregel für Dreiecke, nach der einige dreifache Synthesen vorstellbar sind, ist deshalb eine Regel der notwendigen Reproduktion, weil sie insgesamt eine apriorische Regel ist. Das hängt damit zusammen, dass Dreiecke mathematische, näherhin geometrische
5.4 Die Synthesis der Rekognition
173
Gegenstände sind, die Kant zufolge gänzlich in der reinen Anschauung dargestellt werden können. Da die Darstellung eines Gegenstandes in der reinen Anschauung nicht von empirischen Bedingungen abhängt, handelt es sich bei ihr um eine apriorische Darstellung. 61 Die Regel einer apriorischen Darstellung ist aber eine apriorische Regel. Und sofern diese Regel eine Regel der Reproduktion ist, ist sie eine Regel der notwendigen Reproduktion. Das Dreieckbeispiel ist in Hinblick auf (NR) aber insofern problematisch, als sich die Notwendigkeit der Reproduktion hier dem apriorischen Status der Darstellungsregel für Dreiecke verdankt, der wiederum darin begründet ist, dass die Begriffe mathematischer Gegenstände reine sinnliche Begriffe sind. Auf diese Weise wird eine wesentliche Grenze der Verallgemeinerbarkeit des Dreieckbeispiels deutlich. Denn ist unser Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt oder von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen nicht durch reine, sondern durch empirische Begriffe bestimmt, so scheint die Regel, nach der die dreifache Synthesis, die dieses Bewusstsein erzeugt, vorstellbar ist, zunächst nur als eine empirische Regel gelten zu können. Um zu zeigen, dass auch eine solche Regel als Regel der notwendigen Reproduktion gelten kann, muss anders als im Dreieckbeispiel argumentiert werden. Damit zu Kants Beispiel für einen empirischen Begriff, den des Körpers: „So dient der Begriff vom Körper nach der Einheit des Mannigfaltigen, welches durch ihn gedacht wird, unserer Erkenntnis äußerer Erscheinungen zur Regel. Eine Regel der Anschauungen kann er aber nur dadurch sein: daß er bei gegebenen Erscheinungen die notwendige Reproduktion des Mannigfaltigen derselben, mithin die synthetische Einheit in ihrem Bewußtsein, vorstellt. So macht der Begriff des Körpers bei der Wahrnehmung von etwas außer uns, die Vorstellung der Ausdehnung, und mit ihr die der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc. notwendig.“ (A 106)
Der Begriff des Körpers ist eine „Regel der Anschauung“ bzw. „dient“ zu einer solchen Regel (ebd.). Wer über diesen Begriff verfügt, weiß um eine Regel der Reproduktion, nach der einige dreifache Synthesen vorgestellt werden können. Kant spricht offenbar auch dieser Regel eine Komponente zu, aufgrund der er sich berechtigt sieht, nicht nur von der Reproduktion, sondern von der „notwendige[n] Reproduktion des Mannigfaltigen“ zu sprechen (ebd., Hvh. v. Verf., M. W.). Worin ist die Annahme einer sol-
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Kant nennt eine solche, für die Mathematik charakteristische apriorische Darstellung ‚Konstruktion‘. „Einen Begriff aber konstruieren, heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen.“ (A 713, B 741) – Für eine ausführliche Untersuchung zu Kants Konzept der Darstellung siehe Beaufret 1973, wo zwei indirekte Arten von Darstellung – das Beispiel und das Symbol – sowie zwei direkte – die Konstruktion und das Schema – voneinander unterschieden werden.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
chen notwendigen Komponente dieser Regel der Reproduktion begründet? Darin, so Kant, dass „der Begriff des Körpers, bei der Wahrnehmung von etwas außer uns, die Vorstellung der Ausdehnung, und mit ihr der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc. notwendig“ macht (ebd., Hvh. v. Verf., M. W.). Das Bewusstsein von einer Erscheinung als Körper wird durch eine dreifache Synthesis erzeugt, die nach derjenigen Regel vorstellbar ist, zu der der Begriff des Körpers dient. Kant zufolge ist diese Regel insofern eine Regel der notwendigen Reproduktion, als der Begriff des Körpers analytische Merkmale besitzt. Denn die „Merkmale der Ausdehnung, der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc.“, werden von Kant an anderer Stelle als solche verstanden, durch die ich „den Begriff des Körpers [...] analytisch [...] erkennen kann“ (A 8, B 12). 62 Wird eine dreifache Synthesis nach der Regel der Wahrnehmung von Körpern vorgestellt, so muss das durchlaufene Mannigfaltige als ausgedehnt, undurchdringlich und gestalthaft reproduziert werden, weil dies analytische Merkmale von ‚Körper‘ sind. Aus dem Körperbeispiel lässt sich folgende allgemeine Konsequenz in Hinblick auf (NR) ziehen: Ist unser Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt bzw. von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen durch einen empirischen Begriff bestimmt, so ist zwar die Regel, nach der die dreifache Synthesis, die dieses Bewusstsein erzeugt, vorstellbar ist, eine empirische Regel; dessen ungeachtet ist sie aber insofern eine Regel der notwendigen Reproduktion, als empirische Begriffe analytische Merkmale besitzen. Auf diese Weise ergibt sich nicht nur im Fall reiner sinnlicher Begriffe, sondern auch im Fall empirischer Begriffe (sofern diese analytische Merkmale besitzen) eine Begründung für (NR). Die These (NR) mag im Ausgang von Kants Dreieck- und Körperbeispiel auf diese Weise zwar als begründet gelten, diese Begründung enttäuscht jedoch die weitergehenden Hoffnungen, die mit einem Nachweis für (NR) verbunden waren. Obwohl jede Regel, nach der eine dreifache Synthesis vorstellbar ist, eine Komponente besitzen mag, aufgrund der sie eine Regel der notwendigen Reproduktion ist, hat die Begründung von (NR) nicht gezeigt, dass es eine Komponente gibt, die zu jeder solchen Regel gehört und aufgrund der sie eine Regel der notwendigen Reproduktion ist. Und die Begründung hat auch nicht gezeigt, dass es eine Metaregel gibt, denen alle solche Regeln unterstehen und aufgrund der sie Regeln der notwendigen Reproduktion sind. Der Nachweis einer derartigen, all diesen Regeln gemeinsamen Komponente oder Metaregel wäre aber erfor-
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Zu Kants Konzeption von analytischen und synthetischen Merkmalen eines Begriffs siehe Stuhlmann-Laeisz 1976, 91 f.
5.4 Die Synthesis der Rekognition
175
derlich, um zeigen zu können, dass diese Regeln von den Kategorien her bzw. kategorial zu verstehen sind. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die beiden Begründungsansätze, die Kant für (NR) formuliert, keinen Beitrag zum Erreichen des Zieles der Deduktionsargumentation leisten können, und zwar auch dann nicht, wenn man unterstellt, dass sie erfolgreich sind. Denn der erste Begründungsansatz, in den Kants Objektanalyse einfließt, bringt mit der Möglichkeit objektiver Erkenntnis eine zu starke Prämisse ins Spiel, um im Deduktionsargument auf (NR) zurückgreifen zu können. Und der zweite, an den Begriffen des Dreiecks und des Körpers orientierte Begründungsansatz für (NR) kann nur zeigen, dass jede reine oder empirische Regel, nach der die dreifache Synthesis vorstellbar ist, als Regel der notwendigen Reproduktion gelten kann, aber nicht, dass es eine Komponente oder Metaregel gibt, die für all diese Regeln identisch ist und aufgrund der sie Regeln der notwendigen Reproduktion sind. Es ist jedoch nicht einzusehen, wie bloß auf der Grundlage der Reinheit mathematischer Begriffe einerseits und der analytischen Merkmale empirischer Begriffe andererseits die Kategorialität der dreifachen Synthesis begründet werden soll. 5.4.4 Apperzeption und bewahrende Rekognition Der Gedankengang, in dem Kant die These (NR) aufstellt und die beiden dargelegten Ansätze zu ihrer Begründung formuliert, scheint sich damit als eine Sackgasse der Deduktionsargumentation herauszustellen. Doch vielleicht ist dieser Gedankengang in einer dem Text unangemessenen Perspektive rekonstruiert worden. Vielleicht war die im Hintergrund dieser Rekonstruktion stehende Vermutung falsch, dieser Gedankengang leiste einen unmittelbaren Beitrag zu Kants Deduktionsargument, und zwar die Begründung für einen Beweisschritt des Arguments selbst. Dafür, dass diese Vermutung tatsächlich falsch war, spricht nun, dass Kant im Anschluss an diesen Gedankengang die reine Apperzeption in seine Argumentation einführt (A 106 f.) und offenbar erst von ihr her das zentrale Deduktionsargument des zweiten Abschnitts des Deduktionskapitels formuliert (A 108). Vor diesem Hintergrund besteht die Funktion des genannten Gedankengangs nicht darin, einen unmittelbaren Beitrag zum Deduktionsargument zu leisten, sondern darin, Anhaltspunkte für die Einführung der reinen Apperzeption zu liefern und so auf den Punkt hinzuleiten, von dem her dieses Argument dann im nächsten Schritt entwickelt wird. Unmittelbar im Anschluss an das (im vorigen Abschnitt diskutierte) Beispiel des Begriffs des Körpers erklärt Kant:
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
„Aller Notwendigkeit liegt jederzeit eine transzendentale Bedingung zum Grunde. [.../] Diese ursprüngliche und transzendentale Bedingung ist nun keine andere, als die transzendentale Apperzeption.“ (A 106 f.)
Welches ist hier die „Notwendigkeit“, die das Stichwort für die Einführung der reinen Apperzeption, des transzendentalen Selbstbewusstseins gibt? Blickt man auf den im vorigen Abschnitt rekonstruierten Gedankengang zurück, so bieten sich zwei Möglichkeiten an. Die erste ergibt sich aus dem unmittelbar vor der Einführung des transzendentalen Selbstbewusstseins thematischen Körperbeispiel. In diesem Beispiel hatte Kant erklärt, dass „der Begriff des Körpers, bei der Wahrnehmung von etwas außer uns, die Vorstellung der Ausdehnung, und mit ihr die der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc. notwendig“ macht (A 106; Hvh. v. Verf., M. W.). Wenn wir etwas als Körper wahrnehmen, dann ist es demnach notwendig, es als ausgedehnt, undurchdringlich und gestalthaft vorzustellen, weil dies analytische Merkmale des Begriffs des Körpers sind (vgl. A 8, B 12). Warum es jedoch erforderlich ist, ein reines Selbstbewusstsein als transzendentale Bedingung, die dieser Notwendigkeit zugrunde liegt, einzuführen, bleibt unverständlich; und zwar nicht nur deshalb, weil Kants Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Merkmalen eines Begriffs fragwürdig ist 63, sondern weil auch dann, wenn man die Unterscheidung zugesteht, unklar bleibt, warum die semantische Annahme von analytischen Merkmalen von Begriffen einen subjektiven Grund haben muss. Die zweite Möglichkeit, die „Notwendigkeit“ zu verstehen, auf die Kant zurückgreift, um das transzendentale Selbstbewusstsein einzuführen, ergibt sich aus seiner Objektanalyse. In dieser Analyse hatte Kant erklärt, „[w]ir finden aber, daß unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit bei sich führe“ (A 104; Hvh. v. Verf., M. W.). Bei dieser Notwendigkeit handelt es sich um die notwendige Vereinbarkeit bzw. Übereinstimmung verschiedener Erkenntnisse desselben Gegenstandes. 64 Das Bestehen dieser Notwendigkeit hängt damit davon ab, dass objektive Erkenntnis möglich ist. Das ist jedoch in Hinblick auf die Einführung des transzendentalen Selbstbewusstseins und näherhin in Hinblick auf den Deduktionsbeweis problematisch. Denn wenn die Notwendigkeit, auf die sich Kant in der Einführung der Apperzeption beruft, von der Möglichkeit objektiver Erkenntnis abhängt,
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Beim Begriff des Körpers wird die Fragwürdigkeit dieser Unterscheidung besonders deutlich. Warum soll etwa ‚Undurchdringlichkeit‘ als analytisches Merkmal, ‚Schwere‘ aber nur als synthetisches Merkmal von ‚Körper‘ gelten? Vgl. dazu Cramer 1998, 72 f. Zur allgemeinen Kritik an der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen siehe den klassischen Aufsatz Quine 21963. Siehe dazu oben S. 170.
5.4 Die Synthesis der Rekognition
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dann hängt diese Einführung selbst von der Möglichkeit objektiver Erkenntnis ab. 65 Auf diese Weise müsste Kants im Ausgang vom transzendentalen Selbstbewusstsein argumentierender Deduktionsbeweis jedoch unbefriedigend bleiben, weil dieser Ausgangspunkt lediglich vor dem Hintergrund der zu starken Prämisse verständlich gemacht worden wäre, dass objektive Erkenntnis möglich ist. Allerdings lässt sich nicht übersehen, dass Kant auch die Auffassung vertritt, dass das transzendentale Selbstbewusstsein nicht von der Voraussetzung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis abhängt, sondern dass diese Möglichkeit umgekehrt erst durch es begründet werden soll. Das transzendentale Selbstbewusstsein soll „eine Bedingung sein, die vor aller Erfahrung vorhergeht, und diese selbst möglich macht“ (A 107). 66 Dass Kant die Möglichkeit objektiver Erkenntnis im Rekurs auf das transzendentale Selbstbewusstsein zu begründen beabsichtigt, macht erstens noch einmal deutlich, dass dieses Selbstbewusstsein nicht schon unter der Annahme dieser Möglichkeit eingeführt werden darf, und weist zweitens auf die systematische Bedeutung hin, die dieser Einführung zukommt: Das transzendentale Selbstbewusstsein wird von Kant als eine derjenigen subjektiven Quellen anvisiert, die die Gründe der Möglichkeit objektiver Erkenntnis enthalten sollen (vgl. A 94). Für die Rekonstruktion stellt sich damit die Aufgabe, eine akzeptable Alternative zu den beiden bisher diskutierten und unzureichenden Überlegungen zur Einführung dieses Selbstbewusstseins aufzuweisen. Der vorliegende Unterabschnitt wird sich nun genau dieser Aufgabe widmen. Im folgenden Abschnitt wird dann
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Dafür, dass auch Kant diese Einschätzung teilt, scheint zu sprechen, dass die Apperzeption seiner Auffassung nach als „transzendentaler Grund“ fungiert, „ohne welchen es unmöglich wäre, zu unseren Anschauungen irgend einen Gegenstand zu denken“ (A 106). Wird die Einführung der Apperzeption auf diese Weise konzipiert, so steht sie vor dem Hintergrund der Annahme, dass es möglich ist, zu unseren Anschauungen einen Gegenstand im stärkeren Sinne zu denken. Sie nimmt, anders gesagt, die Prämisse der Möglichkeit objektiver Erkenntnis in Anspruch. Vgl. auch, dass die Apperzeption als „transzendentaler Grund der Einheit des Bewußtseins, in der Synthesis des Mannigfaltigen aller unserer Anschauungen“ fungieren soll (A 106); da sich oben (S. 171) im Zusammenhang mit Kants Objektanalyse gezeigt hat, dass die „formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen“ (A 105) für Kant mit derjenigen Einheit der Erkenntnis identisch ist, die im Fall ihrer Beziehung auf einen Gegenstand vorliegen muss, bedeutet dies, dass die Apperzeption als transzendentaler Grund dieser ‚objektiven‘ Einheit der Erkenntnis fungieren soll. Auf diese Weise deutet sich im Rekurs auf die Apperzeption eine Fortführung der Objektanalyse an, die Kant in A 105 nur zu einem provisorischen Abschluss gebracht hatte. Als Kants definitiver Abschluss dieser Analyse kann seine These gelten, dass die Gegenstandsbeziehung unserer Vorstellungen mit der notwendigen Einheit der Apperzeption zu identifizieren ist: Die „Beziehung“ des Mannigfaltigen der Erkenntnis „auf einen Gegenstand [...]ist nichts anderes als die notwendige Einheit des Bewußtseins“ (A 109; Hvh. v. Verf., M. W.).
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
erstmals die Begründungskapazität geprüft, die Kant diesem Selbstbewusstsein zuspricht. Zunächst ist an die für die Deduktionsuntersuchung in methodischer Hinsicht zentrale These zu erinnern, d. h. an die Leitungsthese (LT) 67: Die drei Synthesen „geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand und, durch diesen, alle Erfahrung [...] möglich machen.“ (A 97 f.). Der Leitungsthese lässt sich entnehmen, wie Kant sich eine akzeptable Einführung des transzendentalen Selbstbewusstseins vorstellt. Denn ein Teil dieser These besagt, dass die drei Synthesen auf drei subjektive Erkenntnisquellen hinleiten, die alle Erfahrung möglich machen; und das transzendentale Selbstbewusstsein soll offenbar eine dieser Quellen sein. Der Leitungsthese zufolge lässt sich also ein geeigneter Anhaltspunkt für die Einführung der transzendentalen Apperzeption mit Blick auf die Einbildungskraft bzw. deren dreifache Synthesis gewinnen. Es ist zu vermuten, dass dabei der Rekognitionskomponente dieser Synthesis eine zentrale Bedeutung zukommen soll; denn Kant stellt die transzendentale Apperzeption im Abschnitt zur Synthesis der Rekognition heraus. Weiter oben sind zwei Aspekte der Synthesis der Rekognition unterschieden worden: die gliedernde und die bewahrende Rekognition. 68 Während wir mit Hilfe von gliedernden Rekognitionssynthesen ein Bewusstsein von einem Ganzen als aus Teilen zusammengesetzt bzw. von verschiedenen Elementen als Teilen desselben Ganzen gewinnen, erlangen wir durch bewahrende Rekognitionssynthesen ein Bewusstsein davon, dass die Elemente, die uns durch reproduktive Vorstellungen bewusst sind, numerisch identisch mit denjenigen sind, die uns zuvor durch apprehendierte Vorstellungen bewusst waren. Durch die dreifache Synthesis inklusive gliedernde und exklusive bewahrende Rekognition lässt sich ein Bewusstsein von einem Ganzen als aus Elementen zusammengesetzt gewinnen. Da diese Elemente zunächst zwar durch apprehendierte Vorstellungen, dann aber nur noch durch reproduktive gegenwärtig sind, handelt es sich bei diesem Bewusstsein jedoch nicht um ein Bewusstsein von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt. Um ein solches Bewusstsein zu erzeugen, müssen die ursprünglich apprehendierten Elemente in den reproduktiven Vorstellungen, durch die sie nun bewusst sind, rekognosziert werden, müssen also bewahrende Rekognitionsleistungen stattfinden. Soll es also möglich sein, durch die dreifache Synthesis Bewusstsein von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt
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Siehe dazu oben Abschnitt 4.3.1, S. 100. Siehe oben Abschnitt 5.4.1, S. 156 ff.
5.4 Die Synthesis der Rekognition
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zu gewinnen, so ist nicht nur die gliedernde, sondern auch die bewahrende Synthesis der Rekognition zum Begriff der dreifachen Synthesis zu zählen. Hinsichtlich der Rekognitionskomponente der dreifachen Synthesis stand in den bisherigen Überlegungen die gliedernde Rekognition im Vordergrund; für die Einführung der transzendentalen Apperzeption ist jedoch die bewahrende Rekognition entscheidend. Kant beschreibt die bewahrende Rekognitionssynthesis an einer Stelle folgendermaßen: Wir müssen die „reproduktiven Vorstellungen“ „in dem empirischen Bewußtsein“ ihrer „Identität [...] mit den Erscheinungen, dadurch sie gegeben waren, mithin in der Rekognition“ vorstellen können (A 115). Das bedeutet, wir müssen in unseren reproduktiven Vorstellungen die zuvor von uns apprehendierten Gehalte rekognoszieren können. 69 Der entscheidende Punkt, auf den Kant aufmerksam macht, ist dann, dass dieses „empirische[] Bewusstsein“ der Identität des Gehalts von reproduktiver Vorstellung und zuvor apprehendierter Vorstellung nur durch „die reine Apperzeption, d. i. die durchgängige Identität seiner selbst bei allen möglichen Vorstellungen“ möglich ist (A 116). Die durchgängige und numerische Identität unserer selbst in allen unseren Vorstellungen ist Kant zufolge die zentrale Eigenschaft der reinen Apperzeption (sie wird hier sogar mit der reinen Apperzeption identifiziert). Und diese Identität unserer selbst soll eine notwendige Bedingung der Möglichkeit des Produkts bewahrender Rekognitionssynthesis sein. Kant führt die reine Apperzeption damit vor dem Hintergrund der bewahrenden Rekognition ein. Der Gedanke, der dieser Einführung zugrunde liegt, lässt sich folgendermaßen verstehen: Wenn ein vorstellendes Subjekt A eine apprehendierte Vorstellung hat und ein vorstellendes Subjekt B später eine Vorstellung des gegenwärtig nicht-aktualen Gehalts jener Vorstellung hat, dann könnte es diesen Gehalt prinzipiell nicht als den zuvor von A apprehendierten anerkennen bzw. rekognoszieren, falls A und B nicht ein und dasselbe vorstellende Subjekt wären. 70 Die numerische Identität unserer selbst bzw. eines vorstellenden Subjekts darf jedoch nicht als die Identität eines wirklichen Dings (Substanz) missverstanden werden. Sie ist eher die Identität des Selbstbewusstseins. Im Kapitel Von den Paralogismen der reinen Vernunft stellt Kant klar, dass diese „Identität des Bewußtseins meiner selbst in verschiedenen Zeiten nur eine formale Bedingung meiner Gedanken und ihres Zusammenhanges“ ist (A 363). Der Gedanke einer solchen Identität wäre Kant zufolge sogar mit dem Gedanken der numerischen Verschiedenheit einer Subjekt-Substanz in verschiedenen Zeiten
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Beispielsweise müssen wir in unserer reproduktiven Vorstellung eines Tons, den wir soeben apprehendiert haben, der nun aber ausgeklungen ist, den Ton rekognoszieren können, den wir kurz zuvor gehört haben. Vgl. dazu und zum Folgenden Rosales 2000, 149 f.
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vereinbar. Denn auch wenn mein Subjekt eine Reihe aufeinander folgender verschiedener Substanzen wäre, könnte, so Kant, noch insofern von der Identität des Ich die Rede sein, als dieses „doch immer den Gedanken des vorhergehenden Subjekts aufbehalten und so auch dem folgenden überliefern könnte.“ (Ebd.) Was demnach wesentlich zur Identität unserer selbst gehört, ist die Fähigkeit, die Gehalte unserer vorigen Vorstellungen so aufzubehalten und für die Zukunft zu erhalten, dass sie als die von uns zuvor vorgestellten wieder begegnen können. Wenn wir diese wesentlich zur Identität unserer selbst gehörende Fähigkeit nicht besäßen, dann könnten wir kein Bewusstsein davon gewinnen, dass die Elemente, die uns durch reproduktive Vorstellungen bewusst sind, numerisch identisch mit denjenigen sind, die wir zuvor apprehendiert haben. In diesem Fall könnten wir keine bewahrenden Rekognitionsleistungen vollziehen und entsprechend kein Bewusstsein von einem Ganzen als aus sukzessiv apprehendierten Elementen zusammengesetzt gewinnen. Auf diese Weise zeigt sich nun, inwiefern die dreifache Synthesis eine „Leitung“ (A 97) insbesondere auf die reine Apperzeption gibt: Wenn wir die Fähigkeit der dreifachen Synthesis der Einbildungskraft, insbesondere die Fähigkeit der bewahrenden Synthesis der Rekognition, besitzen, dann müssen wir diejenige Fähigkeit besitzen, die Kant zufolge ein wesentliches Merkmal der (in A 116 mit der reinen Apperzeption identifizierten) Identität unserer selbst ist, und zwar die Fähigkeit, die Gehalte unserer vorigen Vorstellungen so aufzubehalten und für die Zukunft zu erhalten, dass sie als die von uns zuvor vorgestellten wieder begegnen können. Dass die Deduktionsuntersuchung durch die Analyse der drei Synthesen der Einbildungskraft und insbesondere die Analyse der bewahrenden Rekognition auf die reine Apperzeption hinleitet, darf allerdings nicht so verstanden werden, dass sie die Apperzeption aus der Einbildungskraft ableitet. Andernfalls könnte es sich bei der Apperzeption nicht, wie von Kant (A 94) behauptet, um eine „ursprüngliche“ Erkenntnisquelle handeln. Was sich aus dem Besitz der bewahrenden Rekognitionssynthesis ableiten lässt, ist lediglich die Annahme der numerischen Identität unserer selbst in unseren reproduktiven Vorstellungen und den entsprechenden vormals apprehendierten Vorstellungen, nicht aber die darüber hinausgehende Annahme einer „durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntnis jemals gehören können“ (A 116), oder die noch weitergehende Annahme einer „durchgängige[n] Identität seiner selbst bei allen möglichen Vorstellungen“ (ebd.). Eine derartige Identitätsannahme muss als zusätzliche Prämisse gelten – als Prämisse, die von den Ausgangspunkten der Deduktionsuntersuchung und damit den Grundlagen für den Aufweis der drei Synthesen der Sache
5.5 Kants erster Entwurf einer ‚Deduktion von oben‘ (A 108)
181
nach unabhängig ist. Gleichwohl, und dies ist der im gegenwärtigen Zusammenhang entscheidende Punkt, führt die Analyse der drei Synthesen auf die reine Apperzeption hin, indem sie die numerische Identität unserer selbst zumindest hinsichtlich einiger unserer Vorstellungen rechtfertigt.
5.5 Kants erster Entwurf einer ‚Deduktion von oben‘ (A 108) Indem Kants Überlegungen zur dreifachen Synthesis der Einbildungskraft auf die reine Apperzeption hinführen, bringen sie den Punkt ins Spiel, von dem aus Kant glaubt, ein erfolgreiches Deduktionsargument führen zu können. Deduktionsargumente, die „von der reinen Apperzeption anfangen“ (A 116), können als ‚Deduktionen von oben‘ bezeichnet werden. Ein solches Deduktionsargument strebt den Nachweis an, dass die Einheit der Apperzeption – die Einheit, in der unsere Vorstellungen aufgrund der Identität unserer selbst stehen – durch allgemeine Gesetze bzw. durch Kategorien geregelt ist. Dass unsere Vorstellungen unter apriorischen Verstandesregeln stehen, soll sich als eine notwendige Bedingung dafür erweisen, dass sie zur Einheit der Apperzeption gehören können. Im folgenden Kapitel werde ich ausführlich auf diejenige ‚Deduktion von oben‘ eingehen, die Kant im dritten Abschnitt des Deduktionskapitels formuliert (A 116/9) und die er als ein definitives Deduktionsargument angesehen hat. Zuvor jedoch werde ich die Skizze einer ‚Deduktion von oben‘ untersuchen, die Kant noch im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels formuliert (A 108). In der Interpretation von Kants gesamter Deduktionsargumentation wird dieser Skizze häufig eine entscheidende Bedeutung zugemessen. So sieht H. Klein in einer der jüngsten Studien zur ADeduktion in dem Text von A 108 offenbar den Kern von Kants Argumentation und hält daher eine nähere Untersuchung der von Kant als definitiv erachteten Deduktionsargumente des dritten Abschnitts des Deduktionskapitels für unnötig. 71 Kants erster Entwurf einer ‚Deduktion von oben‘ lautet: [a] Die „transzendentale Einheit der Apperzeption macht aber aus allen möglichen Erscheinungen, die immer in einer Erfahrung beisammen sein können, einen Zusammenhang aller dieser Vorstellungen nach Gesetzen. [b] Denn diese
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Siehe Klein 2002, 149. Auch D. Henrich scheint die Hinweise, die Kant in A 108 gibt, für die entscheidenden in Hinblick auf dessen Deduktionsbeweis zu halten (Henrich 1976, 87, 102 ff.). – Henrich formuliert im Ausgang von einem gemäßigten Begriff der Identität des Selbstbewusstseins eine Rekonstruktion von Kants Deduktionsargument (ebd., 86 ff.), das er – auf diese Weise rekonstruiert – für eine „erfolgreiche Deduktion“ hält (ebd., 94). Henrichs Rekonstruktion ist jedoch von W. Hinsch (1986, 36 ff.) und B. Thöle (1991, 243 ff.) m. E. überzeugend kritisiert worden.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
Einheit des Bewußtseins wäre unmöglich, wenn nicht das Gemüt in der Erkenntnis des Mannigfaltigen sich der Identität der Funktion bewußt werden könnte, wodurch sie dasselbe synthetisch in einer Erkenntnis verbindet. [c] Also ist das ursprüngliche und notwendige Bewußtsein der Identität seiner selbst zugleich ein Bewußtsein einer eben so notwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, d. i. nach Regeln, die sie nicht allein notwendig reproduzibel machen, sondern dadurch auch ihrer Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d. i. den Begriff von etwas, darin sie notwendig zusammenhängen: [d] denn das Gemüt konnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen hätte, welche alle Synthesis der Apprehension (die empirisch ist) einer transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich macht.“ (A 108)
Die These, die Kant in Satz [a] aufstellt und dann zu begründen versucht, – im Folgenden die ‚Gesetzesthese‘ genannt – besagt, dass aus dem Bestehen der transzendentalen Einheit der Apperzeption folgt, dass sich all unsere epistemisch relevanten Vorstellungen in einen gesetzmäßigen Zusammenhang integrieren lassen. 72 Ließe sich diese These begründen und ließe sich außerdem dieser gesetzmäßige als kategorialer Zusammenhang verstehen, so läge damit eine erfolgreiche ‚Deduktion von oben‘ vor. Ich werde Kants Begründung der Gesetzesthese nun im Einzelnen rekonstruieren. Der mit „Denn“ beginnende Satz [b] soll offenbar zum Fundament dieser Begründung gehören. Die „Einheit des Bewußtseins“, von deren Möglichkeit der Satz implizit ausgeht, wird in Satz [c] als „Bewußtsein der Identität seiner selbst“ verstanden. Eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der so verstandenen „Einheit des Bewußtseins“, besteht Satz [b] zufolge darin, dass ein Bewusstsein der „Identität der Funktion“ möglich ist, durch die wir unsere Vorstellungen „synthetisch in einer Erkenntnis“ im weiten Sinn verbinden.
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Ich spreche hier von all unseren ‚epistemisch relevanten‘ Vorstellungen, da in Satz [a] von „allen möglichen Erscheinungen, die immer in einer Erfahrung beisammen sein können“, die Rede ist (A 108). Bei den „Vorstellungen“, die sich der Gesetzesthese zufolge in einen „Zusammenhang [...] nach Gesetzen“ integrieren lassen (ebd.), handelt es sich nicht unbedingt um alle unsere Vorstellungen, sondern nur um diejenigen von ihnen, die einen Beitrag zur „Erfahrung“ leisten können. Unter ‚Erfahrung‘ darf dabei jedoch nicht objektive empirische Erkenntnis verstanden werden. Denn wird die Gesetzesthese in ihrer Geltung auf Vorstellungen eingeschränkt, die einen Beitrag zu objektiver empirischer Erkenntnis leisten können, so steht sie unter der Prämisse, dass solche Erkenntnis möglich ist. Diese Prämisse ist jedoch in Hinblick auf das von Kant anvisierte Deduktionsargument zu stark. Daher kann hier unter ‚Erfahrung‘ nur empirische Erkenntnis im weiten Sinn verstanden werden. Das heißt, Kant schränkt die Geltung der Gesetzesthese auf diejenigen unserer Vorstellungen ein, die in dem Sinn epistemisch relevant sind, dass sie einen Beitrag zu empirischer Erkenntnis im weiten Sinn leisten können. Wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, spielt diese Einschränkung auch in Kants definitiver ‚Deduktion von oben‘ in A 116/9 eine wichtige Rolle.
5.5 Kants erster Entwurf einer ‚Deduktion von oben‘ (A 108)
183
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Synthesisfunktion zu verstehen. Eine ist, sie als Handlung zu verstehen. Dafür scheint zu sprechen, dass in Satz [d] statt von der Identität einer Funktion des Gemüts in vergleichbarer Weise von der „Identität seiner Handlung“ die Rede ist. Gegen die Möglichkeit einer Gleichsetzung von ‚Funktion‘ und ‚Handlung‘ spricht jedoch, dass ‚Funktion‘ für Kant „die Einheit der Handlung [bedeutet], verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.“ (A 68, B 93) Unter einer ‚Funktion‘ ist demnach keine Handlung, sondern die Einheit von gewissen Handlungen zu verstehen. 73 Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die Synthesisfunktion aus Satz [b] als Regel oder Regelmenge zu verstehen. Satz [b] wäre dann als die Behauptung zu interpretieren, dass die Möglichkeit der Einheit des Bewusstseins die Möglichkeit des Bewusstseins davon impliziert, dass es eine Regel bzw. Regelmenge gibt, auf der jede synthetische Verbindung in einer Erkenntnis basiert. 74 Diese Behauptung ist bereits sehr stark; sie unterscheidet sich nur dadurch von der Gesetzesthese selbst, dass sie noch nicht von Gesetzen (Regeln a priori) spricht. In Kants gesamter bisheriger Argumentation findet sich jedoch nichts, dass diese starke Behauptung rechtfertigen könnte. Wegen dieser Schwierigkeiten, die Synthesisfunktion aus Satz [b] als Synthesishandlung oder als Synthesisregel zu verstehen, schlage ich vor, sie als einen bestimmten (noch näher zu charakterisierenden) Typ von Synthesis zu verstehen. Ein Synthesistyp ist eine Funktion in dem genannten terminologischen Sinn (A 68, B 93), weil er als Einheit aller einzelnen Handlungen dieses Typs gelten kann. Satz [b] ist dann folgendermaßen zu rekonstruieren:
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74
Gegen die Gleichsetzung der ‚Funktion‘ aus Satz [b] mit der ‚Handlung‘ aus Satz [d] sprechen weiterhin die Schwierigkeiten, die mit Satz [d] und insbesondere mit der Annahme jener Handlung verbunden sind (zu Satz [d] siehe Henrich 1976, 102 ff.). Kant nimmt in diesem Satz ein Bewusstsein der Identität einer Handlung (Singular) an, „welche alle Synthesis der Apprehension (die empirisch ist) einer transzendentalen Einheit unterwirft, und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich macht.“ (A 108) Eine solche Handlung müsste von allen empirischen Synthesen nach apriorischen Regeln numerisch verschieden sein und ein realer Grund dieser Regeln sein (vgl. Guyer 1987 135 f.); weiterhin müsste diese Handlung (Singular) ohne Anfang und Ende bzw. zeitlos sein. Ich halte die Annahme einer solchen im konstitutionstheoretischen Sinn transzendentalen Synthesis für unplausibel sowie für erkenntnistheoretisch irrelevant und bin der Auffassung, dass Kant an anderen Stellen der KrV eine akzeptable Alternative zu dieser Konzeption der transzendentalen Synthesis entwickelt. Siehe dazu oben die Abschnitte zum KonstitutionstheorieEinwand (3.3, S. 51 ff.) und zum Psychologismuseinwand (4.5.2, S. 117 ff.). H. Klein dagegen hat versucht, die Annahme einer solchen Handlung plausibel zu machen, gelangt aber letztlich zu der Auffassung, dass sich Kants Gesetzesthese selbst im Rückgriff auf eine solche Handlung nicht verteidigen lässt (Klein 2002, 146/9). Denn das von Kant in Satz [b] genannte Bewusstsein „der Identität der Funktion“, wäre ein Bewusstsein, dass es eine Regel oder Regelmenge gibt.
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(i)
5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
Die „Einheit des Bewußtseins“ [b], verstanden als „Bewußtsein der [numerischen] Identität“ unserer selbst [c], ist nur dann möglich, wenn Bewusstsein der „Identität“ des Synthesistyps (Funktion) möglich ist, durch den Erkenntnisse im weiten Sinn erzeugt werden [b].
Ein Bewusstsein der Identität des genannten Synthesistyps ist als Wissen darum zu verstehen, dass es einen Synthesistyp gibt, der für jede Erkenntnis im weiten Sinn konstitutiv ist. Bei diesem Synthesistyp kann es sich offenbar nur um den Typ ‚dreifache Synthesis‘ handeln, da jede Erkenntnis im weiten Sinn durch dreifache Synthesishandlungen hervorgebracht wird. – Der folgende Satz der Rekonstruktion von Kants Argument für die Gesetzesthese macht die zweite dem Argument zugrunde liegende Prämisse explizit, dass das Bewusstsein der numerischen Identität seiner selbst aus Satz (i) möglich ist, und dass es sich bei diesem Bewusstsein nach Satz [c] um ein „ursprüngliche[s] und notwendige[s] Bewußtsein“ handelt. (ii)
Bewusstsein der numerischen Identität unserer selbst ist nicht nur möglich, sondern – da dieses Bewusstsein ursprünglich und notwendig ist [c] – sogar a priori möglich.
Aus (i) und (ii) will Kant folgern: (iii)
Also ist es a priori möglich, Bewusstsein der Identität des Synthesistyps zu haben, durch den Erkenntnisse im weiten Sinn erzeugt werden.
Die folgenden Sätze ziehen dann die in Hinblick auf die Gesetzesthese entscheidenden Konsequenzen aus Satz (iii). (iv)
Da es a priori möglich ist, um die Identität dieses Synthesistyps zu wissen, muss es sich bei dieser Identität um eine apriorische Identität, anders gesagt, um eine „notwendige[] Einheit“ dieses Synthesistyps handeln [c].
(v)
Um die notwendige Einheit dieses Synthesistyps zu wissen, impliziert zu wissen, dass es Regeln a priori gibt, auf denen jede einzelne Synthesishandlung dieses Typs beruht.
