Ein pluriverses Universum: Zivilisationen und Religonen im antiken Mittelmeerraum 9783770559060, 3770559061

Der antike Mittelmeerraum war unzweifelhaft ein pluriverses Universum. Der vermeintlich einheitliche Raum wurde geprägt

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German Pages [475] Year 2015

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Table of contents :
EIN PLURIVERSES UNIVERSUM: Zivilisationen und Religionen im antiken Mittelmeerraum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
EINLEITUNG
Der antike mittelmeerraum: ein pluriverses universum
MITTELMEERISCHE VERKEHRSMITTEL, -WEGE UND –NETZE
Fernand braudels „géohistoire“ des mittelmeerraumes und die doppelte hermeneutik: einige kritische anmerkungen
Das zeitalter der phoiniker, griechen und etrusker urbanisierung, handel und kultureller wandel im mittelmeerraum zwischen 1000 und 500 v. chr.
Mesógios – zur struktur der polis-netzwerke
Das mittelmeer im lukanischen geschichtswerk
FRÜHE HOCHKULTUREN DES MITTELMEERRAUMS
Sprachen und schriften im antiken mittelmeerraum
A bridge or a blind alley? hittites and neo hittites as cultural mediators
The phoenicians in the mediterranean diasporic identities and commercial networks
ALTER ORIENT UND GRIECHISCH-RÖMISCHE KULTUR
überlegungen zur genese und kanonisierung der frühen griechischen götterikonographie im mittelmeerraum
Das proömium des diogenes eine frage der intellektuellen mittelmeergeographie
Die bedeutung der rhetorik im antiken mittelmeerraum und darüber hinaus
RÖMISCH-IMPERIALE SYNKRASIEN
Antinous als politische gottheit oder: wie halte ich das römische reich zusammen?
Iranisches im römischen mithraskult: iranische wörter
Das imperium romanum als religionsgeschichtlicher raum: Eine Skizze
ANTIKES JUDENTUM ZWISCHEN AKKOMMODATION UND SELBSTBEHAUPTUNG
Wie wird man ein mediterraner denker? Der Fall Philon von Alexandria
Flavius und josephus – zwei seelen in einer brust?
„wie der fisch aus dem großen meer“ judentum, diaspora und rabbinische bewegung im mediterranen kontext
JÜDISCH-CHRISTLICHE BIKULTURALITÄT UND IHRE IMPERIALISIERUNG
„implizite hybridität“ der jesusbewegungen und mediterraner „bikulturalismus“ des Paulus
Christianisierung des imperium romanum? imperialisierung des christentums!
Weltreiche und (k)ein ende daniel – das buch und seine folgen
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Ein pluriverses Universum: Zivilisationen und Religonen im antiken Mittelmeerraum
 9783770559060, 3770559061

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EIN PLURIVERSES UNIVERSUM

MITTELMEERSTUDIEN

Herausgegeben von

Mihran Dabag, Dieter Haller, Nikolas Jaspert und Achim Lichtenberger

BAND 7

Richard Faber, Achim Lichtenberger (Hg.)

EIN PLURIVERSES UNIVERSUM Zivilisationen und Religionen im antiken Mittelmeerraum

Wilhelm Fink | Ferdinand Schöningh

Titelfotos: Baal aus Ugarit (15./13. Jh. v. Chr.), Paris / Antinoos (2. Jh. n. Chr.), Neapel / Christus, St. Prassede in Rom (frühes 9. Jh. n. Chr.) Collage: Achim Lichtenberger

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de | www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5906-0 (Fink) ISBN 978-3-506-78198-7 (Schöningh)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Richard Faber / Achim Lichtenberger

Einleitung Der antike Mittelmeerraum: Ein pluriverses Universum . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Monika Schuol

Mittelmeerische Verkehrsmittel, -wege und -netze Fernand Braudels „géohistoire“ des Mittelmeerraumes und die doppelte Hermeneutik: Einige kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Klaus Geus Das Zeitalter der Phoiniker, Griechen und Etrusker. Urbanisierung, Handel und kultureller Wandel im Mittelmeerraum zwischen 1000 und 500 v. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Helmuth Schneider Mesógios – Zur Struktur der Polis-Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Rainer E. Zimmermann Das Mittelmeer im lukanischen Geschichtswerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Hubert Cancik

Frühe Hochkulturen des Mittelmeerraums Sprachen und Schriften im antiken Mittelmeerraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Wolfgang Röllig

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INHALTSVERZEICHNIS

A Bridge or a Blind Alley? Hittites and Neo Hittites as Cultural Mediators . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Amir Gilan The Phoenicians in the Mediterranean. Diasporic identities and commercial networks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Michael Sommer

Alter Orient und griechisch-römische Kultur Überlegungen zur Genese und Kanonisierung der frühen griechischen Götterikonographie im Mittelmeerraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Achim Lichtenberger Das Proömium des Diogenes: Eine Frage der intellektuellen Mittelmeergeographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 André Laks Die Bedeutung der Rhetorik im antiken Mittelmeerraum und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Francesca Vidal

Römisch-imperiale Synkrasien Antinous als politische Gottheit. Oder: Wie halte ich das Römische Reich zusammen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Burkhard Fehr Iranisches im römischen Mithraskult: Iranische Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Götz König Das Imperium Romanum als religionsgeschichtlicher Raum: Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Jörg Rüpke

INHALTSVERZEICHNIS

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Antikes Judentum zwischen Akkommodation und Selbstbehauptung Wie wird man ein Mediterraner Denker? Der Fall Philon von Alexandria . . 355 Maren R. Niehoff Flavius und Josephus – zwei Seelen in einer Brust? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Ernst Baltrusch „Wie der Fisch aus dem Großen Meer“. Judentum, Diaspora und rabbinische Bewegung im mediterranen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Lennart Lehmhaus

Jüdisch-christliche Bikulturalität und ihre Imperialisierung „Implizite Hybridität“ der Jesusbewegungen und mediterraner „Bikulturalismus“ des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Wolfgang Stegemann / Ekkehard W. Stegemann Christianisierung des Imperium Romanum? Imperialisierung des Christentums! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Richard Faber Weltreiche und (k)ein Ende. Daniel – das Buch und seine Folgen . . . . . . . . . 453 Jürgen Ebach

Richard Faber / Achim Lichtenberger Vorwort „Technische Neuerungen, die Zunahme von Verkehr und Fernhandel, die Ausdehnung politischer Strukturen verdichten im zweiten vorchristlichen Jahrtausend den Raum zwischen Zweistromland und den Säulen des Herakles bei Gadir (Cadiz), vom Nil bis zu den Hyperboräern zu einem eigenen Kulturareal. – Dieser Kulturraum ‘Mittelmeer´ ist der geschichtliche Ort der ‘klassischen Antike´. Sie entsteht, dem Gefälle von Ost nach West gemäß, als eine spätaltorientalische Randkultur und wird zum Zentrum dieses Raumes.“1

Mit diesen beiden Absätzen beginnt das „La méditerranée“ überschriebene zweite Kapitel in Hubert Canciks Programm für den seit mehreren Jahren fertiggestellten „Neuen Pauly“. Cancik rekurriert bereits in seiner Kapitelüberschrift auf: Fernand Braudel, „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“2 [von Spanien]. Diese Arbeit, die 1949 erstmals auf Französisch erschien, wurde das wirkmächtigste Buch zur Geschichte des Mittelmeerraums. In ihm hat Braudel einerseits eine differenzierte Betrachtung des Naturraums vorgelegt, andererseits eine Einheit des Mittelmeerraumes entworfen, welche bis heute das Bild des Mittelmeers prägt und an dem sich weiterhin die Forschung abarbeitet.3 Dies legt nahe, zunächst Braudels Grundkonzept zu präsentieren und zu diskutieren, schließlich seine Analogisierungsfähigkeit bis -notwendigkeit für die antike Welt zu überprüfen. 1 H. Cancik, Altertum und Antikerezeption im Spiegel der Geschichte der Realencyklopä-

die (1839–1993), in: ders., Antik. Modern. Beiträge zur römischen und deutschen Kulturgeschichte. Stuttgart / Weimar 1998, S. 12. 2 F. Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde. Frankfurt a. M. 1979. 3 Vgl. dazu insbesondere P. Horden / N. Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History. Oxford 2000 und die Rezension dazu, die vor allem auch zeigt, welche Wirkung die Arbeit von Braudel auf die Altertumsforschung hatte: B. D. Shaw, Challenging Braudel: a new vision of the Mediterranean. Journal of Roman Archaeology, 14, 2001, S. 419–453.

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Letzterer Aufgabe stellen sich im vorliegenden Sammelband der Berliner Kulturgeograph Klaus Geus und der Kassler Althistoriker Helmuth Schneider. Dieser verweist, trotz Bedenken von Geus gegenüber einer Übertragung des Braudelschen Modells auf die Antike,4 nachdrücklich auf den griechisch-römischen Geographen Strabon, der bereits zur Zeit des Augustus, nicht anders als dann Plinius, von einem einheitlichen Mittelmeerraum und seiner schon in naturgeographischer Hinsicht grundlegenden Bedeutung für die antike Geschichte ausgegangen ist. Noch bevor das „Innere Meer“, wie es bei Strabon heißt, zum auch politisch geeinten mare nostrum des Imperium Romanum geworden war, stellte das Mittelmeer für die Gesellschaften der Antike kein die Länder trennendes, sondern ein sie verbindendes Element dar, wie Schneider betont. Das Mittelmeer bot eine natürliche Infrastruktur, die es bereits den Phönikern ermöglichte, größere Entfernungen mit dem Schiff zu überwinden. Nicht zuletzt das alttestamentliche „Buch der Könige“ und der „Prophet Ezechiel“ bezeugen dies. Doch die Phöniker orientierten sich gerade auch in Richtung Westen, über Griechenland und Sizilien hinaus bis nach Spanien. Vor allem aber begründeten sie mit dem nordwestafrikanischen Karthago das Seereich der Punier, in Konkurrenz zu dem dann das Römische entstanden ist – nach Karthagos Zerstörung. Die römische Geschichtsschreibung ist selbstverständlich wichtig für Schneider, doch schon die Griechen Herodot und Thukydides können ihm als Kronzeugen dienen – bis in die archaische Zeit der vor allem mit Assyrern und Babyloniern konfrontierten frühen Phönizier zurück. Deren Zeitgenosse war kein geringerer als der auch historiographisch relevante Dichter Homer; von höchster Bedeutung natürlich als Zeuge für Seefahrt, Handel und Kolonisation der im ganzen Mittelmeerraum tätigen, schließlich mit den Persern konfrontierten Hellenen selbst – zusammen mit Hesiod und den späteren Herodot und Thukydides. Platon hat das Ergebnis der griechischen Expansion in die klassischen Worte gefasst, seine Landsleute wohnten um das Mittelmeer herum wie Ameisen und Frösche um einen Tümpel. So klein war das „Innere Meer“ schon in klassischer Zeit geworden, ohne nur ein griechisches zu sein, so wie dann 500 Jahre später tatsächlich ein ausschließlich römisches. Unbeschadet dessen lebten bereits zu Herodots Zeiten die Städte und Völker des Mittelmeerraumes keineswegs in strenger Isolation. Wie Herodot hervorhebt, erreichten die Phöniker ebenso wie griechische Kaufleute die Iberische Halbinsel, und auch auf die Präsenz der Griechen in Ägypten weist Herodot mehrmals hin. Auch die von Herodot erzählten Mythen sind nicht an eine einzige Landschaft gebunden. So werden einzelne Taten des Herakles genau lokalisiert. Signifikant vor allem ist, so Schneider, „dass der westlichste Punkt des Mittelmeeres, die Meerenge zwischen der Iberischen Halbinsel und Afrika, untrennbar mit dem 4 Vgl. auch die kritischen Anmerkungen von D. Timpe, Der Mythos vom Mittelmeerraum:

Über die Grenzen der alten Welt. Chiron, 34, 2004, S. 3–23.