5.5 Kants erster Entwurf einer ‚Deduktion von oben‘ (A 108)
(vi)
185
Also können all unsere Vorstellungen, auf die sich diese Synthesishandlungen beziehen können, in einen Zusammenhang nach Regeln a priori bzw. Gesetzen integriert werden [a]. 75
Die Argumentation ist nicht unproblematisch. Die entscheidenden Schwierigkeiten, auf die ich mich hier konzentrieren möchte, treten auch dann zutage, wenn man die in den ersten beiden Sätzen formulierten Prämissen zugesteht. Eine formale Schwäche der Argumentation besteht darin, dass das in den Sätzen (i)-(iii) instanziierte Schluss-Schema nicht allgemeingültig ist. Denn es gilt nicht allgemein, dass die notwendige Bedingung von etwas, das notwendig ist, selber notwendig ist. 76 Da Kant dieses Schluss-Schema jedoch in den Sätzen [b] und [c] offensichtlich verwendet, möchte ich um des Arguments willen annehmen, dass sich zumindest in dem vorliegenden Fall so argumentieren lässt, wie Kant dies tut. Die Hauptschwäche der Argumentation ist eher inhaltlicher Art. Nach den Erläuterungen zu Satz (i) handelt es sich bei dem Synthesistyp, von dem in der Argumentation die Rede ist, um den Typ ‚dreifache Synthesis‘. Satz (iii) ist daher so zu verstehen, dass wir a priori wissen können, dass es einen Synthesistyp gibt, und zwar den Typ ‚dreifache Synthesis‘, durch den Erkenntnisse im weiten Sinn erzeugt werden. Insofern wir dies a priori wissen, kann dann in Satz (iv) von der apriorischen Identität bzw. „notwendigen Einheit“ dieses Synthesistyps gesprochen werden. Das grundsätzliche Problem der Argumentation zeigt sich dann in Satz (v). Um die notwendige Einheit des Synthesistyps zu wissen, durch den Erkenntnisse im weiten Sinn erzeugt werden, muss anders als in (v) behauptet nicht bedeuten, um Regeln a priori zu wissen, auf denen jede einzelne Synthesishandlung dieses Typs beruht. Das Wissen um die notwendige Einheit dieses Synthesistyps kann einfach in dem Wissen bestehen, dass es notwendig ist, dass jede einzelne Handlung dieses Typs auf Regeln beruht. Dass wir um diese Notwendigkeit wissen, hat sich in der Untersuchung der dreifachen Synthesis gezeigt. Denn dort wurde deutlich, dass jede dreifache Synthesishandlung nach Regeln vorstellbar sein muss. Das bedeutet
_____________ 75
76
In der obigen Anm. 72 (S. 182) habe ich darauf hingewiesen, dass Kant die Gesetzesthese auf unsere epistemisch relevanten Vorstellungen beschränkt, wobei diejenigen unserer Vorstellungen epistemisch relevant sind, die einen Beitrag zu empirischer Erkenntnis im weiten Sinn leisten können. Es ist daher nicht überraschend, dass die Konklusion der nun rekonstruierten Argumentation nicht alle unsere Vorstellungen, sondern nur diejenigen unter ihnen betrifft, auf die sich die Handlungen der dreifachen Synthesis beziehen können. Denn bei diesen Vorstellungen handelt es sich genau um diejenigen, die einen Beitrag zur empirischen Erkenntnis im weiten Sinn leisten können. Formal ausgedrückt: ɷq folgt nicht aus der Konjunktion von p q und ɷp. – Auf diesen Punkt macht auch Thöle 1991, 241 Anm. 17 aufmerksam.
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5 Die Deduktionsuntersuchung am Leitfaden der Einbildungskraft
aber nicht, dass es Regeln a priori gibt, auf denen jede dieser Handlungen beruht. Das grundsätzliche Problem von Kants Begründung der Gesetzesthese in A 108 ist die ambivalente Rede vom „Bewußtsein einer [...] notwendigen Einheit der Synthesis“ in Satz [c]. Ein solches Bewusstsein zu haben, kann erstens bedeuten, dass man weiß, dass jede dreifache Synthesishandlung notwendigerweise auf irgendeiner Einheit, auf irgendwelchen Regeln beruht, oder es kann zweitens bedeuten, dass man weiß, dass all diese Handlungen auf einer Einheit beruhen, die selber notwendig ist, d. h. auf Regeln a priori. Es ist klar, dass Kant dieses Bewusstsein im Sinne der zweiten Bedeutung und damit Satz (v) entsprechend verstehen muss, um die Gesetzesthese zu zeigen. Ebenso klar ist jedoch, dass dieses Bewusstsein sich auch in einem schwächeren Sinn, und zwar im Sinne der ersten Bedeutung verstehen lässt. Daraus, dass man wissen kann, dass jede dreifache Synthesishandlung notwendigerweise auf irgendwelchen Regeln beruht, folgt aber nicht, dass man wissen kann, dass es Regeln a priori gibt, auf denen jede dreifache Synthesishandlung beruht. Kants Begründung der Gesetzesthese in A 108 muss deshalb als gescheitert gelten.77
_____________ 77
Vgl. die strukturell analoge Kritik an Kants Begründung bei Thöle 1991, 240 f.
6 Die ‚Deduktion von oben‘ 6.1 Kants Argument Im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass und wie sich die drei Synthesisfähigkeiten der Einbildungskraft auf der Basis der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung und damit als transzendentale Synthesisfähigkeiten ausweisen lassen. Kants Anspruch nach sollen diese Synthesisfähigkeiten eine der argumentativen Grundlagen für den Nachweis bilden, dass die Kategorien als Gründe a priori der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis fungieren. Dieser Nachweis steht allerdings noch aus. Die Ansätze dazu, die Kant im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels formuliert, insbesondere seine zuletzt diskutierte Beweisskizze in A 108, müssen als unzulänglich gelten. Man kann dies jedoch insofern für nicht allzu gravierend halten, als der zweite Abschnitt in der Konzeption des Deduktionskapitels ohnehin nur die Aufgabe hat, den Leser auf den definitiven Deduktionsbeweis „vorzubereiten“ (A 98). Die vorbereitende Funktion, die dem zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels in Hinblick auf die definitive Lösung des Deduktionsproblems zukommen soll, besteht darin, dass er die für den Deduktionsbeweis relevanten Elemente transparent macht. Diese Elemente, die von Kant als „Elemente des Verstandes“ bezeichnet werden (ebd.) und zu denen vor allem die transzendentale Einbildungskraft und die reine Apperzeption gehören, sollen in die Ausarbeitung dieses Beweises integriert werden. Daher erklärt Kant im ersten Satz des dritten Abschnitts des Deduktionskapitels: „Was wir im vorigen Abschnitte abgesondert und einzeln vortrugen, wollen wir jetzt vereinigt und im Zusammenhange vorstellen.“ (A 115) Erst vom dritten Abschnitt ist daher die definitive Lösung des Deduktionsproblems zu erwarten. Durch ihn soll der Leser „zur vollständigen Einsicht“ geführt werden (A 98). Überblickt man den dritten Abschnitt, so fällt auf, dass er nicht eine Ausarbeitung, sondern zwei Versionen eines Deduktionsbeweises enthält. Diese Beweisversionen werden in der Literatur aufgrund ihrer verschiedenen Startpunkte als die ‚Deduktion von oben‘ und die ‚Deduktion von unten‘ bezeichnet. 1 Während erstere „von der reinen Apperzeption anfan-
_____________ 1
Siehe etwa Carl 1992, 198 Anm. 1*.
188
6 Die ‚Deduktion von oben‘
gen“ soll (A 116), soll letztere „von unten auf, nämlich dem Empirischen anfangen.“ (A 119). Gemäß der systematischen Funktion, die Kant der Einbildungskraft für die Deduktionsuntersuchung zuweist, ist zu erwarten, dass der Besitz transzendentaler Synthesisfähigkeiten in beiden Beweisversionen eine begründende Rolle spielen soll. Um ein Verständnis dieser Rolle der Einbildungskraft zu gewinnen und zu klären, ob sie diese Rolle auch spielen kann, wird eine argumentative Rekonstruktion dieser beiden Beweisversionen erforderlich sein. Das gegenwärtige Kapitel wird die ‚Deduktion von oben‘ und das folgende die ‚Deduktion von unten‘ in den Mittelpunkt stellen. Das komplette Argument der ‚Deduktion von oben‘ lautet: „[a] Alle Anschauungen sind vor uns nichts, und gehen uns nicht im mindesten etwas an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden können, sie mögen nun direkt, oder indirekt, darauf einfließen, und nur durch dieses allein ist Erkenntnis möglich. [b] Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntnis jemals gehören können, bewußt, als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen ([c] weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen, daß sie mit allem andern zu einem Bewußtsein gehören, mithin darin wenigstens müssen verknüpft werden können). [d] Dies Prinzip steht a priori fest und kann das transzendentale Prinzip der Einheit alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen (mithin auch in der Anschauung) heißen. [e] Nun ist die Einheit des Mannigfaltigen in einem Subjekt synthetisch: [f] also gibt die reine Apperzeption ein Principium der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung an die Hand. [g] Diese synthetische Einheit setzt aber eine Synthesis voraus, oder schließt sie ein, [h] und soll jene a priori notwendig sein, [j] so muß letztere auch eine Synthesis a priori sein. [k] Also beziehet sich die transz. Einheit der Apperzeption auf die reine Synthesis der Einbildungskraft, als eine Bedingung a priori der Möglichkeit aller Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer Erkenntnis. [l] Es kann aber nur die produktive Synthesis der Einbildungskraft a priori statt finden; denn die reproduktive beruht auf Bedingungen der Erfahrung. [m] Also ist das Principium der notwendigen Einheit der reinen (produktiven) Synthesis der Einbildungskraft vor der Apperzeption der Grund der Möglichkeit aller Erkenntnis, besonders der Erfahrung. [n] Nun nennen wir die Synthesis des Mannigfaltigen in der Einbildungskraft transzendental, wenn ohne Unterschied der Anschauungen sie auf nichts, als bloß auf die Verbindung des Mannigfaltigen a priori geht, [o] und die Einheit dieser Synthesis heißt transzendental, wenn sie in Beziehung auf die ursprüngliche Einheit der Apperzeption als a priori notwendig vorgestellt wird. [p] Da diese letztere nun der Möglichkeit aller Erkenntnisse zum Grunde liegt, so ist die transzendentale Einheit der Synthesis der Einbildungskraft die reine Form aller möglichen Erkenntnis, durch welche mithin alle Gegenstände möglicher Erfahrung a priori vorgestellt werden müssen. [q] Die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand, [r] und eben dieselbe Einheit, beziehungsweise auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, der reine Verstand. [s] Also sind im Verstande reine Erkenntnisse a priori, welche die notwendige Einheit der reinen Synthesis der Einbildungskraft, in An-
6.2 Selbstbewusstsein
189
sehung aller möglichen Erscheinungen, enthalten. [t] Dieses sind aber die Kategorien, d. i. reine Verstandesbegriffe“ (A 116/9).
Leider kann man nicht behaupten, dass dieses Argument unmittelbar verständlich wäre. Die Rekonstruktion wird deshalb mit einigem Aufwand verbunden sein. Vorab möchte ich drei Etappen unterscheiden. Die erste Etappe, die ich unter dem Titel ‚Selbstbewusstsein‘ diskutiere, mündet in dem Prinzip, dass alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen Einheit hinsichtlich der reinen Apperzeption besitzen (Sätze [a]-[d]). Die zweite, unter dem Titel ‚Einbildungskraft‘ stehende Etappe, soll die Synthetizität der Einheit der Apperzeption erweisen und führt das Vermögen der Synthesis in den Beweisgang ein (Sätze [e]-[p]). In der dritten, von mir ‚Verstand‘ betitelten Etappe, stellt Kant die Beziehung zwischen der Einheit der Apperzeption und der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft heraus, um auf dieser Grundlage die Kategorien als Einheitsbegriffe dieser Synthesis zu erweisen (Sätze [q]-[t]). Im Folgenden werde ich Kants Argumentation unter den genannten Titeln Schritt für Schritt rekonstruieren.
6.2 Selbstbewusstsein „[a] Alle Anschauungen sind vor uns nichts, und gehen uns nicht im mindesten etwas an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden können, sie mögen nun direkt oder indirekt darauf einfließen, und nur durch dieses allein ist Erkenntnis möglich.“ (A 116)
Kann eine unserer Anschauungen „nicht ins Bewußtsein aufgenommen“ werden, so Satz [a], dann wäre sie für „uns nichts“ und ginge „uns nicht im mindesten etwas an“. Indem Kant außerdem betont, dass „nur durch dieses allein [...] Erkenntnis möglich“ ist, nimmt er für die ‚Deduktion von oben‘ die Prämisse in Anspruch, dass Erkenntnis möglich ist. Der Ausdruck ‚Erkenntnis‘ kann dabei allerdings nur für Erkenntnis im weiten Sinn stehen, weil die Möglichkeit objektiver Erkenntnis nicht als Prämisse des Deduktionsarguments fungieren darf. 2 Satz [a] enthält also die Prämisse: (i)
Wir sind in der Lage, Erkenntnis im weiten Sinn, d. h. Vorstellungen von Ganzen verglichener und verknüpfter realer Vorstellungsgehalte, zu gewinnen.
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Siehe oben Abschnitt 4.4.1, insbes. S. 105 ff., u. Abschnitt 4.5.1, insbes. S.116.
190
6 Die ‚Deduktion von oben‘
Was heißt nun, eine Anschauung ins Bewusstsein aufzunehmen? Und was sind Anschauungen, die für uns etwas sind? Zunächst zu ersten Frage. Anschauung wird von Kant (ebenso wie Empfindung und Begriff) als „Vorstellung mit Bewußtsein (perceptio)“ verstanden (A 320, B 376 f.). Was soll es aber bedeuten, eine bewusste Vorstellung ins Bewusstsein aufzunehmen? ‚Bewusstsein‘ meint hier Selbstbewusstsein. Dass eine Vorstellung ins Bewusstsein aufgenommen ist, heißt, dass man in dem Sinne Selbstbewusstsein von ihr hat, dass man sie sich selbst zuschreibt. Kant führt mit seiner Rede von der Aufnahme von Anschauungen ins Bewusstsein den Begriff des Selbstbewusstseins qua Selbstzuschreibung ein. Selbstbewusstsein qua Selbstzuschreibung liegt bezüglich einer Vorstellung, die man hat, genau dann vor, wenn man weiß, dass man sie hat. Dieses Wissen lässt sich in Sätzen einer bestimmten Form artikulieren. Diese Form ist aber nur unpräzise durch „Ich weiß, dass ich die Vorstellung V habe“ bestimmt; denn für gewisse Vorstellungen, wie für Empfindungen und Anschauungen, haben wir keine Termini, sondern allenfalls für das, was sie vorstellen, für ihren Gehalt. Sätze, die Selbstzuschreibungen von Vorstellungen artikulieren, haben deshalb eher die Form: „Ich weiß, dass ich G p“, wobei ‚G‘ den Gehalt der Vorstellung bezeichnet und ‚p‘ für ein Verb des Perzipierens 3 steht. Beispiele für solche Sätze sind: „Ich weiß, dass ich etwas Kaltes empfinde“, „Ich weiß, dass ich etwas Rotes wahrnehme“, „Ich weiß, dass ich einen Apfel sehe“, „Ich weiß, dass ich an Äpfel denke“. Damit zur zweiten Frage: Was sind Anschauungen, oder allgemeiner gefragt, Vorstellungen, die für uns etwas sind? An einigen Stellen scheint Kant die Auffassung zu vertreten, dass es überhaupt keine Vorstellungen gibt, die nicht ins Bewusstsein aufgenommen werden können. „[W]äre es gänzlich unmöglich sich ihrer bewußt zu werden: so würde das soviel sagen, sie existierten gar nicht.“ (A 117 Anm.) 4 Wenn aber feststünde, dass alle Vorstellungen ins Bewusstsein aufgenommen werden können, dann wäre es irreführend, Vorstellungen, die nicht ins Bewusstsein aufgenommen werden können, wie in Satz [a] dadurch zu charakterisieren, dass man sagt, sie seien für uns nichts und gingen uns nicht im mindesten etwas an. Viel klarer wäre die Feststellung, dass es derartige Vorstellungen gar nicht gibt. Unterstellt man, dass Satz [a] keine derartig irreführende
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Unter einem ‚Verb des Perzipierens‘ verstehe ich ein Verb, das sich „Vorstellung[en] mit Bewusstsein (perceptio[nes])“ zuordnen lässt, also Empfindungen, Anschauungen oder Begriffen (A 320, B 376 f.). Verben des Perzipierens sind beispielsweise ‚sehen‘, ‚hören‘, ‚empfinden‘, ‚wahrnehmen‘, ‚denken‘. Vgl. auch A 120: „[O]hne das Verhältnis zu einem, wenigstens möglichen Bewusstsein, würde Erscheinung [...], weil sie an sich selbst keine objektive Realität hat, und nur im Erkenntnisse existiert, überall nichts sein“.
6.2 Selbstbewusstsein
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Bestimmung enthält, dann ist zu vermuten, dass sich bei Kant auch Stellen finden lassen, an denen er nicht-selbstzuschreibbare Vorstellungen in Betracht zieht und denen sich demnach entnehmen lässt, was Vorstellungen sind, die für uns nichts sind. Diese Vermutung bestätigt sich mit Blick auf einen Brief Kants an M. Herz, in dem es heißt: „[D]ata der Sinne“, von denen ich „nicht einmal wissen“ könnte, „daß ich sie habe, [...] würden [...] für mich, als erkennendes Wesen, schlechterdings nichts seyn, wobey sie (wenn ich mich in Gedanken zum Thier mache) als Vorstellungen, die nach einem empirischen Gesetze der Association verbunden wären und so auch auf Gefühl und Begehrungsvermögen Einflus haben würden, in mir, meines Daseins unbewußt, [...] immer hin ihr Spiel regelmäßig treiben könnten, ohne daß ich dadurch im mindesten etwas, auch nicht einmal diesen meinen Zustand, erkennete.“ 5
Kant zieht hier Vorstellungen in Betracht, die ich habe, ohne sie mir selbst zuschreiben zu können. Solche Vorstellungen könnten zwar für mich als fühlendes und begehrendes Wesen etwas sein und als solche „ihr Spiel“ sogar „regelmäßig treiben“, aber für mich „als erkennendes Wesen“ wären sie nichts, d. h. ich könnte durch sie nicht im „mindesten etwas, auch nicht einmal diesen meinen Zustand“, erkennen. 6 Mit anderen Worten, diese Vorstellungen hätten keine epistemische Relevanz. ‚Epistemisch relevant‘ sollen dabei und im Folgenden genau diejenigen Vorstellungen heißen, die einen Beitrag zu unserer Erkenntnis leisten können, wobei ‚Erkenntnis‘ Erkenntnis im weiten Sinn bedeutet. 7 Aus der zitierten Passage geht hervor, dass nicht selbstzuschreibbare Vorstellungen für uns als erkennende Wesen nichts sind, anders gesagt, dass sie epistemisch irrelevant sind. Es ist m. E. diese Aussage, die Satz [a] zum Ausdruck bringt. Dafür spricht erstens, dass Kant in dem auf [a] unmittelbar folgenden Satz diejenigen Vorstellungen in den Mittelpunkt stellt, „die zu unserem Erkenntnis jemals gehören können“ (A 116), also epistemisch relevante Vorstellungen. Und dafür spricht zweitens die Parallelstelle zu Satz [a] in der ‚Deduktion von unten‘: „[O]hne das Verhältnis
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Brief an M. Herz vom 26.05.1789, AA 11.52. Zwar besagt das obige Zitat explizit nur, dass ich durch diese Vorstellungen nichts erkennen würde, und nicht, dass ich durch sie nichts erkennen könnte; in seiner Konsequenz liegt jedoch auch letzteres. Denn es ist von Vorstellungen die Rede, von denen ich, obwohl ich sie habe, nicht wissen könnte, dass ich sie habe. Durch solche Vorstellungen, die man ‚prinzipiell unbewusst‘ nennen kann, würde ich aber nicht nur de facto nichts erkennen, sondern ich könnte durch sie auch nichts erkennen. Zum Begriff der epistemischen Relevanz von Vorstellungen siehe bereits oben S. 182 Anm. 72. – Dass einige unserer Vorstellungen überhaupt epistemisch relevant sein können, folgt aus der in Satz (i) festgehaltenen Prämisse der ‚Deduktion von oben‘, dass wir in der Lage sind, Erkenntnis im weiten Sinn zu haben.
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6 Die ‚Deduktion von oben‘
zu einem, wenigstens möglichen Bewußtsein, würde Erscheinung vor uns niemals ein Gegenstand der Erkenntnis werden können, und also vor uns nichts sein“ (A 120). Denn ihr ist zu entnehmen, dass auch für die entsprechenden Vorstellungen gilt: Wenn sie nicht selbstzuschreibbar sind, dann wären sie epistemisch irrelevant und in diesem Sinne für uns nichts. Da ich keinen Grund sehe, warum Kant den Geltungsanspruch von Satz [a] auf Anschauungen beschränken und nicht auf Vorstellungen insgesamt ausdehnen sollte, schlage ich vor, diese zweite Prämisse folgendermaßen zu rekonstruieren: (ii)
Dass ich in der Lage bin, mir eine beliebige meiner Vorstellungen selbst zuzuschreiben, ist eine notwendige Bedingung ihrer epistemischen Relevanz.
Kant räumt wie Leibniz die Existenz von Vorstellungen ein, die wir haben, ohne uns ihrer bewusst zu sein, und er erkennt auch an, dass solche unbewussten Vorstellungen einen Beitrag zu unserer Erkenntnis leisten können. 8 Er bestreitet mit Satz [a] also nicht die epistemische Relevanz von unbewussten, sondern von prinzipiell unbewussten, d. h. nicht selbstzuschreibbaren Vorstellungen. Wenn es solche Vorstellungen geben sollte, dann wären sie für mich zumindest in epistemischer Hinsicht irrelevant. Damit zum nächsten Schritt der ‚Deduktion von oben‘. „[b] Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntnis jemals gehören können, bewußt, als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen ([c] weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen, daß sie mit allem andern zu einem Bewußtsein gehören, mithin darin wenigstens müssen verknüpft werden können).“ (A 116)
Was uns Satz [b] zufolge a priori bewusst ist, ist die „Identität unserer selbst“ als notwendige Bedingung für etwas. Wir wissen demnach a priori, dass ein bestimmtes Bedingungsverhältnis vorliegt. Dieses Bedingungsverhältnis ist folgendermaßen zu rekonstruieren: Vorstellungen könnten nicht zu unserer Erkenntnis gehören, wenn nicht Identität unserer selbst in Ansehung ihrer bestünde. 9 Anders gesagt, es ist eine notwendige Be-
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Siehe dazu Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 5; AA 7.135 ff. – Vgl. Leibniz, Monadologie, §§ 14 u. 23. Kants Formulierung des Bedingungsverhältnisses ist missverständlich. Ihr zufolge ist die Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen, die jemals zu unserer Erkenntnis gehören können, eine notwendige Bedingung der Möglichkeit aller Vorstellungen. Warum aber sollten, wenn nicht Identität unserer selbst hinsichtlich unserer epistemisch relevanten Vorstellungen bestünde, Vorstellungen unmöglich sein, die für uns nicht epistemisch rele-
6.2 Selbstbewusstsein
193
dingung der epistemischen Relevanz unserer Vorstellungen, dass hinsichtlich dieser Vorstellungen Identität unserer selbst besteht. Wir wissen, dass dieses Bedingungsverhältnis besteht, wenn wir erfolgreich begründen können, dass es besteht. Und dieses Wissen ist ein apriorisches Wissen, wenn die Begründung ohne den Rekurs auf irgendwelche besonderen Erfahrungen auskommt. Kant beabsichtigt offenbar, eine derartige Begründung in dem durch „weil“ eingeleiteten Satz [c] zu geben. Um diese Begründung verdeutlichen zu können, muss jedoch zuvor der Sinn des genannten Bedingungsverhältnisses bestimmt werden. In erster Linie erfordert dies, die Rede von der Identität unserer selbst in Ansehung unserer Vorstellungen zu klären. Der Identitätsbegriff, der dabei im Spiel ist, ist offenbar nicht der, der in Behauptungen der Form „x ist identisch mit y“ zum Zuge kommt. Denn in [b] ist nicht von Identität als einer Relation zwischen zwei Entitäten die Rede, die, wenn sie besteht, die Austauschbarkeit von x und y in einigen oder allen Kontexten erlaubt, sondern eher von Identität als einer Eigenschaft, die eine Entität hinsichtlich einer Klasse von Entitäten besitzt. Das heißt, der von Kant hier intendierte Identitätsbegriff kommt in Behauptungen der Form „x ist bezüglich aller Elemente y einer Klasse K identisch“ zum Ausdruck. Solche Behauptungen sind so zu verstehen, dass alle y aus K in einer gemeinsamen Beziehung zu x stehen. Auf diese Weise kann man beispielsweise sagen, dass ein Vater bezüglich all seiner Kinder identisch ist, oder dass ein Gegenstand bezüglich aller Eigenschaften, die er exemplifiziert, identisch ist. Im Anschluss an diesen Identitätsbegriff lässt sich ein bestimmter Begriff von Einheit einführen: Eine Gruppe von Entitäten hat genau dann Einheit hinsichtlich x, wenn x bezüglich all dieser Entitäten identisch ist. So besitzt eine Gruppe von Kindern hinsichtlich ihres Vaters Einheit; und eine Gruppe von Eigenschaften, die von einem Gegenstand exemplifiziert werden, hinsichtlich dieses Gegenstandes. Die gemeinsame Beziehung, in der all meine Vorstellungen zu mir selbst, zum Ich, stehen, besteht darin, dass all diese Vorstellungen von diesem Ich gedacht werden können. Kant bringt diese Auffassung in einem der berühmtesten Sätze der B-Deduktion so zum Ausdruck: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“ (B 131). Vor diesem Hintergrund bedeutet die Rede von der Identität meiner selbst in Ansehung all meiner Vorstellungen, dass das ‚Ich denke‘ bezüglich all dieser Vorstellungen zur Gegebenheit kommen kann. Der Gedanke einer Identität meiner selbst ist also nicht der Gedanke der Selbigkeit eines wirklichen Dinges, einer Ich-Substanz, sondern der Gedanke der Selbig-
_____________ vant sind? Da ich dies für unverständlich halte, habe ich das Bedingungsverhältnis in der obigen Weise reformuliert.
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keit eines möglichen Bewusstseins von..., d. h. der reinen Apperzeption. Entsprechend bedeutet der Gedanke, dass alle meine Vorstellungen hinsichtlich meiner selbst, dem Ich, Einheit besitzen, nicht, dass sie hinsichtlich einer Ich-Substanz, sondern, dass sie hinsichtlich der reinen Apperzeption Einheit besitzen. Es ist genau diese Eigenschaft, Einheit hinsichtlich der reinen Apperzeption zu besitzen, die Kant in Satz [c] „zu einem Bewußtsein gehören“ nennt. Und meine Vorstellungen besitzen genau dann Einheit hinsichtlich der reinen Apperzeption bzw. gehören genau dann zu einem Bewusstsein, wenn das ‚Ich denke‘ hinsichtlich all dieser Vorstellungen zur Gegebenheit kommen kann. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich nun verdeutlichen, wie mit Hilfe von Satz [c] begründet werden kann, dass eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz meiner Vorstellungen darin besteht, dass hinsichtlich dieser Vorstellungen Identität meiner selbst besteht. Der Teil von Satz [c], auf den es für die Begründung ankommt, besagt: [c1] Meine Vorstellungen stellen „in mir nur dadurch etwas vor“, [c2] dass sie mit allen anderen meinen Vorstellungen „zu einem Bewußtsein gehören“. Die Begründung selbst verläuft dann folgendermaßen: Das Bestehen von Identität meiner selbst hinsichtlich meiner Vorstellungen würde bedeuten, dass das ‚Ich denke‘ bezüglich dieser Vorstellungen zur Gegebenheit kommen kann. Angenommen nun, bezüglich einer beliebigen meiner Vorstellungen, V, ist es nicht möglich, dass das ‚Ich denke‘ zur Gegebenheit kommt. Dann gehört V nicht [c2] zusammen mit all meinen anderen Vorstellungen zu einem Bewusstsein. Wenn man nun zeigen kann, dass V in dem genannten Fall nicht [c1] in mir etwas vorstellt, und wenn man weiterhin zeigen kann, dass es eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz meiner Vorstellungen ist, dass sie in mir etwas vorstellen, dann folgt: (iii)
Die Identität meiner selbst hinsichtlich meiner Vorstellungen – anders gesagt, dass das ‚Ich denke‘ bezüglich meiner Vorstellungen zur Gegebenheit kommen kann – ist eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz dieser Vorstellungen.
Um diese Begründung zu vervollständigen, müssen noch die beiden offen gelassenen Punkte untersucht werden. Es ist also erstens zu klären, warum eine meiner Vorstellungen nicht in mir etwas vorstellt, wenn sie deshalb nicht zusammen mit allen anderen meinen Vorstellungen zu einem Bewusstsein gehört, weil bezüglich ihrer das ‚Ich denke‘ nicht zur Gegebenheit kommen kann; und zweitens, warum es eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz meiner Vorstellungen ist, dass sie in mir etwas vorstellen.
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Offenbar ist für die Klärung beider Punkte ein Verständnis davon nötig, was es für Kant heißt, dass eine meiner Vorstellungen in mir etwas vorstellt. Man könnte zunächst vermuten, Kant sei der Ansicht, dass alle Vorstellungen, die ich habe, in mir etwas vorstellen. Denn er betont an einer Stelle: „Alle Vorstellungen haben, als Vorstellungen, ihren Gegenstand“ (A 108). Demnach stellt jede Vorstellung etwas vor. Dass eine meiner Vorstellungen etwas vorstellt, bedeutet jedoch nicht, dass sie auch für mich etwas vorstellt. Mit Vorstellungen, die „in mir“ etwas vorstellen, sind m. E. aber nur die letzteren gemeint. Ich gehe davon aus, dass Kant die Vorstellungen, die in jemandem etwas vorstellen, mit solchen Vorstellungen identifiziert, bei denen aus der Innenperspektive dieser Person feststellbar ist, was sie vorstellen. Anders gesagt, Vorstellungen stellen genau dann in mir etwas vor, wenn ich ihren Gehalt beschreiben kann. Dies vorausgesetzt, lassen sich nun die beiden offenen Punkte klären. Stellen Vorstellungen in mir genau dann etwas vor, wenn ich ihren Gehalt beschreiben kann, dann ist für den ersten Punkt zu zeigen, dass ich den Gehalt einer meiner Vorstellungen nicht beschreiben kann, wenn bezüglich ihrer das ‚Ich denke‘ nicht zur Gegebenheit kommen kann und sie aus diesem Grund nicht mit meinen anderen Vorstellungen zu einem Bewusstsein gehört. Was heißt es, dass das ‚Ich denke‘ bezüglich einer meiner Vorstellungen zur Gegebenheit kommen kann? Dass ich das ‚Ich denke‘ auf diese Vorstellung beziehen kann, und zwar im Rahmen eines Urteils, da jedes Denken Urteilen ist. Die allgemeine Form solcher Urteile ist aber nicht „Ich denke die Vorstellung V“, sondern kommt eher in Sätzen der Form „Ich p G“ zum Ausdruck, wobei ‚G‘ für den Gehalt der Vorstellung und ‚p‘ für ein Verb des Perzipierens steht. 10 Da solche Sätze ohne weiteres als Beschreibungen des Gehalts meiner Vorstellungen verstanden werden können, lässt sich feststellen: Wenn das ‚Ich denke‘ bezüglich einer meiner Vorstellungen nicht zur Gegebenheit kommen kann, dann kann ich den Gehalt dieser Vorstellung nicht beschreiben. Der erste Punkt kann also als geklärt gelten. Nun zum zweiten Punkt. Stellen Vorstellungen in mir genau dann etwas vor, wenn ich ihren Gehalt beschreiben kann, dann ist für diesen Punkt nachzuweisen, dass es eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz meiner Vorstellungen ist, dass ich ihren Gehalt beschreiben kann. Das Argument dafür lautet folgendermaßen. Bin ich nicht in der Lage, den Gehalt einer beliebigen meiner Vorstellungen zu beschreiben, so kann ich diese Vorstellung auch nicht mir selbst zuschreiben. Denn Selbstzuschreibungen meiner Vorstellungen, z. B. „Ich weiß, dass ich einen Apfel sehe“, enthalten prinzipiell Beschreibungen des Gehalts
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Vgl. dazu oben S. 190.
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dieser Vorstellungen, im Beispiel: „Ich sehe einen Apfel“. Wenn ich also den Gehalt einer meiner Vorstellungen nicht beschreiben kann, dann kann ich mir diese Vorstellung auch nicht selbst zuschreiben. Kann ich mir jedoch eine meiner Vorstellungen nicht selbst zuschreiben, dann, so folgt aus Satz (ii), ist diese Vorstellung epistemisch irrelevant. Dass ich den Gehalt einer beliebigen meiner Vorstellungen beschreiben kann, ist also eine notwendige Bedingung ihrer epistemischen Relevanz. Da die in dem Argument für Satz (iii) offenen Punkte damit geklärt sind, ist die Begründung dieses Satzes nun vollständig. Das heißt, wir wissen, dass Satz (iii) gilt. Da diese Begründung an keiner Stelle auf irgendwelche besonderen Erfahrungen rekurriert ist, lässt sich darüber hinaus sagen, wie Kant in Satz [b] behauptet, dass wir a priori wissen, dass Satz (iii) gilt. 11 Vor dem Hintergrund des oben dargelegten terminologischen Zusammenhangs zwischen Identität und Einheit lässt sich Satz (iii) auch anders formulieren. Denn Identität meiner selbst, d. h. Identität der reinen Apperzeption, hinsichtlich meiner Vorstellungen besteht genau dann, wenn diese Vorstellungen hinsichtlich meiner selbst, d. h. hinsichtlich der reinen Apperzeption, Einheit besitzen. Satz (iii) ist also gleichbedeutend damit, dass es eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz meiner Vorstellungen ist, dass sie hinsichtlich der reinen Apperzeption Einheit besitzen. Oder kürzer gesagt: (iii')
Alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen besitzen hinsichtlich der reinen Apperzeption Einheit.
Geht man davon aus, dass wir a priori um den genannten terminologischen Zusammenhang zwischen Identität und Einheit wissen, dann wissen wir, indem wir a priori wissen, dass Satz (iii) gilt, auch a priori, dass Satz (iii') gilt. Satz [d] bringt nun die erste Etappe der ‚Deduktion von oben‘ zu einem Abschluss. „[d] Dies Prinzip steht a priori fest und kann das transzendentale Prinzip der Einheit alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen (mithin auch in der Anschauung) heißen.“ (A 116)
Das Prinzip, auf das sich Kant hier bezieht, ist in Satz (iii) bzw. in dem äquivalenten Satz (iii') formuliert worden. Es „steht a priori fest“, weil wir a priori wissen, dass es gilt. Dass Kant dieses Prinzip ein „Prinzip der Einheit alles Mannigfaltigen unserer Vorstellungen“ nennen kann, geht aus der
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Dass es sich hier um eine apriorische Begründung von Satz (iii) handelt, hängt davon ab, dass Satz (ii) als apriorischer Satz gilt und die anderen in Anspruch genommenen Zusammenhänge begrifflicher Natur sind. Davon möchte ich hier ausgehen.
6.3 Einbildungskraft
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Formulierung des Prinzips in Satz (iii') hervor: „[A]lles Mannigfaltige unserer Vorstellungen“ – einschränkend wäre hinzuzusetzen: sofern es epistemisch relevant ist – besitzt „Einheit“, und zwar, wie Satz (iii') festgestellt hat, Einheit hinsichtlich der reinen Apperzeption. Und dieses Prinzip ist ein „transzendentale[s] Prinzip“, weil wir erstens a priori wissen, dass es gilt, und weil zweitens die Möglichkeit aller Erfahrung insofern von ihm abhängt, als es eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz unserer Vorstellungen enthält.
6.3 Einbildungskraft 6.3.1 Synthetische Einheit und Synthesis Der folgende Satz der ‚Deduktion von oben‘ bringt einen zentralen neuen Gesichtspunkt ins Spiel, indem er die Einheit aus Satz (iii') als ,synthetische Einheit‘ bezeichnet: „[e] Nun ist die Einheit des Mannigfaltigen in einem Subjekt synthetisch: [f] also gibt die reine Apperzeption ein Principium der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung an die Hand.“ (A 116 f.)
Unter der „Einheit des Mannigfaltigen in einem Subjekt“ ist die Einheit zu verstehen, in der alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption stehen. Kants These, [e] dass diese Einheit synthetisch ist, wirkt unvermittelt. Dieser Eindruck lässt sich jedoch zerstreuen, wenn man einen Punkt seiner bisherigen Argumentation ins Spiel bringt, der im vorigen Abschnitt unberücksichtigt blieb. Satz [c] besagt, dass meine Vorstellungen „[c1] in mir [...] nur dadurch etwas vorstellen, daß [c2] sie mit allem andern zu einem Bewusstsein gehören, mithin [c3] darin wenigstens müssen verknüpft werden können“ (A 116). Das ist m. E. so zu verstehen, dass [c1] sowohl [c2] als auch [c3] impliziert. Im vorigen Abschnitt ging es zwar um den Zusammenhang zwischen [c1] und [c2], nicht aber um den Zusammenhang zwischen [c1] und [c3], da er in Kants Begründung von Satz (iii) keine Rolle spielte. Dieser Zusammenhang ist aber, wenn die Legitimität von Satz [e] in Frage steht, entscheidend. Er lässt sich so formulieren: Wenn eine meiner Vorstellungen in mir etwas vorstellt, anders gesagt, wenn ich ihren Gehalt beschreiben kann 12, dann ist sie mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar. Unter der Voraussetzung, dass dieser Zusammenhang besteht, kann man dann folgendermaßen argumentieren: Da ich den Gehalt jeder meiner epistemisch relevanten Vorstellungen
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Siehe oben S. 195.