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Namen des Herakles verbunden ist, denn die Gebirge an der Meerenge wurden als die Säulen des Herakles bezeichnet, die das von den Griechen befahrene Meer von dem äußeren Meer trennen. Als Herodot Nachforschungen über Herkunft und Alter des Herakleskultus anstellte, ging er nach Tyros, wo ein Tempel des Herakles existierte. In seiner Beschreibung des Tempels erwähnt Herodot, dass zwei Säulen darin standen, ‚die eine aus reinem Gold, die andere aus Smaragd, der in den Nächten herrlich leuchtete’. Der äußerste Westen war auf diese Weise mit dem äußersten Osten des Mittelmeeres durch den Namen des Herakles verbunden, und die Säulen, die in einem Tempel einer Stadt der Levante standen, wurden zum Namensgeber der Meerenge im Westen … An der Einheit des Mittelmeeres und des Mittelmeerraumes bestand spätestens in dem Werk Herodots, das die Welt des 6. Jahrhunderts v. Chr. beschreibt, keinerlei Zweifel“ – mit welchen Worten Helmut Schneiders Beitrag schließt.5 Der Münchner Systemtheoretiker Rainer E. Zimmermann rekonstruiert speziell das Kommunikationsnetzwerk der altgriechischen Poleis, dessen Knotenpunkte er Metropolen nennt. Und: Jede Metropolis definiert „hinsichtlich der von ihr begründeten Kolonien bzw. der von diesen anschließend begründeten Kolonien ein eigenes Netzwerk, weil die Kolonien zwar autark und autonom sind, gleichwohl aber kulturelle und zum Teil auch politische Bindungen mit der Metropolis unterhalten. Mit anderen Worten: Das Netzwerk der griechischen Poleis ist ein Netzwerk, das selbst aus Netzwerken besteht. Oder anders gesagt: Die Welt der griechischen Mittelmeer-Kolonien ist eine kleine Welt, die aus kleinen Welten besteht. Das aber gerade hat zur Folge, dass trotz der mitunter enormen Entfernungen die Stabilität der Netzwerke über einen langen Zeitraum hinweg stabil geblieben ist.“6 Der Tübinger Religionshistoriker Hubert Cancik geht den mittelmeerischen Verkehrsverhältnissen zur Zeit des mare nostrum (= Romanum) nach, speziell in apostolischer Zeit: aufgrund des lukanischen Geschichtswerks, das wie kein anderes antikes, trotz einer langen und breiten Vorgängertradition nicht jüdischchristlicher Deszendenz, umfangreich, detailliert und genau eine Fahrt durch große Teile des Mittelmeers schildert: In nur 60 Versen schreibt Lukas „einen klassischen Mittelmeertext, wenig rhetorisiert, mit zahlreichen nautischen Details. Keine andere Landschaft hat er so ausführlich und intensiv geschildert wie das mare internum“ – im Hebräischen „das große“ bzw. „hintere Meer“ geheißen –, „nicht Galiläa, nicht seine vermutete kilikische Heimat, deren Dialekt er gesprochen haben soll, oder das Hügelland von Iudaea. Wo gibt es – nach Länge, Konkretion, Genauigkeit, Stil – ähnliche Texte in der antiken Literatur?“ 5 Zur Herausbildung der klassischen Mittelmeerwelt vgl. jetzt auch C. Broodbank, The Mak-

ing of the Middle Sea. A History of the Mediterranean from the Beginning to the Emergence of the Classical World. Oxford 2013. 6 Vgl. dazu jetzt auch die ausgezeichnete Studie von I. Malkin, A Small Greek World. Networks in the Ancient Mediterranean. Oxford 2011.

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Canciks Abschlussfrage lautet, gleichfalls so überraschend wie einleuchtend, „weshalb Lukas das so gemacht hat. Gewiss wird ein heroischer Paulus sichtbar: ein Warner mit prophetischen Gaben, ein besonnener Ratgeber in großer Not, ein Wundermann, ja ein theós, dem ein Schlangenbiss nicht schadet. Aber braucht es für dieses Paulus-Bild den Eurakylon, Treibanker, Vormastsegel und die Umgürtung des Schiffes?“ Überhaupt die so gewissenhafte Schilderung des mediterranen R a u m s , in dem sich der ‚Völkerapostel’ bewegt?! ⁎⁎⁎ Der Tübinger Altorientalist Wolfgang Röllig wendet sich dem antiken Mittelmeerraum als (un-)einheitlichem Sprach- und Schriftraum zu, seit dem 3. bzw. 2. vorchristlichen Jahrtausend, wobei Röllig an Schneiders und Zimmermanns handelshistorische Ausführungen anknüpfen kann: „Es ist unmöglich, erfolgreich Handel zu treiben, ohne mit denjenigen, die liefern oder die man selbst beliefert, ins Gespräch zu kommen.“ So bediente man sich z. B. in Ugarit im Interesse der Kommunikation mit den Nachbarländern der dort gebräuchlichen Schriftsysteme, im internen Gebrauch entwickelte und pflegte man freilich seine eigene Tradition. Röllig resümiert zwischen: „Die Mittelmeeranrainer der Spätbronzezeit benutzten im internationalen Verkehr die Keilschrift und – als lingua franca – das Akkadische, wenn auch häufig mit lokalen sprachlichen Einsprengseln oder Glossen. Das wissen wir aus dem Archiv von Keilschrifttexten, das in Tell elAmarna gefunden wurde, der von Pharao Amenophis IV. Echnaton gegründeten neuen Hauptstadt Ägyptens namens Achet-Aton … Sie belegen eindrucksvoll, dass das enge Geflecht diplomatischer Beziehungen mit der Hilfe der Keilschrift und der akkadischen Sprache aufrechterhalten wurde, und dass damals bereits eine Art politischer Oekumene entstanden war. Zu ihr gehörten … auch die Staaten an der libanesisch-palästinensischen Küste, in denen bereits damals die Anfänge eines neuen Schreibsystems erprobt wurden“: des phönikisch-griechisch-lateinischen der von Röllig anschließend behandelten Eisenzeit. Der Tel Aviver Hethitologe Amir Gilan verortet die Hethiter in ihrem mediterranen Umfeld. Er stellt insbesondere ihren wechselseitigen Einfluss auf die frühen Mittelmeerkulturen heraus und relativiert damit das Bild der Hethiter als einer stark abgeschlossenen Kultur. Es wird deutlich, dass sie etwa auf religiösem Gebiet in einem dynamischen Austauschverhältnis standen, das auch in Zeiten der neohethitischen Nachfolgestaaten nicht abbrach. Am Fallbeispiel der Hethiter dekonstruiert Gilan das Bild hermetisch abgeschlossener oder fest definierter Kulturen überhaupt und profiliert im Gegenteil eine typisch vorderorientalische Hybridkulur als früh m e d i t e r r a n e. Der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer wirft einen nochmaligen Blick auf die Handelsnetzwerke der Phöniker. Ihm geht es vor allem um ein Verständnis darüber, wie solche Netzwerke entstehen konnten und wie es zu der un-

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gewöhnlichen Balanceverschiebung von Osten nach Westen im eisenzeitlichen Mittelmeerraum kam. Sommer zeichnet das Bild eines polyzentrischen phönikisch-punischen Mittelmeerraums, dominiert zu verschiedenen Zeiten von Tyros oder Karthago, jedoch im Wesentlichen offen und geprägt von k l e i n r ä u m i g e n Netzwerken. Sein phönikisch-punischer Mittelmeerraum ist ein pluriverses Universum in sich selbst und in ständigem Austausch mit anderen mediterranen Ethnien, Kulturen, Staaten und Reichen. ⁎⁎⁎ Der Bochumer Archäologe Achim Lichtenberger widmet sich der Zeit unmittelbar nach dem tiefen Kontinuitätsbruch der bronzezeitlichen Mittelmeerwelt, der 1200 v. Chr. begann und vier „Dunkle Jahrhunderte“ nach sich zog. Im achten vorchristlichen Jahrhundert, zur Zeit Homers, tauchten dann – parallel zu dessen auch religiöser Epik – erste figürliche Darstellungen griechischer Götter auf, doch diese Ägäis-Geschöpfe konnten ihre altorientalische Genese nicht verleugnen. Lichtenberger geht der Frage nach, wie es kommt, dass die Götter ikonographisch durch charakteristische Attribute identifiziert werden konnten. Dabei stellt er heraus, dass die spezifischen Bedingungen des Mittelmeerraums mit hoher „Konnektivität“ zu einer Kanonisierung der Attribute und damit mittelmeerweiten Erkennbarkeit der Götter führten und sich eine spezifisch griechische Ikonographie herausbildete. Der in Mexiko lehrende Pariser Philosophie-Historiker André Laks zeigt auf den Spuren seines späthellenistischen Vorgängers Diogenes Laertius, dass sogar die nachhomerische Philosophie Griechenlands in ihren Anfängen orientalisch beeinflusst, wenn nicht grundgelegt gewesen ist. Dieses antike Griechenland schloss ebenso Sizilien ein: die spätere Wiege griechisch-römischer Rhetorik, wie die ionische Küstenregion Kleinasiens. „Was wäre Thales ohne Milet im Osten und Pythagoras ohne Kroton im Westen?“ So fragt Laks, Diogenes’ Spurensuche ernster nehmend als dieser selbst; sogar außermittelmeerischer, wenn auch vom mare internum kanalisierter Einfluss auf die entstehende griechische Philosophie wird von Laks nicht ausgeschlossen, sogenannte ‚Barbarophilie’, unter Einschluss Ägyptens, Indiens und Persiens, keineswegs gescheut. Der Beitrag der Landauer Rhetorikerin Francesca Vidal ist griechisch-römisch zentriert, um freilich die breite Wirkung, langandauernde und heute noch aktuelle Bedeutung der „klassischen“ Rhetorik zu akzentuieren: Ihre Entstehung ist aufs engste mit der griechischen Polis-Demokratie verbunden, die sich von der nicht zuletzt persischen „Despotie“ so bewusst wie deutlich abgrenzte. Sie verstand sich dezidiert hellenisch, wenn man will europäisch. Und beim römischen Republikaner Cicero trat ein ausdrücklich humanistischer Anspruch hinzu, der idealiter universalistisch, faktisch jedoch griechisch-römisch ausgerichtet war. ⁎⁎⁎

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Unbeschadet dessen versuchte noch das sich je länger desto mehr als griechischer, jedenfalls hellenistischer Nachlassverwalter verstehende Imperium Romanum lange Zeit und nicht ohne Erfolg eine Gratwanderung zwischen multikultureller Vielfalt und imperialer Einheit, um freilich dann doch letztere zu favorisieren, gerade in religionibus. Der Hamburger Archäologe Burkhard Fehr rekonstruiert den relativ frühen Versuch Kaiser Hadrians mit Etablierung eines neuen / s e i n e s Gottes Antinous reichsintegrativ bzw. -vereinheitlichend zu wirken und damit verstärkte Loyalität gegenüber seiner politischen Führung zu bewirken. Der seit Augustus das ganze Reich umfassende Kaiserkult schien Hadrian das Fehlen eines allgemein verbindlichen Kults einer einzigen obersten Gottheit nicht länger kompensieren zu können. Das e i n e Reich und sein e i n e r Herrscher sollten endlich durch e i n e n Gott komplettiert und sanktioniert werden. Archäologiegemäß bezieht sich Fehrs Rekonstruktionsversuch vorzüglich auf Konzeption und Rezeption der vielfältigen Bildnisse des vergöttlichten Kaiserlieblings Antinous. Schon ihre Anzahl ist – nur von Augustus- und Hadrianporträts übertroffen – außerordentlich. Bemerkenswert darüber hinaus der henotheistische bzw. synkretistische Charakter der Antinous-Figuren und ihres Kults. Sie waren universal ausgerichtet, konnten zugleich aber lokalen Traditionen Rechnung tragen. Dennoch ist Hadrians religionspolitisches Unternehmen offenkundig gescheitert. Erst Konstantin und seine Nachfolger, die wohl aus ihres Vorgängers Misserfolg gelernt hatten, sollten auf ihre Weise ‚reüssieren’: „Christus, der unter ihrer Herrschaft zur Zentralgestalt der Staatsreligion aufstieg, war [im Unterschied zu Antinous, die Hrsg.] kein künstliches Produkt angestrengten theologischen Denkens, sondern eine Gottheit, deren Lebenskraft angesichts einer über drei Jahrhunderte hin ständig gewachsenen und über das ganze Imperium verbreiteten Anhängerschaft nicht zu bezweifeln war.“

Mit diesem Ausblick schließt Fehrs Beitrag. Der Berliner Iranist Götz König begibt sich auf linguistische bis philologische Suche nach „iranischen Wörtern“ im Mithraskult der römischen Kaiserzeit, um dadurch dessen a u c h iranische Wurzeln gegenüber in den letzten Jahrzehnten aufgekommenem Zweifeln wenigstens ein Stück weit zu plausibilisieren. – Abgerundet wird unsere Rubrik „Römisch-imperiale Synkrasien“ durch den Erfurter Religionshistoriker Jörg Rüpke. Seine zusammenfassende Tour d’horizon „Das Imperium Romanum als Religionsgeschichtlicher Raum“, die weit vor Hadrian bis in die späte Republik zurückreicht und über Hadrian hinaus auf die späte Kaiserzeit vorausgreift, am Leitfaden einer Interdependenz von „Reichs-“ und „Provinzialreligion“. Gerade aus ihrem konzertierten Zusammenspiel ergibt sich das nur scheinbare Paradox eines „Pluriversen Universums“ griechisch-römischer Prädominanz. Noch Konkurrenz, aber auch Interferenz von öffentlicher und privater Religion (wenn

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nicht gar Religiosität) dienen zunächst einmal dem labilen Gleichgewicht, das mit der Formel „Pluriverses Universum“ notwendigerweise konnotiert wird. ⁎⁎⁎ Eine besondere Stellung und Entwicklung im Mittelmeerraum sowie im Imperium Romanum nimmt das alte Israel ein und die aus ihm hervorgehenden Diasporajudentum und das Christentum. Ihnen und ihren wechselseitigen, vor allem aber den mehr oder weniger konfliktreichen Beziehungen der drei monotheistischen und offenbarungsgläubigen Gruppierungen zu ihrer hellenistischen bzw. römisch-imperialen Umwelt, den ‚Weltmächten’ im vielfachen Sinn des Wortes, widmen sich die anschließenden Beiträge. Die Jerusalemer Philosophiehistorikerin Maren R. Niehoff stellt sich mit Blick auf den transkulturellen Philon von Alexandria die Frage: „Wie wird man [als gesetzestreuer Jude] ein Mediterraner Denker?“ und beantwortet sie zusammenfassend wie folgt: „Eine wichtige Ingredienz ist gute Abstammung und Aufwachsen in einer Hafenmetropole. Ohne die Bildung, die Philon von Kindesalter an genoss, und ohne das private Vermögen, über das er verfügte, hätte er sicher nicht als Leiter der jüdischen Gesandtschaft nach Rom fungieren können. Seine Heimatstadt Alexandria bot geradezu ideale Möglichkeiten für einen solchen Aufstieg. Dank seiner politischen Aktivität hat Philon lokale Kreise und inner-jüdische Fragestellungen transzendiert und wurde zu einem mediterranen Schriftsteller mit Blick für spezifisch römische Perspektiven. Ironischerweise machte ihn gerade diese kulturelle Hybridität zu einem typisch mediterranen Denker, der wie viele seiner Kollegen in der Second Sophistic mehrere Kulturen und Identitäten zu jonglieren wusste.“ Die nicht weniger repräsentative Fallstudie des Berliner Althistorikers Ernst Baltrusch gilt dem „pluriversen“ Flavius Josephus, wobei er die allgemeinstmögliche Frage stets im Auge behält: „Wie fügte sich das Judentum in die ‚mediterrane’ Gesellschaft und ihre Strukturprinzipien ein?“ Schließlich hat Josephus, der sich nach Aufgabe seines zelotischen Nativismus gezielt „Flavius“ nannte, selbstbewusst wie kaum ein anderer seiner jüdischen Zeitgenossen, die gleichberechtigte Integration des Judentums in die dominierende griechisch-römische Gesellschaft angestrebt. Er war mindestens so sehr ein jüdischer Römer wie ein römischer Jude, darüber hinaus ein über alle Künste hellenistischen Literatentums verfügender Intellektueller, der sich gerade auch einem nichtjüdischen Publikum verständlich zu machen wusste. Der Frage, wie sich das Judentum insgesamt nach den Katastrophen der jüdischen Kriege neuformieren konnte, geht der Berliner Judaist Lennart Lehmhaus, unter der Überschrift: „Judentum, Diaspora und rabbinische Bewegung im mediterranen Kontext“ nach. Wichtige Voraussetzung seiner Antwort ist die Entstehung eines regionalen Diasporajudentums in Palästina selbst – nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels: schon für Baltrusch die Zäsur schlechthin.

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Außerdem geht Lehmhaus im Anschluss an die jüngere Forschung davon aus, dass die Rabbinen eine heterogene Gruppe oder ein Gelehrtennetzwerk bildeten, das nicht zwingend repräsentativ für weitere jüdische Kreise war. Obwohl sie sich selbst als kulturell-religiöse Elite verstanden, hatten sie kaum weitreichende politische Macht. Ihr gradueller Aufstieg zu einer kulturell bestimmenden Größe sowie die volle Konsolidierung einer „talmudischen Kultur“ fällt wohl eher in die frühislamische, gaonäische Zeit, also eine nachantike/frühmittelalterliche Periode. Unbeschadet dessen lautet Lehmhaus’ Antwort auf die Frage von Baltrusch: „Wie konnte man sich jetzt“ – nach der Tempelzerstörung – „religiös und politisch neuformieren?“, dass die Fortführung und gleichzeitig der Beginn eines neuen, jüdisch kulturell-religiösen Lebens in der mediterranen Diaspora von der R a b b i n i s c h e n B e w e g u n g verkörpert wurden. ⁎⁎⁎ Kein unwichtiger Katalysator beim Formierungsprozess des Rabbinismus dürfte die Definition des Christentums als universaler, panmediterraner Religion gespielt haben. Auf diese Definition, in den „Ökumenischen Konzilien“ der späten Kaiserzeit terminierend, zielt die letzte Rubrik des vorliegenden Sammelbandes, anhebend mit dem Doppelporträt Jesu und Pauli, das die beiden Bibelwissenschaftler Wolfgang und Ekkehard Stegemann (Neuendettelsau/Basel) skizzieren. Sie polarisieren die beiden: den ‚ländlichen’ Jesus und den ‚städtischen’ Paulus, jedoch nicht ohne auch bei ersterem mediterrane Bikulturalität zu konstatieren. Nicht unwichtig erscheint dabei, dass es nie um Jesus selbst, sondern stets um die Jesusbewegungen (im Plural!) geht. Diese repräsentierten allein schon deshalb einen Typ mediterraner Hybridität, weil ihnen, mit Paulus gesprochen, Juden, Hellenen und ‚Barbaren’ angehörten. Paulus selbst ist nicht nur als historische P e r s o n fassbar, sondern auch als kompetenter Koine-Sprecher und in der Rhetorik, jedenfalls Epistolographie Gebildeter p r o f i l i e r b a r. Doch gerade auch die ein Stück weit anonymen Jesusbewegungen – einschließlich der ländlichen – waren bestimmt von den ökonomischen und sozialen Lebensumständen, die rings ums Mittelmeer, inzwischen das mare nostrum, s t r u k t u r e l l ähnlich waren. Die Stegemanns plausibilisieren diese ihre religionssoziologische Grundthese durch einen Vergleich reziproker Sozialbeziehungen christlicher, griechischer, jüdischer und römischer Art. Dabei achten sie sowohl auf Identität und Differenz als auch auf Praxis und Theorie. Was letztere angeht, sind den Stegemanns Hesiod, Aristoteles und Seneca nicht weniger wichtig als alt- und neutestamentliche Perikopen. Das gesamtbiblische Schlüsselwort ist dabei, wenig überraschend, „Nächstenliebe“ und das speziell in seiner synoptischen, „die Feinde“ einbeziehenden Interpretation. Sie nämlich sehen die Stegemanns konvergieren mit dem universalistischen Wohltätig-

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keitsprogramm Senecas. Bei Paulus kann wohl sogar von einem stoischen E i n f l u s s ausgegangen werden, ohne dass dadurch der jüdisch-apokalyptische Charakter seiner Theologie in Frage gestellt wird. Vielmehr lässt das Bikulturalitätsparadigma bei Paulus mit dem Vorkommen von Elementen aus jüdischer wie griechisch-römischer Tradition rechnen. Der Berliner Religionssoziologe Richard Faber rekonstruiert holzschnittartig den Entjudaisierungs- und Entchristianisierungsprozess der spätantiken Großkirche: ihren graeco-römischen Etatisierungs- und Imperialisierungsprozess, bis hin zur Konstantinischen Wende und einigen ihrer Folgen: „Bisher war die christliche Bewegung von unten nach oben gegangen, nun erfolgte unter Konstantin die Umwälzung von der Spitze her, und sie musste es wohl, da sich vorher bestenfalls ein Fünftel, wenn nicht gar nur ein Zehntel der Bevölkerung zu der lang und heftig verfolgten Religionsgemeinschaft bekannte – falls man das Ziel einer ‚christlichen’ Theokratie hatte. Darauf liefen aber tatsächlich alle Anstrengungen Konstantins und seiner Hoftheologie hinaus“: „K e i n Bischof hat in Nicäa dagegen ein Wort des Widerspruchs gewagt, dass ein universales Credo lediglich durch die Autorität des Kaisers zustande kam, der als Katechumen nicht das mindeste Recht hatte, über die höchsten Geheimnisse des Glaubens mitzureden. – Zwar war die Kirche von Anfang an gewillt, dem Staat zu geben, was dem Staat als dem Ausdruck des ‚göttlichen Schöpfungswillen’ zu gebühren schien, ja bereits mit Tertullian hatte sie den Kaiser – gegen den selbstverständlich kein aktiver Widerstand erlaubt war – für sich selbst reklamiert, weil er von i h r e m Gott eingesetzt wäre, aber genauso hatte sie sich doch daran gestoßen, dass der Kaiser nicht nur weltlicher Herrscher sein sollte, sondern auch Priester: H o h e r-Priester. Nun aber, nachdem sie sich in der Rolle gefiel, die stärkste staatserhaltende Macht zu sein, war dies alles vergessen. Mit F r e u d e ließ sie sich von Konstantin als volkserzieherische Autorität und als öffentliche Weltanschauung missbrauchen: ‚Niemals (zuvor) hat ein Kaiser über die Kirche so triumphiert wie Konstantin’ (wie Eduard Schwarz schon vor vielen Jahrzehnten konstatierte).“

Faber zieht, das hierokratische Papsttum keineswegs vergessend, die cäsaropapistische Linie von Kostantin über Byzanz, Karl den Großen und Otto III. durch bis zum Hohenstaufen Friedrich II., der auf ‚der Höhe’ der mit ihm einsetzenden Neuzeit das Kaisertum repaganisierte – gerade auch dadurch, dass er sich zum „alter Christus“ proklamierte und allein schon deshalb d e i f i z i e r t e. Der Bochumer Alttestamentler Jürgen Ebach blickt sogar voraus auf Kaiser Wilhelm II., der ein großer Verehrer des hohenstaufischen Friedrich II. gewesen ist.7 Ebach erinnert freilich an des letzten deutschen Kaisers – am Metzer Dom 7 Vgl. R. Faber, Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels und Ernst H. Kan-

torowicz’ Die zwei Körper des Königs. Ein Vergleich, in: W. Ernst / C. Vismann (Hrsg.), Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz. München 1998, S. 171–73.

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Stein gewordene – Daniel-Rezeption, die in einer langen, mit den Hohenzollern keineswegs endenden r e i c h s t h e o l o g i s c h e n Tradition steht.8 Doch natürlich erlaubt der letzte Prophet und/oder erste Apokalyptiker Daniel vor allem einen Rückblick, weit hinter Römisches Reich und hellenistische Diadochen zurück, bis auf die unter dem geradezu mythischen Namen „Babylon“ subsummierbaren Großreiche des Alten Orient. Ebach nützt beide Chancen: die des Rück- wie des Vorblicks, um so überrepräsentativ eine longue durée des Mittelmeerraums seiner Großräumigkeit an die Seite zu stellen – im ersteren Fall eine bestimmte Kontinuität und im letzteren Universalität alias Imperialität akzentuierend. Notwendigerweise kommt er dabei nicht zuletzt auf Vergil zu sprechen. ⁎⁎⁎ Vergil galt lange, gilt manchen immer noch als „Vater des Abendlandes“,9 doch diesem voraus ging und gegen es s t e h t der Mittelmeerraum, als ein pluriverses, ‚den Orient’ voll einbeziehendes Universum. Bereits die von der Berliner Althistorikerin Monika Schuol verfasste Einleitung in unseren Sammelband – sie kann auch als dessen partielle Zusammenfassung gelesen werden – kommt zu diesem Ergebnis, überschrieben eben mit: „Der antike Mittelmeerraum: Ein pluriverses Universum“. Schuol betont: „Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich als eine diachrone Betrachtung des Mittelmeerraumes, die in erster Linie auf den Zeitraum zwischen 3000 v. Chr. und dem 6. Jahrhundert n. Chr. fokussiert. Berücksichtigung finden sowohl die geographische als auch die ökonomische und die historisch-anthropologische Geschehensebene. Das Ziel ist es, geographische und klimatische Gegebenheiten mit den längerfristigen Zeitabläufen und großräumigen Entwicklungen in den Regionen rund um das Mittelmeer in Beziehung zu setzen und in ihrer jeweiligen Relevanz für die gesamte mediterrane Oikumene in ihrer Vielschichtigkeit als kulturelle Drehscheibe Afrikas, Asiens und Europas zu analysieren. Auf Grund der Komplexität einer so langen Zeitspanne und eines so großen geographischen Raumes kann die vorliegende Darstellung freilich nur exemplarischen Charakter haben“ – gerade so aber zu weiteren Forschungen anregen wie unser Unternehmen insgesamt. Fast überflüssig zu erwähnen: Selbst der Sammelband ist höchst unvollständig; Untersuchungen zu den Kulturen des Zweistromlandes und ihren Außenkontakten fehlen ebenso wie solche zu den altägyptischen Reichen und ihrem reichen Erbe, gerade auch in wissenschaftlicher, nicht zuletzt astronomischer und medizinischer Hinsicht. Desgleichen ist die Beschäftigung mit dem Perserreich dringendes Desiderat, und das nicht nur wegen seiner Bedeutung für die Reiche 8 Vgl. K. Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie

und Diktatur (1929–1934). München 1969.