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beschreiben kann 13, und jede meiner Vorstellungen, deren Gehalt ich beschreiben kann, mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist, ist die Einheit, in der alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption stehen, in dem Sinne ‚synthetisch‘, dass jede dieser Vorstellungen mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist. Worauf es demnach für die Begründung von Satz [e] ankommt, ist der Nachweis, dass eine beliebige meiner Vorstellungen, deren Gehalt ich beschreiben kann, mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist. In Hinblick auf dieses Beweisziel ist es sinnvoll, zwei Fälle zu unterscheiden, je nachdem, um welche Art von Vorstellung es sich handelt, ob erstens um einen Begriff oder zweitens um eine Empfindung oder Anschauung. In der Erörterung des ersten Falls können reine Verstandesbegriffe (Notionen) und erfahrungstranszendente „Begriff[e] aus Notionen“ (Ideen) 14 außen vor bleiben. Sie sind gewissermaßen Metabegriffe. Bei ihnen ist nicht die Frage, ob sie selbst Elemente der fraglichen synthetischen Einheit sind, sondern ob sie – im Falle der Notionen – festlegen, welche Struktur diese synthetische Einheit haben muss, oder ob diese Struktur durch sie – im Falle der Ideen – noch transzendiert werden kann und muss. Damit wird der erste Fall, für den nun lediglich empirische und mathematische Begriffe zu betrachten sind, relativ trivial. Denn um zu zeigen, dass einer meiner empirischen oder mathematischen Begriffe B mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpft werden kann, wird die Prämisse, dass ich den Gehalt von B beschreiben kann, gar nicht benötigt. Das zu Zeigende folgt hier bereits daraus, dass es sich bei B um eine meiner Vorstellungen handelt. Denn ist B eine Vorstellung, die ich habe, dann muss ich mindestens die in jedem Besitz solcher Begriffe implizierte minimale Fähigkeit haben, B-artiges von solchem zu unterscheiden, das nicht B-artig ist. Das bedeutet aber, dass B mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist, und zwar mit denjenigen Vorstellungen, deren Gehalt ich in Form eines Urteils durch B bestimmen kann. 15 Von zentraler Bedeutung ist für Kant der zweite Fall. Das zeigt sich daran, dass Kant das Prinzip, das er durch den Satz [e] in Satz [f] etablie-
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Das folgt aus dem oben, S. 196, gezeigten Satz, dass es eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz meiner Vorstellungen ist, dass ich ihren Gehalt beschreiben kann. In A 320, B 377 erklärt Kant: „[D]er reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat [...], heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff.“ Dass ich überhaupt solche Vorstellungen habe, ist eine notwendige Bedingung der Möglichkeit, dass ich B in dem genannten minimalen Sinn besitze.
6.3 Einbildungskraft
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ren will, „ein Principium der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung“ nennt. Unter diesem „Mannigfaltigen“ können hier aber nur Empfindungen oder selbst Anschauungen verstanden werden. 16 In der Erörterung dieses Falles werde ich Empfindungen, empirische und reine Anschauungen zusammenfassend als ‚sinnliche Vorstellungen‘ bezeichnen. Die Frage ist dann, ob sich unter der Prämisse, dass ich in der Lage bin, den Gehalt einer meiner sinnlichen Vorstellungen zu beschreiben, nachweisen lässt, dass diese Vorstellung mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist. Die Prämisse ist hier, anders als im ersten Fall, für den die entsprechende Prämisse gar nicht benötigt wurde, offenbar von großer Bedeutung. Denn während ein mathematischer oder empirischer Begriff bereits dann mit anderen meiner Vorstellungen verknüpfbar ist, wenn wir diesen Begriff haben, folgt allein aus dem Haben einer sinnlichen Vorstellung nicht, dass sie mit anderen meiner Vorstellungen verknüpfbar ist. Wenn ich in der Lage bin, den Gehalt einer meiner sinnlichen Vorstellungen zu beschreiben, diesen Gehalt also durch irgendeinen Begriff ‚B‘ klassifizieren kann, dann muss es auch andere Vorstellungen geben, deren Gehalt ich bei anderen Gelegenheiten durch B klassifiziert habe oder klassifizieren kann. Denn es kann keine Begriffe geben, die ich nur auf einen einzigen Fall anwenden kann. Indem ich also beispielsweise den Gehalt einer meiner empirischen Anschauungen durch den Begriff ‚Apfel‘ beschreibe, bin ich zwingend auf die Behauptung festgelegt, dass ich andere Vorstellungen habe bzw. haben kann, deren Gehalt ich ebenfalls durch ‚Apfel‘ beschreiben kann, ich sie also mit diesen zu einer Klasse zähle. Man kann das auch so ausdrücken, dass mein Urteil „Ich sehe einen Apfel“ prinzipiell über meine gegenwärtige Apfel-Anschauung hinausgeht, und zwar in dem Sinne, dass es einen impliziten Bezug dieser Anschauung auf andere, gegenwärtig nicht-aktuale Anschauungen derselben Art erfordert. Auf dieselbe Weise kann man offenbar auch in puncto Empfindung argumentieren. Auch mein Urteil „Ich empfinde etwas Rotes/Kaltes“ erfordert, dass ein impliziter Bezug der betreffenden Empfindung auf andere, gegenwärtig nicht-aktuale Empfindungen derselben Art vorliegt. Der Zusatz, dass es sich um einen ‚impliziten‘ Bezug handelt, ist deshalb wichtig, weil eine Beschreibung des Gehalts einer meiner sinnlichen Vorstellungen durch B nicht unbedingt erfordert, dass ich mir tatsächlich irgendeine andere B-Vorstellung ins Gedächtnis rufe oder ausmale. In den allermeisten Fällen, in denen wir solche Beschreibungen geben, finden solche Tätigkeiten gerade nicht statt. Läge aber gar kein, also auch kein
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Aber nicht die reinen Anschauungen des Raums und der Zeit. Denn diese beiden Anschauungen können nicht als Mannigfaltiges irgendeiner anderen Anschauung gelten.
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6 Die ‚Deduktion von oben‘
impliziter Bezug meiner gegenwärtig aktualen sinnlichen Vorstellung auf andere, gegenwärtig nicht-aktuale sinnliche Vorstellungen vor, würde diese Vorstellung also, wie Kant in [c3] sagt, mit letzteren in einem Bewusstsein nicht „wenigstens [...] verknüpft werden können“ (A 116; Hvh. v. Verf., M. W.), so würde es auch keinen Begriff geben, durch den ich den Gehalt dieser Vorstellung beschreiben könnte. Anders gesagt, wenn ich überhaupt irgendeine Beschreibung des Gehalts einer meiner gegenwärtig aktualen sinnlichen Vorstellungen geben kann, dann ist eine Verknüpfung dieser Vorstellung mit anderen meiner sinnlichen Vorstellungen in einem Bewusstsein möglich. Genau dies war aber für den zweiten Fall zu zeigen. Die bisherigen Überlegungen dieses Abschnitts können nun folgendermaßen zusammengefasst werden. Kants These in Satz [e] ist, dass die Einheit, in der alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption stehen, synthetisch ist. Der einzige direkte Anhaltspunkt für diese These in den Sätzen [a]-[d] ließ sich Satz [c] entnehmen, denn dort ist von der Verknüpfbarkeit meiner Vorstellungen die Rede. Satz [c] enthält die Behauptung, dass meine Vorstellungen nur dann „in mir [...] etwas vorstellen“, wenn sie in „einem Bewußtsein [...] verknüpft werden können“ (A 116). Da Vorstellungen in mir genau dann etwas vorstellen, wenn ich ihren Gehalt beschreiben kann 17, ist diese Behauptung durch den Nachweis begründet worden, dass jede meiner Vorstellungen, deren Gehalt ich beschreiben kann, mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist. Da weiterhin gilt, dass ich den Gehalt jeder meiner epistemisch relevanten Vorstellungen beschreiben kann 18, lässt sich als Resultat festhalten: Die Einheit, in der Satz (iii') zufolge alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption stehen, ist in dem Sinne synthetisch, dass jede dieser Vorstellungen mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar sein muss. Im Fortgang der ‚Deduktion von oben‘ wird dieses Resultat jedoch auf sinnliche Vorstellungen eingeschränkt. Satz [f] zufolge „gibt die reine Apperzeption ein Principium der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung an die Hand.“ (A 116 f.) Unter solchem „Mannigfaltigen“ können hier nur Empfindungen oder selbst Anschauungen, d. h. sinnliche Vorstellungen, verstanden werden. Es geht Kant fortan also nicht um alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen, sondern lediglich um diejenigen unter ihnen, die sinnlich sind. Der Grund für diese Einschränkung liegt m. E. darin, dass Kant die syntheti-
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Siehe oben S. 195. Wie bereits (S. 198 Anm. 13) gesagt, folgt dies aus dem oben, S. 196, gezeigten Satz, dass es eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz meiner Vorstellungen ist, dass ich ihren Gehalt beschreiben kann.
6.3 Einbildungskraft
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sche Einheit im nächsten Argumentationsschritt von der Synthesis der Einbildungskraft her zu verstehen sucht, diese Synthesis sich aber ausschließlich auf sinnliche Vorstellungen bezieht. Bevor ich auf diesen Schritt näher eingehe, möchte ich als Resultat der Rekonstruktion des „Principium[s] der synthetischen Einheit“ festhalten: (iv)
Die Einheit, in der all meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption stehen, ist in dem Sinne synthetisch, dass jede dieser Vorstellungen mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist.
Ich werde die Einheit, in der all meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption stehen, im Folgenden als die ‚Einheit der Apperzeption‘ bezeichnen. Der nächste Argumentationsschritt der ‚Deduktion von oben‘ erörtert das Verhältnis zwischen Synthetizität der Einheit der Apperzeption einerseits und Synthesis andererseits. Da Synthesis bei Kant an die Einbildungskraft gebunden ist, ist dies die Stelle des Argumentationsgangs, an der er direkt die Einbildungskraft ins Spiel bringt. „[g] Diese synthetische Einheit setzt aber eine Synthesis voraus, oder schließt sie ein, [h] und soll jene a priori notwendig sein, [j] so muß letztere auch eine Synthesis a priori sein.“ (A 118)
Ich möchte die Rekonstruktion dieser Passage mit Satz [h] beginnen. In welchem Sinn kann die synthetische Einheit aus Satz (iv) „a priori notwendig“ genannt werden? Mit Satz (iii') ist deutlich geworden, dass alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption Einheit besitzen. Die Begründung dieses Satzes ist ohne den Rekurs auf irgendwelche besonderen Erfahrungen ausgekommen. Kant sagt in Satz [d] deshalb zu Recht: „Dies Prinzip steht a priori fest“ (A 116). In Satz [e] qualifiziert er die genannte Einheit dann als synthetische, berücksichtigt ab Satz [f] aber nur noch die sinnlichen Vorstellungen dieser synthetischen Einheit. Die Sätze [e] und [f] sind in der obigen Rekonstruktion durch Satz (iv) eingeholt worden. Da dieser Satz ebenfalls nicht im Rekurs auf irgendwelche besonderen Erfahrungen begründet wurde, steht auch er a priori fest. Nimmt man beides zusammen, so wird deutlich, inwiefern die synthetische Einheit der Apperzeption „a priori notwendig“ ist: Ihr Bestehen steht a priori fest, d. h. es ist notwendig, dass jede meiner epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist. Dass die Einheit, in der alle meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption stehen, Satz (iv) zufolge synthetisch ist, heißt, dass jede dieser Vorstellungen mit anderen
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6 Die ‚Deduktion von oben‘
meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist. Kant versteht die Möglichkeit der Verknüpfungen, die für die genannte synthetische Einheit in einem Subjekt charakteristisch ist, von diesem Subjekt selbst her. Er erklärt deshalb in Satz [g], dass diese synthetische Einheit eine Synthesis ‚voraussetzt oder einschließt‘. Was bedeutet das? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass „A schließt B ein“ nicht ganz dasselbe wie „A setzt B voraus“ bedeutet. Das lässt sich anhand eines Beispiels verdeutlichen. Man kann sagen: Dass eine Zahl durch 4 teilbar ist, schließt ein, dass sie gerade ist. Das bedeutet, die Zahl ist nur dann durch 4 teilbar, wenn sie gerade ist. Man kann aber auch sagen: Dass eine Zahl durch 4 teilbar ist, setzt voraus, dass sie gerade ist. Allerdings bedeutet das etwas anderes: Die Zahl kann nur dann durch 4 teilbar sein, wenn sie gerade ist. Anders ausgedrückt, schließt A B genau dann ein, wenn B eine notwendige Bedingung von A ist, und setzt A B genau dann voraus, wenn B eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von A ist. Letzteres ist offenbar die stärkere Behauptung. Überträgt man dies auf Satz [g], so wird deutlich, dass dieser Satz behauptet, dass eine gewisse Synthesis als notwendige Bedingung oder als notwendige Bedingung der Möglichkeit des Bestehens der synthetischen Einheit aus Satz (iv) fungiert. Diese Behauptung kann jedoch auf zweierlei Art verstanden werden. Denn der Ausdruck ‚Synthesis‘ kann entweder für einen Synthesisakt oder für eine Synthesisfähigkeit stehen. 19 Angenommen ‚Synthesis‘ steht in Satz [g] für einen Synthesisakt. Der Satz würde in diesem Fall behaupten, dass die synthetische Einheit der Apperzeption nur dann besteht oder nur dann bestehen kann, wenn dieser Synthesisakt stattfindet, was wohl bedeutet, dass diese Einheit ohne diesen Synthesisakt nicht zustande kommt oder nicht zustande kommen könnte. Dies ist m. E. so zu verstehen, dass dieser Synthesisakt an der Erzeugung der synthetischen Einheit beteiligt ist oder beteiligt sein muss. Diese Behauptung ist aber aus verschiedenen Gründen zurückzuweisen. Erstens ist daran zu erinnern, dass die synthetische Einheit aus Satz (iv) nicht dadurch charakterisiert ist, dass irgendeine Vorstellung, die zu dieser Einheit gehört, mit anderen Vorstellungen tatsächlich verknüpft ist, sondern dadurch, dass jede dieser Vorstellungen mit anderen verknüpfbar ist. Es bliebe aber völlig unklar, was es bedeuten soll, dass ein Synthesisakt an der Erzeugung nicht nur der Verknüpfung, sondern der Verknüpfbarkeit jeder meiner epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen beteiligt ist oder sein muss. Außerdem ist zweitens zu betonen, dass uneinsichtig wäre, warum die synthetische Einheit der Apperzeption nur dann bestehen soll oder kann, wenn ein derartiger Synthesisakt stattfindet. Wenn man
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Vgl. oben Abschnitt 4.5.3, S. 124 ff.
6.3 Einbildungskraft
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bereit ist, die metaphysische Annahme des Stattfindens eines solchen Aktes zuzugestehen, warum sollte man dann nicht auch irgendeine andere metaphysische Annahme zulassen, die dasselbe leistet, beispielsweise die Annahme, dass diese Einheit durch Gott in uns gewirkt ist? Und schließlich ist drittens zu beachten, dass sich für die ‚Deduktion von oben‘ nicht die Frage nach realen Antezedenzbedingungen der genannten synthetischen Einheit, sondern die Frage nach den argumentativen Konsequenzen ihres Bestehens stellt. Aufgrund dieser sachlichen Schwierigkeiten sehe ich keine Möglichkeit, unter ‚Synthesis‘ in Satz [g] einen Synthesisakt zu verstehen. Ich gehe daher davon aus, dass ‚Synthesis‘ hier für eine Synthesisfähigkeit steht. Was bedeutet in dieser Lesart die mit Satz [g] aufgestellte Behauptung, dass eine gewisse Synthesis als notwendige Bedingung oder als notwendige Bedingung der Möglichkeit des Bestehens der synthetischen Einheit der Apperzeption fungiert? Sie ist als die Behauptung zu verstehen, dass die genannte synthetische Einheit nur dann besteht, wenn wir eine gewisse Synthesisfähigkeit besitzen, oder nur dann bestehen kann, wenn wir diese Fähigkeit besitzen. Zumindest der Teil dieser Behauptung, der besagt, dass die genannte synthetische Einheit nur dann besteht, wenn wir eine gewisse Synthesisfähigkeit besitzen, macht Sinn. Gesteht man Kant zu, dass uns keine Verknüpfung von Vorstellungen gegeben sein kann bzw. jede Vorstellungsverknüpfung auf uns selbst zurückgehen muss, so ist auch anzunehmen, dass solche Verknüpfungen, die dem Begriff der synthetischen Einheit aus (iv) zufolge möglich sind, nicht anders als durch uns selbst realisiert werden können. Daher erfordert die Annahme des Bestehens der synthetischen Einheit aus (iv), dass wir die Synthesisfähigkeit besitzen, Verknüpfungen, die dem Begriff dieser Einheit zufolge möglich sind, zu realisieren. Und in diesem Sinn kann Kant in Satz [g] zu Recht behaupten, dass diese synthetische Einheit eine Synthesis voraussetzt oder, besser gesagt, einschließt. In der Folge argumentiert Kant dann, [j] dass es sich bei dieser Synthesisfähigkeit um eine Synthesisfähigkeit „a priori“ handeln muss, weil [h] die synthetische Einheit der Apperzeption „a priori notwendig“ ist. Wie kann dieses Argument rekonstruiert werden? Satz [h] bedeutet, wie bereits erläutert, dass diese synthetische Einheit a priori besteht, d. h. dass es notwendig ist, dass jede meiner epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist. 20 Das Bestehen dieser synthetischen Einheit, so hat sich zuletzt in Bezug auf Satz [g] gezeigt, schließt jedoch ein bzw. impliziert,
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Siehe oben S. 201.
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dass wir die Synthesisfähigkeit besitzen, solche Verknüpfungen zu realisieren. Das bedeutet, dass es notwendig ist, dass wir diese Synthesisfähigkeit besitzen. 21 Anders gesagt: (v)
Ich muss eine Synthesisfähigkeit besitzen, aufgrund der ich die Verknüpfungen, die dem Begriff der synthetischen Einheit der Apperzeption zufolge möglich sind, realisieren kann.
Um was für eine Synthesisfähigkeit es sich dabei genau handelt, ist bisher offen geblieben. Im Folgenden erörtert Kant zwei Varianten. Der ersten Variante nach (Sätze [k]-[m]) handelt es sich bei dieser Synthesisfähigkeit um die reine Synthesis der Einbildungskraft und der zweiten Variante nach (Sätze [n]-[p]) um die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft. In beiden Varianten ist die Frage leitend, ob die jeweilige Synthesisfähigkeit auf einer apriorischen Einheit beruhen muss, anders gesagt, ob sie sich notwendigerweise nach apriorischen Regeln ausüben lässt. In beiden Varianten formuliert Kant ähnliche Resultate. Am Ende der ersten Variante erklärt er, „das Principium der notwendigen Einheit der reinen (produktiven) Synthesis der Einbildungskraft“ ist „der Grund der Möglichkeit aller Erkenntnis“ (A 118). Und am Ende der zweiten Variante heißt es, dass „die transzendentale Einheit der [transzendentalen] Synthesis der Einbildungskraft die reine Form aller möglichen Erkenntnis“ ist (ebd.). Die leitende Frage in beiden Varianten – ob die jeweilige Synthesisfähigkeit auf einer apriorischen Einheit, also auf apriorischen Regeln beruhen muss – ist letztlich dadurch motiviert, dass diese Einheit von den Kategorien her verständlich gemacht werden soll. Denn sollte dies gelingen, dann wären die Kategorien die Begriffe der apriorischen Einheit der jeweiligen Synthesis der Einbildungskraft. Im Folgenden werde ich nur die zweite, an der transzendentalen Synthesis orientierte Variante untersuchen. Denn meiner Auffassung nach kann das Deduktionsproblem prinzipiell nicht in Hinblick auf die reine
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In formaler Hinsicht folgt ɷq allerdings nicht aus der Konjunktion von ɷp und p q. (Auf diesen Punkt habe ich bereits in der Rekonstruktion von Kants Argument in A 108 hingewiesen; siehe oben S. 185 Anm. 76). Ich werde im Folgenden dennoch davon ausgehen, dass sich im vorliegenden Fall auf diese Weise argumentieren lässt. – Vermutlich ist dieses Zwischenresultat ohnehin schwächer als das von Kant intendierte. Denn es handelt lediglich vom apriorischen Besitz einer gewissen Synthesisfähigkeit, nicht aber vom Besitz einer apriorischen Synthesisfähigkeit, einer Synthesisfähigkeit, die etwa in dem Sinne ‚a priori‘ ist, dass all ihre Ausübungen unter apriorischen Regeln stehen. Ein derartiges, stärkeres Zwischenresultat gibt Kants Argumentation an dieser Stelle jedoch keinesfalls her. B. Thöle (1991, 239) weist im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit den Sätzen [g]-[j] auf einen ähnlichen Punkt hin. Anders als Thöle sehe ich jedoch keinen Anlass dazu, die Rekonstruktion der ‚Deduktion von oben‘ an diesem Punkt, der etwa die Mitte der Wegstrekke des gesamten Arguments markiert, abzubrechen.
6.3 Einbildungskraft
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Synthesis gelöst werden. Da ich diese Auffassung bereits im vorigen Kapitel begründet habe 22, möchte ich hier nur an einen Punkt erinnern: Die Kategorie der Realität und die für Kants Begründung der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis zentralen Kategorien der Substanz und der Kausalität kommen als Einheitsbegriffe einer exklusiv auf a priori gegebenes bzw. reines Mannigfaltiges bezogenen und damit reinen Synthesis im Grunde genommen gar nicht in Frage. Es ist unverständlich, wie diese Kategorien im Bereich exklusiv reiner Anschauung realisierbar sein sollten. Kant hat daher in einer Passage der Transzendentalen Methodenlehre zu Recht herausgestellt, dass diese Begriffe „die Synthesis der empirischen Anschauungen (die also a priori nicht gegeben werden können)“ ‚bezeichnen‘ (A 722, B 750) bzw. für „eine Regel der Synthesis der Wahrnehmungen [stehen], die keine reine Anschauungen sind, und sich also a priori nicht geben lassen.“ (A 722 Anm., B 750 Anm.) 6.3.2 Transzendentale Synthesis Die an der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft orientierte Fortsetzung der Argumentation beginnt mit einer Definition des Begriffs dieser Synthesis. „[n] Nun nennen wir die Synthesis des Mannigfaltigen in der Einbildungskraft transzendental, wenn ohne Unterschied der Anschauungen sie auf nichts, als bloß auf die Verbindung des Mannigfaltigen a priori geht“ (A 118).
Für das Verständnis dieser Definition ist es entscheidend, dass man den Ausdruck ‚a priori‘ im Definiens grammatisch richtig zuordnet. Ist gemeint, dass die transzendentale Synthesis lediglich auf die Verbindung des a priori gegebenen, also reinen Mannigfaltigen geht, oder dass sie a priori auf die Verbindung des Mannigfaltigen geht? Fungiert ‚a priori‘ also adjektivisch, als nähere Bestimmung des Mannigfaltigen, oder adverbial, als nähere Bestimmung von ‚gehen auf‘? 23 Meiner Auffassung nach ist letzteres der Fall. Denn die transzendentale Synthesis soll „ohne Unterschied der Anschauungen“ und damit insbesondere unabhängig davon, ob diese Anschauungen rein oder empirisch sind, auf die Verbindung des Mannigfaltigen dieser Anschauungen gehen. Bei diesem Mannigfaltigen kann es sich daher sowohl um reines bzw. a priori gegebenes als auch um empirisch
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Siehe oben Abschnitt 5.3.4, insbes. S. 154 f. Ersteres glaubt Heidegger, der Satz [n] entnimmt: „Die reine produktive Einbildungskraft nennt Kant auch die ‚transzendentale‘.“ (Heidegger, GA 3, 80.) Letzteres ist W. Carl zufolge der Fall (Carl 1992, 208 f. Anm. 21, 211 Anm. 24).
206
6 Die ‚Deduktion von oben‘
gegebenes Mannigfaltiges handeln. 24 Damit muss aber der Ausdruck ‚a priori‘ in Satz [n] als adverbiale Bestimmung von ‚gehen auf‘ verstanden werden. 25 Was sind nun Synthesisfähigkeiten, die „ohne Unterschied der Anschauungen“ und „a priori“ auf die Verbindung des Mannigfaltigen gehen, d. h. transzendentale Synthesen? Orientieren wir uns zunächst an solchen Synthesisfähigkeiten, die wir besitzen, wenn wir gewisse Begriffe auf sinnlich Gegebenes anwenden können. Eine Synthesisfähigkeit, die in der möglichen Anwendung irgendeines empirischen oder mathematischen Begriffs auf Sinnliches liegt, kann keine transzendentale Synthesis im Sinne der Definition sein. Denn die in einer solchen möglichen Anwendung eines mathematischen Begriffs, etwa ‚Dreieck‘, implizierte Synthesisfähigkeit, geht zwar „a priori“, d. h. unabhängig von jeder besonderen Erfahrung, auf eine bestimmte Verbindung von drei Linien, aber nicht „ohne Unterschied der Anschauungen“. Denn offenbar gibt es reine Anschauungen, die nicht Anschauungen von Dreiecken sind. Und da ebenso offenbar auch nicht alle empirischen Anschauungen etwa Apfel-Anschauungen sind, geht auch die in der möglichen Anwendung eines empirischen Begriffs (wie ‚Apfel‘) auf Sinnliches implizierte Synthesisfähigkeit nicht „ohne Unterschied der Anschauungen“ auf die Verbindung des Mannigfaltigen (und schon gar nicht a priori). Demgegenüber stellt sich die Situation bei denjenigen Synthesisfähigkeiten, die wir besitzen, wenn wir reine Verstandesbegriffe auf sinnlich Gegebenes anwenden können, anders dar. Bei derartigen Synthesisfähigkeiten würde es sich um transzendentale Synthesen im Sinne der Definition handeln. Sie gingen „ohne Unterschied der Anschauungen“ und „a priori“ auf die Verbindung des Mannigfaltigen, weil sie sich auf alles sinnlich Gegebene (zumindest auf alles empirisch Gegebene 26) bezögen und die Frage eines solchen Bezugs unabhängig von jeder besonderen Erfahrung geklärt
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26
Es ist also davon auszugehen, dass es sich um dasselbe Mannigfaltige handelt, von dem in Satz [f] als dem „Mannigfaltigen in aller möglichen Anschauung“ die Rede war. Vgl. dazu Kants erste, aus dem Frühjahr 1780 stammende Definition von transzendentaler Synthesis: Die transzendentale Synthesis „geht blos auf die Einheit der Apperception in der synthesis des Manigfaltigen überhaupt durch die Einbildungskraft.“ (‚Loses Blatt‘ ‚B 12‘, AA 23.18.32/4.) Der Ausdruck ‚überhaupt‘ zeigt hier an, dass es sich bei diesem (sinnlichen) Mannigfaltigen sowohl um reines als auch um empirisches Mannigfaltiges handeln kann. Dieser Zusatz ist erforderlich, da sich etwa die Qualitätskategorien – anders als beispielsweise die Quantitätskategorien –exklusiv auf empirische Gegebenheiten beziehen sollen. Doch nicht nur die Rede etwa von Realität, sondern auch die Rede von Substanz oder Kausalität macht in Bezug auf den Bereich reiner Sinnlichkeit kaum Sinn. Entsprechend deutlich sagt Kant: „[W]enn mir der transzendentale Begriff einer Realität, Substanz, Kraft etc. gegeben ist, so bezeichnet er [...] lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen (die also nicht a priori gegeben werden können)“ (A 722, B 750).
6.3 Einbildungskraft
207
sein müsste. Doch dass die Synthesisfähigkeit, die wir besitzen, wenn wir reine Verstandesbegriffe auf sinnlich Gegebenes anwenden können, eine transzendentale Synthesis wäre, bedeutet nicht, dass wir über derartige transzendentale Synthesen verfügen. Denn dass wir diese Begriffe auf sinnlich Gegebenes anwenden können, soll ja erst durch die transzendentale Deduktion gezeigt werden. Da die Definition des Ausdrucks ‚transzendentale Synthesis‘ in Satz [n] offenbar nicht darüber entscheiden kann, ob es transzendentale Synthesen gibt, ist zu fragen, ob Kant hier auf bereits aufgewiesene Synthesisfähigkeiten zurückgreifen kann, die diese Definition erfüllen. Als Kandidaten für solche Synthesen müssen diejenigen Synthesisfähigkeiten gelten, die Kant im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels unter den Titeln ‚Synthesis der Apprehension‘, ‚Synthesis der Reproduktion‘ und ‚Synthesis der Rekognition‘ thematisiert hat. In Bezug auf jede dieser Synthesisfähigkeiten wurde gezeigt, dass ihr Besitz eine notwendige Bedingung der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung ist und dass ihre Ausübung in die Bildung jeder empirischen Vorstellung eines Ganzen verglichener und verknüpfter realer Vorstellungsgehalte involviert sein muss. Diese Synthesisfähigkeiten gehen auf die Verbindung des Mannigfaltigen, und zwar erstens auf die Verbindung aller epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen, sowie zweitens unabhängig von jeder besonderen Erfahrung. In diesem Sinne lässt sich von ihnen sagen, dass sie erstens „ohne Unterschied der Anschauungen“ und zweitens „a priori“ auf die Verbindung des Mannigfaltigen gehen. Das heißt, die Synthesen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition sind transzendentale Synthesen im Sinne der Definition von Satz [n]. In Satz (v) ist deutlich geworden, dass ich eine Synthesisfähigkeit besitzen muss, aufgrund der ich die Verknüpfungen, die dem Begriff der synthetischen Einheit aus Satz (iv) zufolge möglich sind, realisieren kann. Nun kann man sagen: (vi)
Bei dieser Synthesisfähigkeit handelt es sich um die dreifache transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, d. h. um die transzendentalen Synthesen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition.
Denn ich muss eine beliebige meiner epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen aufgrund der dreifachen transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft aus dem Grunde mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfen können, dass diese Vorstellung einen Beitrag zur Erkenntnis im weiten Sinn leisten kann, solche Erkenntnis aber nicht ohne die Ausübung dieser dreifachen Synthesis zustande kommen kann.
208
6 Die ‚Deduktion von oben‘
Im Anschluss an seine Definition der transzendentalen Synthesis gibt Kant eine Definition der transzendentalen Einheit dieser Synthesis: „[o] und die Einheit dieser Synthesis heißt transzendental, wenn sie in Beziehung auf die ursprüngliche Einheit der Apperzeption als a priori notwendig vorgestellt wird.“ (A 118)
Allgemein gesagt, kann unter der ‚Einheit‘ einer Synthesisfähigkeit ihre Regularität verstanden werden, also die Gesamtheit der Regeln, denen jede Ausübung dieser Fähigkeit unterworfen ist. Dass die Regularität der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft eine transzendentale Regularität ist, d. h. „in Beziehung auf die ursprüngliche Einheit der Apperzeption als a priori notwendig vorgestellt wird“, bedeutet m. E., dass es sich bei den Regeln, die diese Regularität ausmachen, um Regeln a priori handelt, und dass jede Ausübung der transzendentalen Synthesis, die Vorstellungen betrifft, die zur ursprünglichen Einheit der Apperzeption gehören, diesen Regeln unterworfen sein muss. Ich möchte dies in dem folgenden Satz festhalten: (vii)
Die transzendentale Synthesis besitzt genau dann eine transzendentale Einheit, wenn jede Ausübung der transzendentalen Synthesis, die Vorstellungen betrifft, die zur Einheit der Apperzeption gehören, apriorischen Regeln unterworfen sein muss.
Es ist schon in Bezug auf die Definition des Ausdrucks ‚transzendentale Synthesis‘ von Satz [n] betont worden, dass eine solche Definition nicht darüber entscheiden kann, ob es transzendentale Synthesen gibt. Entsprechendes gilt natürlich auch für die Definition des Ausdrucks ‚transzendentale Einheit dieser Synthesis‘ von Satz [o]. Allerdings konnte man in Hinblick auf Satz [n] auf bereits aufgewiesene Synthesisfähigkeiten zurückgreifen, die die Definition transzendentaler Synthesis erfüllen. In Hinblick auf Satz [o] und dessen Definition der transzendentalen Einheit dieser Synthesis gilt Entsprechendes jedoch nicht. Da die im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels von Kant formulierte Beweisskizze (A 108) scheiterte 27, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es überhaupt so etwas wie eine transzendentale Einheit der transzendentalen Synthesis gibt. Die ‚Deduktion von oben‘ mag nun zwar darauf abzielen, die reinen Verstandesbegriffe als Begriffe dieser transzendentalen Einheit zu erweisen; dieser Nachweis steht aber aus. Im Grunde genommen ändert sich daran auch im folgenden Satz der ‚Deduktion von oben‘ nichts.
_____________ 27
Siehe oben Abschnitt 5.5, S. 181 ff.
6.4 Verstand
209
„[p] Da diese letztere [die ursprüngliche Einheit der Apperzeption (M. W.)] nun der Möglichkeit aller Erkenntnisse zum Grunde liegt, so ist die transzendentale Einheit der Synthesis der Einbildungskraft die reine Form aller möglichen Erkenntnis, durch welche mithin alle Gegenstände möglicher Erfahrung a priori vorgestellt werden müssen.“ (A 118)
Der Gedankengang von Satz [p] ist relativ klar: Die ursprüngliche Einheit der Apperzeption liegt „der Möglichkeit aller Erkenntnisse zum Grunde“; die transzendentale Einheit der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft ist ihrer Definition (Satz [o]) zufolge aber dadurch gekennzeichnet, dass sie in Beziehung auf die ursprüngliche Einheit der Apperzeption als a priori notwendig vorgestellt wird; also ist die transzendentale Einheit der transzendentalen Synthesis „die reine Form aller möglichen Erkenntnis, durch welche mithin alle Gegenstände möglicher Erfahrung a priori vorgestellt werden müssen.“ Dieses Argument ist allerdings unter den schon genannten Vorbehalt zu stellen, dass nicht geklärt ist, ob es überhaupt so etwas wie eine transzendentale Einheit der transzendentalen Synthesis gibt. Das Resultat, das man Kant mit Satz [p] zugestehen kann, ist deshalb hypothetischer Natur: Wenn die transzendentale Synthesis eine transzendentale Einheit besitzt, dann ist diese Einheit die reine Form aller möglichen Erkenntnis. Immerhin ist damit der Punkt klar bezeichnet, der in Hinblick auf eine erfolgreiche Kategoriendeduktion noch aussteht: Die reinen Verstandesbegriffe müssen als diejenigen Begriffe erwiesen werden, die der transzendentalen Synthesis transzendentale Einheit verschaffen. Es wird zu prüfen sein, ob es Kant gelingt, diesen Nachweis in den abschließenden Sätzen der ‚Deduktion von oben‘ zu führen.
6.4 Verstand Kant setzt die ‚Deduktion von oben‘ mit Definitionen des Verstandes und des reinen Verstandes fort. „[q] Die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand, [r] und eben dieselbe Einheit, beziehungsweise auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, der reine Verstand.“ (A 119)
Die Form dieser Definitionen ist etwas seltsam. Denn der Verstand und der reine Verstand sind offenbar Vermögen; von Definitionen dieser Vermögen sollte man aber erwarten dürfen, dass sie die allgemeine Form „Der Verstand ist das Vermögen ...“ bzw. „Der reine Verstand ist das
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6 Die ‚Deduktion von oben‘
Vermögen ...“ aufweisen. 28 Da die Sätze [q] und [r] diese allgemeine Form nicht aufweisen, sie aber Vermögensdefinitionen sein sollen, muss es möglich sein, sie in diese allgemeine Form zu überführen. In dem Vorhaben, diese Transformation durchzuführen, werde ich mich im Folgenden auf die Definition des reinen Verstandes konzentrieren, weil es auf sie in Kants Argumentation in erster Linie ankommt. Die „Einheit der Apperzeption“ besteht darin, dass alle meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption Einheit besitzen. 29 Die „Beziehung“ der Einheit der Apperzeption auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft ist im Verlauf der Rekonstruktion in zwei Schritten hergestellt worden. Erstens: Nach Satz (iv) ist die Einheit der Apperzeption, d. h. die Einheit, in der alle meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption stehen, in dem Sinne synthetisch, dass jede dieser Vorstellungen mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar sein muss. Zweitens: Satz (v) zufolge muss ich eine Synthesisfähigkeit besitzen, aufgrund der ich derartige Verknüpfungen realisieren kann, und nach Satz (vi) handelt es sich bei dieser Fähigkeit um die „transzendentale Synthesis der Einbildungskraft“. Da diese beiden Schritte die Beziehung zwischen der Einheit der Apperzeption und der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft etablieren und kennzeichnen, lässt sich Satz [r], der diese Beziehung als Definiens des reinen Verstandes bestimmt, nun auf folgende Weise in die genannte allgemeine Form einer Definition des reinen Verstandes überführen: Der reine Verstand ist das Vermögen, Vorstellungen, die zur Einheit der Apperzeption gehören, durch Ausübung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft zu verknüpfen. Daraus ergibt sich unmittelbar: (viii)
Die Leistung, Vorstellungen, die zur Einheit der Apperzeption gehören, durch Ausübung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft zu verknüpfen, ist eine Leistung des reinen Verstandes.
Dieser Satz liefert nun den entscheidenden Anhaltspunkt, um die Kategorien ins Spiel zu bringen. Denn die Kategorien sind diejenigen Begriffe, durch die der reine Verstand primär charakterisiert ist. In diesem Sinn hat Kant direkt im Anschluss an seine „Tafel der Kategorien“ erklärt: „Dieses
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Kants andere Verstandesdefinitionen weisen diese Form auf. Der Verstand ist das „Vermögen zu denken“, das „Vermögen der Begriffe, oder auch der Urteile“, und insgesamt „das Vermögen der Regeln“ (A 126). Siehe oben S. 201.
6.4 Verstand
211
ist nun die Verzeichnung aller ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis, die der Verstand a priori in sich enthält, und um deren willen er auch nur ein reiner Verstand ist“ (A 80, B 106). Der Verstand ist also deshalb ein reiner Verstand, weil er ein Vermögen dieser Begriffe, der Kategorien, ist. Und so wie es keine Leistung des Verstandes geben kann, die nicht in der Anwendung von Begriffen besteht, kann es keine Leistung des reinen Verstandes geben, die nicht in der Anwendung von Kategorien besteht. Das bedeutet: (ix)
Da der reine Verstand das Vermögen der Kategorien ist, muss jede seiner Leistungen in der Anwendung von Kategorien bestehen.