9 Vgl. R. Faber, Abendland. Ein politischer Kampfbegriff. Berlin / Wien 2002 (2. Aufl.).

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Alexanders und seiner Nachfolger. Freilich bleiben auch sie unterbelichtet, und selbst Alexandria, die hellenistische Metropole schlechthin, erfährt nicht die Beachtung, die sie gerade unter plurivers-universaler Perspektive verdient. Immerhin wird mit Philon ein alexandrinischer Jude gewürdigt. Das alte, palästinensische Israel, nicht zuletzt seine Könige und Propheten bleiben gleichfalls unbehandelt – was noch im Blick auf die Jesusbewegungen fast unentschuldbar ist. Andererseits war es nicht unsere Intention, eine jüdisch-christliche Teleologie des antiken Mittelmeerraums zu fingieren, sondern ganz im Gegenteil auch historische Seitenentwicklungen wie etwa den Mithraskult zumindest anzudeuten. Und dem Synkretismus-Begriff wollten wir seine negative Konnotation nehmen: ‚Synkretismus ist eher das Normale als das Anormale.’ Dass diese Generalannahme Differentialanalyse geradezu erzwingt, ist nicht einmal paradox, zugleich freilich ein ethisches Gebot der Gerechtigkeit: Weder „Athen“ noch „Jerusalem“ oder „Rom“ dürfen einseitig monopolisiert oder privilegiert werden. Jedes Verdienst muss in angemessener Weise gewürdigt werden: einmal mehr das eine, das andere Mal mehr das andere und/oder nochmals andere. ⁎⁎⁎ Hatte Fernand Braudel die Einheit und die Einheitlichkeit des vormodernen Mittelmeerraums stark betont, so haben Peregrine Horden und Nicholas Purcell in ihrem nicht minder monumentalen Werk „The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History“ (2000) einen anderen Akzent gesetzt.10 Sie wiesen auf die Fragmentierung des Mittelmeerraums in „micro-regions“ hin, die aber dank hoher Konnektivität potentiell überwindbar war und ist. Der Mittelmeerraum besitzt also stets Heterogenitäts- wie auch Homogenitätspotentiale. Unser Band über das pluriverse Universum Mittelmeerraum möchte Braudel und Horden / Purcell zusammenbringen. Stärker als Horden / Purcell betonen wir mit Braudel die Einheit des antiken Mittelmeers und nehmen zugleich die „micro-regions“ von Horden / Purcell ernst, ohne die Unterschiede und die regionalen Besonderheiten des antiken Mittelmeerraums zu nivellieren. Obschon zuletzt Greg Woolf gravierende Bedenken gegen die Anwendung mediterranistischer Konzepte auf die antike Religionsgeschichte geäußert hat11 – er hat sicher Recht, dass solche Konzepte nicht alles erklären können – so scheint uns der antike Mittelmeerraum doch ein geeignetes Reallaboratorium zu sein, um antike Religionsgeschichte zu analysieren und dabei den Raum mit seinen spezifischen marinen Bedingungen zu profilieren. Wir hoffen, dass uns das mit dem vorliegenden Band gelungen ist. Ein Gutteil seiner Beiträge geht auf eine Tagung im Juli 2013 an der Ruhr-Universität Bochum zurück. Bei der Organisation der Tagung, die eine Kooperation des Bochu10 s. o. Anm. 3. 11 G. Woolf, A Sea of Faith?, in: I. Malkin (Hrsg.): Mediterranean Paradigms and Classical An-

tiquity. London u. a. 2005, S. 126–143.

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mer Käte-Hamburger-Kollegs „Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa“ mit dem „Zentrum für Mittelmeerstudien“ (ZMS) war, haben uns insbesondere Gwendolin Arnold, Brigitte Guthmann und Eleni Markakidou geholfen. Ihnen sei sehr herzlich für die effiziente Unterstützung und Organisation gedankt. Für die Hilfe bei der Drucklegung des Bandes danken wir insbesondere Bernd Lehnhoff. Finanziert wurden die Tagung und die Drucklegung des Bandes durch Mittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), dem wir dafür zu Dank verpflichtet sind. Wichtige Hinweise sind Nikolas Jaspert, Uwe Puschner, Christoph Schulte und Guy Stroumsa geschuldet. Vor allem aber sind wir unserem Freund Volkhard Krech verpflichtet, dem Direktor des Bochumer Centrums für Religionswissenschaftliche Studien (CERES), der uns stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Berlin / Bochum, Januar 2015 Richard Faber / Achim Lichtenberger

Einleitung

Monika Schuol Der antike Mittelmeerraum: Ein pluriverses Universum Einleitung Als die griechischen Kolonisten der archaischen Zeit ihren Mutterstädten ‒ zumeist unfreiwillig in Folge von Mangelsituationen (Dürre- und Hungerkatastrophen, Landknappheit) ‒ den Rücken kehrten, machten sie denjenigen Teil der Mittelmeerküste zu ihrer neuen Heimat, „der sich vom Phasis bis zu den Säulen des Herakles erstreckt und hocken um das Meer wie Ameisen und Frösche um einen Teich“ (Plat. Phaid. 109b). Zu diesem Zeitpunkt konnte das Mediterraneum bereits auf eine mehr als 2000-jährige, von den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens mitgestaltete Geschichte zurückblicken, die wiederum prägend wirkte auf die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der griechischen Welt. Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich im Sinne der longue durée als eine diachrone Betrachtung des Mittelmeerraumes, die in erster Linie auf den Zeitraum zwischen 3000 v. Chr. und dem 6. Jh. n. Chr. fokussiert, auf Grund der Komplexität einer so langen Zeitspanne und eines so großen geographischen Raumes aber nur exemplarischen Charakter haben kann. Anknüpfend an Fernand Braudel verstehe ich den Mittelmeerraum als eine „Geschichtsregion“, in der geographische und wirtschaftshistorische Aspekte menschliches Handeln strukturieren, wobei die Akteure diesen geohistorischen Rahmen selbst geschaffen haben.1 Berücksichtigung finden sowohl die geographische als auch die ökonomische und die historisch-anthropologische Geschehensebene. Das Ziel ist es, geographische und klimatische Gegebenheiten mit den längerfristigen Zeitabläufen und großräumigen Entwicklungen in den Regionen rund um das Mittelmeer 1 Braudel 1949; vgl. dazu Burke 1991, 37‒41; Kaser 2007, 75‒97, hier 77f. ‒ In der Tradition

von Fernand Braudel steht auch Horden/Purcell 2000, gewissermaßen „a Braudel before Braudel, a Braudel for antiquity and the Middle Ages“ (Whittow 2001, 900‒902, hier 900); Braudel zu verdanken ist z. B. auch das Mittelmeermodell von Malkin 2005. Skeptisch gegenüber dem Mittelmeerraum als heuristisches oder analytisches Modell zeigt sich z. B. Timpe 2004: Prägend seien „weiträumige Übergangszonen ohne scharfe Grenzen“ (S. 9), es fehle „ein geopolitisches Telos“ (S. 10), man habe „es immer nur mit Singularitäten zu tun, und deshalb fehlt der Maßstab des Typischen“ (S. 12).

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in Beziehung zu setzen und in ihrer jeweiligen Relevanz für die gesamte mediterrane Oikumene in ihrer Vielschichtigkeit als kulturelle Drehscheibe Afrikas, Asiens und Europas zu analysieren. Dabei wird dieser Kulturraum als polyzentrisch und geprägt von profilierten, durch erhebliches Innovationspotenzial weit über ihr eigenes Territorium hinaus wirkenden Akteuren wie Ägypten, die Kykladen, das Assyrerreich, die Phönizier, Athen, Rom oder Alexandria aufgefasst. Der Fokus liegt auf den „langlebigen Strukturen“, die „zu stabilen Elementen einer unendlichen Kette von Generationen“2 werden, den Ablauf von Geschichte gewissermaßen blockieren und bestimmen. Die besondere Aufmerksamkeit gilt den Verkehrsverbindungen, die Braudel als „Infrastruktur jeder kohärenten Geschichte“3 bezeichnet.

I. Zwischen Elysium und Katastrophenerfahrung: Die naturräumlichen Gegebenheiten in der antiken Mittelmeerwelt Was die griechischen Kolonisten der archaischen Zeit dazu treibt, sich „wie Frösche um einen Teich um das Meer herum“ anzusiedeln und die neuen Siedlungsgebiete notfalls auch mit Gewalt in Besitz zu nehmen (so z.B. auf Sizilien), ist zweifellos die Suche nach guten Hafenplätzen, um sich in längst bestehende Handelsnetzwerke zwischen Italien, Griechenland und Afrika einzuklinken. Wichtig für die Ortswahl der Koloniegründung waren auch gute Verteidigungsmöglichkeiten, ackerbaufähiges Land, fischreiche Gewässer und Süßwasser.4 Begünstigt, ja überhaupt erst ermöglicht, wurde diese Form frühgriechischer Mobilität mit dem Ergebnis einer stetigen Siedlungsverdichtung insbesondere an den Küsten durch die naturräumlichen Gegebenheiten des Mittelmeerraumes: Generell ist der Mittelmeerraum geprägt von milden, regenfeuchten Wintern und heißen, trockenen Sommern. In dem gemäßigten semiariden Klima herrscht eine üppige Vegetation mit winterlicher Ruhepause vor.5 Verglichen mit den Klimaten der nördlich und südlich angrenzenden Kontinentalmassen mit teils langen Trocken- und extremen Dürreperioden und großem Tag-/NachtTemperaturgefälle (Wüsten- und Steppenklimate) ist das Mittelmeergebiet durch ein angenehmes Klima begünstigt. Der Militärhistoriker Vegetius (mil. 4, 39) im 4. Jh. n. Chr. spricht für die Zeit der Winterstürme vom mare clausum und weckt damit die falsche Vorstellung, dass der Schiffsverkehr in den Wintermonaten während der schweren Stürme vollkommen zum Erliegen gekommen sei; für 2 Braudel 1977, 47‒85, hier 55. 3 Braudel 1994, Band 1, 407. 4 Zur großen griechischen Kolonisation vgl. z. B.Miller 1997; Boardman 2003; Tsetskhladze

2006/2008.

5 Häckel 2012, 234; Woodward 2009; Beresford 2013, 53‒105.

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den Zeitraum zwischen November und März sind jedoch Fahrten über das Mittelmeer durchaus belegt, wenngleich in geringerem Ausmaß als im Frühjahr und Sommer.6 Freilich bot das Leben im Mittelmeerraum nicht nur die Annehmlichkeiten eines milden Klimas und lukrativer Fernhandelsaktivitäten, sondern verlangte den dortigen überwiegend bäuerlich geprägten Gesellschaften harte Arbeit und sparsames Wirtschaften als Grundlage für Wohlstand und gesellschaftliches Ansehen ab. Die Menschen bauten zur Überbrückung von Notsituationen lokal eng begrenzte Netzwerke auf (Nachbarschaftshilfe) und zeigten sich demzufolge sehr ortsgebunden; angesichts dieser Lebensumstände ermahnte Hesiod seinen arbeitsscheuen Bruder: „Arbeite, hochgeborener Perses, damit der Hunger dich hasse“, denn „vor das Gutsein haben die unsterblichen Götter den Schweiß dir gesetzt.“ (Hes. erg. 288f. 298f.). Hesiod warnte, den eigenen Vater als abschreckendes Beispiel vor Augen, vor der Hoffnung auf Gewinne beim Seehandel und formulierte pointiert das Ideal einer agrarischen Gesellschaft: „Besser ist es zuhause, denn vor der Türe droht Schaden“ (erg. 364. 634‒369). Dementsprechend ambivalent war die Wahrnehmung alles Fremden: So galten zwar die buntgefärbten, von Frauen „aus Sidon“ angefertigten, also aus Phönizien importierten Gewänder (Hom. Il. 6, 288‒295) und ein konkurrenzlos schönes, als Kampfpreis bei den Leichenspielen zu Ehren des Patroklos vergebenes phönizisches Silbergefäß (Hom. Il. 23, 741‒743) als exotische und begehrte Luxusgüter.7 Aber die Phönizier fanden nicht nur Bewunderung als „Helden der Schifffahrt“, sondern wurden zugleich geschmäht als „Halunken“ (Hom. Od. 15, 415f.). Denn selbst „ein Schiffsherr zu sein“ (Hom. Od. 8, 161), stand dem Idealbild des homerischen Helden, „dem echten Athleten“ (Hom. Od. 8, 164), diametral entgegen. Mitte des 5. Jh. n. Chr. unterstellte Salvian den „Scharen der syrischen Händler“ in Trier, der Hauptstadt der römischen Provinz Belgica prima, „Sinnen auf List und ständiges Lügendreschen“ (Salv. gub. 4, 15).8 Für Salvian war Handel (zusammen mit Zirkus- und Theaterleidenschaft, Aberglauben und Mord) Inbegriff von verkommener Moral und Sittenlosigkeit. Ebenfalls Teil der antiken Lebenswelt waren Vulkanausbrüche, Erdbeben und Flutwellen als „das außergewöhnliche Normale“,9 denn mitten durch das Mittelmeer verläuft die Subduktionszone zwischen Afrikanischer und Eurasischer Platte: Daher ist der Mittelmeerraum eine seismisch sehr aktive Region und gilt heute als die zweitgrößte Tsunami-Gefahrenzone der Welt.10 Der Vulkanausbruch 6 Veg. mil. 4, 39; Cod. Theod. 13, 9, 3 (Gratian, 6.2.380 n. Chr.). ‒ Beresford 2013, 14‒16. 22‒31.

255‒257.

7 Bichler 1996, 51‒74, hier 61f. 8 Zu Salv. gub. 4, 15 vgl. Heinz 2005, 185‒194, hier 188f. 9 Waldherr 1997, 10 10 Zu einem Überblick über die seismischen Aktivitäten im mediterranen Bereich vgl. Wald-

herr 1997, 35–46. – Zu den nachfolgend genannten Naturkatastrophen vgl. die Beiträge in

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auf der ägäischen Insel Thera im 17. Jh. v. Chr. zählte sicherlich zu den schlimmsten Naturkatastrophen der Bronzezeit. Wohl etwa 50 Städte im östlichen Mittelmeerraum (z. B. Ugarit und die Zitadelle von Tiryns) wurden zwischen 1225 und 1175 v. Chr. durch eine Reihe von Erdbeben zerstört. 464 v. Chr. hatte „das schrecklichste Erdbeben von allen, an die man sich früher erinnern konnte“ (Plut. Kimon 16, 3) in Sparta zahlreiche Menschen das Leben gekostet. Der Vesuvausbruch von 79 n. Chr. begrub Pompeji und Herculaneum unter einer hohen Ascheschicht. Ein Erdbeben und eine kurz darauf die Küste erreichende Flutwelle hatte im Jahr 373 v. Chr. Helike, eine bedeutende polis im Norden der Peloponnes am Korinthischen Golf, zerstört. Über eine ähnliche Katastrophe im Jahr 365 n. Chr., deren Auswirkungen offenbar in großen Teilen des östlichen Mittelmeerraumes zu spüren waren, berichtet z. B. Ammianus Marcellinus (26, 10, 15‒19). Eine Vielzahl von Erdbeben und anderer Katastrophen sind in den „Katastrophen-Clustern“11 des 6. Jh. n. Chr. für den östlichen Mittelmeerraum bezeugt: Zu den geschädigten Städten zählten z. B. Konstantinopel, Berytus und Antiochia. Erdbeben wurden als göttliche Vorzeichen für drohendes Unheil aufgefasst (Hdt. 6, 98) und das Erdbeben von Sparta (464 v. Chr.) als göttliche Strafe für einen Frevel an der versklavten Bevölkerungsgruppe der Heloten gedeutet; den Untergang von Helike verstand man als Strafe Poseidons für die Vertreibung (vielleicht sogar Tötung) von ionischen Gesandten, die ein Modell der Kultstatue aus dem Poseidon-Tempel erbeten hatten. Auch Unwetter zählten für die Küstenorte und den Schiffsreisenden mitsamt seinen Waren und Habseligkeiten zu den ständig präsenten und ruinösen Bedrohungen: Als Schiffbrüchiger hatte nur Odysseus nackt und schwimmend das rettende Ufer der Phäakeninsel Scheria erreicht (Hom. Od. 5, 333‒462); der 12. Gesang der Odyssee berichtet anschaulich von dem furchtbaren Schiffbruch, bei dem Odysseus alle seine Gefährten verlor (Hom. Od. 12, 409‒419). Der neureiche Emporkömmling Trimalchio erzählte seinen Tischgenossen beim Gastmahl, wie er im Seehandel enorme Gewinne erwirtschaftet, aber auch Schiffe verloren habe (Petr. Satyr. 76): „An einem einzigen Tag verschlang Neptun dreißig Millionen Sesterzen.“12 Dass der Verlust von Schiffen im antiken Mittelmeerraum keine Seltenheit war, bezeugen unzählige Schiffswracks entlang der Handelsrouten; mancherorts (z. B. am Kap Andreas an der Nordostspitze Zyperns) finden sich sogar regelrechte Schiffsfriedhöfe.13

Olshausen/Sonnabend 1998; Sonnabend 1999.

11 Zu den Naturkatastrophen der Jahre 526–528, 540–542, 557–559 vgl. Meier 2004, 644. 12 Börstinghaus 2010, 120. 13 Parker 1992; Kingsley 2004.

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II. „mit Pferden des Meeres das große Wasser durcheilen“: Die Mittelmeerwelt als Kommunikationsraum Überseeische Verbindungen waren für die Bewohner der Küstenregionen und der Inseln des Mittelmeeres für jeden Neuanfang und Aufstieg ‒ politisch, wirtschaftlich und kulturell ‒ nicht nur hilfreich, sondern sogar unerlässlich, ermöglichten aber auch Piratenangriffe, Invasionen überseeischer Feinde und die Etablierung von Fremdherrschaften.

Von der „Grenze des Meeres“ zum mare nostrum: Der politische Raum Als Verkehrsraum genutzt wurde das Mittelmeer bereits viele Jahrtausende vor der Großen griechischen Kolonisation.14 Exemplarisch verwiesen sei hier auf den Homo sapiens, der um 11.000 v. Chr. begann, zur Herstellung von Werkzeugen die Obsidianvorkommen auf der Kykladeninsel Melos auszubeuten. Für das achte Jahrtausend v. Chr. (Lithische Phase VIII/Spätmesolithikum) auf der südlichen Peloponnes (Franchthi-Höhle am Golf von Nauplion) und auf der nordägäischen Insel Youra („Zyklopenhöhle“) in größerer Menge nachgewiesen sind Steinartefakte, die aus melischem Obsidian gefertigt sind. Diese Rohmaterialversorgung bezeugt überregionale Kontakte mit der Fähigkeit zur Bewältigung zumindest kürzerer Strecken auf dem Wasserweg; von einer dauerhaften Besiedlung der Insel in dieser Zeit kann freilich keine Rede sein.15 Lange überseeische Kommunikationslinien über das östliche Mittelmeer hinweg etablierte erstmals das minoische Kreta:16 Intensive Außenbeziehungen der Minoer bestanden im 2. Jt. v. Chr. zu den südägäischen Inseln (insbesondere zu den Kykladen), nach Kleinasien, in den syrisch-palästinischen Raum, nach Ägypten und Babylon. Als Erben der Minoer kontrollierten die Träger der mykenischen Palastkultur von ihren großen Palastzentren (Mykene, Tiryns, Pylos, Theben, Orchomenos, Knossos, Kydonia auf Kreta) aus die gesamte Inselwelt mit Rhodos. Mit Milawanda (dem späteren Milet) verfügten sie auch über einen Brückenkopf an der anatolischen Westküste, wo sich also die mykenische und die hethitische Interessensphäre überschnitten. Zum Vorderen Orient, zu Zypern und zu Ägypten pflegten insbesondere Theben, Tiryns und Mykene intensive Kontakte.17 Das Mittelmeer geriet auch in den Gesichtskreis der altorientalischen Reiche: Als das „Obere Meer“ begrenzte es die altorientalische Oikumene im Nordwesten; das „Untere Meer“, der Persische Golf, war die südöstliche Begrenzung. Die 14 Zum prähistorischen Mittelmeerraum vgl. z. B. jüngst Broodbank 2013. 15 Perlès 2001, 20–51. 207f. 296 u. ö.; Sampson 2011. 16 Siebenmorgen 2000; Cline 2010. 17 Zur mykenischen Kultur vgl. Chadwick 2003; Schofield 2007; Duhoux/Morpurgo Davies

2008/2011.

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Wendung „vom Unteren … zum Oberen Meer“, artikuliert erstmals durch den sumerischen Stadtkönig Lugalzagesi von Uruk (ca. 2350 v. Chr.) und in ähnlicher Weise durch Sargon von Akkad (ca. 2334‒2279 v. Chr.), drückt königliche Herrschaftsansprüche aus; zugleich markiert dieser Topos der Eroberung der am weitesten entfernten Regionen die ungeheure Ausdehnung des eigenen Reiches.18 Auch die hethitischen Könige sahen das Mittelmeer zunächst als Begrenzung der eigenen Machtsphäre.19 Als zeitweilige Oberherrn von Zypern und Ugarit, mit ihren regelmäßigen Verbindungen zum Königreich von Aḫḫijawa (wohl gleichzusetzen mit dem mykenischen Griechenland einschließlich der ostägäischen Inseln)20 und Seehandelsverbindungen waren sie ebenso wie die konkurrierenden Reichsbildungen im ostmediterran-vorderorientalischen Raum (Ägypten, Babylonien, Assyrien und Aḫḫijawa) eine ernst zu nehmende politisch-geographische Größe des spätbronzezeitlichen Mittelmeerraumes. Die Anbindung an den Mittelmeerraum suchten auch die neuassyrischen Könige des 1. Jt. v. Chr., z. B. Tiglatpilesar III. (747‒727 v. Chr.) und Sargon II. (721‒705 v. Chr.): Ihre Expansionsbestrebungen zielten auf die Eingliederung Zyperns und der Levanteküste mit den phönizischen Städten in ihre politische Einflusssphäre.21 Erstmals unter Asarhaddon (680‒669 v. Chr.) rückte auch der von den phönizischen Schiffen beherrschte gesamte Mittelmeerraum von der levantinischen Küste bis Tartessos ins Visier des assyrischen Imperiums.22 War der assyrische Druck Auslöser für die phönizische Kolonisation? Die Gründung Karthagos ‒ den antiken Quellen zufolge im 814/3 v. Chr. durch Flüchtlinge aus Tyros erfolgt (FGrHist 566 F 60) ‒ passt jedenfalls gut in den Kontext der Expansionspolitik der neuassyrischen Könige Assurnasirpal II. (883 ‒859 v. Chr.) und Salmanassar III. (859‒824 v. Chr.) mit ihren erfolgreichen Feldzügen gegen Sidon, Tyros und Byblos. Phönizische Importe sind im ägäischen Raum aber bereits seit dem 11. Jh. v. Chr. nachweisbar, und die Präsenz phönizischer Luxusgüter ist im 10. und 9. Jh. v. Chr. festzustellen.23 Im frühen 8. Jh. v. Chr. entstanden erste phönizische Niederlassungen in der Ägäis und seit dem 7.Jh. v. Chr. auch im westlichen Mittelmeerraum (z. B. in Spanien Gades und Tartessos sowie Tharros auf Sardinien). Die Phönizier wurden zum bestimmenden Faktor des internationalen Seehandels und schufen als Seefahrer, Händler und Handwerker im Mittelmeerraum sich zunehmend verdichtende Netzwerke, bevor wenige Jahrzehnte später mit der Großen griechischen Kolonisation 18 Zu einem Überblick über die Kenntnis der Meere im Alten Orient vgl. Edzard 1993, 1‒3. 19 Wilhelm 1993, 3‒5. 20 Bryce 1999, 209‒214; Niemeier 2008, 291‒349; Niemeier 2012, 141‒180. 21 Lamprichs 1995, 97‒111. 22 Lang/Rollinger 2010, 207‒264, hier 234‒253. 23 Zu einem Überblick über die phönizische Geschichte und Kultur vgl. Krings 1995; Lipiński

2004; Röllig 2005, 536‒539; Sommer 2005.

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auch die Griechen in größerem Maßstab begannen, mit ihrem Schiffen „wie mit Pferden des Meeres das große Wasser (zu) durcheilen“ (Hom. Od. 4, 708f.). Nicht nur der Seehandel wandelte sich in Folge des Seevölkersturmes;24 auch die politische Landkarte des östlichen Mittelmeerraums hatte sich seit dem frühen 12. Jh. v. Chr. verändert: Sie war kleinteiliger geworden; nachweisbar ist allerdings an der Schwelle von der Spätbronze- zur frühen Eisenzeit (den sogenannten „dark ages“25 oder „crisis years“26) trotz zweifellos signifikanter Veränderungen vielerorts weniger ein harter Bruch als vielmehr eine lange Übergangsphase mit deutlich erkennbarer kultureller Kontinuität, aber auch politischen und gesellschaftlichen Strukturveränderungen. So hatten sich im kleinasiatisch-syrischen Raum als Nachfolgestaaten des Hethiterreiches die späthethitischen Fürstentümer etabliert, die zunächst hethitische Traditionen fortführten und sich erst im 10. und 9. Jh. v. Chr. aramäischen, phönizischen und assyrischen Einflüssen öffneten.27 Ebenso wenig markiert der Zusammenbruch der großen mykenischen Machtzentren in Knossos, Böotien und auf der Peloponnes das Ende der mykenischen Kultur: Vielmehr vollzog sich auch in Griechenland und den mykenisch geprägten Außensiedlungen in einem längeren Transformationsprozess der Übergang von der Dominanz der Palastherrschaften bis zur Entstehung einer institutionellen Ordnung in den sich formierenden archaischen poleis (z. B. in Athen).28 Auf der Basis „vorstaatlicher“ Formen des nachpalatialen Gemeinschaftslebens ‒ Führungspersönlichkeiten mit ihrem ebenfalls gesellschaftlich herausgehobenen Beraterkreis auf der einen Seite und Nachbarschafts- und Verwandtschaftsverbände auf der anderen Seite mit allgemein anerkannten Kompetenzen und Ordnungsfunktionen ‒ entstanden im 8. und 7. Jh. v. Chr. allmählich neue staatliche Strukturen. Das Ergebnis dieses Prozesses war die „Staatswerdung“ der Polis als eigenständiges Gemeinwesen durch Institutionalisierung ihrer öffentlichen Organe der politischen Willensbildung und Rechtspflege sowie der Leitung der Gemeinschaft.29 Mit gutem Recht resümiert Karl-Wilhelm Welwei, „dass das homerische Griechentum eine Welt im Aufbruch war“.30 Anders als die phönizische Konsonantenschrift, deren Kenntnis die „Griechen“ direkt in der vorderasiatisch-ägäischen Kontaktzone erlangt hatten, um auf dieser Grundlage das 24 Zum Seevölkersturm vgl. Oren 2000; Cline/O’Connor 2003, 107‒138. 25 Zum Begriff „dark ages“ vgl. Dickinson 2006; Siebenmorgen 2008. 26 Zum Begriff „crisis years“ vgl. Ward/Joukowsky 1992. 27 Bryce 2012; Liverani 2014, 448‒457. 28 Zum Übergang von der mykenischen in die archaische Zeit vgl. Thomas/Conant 1999;

Deger-Jalkotzy/Lemos 2006; Hall 2014, 41‒67. ‒ Zu Athen vgl. Welwei 1992a, 50‒75; Papadopulos 1993, 175‒206; Ruppenstein 2007. 29 Zur Entstehung der poleis und ihrer politischer Institutionen vgl. z. B. Welwei 1992a, 76‒127; Welwei 1998, 35‒89; Mitchell/Rhodes 2003; Stahl 2003, 126‒151; Hansen 2006. 30 Welwei 1992b, 481‒500.