Bevor ich die Konsequenzen verdeutliche, die sich aus diesen Überlegungen ergeben und die das Argument der ‚Deduktion von oben‘ ins Ziel bringen, möchte ich darauf eingehen, wie Kants selbst das Argument abschließt. „[s] Also sind im Verstande reine Erkenntnisse a priori, welche die notwendige Einheit der reinen Synthesis der Einbildungskraft in Ansehung aller möglichen Erscheinungen enthalten. [t] Dieses sind aber die Kategorien, d. i. reine Verstandesbegriffe [...]“ (A 119)
Bei den „reine[n] Erkenntnisse[n] a priori“, die „im Verstande“ sind, handelt es sich, so Satz [t], um „die Kategorien, d. i. reine Verstandesbegriffe“. Dies ergibt sich aus der soeben zitierten Passage im Anschluss an die „Tafel der Kategorien“: Diese Tafel stellt „alle[] ursprünglich reinen Begriffe“ dar, die der Verstand „a priori in sich enthält“ (A 80, B 106). Den Kern dessen, was Kant als die Konklusion seines gesamten Arguments ansieht, enthält Satz [s]: Die Kategorien enthalten die „notwendige Einheit der reinen Synthesis der Einbildungskraft in Ansehung aller möglichen Erscheinungen“. Die Formulierung, die Kant in Satz [s] wählt, ist vor dem Hintergrund seiner vorigen Ausführungen (um das mindeste zu sagen) merkwürdig. Denn er beruft sich in Satz [s] auf den Verstand, sofern er „reine Erkenntnisse a priori“ enthält, d. h. auf den reinen Verstand; für den reinen Verstand ist Satz [r] zufolge aber nicht die reine, sondern die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft konstitutiv. Kants Rede von der „reinen“, statt von der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft in Satz [s] ist deshalb ein Missgriff. 30 Außerdem muss es vor dem Hintergrund von Kants bisheriger Argumentation als unpräzise gelten, dass die Einheit
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Das wird auch mit Blick auf Satz [s] selbst deutlich. Denn dort ist von der Einheit der Synthesis „in Ansehung aller möglichen Erscheinungen“ die Rede (A 119; Hvh. v. Verf., M. W.).
212
6 Die ‚Deduktion von oben‘
dieser Synthesis in Satz [s] als „notwendige“ bezeichnet wird; es müsste vielmehr von der transzendentalen Einheit dieser Synthesis die Rede sein. Den Sätzen [s] und [t] zufolge sind die Kategorien Begriffe der „notwendige[n]“ Einheit der „reinen“ Synthesis. Im Kontext von Kants bisheriger Argumentation wäre aber wohl eher die Konklusion zu erwarten gewesen, dass die Kategorien Begriffe der transzendentalen Einheit der transzendentalen Synthesis sind. Wie dem auch sei; jedenfalls lässt sich genau diese Konklusion aufgrund der bisherigen Rekonstruktion von Kants Argumentation erreichen. Aus den Sätzen (viii) und (ix) folgt, dass jede Leistung, die Vorstellungen, die zur Einheit der Apperzeption gehören, durch Ausübung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft verknüpft, in der Anwendung von Kategorien bestehen muss. Jede Ausübung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, die Vorstellungen betrifft, die zur Einheit der Apperzeption gehören, muss also den Kategorien, d. h. Regeln a priori, unterworfen sein. Das bedeutet aber nach Satz (vii), dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft eine transzendentale Einheit besitzt, deren Begriffe die Kategorien sind. Damit ergibt sich die Konklusion, dass die Kategorien Begriffe der transzendentalen Einheit der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft sind. Um die Bedeutung dieser Konklusion würdigen zu können, ist an Satz [p] zu erinnern. In diesem Satz hat Kant gezeigt, dass „die transzendentale Einheit der [transzendentalen] Synthesis der Einbildungskraft die reine Form aller möglichen Erkenntnis [ist], durch welche mithin alle Gegenstände möglicher Erfahrung a priori vorgestellt werden müssen“ (A 118). In der Rekonstruktion ist zwar deutlich geworden, dass zunächst offen blieb, ob die transzendentale Synthesis überhaupt eine transzendentale Einheit besitzt 31; dieser Vorbehalt ist nun aber ausgeräumt, da sich gezeigt hat, dass sie eine transzendentale Einheit besitzt, deren Begriffe die Kategorien sind. Vor dem Hintergrund von Satz [p] lässt sich also sagen, dass die Kategorien qua Begriffe der transzendentalen Einheit der transzendentalen Synthesis Begriffe der „reine[n] Form aller möglichen Erkenntnis“ sind. Das bedeutet, sie fungieren als apriorische Gründe der Möglichkeit aller Erkenntnis, also auch aller objektiven empirischen Erkenntnis. Die im vorigen Absatz erreichte Konklusion ist also folgendermaßen zu spezifizieren: (x)
Die Kategorien sind Begriffe der transzendentalen Einheit der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, d. h. sie fungie-
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Siehe oben S. 208.
6.5 Kurzfassung der Rekonstruktion des Arguments
213
ren als apriorische Gründe der Möglichkeit aller Erkenntnis, insbesondere der objektiven empirischen Erkenntnis. Auf diese Weise löst der Argumentationsgang der ‚Deduktion von oben‘ das ein, was Kant in dem Nachforschungsprinzip (NP) der Deduktion gefordert hatte, dass nämlich die Kategorien als „Bedingung a priori der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden“ müssen. Indem die ‚Deduktion von oben‘ die Forderung des Nachforschungsprinzips (NP) der Deduktion einlöst, ist ihr eigentliches Beweisziel erreicht. Gleichwohl ist es nicht überflüssig, auf ein weiteres Resultat hinzuweisen, das sich aus den Überlegungen der ‚Deduktion von oben‘ gewinnen lässt. Da sich die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft auf alle meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen beziehen muss und da diese Synthesis eine transzendentale Einheit besitzt, deren Begriffe die Kategorien sind, kann man als eine zweite Konsequenz der ‚Deduktion von oben‘ festhalten: (xi)
Alle meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen müssen unter Kategorien stehen.
Das bedeutet, dass diese Vorstellungen kategorial verknüpfbar bzw. ihre Gehalte kategorial bestimmbar sein müssen. Dem entspricht Kants Aussage im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels, dass alle Gehalte der Sinnlichkeit und „alle mögliche[n] Erscheinungen [...] unter allgemeinen Funktionen der Synthesis stehen“ müssen, und zwar unter den Kategorien (A 111 f.) Die ‚Deduktion von oben‘ resümierend fasst Kant ihre beiden Resultate – hier: Satz (x) und Satz (xi) – in einer Formulierung zusammen, indem er erklärt, „daß der reine Verstand, vermittelst der Kategorien, ein formales und synthetisches Principium aller Erfahrungen sei, und die Erscheinungen eine notwendige Beziehung auf den Verstand haben.“ (A 119; ohne dortige Hvh.)
6.5 Kurzfassung der Rekonstruktion des Arguments (i)
Wir sind in der Lage, Erkenntnis im weiten Sinn, d. h. Vorstellungen von Ganzen verglichener und verknüpfter realer Vorstellungsgehalte, zu gewinnen.
(ii)
Dass ich in der Lage bin, mir eine beliebige meiner Vorstellungen selbst zuzuschreiben, ist eine notwendige Bedingung ihrer epistemischen Relevanz.
214
6 Die ‚Deduktion von oben‘
(iii)
Die Identität meiner selbst hinsichtlich meiner Vorstellungen – anders gesagt, dass das ‚Ich denke‘ bezüglich meiner Vorstellungen zur Gegebenheit kommen kann – ist eine notwendige Bedingung der epistemischen Relevanz dieser Vorstellungen. Alternativ formuliert (iii'): Alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen besitzen hinsichtlich der reinen Apperzeption Einheit.
(iv)
Die Einheit, in der alle meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen hinsichtlich der reinen Apperzeption stehen – kurz gesagt: die Einheit der Apperzeption –, ist in dem Sinne synthetisch, dass jede dieser Vorstellungen mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar sein muss.
(v)
Ich muss eine Synthesisfähigkeit besitzen, aufgrund der ich die Verknüpfungen, die dem Begriff der synthetischen Einheit der Apperzeption zufolge möglich sind, realisieren kann.
(vi)
Bei dieser Synthesisfähigkeit handelt es sich um die dreifache transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, d. h. um die transzendentalen Synthesen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition.
(vii)
Die transzendentale Synthesis besitzt genau dann eine transzendentale Einheit, wenn jede Ausübung der transzendentalen Synthesis, die Vorstellungen betrifft, die zur Einheit der Apperzeption gehören, apriorischen Regeln unterworfen sein muss.
(viii)
Die Leistung, Vorstellungen, die zur Einheit der Apperzeption gehören, durch Ausübung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft zu verknüpfen, ist eine Leistung des reinen Verstandes.
(ix)
Da der reine Verstand das Vermögen der Kategorien ist, muss jede seiner Leistungen in der Anwendung von Kategorien bestehen.
(x)
Also sind die Kategorien Begriffe der transzendentalen Einheit der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, d. h. sie fungieren als apriorische Gründe der Möglichkeit aller Erkenntnis, insbesondere der objektiven empirischen Erkenntnis. (Erste Konklusion)
(xi)
Also müssen alle meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen unter Kategorien stehen. (Zweite Konklusion)
6.6 Zwei Schwierigkeiten des Arguments
215
6.6 Zwei Schwierigkeiten des Arguments 6.6.1 Probleme der Definition des reinen Verstandes Es ist für das Verständnis des Arguments der ‚Deduktion von oben‘ überaus wichtig zu sehen, dass Kants Definition des reinen Verstandes ein Teil dieses Arguments selbst ist. 32 Kant erklärt in Satz [r], dass der „reine Verstand“ die „Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die [...] transzendentale Synthesis der Einbildungskraft“ ist (A 119). In dem unmittelbar darauf folgenden Satz [s] zieht er die mit „Also“ eingeleitete Konsequenz, dass „im Verstande reine Erkenntnisse a priori“ (Kategorien) sind, die „die notwendige Einheit der reinen Synthesis der Einbildungskraft“, besser gesagt: die die transzendentale Einheit der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, „enthalten“ (ebd.). Der zur Konklusion des gesamten Deduktionsarguments gehörende Satz [s] ist demnach eine Konsequenz insbesondere der Definition des reinen Verstandes in Satz [r]. Das heißt, diese Definition ist für Kant ein Beweisschritt der stärksten Version seines Deduktionsarguments, d. h. der ‚Deduktion von oben‘. Diese Tatsache ist allerdings die Quelle für eine ganze Reihe von Problemen. Das erste Problem ist, dass die in der A-Vorrede der KrV skizzierte Position Kants, derzufolge die subjektive Deduktion anders als die objektive keinen wesentlichen Beitrag zur Einlösung des „Hauptzwecks“ der KrV leistet, fragwürdig wird. In der A-Vorrede charakterisiert Kant den „Hauptzweck[]“ der KrV durch die Frage: „was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen“? (A XVII) Ein wesentlicher Beitrag zur Beantwortung dieser Frage soll darin bestehen, die „objektive Gültigkeit“ der Begriffe des reinen Verstandes nachzuweisen (A XVI); und dieser Nachweis gehört für Kant zu derjenigen der „zwei Seiten“ der Deduktion (ebd.), die er die „objektive“ Deduktion nennt (A XVII). Die Durchführung der objektiven Deduktion, d. h. der Nachweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien, unterteilt sich, grob gesagt, in zwei Schritte: Im ersten Schritt wird bereits ein vorläufiger Nachweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien erbracht (A 92 f., B 124/6). Der Nachweis bleibt aber insofern ‚vorläufig‘, als er die Begründung dafür, dass die Kategorien Bedingungen a priori der Möglichkeit aller Erfahrung sind, offen lässt. Diese Begründung wird durch das Nachforschungsprinzip für die weitere Deduktionsuntersuchung gefordert (A 94, B 126). 33 Im zweiten Schritt soll das Nachforschungsprinzip einge-
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Dies wird von den Interpreten der ‚Deduktion von oben‘ häufig übersehen; zu den Ausnahmen gehört Baum 1995, 480. Zu diesem ersten Schritt vgl. oben Abschnitt 4.2.2, S. 90 ff.
216
6 Die ‚Deduktion von oben‘
löst werden. Das beste Argument, das Kant 1781 dazu aufbietet, ist die ‚Deduktion von oben‘. Durch sie soll also das Beweisziel der objektiven Deduktion erreicht werden. Während die objektive Deduktion einen wesentlichen Beitrag zur Erfüllung des genannten „Hauptzwecks“ der KrV leistet, ist die „subjektive Deduktion“ (A XVII), so Kant, in Hinblick auf diesen Hauptzweck zwar „von großer Wichtigkeit“, gehört aber „nicht wesentlich zu demselben“ (ebd.). Sie „geht darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjektiver Bedeutung zu betrachten“ (A XVI f.). Die Definition des reinen Verstandes in Satz [r] ist offenbar ein Ergebnis dieser Betrachtung. Denn dieser Definition zufolge ist der reine Verstand die Beziehung zwischen der Einheit der Apperzeption und der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft (A 119). Die Erkenntniskräfte, auf denen er beruht, sind demnach die reine Apperzeption und die transzendentale Einbildungskraft. Das heißt, Satz [r] der ‚Deduktion von oben‘ stellt ein Resultat der subjektiven Deduktion dar. Auf diese Weise ergibt sich jedoch ein Dilemma. Da durch den Beweisgang der ‚Deduktion von oben‘ das Beweisziel der objektiven Deduktion erreicht werden soll, die Definition des reinen Verstandes und damit ein Resultat der subjektiven Deduktion aber ein zentraler Schritt des Beweisgangs ist, hängt das Erreichen des Beweisziels der objektiven Deduktion von diesem Resultat der subjektiven Deduktion ab. Das Dilemma lautet: Wie soll das Bestehen dieser Abhängigkeit mit Kants Einschätzung verträglich sein, dass die subjektive Deduktion dem Hauptzweck der KrV außerwesentlich ist? Ist das skizzierte Dilemma nur so zu lösen, dass man Kants Position, die subjektive Deduktion gehöre nicht wesentlich zum Hauptzweck der KrV, aufgibt, dass man also die subjektive Deduktion ebenso wie die objektive Deduktion als wesentlich zum Hauptzweck gehörig bewertet? Und ist darüber hinaus Heidegger Recht zu geben, wenn er der subjektiven Deduktion sogar den systematischen Vorrang gegenüber der objektiven Deduktion einräumt? Beide Fragen sind m. E. verneinen. 34 Nach den bisherigen Erläuterungen kann man davon ausgehen, dass zumindest die objektive Deduktion wesentlich zum Hauptzweck der KrV gehört. Kants Vorgehen in der objektiven Deduktion wirft allerdings subjekttheoretische Probleme auf. Denn da Kant das erkenntnistheoretische Problem der Deduktionsuntersuchung, die objektive Deduktion im Rekurs auf subjektive Erkenntnisquellen durchzuführen beabsichtigt, die ihm im Unterschied zum Verstand als ursprüngliche Quellen gelten (vgl. A 94),
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Zu Heidegger siehe bereits oben Abschnitt 2.2, insbes. 30 f.
6.6 Zwei Schwierigkeiten des Arguments
217
wird er dazu gedrängt, sich auch dem Problem einer Fundierung des Verstandes durch diese Quellen und damit dem Problem der subjektiven Deduktion zu stellen. 35 Für Kant stellt sich daher im Horizont des Problems der objektiven Deduktion auch das Problem der subjektiven Deduktion. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass die subjektive Deduktion in diesem Horizont nur so weit durchgeführt werden muss, wie es für die objektive Deduktion erforderlich ist. Kant ist der Auffassung, den Nachweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien führen zu können, ohne eine vollständige Theorie des Verstandes entwickeln zu müssen. Das geht aus seiner Bemerkung in der Vorläufigen Erinnerung hervor, derzufolge für die „Deduktion der Kategorien“ auf „die Weitläuftigkeit einer vollständigen Theorie“ der Elemente des Verstandes und ihrer Beziehungen verzichtet werden kann (A 99). In Hinblick auf das Erreichen des Beweisziels der objektiven Deduktion hält Kant eine vollständige Verstandestheorie und damit eine vollständige Durchführung der subjektiven Deduktion also nicht für erforderlich. Das skizzierte Dilemma löst sich demnach folgendermaßen auf: Da die objektive Deduktion wesentlich zum Hauptzweck der KrV gehört, muss Kant zwar auch diejenigen Teile einer vollständigen subjektiven Deduktion, die für das Erreichen des Beweisziels der objektiven Deduktion zwingend erforderlich sind, wesentlich zu diesem Hauptzweck rechnen; er kann aber daran festhalten, dass eine vollständige Durchführung der subjektiven Deduktion dem Hauptzweck außerwesentlich ist. Und damit wird auch Heideggers These vom systematischen Vorrang der subjektiven gegenüber der objektiven Deduktion hinfällig. Denn wenn die vollständige Durchführung der subjektiven Deduktion nicht wesentlich zum Hauptzweck der KrV gehört, kann ihr kein systematischer Vorrang gegenüber etwas eingeräumt werden, das wesentlich dazugehört. Doch auch wenn man diese Auflösung des skizzierten Dilemmas für überzeugend hält 36, sind weitere schwerwiegende Probleme in Bezug auf
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Vgl. dazu oben Abschnitt 4.2.3, S. 93 ff. Zweifel daran könnten sich etwa aus folgender Überlegung ergeben. Derjenige Teil einer vollständigen subjektiven Deduktion, auf den es in der ‚Deduktion von oben‘ vor allem ankommt, ist die Definition des reinen Verstandes, d. h. ein Resultat der subjektiven Deduktion. Es muss aber als fraglich gelten, ob dieses Resultat hinreichend begründet werden kann, ohne die subjektive Deduktion vollständig durchzuführen. Sollte dies nicht der Fall sein, so wäre die subjektive Deduktion entgegen Kants Behauptung letztlich doch wesentlich zum Hauptzweck der KrV zu rechnen. Denn geht man davon aus, dass Kant die ‚Deduktion von oben‘ in Hinblick auf die Einlösung des Hauptzwecks der KrV für wesentlich hält, so hinge ihr Gelingen von einer vollständigen Durchführung der subjektiven Deduktion ab, weil einer ihrer entscheidenden Beweisschritte ohne eine solche Durchführung nicht hinreichend begründet werden könnte. – Das würde allerdings nichts daran ändern, dass sich entgegen Heideggers Auffassung das subjekttheoretische Problem für Kant erst im Rahmen des erkenntnistheoretischen Problems stellt.
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6 Die ‚Deduktion von oben‘
Kants Definition des reinen Verstandes zu konstatieren. Selbst wenn eine vollständige Verstandestheorie bzw. eine vollständige Durchführung der subjektiven Deduktion nicht erforderlich wäre, um die objektive Gültigkeit der Kategorien nachzuweisen, ist es für diesen Nachweis erforderlich, die Verstandestheorie zumindest so weit zu entwickeln, dass dasjenige Resultat diese Theorie einsichtig wird, das in diesem Nachweis eine Begründungsfunktion übernehmen soll. Genau dies geschieht in der ‚Deduktion von oben‘ jedoch nicht. Die Definition des reinen Verstandes durch die ursprünglichen Erkenntnisquellen ‚reine Apperzeption‘ und ‚transzendentale Einbildungskraft‘ kommt in der ‚Deduktion von oben‘ unvermittelt ins Spiel, ohne je ausgewiesen oder auch nur problematisiert zu werden. Das Unvermittelte dieser Definition steht in einem Missverhältnis zu der tragenden Bedeutung, die ihr im Deduktionsargument zukommt. Um dieses Problem von Kants Definition des reinen Verstandes (in A 119) näher zu erläutern, möchte ich daran erinnern, dass Kant im Laufe der ‚Deduktion von oben‘ nicht nur eine Definition des Ausdrucks ‚reiner Verstand‘, sondern auch Definitionen der Ausdrücke ‚transzendentale Synthesis‘ und ‚transzendentale Einheit dieser Synthesis‘ formuliert. Die Definition des Ausdrucks ‚transzendentale Synthesis‘ ließ sich in der Rekonstruktion im Rückgriff auf die dreifache Synthesis, die Kant im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels aufgewiesen hatte, nachvollziehen. 37 Das heißt, das Definiens dieses Ausdrucks wurde durch die zuvor aufgewiesene dreifache Synthesis erfüllt. Demgegenüber konnte der Definition des Ausdrucks ‚transzendentale Einheit dieser Synthesis‘ zunächst nur ein gewissermaßen hypothetischer Charakter zukommen, da sich zunächst nichts aufweisen ließ, das das Definiens des Ausdrucks erfüllt. 38 Dieses Problem stellt sich hinsichtlich der in A 119 gegebenen Definition des Ausdrucks ‚reiner Verstand‘ nicht. Denn dass eine Beziehung zwischen der Einheit der reinen Apperzeption und der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft besteht, hatten die bisherigen Etappen der Rekonstruktion der ‚Deduktion von oben‘ gezeigt. Das von Kant angegebene Definiens des Ausdrucks ‚reiner Verstand‘ konnte damit als erfüllt gelten. Darüber hinaus konnte auch als gesichert gelten, dass es so etwas wie den reinen Verstand überhaupt gibt. Denn mit dem Aufweis der Kategorien in der metaphysischen Deduktion ist deutlich geworden, dass unser Verstand auch ein reiner Verstand ist. Die Frage allerdings, ob das von Kant in der ‚Deduktion von oben‘ angegebene Definiens des Ausdrucks ‚reiner Verstand‘ ein adäquates Definiens dieses Ausdrucks ist, bleibt in der KrV unbeantwortet, sogar ungestellt.
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Siehe oben S. 207. Siehe oben S 208.
6.6 Zwei Schwierigkeiten des Arguments
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Die Unvermitteltheit von Kants Definition des reinen Verstandes besteht also nicht darin, dass ungeklärt bliebe, ob die Beziehung zwischen der Einheit der reinen Apperzeption und der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, als die Kant den reinen Verstand definiert, besteht, sondern darin, dass ungeklärt bleibt, ob diese Beziehung mit dem reinen Verstand identisch ist. Die Beweiskraft der ‚Deduktion von oben‘ hängt jedoch entscheidend davon ab, dass der reine Verstand diese Beziehung ist. Denn nur wenn dies der Fall ist, sind es die Begriffe des reinen Verstandes, die für diese Beziehung charakteristisch sein müssen und daher als Einheitsbegriffe der transzendentalen Einbildungskraft fungieren müssen. Da die Definition des reinen Verstandes ein entscheidender Beweisschritt des Beweisgangs der ‚Deduktion von oben‘ ist, muss ihre Unvermitteltheit als eine empfindliche Lücke dieses Beweisgangs gelten. Unabhängig von diesem ist ein weiteres schwerwiegendes Problem in Hinblick auf Kants Definition des reinen Verstandes und damit auf die ADeduktion insgesamt zu konstatieren. 39 Es hängt damit zusammen, dass Kant die transzendentale Einbildungskraft durch diese Definition zu einer Konstituente des reinen Verstandes selbst macht und den reinen Verstand auf diese Weise exklusiv als auf Sinnliches bezogen konzipiert. Wenn der reine Verstand in A 119 adäquat definiert wäre, dann stünde aufgrund dieser Definition jeglicher inhaltliche Gebrauch des reinen Verstandes und damit der Kategorien unter den Bedingungen der sinnlichen Anschauung und wäre auf Gegenstände der sinnlichen Anschauung (auf Erscheinungen und auf mathematische Gegenstände) eingeschränkt. Das kann Kant jedoch unmöglich wollen. Denn auf diese Weise wäre jeder inhaltliche Gebrauch der Kategorien, der sich nicht auf diese Gegenstände bezöge, illegitim. Das hätte nicht nur die für Kant wünschenswerte Folge, dass theoretische Erkenntnis von Noumena ausgeschlossen ist, sondern auch die für ihn inakzeptable Folge, dass ein Kategoriengebrauch im Rahmen der praktischen Philosophie illegitim wäre. Für Kants praktische Philosophie ist es jedoch entscheidend, dass wir uns nur dann als frei handelnde Wesen und damit als frei wirkende Ursache verstehen können, wenn wir uns auch als zur Verstandeswelt gehörig denken können 40; und das erfordert
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Zur Analyse dieses Problems der A-Deduktion, das ich im Folgenden zugespitzt auf Kants Definition des reinen Verstandes diskutiere, vgl. auch Thöle 1991, 274/8. Siehe dazu Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4.451/3. Vgl. ebd., AA 4.458: „Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genöthigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken, welches [...] nothwendig ist, wofern ihm [dem Menschen, M. W.] nicht das Bewusstsein seiner selbst als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft thätige, d.i. frei wirkende, Ursache abgesprochen werden soll.“
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6 Die ‚Deduktion von oben‘
die Möglichkeit auch einer solchen Anwendung der Kategorien, die nicht unter den Bedingungen der sinnlichen Anschauung steht. Dass seine Definition des reinen Verstandes für ihn selbst inakzeptable Konsequenzen hinsichtlich der Möglichkeit praktischer Philosophie nach sich zieht, scheint Kant 1781 nicht klar gewesen zu sein. Er hat diese Klarheit erst später gewonnen; das zeigt sich dann in der Fassung des Deduktionskapitels von 1787 nicht nur darin, dass er darauf verzichtet, die transzendentale Einbildungskraft als Konstituente des reinen Verstandes selbst zu erklären, sondern auch darin, dass er dort die Belange der praktischen Philosophie ausdrücklich mit bedenkt. Nachdem Kant als Resultat der B-Deduktion festgehalten hat, dass „uns keine Erkenntnis a priori möglich [ist], als von Gegenständen möglicher Erfahrung“ (B 166; ohne dortige Hvh.), erläutert er: „Damit man sich nicht voreiliger Weise an den besorglichen nachteiligen Folgen dieses Satzes stoße, will ich nur in Erinnerung bringen, daß die Kategorien im Denken durch die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung nicht eingeschränkt sind, sondern ein unbegrenztes Feld haben, und nur das Erkennen dessen, was wir uns denken, das Bestimmen des Objekts, Anschauung bedürfe, wo, beim Mangel der letzteren, der Gedanke vom Objekte übrigens noch immer seine wahre und nützliche Folgen auf den Vernunftgebrauch des Subjekts haben kann, der sich aber, weil er nicht immer auf die Bestimmung des Objekts, mithin aufs Erkenntnis, sondern auch auf die des Subjekts und dessen Wollen gerichtet ist, hier noch nicht vortragen läßt.“ (B 166 Anm.)
Die Definition des reinen Verstandes in der A-Deduktion, die die transzendentale Einbildungskraft als Konstituente des reinen Verstandes selbst konzipiert und damit jeglichen inhaltlichen Gebrauch des reinen Verstandes auf Sinnliches einschränkt, versperrt den Begriffen des reinen Verstandes das im Zitat genannte ‚unbegrenzte Feld‘. In der B-Deduktion dagegen ist sich Kant darüber im Klaren, dass dieses Feld vorliegen muss, damit die praktische Philosophie ihr Gebiet auf ihm gewinnen kann. 41 Dass Kant sich dieses Problems zwischen 1781 und 1787 bewusst wird, dürfte ein zentraler Grund für die Neufassung des Deduktionskapitels gewesen sein. 42 Wenn die transzendentale Einbildungskraft als Konstituente des reinen Verstandes selbst konzipiert wird, dann ist allem inhaltlichen Gebrauch des reinen Verstandes ein Bezug auf Sinnliches inhärent. Da dies in Hinblick auf die Möglichkeit praktischer Philosophie inakzeptabel ist, müssen Leistungen des reinen Verstandes eingeräumt werden, die von der Ausübung der transzendentalen Einbildungskraft unabhängig sind. Man
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Zum Kategoriengebrauch in der praktischen Philosophie siehe Kants Kritik der praktischen Vernunft, AA 5.5 f., 54/6, 136, 141. Ebenso Thöle 1991, 277 f.
6.6 Zwei Schwierigkeiten des Arguments
221
würde aber über das Ziel hinausschießen, wenn man alle Leistungen des reinen Verstandes als von der Ausübung der transzendentalen Einbildungskraft unabhängig versteht. Denn um eine Erfahrung ermöglichende Funktion zu erfüllen, müssen die Kategorien auch als Einheitsbegriffe der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft fungieren können. Eine objektiv bestimmte sinnliche Anschauung bzw. die Bestimmung von Erscheinungen als empirische Objekte ist daher nur durch einen solchen Kategoriengebrauch möglich, für den die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft konstitutiv ist. 43 Um also einerseits dem Erfordernis Rechnung zu tragen, dass die Ausübung der transzendentalen Einbildungskraft nicht für alle Leistungen des reinen Verstandes konstitutiv sein darf, muss auf die Definition des reinen Verstandes in der A-Deduktion verzichtet werden. Um aber andererseits sicherzustellen, dass die Kategorien als Regeln a priori eingeführt werden können, denen eine Erfahrung ermöglichende Funktion zukommt, muss an die Stelle dieser Definition etwas anderes treten. Ein Vorschlag dazu, was dies sein könnte, lässt sich der obigen Rekonstruktion der ‚Deduktion von oben‘ entnehmen. Dort habe ich Kants Definition des reinen Verstandes in folgenden Satz transformiert: (viii)
Die Leistung, Vorstellungen, die zur Einheit der Apperzeption gehören, durch Ausübung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft zu verknüpfen, ist eine Leistung des reinen Verstandes. 44
Da jede Leistung des reinen Verstandes in der Anwendung von Kategorien bestehen muss, lassen sich die Kategorien aufgrund von Satz (viii) als Einheitsfunktionen der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft verstehen. Aber indem dieser Satz lediglich eine Art von Leistung des reinen Verstandes bestimmt, ist nicht ausgeschlossen, dass es andere Arten von Leistungen des reinen Verstandes gibt, die von der Ausübung der transzendentalen Einbildungskraft unabhängig sind. Satz (viii) erlaubt es also, die Kategorien als Einheitsfunktion der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft zu verstehen, ohne jeden Kategoriengebrauch von der transzendentalen Einbildungskraft abhängig zu machen. Das Problem, das sich ergibt, wenn die transzendentale Einbildungskraft als Konstituen-
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Daran ändert sich auch in der B-Deduktion nichts: „[...] der innere Sinn [enthält] die bloße Form der Anschauung, aber ohne Verbindung des Mannigfaltigen in derselben, mithin noch gar keine bestimmte Anschauung [...], welche nur durch das Bewusstsein der Bestimmung desselben durch die transzendentale Handlung der Einbildungskraft (synthetischer Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn), welche ich die figürliche Synthesis genannt habe, möglich ist.“ (B 154) Siehe oben S. 210.
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6 Die ‚Deduktion von oben‘
te des reinen Verstandes konzipiert wird, kann also im Rekurs auf diesen Satz ausgeräumt werden. Doch Satz (viii) ist seinerseits problematisch. Mit ihm wiederholt sich das Problem der Unvermitteltheit bzw. der Angemessenheit. Warum sollte die Leistung, Vorstellungen, die zur Einheit der Apperzeption gehören, durch Ausübung der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft zu verknüpfen, eine Leistung des reinen Verstandes, also eine kategorial fundierte Leistung sein? Kant vermag diese Frage in der ‚Deduktion von oben‘ nicht zu beantworten. Das Problem ist wiederum nicht, dass die Annahme der genannten Leistung unbegründet wäre, sondern dass die Zuordnung dieser Leistung zum reinen Verstand unbegründet ist. Es bleibt ungeklärt, warum die Leistung, von der in Satz (viii) die Rede ist, eine Leistung des reinen Verstandes sein sollte. 45 Eine solche Klärung ist in Hinblick auf das Deduktionsargument jedoch erforderlich, weil ohne sie die Einführung der Kategorien in das Argument in der Luft hängt. Satz (viii) mag also ein Problem zu vermeiden, das mit Kants Definition des reinen Verstandes verbunden ist, bleibt aber wie diese letztlich ohne Begründung. Er ist damit ein wesentlicher Schwachpunkt der Argumentation. 6.6.2 Das Problem unverknüpfbarer Vorstellungsinseln Ein weiteres Problem der ‚Deduktion von oben‘ ergibt sich aus Satz (iv) der obigen Rekonstruktion. Der Satz besagt, dass die Einheit der Apperzeption in dem Sinne ‚synthetisch‘ ist, dass jede meiner epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar ist. Angenommen nun, alle meine epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen fallen in zwei disjunkte Klassen, im Folgenden ‚A‘ und ‚B‘ genannt. Die Synthetizitätsbedingung des Satzes (iv) wäre offenbar erfüllt, wenn zwar keine A-Vorstellung mit irgendeiner B-Vorstellung und keine B-Vorstellung mit irgendeiner AVorstellung in einem Bewusstsein verknüpfbar sein kann, aber jede AVorstellung mit einer anderen A-Vorstellung und jede B-Vorstellung mit einer anderen B-Vorstellung in einem Bewusstsein verknüpfbar ist. Jede meiner epistemisch relevanten sinnlichen Vorstellungen wäre in diesem Fall zwar mit anderen meiner Vorstellungen in einem Bewusstsein verknüpfbar, aber kein Element der einen Klasse könnte mit einem Element der jeweils anderen Klasse verknüpfbar sein; die Klassen A bzw. B wären sozusagen voneinander isolierte Vorstellungsinseln.
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Vgl. dazu S. 218 f.
6.6 Zwei Schwierigkeiten des Arguments
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Das Problem der unverknüpfbaren Vorstellungen ist von den zuvor diskutierten Problemen der Definition des reinen Verstandes unabhängig. Denn auch wenn sich diese Probleme lösen lassen, hätte ich in dem skizzierten Fall nicht eine, sondern zwei Erfahrungswelten. Beide wären zwar kategorial strukturiert, stünden aber in keiner Beziehung zueinander. Die Gegenstände der A-Welt stünden zwar untereinander in gesetzmäßigen Beziehungen, hätten aber keinerlei Beziehung zu den Gegenständen der B-Welt, obwohl beides meine Erfahrungswelten wären.
7 Die ‚Deduktion von unten‘ 7.1 Überblick über das Argument Der dritte Abschnitt des Deduktionskapitels enthält zwei Versionen des von Kant in der ersten Auflage der KrV als definitiv angesehenen Deduktionsbeweises. Die Rekonstruktion der ersten Version, d. h. der ‚Deduktion von oben‘, ist im vorigen Kapitel durchgeführt worden. Dabei sind zuletzt einige Probleme von Kants Argument deutlich geworden. Deshalb wird nun die zweite Beweisversion, die ‚Deduktion von unten‘ zu untersuchen sein (A 119/25). Beide Versionen unterscheiden sich zunächst durch den Punkt, an dem sie ansetzen. Während die ‚Deduktion von oben‘ von der reinen Apperzeption und ihrer Einheit her argumentiert, charakterisiert Kant sein Vorgehen in der ‚Deduktion von unten‘ dadurch, „daß wir von unten auf, nämlich dem Empirischen anfangen.“ (A 119). Der Beweisgang der ‚Deduktion von unten‘ lässt sich in vier Etappen gliedern. Ausgehend vom Empirischen, d. h. von den Erscheinungen und den Wahrnehmungsanschauungen dieser Erscheinungen weist Kant das Erfordernis von Synthesen der Apprehension und Reproduktion nach und erklärt, dass es empirische Regeln der Reproduktion (Assoziationsregeln) gibt, aufgrund derer unsere Vorstellungen in einer assoziationsbasierten Einheit stehen. Dieser Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation bildet die erste Etappe der ‚Deduktion von unten‘. In der zweiten Etappe argumentiert Kant, dass die Assoziation, die selbst ein subjektiver Grund der Synthesis der Reproduktion ist, ihrerseits einen objektiven Grund besitzen muss, den er die „Affinität“ der Erscheinungen nennt (A 122). Sein Affinitätsargument rekurriert auf die reine Apperzeption, die durch dieses Argument als der Erkenntnisgrund der Affinität etabliert werden soll. Die dritte Etappe der ‚Deduktion von unten‘ bringt die transzendentale Einbildungskraft ins Spiel. Der Grundgedanke dabei ist: Die Affinität der Erscheinungen hängt zwar der Erkenntnis nach vom Grundsatz der Einheit der Apperzeption ab, der Sache nach aber hängt sie von der transzendentalen Einbildungskraft ab. In Kants Worten gesagt, ist „die Affinität aller Erscheinungen [...] eine notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft“ (A 123). Das bedeutet, die transzendentale Einbildungskraft soll als Seinsgrund der Affinität fungieren.
7.2 Der Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation
225
In der abschließenden vierten Etappe weist Kant darauf hin, dass die Affinität der Erscheinungen als lediglich von der transzendentalen Einbildungskraft erzeugte unbegriffen bleibt. Denn als Erkenntnisgrund der Affinität, so das Ergebnis des zweiten Schritts, fungiert die reine Apperzeption. Die reine Apperzeption muss daher zur transzendentalen Einbildungskraft „hinzukommen [...], um ihre Funktion intellektuell zu machen“ (A 124). Diejenigen Begriffe, die die intellektuelle Funktion der transzendentalen Einbildungskraft charakterisieren, sind Kant zufolge die Kategorien. Sie müssen daher als Prinzipien der Erzeugung der Affinität aller Erscheinungen gelten. Und das bedeutet, mit der Erzeugung der Affinität aller Erscheinungen werden alle Erscheinungen kategorial strukturiert.