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griechische Alphabet zu entwickeln, war die Formierung der Polis als neue Form des politischen Zusammenlebens eine innergriechische (endogene) Entwicklung, die an der Peripherie der altorientalischen Reiche stattfand: Sie vollzog sich zwar im stetigen Informationsfluss aus dem Vorderen Orient und war bedingt durch veränderte Mächtekonstellationen im Mittelmeerraum, wurde aber durch keinerlei Interventionen von außen gesteuert. Ebenso verbreitete sich das Wissen über geeignete ordnungsstiftende Akte, Rechtsordnungen und Regelungen im fortschreitenden Prozess der Institutionalisierung öffentlicher Aufgaben und zur Überwindung politischer und sozialer Krisen (staseis) innerhalb des Kommunikationsraumes „griechische Welt“,31 auch wenn in der literarischen Konstruktion der Akteure Lykurg und Solon die Inspiration der archaischen Gesetzgeber durch ältere Rechtsordnungen der antiken Welt (z. B. Kleinasien, Kreta und Ägypten) mitgedacht wurde.32 Auch die schrittweise verbreiterte politische Partizipation, das Recht und die Pflicht des Einzelnen zur Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess, wie sie Solon als „Schlichter“ (diallaktes) in einer Zeit großer innerer Spannungen mit seinen Reformen massiv vorangetrieben hat, sind originär griechische Innovationen in der archaischen Zeit. Die Zuteilung politischer Rechte auf der Basis eines Zensussystems und nicht nach Herkunft war wegweisend für die zukünftige Entwicklung der politischen Organisation Griechenlands. Die Untrennbarkeit von Waffenfähigkeit und politischer Mitsprache als Leitidee zur Etablierung einer neuen politischen Ordnung ist ebenso wie in Solons timokratischer Ordnung auch im frührepublikanischen Rom präsent: Im Prozess der Ausdifferenzierung politischer Organisationsstrukturen nach dem Ende der Königsherrschaft führte das Streben der unteren sozialen Schichten (Plebejer) nach politischer Gleichberechtigung („Ständekämpfe“) und Rechtssicherheit, mit ihrem Dienst im Hoplitenheer als Legitimationsgrundlage, schrittweise zum Erfolg. Das Ergebnis der Ständekämpfe war ein neuer Amtsadel (Nobilität), der sich aus den Patriziern und den amtsfähigen (wohlhabenden) plebejischen Familien rekrutierte.33 Diese neue, in sich homogene politische Klasse definierte sich auf der Basis einer eigenen Kollektivmoral, ihrem Dienst für die res publica und dementsprechend durch die Bekleidung hoher Ämter. Nicht anders als im archaischen Griechenland war die politische Kultur Roms also zunächst von einer Adelsgesellschaft geprägt: Im Unterschied zum archaischen Griechenland am Vorabend der solonischen Reformen konnte Romals Ergebnis seiner territorialenAusdehnung im italischen Raum den Anlässen und Gegenständen politischer Kontroversen (Schuldenprobleme und Landnot großer Teile der römischen Bürgerschaft) durch die Zuweisung von Landparzellen ihre Relevanz bzw. Virulenz nehmen, 31 Hölkeskamp 1999; Welwei 2007. 32 Meier 1998, 222‒226; Dreher 2012, 23‒27. 53‒55; Schubert 2012, 10f. 13. 26f. 44f. 33 Bleicken 2004, 20‒28. 105‒134; Raaflaub 2005, 1‒51.

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ohne dass radikale Forderungen nach einer Umverteilung von Reichtum und Ressourcen laut geworden waren.34 Um die Mitte des 4. Jh. v. Chr. avancierte Rom zur Hegemonialmacht im westlichen Mittelitalien, konnte sich durch eine ausdifferenzierte Organisation des Bürgergebietes und des Bundesgenossensystems das finanzielle und militärische Potenzial von ganz Italien (so der Stand römischer Machtausdehnung nach dem Sieg über Pyrrhos und Tarent 275/272 v. Chr.) nutzbar machen und nicht zuletzt auch die Integration der neuen Bevölkerungselemente ins römische Gemeinwesen erreichen.35 Mehr noch als für Rom war das fünfte Jahrhundert für den griechischen Raum das Jahrhundert der großen Kriege (Perserkriege, Peloponnesischer Krieg) und unüberbrückbarer machtpolitischer Gegensätze: Die wachsende Dynamik im Ausbau der athenischen Demokratie ermöglichte der Großpolis überhaupt erst die Intensivierung und Differenzierung von Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen im östlichen Mittelmeerraum, während Sparta als die zweite, aber organisatorisch und finanziell weit unterlegene Führungsmacht Griechenlands die Städte des Peloponnesischen Bundes nicht einmal zur Heerfolge zu zwingen vermochte. Verfassungspolitik und Außenbeziehungen bedingten sich in beiden Städten gegenseitig; sie standen in Athen und Sparta nicht nur für ein innenpolitisches, sondern zugleich für ein „außenpolitisches“ Programm und ließen die Gegensätze zwischen den beiden poleis zu einem Strukturelement der griechischen Welt werden. Aber letztendlich war es die Herausbildung des DelischAttischen Seebundes,36 dessen Ausmaße alle bisherigen Machtgebilde auf griechischem Boden in den Schatten stellte, den spartanisch-athenischen Antagonismus immer weiter verschärfte und die Griechen schließlich in einen der längsten und grausamsten Kriege der Antike, den Peloponnesischen Krieg (431‒404 v. Chr.), stürzte.37 Die jahrzehntelangen Hegemonialkriege seit 395 destabilisierten die griechische Welt. Das Autonomieprinzip, den Griechen im sogenannten „Königsfrieden“ (386 v. Chr.) von Artaxerxes diktiert, sollte zwar künftigen Machtbildungen in Griechenland einen Riegel vorschieben und wohl auch maritime Rüstungen unterbinden, ließ Griechenland allerdings mit der Zersplitterung in unzählige Kleinstaaten in machtpolitische Ohnmacht verfallen.38 „In der Geschichte der Griechen bedeutete der Königsfriede einen der tiefsten Tiefpunkte aller Zeiten“, so resümiert der Althistoriker Hermann Bengtson die Folgen dieses vom persischen „Großkönig aus Susa herabgesandten Friedens“ (Xen. Hell. 5, 1, 36).39 34 Hölkeskamp 2004, 35f. 96; Bringmann 2010, 33‒82. 35 Hantos 1983; Jehne 2006, 243‒267; Rosenstein 2012, 85‒103. 36 Steinbrecher 1985; Scheibelreiter 2013. 37 Zum Peloponnesischen Krieg vgl. Bleckmann 1998; Welwei 2006, 526‒546; Tritle 2010. 38 Zur Zeitspanne zwischen 404 und 386 v. Chr. vgl. Funke 1980; Dreher 2012, 139‒157. ‒ Zum

Königsfrieden vgl. Urban 1991; Jehne 1994, 31‒47.

39 Bengtson 2002, 244.

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Diese politische Fragmentierung der Griechen, ihre Unfähigkeit, sich zu einem „Hilfs- und Freundschaftsbündnis“ (Demosthenes, Dritte Philippische Rede 28) zusammenzuschließen, öffnete der Expansionspolitik Philipps II. von Makedonien den Weg nach Süden, um nach 338 v. Chr. fast alle poleis des griechischen Mutterlandes für die nächsten Jahrhunderte in einen Flächenstaat zu integrieren. Philipp und sein Nachfolger Alexander griffen gemeingriechische Leitideen (Wunsch nach Frieden, Rache an den Persern für die Zerstörung griechischer Tempel durch Xerxes) auf, um sie im Interesse der eigenen Herrschaftsziele, die Expansion ihres Reiches, zu mobilisieren. Eine auf längere Sicht stabile Ordnung konnten die beiden Makedonenkönige weder in Griechenland noch in Vorderasien und Ägypten installieren.40 Was an Fernwirkungen des Alexanderzuges blieb, waren seine nach griechischem Muster organisierten Städtegründungen im Orient, gelegen an militärisch-strategisch wichtigen Plätzen und Handelsknotenpunkten.41 Die erfolgreichste Alexander-Stadt war das ägyptische Alexandria, das sich nach Alexanders Tod sehr schnell zur bedeutendsten Stadt der hellenistischen Welt entwickelte. Bis in die Spätantike zählte Alexandria neben Rom, Konstantinopel und Antiochia zu den größten Städten des Römischen Reiches. Zudem hatte der Alexanderzug einen immensen Zuwachs an geographischem und naturkundlichem Wissen in der Erderkundung gezeitigt.42 Und der Eroberer Alexander wurde zum Ideal und Vorbild politischer Akteure wie Pompeius und römischer Kaiser wie Trajan und Konstantin dem Großen. Die politische Landkarte des Hellenismus ist gekennzeichnet durch eine Reihe von Königreichen, die zum einen ‒ wie etwa das Gräko-Baktrische Reich und die kleinasiatischen Königreiche (Bithynien, Pontos, Kappadokien, Pergamon) ‒ im Zuge des Auflösungsprozesses des Seleukidenreiches entstanden waren, zum anderen außerhalb des Machtbereiches Alexanders und der Diadochen lagen wie Sizilien mit den Tyrannen Agathokles und Hieron II. Das Makedonenreich und seine Nachfolgestaaten waren riesige Flächenstaaten mit einer ungeheuren ethnischen und kulturellen Vielfalt; die große strukturelle Heterogenität43 zeigt sich darin, dass das königliche Domänenland und Städteneugründungen als Zentren der kommunalen Selbstverwaltung neben den griechischen poleis standen, die in ihrer nominellen Unabhängigkeit und kommunalen Selbstverwaltung respektiert wurden, vom königlichen euergetischen Handeln profitierten und im Gegenzug den politischen Oberherrn in den neu eingerichteten Herrscher- und Dynastiekulten ihre Loyalität bekundeten. Insgesamt ist die hellenistische Epoche geprägt durch die enorme Ausbreitung der griechischen Kultur und Zivilisation im gesamten Mittelmeerraum und im vorderasiatischen Raum, wobei dem Griechischen als weiträumig benutzte Verkehrssprache besondere Bedeutung zu40 Roisman 2003; Bosworth 1994, 791–875; Wiemer 2005; Barceló 2007. 41 Fraser 1996. 42 Högemann 1985; Romm 1989, 655–575; Bodson 1991, 127–138. 43 Zum folgenden vgl. Bosworth 2002; Will 2003; Gehrke 2008.

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kommt. Die Dynamik dieser Epoche schlägt sich auch nieder in einem respektablen wirtschaftlichen Wohlstand durch intensivierten Warenaustausch im Mittelmeerraum und einem ungeheuren kulturellen Aufschwung (z. B. in der Philosophie, Literatur, Kunst und Medizin), aber auch durch Roms Expansion nach Osten und die in einem mehrere Jahrzehnte währenden Prozess erfolgte Einverleibung aller dieser politischen Gebilde in das Imperium Romanum. Mit dieser Machtausdehnung Roms eng verbunden war die Hellenisierung insbesondere der römischen Oberschicht, die sich in der römischen Repräsentationskunst, Religion, Kunst und Literatur fassen lässt. Ein Exponent der konservativen Reaktion auf diesen Akkulturationsprozess ist Marcus Porcius Cato, der als Zensor (184 v. Chr.) eine Rückbesinnung auf den Normen- und Wertekodex der römischen Aristokratie (mos maiorum) forderte.44 Mit seinen expansionistischen Ambitionen hatte sich Rom als dritte Macht im geographischen Schnittpunkt karthagischer und griechischer Interessen platziert. Die vorprogrammierten bewaffneten Konflikte mit Karthago ließen sich auf Dauer nicht vertraglich regeln,45 sondern führten direkt in den 1. Punischen Krieg (264‒241 v. Chr.), der für die Geschichte des Mittelmeerraumes als ein wegweisendes Ereignis gelten kann: Die Römer, bislang eine Landmacht, bauten nach den ersten Erfolgen des karthagischen Oberkommandierenden Hamilkar eine schlagkräftige Flotte, um der maritimen Macht Karthago erfolgreich in einem Seekrieg entgegentreten zu können und mit Sizilien, Korsika und Sardinien strategisch wichtige Stützpunkte der Karthager unter römische Kontrolle zu bringen. Sizilien wurde aber nicht mehr in das Bundesgenossensystem integriert, sondern als Amtsbereich (provincia) eines Magistraten aufgefasst und 227 v. Chr. als erste römische Provinz eingerichtet, die ähnlich wie das erst unter Octavian/ Augustus provinzialisierte Ägypten als eine der reichsten Provinzen und auch als Getreidelieferant für Rom zentrale Bedeutung erlangen sollte. Damit war der Grundstein gelegt für die weitere Expansion des aufstrebenden Rom zunächst im westlichen Mittelmeerraum (Korsika, Sardinien), aber noch vor der Zerstörung Karthagos (146 v. Chr.) auch im Osten.46 Augustus nahm für sich in Anspruch, die Welt rund ums Mittelmeer dem Römischen Reich einverleibt zu haben, das nun im Westen vom Atlantik begrenzt worden sei, im Norden von Rhein und Donau, im Süden von den Wüsten Afrikas und Arabiens und im Osten vom Euphrat (Res gestae divi Augusti 26f. 29). Erhoben wurde ein Weltherrschaftsanspruch, Herr über alle äußeren Feinde zu sein zu sein und den Römern auf 44 MacMullen 1991, 419–438; Bilde/Nielsen/Nielsen 1993; Gehrke 1994, 593–622; Vogt-Spira/

Rommel 1999.