7.2 Der Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation 7.2.1 Der Sinn und die intuitive Einbildungskraft Die ‚Deduktion von unten‘ versucht, „den notwendigen Zusammenhang des Verstandes mit den Erscheinungen vermittelst der Kategorien [...] von unten auf, nämlich dem Empirischen“, darzulegen (A 119). Die erste Etappe, der Aufstieg zur Einheit der Assoziation lässt sich in zwei Schritte unterteilen. Im ersten begründet Kant, dass wir die Fähigkeiten der Apprehension und Reproduktion besitzen; und im zweiten argumentiert er dafür, dass die Synthesis der Reproduktion empirischen Regeln, und zwar Assoziationsregeln, unterworfen ist. Auf die Argumentation des ersten Schritts werde ich an dieser Stelle nicht mehr näher eingehen. Wie sich auf der Grundlage der schwachen Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung die von Kant zur Einbildungskraft gezählten Fähigkeiten der Synthesis der Apprehension und Reproduktion begründen lassen, habe ich bereits ausführlich im fünften Kapitel dieser Arbeit dargestellt. 1 Dort hat sich gezeigt, dass sich die Annahme dieser Fähigkeiten auf der Basis der Möglichkeit von Wahrnehmungsanschauungen, dem Nacheinander unseres bewussten Vorstellens sowie einigen Hintergrundannahmen Kants rechtfertigen lassen. Zur Ergänzung des dort Gesagten möchte ich nur auf einen Punkt hinweisen, der den Zusammenhang von Sinnlichkeit und Einbildungskraft betrifft. Unter dem „Empirischen“, von dem die ‚Deduktion von unten‘ ausgeht, versteht Kant Erscheinungen und Wahrnehmungsanschauungen dieser Erscheinungen: „Das erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung,
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Siehe oben Abschnitt 5.3, S. 137 ff.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt“ (A 119 f.). Meiner Auffassung nach sind uns Erscheinungen nicht allein durch die Rezeptivität unseres Gemüts, also durch den Sinn gegeben. Was uns bloß sensual gegeben ist, sind nicht Gegenstände, d. h. nicht einmal intuitiv bestimmte und kategorial unbestimmte Gegenstände (Erscheinungen), sondern wird von Kant als ein in gegenständlicher Hinsicht unbestimmtes Mannigfaltiges bzw. Reales in Ansatz gebracht. Dieses Mannigfaltige bzw. Reale wird durch Leistungen der intuitiven Einbildungskraft, und zwar durch Ausübungen der Fähigkeiten der Synthesis der Apprehension und Reproduktion, allererst als Erscheinung bestimmt und in einer empirischen Anschauung vorgestellt. Wenn Kant daher sagt, Erscheinung ist „[d]as erste, was uns gegeben wird“ (ebd.), dann meint er, sie sei das erste, was uns in einer empirischen Anschauung gegeben wird. Man kann diesen Punkt auch so ausdrücken, dass uns Erscheinungen durch die Sinnlichkeit gegeben sind. Die Sinnlichkeit wird von Kant zwar hin und wieder mit der Rezeptivität unseres Gemüts identifiziert (vgl. A 19, B 33; A 51, B 75), aber von diesem engen Begriff der Sinnlichkeit, dem „Sinn“ (A 94; A 97; A 115), ist ein weiter Begriff von Sinnlichkeit zu unterscheiden, demzufolge die Sinnlichkeit das Vermögen der Anschauung ist. 2 Erscheinungen sind uns nicht schon durch die Sinnlichkeit im engen Sinn, sondern erst durch die im weiten Sinn gegeben. Und der weite Begriff von Sinnlichkeit umfasst nicht nur den Sinn, sondern auch die intuitive Einbildungskraft. In aller Deutlichkeit erklärt Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798): „Die Sinnlichkeit im Erkenntnißvermögen (das Vermögen der Vorstellungen in der Anschauung) enthält zwei Stücke: den Sinn und die Einbildungskraft.“ 3 Diese vermögenstheoretische Zweiteilung der Sinnlichkeit wird von Kant bereits in der ersten Hälfte der 1770er Jahre etabliert: „Unsere Sinnliche Vermögen sind entweder Sinne oder bildende Kräfte. Die letzteren werden zwar nicht durch den Eindruk der Sinne, aber doch unter den Bedingungen, unter welchen die Gegenstande unsere sinne afficiren würden oder afficirt haben, von uns selbst hervorgebracht.“ 4 Entsprechend unterscheidet Kant auch in der aus der zweiten Hälfte der 1770er Jahre stammenden Metaphysik L1 zwischen dem „Vermögen der Sinne selbst“ und dem Vermögen der „nachgeahmte[n] Erkenntniß der
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Vgl. dazu die folgenden Bemerkungen Kants: „Die Sinnlichkeit kan ihrer Materie oder Form nach betrachtet werden. Die Materie der Sinnlichkeit ist Empfindung, und ihr Vermogen der Sinn; die Form der Sinnlichkeit ist Erscheinung, und ihr Vermögen das Anschauen.“ R 680 (1769/70), AA 15.302.15/9. – „Sinnliche Vorstellungen sind entweder Empfindungen und erfodern den Sinn, oder Erscheinungen und gründen sich auf das Vermögen der Anschauung“, R 650 (1769/70), AA 15.287.11/3. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7.153. R 287 (1773/5?), AA 15.107 f.; Hvh. v. Verf. (M. W.). – Dem Zitat nach bringen wir die bildenden Kräfte hervor; gemeint sind aber wohl deren Produkte.
7.2 Der Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation
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Sinne“ 5, das „recht schicklich die bildende Kraft genannt wird“ 6, und bezeichnet diese Unterscheidung als eine Zweiteilung des „sinnliche[n] Erkenntnisvermögens“ bzw. „bei der Sinnlichkeit“ 7. Kant entwickelt damit bereits in den 1770er Jahren die Auffassung einer nicht nur durch Rezeptivität, sondern auch durch imaginative Spontaneität charakterisierten Sinnlichkeit. Es ist daher nicht überraschend, wenn er ebenfalls in dieser Zeit von „Thatigkeiten des gemüths“ spricht, „wodurch er [der Gegenstand] allein gegeben werden kann“. 8 Bei diesen Tätigkeiten des Gebens handelt es sich um spezifisch sinnliche Ordnungstätigkeiten. 9 In der KrV werden sie als Synthesisleistungen der Apprehension und Reproduktion verstanden. Sie können daher als solche Leistungen der intuitiven Einbildungskraft bezeichnet werden, durch die das bloß rezeptiv gegebene Mannigfaltige als Erscheinung ‚gegeben‘ werden kann, und sind im Unterschied zum bloß passiven Sinn einer auch aktiven Sinnlichkeit zuzurechnen. Im ersten Schritt der ersten Etappe der ‚Deduktion von unten‘ nimmt Kant die dargelegte Unterscheidung zwischen Sinn und intuitiver Einbildungskraft wie selbstverständlich in Anspruch: Die Sinne ‚liefern‘ uns bloß Eindrücke, die in gegenständlicher Hinsicht unbestimmt sind, bringen aber keine „Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel, außer der Empfänglichkeit der Eindrücke, noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben erfordert wird.“ (A 120 Anm.) Das heißt, es ist die Aufgabe der Einbildungskraft, „das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild [zu] bringen“ (A 120; ohne dortige Hvh.). Bei einem solchen Bild handelt es sich um die sinnliche Vorstellung eines durch das apprehendierende und reproduktive Vermögen der Einbildungskraft intuitiv bestimmten Gegenstandes. 7.2.2 Wahrnehmungsurteile und Assoziation Im zweiten Schritt der ersten Etappe der ‚Deduktion von unten‘ geht Kant davon aus, dass wir Erscheinungen und ihre Teile oder Aspekte überhaupt reproduzieren können. Welche Erscheinungen oder welche Teile bzw. Aspekte von Erscheinungen bei welchen Gelegenheiten reproduziert werden, hängt seiner Auffassung nach von unseren je schon ge-
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Metaphysik L1, AA 28.230.8/10. Ebd., S. 235.17 f. Ebd., S. 230.8 u. S. 235.11. R 4634 (1772/5), AA 17.618. Die „Sinnlichkeit [ist] ein Vermögen [...], die Dinge nach Verhaltnissen von Raum und Zeit zu ordnen“, R 4378 (1771?), AA 17.525 f.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
machten Erfahrungen ab – näherhin von Assoziationsregeln, d. h. empirischen und subjektiven Regeln der Reproduktion (vgl. A 121), die sich im Verlauf unserer Erfahrung herausgebildet haben. Da der Assoziationsbegriff in einem Stadium der ‚Deduktion von unten‘ eingeführt wird, in dem sich die kategoriale und damit objektive Regelmäßigkeit unserer Vorstellungen noch nicht behaupten lässt, muss er zunächst für eine Regelmäßigkeit stehen, in Bezug auf die nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie kategorial fundiert ist. Doch bereits die Annahme einer vorkategorialen Regelmäßigkeit unserer Vorstellungen geht über das hinaus, was in der ‚Deduktion von unten‘ bis dahin geleistet wurde. Denn die Annahme, dass wir die Fähigkeit zu Synthesen der Apprehension und Reproduktion besitzen, erzwingt nicht die Annahme, dass es Regeln der Reproduktion gibt, selbst wenn diese Regeln lediglich vorkategorial sein sollen. Daher ist zu fragen, auf welcher Grundlage Kant den Assoziationsbegriff in der ‚Deduktion von unten‘ einführt. „Weil aber, wenn Vorstellungen, so wie sie zusammen geraten, einander ohne Unterschied reproduzierten, wiederum kein bestimmter Zusammenhang derselben, sondern bloß regellose Haufen derselben, mithin gar kein Erkenntnis entspringen würde: so muß die Reproduktion derselben eine Regel haben, nach welcher eine Vorstellung vielmehr mit dieser, als einer andern in der Einbildungskraft in Verbindung tritt. Diesen subjektiven und empirischen Grund der Reproduktion nach Regeln nennt man die Assoziation der Vorstellungen.“ (A 121)
Dass es empirische und subjektive Gründe der Reproduktion geben muss bzw. die Synthesis der Reproduktion Assoziationsregeln unterworfen sein muss, wird von Kant dadurch begründet, dass ohne solche Regeln „kein bestimmter Zusammenhang“ unserer Vorstellungen, „sondern bloß regellose Haufen derselben, mithin gar kein Erkenntnis entspringen würde“. Kurz gesagt bedeutet dies, dass das Bestehen von Assoziationsregeln eine notwendige Bedingung für empirische Erkenntnis sein soll. Da Kant in seinem Deduktionsargument nicht von der Prämisse ausgeht, dass wir objektive empirische Erkenntnis haben können, kann es sich bei der „Erkenntnis“, auf die seine Einführung der Assoziation rekurriert, nur um empirische Erkenntnis im schwachen Sinn handeln. Als solche Erkenntnisse können sowohl Wahrnehmungsanschauungen als auch Wahrnehmungsurteile gelten. Dass wir Wahrnehmungsanschauungen haben können, wäre m. E. jedoch nicht gefährdet, wenn es keine assoziativen Verknüpfungen unserer Vorstellungen gibt. Ohne solche Verknüpfungen würde es zwar keinerlei Regelmäßigkeit in unseren Wahrnehmungsanschauungen, sondern nur „regellose Haufen derselben“ geben (A 121), das bedeutet aber nicht, dass es keinerlei Wahrnehmungsanschauungen geben würde. Es ist daher davon auszugehen, dass es sich bei
7.2 Der Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation
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der „Erkenntnis“, auf die Kant sich in seiner Einführung der Assoziation beruft, um Wahrnehmungsurteile handeln muss. Das Bestehen von Assoziationsregeln soll also eine notwendige Bedingung für Wahrnehmungsurteile sein. Kant formuliert dafür jedoch keine Begründung. Das Ziel der folgenden Überlegungen besteht darin, eine solche Begründung zu gewinnen. Auf den Zusammenhang, der bei Kant zwischen Assoziation und Wahrnehmungsurteilen besteht, ist in der Forschung von verschiedenen Autoren hingewiesen worden. 10 Die wichtigste Stelle, die sich zu diesem Zusammenhang bei Kant selbst findet, stammt aus der B-Deduktion. Dort grenzt Kant objektiv gültige empirische Urteile von Vorstellungsverhältnissen ab, in denen „bloß subjektive Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Assoziation“, und fährt fort: „Nach den letzteren [d. h. nach Gesetzen der Assoziation (M. W.)] würde ich nur sagen können: Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere; aber nicht: er, der Körper, ist schwer“ (B 142). Für Kant ist letzteres Urteil ein objektiv gültiges empirisches Urteil, d. h. ein Erfahrungsurteil, während es sich bei ersterem um ein lediglich subjektiv gültiges empirisches Urteil, ein Wahrnehmungsurteil handelt. Der im gegenwärtigen Kontext entscheidende Punkt des Zitats ist, dass sich die Artikulation dieses Wahrnehmungsurteils nach „Gesetzen der Assoziation“ richtet. D. Lohmar hat in seinem Buch Erfahrung und kategoriales Denken zu zeigen versucht, dass der Zusammenhang zwischen Assoziationsregeln und Wahrnehmungsurteilen, den Kant hier herstellt, für dessen gesamte Konzeption des Wahrnehmungsurteils maßgeblich ist. Lohmar argumentiert für die These, dass Wahrnehmungsurteile bei Kant als der sprachliche Ausdruck von erworbenen Dispositionen des Subjekts und näherhin einer Assoziationsregel (Assoziationsgewohnheit) zu verstehen sind. 11 Da die nur auf Assoziation basierenden Regelmäßigkeiten als kategorial nicht fundierte Regelmäßigkeiten der Vorstellungen des jeweiligen Subjekts gelten müssen, lassen sich von dieser These her die drei grundlegenden Charakteristika, die Kant den Wahrnehmungsurteilen im Unterschied zu Erfahrungsurteilen zuspricht, verständlich machen. 12 Denn wenn Wahrnehmungsurteile Ausdruck von lediglich assoziationsbasierten Regelmäßigkeiten sind, dann „bedürfen“ sie, wie Kant sagt, erstens „keines reinen
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Siehe die Literaturhinweise bei Lohmar 1998, 93 Anm. 102; siehe außerdem Aquila 1987, 73 u. 103/5.. Lohmar 1998, 81/104, insbes. 87, 90, 93/5. Lohmar gibt auch eine ganze Reihe von Hinweisen darauf, dass die vor-objektiven bzw. vorkategorialen Regelmäßigkeiten, deren Artikulation die Aufgabe der Wahrnehmungsurteile ist, bereits in der A-Deduktion thematisch sind (ebd., 92 f.). Bei diesen Charakteristika handelt es sich um die folgenden: In Wahrnehmungsurteilen sind die Kategorien nicht angewandt; Wahrnehmungsurteile sind nicht objektiv gültig; Wahrnehmungsurteile sind subjektiv gültig (vgl. Proleg, A 78).
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
Verstandesbegriffs“ – zumindest aber keiner objektivierenden Relationskategorie. 13 Außerdem sind sie dann zweitens in Hinblick auf die Frage nach objektiv empirischer Wahrheit oder Falschheit indifferent, d. h. nicht objektiv gültig, weil die Gegenstände, von denen sie handeln (Erscheinungen), nicht als solche Gegenstände bestimmt sind, die die für empirische Objekte charakteristischen Konstanzbedingungen erfüllen. Schließlich besitzen Wahrnehmungsurteile dann drittens einen eigenen Gültigkeitsmodus: Sie sind subjektiv gültig, weil sie Ausdruck der Assoziationsgewohnheiten des urteilenden Subjekts sind. Lohmars generelle These, dass Wahrnehmungsurteile Ausdruck bestehender Assoziationsregeln sind, lässt sich meiner Auffassung nach jedoch nicht für alle Klassen von Wahrnehmungsurteilen halten. Lohmar scheint der Auffassung zu sein, dass sich alle Wahrnehmungsurteile in einer Weise formulieren lassen müssen, dass sie eine bestimmte durch bestehende Assoziationsregeln geweckte Erwartung ausdrücken. Das ist zwar für die Klasse derjenigen Wahrnehmungsurteile plausibel, die die vorkategoriale Erfahrung von Kausalität artikulieren 14, nicht aber für die Klasse der Wahrnehmungsurteile, die die vorkategoriale Erfahrung von Gegenstand und Eigenschaft artikulieren. Aus einem Beispiel Kants, das zur letztgenannten Klasse gehört – „Ich, der ich einen Thurm warnehme, nehme an ihm die rothe Farbe war“ 15 –, wird bei Lohmar: „Ich, der ich schon bestimmte Erfahrungen mit diesem Turm gemacht habe (ich war schon einmal dort), habe bei seiner Betrachtung gleichsam schon die Empfindung seiner roten Farbe. Meine reproduktive Einbildungskraft ruft bei mir unwillkührlich die Erwartung hervor, er erscheine rot“. 16 Kants Beispiel wird damit jedoch entstellt. Lohmar verkehrt es dahingehend, dass der Urteilende gegenwärtig nur den Turm, nicht aber die rote Farbe an ihm wahrnimmt. Die Wahrnehmung der roten Farbe wird Lohmar zufolge aufgrund einer As-
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Proleg, A 78. – Dass Kants ‚Kategorienkriterium‘ der Wahrnehmungsurteile auf die Relationskategorien einzuschränken ist, hat G. Prauss (1971, 163 f.) gezeigt. Ein Beispiel Kants für ein solches Wahrnehmungsurteil ist: „Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm“; das korrelative Erfahrungsurteil wäre Kant zufolge: „Die Sonne erwärmt den Stein“ (Proleg, A 83 Anm.; vgl., A 100). Ein anderes Beispiel Kants, das dieser Klasse zugehört, ist: „Die Luft ist elastisch“. Kant führt dieses Urteil allerdings einmal als Beispiel für ein Wahrnehmungsurteil (ebd., A 81) und ein anderes Mal als Beispiel für ein Erfahrungsurteil an (ebd., A 83). Lohmar gibt die folgende subjektiv gerichtete Beschreibung dieses Urteils: „Wenn ich sehe oder mir vorstelle, daß ein bestimmtes Volumen Luft durch eine Krafteinwirkung in einem Zylinder zusammengepreßt wird, und die Kraft wird entfernt, dann entsteht in mir unwillkürlich die Erwartung, daß die Luft ihr ursprüngliches Volumen wieder einnehmen wird.“ (Lohmar 1998, 101.) R 3145 (1790/1804), AA 16.678.12/3. Lohmar 1998, 96.
7.2 Der Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation
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soziationsregel, die sich früheren Erfahrungen mit diesem Turm verdankt, antizipiert. 17 Lohmar ist gezwungen, das von Kant formulierte Wahrnehmungsurteil auf die genannte Weise zu verkehren, um an seiner These festhalten zu können, dass jedes Wahrnehmungsurteil als der sprachliche Ausdruck einer Assoziationsregel zu verstehen ist. Denn welche Assoziationsregel sollte in Kants Beispiel zum Ausdruck gebracht werden, wenn dieses lediglich der Bericht über eine mir sinnlich unmittelbar präsente Eigenschaft des Gegenstandes meiner gegenwärtigen Wahrnehmungsanschauung ist? Es gibt keine solche Assoziationsregel. Lohmar will daher ausschließen, dass Wahrnehmungsurteile, die die vorkategoriale Erfahrung von Gegenstand und Eigenschaft artikulieren, von der Art eines solchen Berichts sind. 18 Die Behauptung Lohmars, Wahrnehmungsurteile seien der sprachliche Ausdruck einer Assoziationsregel, besitzt nur beschränkte Gültigkeit. Sie trifft nur auf diejenigen Wahrnehmungsurteile zu, die sich in irgendeiner Weise als der Form nach allgemeine Urteile interpretieren lassen. Solche Wahrnehmungsurteile sind der sprachliche Ausdruck einer Assoziationsregel, weil in ihnen eine bestehende Assoziationsregel selbst zum Thema wird. In Hinblick auf solche Wahrnehmungsurteile leuchtet Kants Einschätzung, das Bestehen von Assoziationsregeln sei eine notwendige Bedingung für Wahrnehmungsurteile, unmittelbar ein. Das von Kant angegebene Wahrnehmungsurteil „Ich, der ich einen Thurm warnehme, nehme an ihm die rothe Farbe war“ 19 lässt sich jedoch keinesfalls als der Form nach allgemeines Urteil interpretieren. Es betrifft eine konkrete von mir wahrgenommene Turmerscheinung. Und es kann nicht als ein allgemeines Wahrnehmungsurteil über Turmerscheinungen verstanden, so wie „Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere“ (B 142) als ein allgemeines Wahrnehmungsurteil über
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Lohmars Umformung von Kants Turmbeispiel ist schon deshalb inakzeptabel, weil in ihr der Turm bereits als numerisch identischer Gegenstand von Wahrnehmungen aus verschiedenen Wahrnehmungssituationen und damit als beharrliches empirisches Objekt bestimmt ist. Offenbar ist dies jedoch mit dem grundlegenden Charakteristikum von Wahrnehmungsurteilen unverträglich, dass insbesondere die Substanzkategorie in solchen Urteilen nicht angewandt ist. Bei Kants Beispielen für Wahrnehmungsurteile dieser Klasse entsteht der Lohmar zufolge „falsche Eindruck, als ob Wahrnehmungsurteile nur ein Bericht über das Bestehen und den Verlauf unserer Empfindungen wären. [...] Diese Schwierigkeit ist für einen unvereingenommenen Leser unvermeidlich. Er gelangt zu dem Eindruck, als ob die nur gerade jetzt stattfindenden Empfindungen ausgesagt würden. Dies ist jedoch nicht der Fall“ (Lohmar 1998, 96). Vielmehr beziehe sich Kant, so Lohmar, „mit der ganzen Klasse von Wahrnehmungsurteilen, die Verbindungen zwischen Gegenständen und Eigenschaften zum Thema haben, auf die assoziativ erweckten Erwartungen der reproduktiven Einbildungskraft.“ (Ebd., 98.) R 3145 (1790/1804), AA 16.678.12/3.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
Körpererscheinungen verstanden werden könnte. Im Turm-Beispiel wird lediglich von einer mir sinnlich unmittelbar präsenten Eigenschaft des Gegenstandes meiner gegenwärtigen Wahrnehmungsanschauung berichtet. Damit stellt sich nun die Frage, wie sich Kants Behauptung, das Bestehen von Assoziationsregeln sei eine notwendige Bedingung für Wahrnehmungsurteilen, auch für den Fall solcher Berichte rechtfertigen lässt. In Wahrnehmungsurteilen kommen Begriffe vor. Um Wahrnehmungsurteile vollziehen können, müssen wir empirische Begriffe besitzen und anwenden können. Dasjenige, worauf wir diese Begriffe in Wahrnehmungsurteilen anwenden, ist jedoch nicht schon durch Relationskategorien, d. h. als beharrliches und in kausalen Zusammenhängen stehendes empirisches Objekt, bestimmt, sondern sind relationskategorial unbestimmte Gegenstände der empirischen Anschauung oder Teile bzw. Aspekte solcher Gegenstände. Der Besitz eines empirischen Begriffs ‚F‘, den wir in Wahrnehmungsurteilen anwenden können, impliziert daher nicht das Verfügen über Identitätskriterien, die es erlauben, Erscheinungen aus verschiedenen Wahrnehmungssituationen als ein und dasselbe F zu beurteilen. Um Wahrnehmungsurteile vollziehen zu können, müssen wir empirische Begriffe lediglich in dem minimalen Sinn besitzen, dass wir in gegebenen Wahrnehmungssituationen etwas F-artiges von etwas unterscheiden können, das nicht F-artig ist. Empirische Begriffe, die wir lediglich in diesem minimalen Sinn besitzen, werde ich im Folgenden als ‚Proto-Begriffe‘ bezeichnen. 20 Es liegt nahe, einen Zusammenhang zwischen Proto-Begriffen und dem Konzept einer Assoziationsklasse oder Ähnlichkeitsklasse herzustellen. Denn man kann sagen, dass verschiedene empirische Anschauungen bzw. intuitive Merkmale solcher Anschauungen, deren Gehalt wir durch denselben Proto-Begriff klassifizieren, in dieselbe Assoziations- oder Ähnlichkeitsklasse fallen. Für Kant ist dies geradezu ein Prinzip der Assoziation. Wo Kant auf die Frage der Assoziationsprinzipien zu sprechen kommt, bringt er immer wieder die ‚Verwandtschaft‘ von Vorstellungen als ein solches Prinzip ins Spiel. An einigen Stellen versteht er darunter lediglich Humes Assoziationsprinzip „Cause or Effect“ 21, an anderen
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Ich übernehme den Ausdruck von Pendlebury 1996, 133. Proto-Begriffe entsprechen in etwa dem, was E. Tugendhat ‚Quasi-Prädikate‘ nennt (vgl. Tugendhat 1979, 208/10, 331/4, 344 f.). G. Mohr hat eine Rekonstruktion von Kants Konzeption der Wahrnehmungsurteile vorgelegt, derzufolge die elementare Form des Wahrnehmungsurteils darin besteht, dass subjektiv datierte sowie lokalisierte Empfindungsqualitäten mit QuasiPrädikaten bezeichnet werden (Mohr 1995, insbes. 335/7; Mohr 1997, insbes. 152 f.). „Ideen sind entweder Einträchtig oder benachbart nach Raum und Zeit oder verwandt: Causalitaet“, R 353, AA 15.138.27/8. Diese drei Assoziationsprinzipien entsprechen den von Hume im dritten Abschnitt seiner Encquiry Concerning Human Understanding genannten:
7.2 Der Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation
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Stellen unterteilt er das Assoziationsprinzip der Verwandtschaft jedoch in eines der ‚Ähnlichkeit‘ und eines der ‚Abstammung‘. 22 „Die Verwandschaft der Aehnlichkeit ist aber, wenn wir Z. E. alles in gewiße Classen bringen, damit uns das andere einfällt, wenn wir an eins dencken.“ 23 Diesem Assoziationsprinzip zufolge vergesellschaften verschiedene Vorstellungen, deren Inhalte wir auf dieselbe Weise und näherhin durch denselben Proto-Begriff klassifizieren. Man kann daher bei Kant von einem Assoziationsprinzip der klassifikatorischen Ähnlichkeit sprechen. 24 Aufgrund der verschiedenen Assoziationsprinzipien bilden sich Assoziationsregeln. Assoziationsregeln sind Regeln, nach denen „eine Vorstellung vielmehr mit dieser, als einer andern in der Einbildungskraft in Verbindung tritt.“ (A 121) Als Beispiele für solche Regeln nennt Kant, dass ich „bei der Vorstellung“ einer bestimmten „roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken“ bekomme (A 101), oder: „wenn ein Körper lange gnug von der Sonne beschienen ist, so wird er warm“ (Proleg, A 100). Bei Assoziationsregeln handelt es sich aber nicht nur um solche Regeln, die assoziative Verknüpfungen zwischen Vorstellungen verschiedener Arten begründen, sondern auch um solche Regeln, die assoziative Verknüpfungen zwischen Vorstellungen derselben Art begründen. Für diesen zweiten Typ von Assoziationsregeln sind Proto-Begriffe grundlegend. Denn nach dem Assoziationsprinzip der klassifikatorischen Ähnlichkeit vergesellschaften verschiedene Vorstellungen, deren Inhalte durch denselben Proto-Begriff klassifiziert werden. Damit lässt sich nun Kants Behauptung, das Bestehen von Assoziationsregeln sei eine notwendige Bedingung für Wahrnehmungsurteile, auch für diejenigen Wahrnehmungsurteile einsichtig machen, die lediglich einen Bericht über eine mir sinnlich unmittelbar präsente Eigenschaft des Gegenstandes meiner gegenwärtigen Wahrnehmungsanschauung geben. Das Bestehen von Assoziationsregeln ist insofern schon eine notwendige Bedingung für solche Wahrnehmungsurteile, als der Besitz von Proto-
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„Resemblance“, „Contiguity“ und „Cause or Effect“. Vgl. auch Anthr. Pillau (1777/8), AA 25.752. „Die Verwandtschaft (s Ahnlichkeit oder Abstammung) [...] ist ein Grund der Vergesellschaftung oder Beygesellung.“ R 355, AA 15.139.18/20. Anthr. Friedländer (1775/6), AA 25.513.20/2. Von diesem Assoziationsprinzip der klassifikatorischen Ähnlichkeit wäre das Assoziationsprinzip der phänomenalen Ähnlichkeit (Einträchtigkeit) zu unterscheiden: „Dinge sind einträchtig, die einander ähnlich sind. Diese Einträchtigkeit macht aber auch, dass wir ähnlichen Dingen einen gleichen Namen geben z. E. Es giebt einen Pferdfisch, weil er einige Ähnlichkeit mit einem Pferde hat.“ Anthr. Pillau (1777/8), AA 25.752.20/3. Die phänomenal verstandene Ähnlichkeit begründet die gleiche Klassifizierung. Bei der klassifikatorischen Ähnlichkeit verhält es sich umgekehrt: Sie wird durch die gleiche Klassifizierung begründet.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
Begriffen – d. h. derjenigen Begriffe, die in diesen Wahrnehmungsurteilen vorkommen – aufgrund des Assoziationsprinzips der klassifikatorischen Ähnlichkeit das Bestehen von Assoziationsregeln voraussetzt, nach denen Wahrnehmungen derselben Art assoziativ verknüpft werden. Da in diesen Wahrnehmungsurteilen Proto-Begriffe vorkommen, impliziert jeder Vollzug solcher Urteile den Besitz von Proto-Begriffen und damit das Bestehen von gewissen Assoziationsregeln. Das Bestehen von Assoziationsregeln ist, wie sich damit insgesamt gezeigt hat, eine notwendige Bedingung für Wahrnehmungsurteile; es lässt sich somit von einem der schwachen Ausgangspunkte von Kants Deduktionsuntersuchung ausweisen. Assoziationsregeln fungieren als subjektive und empirische Gründe der Synthesis der Reproduktion. Alle Vorstellungen, die Anwendungsfälle solcher Regeln sind oder durch solche Regeln reproduzibel sind, stehen in einer assoziativen Einheit, in einer „Einheit der Assoziation“ (A 122). Damit ist die erste Etappe der ‚Deduktion von unten‘ – der Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation – abgeschlossen.
7.3 Affinität: Der objektive Grund der Assoziation Kant zielt im Rahmen der ‚Deduktion von unten‘ letztlich darauf ab, die Einheit der Assoziation durch die Kategorien zu fundieren. Sein erster Schritt in Hinblick auf dieses Ziel besteht in der Behauptung, dass die „Einheit der Assoziation [...] einen objektiven Grund“ hat (A 121). Kant spezifiziert diese Behauptung folgendermaßen: „Es muß also ein objektiver, d. i. vor allen empirischen Gesetzen der Einbildungskraft a priori einzusehender Grund sein, worauf die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit eines durch alle Erscheinungen sich erstreckenden Gesetzes beruht [...]. Diesen objektiven Grund aller Assoziation der Erscheinungen nenne ich die Affinität derselben.“ (A 122).
Ich werde das Argument, das Kant in der ‚Deduktion von unten‘ für die Affinität der Erscheinungen vorbringt und das die zweite Etappe seiner Argumentation bildet, im folgenden Abschnitt rekonstruieren. Zuvor jedoch möchte ich mich auf einige Passagen vor allem des zweiten Abschnitts des Deduktionskapitels konzentrieren, in denen Kant die Affinitätsthematik ins Spiel bringt und die Annahme eines objektiven Grundes der Assoziation zumindest ansatzweise zu begründen sucht. Damit soll einerseits ein Zugang zu dem gewonnen werden, was Kant überhaupt unter ‚Affinität‘ der Erscheinungen versteht, und andererseits geprüft werden, ob es Kant bereits im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels
7.3 Affinität: Der objektive Grund der Assoziation
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gelingt, ein haltbares Argument für die Affinität der Erscheinungen zu entwickeln. Das Thema ‚Affinität‘ ist im Deduktionskapitel bereits präsent, bevor der Begriff explizit erwähnt wird. Kant erklärt zu Beginn des Abschnitts zur Synthesis der Reproduktion, dass es ein „empirisches Gesetz“ gibt, demzufolge „Vorstellungen, die sich oft gefolgt oder begleitet haben, mit einander endlich vergesellschaften“ (A 100). Diesem empirischen Gesetz der Vergesellschaftung von Vorstellungen (Assoziationsgesetz) zufolge bilden sich im Laufe der Zeit Arten von Vorstellungen heraus und etablieren sich Verknüpfungen zwischen Vorstellungen verschiedener Art, so dass „auch ohne Gegenwart des Gegenstandes eine dieser Vorstellungen einen Übergang des Gemüts zu der andern, nach einer beständigen Regel, hervorbringt.“ (Ebd.) In Hinblick auf die Affinitätsthematik entscheidend ist dann, dass Kant auf eine notwendige Bedingung dafür aufmerksam macht, dass dieses Gesetz in Kraft sein kann – eine Bedingung, die nicht Vorstellungszustände betrifft, sondern das durch sie Vorgestellte, die Erscheinungen: „Dieses Gesetz der Reproduktion setzt aber voraus: daß die Erscheinungen selbst wirklich einer solchen Regel unterworfen sein, und daß in dem Mannigfaltigen ihrer Vorstellungen eine, gewissen Regeln gemäße, Begleitung, oder Folge statt finde; denn ohne das würde unsere empirische Einbildungskraft niemals etwas ihrem Vermögen Gemäßes zu tun bekommen, also, wie ein totes und uns selbst unbekanntes Vermögen im Inneren des Gemüts verborgen bleiben. Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, [...] so könnte meine empirische Einbildungskraft nicht einmal die Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen“ (A 100 f.).
Wären Erscheinungen von sich aus derart heterogen, dass sich zwischen ihnen prinzipiell, d. h. auch bei bestmöglichem Assoziationsvermögen, keine Regelmäßigkeiten feststellen ließen, so könnten wir es immer nur mit „regellose[n] Haufen“ von Vorstellungen zu tun haben (A 121) und das Assoziationsgesetz könnte gar nicht in Kraft sein. Umgekehrt gesagt: Da dieses Gesetz de facto in Kraft ist – was sich schon darin zeigt, dass wir Wahrnehmungsurteile fällen, die als notwendige Bedingungen für das Bestehen von Assoziationsregeln gelten können 25 –, können Erscheinungen nicht die genannte Heterogenität aufweisen, sondern müssen „selbst wirklich“ (A 100) bzw. „schon von selbst“ (A 101) einer Regel unterworfen sein. Es ist demnach notwendig, dass wir nur dann urteilsmäßige Erkenntnis von Erscheinungen – selbst in dem schwachen Sinn von Wahrnehmungsurteilen – haben können und sich unsere Wahrnehmungen von Erscheinungen nur dann assoziativ verknüpfen lassen, wenn den Erschei-
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Siehe dazu oben Abschnitt 7.2.2, S. 227 ff.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
nungen selbst eine regelmäßige Beschaffenheit zukommt. An einer späteren Stelle nennt Kant diese Beschaffenheit, d. h. den „Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, so fern er im Objekte liegt, [...] die Affinität des Mannigfaltigen“ bzw. „der Erscheinungen“ (A 113). Das Konzept der Affinität der Erscheinungen wird der Sache nach (wenn auch wiederum nicht dem Namen nach) von Kant im Anhang zur transzendentalen Dialektik präzisiert: „Wäre unter den Erscheinungen, die sich uns darbieten, eine so große Verschiedenheit, ich will nicht sagen der Form (denn darin mögen sie einander ähnlich sein), sondern dem Inhalte, d. i. der Mannigfaltigkeit existirender Wesen nach, daß auch der allerschärfste menschliche Verstand durch Vergleichung der einen mit der anderen nicht die mindeste Ähnlichkeit ausfindig machen könnte (ein Fall, der sich wohl denken läßt), so würde das logische Gesetz der Gattungen ganz und gar nicht stattfinden, und es würde selbst kein Begriff von Gattung, oder irgend ein allgemeiner Begriff, ja sogar kein Verstand stattfinden, als der es lediglich mit solchen zu tun hat. Das logische Prinzip der Gattungen setzt also ein transzendentales voraus, wenn es auf Natur (darunter ich hier nur Gegenstände, die uns gegeben werden, verstehe) angewandt werden soll. Nach demselben wird in dem Mannigfaltigen einer möglichen Erfahrung notwendig Gleichartigkeit vorausgesetzt (ob wir gleich ihren Grad a priori nicht bestimmen können), weil ohne dieselbe keine empirische Begriffe, mithin keine Erfahrung möglich wäre.“ (A 653 f., B 681 f.)
Kant zieht hier die Möglichkeit einer Verschiedenartigkeit der Erscheinungen selbst in Betracht, die derart groß ist, dass auch der „allerschärfste menschliche Verstand“ keinerlei inhaltliche Ähnlichkeit unter ihnen ausmachen könnte. Die Konsequenzen einer solchen Verschiedenartigkeit der Erscheinungen wären desaströs: Wir könnten keinen einzigen empirischen Begriff, nicht einmal in dem für Proto-Begriffe charakteristischen minimalen Sinn, besitzen; wir könnten daher auch keinerlei urteilsmäßige empirische Erkenntnis, nicht einmal in dem schwachen Sinn von Wahrnehmungsurteilen, gewinnen; und wir hätten ohne die Möglichkeit empirischer Begriffe und Urteile auch keinerlei empirischen Verstand. Sofern es dann überhaupt noch sinnvoll wäre, zu behaupten, wir besitzen einen reinen Verstand, könnten dessen Begriffe keine erfahrungskonstitutive Rolle übernehmen. Denn und dies hat K. R. Westphal zu Recht herausgestellt, „the constitutive employment of categories in application to particular objects concerns (among other things) our identification of objects and events, and this involves our having and applying whatever empirical concepts are necessary for identifying those objects. As Kant (rightly) points out, our having those concepts requires that we find a certain amount of regularity among the objects and events we sense.
7.3 Affinität: Der objektive Grund der Assoziation
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Failing such regularity, we would not have experience at all.“ 26 Unterhalb eines bestimmten Grades von Regelmäßigkeit und Homogenität unter den Erscheinungen selbst könnten die reinen Verstandesbegriffe keine erfahrungskonstitutive Funktion haben. Durch die bisherige Argumentation ist nicht ausgeschlossen, dass es Erscheinungen geben kann, die auch bei bestmöglichem Zustand unseres Assoziationsvermögens und unserer Vermögen, empirische Begriffe zu bilden und urteilsmäßige empirische Erkenntnis zu gewinnen, mit anderen Erscheinungen nicht in gleichartigen oder regelmäßigen Zusammenhängen stehen. Dass Erscheinungen Affinität besitzen, ist nur für diejenigen Erscheinungen gezeigt worden, die gewissermaßen in der Reichweite dieser Vermögen liegen. Um eine Affinität aller Erscheinungen zu behaupten, braucht Kant die Zusatzannahme, dass in Bezug auf jede Erscheinung zumindest eines der genannten Vermögen tätig sein kann. Macht man etwa die Zusatzannahme, dass jede empirische Anschauung Gegenstand von Assoziationsregeln sein kann, so könnte man für die These argumentieren, dass Affinität aller Gegenstände von empirischen Anschauungen und damit Affinität aller Erscheinungen besteht. Unabhängig davon wird schnell deutlich, dass Kant eigentlich auf mehr abzielt als auf die Affinität aller Erscheinungen. Er will im Abschnitt zur Synthesis der Reproduktion nicht nur vom Gesetz der Vergesellschaftung von Vorstellungen auf die faktische Regelmäßigkeit von deren Gehalten, d. h. der Erscheinungen, schließen, sondern darüber hinaus zeigen, dass es einen apriorischen Grund dafür geben muss, dass alle Erscheinungen in einer notwendigen Einheit stehen. Unmittelbar nachdem er die Existenz
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Westphal 1997, 159. – Westphal, dessen Arbeit die bisher eingehendste Untersuchung zu Kants Affinitätskonzept ist, hat (ebd.) darauf hingewiesen, dass man bei Kant zwischen zwei grundlegenden Arten von Affinitätsprinzipien unterscheiden muss, zwischen solchen, die für den regulativen Gebrauch von Ideen relevant sind, und solchen, die für den konstitutiven Gebrauch der Kategorien relevant sind. Bei ersteren handele es sich um lediglich subjektiv notwendige Prinzipien, durch die wir unsere verschiedenen Erfahrungen der Natur systematisieren. Zu diesen Affinitätsprinzipien gehören etwa die ‚Affinität der Begriffe‘ (A 657 f., B 685 f.), die ‚Affinität besonderer Naturgesetze‘ (KU, 1. Einl., AA 20.209.20210.10) und das ‚Gesetz der Gattungen‘ (A 651/7, B 679/85). Bei den letzteren, d. h. den für den konstitutiven Kategoriengebrauch relevanten Affinitätsprinzipien, handele es sich dagegen um Prinzipien, ohne deren Geltung wir gar keine Erfahrungen haben könnten, die es zu systematisieren gilt. (Siehe dazu Westphal 1997, 159.) Das oben genannte Zitat Kants (A 653 f., B 681 f.) befindet sich nun zwar in demjenigen Teil des Anhangs zur transzendentalen Dialektik, der Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft handelt; dass das in dem Zitat entworfene Szenario einer affinitätslosen, chaotischen Welt bzw. die darin beschriebene Heterogenität der Erscheinungen tatsächlich nicht der Realität entspricht, ist jedoch ein Affinitätsprinzip, dass bereits für den konstitutiven Gebrauch der Kategorien relevant ist. (Vgl. Westphal 1997, 160) – Von den lediglich für den regulativen Gebrauch von Ideen relevanten Affinitätsprinzipien wird in dieser Arbeit keine Rede sein. Sie spielen insbesondere im Deduktionskapitel keine Rolle.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
einer „Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind“, als notwendige Bedingung der Möglichkeit des Stattfindens einer empirischen Synthesis der Reproduktion erklärt hat, behauptet er: „Es muß also etwas sein, was selbst diese Reproduktion der Erscheinungen möglich macht, dadurch, daß es der Grund a priori einer notwendigen synthetischen Einheit derselben ist.“ (A 101) Wenn die Synthesis der Reproduktion auf apriorische Prinzipien gegründet sein muss, dann wäre es notwendig, dass sie alle Erscheinungen, auf die sie sich beziehen kann, in einen a priori geregelten Zusammenhang bringt. Ließe sich dann in einem weiteren Schritt zeigen, dass dieser Zusammenhang als kategorialer Zusammenhang verstanden werden muss, so läge damit eine erfolgreiches Deduktionsargument ‚von unten‘ vor. Kant begründet seine These, dass die Synthesis der Reproduktion auf apriorische Prinzipien gegründet sein muss, folgendermaßen: „Wenn wir nun dartun können, daß [a] selbst unsere reineste Anschauungen a priori keine Erkenntnis verschaffen, außer, so fern sie [b] eine solche Verbindung des Mannigfaltigen enthalten, die eine durchgängige Synthesis der Reproduktion möglich macht, so [c] ist diese Synthesis der Einbildungskraft auch vor aller Erfahrung auf Prinzipien a priori gegründet, und man muß eine reine transzendentale Synthesis derselben annehmen“ (A 101).
Dass [c] die Synthesis der Reproduktion auf apriorische Prinzipien gegründet sein muss, soll sich m. E. hier daraus ergeben, dass [a] „unsere reineste Anschauungen a priori“ gewisse Erkenntnisse „verschaffen“, und dass dies impliziert, dass [b] diese Anschauungen eine Verbindung des Mannigfaltigen notwendig sicherstellen, aufgrund der die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch apriorische Prinzipien fundiert ist. Das einzige Argument, das die Gültigkeit von [c] auf dem beschriebenen Weg plausibel machen kann, ist das folgende: Die Erkenntnisse, die uns unsere „reineste[n] Anschauungen“, d. h. die Anschauungen von Raum und Zeit, Satz [a] zufolge a priori „verschaffen“, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie rein intuitiv sind und den apriorischen Gesetzen des Raums und der Zeit gemäß sein müssen. Aufgrund der notwendigen Anwendbarkeit der Mathematik muss auch jede empirische Erkenntnis unter diesen Gesetzen stehen. Da [b] die Verbindung des reinen Mannigfaltigen durch diese Gesetze notwendig und durchgängig geregelt ist, muss die des empirischen Mannigfaltigen ebenfalls durch diese Gesetze notwendig und durchgängig geregelt sein. Damit ist aber notwendigerweise gewährleistet, dass die Synthesis der Reproduktion dieses Mannigfaltigen unter diesen Gesetzen und damit unter Prinzipien a priori steht. Dass eine „reine transzendentale Synthesis der Reproduktion“ anzunehmen ist (A 101), bedeutet demnach, dass die transzendentale Synthesis der Reproduktion unter den apriorischen Gesetzen des Raums und der Zeit steht.
7.3 Affinität: Der objektive Grund der Assoziation
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Das Argument bleibt jedoch hinter den Erwartungen zurück. Denn die apriorischen Prinzipien, von denen es zeigt, dass die Reproduktionssynthesis auf sie gegründet sein muss, bestehen lediglich in den apriorischen Gesetzen des Raums und der Zeit. Dadurch ist zwar gewährleistet, dass diese Synthesis alles, worauf sie bezogen sein kann, in einen a priori geregelten Zusammenhang bringt, aber dieser Zusammenhang muss nicht kategorial sein. Denn die apriorischen Prinzipien aus reinen Anschauungen implizieren keine apriorischen Prinzipien aus reinen Begriffen (vgl. A 159 f., B 198 f.). Die mit dem dargelegten Argument verfolgte Strategie lässt sich also im Hinblick auf ein mögliches Deduktionsargument nicht fruchtbar machen. 27 Im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels stellt Kant jedoch weitere Überlegungen zur Affinitätsthematik an. Der dortige Unterabschnitt 4. Vorläufige Erklärung der Möglichkeit der Kategorien, als Erkenntnissen a priori (A 110/5) führt den Ausdruck ‚Affinität‘ explizit ein, und zwar im thematischen Kontext des Kausalitätsprinzips. „Aber jene empirische Regel der Assoziation, die man doch durchgängig annehmen muß, wenn man sagt: daß alles in der Reihenfolge der Begebenheiten dermaßen unter Regeln stehe, daß niemals etwas geschieht, vor welchem nicht etwas vorhergehe, darauf es jederzeit folge: dieses als ein Gesetz der Natur, worauf beruht es, frage ich, und wie ist selbst diese Assoziation möglich? Der Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, so fern er im Objekte liegt, heißt die Affinität des Mannigfaltigen. Ich frage also, wie macht ihr euch die durchgängige Affinität der Erscheinungen (dadurch sie unter beständigen Gesetzen stehen und darunter gehören müssen) begreiflich?“ (A 112 f.)
Kant formuliert das Kausalitätsprinzip in der A-Auflage der KrV bekanntlich folgendermaßen: „Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt.“ (A 189; ohne dortige Hvh.) Dieses „Gesetz der Natur“ und die „Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen“, so Kant in dem obigen Zitat, hängt von der „Affinität des Mannigfaltigen“ bzw. der Erscheinungen ab (A 113). Der Vorteil davon, dass Kant die Affinität hier im Kontext des Beispiels einer Relationskategorie (Kausalität) diskutiert, besteht darin, dass die Unzulänglichkeit des gerade rekonstruierten Arguments schon vom Ansatz her überwunden werden soll. Denn diese Unzulänglichkeit bestand gerade darin, dass die Affinität aller Erscheinungen in jenem Argument bestenfalls in Hinblick auf mathematische, nicht aber in Hinblick auf dynamische Prinzipien begründet worden war.
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Vgl. Guyer 1987, 93, dessen Einschätzung von Kants Argument die gleiche Stoßrichtung hat (auch wenn Guyer von Kants Überlegungen im Abschnitt zur Synthesis der Reproduktion m. E. fälschlich annimmt, dass sie die Möglichkeit der Erkenntnis empirischer Objekte voraussetzen; Guyer 1987, 92/4 u. 121/4).
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
Die Merkmale, durch die Kant die Affinität in dem genannten Zitat charakterisiert, bestehen darin, dass die „Affinität des Mannigfaltigen“ bzw. die „Affinität der Erscheinungen“ erstens der Grund der Assoziabilität dieses Mannigfaltigen bzw. der Erscheinungen ist, und dass es sich bei diesem Grund näherhin zweitens insofern um einen objektiven Grund handelt, als „er im Objekte liegt“ und dass die Erscheinungen wegen dieses Grundes bzw. ihrer Affinität drittens „unter beständigen Gesetzen stehen“ müssen (A 113). Kant fragt in dem genannten Zitat, wie man sich diese Affinität „begreiflich“ machen soll, d. h. er fragt nach dem Erkenntnisgrund der Affinität. Seine Antwort auf diese Frage lautet: „Nach meinen Grundsätzen ist sie [die Affinität] sehr wohl begreiflich. Alle mögliche Erscheinungen gehören, als Vorstellungen, zu dem ganzen möglichen Selbstbewußtsein. Von diesem aber, als einer transzendentalen Vorstellung, ist die numerische Identität unzertrennlich, und a priori gewiß, weil nichts in das Erkenntnis kommen kann, ohne vermittelst dieser ursprünglichen Apperzeption. Da nun diese Identität notwendig in der Synthesis alles Mannigfaltigen der Erscheinungen, so fern sie empirische Erkenntnis werden soll, hineinkommen muß, so sind die Erscheinungen Bedingungen a priori unterworfen, welchen ihre Synthesis (der Apprehension) durchgängig gemäß sein muß. Nun heißt aber die Vorstellung einer allgemeinen Bedingung, nach welcher ein gewisses Mannigfaltige (mithin auf einerlei Art) gesetzt werden kann, eine Regel, und, wenn es so gesetzt werden muß, ein Gesetz. Also stehen alle Erscheinungen in einer durchgängigen Verknüpfung nach notwendigen Gesetzen, und mithin in einer transzendentalen Affinität, woraus die empirische die bloße Folge ist.“ (A 113 f.)
Die ursprüngliche Apperzeption ist demnach der Erkenntnisgrund der Affinität aller Erscheinungen; sie ist Kant zufolge dasjenige, wodurch sich die Affinität verständlich machen lässt. Der Kern von Kants Argument besteht offenbar darin, dass die apriorische Gewissheit der numerischen Identität des Selbstbewusstseins ein apriorisches Wissen um Gesetze, nach denen das Mannigfaltige der Erscheinungen apprehendiert werden muss, impliziert. – In dem vorliegenden Zitat findet sich allerdings kein Argument dafür, dass dieser Implikationszusammenhang besteht. Kant setzt diesen Zusammenhang hier einfach voraus. Dagegen wäre auch nichts einzuwenden, wenn sein Argument für die Gesetzesthese aus A 108, das genau diesen Zusammenhang herstellen sollte, schlüssig wäre. Wie die Rekonstruktion dieses Arguments gezeigt hat, kann davon jedoch nicht ausgegangen werden. 28 Kants Zuversicht, mit dem vorliegenden Zitat begreiflich gemacht zu haben, dass „alle Erscheinungen in einer durchgängigen Verknüpfung nach notwendigen Gesetzen, und mithin in einer transzendentalen Affinität“ stehen (A 113 f.), steht in einem deutlichen Missverhältnis zur Kraft des in diesem Zitat enthaltenen Arguments.
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Siehe dazu oben Abschnitt 5.5, S. 181 ff.
7.3 Affinität: Der objektive Grund der Assoziation
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Kants Versuche, die Affinität der Erscheinungen schon im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels a priori zu begründen, können daher nicht als erfolgreich gelten. Damit muss das Affinitätsargument, das Kant im dritten Abschnitt, in der ‚Deduktion von unten‘, vorlegen wird, die Begründungslast allein tragen. Bevor ich dieses Argument rekonstruiere, möchte ich jedoch noch auf die unmittelbare Fortsetzung des obigen Zitats eingehen; zum einen, weil Kant darin eine Wendung vornimmt, die auch in der ‚Deduktion von unten‘ zu beobachten sein wird, und zum anderen, weil sich dadurch die im obigen Zitat von Kant getroffene Unterscheidung zwischen transzendentaler und empirischer Affinität verdeutlichen lässt. Kant erklärt direkt im Anschluss an das obige Zitat: „Daß die Natur sich nach unserem subjektiven Grunde der Apperzeption richten, ja gar davon in Ansehung ihrer Gesetzmäßigkeit abhangen solle, lautet wohl sehr widersinnisch und befremdlich. Bedenkt man aber, daß diese Natur an sich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen, mithin kein Ding an sich, sondern bloß eine Menge von Vorstellungen des Gemüts sei, so wird man sich nicht wundern, sie bloß in dem Radikalvermögen aller unsrer Erkenntnis, nämlich der transzendentalen Apperzeption, in derjenigen Einheit zu sehen, um deren willen allein sie Objekt aller möglichen Erfahrung, d. i. Natur heißen kann“ (A 114).
Mit diesen Bemerkungen vollzieht Kant eine bemerkenswerte Wendung gegenüber der vorigen Diskussion der Affinität. Ging es vorher darum, die Affinität der Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen und in diesem Sinne die Affinität der Natur im Rekurs auf die Apperzeption „begreiflich“ zu machen (A 113), so vertritt Kant nun die Position, dass sich die Natur nach der Apperzeption „richten“ und in ihrer Gesetzmäßigkeit von der Apperzeption „abhangen solle“ (A 114). Während die Apperzeption vorher als ein Prinzip fungiert, ohne das die Affinität nicht verständlich wird, fungiert sie nun als ein Prinzip, ohne das die Affinität nicht besteht. Kant macht also aus dem, was er zunächst für den Erkenntnisgrund der Affinität hielt, den Seinsgrund der Affinität. Meiner Auffassung nach ist es genau diese Wendung, der Kant mit der terminologischen Unterscheidung zwischen einer „empirische[n]“ und einer „transzendentalen Affinität“ Ausdruck verleiht (A 114). Unter ‚empirischer Affinität‘ ist die Affinität im zuvor diskutierten Sinn zu verstehen, d. h. die faktische Gleichartigkeit und Regelmäßigkeit aller Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen. Kant behauptet, diese empirische Affinität sei „die bloße Folge“ einer transzendentalen Affinität (ebd.). Um dieser Behauptung Sinn abzugewinnen, ist die transzendentale Affinität – d. h. die „durchgängige[] Verknüpfung [aller Erscheinungen] nach notwendigen Gesetzen“ (A 113 f.) – m. E. als diejenige Verknüpfung zu verstehen, aus der sich die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen in dem Sinne ergibt, dass die transzendentale Apperzeption ihr Autor ist. Die „notwendigen Gesetze[]“, durch die Kant die transzendentale Affini-
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
tät charakterisiert, wären demnach Gesetze, die das erkennende Subjekt den Erscheinungen und ihrem Mannigfaltigen a priori aufprägt oder vorschreibt. Vor diesem Hintergrund ließe sich dann sagen, dass die empirische Affinität insofern „die bloße Folge“ der transzendentalen Affinität sein soll (A 114), als das Bestehen der für die empirische Affinität charakteristischen faktischen Gleichartigkeit und Regelmäßigkeit der Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen die Folge davon sein soll, dass das erkennende Subjekt den Erscheinungen und ihrem Mannigfaltigen gewisse notwendige Gesetze a priori aufprägt und vorschreibt. Das erkennende Subjekt soll demnach eine apriorische Homogenisierungsfunktion für die Erscheinungen und ihr Mannigfaltiges haben, durch die das Szenario einer völlig chaotischen Welt von Erscheinungen a priori ausgeschlossen werden kann.
7.4 Das Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘ Das Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘, das nach dem Aufstieg vom Empirischen zur Einheit der Assoziation die zweite Etappe des Beweises bildet, soll den Nachweis erbringen, dass die „Einheit der Assoziation [...] einen objektiven Grund“ hat (A 121), und zwar die „Affinität“ aller Erscheinungen (A 122). In dem Argument versucht Kant, die Affinität aller Erscheinungen im Rekurs auf die ursprüngliche Apperzeption zu begründen. Das Argument mündet in der Konklusion, dass wir die Affinität aller Erscheinungen nur „in dem Grundsatze von der Einheit der Apperzeption [...] antreffen“ können (A 122). Dass die Affinität in diesem Grundsatz angetroffen werden soll, ist m. E. als Hinweis darauf zu werten, dass es in dem Argument darum geht, die ursprüngliche Apperzeption als Erkenntnisgrund der Affinität auszuweisen. 29 Da das Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘ nachweisen soll, dass die „Einheit der Assoziation“ in der Affinität der Erscheinungen „einen objektiven Grund“ hat (A 121), bzw. dass es einen „objektiven Grund aller Assoziation der Erscheinungen“ gibt (A 122), ist zunächst zu klären, was Kant hier unter einem ‚objektiven‘ Grund versteht. Er macht dies an zwei Stellen deutlich, die bereits im vorigen Abschnitt erwähnt wurden. Die erste besagt: „Der Grund der Möglichkeit der Assoziation des Mannigfaltigen, so fern er im Objekte liegt, heißt die Affinität des Mannigfaltigen.“ (A 113) Da Kant im unmittelbar folgenden Satz von der „Affinität der Erscheinungen“ spricht, ist davon auszugehen, dass es sich
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Seine Überlegungen zu einem subjektiven Seinsgrund der Affinität nimmt Kant erst in der dritten Etappe der ‚Deduktion von unten‘ wieder auf.
7.4 Das Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘
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bei dem „Mannigfaltigen“, von dessen Affinität hier die Rede ist, um das Mannigfaltige bzw. die Materie und damit um das der Empfindung korrespondierende Reale der Erscheinung handelt. Die Affinität des Mannigfaltigen ist demnach erstens insofern ein ‚objektiver‘ Grund, als sie ein Merkmal der extramentalen realitas phaenomenon selbst ist. 30 Die zweite Stelle findet sich am Ende des Affinitätsarguments der ‚Deduktion von unten‘: „Es muß also ein objektiver, d. i. vor allen empirischen Gesetzen der Einbildungskraft a priori einzusehender Grund sein, worauf die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit eines durch alle Erscheinungen sich erstreckenden Gesetzes beruht“ (A 122). Die Affinität ist demnach zweitens auch in dem Sinne ein ‚objektiver‘ Grund, dass sie auf nichtempirische Weise verständlich gemacht werden kann. In seinem Affinitätsargument selbst geht Kant nun indirekt vor, d. h. er versucht die Annahme, dass die Einheit der Assoziation keinen objektiven Grund hat, ad absurdum zu führen. Der erste Schritt des Arguments lautet: „Würde nun aber diese Einheit der Assoziation nicht auch einen objektiven Grund haben“, so wäre es möglich, „daß Erscheinungen von der Einbildungskraft anders apprehendiert würden, als unter der Bedingung einer möglichen synthetischen Einheit der Apprehension“ (A 121). 31 Wenn die Einheit der Assoziation keinen objektiven Grund hat, dann ist es möglich, dass die Apprehension einiger Erscheinungen nicht unter der Bedingung einer möglichen synthetischen Einheit erfolgt. Wie aus dem Fortgang des Affinitätsarguments hervorgeht, ist dies so zu verstehen, dass es möglich wäre, dass ich für einige meiner Wahrnehmungen auch bei bestmöglichem Assoziationsvermögen keine Assoziationsklasse bilden könnte, in die sie zusammen mit anderen meiner Wahrnehmungen fallen. Es bliebe dann hinsichtlich meiner Wahrnehmungen „an sich ganz unbestimmt und zufällig, ob sie auch assoziabel wären“ (A 122). Der erste Schritt von Kants Affinitätsargument kann demnach als Implikation der beiden folgenden Sätze rekonstruiert werden. (i)
(Annahme:) Die Einheit der Assoziation hat keinen objektiven Grund (A 121).
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31
Dem entspricht Kants Hinweis, dass es ihm hinsichtlich der Affinität um solche Regelmäßigkeiten geht, denen die Erscheinungen „schon von selbst“ (A 101) und damit unabhängig von unserem Zutun unterworfen sind. Im Text steht dagegen: „Würde nun aber diese Einheit der Assoziation nicht auch einen objektiven Grund haben, so daß es unmöglich wäre, daß Erscheinungen von der Einbildungskraft anders apprehendiert würden, als unter der Bedingung einer möglichen synthetischen Einheit der Apprehension, so [...]“ (ebd.; Hvh. v. Verf., M. W.). Ich folge oben dem Korrekturvorschlag H. Vaihingers und lese ‚möglich‘ statt ‚unmöglich‘. W. Carl behauptet zwar, dass diese Korrektur entfallen kann, seine Rekonstruktion deckt sich der Sache nach aber mit dem, was sich aus Vaihingers Vorschlag ergibt (vgl. Carl 1992, 217 f. Anm. 41).
244
(ii)
7 Die ‚Deduktion von unten‘
Es ist nicht notwendig, dass jede meiner Wahrnehmungen „assoziabel“ ist (ebd.).
Um zu zeigen, dass es Satz (ii) entgegen notwendig ist, dass wir alle unsere Wahrnehmungen in regelmäßige Zusammenhänge bringen können, reicht der Hinweis auf unser Assoziationsvermögen offenbar nicht aus. Denn mit diesem Hinweis könnten wir nur darauf aufmerksam machen, dass wir einige Wahrnehmungen, vielleicht sogar alle, mit denen wir es bisher zu tun hatten, durch assoziative Einbildungskraft de facto in einen regelmäßigen Zusammenhang bringen konnten; wir könnten aber nicht zeigen, dass es notwendig ist, dass wir alle unsere Wahrnehmungen in einen solchen Zusammenhang bringen können. Vor diesem Hintergrund weist Kant darauf hin, dass es ohne objektiven Grund der Einheit der Assoziation nicht notwendig und in diesem Sinn „etwas ganz Zufälliges“ wäre, wenn „sich Erscheinungen in einen Zusammenhang der menschlichen Erkenntnisse schickten.“ (A 121) Im nächsten Schritt folgert Kant aus Satz (ii): (iii)
Es ist möglich, dass einige Wahrnehmungen „in meinem Gemüt anzutreffen“ sind, „ohne zu einem Bewusstsein meiner selbst“ zu gehören (A 122).
Es ist zunächst unklar, was Kant zu dieser Folgerung berechtigt. Ich werde auf dieses (m. E. lösbare) Problem zurückkommen, möchte zunächst aber den Fortgang des Affinitätsarguments darstellen. Kant behauptet, dass das, was Satz (iii) zufolge möglich ist, „unmöglich“ ist (A 122), dass dieser Satz also falsch ist. Seine Begründung dafür lautet: „Denn nur dadurch, daß ich alle Wahrnehmungen zu einem Bewußtsein (der ursprünglichen Apperzeption) zähle, kann ich bei allen Wahrnehmungen sagen: daß ich mir ihrer bewußt sei.“ (Ebd.) Das bedeutet, wenn eine beliebige meiner Wahrnehmungen nicht zur ursprünglichen Apperzeption gehört, dann kann ich auch nicht sagen, dass ich mir ihrer bewusst bin. Daraus ergibt sich per Kontraposition: (iv)
Wenn ich bei einer beliebigen meiner Wahrnehmungen sagen kann, dass ich mir ihrer bewusst bin, dann gehört sie zur ursprünglichen Apperzeption.
Unterstellt man Kant noch das Hilfsargument: (v)
Ich kann bei jeder beliebigen meiner Wahrnehmungen sagen, dass ich mir ihrer bewusst bin,
so erhält man mit (iv) und (v):
7.4 Das Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘
(vi)
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Jede beliebige meiner Wahrnehmungen gehört zur ursprünglichen Apperzeption bzw. jede Wahrnehmung, die in meinem Gemüt anzutreffen ist, gehört zu einem Bewusstsein meiner selbst.
Sofern nun Satz (vi) wahr ist und im Widerspruch zu Satz (iii) steht, folgt, dass Satz (iii) falsch ist. Und sofern daraus die Falschheit von Satz (ii) folgt, würde sich letztlich die Falschheit der Annahme (i) ergeben, so dass Kant insgesamt folgern könnte: (vii)
Die Einheit der Assoziation hat einen objektiven Grund.
Was ist von diesem Argument zu halten? Ich möchte auf zwei Probleme des Arguments eingehen. Erstens – und darauf ist schon hingewiesen worden – ist unklar, warum Satz (iii) aus Satz (ii) bzw. die Negation von (ii) aus der Negation von (iii) folgen soll. Und unabhängig davon besteht zweitens das Problem, dass uneinsichtig bleibt, warum Satz (iii) falsch sein sollte. Denn die Negation von Satz (iii) folgt streng genommen nicht aus Satz (vi). Satz (vi) zufolge gehört jede Wahrnehmung, die in meinem Gemüt anzutreffen ist, zu einem Bewusstsein meiner selbst; daraus folgt lediglich, dass keine Wahrnehmung in meinem Gemüt anzutreffen ist, ohne zu einem Bewusstsein meiner selbst zu gehören, nicht jedoch, dass es unmöglich ist, dass eine Wahrnehmung in meinem Gemüt anzutreffen ist, ohne zu einem Bewusstsein meiner selbst zu gehören. Dass dies unmöglich ist, wäre aber zu zeigen. Dieses zweite Problem würde verschwinden, wenn man davon ausgehen könnte, dass Satz (vi) mit Notwendigkeit gilt, d. h. wenn gelten würde: (vi')
Es ist notwendig, dass jede Wahrnehmung, die in meinem Gemüt anzutreffen ist, zu einem Bewusstsein meiner selbst gehört.
Denn wenn Satz (vi') gilt, dann ist Satz (iii) falsch. Was bliebe, wäre das erste Problem: Es ist unklar, warum die Negation von Satz (ii) aus der Negation von Satz (iii) folgen soll. Da die Negation von (iii) mit Satz (vi') äquivalent ist, wäre dieses Problem beseitigt, wenn man zeigen kann, dass die Negation von (ii) aus Satz (vi') folgt. Im Folgenden beabsichtige ich, genau dies zu zeigen. Anschließend werde ich dann auf die hinsichtlich des zweiten Problems zentrale Frage eingehen, ob Satz (vi') selbst gilt. Satz (vi') besagt, dass es notwendig ist, dass jede beliebige meiner Wahrnehmungen zur ursprünglichen Apperzeption bzw. zu einem Bewusstsein meiner selbst gehört. Das bedeutet, dass es notwendig ist, dass hinsichtlich jeder dieser Wahrnehmungen das ‚Ich denke‘ zur Gegebenheit kommen kann. Da jedes Denken Urteilen ist, kann das ‚Ich denke‘ hinsichtlich einer meiner Wahrnehmungen nicht anders als im Rahmen eines
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
Urteils zur Gegebenheit kommen. Da wir aber keine Termini für Wahrnehmungen qua mentale Zustände haben, sondern allenfalls für das, was Wahrnehmungen vorstellen, d. h. für ihren Gehalt, ist die Form solcher Urteile nicht „Ich denke die Wahrnehmung W“, sondern eher „Ich nehme G wahr“, wobei ‚G‘ den Gehalt der Wahrnehmung bezeichnet. Satz (vi') impliziert also, dass es notwendig ist, dass ich bei jeder beliebigen meiner Wahrnehmungen ein Urteil der Art „Ich nehme G wahr“ formulieren kann, wobei ‚G‘ für den Gehalt der Wahrnehmung steht. Das bedeutet aber, dass es notwendig ist, dass ich hinsichtlich jeder beliebigen meiner Wahrnehmungen über einen (Proto-)Begriff für ihren Gehalt verfügen kann, bzw. hinsichtlich jeder dieser Wahrnehmungen eine Assoziationsklasse bilden kann, in die sie fällt. 32 Und das bedeutet, dass es notwendig ist, dass jede meiner Wahrnehmungen assoziabel ist. Die Negation von Satz (ii) folgt also tatsächlich aus Satz (vi'). Damit stellt sich nun die Frage, wie sich die entscheidende Prämisse des Affinitätsarguments – Satz (vi') – ausweisen lässt. Da Satz (vi') nichts anderes als die Notwendigkeit von Satz (vi) behauptet, ist ein Weg, auf dem diese Ausweisung gelingen könnte, durch die Argumentation für Satz (vi) in den Sätzen (iv) und (v) vorgezeichnet: Wenn die Sätze (iv) und (v) jeweils notwendig wären, dann wäre auch der durch sie begründete Satz (vi) notwendig 33; wir hätten also eine Begründung für Satz (vi'). Der skizzierte Weg, Satz (vi') zu begründen, ist jedoch nicht gangbar. Zwar mag Satz (iv) – dass jede meiner Wahrnehmungen, von der ich sagen kann, dass ich mir ihrer bewusst bin, zur ursprünglichen Apperzeption gehört – mit Notwendigkeit gelten 34; aber Satz (v) – dass ich von jeder meiner Wahrnehmungen sagen kann, dass ich mir ihrer bewusst bin – gilt Kant selbst zufolge nicht mit Notwendigkeit. Dies geht aus einem Brief an M. Herz hervor, in dem Kant betont: Würde ich von Vorstellungen, die ich habe, „nicht einmal wissen können, daß ich sie habe, [...] würden sie für mich, als erkennendes Wesen, schlechterdings nichts seyn, wobey sie (wenn ich mich in Gedanken zum Thier mache) als Vorstellungen, die nach einem empirischen Gesetze der Association verbunden wären und so auch auf Gefühl und Begehrungsvermögen Einflus haben würden, in mir, meines Daseins unbewußt, (gesetzt daß ich auch jeder einzelnen bewußt wäre, aber nicht der Beziehung derselben auf die Einheit der Vorstellungen ihres Obiects, vermittels der synthetischen Einheit der Apperception,) immer hin ihr Spiel regelmäßig treiben könn-
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Vgl. dazu oben Abschnitt 7.2.2, S. 232. Wenn sowohl Satz (iv) als auch Satz (v) notwendig sind, dann ist auch der sich aus ihrer Konjunktion ergebende Satz (vi) notwendig, und zwar aufgrund des modallogischen Theorems ɷp ɷq ɷ (p q). Man könnte etwa argumentieren, dass Satz (iv) analytisch wahr ist.
7.4 Das Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘
247
ten, ohne daß ich dadurch im mindesten etwas, auch nicht einmal diesen meinen Zustand, erkennete.“ 35
Vorstellungen, die ich habe, von denen ich aber nicht wissen und entsprechend auch nicht sagen kann, dass ich sie habe, sind demnach zwar epistemisch irrelevant, aber nicht auszuschließen. Kant weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei solchen Vorstellungen sogar um Vorstellungen, derer ich mir bewusst bin, d. h. insbesondere um Wahrnehmungen, handeln könnte, sofern ich mir dieser Vorstellungen immer nur einzeln (nie in Verbindung mit anderen Vorstellungen) bewusst bin. Es ist also zumindest möglich, dass ich bei einigen meiner Wahrnehmungen nicht sagen kann, dass ich sie habe und entsprechend auch nicht, dass ich mir ihrer bewusst bin. Das bedeutet aber, dass es nicht notwendig ist, dass ich bei jeder beliebigen meiner Wahrnehmungen sagen kann, dass ich mir ihrer bewusst bin. Es wäre Kant selbst zufolge also falsch, Satz (v) mit Notwendigkeit zu behaupten. Dass sich Satz (vi') auf dem skizzierten Weg nicht begründen lässt, bedeutet zwar nicht, dass es kein anderes Argument für diesen Satz geben kann; ich sehe jedoch nicht, dass Kant einen solches Argument vorbringen würde und mir ist auch kein solches Argument bekannt. – Soll das gesamte Affinitätsargument also verworfen werden? Nicht unbedingt. Denn vielleicht lässt sich eine zu Satz (vi') alternative Prämisse finden, die begründet ist und aufgrund der sich das Affinitätsargument führen lässt. Den entscheidenden Anhaltspunkt dafür gibt Kant selbst. Unmittelbar nachdem er den „objektiven Grund aller Assoziation der Erscheinungen [...] die Affinität derselben“ genannt hat, betont Kant: „Diesen können wir aber nirgends anders, als in dem Grundsatze von der Einheit der Apperzeption, in Ansehung aller Erkenntnisse, die mir angehören sollen, antreffen.“ (A 122). Zum Geltungsbereich des Grundsatzes von der Einheit der Apperzeption gehören demnach alle Erkenntnisse, die mir angehören. Ist man bereit, zu diesem Geltungsbereich nicht nur Erkenntnisse, sondern auch epistemisch relevante Vorstellungen zu zählen, so könnte man den Grundsatz in Bezug auf Wahrnehmungen so formulieren: (vi'')
Es ist notwendig, dass jede epistemisch relevante Wahrnehmung, die in meinem Gemüt anzutreffen ist, zu einem Bewusstsein meiner selbst gehört.
Satz (vi'') ist offenbar eine Abschwächung von Satz (vi'), weil er das, was dieser für jede meiner Wahrnehmungen behauptet, lediglich für jede meiner epistemisch relevanten Wahrnehmungen behauptet. Dass Kant selbst Satz (vi'') vertritt, geht eindeutig aus einer wichtigen Anmerkung der ‚Dedukti-
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Brief an M. Herz vom 26.05.1789, AA 11.52; ohne dortige Hvh.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
on von oben‘ hervor, wo zu lesen ist: „Es ist also schlechthin notwendig, daß in meinem Erkenntnisse alles Bewußtsein zu einem Bewußtsein (meiner selbst) gehöre.“ (A 117 Anm.) Dass in meinem Erkenntnisse alles Bewusstsein zu einem Bewusstsein meiner selbst gehört, ist m. E. so zu verstehen, dass jede meiner epistemisch relevanten Vorstellungen, der ich mir bewusst bin, zu einem Bewusstsein meiner selbst gehört. Da Wahrnehmungen aber Vorstellungen sind, derer ich mir bewusst bin, ergibt sich aus dem Zitat, dass es notwendig ist, dass jede meiner epistemisch relevanten Wahrnehmungen zu einem Bewusstsein meiner selbst gehört, d. h. Satz (vi''). Dass Kant diesen Satz nicht nur vertritt, sondern auch zu Recht vertritt, geht aus der obigen Rekonstruktion der ‚Deduktion von oben‘ hervor. Denn dort ist ohne Rekurs auf irgendwelche besonderen Erfahrungen gezeigt worden, dass alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen Einheit hinsichtlich der reinen Apperzeption besitzen. 36 In diesem Sinne ist es notwendig, dass alle meine epistemisch relevanten Vorstellungen zu einem Bewusstsein meiner selbst gehören. Das bedeutet aber, dass Satz (vi'') gilt. Das Affinitätsargument kann demnach statt von der zweifelhaften Prämisse (vi') von der ausgewiesenen Prämisse (vi'') ausgehen. Oben ist deutlich geworden, dass Satz (vi') – d. h. die Notwendigkeit, dass jede meiner Wahrnehmungen zu einem Bewusstsein meiner selbst gehört – impliziert, dass es notwendig ist, dass jede meiner Wahrnehmungen assoziabel ist (Negation von Satz (ii)). 37 Das Argument, in dem sich dies gezeigt hat, lässt sich ohne weiteres auch auf meine epistemisch relevanten Wahrnehmungen beziehen. Das heißt, aus Satz (vi''), der Notwendigkeit, dass jede meiner epistemisch relevanten Wahrnehmungen zu einem Bewusstsein meiner selbst gehört, folgt die Notwendigkeit, dass jede meiner epistemisch relevanten Wahrnehmungen assoziabel ist. Man kann das Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘ damit folgendermaßen zusammenfassen: Da es notwendig ist, dass jede meiner epistemisch relevanten Wahrnehmungen zu einem Bewusstsein meiner selbst gehört, ist es notwendig, dass jede dieser Wahrnehmungen assoziabel ist; und sofern dies notwendig ist, hat die Einheit der Assoziation einen objektiven Grund. Kant ist in diesem Sinne zu sagen berechtigt, dass wir den „objektiven Grund aller Assoziation der Erscheinungen“ bzw. „die Affinität derselben [...] in dem Grundsatze von der Einheit der Apperzeption, in Ansehung aller Erkenntnisse, die mir angehören sollen“, und das heißt: in Ansehung all meiner epistemisch relevanten Wahrnehmungen, „antreffen“ (A 122; ohne dortige Hvh.). – Dass Kant den
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Siehe oben Abschnitt 6.2, S. 196 f. Siehe S. 246.
7.5 Der Abschluss der ‚Deduktion von unten‘
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Grundsatz der Einheit der Apperzeption in der Konklusion seines Affinitätsarguments auf meine epistemisch relevanten Wahrnehmungen (auf alle „Erkenntnisse, die mir angehören“) beschränkt, legt die Vermutung nahe, dass sein Argument von vornherein auf die Affinität all dessen abzielt, was Gegenstand meiner epistemisch relevanten Wahrnehmungen ist. Unter dem Ausdruck ‚Affinität der Erscheinungen‘ wäre dann die Affinität aller Gegenstände meiner epistemisch relevanten Wahrnehmungen zu verstehen.