45 Zu den ersten karthagisch-römischen Verträgen von 508/7 und 348 v. Chr. vgl. Huss 1985,

84‒92. 149‒155.

46 Gruen 1984; Bleicken 2004, 16‒57; Bringmann 2010, 87‒133. ‒ Zu den Punischen Kriegen

vgl. Le Bohec 2003; Hoyos 2007; Zimmermann 2010, 45‒156.

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diese Weise Frieden und Wohlstand zu sichern; Rom, Ausgangspunkt und Mittelpunkt kaiserlicher Herrschaft, war vom caput Italiae (Liv. 23. 10, 2) zum caput orbis (Liv. 1, 67, 7) avanciert, um dann im 4. Jh. n. Chr. als überzeitlich gedachte Größe zur Roma aeterna zu werden. Rom war zum größten und langlebigsten Territorialstaat in der Geschichte der Mittelmeerwelt aufgestiegen, dessen stärkster und unüberwindbarer Gegner das Partherreich, ab den 20-er Jahren des 3. Jh. n. Chr. dann das Sāsānidenreich, blieb. Der Fortbestand des Reiches als Ganzes wurde gesichert durch die Geldzahlungen der Untertanen (vectigal oder tributum), durch materielle Abgaben (wie den Getreidezehnten für Rom) oder durch Arbeitsleistungen (im Baugewerbe, Instandhaltung von Straßen und Kanälen). Die Provinzen wurden durch Straßen und die Förderung von Urbanisierung erschlossen, um Truppenbewegungen und eine Akkulturation der Bevölkerung (Romanisierung) zu gewährleisten. Der Integration der Provinzialen förderlich war der Militärdienst, sie konnten das römische Bürgerrecht erlangen und sozial aufsteigen ‒ sogar bis an die Spitze des Reiches wie Kaiser Trajan aus der hispanischen Baetica.47 Ebenfalls der Integration, aber auch der Erzeugung von reichsweiter Loyalität diente der Kaiserkult in seinen verschiedenen, an den Traditionen der Provinzen ausgerichteten Spielarten.48 Wenn für Cicero Tribute „der Preis des Siegers“ (Verr. 2, 3, 12) und Provinzen „die Beute des Volkes“ (Verr. 2, 2, 7) waren, so bedeutete Provinzialisierung nicht die Auslieferung neugewonnener Gebiete an statthalterliche Willkür und Profitgier; vielmehr sollte die Entwicklung entsprechender Kontrollmechanismen und Korrekturmöglichkeiten statthalterlicher Entscheidungen die Aufrechterhaltung des provinzialen Friedens gewährleisten. Den Spezifika (im Hinblick auf gesellschaftlich-politische Strukturen und religiöse Orientierung) der römischen Territorien an der Peripherie des Römischen Reiches, die zugleich von größter militärisch-strategischer Bedeutung für das Imperium waren (z. B. Judäa, das Nabatäerreich, Dakien und die Osrhoene), versuchte Rom mit der Einsetzung von Klientelkönigen gerecht zu werden: Einheimische Dynasten blieben an der Macht, waren aber in vielerlei Hinsicht (Thronfolgeregelung, Heerfolge, Außenbeziehungen) vom Wohlwollen des Kaisers abhängig. Die Klientelkönigtümer wurden aber in den Status einer Provinz überführt, wenn sich der rex sociusque et amicus populi Romani seinen Aufgaben nicht gewachsen zeigte ‒ das war in Judäa 6 n. Chr. der Fall.49 In den Provinzen und Klientelkönigreichen blieben weitgehend einheimische Traditionen erhalten: Von der Romanisierung erfasst wurden vor allem die städ47 Eck 1995/1997; Haensch 1997; Becher 1999; Kolb 2006. 48 Zum Kaiserkult vgl. Fishwick 1987‒2004; Clauss 1999; Cancik/Hitzl 2003; Panagiotis/Chan-

kowski 2011.

49 Zu den Klientelkönigen Roms vgl. Braund 1984; Coşkun 2008; Baltrusch 2012, 74‒174.

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tischen Eliten. Der Facettenreichtum religiöser Praktiken in den Provinzen stand keineswegs im Widerspruch zur Einführung des Kaiserkultes, der vielmehr auf lokale Traditionen Rücksicht nahm und daher selbst im Judäa der augusteischen Zeit etabliert werden konnte. Auch im Bereich der Jurisdiktion fand keine komplette Romanisierung statt: Neben der römischen blieb eine lokale Gerichtsbarkeit erhalten, in deren Zuständigkeitsbereich auch religiöse Delikte fielen. Die Einschaltung römischer Instanzen in den Prozess Jesu erfolgte erst, nachdem Jesus auch ein politisches Vergehen zur Last gelegt worden war; und Paulus konnte die Überweisung seines Verfahrens an das Kaisergericht nur deshalb erwirken, weil er als römischer Bürger Anspruch hatte auf die Verhandlung seiner Strafsache vor einem römischen Gericht.50 Dass eine gewisse Zahl von Provinzialen ihre kulturelle und religiöse Identität nicht im Widerspruch sah zu einer zumindest so weitreichenden Romanisierung, dass man vertraut war mit den politischen Machtstrukturen und dem Funktionieren der verschiedenen Ebenen von Justiz und Verwaltung, lässt sich gut am Beispiel des Paulus nachvollziehen. Kaiserliche Vorbehalte grundsätzlicher Art gegen religiöse Minderheiten gab es nicht. Vielmehr erlaubten zahlreiche spätrepublikanische und kaiserzeitliche Dekrete und Edikte (Ios. ant. Iud. 14, 16 und 19) den Juden in der Diaspora, ihren Glauben zu praktizieren und ihr ganzes Leben an den eigenen Traditionen (patrioi nomoi) auszurichten; und gerade in den bedeutendsten Städten des Reiches (Rom, Alexandria und Antiochia) fanden sich die größten jüdischen Diaspora-Gemeinden. Das friedliche Neben- und Miteinander verschiedener religiöser Gruppierungen gehörte zum Alltag im antiken Mittelmeerraum, vergleichsweise wenige Ausnahmen durchbrechen diese Regel.51 Wenn es dann doch zu Verfolgungen religiöser Gruppierungen durch die politischen Autoritäten kam, waren sie restaurativen Tendenzen geschuldet, also politisch motiviert: So geschah die mehrmalige Ausweisung von Juden aus Rom (z. B. in den Jahren 19, 41 und 49 n. Chr.) mit dem Ziel, den Kult der traditionellen römischen Gottheiten zu stärken. Vielleicht dachte man den Juden in Krisenzeiten auch eine Sündenbockfunktion zu oder sie wurden als Unruheherd wahrgenommen; und auf das Konto der Stärkung kaiserlicher Legitimität im Kontext tiefgreifender Reformen des geschwächten Reiches nach einem halben Jahrhundert ständiger Kriege, wirtschaftlicher Probleme und häufiger Herrscherwechsel zwischen 235 und 284 n. Chr. (Soldatenkaiserzeit) gehen die großangelegten schweren Christenverfolgungen unter Diokletian (ab 303 n. Chr.).52 Ebenso wie Horaz in seiner sechsten Römer-Ode als Voraussetzung für das Wohl des römischen Volkes und den Aufstieg des Römischen Rei50 Zu den Prozessen gegen Jesus und Paulus vgl. Heusler 2000; Omerzu 2002. 51 Zum Rechtsstatus der Diaspora-Juden vgl. Noethlichs 1996; Pucci Ben Zeev 1998; Schuol

2007, 66‒144.

52 Zur „Religionspolitik“ im Römischen Reich vgl. z. B. Cancik/Rüpke 2009; Jehne/Linke/

Rüpke 2013.

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ches eine religiöse Restauration nach dem Vorbild der großen Vergangenheit anmahnte (Hor. carm. 3, 6, 1‒4), machte also auch Diokletian die Vernachlässigung der traditionellen Kulte verantwortlich für den Niedergang des Imperiums. Diese Aufrechterhaltung republikanisch-kaiserzeitlicher Traditionen, verbunden mit der Christianisierung des Reiches, den Völkerwanderungen und tiefgreifenden Wandlungsprozessen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des Mittelmeerraumes, zählt zu den Charakteristika der Spätantike: Gemäß republikanischer Tradition verlieh der Senat dem neuen Kaiser seine magistratischen Befugnisse; eine wirklich tragende Rolle fiel dem Senat beim Kaiserwechsel nicht zu, denn „den Kaiser macht das Heer“ (Hier. epist. 246). Die spätantiken Kaiser behielten die traditionelle Kaisertitulatur (Augustus, Imperator, Caesar) bei; erst Kaiser Herakleios gab 692 diese Herrschertitel auf. Kaiserzeitliche Rechtsentscheide, zurückgehend bis auf Hadrian, fanden Eingang in die großen spätantiken Gesetzeskodifikationen des 5. und 6. Jh. n. Chr. (Codex Theodosianus, Codex Justinianus); zum dominierenden Faktor der spätantiken Rechtswissenschaft wurden die Hoch- und Spätklassiker Gaius, Papinian, Paulus, Ulpian und Modestin (Cod. Theod. 1, 4, 3, Theodosius II. und Valentinian III., 426 n. Chr.).53 Die republikanisch-kaiserzeitlichen Traditionen erfuhren aber eine christliche Umdeutung: Garanten für das Wohl des Kaisers und des Reiches in der Spätantike sind nicht mehr Jupiter, Mars oder Apollo; vielmehr beanspruchte der christliche Kaiser, „unter Gottes Führung“ (Deo auctore) zu handeln (Cod. Iust. 1, 17, 1, Justinian, 15.12.530 n. Chr.). Als pontifex maximus fungierten die Kaiser (und nicht die kirchlichen Autoritäten) als Initiatoren von Konzilien, so z. B. Konstantin, der als ungetaufter Kaiser das Konzil von Nicaea einberief (325 v. Chr.), maßgeblich die Konzilsentscheidungen beeinflusste und für die reichsweite Durchsetzung der Beschlüsse sorgte. Die Kirchenstiftungen Konstantins (z. B. in Rom die Lateranbasilika und die Peterskirche, in Jerusalem die Grabeskirche) demonstrierten die Präsenz der Christen und das Erstarken ihrer Religion im nach wie vor stark heidnisch und jüdisch geprägten Umfeld; die Umwidmungen prestigeträchtiger Bauten (Pantheon, Kurie) im traditionsreichen Stadtzentrum Roms sind Gesten der Aneignung historischer Tradition durch die Päpste und zugleich monumentalisiertes Zeichen der Überwindung des Heidentums.54 Als in Rom kein Kaiser mehr residierte, konnte die Kirche eine starke Organisation aufbauen: Den Päpsten wuchsen vermehrt politische Aufgaben zu – so auch die Lebensmittelversorgung Roms. Die römischen Bischöfe und Päpste eigneten sich mit der Entwicklung einer päpstlichen imitatio imperii kaiserliche Herrschafts- und Repräsentationsformen an und beanspruchten, die kaiserliche Herrschaft nicht nur abzulösen, sondern in ihrer Ausdehnung sogar noch zu 53 Zu den spätantiken Gesetzeskodifikationen vgl. Kunkel/Schermaier 2001, 197‒223; Wieacker

2006, 195‒204. 287‒324.

54 Brandenburg 2005.

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übertreffen: Erst durch den „heiligen Stuhl des seligen Petrus“ (sacram beati Petri sedem) sei Rom zum „Haupt der Welt“ (caput orbis) geworden (Leo, Sermo 82, 1).55 Dem Römischen Reich wurde von den Kirchenvätern des 4. Jh. eine heilsgeschichtliche Funktion zugeschrieben: Eusebius von Caesarea stellte in seiner Vita Konstantins des Großen fest, dass sich die alttestamentliche Prophezeiung des Messiasreiches im Römerreich erfüllt hätte und mit Konstantins Hinwendung zum Christentum eine neue, glückliche Zeit für das Imperium angebrochen sei (Eus. Dem. Ev. 3, 2, 37; 7, 30–35; 7, 2, 33; 3, 114; Vita Constantini 1, 1–12). Die Übertragung der caput-mundi-Metapher vom frühkaiserzeitlichen Rom als machtpolitisches und intellektuelles Zentrum des Römischen Reiches56 auf das christliche Rom,57 vor allem aber auf die sedes apostolica („Sitz des Apostels“) ist Ausdruck der sich etablierenden institutionellen Autorität der römischen Bischöfe.58 Dennoch saßen in Rom immer noch die alten Führungseliten des Reiches, die den Senat dominierten, hohe militärische und zivile Posten bekleideten und bis weit ins fünfte Jahrhundert hinein eine der letzten Bastionen des Heidentums bildeten oder sich dem Christentum zugewandt hatten und sich in kirchlichen Ämtern profilierten.59 Die Christianisierung war, reichsweit betrachtet, ein langsam fortschreitender Prozess. Justinian (527‒565 n. Chr.) wollte im Jahr 529 mit der Schließung der platonischen Akademie in Athen als Hort paganer neuplatonischer Philosophie ein Zeichen setzen für die endgültige Überwindung des Heidentums.60 Der spätantike Mensch war sich der Dramatik der Ereignisse an der Schwelle von der Antike ins Mittelalter bewusst, Missstände wurden konkret benannt, Ängste formuliert und nahezu apokalyptische Szenarien entwickelt ‒ Letzteres vor allem in Äußerungen über die Völkerwanderung im 5. Jh. n. Chr.: „Müde erwartet alles das greisenhafte Ende der Welt und schon läuft ab die Zeit der letzten Tage. Ganz Gallien brannte wie ein Scheiterhaufen.“61 Hinter derartigen Aussagen steht auch die Frage des spätantiken Menschen nach der eigenen Verortung in der Geschichte: Man konstruierte neue Vergangenheitsbilder, denen die Einteilung einer historisierten Zeit in eine (verklärte) Frühphase und eine Epoche des Niedergangs zu Grunde lag, so dass Salvian nach dem Fall Roms fragen konnte: „Wo sind nun der alte Reichtum und die Würde der Römer? Die alten 55 Martin 2010, 96–108. 56 Vgl. z. B. Liv. 1, 16, 6f.; Ov. met. 15, 435; Plin. nat. 3, 38. 57 Vgl. z. B. Prud., contra Symmachum 1, 493–500; 2, 661–665; Peristephanon 2, 433–440. 58 Diefenbach 2007, 311–323; Wolf 2010, 141–151. 433–440. 59 Zum Senat und den gesellschaftlichen Eliten im spätantiken Rom vgl. z. B. Schlinkert 1996;

Henning 1999; Demandt 2007, 329–343; Cameron 2011.