7.5 Der Abschluss der ‚Deduktion von unten‘ 7.5.1 Die Erzeugung der Affinität durch die Einbildungskraft Das Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘ hat gezeigt, dass wir die Affinität der Erscheinungen „in dem Grundsatze von der Einheit der Apperzeption“ hinsichtlich all meiner epistemisch relevanten Wahrnehmungen „antreffen“ (A 122). Dass die Affinität der Erscheinungen besteht, können wir demnach erkennen, weil wir wissen, dass die Einheit der Apperzeption besteht. Das bedeutet, der Grundsatz von der Einheit der Apperzeption ist der Erkenntnisgrund der Affinität der Erscheinungen. Damit lässt sich nun ein Erfolgskriterium für den noch ausstehenden Schritt der ‚Deduktion von unten‘ formulieren: Es ist mit Hilfe zusätzlicher Überlegungen nachzuweisen, dass wir die Affinität der Erscheinungen nur dann erkennen können, wenn wir die Erscheinungen unter Kategorien bringen. In den Überlegungen, die Kant im Anschluss an sein Affinitätsargument anstellt und die den Deduktionsbeweis ‚von unten‘ abschließen sollen, ist die Rolle der transzendentalen Einbildungskraft zentral. Die wichtigste These Kants in puncto Einbildungskraft ist hier, dass die „Affinität aller Erscheinungen [...] eine notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet ist“, sei (A 123). Kant erklärt, es sei „zwar befremdlich, allein aus dem Bisherigen doch einleuchtend, daß, nur vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft, sogar die Affinität der Erscheinungen [...] möglich werde“ (A 123). Die transzendentale Einbildungskraft wird in diesen beiden Stellen als ein Vermögen konzipiert, das die Affinität aller Erscheinungen erzeugt bzw. das als Seinsgrund der Affinität fungiert. 38 Dass sie ein solches Vermögen sein soll, darin stimme ich Kant zu, ist in der Tat „befremd-
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Kant scheint damit seine in A 114 vertretene Position zu revidieren, dass die Apperzeption der Seinsgrund der Affinität ist. Zu dieser Position siehe oben S. 241.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
lich“; allerdings vermag ich seine Einschätzung nicht zu teilen, dass diese These „aus dem Bisherigen doch einleuchtend“ sei (ebd.). Denn zuvor ging es in der ‚Deduktion von unten‘ im Wesentlichen nur um zwei Punkte: erstens um den Aufstieg vom Empirischen zur Assoziation und zweitens um den Ausweis der Affinität der Erscheinungen als objektiven Grund der Assoziation. 39 Für den ersten Punkt war die Einbildungskraft zwar von zentraler Bedeutung; allerdings lediglich als Vermögen, das bloß rezeptiv gegebene Mannigfaltige bzw. Reale als Erscheinung zu bestimmen, sowie als Vermögen, Erscheinungen und ihre Teile oder Aspekte nach Assoziationsregeln zu reproduzieren – nicht jedoch im Sinne eines Seinsgrundes der Affinität. Denn um Affinität ging es in diesem Kontext noch gar nicht. Und in den Überlegungen zum zweiten Punkt kam Kant zu dem Schluss, dass wir die Affinität in dem Grundsatz von der Einheit der Apperzeption „antreffen“, dass dieser Grundsatz also der Erkenntnisgrund der Affinität ist. Die Frage nach einem Seinsgrund der Affinität spielte in diesem Kontext keine Rolle. Und es gab erst Recht keinen Hinweis darauf, dass oder wie die transzendentale Einbildungskraft als ein solcher Seinsgrund fungieren könnte. Davon, dass die These von der transzendentalen Einbildungskraft als Seinsgrund der Affinität „aus dem Bisherigen doch einleuchtend“ sei (A 123), kann also keine Rede sein. Dass die These, die Affinität der Erscheinungen habe einen subjektiven Seinsgrund, in der ‚Deduktion von unten‘ nicht begründet wird, muss nicht bedeuten, dass sie falsch ist; allerdings ist ihre Triftigkeit unter Vorbehalt zu stellen. Von diesem Vorbehalt möchte ich jedoch vorläufig absehen, d. h. ich werde im Folgenden zunächst unterstellen, die These sei zutreffend, um nachvollziehen zu können, wie Kant die ‚Deduktion von unten‘ abschließt. Die Problematisierung der These erfolgt im Anschluss daran. 40 7.5.2 Die Kategorien als Prinzipien der Erzeugung Wie Kants Affinitätsargument gezeigt hat, fungiert die Einheit der Apperzeption als Erkenntnisgrund der Affinität der Erscheinungen. Und dieses Argument wird nun durch die These flankiert, dass die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft als Seinsgrund der Affinität fungiert. Die
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Zum ersten Punkt (A 119/121) siehe oben Abschnitt 7.2, S. 225 ff. und zum zweiten Punkt (A 121 f.) siehe Abschnitt 7.4, S. 242 ff. Siehe Abschnitt 7.6.
7.5 Der Abschluss der ‚Deduktion von unten‘
251
Frage ist nun, wie sich vor dem Hintergrund dieser Konstellation die Kategorien ins Spiel bringen lassen. Kant argumentiert folgendermaßen: „Diese [allbefassende reine (M. W.)] Apperzeption ist es nun, welche zu der reinen Einbildungskraft hinzukommen muß, um ihre Funktion intellektuell zu machen. Denn an sich selbst ist die Synthesis der Einbildungskraft, obgleich a priori ausgeübt, dennoch jederzeit sinnlich [...]. Durch das Verhältnis des Mannigfaltigen aber zur Einheit der Apperzeption werden Begriffe, welche dem Verstande angehören, aber nur vermittelst der Einbildungskraft in Beziehung auf die sinnliche Anschauung zu Stande kommen können.“ (A 124)
Die durch die transzendentale 41 Einbildungskraft erzeugte Affinität bleibt demnach ohne das „[H]inzukommen“ der reinen Apperzeption unbegriffen. Das ergibt sich schon daraus, dass die Einheit der Apperzeption der Erkenntnisgrund der Affinität ist. Die Funktion der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft ist Kant zufolge nicht schon dadurch „intellektuell“, dass sie die für die Affinität charakteristische Gleichartigkeit und Regelmäßigkeit der Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen herstellt, sondern erst aufgrund der Beziehung zwischen der Einheit der Apperzeption und dieser Synthesis. Für diese Beziehung sind Kant zufolge Begriffe maßgeblich, „die dem Verstande angehören, aber nur vermittelst der Einbildungskraft in Beziehung auf die sinnliche Anschauung“ realisiert werden können. Die Begründung dieser Behauptung ergibt sich aus Kants Definition des reinen Verstandes: „Die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand, und eben dieselbe Einheit, beziehungsweise auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, der reine Verstand.“ (A 119) Für die Beziehung zwischen der Einheit der Apperzeption und der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft sind dem Verstand angehörende Begriffe und näherhin reine Verstandesbegriffe maßgeblich, weil der reine Verstand diese Beziehung ist. Sofern der reine Verstand die Beziehung zwischen der Einheit der Apperzeption und der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft ist, kann Kant also in dem obigen Zitat behaupten, dass die Funktion der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft aufgrund dieser Beziehung, d. h. durch das „[H]inzukommen“ der Einheit der Apperzeption zur transzendentalen Einbildungskraft, „intellektuell“ ist (A 124). Eine intellektuelle Funktion der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft muss offenbar durch gewisse Begriffe charakterisierbar sein. Als diese Begriffe kommen hier jedoch nur die Kategorien in Frage. Denn sie sind
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Kant spricht in dem genannten Zitat von der reinen Einbildungskraft; m. E. müsste jedoch von der transzendentalen Einbildungskraft die Rede sein. Darauf, dass die reine Einbildungskraft nicht die zentrale Rolle im Deduktionsbeweis spielen kann, bin ich in Abschnitt 5.3.4, insbes. S. 154 f. eingegangen.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
diejenigen Begriffe, durch die der reine Verstand primär charakterisiert ist. 42 Oben ist darauf hingewiesen worden, dass Kant zufolge (a) die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft der Seinsgrund und (b) die Einheit der Apperzeption der Erkenntnisgrund der Affinität der Erscheinungen ist. Nimmt man nun hinzu, dass der reine Verstand die Beziehung der Einheit der Apperzeption auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft ist (A 119), also durch die Einheit der Apperzeption und die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft konstituiert ist, dann kann man sagen: (a) Die Affinität der Erscheinungen wird durch den reinen Verstand erzeugt, da die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft für den reinen Verstand konstitutiv ist. (b) Die Affinität der Erscheinungen wird durch den reinen Verstand erkannt, da die Einheit der Apperzeption für den reinen Verstand konstitutiv ist. Da die Kategorien die Begriffe des reinen Verstandes sind und jeder Gebrauch des reinen Verstandes mit der Anwendung der Kategorien einhergehen muss, lässt sich dann weiterhin sagen, dass die Kategorien (a) die Prinzipien der Erzeugung und (b) die Prinzipien der Erkenntnis der Affinität der Erscheinungen sein müssen. Kant lässt in der ‚Deduktion von unten‘ keinen Zweifel daran, dass er den Gesichtspunkt (a) der Erzeugung gegenüber dem Gesichtspunkt (b) der Erkenntnis der Affinität für den grundlegenden hält: „Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt.“ (A 125)
Würden wir die „Ordnung und Regelmäßigkeit [...] an den Erscheinungen“ und damit die Affinität der Erscheinungen vermöge des reinen Verstandes und näherhin der intellektuellen Funktion der transzendentalen Einbildungskraft nicht selbst in die Natur „hineinbringen“ und „hineinlegen“, so könnten wir sie „nicht darin finden“. Kurz gesagt: Wir können die Affinität der Erscheinungen nur dann erkennen, wenn wir sie erzeugen. Als die Prinzipien dieser Erzeugung müssen aber, wie gesagt, die Kategorien gelten. Und die Affinität der Erscheinungen nach diesen Prinzipien zu erzeugen, heißt zugleich, die Erscheinungen unter diese Prinzipien zu bringen. Damit wäre aber genau das nachgewiesen, was durch das oben formulierte Erfolgskriterium 43 für den letzten Schritt der ‚Deduktion von unten‘ gefordert wurde: dass wir die Affinität der Erscheinungen nur
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Vgl. die Bemerkung, die Kant unmittelbar im Anschluss an die „Tafel der Kategorien“ macht: „Dieses ist nun die Verzeichnung aller ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis, die der Verstand a priori in sich enthält, und um deren willen er auch nur ein reiner Verstand ist“ (A 80, B 106). Siehe oben S. 249.
7.6 Das Problem eines Seinsgrundes der Affinität
253
dann erkennen können, wenn wir die Erscheinungen unter Kategorien bringen.
7.6 Das Problem eines Seinsgrundes der Affinität Die Affinität der Erscheinungen, die selbst ein objektiver Grund der Möglichkeit der Assoziation ist, soll ihrerseits einen subjektiven Grund haben, der letztlich als Seinsgrund der Affinität verstanden und in der ‚Deduktion von unten‘ mit der transzendentalen Funktion der Einbildungskraft identifiziert wird. 44 Da Kant in der ‚Deduktion von unten‘ darüber hinaus die Auffassung vertritt, dass wir die „Ordnung und Regelmäßigkeit [...] an den Erscheinungen“ nicht erkennen können, wenn wir sie nicht erzeugen (A 125), kommt der These, dass wir selbst der Seinsgrund der Affinität der Erscheinungen sind, eine wesentliche Bedeutung für die Argumentation der ‚Deduktion von unten‘ zu. Diese These ist meiner Auffassung nach jedoch zugleich der zentrale Schwachpunkt der ‚Deduktion von unten‘. Sie zieht zwei inakzeptable Konsequenzen nach sich. Die erste Konsequenz besteht darin, dass unsere Erfahrung nicht realitätsbezogen sein kann, und die zweite darin, dass das Mannigfaltige der Erscheinung nicht a posteriori gegeben sein kann. Im Folgenden möchte ich diese beiden Konsequenzen transparent machen. In der ‚Deduktion von unten‘ findet sich, wie oben erläutert, keine Begründung für Kants These, dass die transzendentale Einbildungskraft als Seinsgrund der Affinität der Erscheinungen fungiert. 45 Daher ist es interessant, dass Kant bereits im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels erstens eine vergleichbare These vertritt und sich zweitens bemüht, das Befremdliche dieser These auszuräumen. In dem dortigen Unterabschnitt 4. Vorläufige Erklärung der Möglichkeit der Kategorien, als Erkenntnissen a priori – im Folgenden ‚Nr. 4‘ genannt – findet sich eine Diskussion der Affinitätsthematik (A 112/4). Diese Diskussion, die bereits oben untersucht wurde 46, weist einige Parallelen zur ‚Deduktion von unten‘ auf. In Nr. 4 ging es darum, die „Affinität des Mannigfaltigen“, d. h. den „Grund der Möglichkeit der Assoziation, sofern er im Objekte liegt“, „begreiflich“ zu machen (A 113). Im Zuge dessen versuchte Kant, die ursprüngliche Apperzeption als Erkenntnisgrund der Affinität auszuweisen (A 113 f.).
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Denn wie gesehen behauptet Kant dort, dass die „Affinität aller Erscheinungen [...] eine notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet ist“, sei, und dass „die Affinität der Erscheinungen“ „nur vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft [...] möglich werde“ (A 123). Siehe oben Abschnitt 7.5.1, S. 250. Siehe dazu den Abschnitt 7.3, S. 239 ff.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
Und anschließend transformierte er die Apperzeption von einem Erkenntnisgrund in einen Seinsgrund der Affinität (A 114). Ähnlich ging Kant in der ‚Deduktion von unten‘ vor: Zunächst versuchte er, die Apperzeption im Rahmen seines Affinitätsarguments (und zwar mit größerem Erfolg als in Nr. 4) als Erkenntnisgrund der Affinität auszuweisen 47; und im Anschluss daran verschob er den Akzent seiner Überlegungen von einem Erkenntnisgrund auf einen Seinsgrund der Affinität. Die Differenz zwischen der Nr. 4 und der ‚Deduktion von unten‘ besteht darin, dass dort die Apperzeption, hier aber die Einbildungskraft die Rolle des Seinsgrundes der Affinität übernehmen soll. Da Kant seine These von der Einbildungskraft als dem Seinsgrund der Affinität nicht begründet, ist man im Rahmen der Rekonstruktion dieser These trotz der genannten Differenz auf die Vermutung angewiesen, dass dasjenige, was in Nr. 4 die These eines subjektiven Seinsgrundes der Affinität stützen soll, dasselbe wie das ist, was diese These in der ‚Deduktion von unten‘ stützen soll. Es empfiehlt sich daher noch einmal auf die relevante Passage aus Nr. 4 zurückzukommen: „Also stehen alle Erscheinungen in einer durchgängigen Verknüpfung nach notwendigen Gesetzen, und mithin in einer transzendentalen Affinität, woraus die empirische die bloße Folge ist. [/] Daß die Natur sich nach unserem subjektiven Grunde der Apperzeption richten, ja gar davon in Ansehung ihrer Gesetzmäßigkeit abhangen solle, lautet wohl sehr widersinnisch und befremdlich. Bedenkt man aber, daß diese Natur an sich nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen, mithin kein Ding an sich, sondern bloß eine Menge von Vorstellungen des Gemüts sei, so wird man sich nicht wundern, sie bloß in dem Radikalvermögen aller unsrer Erkenntnis, nämlich der transzendentalen Apperzeption, in derjenigen Einheit zu sehen, um deren willen allein sie Objekt aller möglichen Erfahrung, d. i. Natur heißen kann; und daß wir auch eben darum diese Einheit a priori, mithin auch als notwendig erkennen können“ (A 114; ohne dortige Hvh.).
Dass die empirische „die bloße Folge“ der transzendentalen Affinität sein soll, bedeutet m. E., dass die assoziationsfundierende faktische Gleichartigkeit und Regelmäßigkeit der Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen eine Folge davon sein soll, dass das erkennende Subjekt den Erscheinungen und ihrem Mannigfaltigen gewisse Gesetze a priori aufprägt oder vorschreibt. 48 Die These, dass das erkennende Subjekt die Gesetzmäßigkeit der Natur bzw. der Erscheinungen a priori generiert, wird von Kant an mehreren Stellen vertreten und kann seine ‚Gesetzgebungsthese‘ genannt werden. 49 Sie tritt in dem vorliegenden Zitat in der Gestalt auf, dass
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Zu diesem Affinitätsargument siehe oben Abschnitt 7.4, S. 242 ff. Vgl. dazu oben Abschnitt 7.3, S. 242. Eine Übersicht der wichtigsten Stellen zur Gesetzgebungsthese findet sich oben S. 59 Anm. 38.
7.6 Das Problem eines Seinsgrundes der Affinität
255
sich die Natur nach der Apperzeption „richten“ und von dieser hinsichtlich ihrer Gesetzmäßigkeit „abhangen solle“ (ebd.). In diesem Zitat und an einer anderen Stelle hat Kant den Eindruck seiner Leser antizipiert, dass die Gesetzgebungsthese „wohl sehr widersinnisch und befremdlich“ (A 114) bzw. „übertrieben“ und „widersinnisch“ sei (A 127). Ich habe bereits in der Auseinandersetzung mit dem Konstitutionstheorie-Einwand darauf hingewiesen, dass Kant diesen Eindruck durch eine subjektivistische Konzeption von Natur und Erscheinung zu zerstreuen versucht. 50 Das heißt, er beruft sich darauf, dass die Natur letztlich „bloß eine Menge von Vorstellungen des Gemüts“ ist (A 114) und dass Erscheinungen, „als solche, nicht außer uns stattfinden“ können, sondern „nur in unserer Sinnlichkeit“ „existieren“ (A 127). Existieren Erscheinungen jedoch nur in unserer Sinnlichkeit und sind sie, wie Kant andernorts erklärt, „ein bloße Modifikation unserer Sinnlichkeit“ (A 129) bzw. „inhärieren“ lediglich dem Subjekt (B 164), so kann weder ihnen noch der in ihnen enthaltenen Materie ein extramental realer Status zukommen. Kant selbst macht die Gültigkeit seiner These, wir selbst seien der Seinsgrund der Affinität der Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen, also davon abhängig, dass Erscheinungen und ihr Mannigfaltiges lediglich im Subjekt existierende Modifikationen des Gemüts sind. Sein Eintreten für diese These hat damit einen hohen Preis: Unser kognitiver Bezug auf Erscheinungen und ihr Mannigfaltiges ist kein Bezug mehr auf etwas extramental Reales, sondern auf etwas, das lediglich in uns selbst ist. 51 Mit anderen Worten: Unsere empirische Erkenntnis kann nicht realitätsbezogen sein. Zusätzlich zu diesem ersten Problem ist Kants These, dass die Affinität der Erscheinungen einen subjektiven Seinsgrund hat, mit einem zweiten Problem konfrontiert. Dieses Problem besteht darin: Wenn die Affinität der Erscheinungen durch das erkennende Subjekt a priori erzeugt werden soll, dann kann das Mannigfaltige der Erscheinungen nicht a posteriori gegeben sein. 52 Die Affinität der Erscheinungen und die ihres Mannigfaltigen gehören zusammen. Entsprechend spricht Kant nicht nur von der Affinität der Erscheinungen, sondern auch von der ihres Mannigfaltigen (A 113). Das liegt daran, dass es ihm bei der Affinität nicht um den formalen Aspekt
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Siehe oben Abschnitt 3.3, S. 60. Kants Umschwenken von einem subjektiven Erkenntnisgrund auf einen subjektiven Seinsgrund der Affinität betrifft also nicht nur die Art des subjektiven Grundes der Affinität, sondern das Konzept der Affinität selbst. Aus einer im Objekt liegenden Affinität (A 113) wird eine Affinität subjektiver Gemütsmodifikationen. Vgl. dazu Westphal 1997, 173/5.
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7 Die ‚Deduktion von unten‘
der Erscheinungen, sondern um ihren inhaltlichen bzw. materialen Aspekt geht. Die Affinität der Erscheinungen betrifft die Homogenität der Erscheinungen, „ich will nicht sagen der Form (denn darin mögen sie einander ähnlich sein), sondern dem Inhalte, d. i. der Mannigfaltigkeit existierender Wesen nach“ (A 653, B 681). Wenn Affinität der Erscheinungen besteht, müssen daher nicht nur die Erscheinungen, sondern muss auch das in ihnen enthaltene Mannigfaltige eine inhaltliche oder materiale Beschaffenheit besitzen, durch die die Assoziabilität der entsprechenden Wahrnehmungen gewährleistet ist. Soll nun gelten, dass wir die Affinität der Erscheinungen auf apriorische Weise erzeugen, dann muss also auch gelten, dass wir diese inhaltliche oder materiale Beschaffenheit ihres Mannigfaltigen auf apriorische Weise mit erzeugen. In diesem Fall – und dies ist nun der entscheidende Punkt – muss das Mannigfaltige der Erscheinungen jedoch zumindest teilweise von uns a priori gemacht werden, kann also nicht a posteriori gegeben sein. Dass es aber a posteriori gegeben ist, ist ein zentraler Ausgangspunkt von Kants Erkenntnistheorie 53 – ein Ausgangspunkt, der diese Theorie von einem Idealismus Berkeleyscher Prägung unterscheiden soll. In der Konsequenz von Kants These eines subjektiven Seinsgrundes der Affinität liegt also, dass unsere empirische Erkenntnis nicht realitätsbezogen sein kann und dass das Mannigfaltige der Erscheinung nicht a posteriori gegeben sein kann. Weder das eine noch das andere ist jedoch für Kant (und auch in der Sache nicht) akzeptabel. Da jedoch die These eines subjektiven Seinsgrundes der Affinität für die Argumentation der ‚Deduktion von unten‘ von wesentlicher Bedeutung ist, kommt dies dem Scheitern dieser Argumentation gleich. Das Problem eines subjektiven Seinsgrundes der Affinität ist jedoch nicht der einzige Schwachpunkt der ‚Deduktion von unten‘. In der Rekonstruktion der Argumentation der ‚Deduktion von unten‘ musste auf die Definition des reinen Verstandes zurückgegriffen werden 54, die Kant gegen Ende der ‚Deduktion von oben‘ formuliert hat (A 119). Mit dieser Definition sind jedoch gravierende systematische Probleme verbunden, auf die ich bereits ausführlich im vorigen Kapitel eingegangen bin. 55 Da die ‚Deduktion von unten‘ implizit von dieser Definition abhängig ist, ist sie also auch von den Problemen dieser Definition betroffen. Vermutlich ist die ‚Deduktion von unten‘ auch von einer Variante desjenigen Problems betroffen, das ich im Kapitel zur ‚Deduktion von oben‘
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Siehe etwa B 1; A 20, B 34; A 86, B 118; A 720, B 748 u. A 723, B 751. Siehe oben Abschnitt 7.5.2, S. 251. Siehe dazu Abschnitt 6.6.1, S. 215 ff.
7.6 Das Problem eines Seinsgrundes der Affinität
257
das ‚Problem der unverknüpfbaren Vorstellungsinseln‘ genannt habe. 56 Ich sehe jedenfalls nicht, wie Kants Affinitätsargument der ‚Deduktion von unten‘ die Möglichkeit der Existenz inkommensurabler Inseln der Affinität von Erscheinungen ausschließen kann. In seinem Affinitätsargument hatte Kant die These, dass die Einheit der Assoziation in der Affinität aller Erscheinungen begründet ist bzw. einen objektiven Grund besitzt, damit begründet, dass es notwendig ist, dass jede meiner (epistemisch relevanten) Wahrnehmungen assoziabel ist. Die notwendige Assoziabilität jeder dieser Wahrnehmungen bedeutet jedoch nur, dass es notwendig ist, dass ich hinsichtlich jeder dieser Wahrnehmungen eine Assoziationsklasse bilden kann, in die sie fällt, nicht aber, dass es notwendig ist, dass jede dieser Wahrnehmungen mit jeder anderen dieser Wahrnehmungen auf irgendeinem Weg (und sei er noch so indirekt) assoziativ verknüpfbar ist.
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Siehe oben Abschnitt 6.6.2, S. 222.
8 Die Theorie der Einbildungskraft in der ADeduktion 8.1 Die Analyse der drei Synthesen Dieses abschließende Kapitel soll die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zusammenfassen und einen kurzen Ausblick geben. Den Kern von Kants Theorie der Einbildungskraft in der Deduktionsuntersuchung der ersten Auflage der KrV bilden die drei Synthesen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition. Sie sind von entscheidender Bedeutung für die Deduktionsuntersuchung selbst. Denn einerseits soll von ihnen her all das in den Blick geraten, was für die Deduktionsuntersuchung überhaupt von Belang ist, und andererseits sollen sie eine tragende Rolle im Deduktionsbeweis spielen. Ersteres ist die methodische Funktion, die Kant der Einbildungskraft mit der ‚Leitungsthese‘ zu Beginn der Deduktionsuntersuchung zuschreibt: Die drei Synthesen „geben nun eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand und, durch diesen, alle Erfahrung [...] möglich machen.“ (A 97 f.) Und letzteres ist ihre systematische Funktion. Diese Funktion soll der Einbildungskraft deshalb zukommen, weil sie eine derjenigen subjektiven Erkenntnisquellen ist, „welche die Grundlage a priori zu der Möglichkeit der Erfahrung ausmachen“ (A 97), und daher von tragender Bedeutung für den Nachweis sein muss, dass die Kategorien als apriorische Gründe der Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis fungieren. Mit Blick auf die Einbildungskraft lässt sich das Beweisziel der Deduktionsuntersuchung so charakterisieren, dass die Kategorien als Einheitsbegriffe der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft ausgewiesen werden sollen. Kant versucht das Beweisziel der Deduktion von schwachen Prämissen aus zu erreichen. Dass objektive empirische Erkenntnis möglich ist, ist keine von ihnen. Denn die Möglichkeit solcher Erkenntnis soll allererst durch die Deduktion begründet werden. Da insbesondere die drei Synthesen eine Begründungsfunktion im Deduktionsbeweis übernehmen sollen, dürfen sie nicht schon vor dem Hintergrund der Annahme, dass objektive empirische Erkenntnis möglich ist, ausgewiesen werden. Die argumentative Grundlage, von der her sie gerechtfertigt werden, darf nicht breiter als die Prämissenbasis des Deduktionsbeweises sein. Da die Deduktionsuntersuchung mit der Analyse der drei Synthesen beginnt, muss diese argu-
8.1 Die Analyse der drei Synthesen
259
mentative Grundlage in denjenigen Prämissen des Deduktionsbeweises zu finden sein, die schon zu Beginn der Deduktionsuntersuchung im Spiel sind. Diese Prämissen, die ich die ‚Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung‘ nenne, bestehen erstens in der Möglichkeit von empirischer Erkenntnis im weiten Sinn und zweitens in dem Nacheinander all unseres bewussten Vorstellens. 1 Unter ‚empirischer Erkenntnis im weiten Sinn‘ ist dabei die empirische Vorstellung eines Ganzen verglichener und verknüpfter realer Vorstellungsgehalte bzw. das empirische Bewusstsein eines solchen Ganzen zu verstehen. Das für Kants Theorie der Einbildungskraft zentrale Konzept ist das der transzendentalen Synthesisfähigkeit. Die Rede von einer transzendentalen Synthesisfähigkeit weist nicht darauf hin, dass es neben den Synthesisfähigkeiten der Apprehension, Reproduktion und Rekognition noch eine weitere gibt, sondern markiert den ausgezeichneten Status, der gewissen Synthesisfähigkeiten zukommt. Transzendental sind diejenigen Synthesisfähigkeiten, deren Besitz eine notwendige Bedingung der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung ist. Und Kants These ist, dass Apprehension, Reproduktion und Rekognition solche transzendentalen Synthesisfähigkeiten sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun die Rekonstruktion von Kants Analyse der drei Synthesen noch einmal thetisch resümieren. Wenn wir empirische Erkenntnis im weiten Sinn haben können, dann müssen wir die Fähigkeit besitzen, ein lediglich durch die Rezeptivität unseres Gemüts gegebenes Mannigfaltiges so einem Gegenstand zuzuordnen, dass es als eine Verschiedenheit von Teilen oder Aspekten dieses Gegenstandes vorgestellt wird. Da uns Verschiedenes nur nacheinander bewusst sein kann, müssen wir, wenn wir diese Fähigkeit besitzen, auch die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension besitzen. Diese Fähigkeit hat einen durchlaufenden und einen zusammennehmenden Aspekt: Sie ist die Fähigkeit, im Durchlaufen eines uns lediglich rezeptiv gegebenen Mannigfaltigen verschiedene Elemente in diesem Mannigfaltigen auszumachen und zu unterscheiden und diese Elemente in die Vorstellung eines Gegenstandes zusammenzunehmen, in der durch die verschiedenen Vorstellungen dieser Elemente verschiedene Teile oder Aspekte dieses Gegenstandes vorgestellt werden. Zusammennehmendes Apprehendieren wäre jedoch nicht möglich, wenn die im durchlaufenden Apprehendieren sukzessiv ausgemachten Elemente in den folgenden Vorstellungszuständen nicht durch reproduktive Vorstellungen präsent gehalten werden könnten.
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Die Einheit der Apperzeption fungiert als eine dritte Prämisse des Deduktionsbeweises. Sie ist allerdings kein Ausgangspunkt der Deduktionsuntersuchung. Denn die reine Apperzeption ist eine der subjektiven Erkenntnisquellen, die der Leitungsthese zufolge erst durch die Analyse der drei Synthesen in den Blick kommt.
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8 Die Theorie der Einbildungskraft in der A-Deduktion
Wenn wir die Fähigkeit der Synthesis der Apprehension besitzen, müssen wir daher auch über die Fähigkeit der präsenthaltenden Synthesis der Reproduktion verfügen. Über die bisher genannten Synthesisfähigkeiten der durchlaufenden und zusammennehmenden Apprehension sowie der präsenthaltenden Reproduktion hinaus nimmt Kant mit der Synthesis der Rekognition eine weitere Synthesisfähigkeit an. Es zeigte sich, dass sich bei Kant zwei Aspekte dieser Synthesisfähigkeit unterscheiden lassen: der des Gliederns und der des Bewahrens. Die gliedernde Synthesis der Rekognition ist die Fähigkeit, ein Bewusstsein von einem Ganzen als aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt bzw. von diesen Elementen als Teilen desselben Ganzen zu gewinnen. 2 Und die bewahrende Synthesis der Rekognition ist die Fähigkeit, ein Bewusstsein davon zu gewinnen, dass Elemente, die uns durch reproduktive Vorstellungen bewusst sind, mit denjenigen Elementen numerisch identisch sind, die uns zuvor durch apprehendierte Vorstellungen bewusst waren. Für den Besitz der Fähigkeiten der gliedernden und bewahrenden Rekognitionssynthesis erwies sich der Besitz der Fähigkeit der Synthesis der Apprehension cum präsenthaltenden Reproduktion als zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Gleichwohl ließ sich die Annahme, dass wir diese Rekognitionsfähigkeiten besitzen, vor dem Hintergrund der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung rechtfertigen – und zwar im Rekurs auf etwas, das zu Kants Begriff der Erkenntnis im weiten Sinn gehört, aber in der Begründung der Fähigkeit der Apprehension cum präsenthaltenden Reproduktion nicht in Anspruch genommen wurde: das Vergleichen. Empirische Erkenntnis im weiten Sinn besteht in dem Bewusstsein eines Ganzen verglichener und verknüpfter realer Vorstellungsgehalte. Wenn wir solche Erkenntnis haben können, dann können wir reale Vorstellungsgehalte bzw. die im Durchlaufen des Mannigfaltigen ausgemachten Elemente, die zusammen ein Ganzes bilden, miteinander vergleichen. Das bedeutet, dass wir wissen können, in welcher Beziehung diese
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Was ist der Unterschied zwischen der Apprehensionssynthesis und der gliedernden Rekognitionssynthesis? Erstere bestimmt Mannigfaltiges als Elemente und letztlich als ein Ganzes solcher Elemente, letztere bestimmt ein Ganzes als aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt bzw. diese Elemente als Teile des Ganzen. Beide Leistungen des Bestimmens führen zur Vorstellung eines Ganzen, aber diese Vorstellungen sind unterschiedlicher Art. In der Terminologie rationalistischer Metaphysik lässt sich dieser Unterschied folgendermaßen beschreiben: Die von der Ausübung der Apprehensionssynthesis erzeugte Vorstellung eines Ganzen ist eine lediglich klare Vorstellung; d. h. mit ihr ist ein lediglich dunkles Bewusstsein der Teile des Ganzen verbunden. Dagegen ist die von der Ausübung der gliedernden Rekognitionssynthesis erzeugte Vorstellung eines Ganzen eine deutliche Vorstellung; d. h. mit ihr ist auch ein klares Bewusstsein der Teile des Ganzen verbunden.
8.1 Die Analyse der drei Synthesen
261
sukzessiv apprehendierten Elemente in dem von ihnen gebildeten Ganzen zueinander stehen. Und dies setzt voraus, dass wir sie als Teile des von ihnen gebildeten Ganzen und das Ganze als aus diesen Elementen zusammengesetzt vorstellen können. Wenn wir aber sukzessiv apprehendierte Elemente als Teile desselben Ganzen und dieses Ganze als aus diesen Elementen zusammengesetzt vorstellen können, dann müssen wir sowohl die Fähigkeit der gliedernden als auch der bewahrenden Rekognitionssynthesis besitzen. Die Fähigkeiten der bewahrenden und gliedernden Rekognitionssynthesis stellen insofern ausgezeichnete Eckpunkte von Kants Theorie der Einbildungskraft dar, als Kant auf ihrer Grundlage Überlegungen entwickelt, die zu verschiedenen Ansätzen eines Deduktionsarguments führen. Auf diese Ansätze werde ich im folgenden Abschnitt eingehen. Zuvor möchte ich noch auf einen dritten derartigen Eckpunkt in Kants Theorie der Einbildungskraft aufmerksam machen, der mit der Synthesis der Reproduktion zusammenhängt. Bisher ist nur auf einen Aspekt der Synthesis der Reproduktion hingewiesen worden, den des Präsent-haltens. Von dieser präsenthaltenden lässt sich bei Kant eine wiedervorführende Synthesis der Reproduktion unterscheiden. Sie ist die Fähigkeit, etwas, das wir aufgrund der Ausübung der Synthesisfähigkeit der Apprehension cum präsenthaltenden Reproduktion in früheren Wahrnehmungssituationen vorgestellt haben, wieder zu vergegenwärtigen. Auch diese Synthesisfähigkeit ließ sich auf der Basis der beiden Ausgangspunkte der Deduktionsuntersuchung ausweisen. Kant zufolge gibt es subjektive und empirische Gründe des wiedervorführenden Reproduzierens, und zwar Assoziationsregeln (A 121). Von ihnen hängt ab, welche Erscheinungen oder welche Teile bzw. Aspekte einer Erscheinung bei welchen Gelegenheiten reproduziert werden. Dass solche Assoziationsregeln bestehen, wird von Kant zwar als eine empirische Setzung eingeführt (vgl. A 100), lässt sich aber auch anhand des Ausgangspunktes der Deduktionsuntersuchung begründen, dass empirische Erkenntnis im weiten Sinn möglich ist: Denn wenn wir solche Erkenntnis haben können, dann können wir insbesondere Wahrnehmungsurteile fällen; eine notwendige Bedingung dafür ist jedoch, dass Assoziationsregeln bestehen. 3 Das Bestehen von Assoziationsregeln, die als subjektive und empirische Prinzipien der wiedervorführenden Reproduktion fungieren, ist der dritte Eckpunkt von Kants Theorie der Einbildungskraft, im Ausgang von dem der Ansatz zu einem Deduktionsargument entwickelt wird.
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Siehe die nähere Begründung dazu in Abschnitt 7.2.2, S. 227 ff.
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8 Die Theorie der Einbildungskraft in der A-Deduktion
8.2 Die Ansätze zu einem Deduktionsargument Für die Argumentation des zweiten Abschnitts des Deduktionskapitels ist charakteristisch, dass Kant nicht nur seine soeben noch einmal skizzierte Theorie der Einbildungskraft entfaltet, sondern dass er im Anschluss an einige Eckpunkte dieser Theorie Überlegungen entwickelt, die zu verschiedenen Ansätzen zu einem Deduktionsargument führen. Bei diesen Eckpunkten handelt es sich, wie bereits erwähnt, erstens um die bewahrende Rekognition, zweitens um die gliedernde Rekognition und drittens um Assoziationsregeln. Die genannten Ansätze haben alle einen eher skizzenhaften Charakter. Sie sind bereits an verschiedenen Stellen dieser Arbeit dargelegt worden. Ich möchte die zentralen Punkte dieser Ansätze noch einmal unter den Stichworten ‚Assoziationsregeln‘, ‚gliedernde Rekognition‘ und ‚bewahrende Rekognition‘ in einer Übersicht zusammenfassen. Assoziationsregeln. Die durch wiedervorführende Reproduktion herbeigeführten Übergänge zwischen verschiedenen Vorstellungen von Erscheinungen sowie von deren Teilen und Aspekten richten sich nach Assoziationsregeln. Das Bestehen von Assoziationsregeln, so Kant, „setzt aber voraus: daß die Erscheinungen selbst wirklich einer solchen Regel unterworfen“ sind (A 100). Nur wenn zwischen den „Erscheinungen schon von selbst“ (A 101) eine faktische Gleichartigkeit und Regelmäßigkeit besteht, können sich Assoziationsregeln für ihre Vorstellungen herausbilden. An einer späteren Stelle bezeichnet Kant die faktische Gleichartigkeit und Regelmäßigkeit der Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen als deren bzw. dessen ‚Affinität‘ (A 113). Kant entwickelt im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels zwei Ansätze zu einer apriorischen Begründung der Affinität. 4 Für den ersten Ansatz ist die These charakteristisch, dass die wiedervorführende Synthesis der Reproduktion nicht nur empirische Prinzipien in Gestalt von Assoziationsregeln, sondern apriorische Prinzipien besitzt. Kant will zeigen, dass ein „Grund a priori einer notwendigen synthetischen Einheit“ der Erscheinungen besteht, der die wiedervorführende „Reproduktion der Erscheinungen möglich macht“ (A 101), bzw. dass „diese Synthesis der Einbildungskraft auch vor aller Erfahrung auf Prinzipien a priori [und letztlich wohl auf die Kategorien; M. W.] gegründet“ ist (ebd.) Sollte sich dies zeigen lassen, dann könnte nicht nur im Ausgang von Assoziationsregeln für eine faktische Gleichartigkeit und Regelmäßigkeit der Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen argumentiert werden, sondern im Ausgang von diesen apriorischen Prinzipien sogar dafür, dass
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Zu diesen Ansätzen vgl. oben Abschnitt 7.3, S. 234 ff.
8.2 Die Ansätze zu einem Deduktionsargument
263
diese Gleichartigkeit und Regelmäßigkeit kategorialer Natur ist. Gemessen an diesem Ziel ist die Skizze eines Arguments, die Kant in A 101 entwirft, jedoch unbefriedigend. Denn bei denjenigen apriorischen Prinzipien, von denen das Argument im günstigsten Fall zeigen kann, dass die wiedervorführende Reproduktionssynthesis auf sie gegründet ist, handelt es sich lediglich um die apriorischen Gesetze des Raums und der Zeit, also um apriorische Prinzipien aus reinen Anschauungen. Das reicht in Hinblick auf ein mögliches Deduktionsargument jedoch nicht aus. Der zweite Ansatz zu einer apriorischen Begründung der Affinität steht im Kontext derjenigen Überlegungen des zweiten Abschnitts des Deduktionskapitels, die den Begriff der Affinität explizit in die Deduktionsuntersuchung einführen. Kants These lautet dort, dass „alle Erscheinungen in einer durchgängigen Verknüpfung nach notwendigen Gesetzen, und mithin in einer transzendentalen Affinität“, stehen (A 113 f.; ohne dortige Hvh.). Das Argument, das Kant für diese These anführt, hängt von der starken Prämisse ab, dass die apriorische Gewissheit der numerischen Identität des Selbstbewusstseins ein apriorisches Wissen um Gesetze impliziert, nach denen das Mannigfaltige der Erscheinung apprehendiert werden muss. Diese Prämisse wird jedoch in dem Argument selbst nicht ausgewiesen. Es ist zu vermuten, dass Kant sich aufgrund einer in A 108 vorgetragenen Argumentskizze berechtigt sieht, von ihr auszugehen. Diese Argumentskizze, auf die ich weiter unten unter dem Stichwort ‚Bewahrende Rekognition‘ zurückkommen werde, ist jedoch unzureichend. Gliedernde Rekognition. 5 In der Entfaltung der Theorie der Einbildungskraft hat sich gezeigt, dass wir die Fähigkeit der dreifachen Synthesis – mit den Komponenten der Apprehension, präsenthaltenden Reproduktion und gliedernden Rekognition – besitzen. Durch Ausübung dieser Fähigkeit gewinnen wir Bewusstsein von einem Ganzen als aus Elementen (Teilen) zusammengesetzt bzw. von diesen Elementen als Teilen dieses Ganzen. Jedes solche Bewusstsein, so hat sich gezeigt, ist ein begriffliches bzw. ein durch Begriffe bestimmtes Bewusstsein. Das bedeutet, durch Ausübung der genannten Fähigkeit der dreifachen Synthesis wird ein begriffliches Bewusstsein von einem Ganzen als aus Elementen (Teilen) zusammengesetzt bzw. von diesen Elementen als Teilen dieses Ganzen erzeugt. Das ist aber nur dann möglich, wenn die Ausübung dieser Fähigkeit nach einer Regel vorstellbar ist. Bei dieser Regel handelt es sich in einigen Fällen um eine Regel der Apprehensionskomponente, muss es sich aber in jedem Fall um eine Regel der Reproduktionskomponente der dreifachen Synthesis handeln. Kant versucht nun zu zeigen,
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Vgl. zum Folgenden die obigen Abschnitte 5.4.2 - 5.4.3, S. 163-175.
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8 Die Theorie der Einbildungskraft in der A-Deduktion
(NR)
dass die Regel, nach der eine dreifache Synthesis vorstellbar ist, einer Metaregel untersteht oder eine Komponente besitzt, aufgrund der sie nicht bloß eine Regel der Reproduktion, sondern eine Regel der notwendigen Reproduktion ist (vgl. A 105).
Denn ließe sich im Anschluss daran zeigen, dass diese Metaregel oder Komponente als kategoriale gelten muss, so wäre nachgewiesen, dass sich jede dreifache Synthesis nach kategorial fundierten Regeln vorstellen lässt. Bei Kant lassen sich zwei Ansätze zu einer Begründung für (NR) ausmachen. Die im ersten Ansatz von Kant – im Rekurs auf seine Objektanalyse (A 104 f.) – verfolgte Argumentation ist von der Prämisse abhängig, dass objektive empirische Erkenntnis möglich ist. Diese Prämisse ist jedoch für die Zwecke eines Deduktionsbeweises zu stark. Der zweite – vor dem Hintergrund der Beispiele der Begriffe des Dreiecks und des Körpers (A 105 f.) – argumentierende Ansatz lässt sich wohl zu einer akzeptablen Begründung von (NR) ausbauen. Aber diese Begründung bleibt hinter den mit ihr verknüpften weitergehenden Hoffnungen auf ein erfolgreiches Deduktionsargument zurück, weil sie keinen Anknüpfungspunkt für ein solches Argument bietet. Sie mag zwar zeigen, dass alle Regeln, nach denen dreifache Synthesen vorstellbar sind, jeweils irgendeine Komponente besitzen mögen, aufgrund der sie Regeln der notwendigen Reproduktion sind; aber sie kann nicht zeigen, dass alle Regeln, nach denen dreifache Synthesen vorstellbar sind, eine ihnen allen gemeinsame Komponente dieser Art besitzen. Genau dies wäre aber erforderlich, wenn in einem weiteren Schritt die Kategorien ins Spiel gebracht werden sollen. Bewahrende Rekognition. 6 Die bewahrende Synthesis der Rekognition stellt einen weiteren Eckpunkt der Theorie der Einbildungskraft dar, im Anschluss an den Kant Überlegungen entwickelt, die zu der Skizze eines Deduktionsarguments führen. Diese Überlegungen betreffen erstens die Einführung der reinen Apperzeption vor dem Hintergrund der bewahrenden Rekognition und bestehen dann zweitens in einer Argumentskizze für die Gesetzmäßigkeit unserer Vorstellungen im Rekurs auf die reine Apperzeption. Wenn wir die Fähigkeit der Synthesis der bewahrenden Rekognition besitzen – d. h. Bewusstsein davon gewinnen können, dass die Gehalte, die uns durch reproduktive Vorstellungen bewusst sind, numerisch identisch mit denjenigen sind, die wir zuvor apprehendiert haben –, dann muss auch numerische Identität unserer selbst hinsichtlich dieser Vorstellungen bestehen. Das bedeutet, aufgrund der Annahme der bewahrenden Rekognition lässt sich die Annahme der numerischen Identität unserer selbst in
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Zum Folgenden vgl. die obigen Abschnitte 5.4.4 u. 5.5, S. 175-186.
8.3 Das definitive Deduktionsargument und sein Scheitern
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unseren reproduktiven Vorstellungen und den entsprechenden zuvor apprehendierten Vorstellungen begründen. Die für die Deduktionsuntersuchung charakteristische und für Kants Konzeption der reinen Apperzeption grundlegende Identitätsannahme ist jedoch weitergehend: Sie betrifft nicht nur die numerische Identität unserer selbst in diesen Vorstellungen, sondern in all unseren epistemisch relevanten Vorstellungen. Diese weitergehende Identitätsannahme lässt sich nicht durch die bewahrende Rekognition rechtfertigen, sondern muss als eine zusätzliche Prämisse der Deduktionsuntersuchung gelten. Gleichwohl führt die Analyse der drei Synthesen und insbesondere der bewahrenden Rekognition die Deduktionsuntersuchung auf die reine Apperzeption hin, indem sie die numerische Identität unserer selbst zumindest hinsichtlich einiger unserer Vorstellungen rechtfertigt. Im Rekurs auf die reine Apperzeption entwickelt Kant noch im zweiten Abschnitt des Deduktionskapitels die Skizze einer apriorischen Begründung dafür, dass all unsere epistemisch relevanten Vorstellungen in einem gesetzmäßigen Zusammenhang stehen (vgl. A 108). Der entscheidende Punkt dieser Beweisskizze ist, dass sich all unsere Vorstellungen, auf die sich die Handlungen der dreifachen Synthesis beziehen können, im Wesentlichen deshalb in einen a priori geregelten Zusammenhang integrieren lassen, weil es a priori möglich ist, sich der numerischen Identität seiner selbst hinsichtlich all dieser Vorstellungen bewusst zu werden. In der Rekonstruktion der Beweisskizze ist jedoch deutlich geworden, dass Kants Argumentation allenfalls zeigen kann, dass es notwendig ist, dass jede einzelne dreifache Synthesishandlung auf irgendeiner Einheit, auf irgendwelchen Regeln beruht, nicht aber, dass alle dreifachen Synthesishandlungen auf einer notwendigen Einheit (Regeln a priori) beruhen. Entsprechend kann die Argumentation nur zeigen, dass all unsere Vorstellungen, auf die sich die Handlungen der dreifachen Synthesis beziehen können, in irgendwelche regelmäßige Zusammenhänge integrierbar sein müssen, nicht aber, dass sich all diese Vorstellungen in einen a priori geregelten Zusammenhang integrieren lassen. Dies wäre jedoch in Hinblick auf ein erfolgreiches Deduktionsargument erforderlich.
8.3 Das definitive Deduktionsargument und sein Scheitern Im dritten Abschnitt des Deduktionskapitels legt Kant zwei Versionen seines definitiven Deduktionsarguments vor: die ‚Deduktion von oben‘ und die ‚Deduktion von unten‘. Beide lassen sich als systematische Ausführungen von Ansätzen verstehen, die Kant bereits im zweiten Abschnitt im Anschluss an einige Eckpunkte seiner Theorie der Einbildungskraft
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8 Die Theorie der Einbildungskraft in der A-Deduktion
formuliert hat. Die ‚Deduktion von unten‘ knüpft an Motive an, die im vorigen Abschnitt unter dem Stichwort ‚Assoziationsregeln‘ diskutiert wurden, d. h. in ihr spielt die Thematik der Affinität der Erscheinungen und ihres Mannigfaltigen eine entscheidende Rolle. Die ‚Deduktion von unten‘ muss als die schwächere der beiden Versionen von Kants definitivem Deduktionsargument gelten. Ihr zentraler Schwachpunkt besteht darin, dass sie von der These abhängig ist, dass wir selbst vermöge unserer transzendentalen Einbildungskraft der Seinsgrund der Affinität sind. Mit dieser These rückt Kant nicht nur von dem Modell der bestimmenden Einbildungskraft ab, an dem er sich im Rahmen seiner Analyse der drei Synthesen durchgehend orientiert; sie zieht auch die für Kant sowie in der Sache inakzeptablen Konsequenzen nach sich, dass unsere Erfahrung nicht realitätsbezogen sein kann und dass das Mannigfaltige der Erscheinung nicht a posteriori gegeben sein kann. 7 Vor allem aus diesem Grund muss die ‚Deduktion von unten‘ als gescheitert gelten. Das stärkste Deduktionsargument, das Kant in der ersten Auflage der KrV entwickelt, ist die ‚Deduktion von oben‘. Sie kann als systematische Ausführung der Beweisskizze gelten, die Kant in A 108 formuliert hat. Die entscheidenden Schritte der ‚Deduktion von oben‘ sind die folgenden: All unsere epistemisch relevanten Vorstellungen stehen hinsichtlich der reinen Apperzeption in einer Einheit. Diese Einheit ist synthetisch. Das schließt ein, dass wir über die Synthesisfähigkeit verfügen, Verknüpfungen, die dem Begriff der synthetischen Einheit der Apperzeption zufolge möglich sind, zu realisieren. Bei dieser Synthesisfähigkeit handelt es sich um die transzendentale Synthesisfähigkeit der Einbildungskraft. Die Leistung, Vorstellungen, die zur Einheit der Apperzeption gehören, durch Ausübung dieser Fähigkeit zu verknüpfen, ist eine Leistung des reinen Verstandes. Da jede Leistung des reinen Verstandes in der Anwendung von Kategorien bestehen muss, bedeutet dies, dass all unsere epistemisch relevanten Vorstellungen unter Kategorien stehen. Auch Kants Argumentation der ‚Deduktion von oben‘ ist mit schwerwiegenden Problemen konfrontiert. Das Hauptproblem besteht darin, dass sie von einer Definition des reinen Verstandes abhängt, deren Adäquatheit unbegründet bleibt. In Bezug auf das soeben erläuterte Argument heißt das: Kant kann zwar begründen, dass die Annahme einer Leistung erforderlich ist, Vorstellungen, die zur Einheit der Apperzeption gehören, durch Ausübung der transzendentalen Synthesisfähigkeit der Einbildungskraft zu verknüpfen, er vermag aber nicht zu begründen, warum diese Leistung eine Leistung des reinen Verstandes sein sollte. Von genau dieser Begründung hängt jedoch die Legitimität der Einführung der
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Zur Entfaltung dieser Konsequenzen siehe oben Abschnitt 7.6, S. 253 ff.
8.4 Mögliche Auswege
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Kategorien in das Deduktionsargument und damit der Erfolg des Arguments selbst ab. Insgesamt hat die Rekonstruktion damit nicht nur gezeigt, dass die Einbildungskraft für alle Ansätze zu einem Deduktionsbeweis und für die beiden von Kant ausgeführten Versionen eines solches Beweises eine entscheidende Rolle spielt, sondern auch, dass es Kant nicht gelingt, einen akzeptablen Deduktionsbeweis vorzulegen. Ohne einen solchen kann die von Kant vertretene These, dass seine Konzeption der Einbildungskraft ein Baustein eines solchen Beweises ist, jedoch nicht aufrechterhalten werden. Die Einbildungskraft kann im Deduktionskapitel der KrV (zumindest der ersten Auflage) nicht diejenige erkenntnistheoretische Funktion übernehmen, die Kant ihr zuschreibt. Seinem Anspruch nach spielt die Einbildungskraft zwar eine begründende Rolle im Deduktionsbeweis, aber Kant kann diesen Anspruch nicht einlösen, weil sein Deduktionsargument unbefriedigend bleibt. Welche Konsequenzen hat dies für die von Kant in der A-Deduktion entwickelte Konzeption der Einbildungskraft? Der Ort der Argumentation, an dem sich die Schwierigkeiten seiner Beweisansätze und -versionen einstellen, liegt jenseits der Eckpunkte der Theorie der Einbildungskraft, an denen diese Ansätze und Versionen anknüpfen. Trotz des Scheiterns von Kants Bemühungen um einen Deduktionsbeweis gibt es daher keinen Grund, seine mit Blick auf die drei Synthesen rekonstruierte Theorie der Einbildungskraft aufzugeben. Das Scheitern des Deduktionsbeweises zieht nicht das Scheitern der Theorie der Einbildungskraft nach sich. Allerdings schränkt es deren Reichweite erheblich ein: Die Theorie der Einbildungskraft kann lediglich als eine Theorie vorkategorialer Erfahrung gelten.
8.4 Mögliche Auswege Da eine Theorie der Einbildungskraft, deren erkenntnistheoretische Bedeutung sich in einer Theorie vorkategorialer Erfahrung erschöpft, von der Sache her unbefriedigend ist, ist zu fragen, welche Möglichkeiten Kants Philosophie dafür bietet, der Einbildungskraft legitimerweise eine darüber hinausgehende erkenntnistheoretische Funktion zuzuschreiben. Anhaltspunkte hierfür liefert die B-Deduktion. Denn auch in ihr hält Kant an seinem Anspruch fest, dass die Einbildungskraft einen apriorischen Beitrag „zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis“ leisten kann und als solche nicht der „Psychologie“, sondern der „Transzendentalphilosophie“ zuzurechnen ist (B 152). Allerdings hält Kant in der BDeduktion auch an seinem starken Beweisanspruch fest, dass die Katego-
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8 Die Theorie der Einbildungskraft in der A-Deduktion
rien die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis allererst begründen. Er geht auch hier nicht von der Prämisse aus, dass objektive empirische Erkenntnis möglich ist. Daher ist es nicht überraschend, dass nach der Auffassung einer Reihe von um Rekonstruktion bemühten Interpreten auch Kants Argument in der B-Deduktion mit einer Reihe von schwerwiegenden und vielleicht unlösbaren Problemen konfrontiert ist. 8 Sollte sich zeigen, dass auch die B-Deduktion kein haltbares Deduktionsargument zu liefern vermag, müsste die Reichweite seiner Theorie der Einbildungskraft dort auf eine ähnliche Weise beschränkt bleiben wie schon in der A-Deduktion. Ich möchte daher noch auf eine zweite Möglichkeit aufmerksam machen, wie die erkenntnistheoretische Bedeutung der Einbildungskraft im Horizont von Kantischen Überlegungen gerechtfertigt werden könnte. Man könnte von Kants starker, vielleicht zu starker Behauptung Abstand nehmen, dass die Möglichkeit objektiver empirischer Erkenntnis allererst durch die Kategorien begründet wird, und stattdessen von der Voraussetzung ausgehen, dass diese Möglichkeit besteht. Dies kommt zwar einerseits einer Revision von Kants Beweisanspruch der Deduktionsuntersuchung der KrV gleich, entspricht aber andererseits seinem Vorgehen in den Prolegomena. Kant erklärt, dass es ihm in den Prolegomena in puncto Erfahrung darum geht, „was in ihr liegt.“ 9 Sein Projekt ist dort das einer Analyse objektiver empirischer Erkenntnis. Blickt man auf die Erfahrungsanalyse in den Prolegomena, so scheint es auf den ersten Blick kaum möglich, die erkenntnistheoretische Bedeutung der Einbildungskraft mit Bezug auf diese Analyse herauszustellen. Denn die Einbildungskraft wird im Rahmen dieser Analyse nicht einmal erwähnt. Kant beginnt dort folgendermaßen: „Wir werden daher Erfahrung überhaupt zergliedern müssen, um zu sehen, was in diesem Produkt der Sinne und des Verstandes enthalten, und wie das Erfahrungsurteil selbst möglich sei: Zum Grunde liegt die Anschauung, deren ich mir bewußt bin, d. i. Wahrnehmung (perceptio), die bloß den Sinnen angehört. Aber zweitens gehört auch dazu das Urteilen (das bloß dem Verstande zukommt).“ (Proleg, A 81)
Von der Einbildungskraft ist weder zu Beginn noch im Fortgang der Erfahrungsanalyse der Prolegomena explizit die Rede. – Allerdings lässt sich vor dem Hintergrund der in der KrV entwickelten Konzeption der Einbildungskraft zeigen, dass die Einbildungskraft für beide der im Zitat genannten Punkte von wesentlicher Bedeutung ist.
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Siehe Hossenfelder 1978, insbes. 128 ff.; Hinsch 1986, 104/7; Thöle 1991, 249 ff.; Howell 1992. Proleg, A 87.
8.4 Mögliche Auswege
269
Der erste Punkt des Zitats stellt die Wahrnehmungskomponente der Erfahrung heraus. Indem Kant erklärt, die Wahrnehmung gehöre „bloß den Sinnen an[]“, blendet er jedoch aus, was für seine Konzeption der Wahrnehmung in der KrV zentral ist. Dort heißt es, dass „die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst“ ist und dass die Einschätzung irrig sei, „die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch so gar zusammen, und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu ohne Zweifel, außer der Empfänglichkeit der Eindrücke, noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben erfordert wird.“ (A 120 Anm.) Die m. E. richtige Grundüberlegung von Kants Theorie der Erfahrung ist, dass das, was uns allein durch die Sinne bzw. aufgrund der Rezeptivität unseres Gemüts gegeben ist, keinerlei gegenständliche Einheit besitzt, sondern sowohl intuitiver als auch begrifflicher Bestimmung bedarf. Daher ist über die Annahme, dass wir Eindrücke haben können, hinaus die Annahme von Leistungen des Individuierens, phänomenalen Diskriminierens bzw. Gestaltbestimmens erforderlich, wenn wir überhaupt so etwas wie Wahrnehmung haben können sollen. Bei diesen Leistungen handelt es sich in Kants Konzeption jedoch um Leistungen der Einbildungskraft. Diese müssen im Kontext der Analyse objektiver empirischer Erkenntnis so verstanden werden, dass sie einen Beitrag zur Identifizierung räumlichzeitlicher Objekte leisten. Ohne diese Identifizierung läge in unserer Wahrnehmung nichts vor, das wir im Rahmen einer objektiven empirischen Erkenntnis begrifflich klassifizieren könnten. Ein Ort der Erfahrungsanalyse, an dem sich die genuin erkenntnistheoretische Bedeutung der Einbildungskraft bestimmen lässt, ist daher der Zusammenhang zwischen Identifizierung und Synthesis der Einbildungskraft. Die Synthesis der Einbildungskraft liefert einen Beitrag zur Festlegung der singulären Referenz und damit der Wahrheitsbedingungen einzelner Urteile. 10 Der zweite Punkt, auf den das obige Zitat der Prolegomena aufmerksam macht, ist die Urteilskomponente der Erfahrung. Kant unterscheidet in den Prolegomena empirische Urteile, die lediglich subjektiv gültig sind (Wahrnehmungsurteile), von solchen, die objektiv gültig bzw. wahrheitsfähig sind (Erfahrungsurteile). Im Kontext des Projekts einer Analyse objektiver empirischer Erkenntnis kann, anders als in der Deduktionsuntersuchung der KrV, nicht nur von der Prämisse, dass uns Wahrnehmungsurteile, sondern auch von der Prämisse, dass uns Erfahrungsurteile möglich sind, ausgegangen werden. Kant entwickelt in § 22 der Prolegomena ein Argument, das zeigen soll, dass die Subsumtion von Wahrnehmungen
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Siehe dazu Rohs 2001 und Rohs 1996, 112/4, 151/3 154/6.
270
8 Die Theorie der Einbildungskraft in der A-Deduktion
unter reine Verstandesbegriffe eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Erfahrungsurteilen ist. 11 Für die Analyse objektiver empirischer Erkenntnis stellt sich im Anschluss an dieses Argument die Frage, wie Wahrnehmungen unter reine Verstandesbegriffe subsumiert werden können bzw. wie diese Begriffe auf die Gegenstände von Wahrnehmungen angewandt werden können. Diese Frage wird in den Prolegomena nicht untersucht. Allerdings weist Kant dort auf das Problem des „Zusatz[es] des Verstandesbegriffs [...] zur Wahrnehmung“ in einer Anmerkung hin und erklärt: „Wie die Wahrnehmung zu diesem Zusatz komme, darüber muß die Kritik im Abschnitte von der transz. Urteilskraft, S. 137 u. f. nachgesehen werden.“ 12 Kant verweist hier auf das Schematismuskapitel und damit zugleich auf seine Konzeption der transzendentalen Einbildungskraft, der in diesem Kapitel die Aufgabe zukommt, die ‚sinnliche Übersetzung‘ der reinen Verstandesbegriffe einsichtig zu machen. Kants Kernthese ist hier, dass in Hinblick auf diese Übersetzung die Annahme von transzendentalen Zeitbestimmungen erforderlich ist, die als ein „transzendentales Produkt der Einbildungskraft“ zu verstehen sind (A 142, B 181). Damit ist ein zweiter Ort benannt, an dem sich die erkenntnistheoretische Bedeutung der Einbildungskraft im Horizont des Projekts einer Analyse objektiver empirischer Erkenntnis herausstellen lässt. Solche Erkenntnis ist nur durch das kategoriale Bestimmen von Wahrnehmungen möglich; die Konzeption dieses Bestimmens ist Kant zufolge aber im Rekurs auf die Einbildungskraft zu klären. Im Schematismuskapitel wird deutlich, dass dies nicht nur für das kategoriale, sondern für jede begriffliche Bestimmung von Wahrnehmungen gilt. Kant zufolge ist keine begriffliche Bestimmung von Wahrnehmungen möglich, wenn wir nicht über Begriffen zugeordnete Verfahren (Schemata) verfügen, durch die wir sinnlich gegebene Einzelne diesen Begriffen gemäß bestimmen können. Ein solches Verfahren der Anwendung eines Begriffs kann nicht einfach in der Prüfung der Anwendbarkeit der Teilbegriffe dieses Begriffs bestehen, weil auch diese Prüfung ein solches Verfahren verlangt. Das genannte Verfahren kann in diesem Sinne nicht bloß begrifflicher Natur sein, sondern muss Kant zufolge eine „Verfahren der Einbildungskraft“ sein (A 140, B 179). Nimmt man Abstand von Kants Projekt, objektive empirische Erkenntnis durch die Kategorien allererst und ursprünglich zu begründen, so bedeutet dies nicht, dass sich die erkenntnistheoretische Bedeutung seiner Konzeption der Einbildungskraft in einer vorkategorialen Theorie der
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Proleg, A 88 f. Proleg, A 89 Anm.
8.4 Mögliche Auswege
271
Erfahrung erschöpfen muss. Die über eine solche Theorie hinausgehende erkenntnistheoretische Bedeutung von Kants Konzeption der Einbildungskraft ließe sich einsichtig machen, indem man sich an dem in den Prolegomena verfolgten bescheideneren Projekt einer Analyse objektiver empirischer Erkenntnis orientiert und diese Analyse auf diejenigen Punkte fokussiert, die vor dem Hintergrund von Überlegungen zur Einbildungskraft in der KrV entfaltet werden können.
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Personenregister Abel, Günter 79 Aquila, Richard E. 6, 229, 274 Aschenberg, Reinhold 4, 44, 71 f., 274 Banham, Gary 6, 274 Baum, Manfred 215, 274 Baumgarten, Alexander Gottlieb 147, 277, 279 Beaufret, Jean 173, 274 Bennett, Jonathan 128, 274 Carl, Wolfgang 25, 89, 93, 124, 160, 169, 171, 187, 205, 243, 274 Cassirer, Ernst 23, 31 f., 274 f. Cohen, Hermann 20 f., 23, 43 f., 274 Cramer, Konrad 155, 176, 274 Curtius, Ernst Robert 13, 274 Davidson, Donald 44, 274 Detel, Wolfgang 13, 274 Düsing, Klaus 6, 18 f., 155, 274 Eichberger, Tassilo 6, 275 Ferrarin, Alfredo 6, 34, 275 Fichte, Johann Gottlieb 18, 20, 274 f., 278 Findler, Richard 18, 275 Förster, Eckart 275 f. Freydberg, Bernard 6-8, 23, 275 Fries, Jakob Friedrich 18, 20, 23, 275 Frohschammer, Jakob 6, 20, 275 Gerhardt, Volker 121, 275 Gibbons, Sarah L. 6, 9 f., 275 Grundmann, Thomas 43 f., 72, 120, 275 Guyer, Paul 58, 183, 239, 275 Hablützel, Rudolf 18, 275 Hackenesch, Christa 28, 38, 41, 275 Hanewald, Christian 18, 275 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1820, 22, 274-276
Heidegger, Martin IX, 5, 7 f., 11, 2232, 34 f., 37-41, 43, 149, 205, 216, 274 f. Henrich, Dieter 4, 22, 35 f., 38, 87, 160, 181, 183, 276 Herbart, Johann Friedrich 20 Herz, Markus 191, 246 f. Hinsch, Wilfried 155, 181, 268, 276 Homann, Klaus 18-20, 276 Hoppe, Hansgeorg 107, 166, 276 Hossenfelder, Malte 53, 68, 107, 268, 276 Howell, Robert 268, 276 Hume, David 6, 74, 106, 109, 232, 276 f. Husserl, Edmund 128, 276 Inciarte, Fernando 18, 276 Kaulbach, Friedrich 79 Kern, Iso 43, 276 Kitcher, Patricia 119, 276 Klein, Harald 106, 114, 169, 181, 183, 276 Kneller, Jane 6, 276 Kroner, Richard 106, 276 Leibniz, Gottfried Wilhelm 34, 192, 276 Lenk, Hans 79, 81, 276 Locke, John 74, 108 f., 117 f., 276 Lohmar, Dieter 6, 229-231, 276 Mainzer, J. 6, 277 Makkreel, Rudolf A. 6, 276 Market, Oswaldo 74, 277 Matthews, H. E. 48, 277 Metz, Wolfgang 18, 23, 277 Meyer, Jürgen Bona 20, 23, 277 Mohr, Georg 232, 277 Mörchen, Hermann 6 f., 9, 277 Nenon, Thomas 170, 277 Niquet, Marcel 44, 277
Peronenregister
O’Neill, Onora 6, 126, 277 Paton, H. J. 101, 277 Pendlebury, Michael 6, 232, 277 Pimpinella, Pietro 147, 277 Prauss, Gerold 48, 79, 90, 170, 230, 275, 277 Prehn, August 6, 277 Putnam, Hilary 77 f., 83, 277 Quine, W. V. O. 176, 277 Robinson, Hoke 51, 277 Röd, Wolfgang 81, 278 Rohs, Peter 269, 277 f. Rorty, Richard 74, 118, 134, 278 Rosales, Alberto 41, 87, 90-92, 107, 156, 160, 179, 278 Sallis, John 6, 33, 278 Schaper, Eva 6, 278 Scheffer, Thomas 57, 278 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 18, 275, 278 Seel, Gerhard 13, 276, 278 Sellars, Wilfrid 6, 75, 278 Stegmüller, Wolfgang 4, 278
281
Steltzer, Rainer 79, 278 Stenius, Erik 43, 278 Stolzenberg, Jürgen 18, 278 Strawson, Peter F. IX, 5 f., 42-49, 5254, 60, 63, 69-73, 118-120, 134, 277 f. Stuhlmann-Laeisz, Rainer 174, 278 Thöle, Bernhard 59, 106, 160, 181, 185 f., 204, 219 f., 268, 278 Trebels, Andreas Heinrich 6, 278 Tugendhat, Ernst 232, 278 Vaihinger, Hans 50, 140, 278 Vleeschauwer, Herman Jean de 279 Volonté, Paolo 43, 279 Westphal, Kenneth R. 57, 236 f., 255, 279 Wilkerson, T. E. 48, 279 Willaschek, Marcus 48, 277, 279 Wittgenstein, Ludwig 43 Wolff, Christian 35, 147, 277, 279 Wolff, Robert Paul 160, 279 Wunsch, Matthias 16, 279 Young, Michael 6, 279
Sachregister Affinität Erkenntnisgrund 224 f., 240-242, 249-253, 255 Erscheinungen bzw. Mannigfaltiges 224 f., 234, 236 f., 239-242, 249 f., 252 f., 255, 257, 266 Seinsgrund XI, 224, 241 f., 249 f., 252 f., 255 f., 266 Affinitätsargument X, 224, 241-244, 246-250, 254, 257 Apperzeption Einheit 15 f., 105, 108, 133, 177, 181 f., 188 f., 201-204, 208-210, 212, 214-216, 218 f., 221 f., 224, 242, 247-252, 259, 266 reine oder transzendentale 40, 105, 121 f., 133 f., 175-181, 187-189, 194, 196-198, 200 f., 210, 214, 216, 218, 224 f., 240242, 244-246, 248, 251, 253 f., 259, 264-266 Apprehension durchlaufende X, 138, 144-148, 151, 156, 158, 161, 164, 174, 259, 260 Synthesis X, 1, 3, 17, 65, 98, 102104, 114, 125, 129 f., 137, 143153, 156-159, 161-163, 165, 168, 182 f., 207, 214, 224-228, 240, 243, 258-261, 263 zusammennehmende X, 138, 144148, 151, 163, 259, 260 Assoziation Einheit X, 224 f., 234, 242-245, 248, 257 Assoziationsklasse 232, 243, 246, 257 Assoziationsprinzip 232-234
Assoziationsregel 224 f., 228-235, 237, 250, 261 f., 266 Ausgangspunkte (der Deduktionsuntersuchung) IX, 85 f., 105, 107-109, 111-113, 128, 130 f., 133, 138, 144, 146, 149, 151 f., 161 f., 181, 187, 207, 225, 234, 259-261 Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 2, 10, 25, 30, 47, 63, 66, 72, 84, 89 f., 92-94, 106, 114, 117, 124, 131, 154, 209, 217, 274, 276 f., 279 Nachforschungsprinzip IX, 90, 92-95, 99, 105, 107, 131, 213, 215 objektive 30, 38, 215-217 subjektive 27, 30, 38, 94, 215-218 von oben X, 61, 133, 153, 181 f., 187-189, 191 f., 196 f., 200 f., 203 f., 208 f., 211, 213, 215219, 221 f., 224, 248, 256, 265 f. von unten X f., 61, 149, 154, 156, 187, 191, 224 f., 227 f., 234, 238, 241 f., 248-250, 252 f., 256, 265 Deduktionsargument bzw. –beweis IX, XI, 2 f., 10, 12, 15, 17, 46, 61 f., 67, 90, 99, 104 f., 107, 109, 115, 120-124, 126, 131-133, 137, 144 f., 149, 155, 163, 168, 172, 175 f., 181 f., 187, 189, 215, 218, 222, 224, 228, 238 f., 249, 251, 258 f., 261268 Deduktionsbegriff IX, 87 Deduktionsproblem IX, 2, 10-12, 14, 29, 38, 61, 85, 154 f., 187, 204
Sachregister
Deduktionsuntersuchung IX f., 3, 10 f., 14, 17, 84-86, 94-105, 107-109, 111-113, 115, 128, 130-133, 138, 143 f., 146, 149, 151 f., 154, 161 f., 178, 180, 187 f., 207, 215 f., 225, 234, 258-261, 263, 265, 268 f. Einbildungskraft (siehe auch ‚Synthesis’) Theorie IX, XI, 2, 17, 19, 85 f., 102-104, 120, 122, 133, 137, 147, 150, 156, 258 f., 261-265, 267 f., 274 Wesensstruktur 38-41 Empfindung X, 1, 49 f., 56, 74 f., 127 f., 134, 137-145, 190, 198-200, 226, 230 f., 243 epistemische Relevanz (von Vorstellungen) 182, 185, 189, 191-198, 200-203, 207, 210, 213 f., 222, 247-249, 257, 265 f. Erfahrung Erfahrungsanschauungen 111, 143 Erfahrungsurteile 76, 110 f., 229 f., 268 f. Erkenntnis im weiten Sinn X, 108, 110-116, 127, 131, 134, 151, 161 f., 182185, 189, 191, 207, 213, 259261 objektive (empirische) 12, 82, 92, 96, 105-109, 112, 120 f., 133, 137, 171, 176, 182, 187, 205, 212-214, 228, 258, 264, 268270 Erkenntnisquelle, subjektive oder ursprüngliche 15 f., 40, 62, 99, 119, 215 Erscheinung, subjektivistisches Verständnis 49, 51, 60, 68, 255 Gesetzesthese 182-186, 240 Gesetzgebungsthese 59-63, 68, 254 f. Grundkraft 35-38, 41 Idealismus, transzendentaler 18, 4548, 51 f., 70, 276, 279 Inkohärenzeinwand IX, 17, 46 f., 69 f., 72, 76, 81 f.
283
Irrealitätseinwand IX, 17, 46-48, 51, 56, 60, 68 Kategorien mathematische 89 Quantität 89, 155, 206 Relation 90, 110, 230, 232, 239 konstitutionstheoretisch 55, 58, 62, 183 Konstitutionstheorie-Einwand IX, 17, 46 f., 51-54, 63 f., 67 f., 183, 255 Kopernikanische Wende 53-55, 58 f., 63 f., 67 f., 84 Leitungsthese 100 f., 103, 105, 132, 178, 258 f. Limitation 136, 152 Mannigfaltiges 39, 45 f., 55, 68-70, 72-76, 78 f., 81 f., 84, 115 f., 127, 133-136, 138 f., 142-148, 151-156, 158, 161, 163-166, 168, 171, 173, 177, 182, 188, 196 f., 199 f., 205207, 221, 226 f., 235 f., 238-242, 250 f., 253-256, 259 f., 262 f., 266, 277 Materie 50 f., 56-58, 60, 65 f., 68, 74, 82, 84, 134, 139, 226, 243, 255 Modell der bestimmenden Synthesis (siehe ‚Synthesis’) Nachforschungsprinzip der Deduktion (siehe ‚Deduktion’) Paralogismen 36, 119, 179 Phaenomena 66, 140, 143 principle of significance 44 f., 69-72, 81 Proto-Begriffe 232-234, 236 Psychologie, transzendentale 119 Psychologismuseinwand X, 17, 46 f., 52, 86, 117-120, 122 f., 126, 137, 145, 183 Raum 50 f., 55-58, 63-65, 68, 75 f., 89, 115, 135 f., 152 f., 155, 199, 227, 232, 238 f., 263 Reales, Realität 47-51, 56, 60, 74-76, 79, 81 f., 90, 116, 127, 134, 138142, 145, 154 f., 190, 205 f., 226, 237, 243, 250, 255, 276 f. Realismus, empirischer 51, 61
284
Sachregister
realistische Lesart von Kants Erfahrungstheorie 74 f., 77, 8082, 145 realistisches Minimum 81 Regel apriorische 54, 64 f., 84, 172, 182186, 204, 208, 212, 214, 221, 265 Assoziation (siehe ‚Assoziationsregel’) dreifache Synthesis 165-168, 172175, 185, 264 Metaregel 167 f., 172, 174 f., 264 Rekognition bewahrende X, 156-160, 162 f., 175, 178-180, 260-264 gliedernde X, 156-160, 162 f., 178, 260-263 Synthesis X, 1, 3, 17, 98, 102-104, 129 f., 137, 150, 156-160, 162164, 175, 178-180, 207, 214, 258-260, 262-264 Rekonstruktion, argumentative 2, 47, 10, 17 f., 24, 45, 48, 52, 54, 108, 119, 188 Relativität, begriffliche 77-79, 81-83 Reproduktion präsenthaltende X, 147-149, 151153, 156, 161-163, 260 f., 263 Synthesis 1, 3, 17, 65, 98, 102-104, 117, 124, 129 f., 137, 147-153, 162 f., 188, 207, 214, 224 f., 228, 230 f., 234 f., 237-239, 258-263 wiedervorführende X, 68, 147149, 152, 162, 261 f. Schema, Schematismus 2, 4, 7, 10-14, 23, 66, 71, 79, 153, 155, 173, 270, 274 f., 277-279 Sinnlichkeit, Form der 54-58, 65, 226 spontan, Spontaneität 7, 33, 40, 57, 66, 100, 128, 135, 140, 153, 227 Synopsis des Sinns X, 39, 41, 134136, 152 Synthesis Apprehension (siehe ‚Apprehension’)
dreifache X, 98, 100, 102, 129, 135, 163-167, 172 f., 175, 178, 180 f., 184-186, 207, 214, 218, 263-265 empirische 1, 102, 127-130, 150 f., 183, 238 figürliche bzw. speciosa 1, 3, 65, 221 intuitive X, 65, 68, 83, 225-227 konstitutive 52 f., 60, 62 f., 68, 84 Modell der bestimmenden 68 f., 82, 84, 266 produktive 2, 21, 68 f., 103, 124, 188, 205, 277 reine X, 39, 67, 114, 129, 150, 152-155, 168, 188, 204 f., 211, 215 Rekognition (siehe ‚Rekognition’) Reproduktion (siehe ‚Reproduktion’) transzendentale X, 1, 15-17, 21, 23, 53 f., 56, 59 f., 62 f., 84, 86, 102, 114, 117, 120-126, 128130, 150-152, 155, 162, 183, 187-189, 204-216, 218 f., 221 f., 238, 250-252, 258 f., 266 Synthesisfähigkeit 1, 17, 86, 124, 129 f., 133, 151-153, 162, 187, 202204, 206-208, 210, 214, 259-261, 266 Synthesislehre 45-48, 51 f., 69 f., 72 f., 81 f., 84, 86, 107, 116, 119 Synthesistyp 2, 10, 39, 85 f., 102-104, 150, 155, 183-185 Transzendentalphilosophie, analytische 43 f. Transzendenz 26-31, 37 f., 41 Verstand (reiner) Definition X, 209 f., 215-223, 251, 256, 266 Konstituenten 15, 100, 219 f., 222 Wahrheit 77, 106, 169 f., 230, 269, 277 f. Wahrnehmung Wahrnehmungsanschauungen 111 f., 143 f., 224 f., 228, 231-233
Sachregister
Wahrnehmungsurteile X, 110112, 227-236, 261, 269, 277
285
Wurzelthese IX, 22-25, 31-34, 36-39, 41 f.