60 Cod. Iust. 1, 5, 18, 4; 1, 11, 10, 2; Ioh. Mal. 18, 47. – Hartmann 2002, 123–160, hier 135 mit

Anm. 38; Meier 2004, 207–209; Watts 2004, 168–182.

61 Orientius von Augusta (Auch), Commonitorium 2, 183f. (CSEL 16, 234 Ellis). – Zur Stelle:

Roberts 1992, 97–110; Castritius 2009, 281–294, hier 282.

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Römer waren überaus mächtig; jetzt sind wir ohne Kraft.“62 Im Vergleich zum Westen blieb das Ostreich aufgrund seiner größeren inneren Stabilität ‒ Theodosius II. (402‒450) regierte nahezu ein halbes Jahrhundert ‒ relativ unberührt von Bürgerkriegen und sozialen Unruhen.63 Waren es für das Westreich die germanischen Reichsgründungen auf römischem Boden (zuletzt 568 durch die Langobarden), die mit der Fragmentierung des römischen Herrschaftsgebietes einen tiefen Einschnitt darstellten, so ist die Zäsur im Osten in der Regierungszeit des Kaisers Herakleios das Vordringen der Sāsāniden, die 614 Jerusalem eroberten und bereits 617 vor Chalcedon, also gegenüber von Konstantinopel, standen. Einen völligen Traditionsabbruch gegenüber der Spätantike bewirkte für das Oströmische Reich die islamische Expansion ab 632, die Teile Spaniens, Nordafrikas, Ägyptens und Vorderasiens in arabische Hand brachte. Das Mittelmeer war nun nicht mehr wie in römischer Zeit das mare nostrum, das die Anrainerländer miteinander verband, sondern grenzte jetzt die christliche von der arabischen Welt ab.64

„um des guten Lebens willen“: Der politische Diskurs Machtstrukturen im antiken Mittelmeerraum weisen eine große Variationsbreite auf, die sich auch im zeitgenössischen politischen Diskurs niederschlug. Ein erstes anschauliches Beispiel für die Reflexion über die verschiedenen Möglichkeiten politischer Organisation und menschlichen Handelns in der antiken Welt bietet Herodots fingierte Debatte der persischen Verschwörer gegen den Usurpator Gaumata über die möglichen Formen des politischen Lebens: Die Diskussion dreht sich um die Frage nach der idealen Regierungsform für das Achämenidenreich nach dem Tod des Kambyses (522 v. Chr.), wobei die Vorstellung der Verfassungsformen Demokratie, Oligarchie und Monarchie mit ihren Vor- und Nachteilen (Hdt. 3, 80‒84) den politischen Diskurs im Griechenland des 5. Jh. v. Chr. widerspiegelt.65 Platon machte sich Gedanken über die vollkommene polis und die beste Staatsform: In seinem Entwurf des Idealstaates setzt er sich mit den unterschiedlichen Staatsformen der griechischen Staatenwelt (Aristokratie, Timokratie, Oligarchie, Demokratie) auseinander, um sich dann in seinem politischen Glaubensbekenntnis philosophisch gebildete Männer an die Spitze des (Ideal-)Staates zu wünschen.66 Noch hinter diese Überlegungen „… welches die 62 Salv. gub. 6, 18. 63 Zu Theodosius II. vgl. Millar 2006; Kelly 2013. 64 Zum Endes des Weströmischen Reiches vgl. Börm 2013. – Zur Frage der Epochengrenze zwi-

schen Antike und Mittelalter vgl. Heather 2007; Ward-Perkins 2007; zu Herakleios und der islamischen Expansion vgl. Kaegi 1995; Reinink/Stolte 2002; Kaegi 2003. 65 Bleicken 1978, 148‒172; Winton 2000, 89‒121. 66 Rowe 2000, 234‒257; Hüttinger 2004, 126–149; Reeve 2006; Sedley 2007, 256–283, hier 271–281; Spaemann 2011, 121–134.

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beste Verfassung ist und wie sie am ehesten beschaffen sein müsste“ (Aristot. pol. 4, 1 [1288b]) zurückgehend, definiert Aristoteles den Menschen als zoon politikon (Aristot. pol. 1, 2 [1253a 3]), zu dessen Natur das Leben in Gemeinschaft gehöre; daher bestehe der Staat (polis) von Natur aus und „um des guten Lebens willen“ (Aristot. eth. Nic. 1 [1094a 26–1094b 11]; pol. 1, 1 [1252a 1–7]; 1, 2 [1252a 25–1253a 1]). In seiner Schrift Athenaion politeia („Staat der Athener“) studiert Aristoteles die Athener Verfassungen von der ältesten Zeit bis in die Gegenwart. Er geht also von den existierenden Staaten aus und untersucht, welche Merkmale einen Staat ausmachen. Auf die tatsächlichen Verhältnisse im jeweiligen Staat fokussierend, konstruiert er als politisches Ideal eine Mischverfassung mit demokratischen und oligarchischen Elementen.67 Im politischen Diskurs der Kaiserzeit werden Überlegungen angestellt über die besten Herrschaftspraktiken. Die schon für die Zeitgenossen erstaunliche Expansion des einstigen latinischen Stadtstaates beruht nach Strabon insbesondere auf „Kriegführen und politische Herrschaft“ (17, 3, 24 [C 839]); die Dauerhaftigkeit römischer Hegemonialmacht erklärt er mit der „Vorzüglichkeit ihrer Verfassung und Machthaber“ (6. 4, 2 [C 286‒288]). Aelius Aristides ergänzt als weitere Aspekte erfolgreicher römischer Herrschaftspraxis die Überlegenheit an „Milde und Freundlichkeit“ (or. 41, 9).68 Die „wünschenswerten Eigenschaften eines Princeps aus der Sicht der Senatoren“69 präsentiert Plinius der Jüngere in seinem Panegyricus auf Kaiser Trajan, der große Achtung vor den Gesetzen habe und seine Kompetenzen nicht überschreite. In seiner Rechtsprechung schlage sich auch die Fürsorge Trajans für die Reichsbevölkerung nieder: Er biete Schutz vor Willkürmaßnahmen der Behörden und schreite bei entsprechenden Klagen der Betroffenen sofort ein (Plin. paneg. 80, 3). Anstatt dem dynastischen Prinzip zufolge „den leiblichen Sohn eines Princeps, der nicht eben glücklich geraten ist“, zum neuen Kaiser zu akklamieren, sei die Adoption des Nachfolgers eine dem Wohl des Reiches sehr viel zuträglichere Thronfolgeregelung, weil „beide hervorragende Männer waren und der eine würdig, erwählt zu werden, der andere, die Wahl zu treffen“ (Plin. paneg. 7, 4). Zum neuen Herrscher erhoben werden solle aus der gesamten Bürgerschaft der Beste (optimus), denn „wer über alle herrschen soll, muss aus allen gewählt werden“ (Plin. paneg. 7, 6). Als Stabilitätsfaktor in Betracht gezogen wird, nach der Ermordung Domitians und der kurzen Herrschaft des folgenden senatorischen Verlegenheitskandidaten Nerva, neben der Bewährung in zivilen und militärischen Ämtern also auch die Legitimation des neuen Kaisers durch eine höchstmögliche Akzeptanz (consensus universorum). An diese römischen, aber auch schon z.B. bei Platon und Isokrates geläufigen Herrschertugenden erinnern auch entsprechende literarische Werke 67 Rhodes 1993; Hüttinger 2004, 160–209, bes. 186–200. 68 Zu den Stellen: Meyer-Zwiffelhoffer 2002, 9f. 13. 69 Fell 2001, 107.– Zum Panegyricus Plinius’ des Jüngeren vgl. auch Seelentag 2004, 214–296;

Ronning 2007, 24–136.

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der Spätantike wie der erste christlich-römische Fürstenspiegel des Agapet, die Ekthesis, die „dem göttlichen und frömmsten Kaiser Justinian“ gewidmet ist.70 Zur politischen Reflexion gehört freilich auch „Systemkritik“: Solon brandmarkte in seinen an die Athener gerichteten Warnungen vor einer Tyrannis „der Führer rechtlose Gesinnung“, denn „sie kennen kein Genug“ und „sie sind reich, weil sie rechtlosen Werken gehorchen“ (4 W = 3 G.-Pr., 7. 9. 11). Die Kritik an der adligen Oberschicht des archaischen Griechenland, den ungerechten und bestechlichen „geschenke-fressenden Herren“ (Hes. erg. 38f.) sowie das Bewusstmachen der Verantwortung aller für ihr Gemeinwesen im Zuge der Solonischen Reformen waren entscheidende Momente in der Entwicklung der Athener Demokratie, die dann die Volksversammlung zum eigentlichen Souverän der Polis werden ließ.71 Die ausgeweitete politische Berechtigung der Athener Polisbürger stand, was die Vorstellungen von Leitungsfunktionen und Machtausübung anbelangt, im Gegensatz zur Tyrannis, der Oligarchie, dem Doppelkönigtum Spartas und zu den monarchischen Regierungsformen Ägyptens und Vorderasiens. Dass diese Buntscheckigkeit der griechischen Welt im Hinblick auf politische Organisationsformen durchaus wahrgenommen wurde, zeigt sich bereits in einer frühen Phase der Ausbildung der Polisstrukturen: Eine entsprechende mustergültige Organisation öffentlicher Aufgaben scheint in Homers Phäakenstadt Scheria auf (Od. 6, 262‒267); den Gegenentwurf bietet der Odyssee-Dichter mit der Beschreibung der Zyklopen, die kein Gemeinwesen mit politischen Institutionen kennen (Hom. Od. 9, 112‒115). Einer „Systemkritik“ unterzogen wurde auch die Demokratisierung, die in Aristoteles’ Augen nichts anderes bedeutete als den zügellosen und triebhaften Begierden der Volksmenge nachzugeben und die Demokratie in eine Tyrannis ausarten zu lassen;72 auch Isokrates ging mit den Athenern, ihrer „radikalen Demokratie“ und gescheiterten Seebundpolitik hart ins Gericht, denn sie hätten „ja die faulsten undenkbar schlechtesten Menschen aus ganz Griechenland versammelt, mit diesen die Trieren bemannt und sich somit bei den Griechen verhasst gemacht; die besten Bürger aus den anderen griechischen poleis vertrieben und ihren Besitz an die übelsten Kreaturen unter den Griechen verteilt“.73 Die Zustände im demokratischen Athen des Peloponnesischen Krieges beklagt auch ‒ aus der Sicht der oligarchischen Kreise Athens ‒ Pseudo-Xenophons Schrift „Staat der Athener“: Er könne es nicht billigen, so eröffnet er seine Schrift, „dass es die Elenden besser haben als die Tüchtigen“. Dem Volk fehlten Reichtum, Bildung und Selbstzucht, um eine gute und gerechte Herrschaft auszuüben; so sei das Staatswesen in die Hand der intellektuell und moralisch Minderwertigen 70 Blum 1981, 32–39 (Einleitung). 59–80 (Text); Meier 2004, 130–135; Demandt 2013, 361–371. 71 Bleicken 1995, 481. 72 Aristot. Ath. pol. 27; pol. 4, 4 (1292a). – Schütrumpf 1995, 271–300; Schütrumpf 2001,

121–135.

73 Isokrates, Friedensrede, 79f.

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geraten.74 In den folgenden Jahrhunderten wurden staatstheoretische Schriften (neben Platon und Arisoteles z. B. auch Cicero und Augustinus) zum festen Bestandteil der antiken Literatur. Freilich blieb auch der Spott über die Demokratie nicht aus: So warf Aristophanes in seiner Komödie Ekklesiazusen („Die Frauenvolksversammlung“) die Frage auf, ob die polis Athen ihren Bürgern nicht bloß die gleiche Teilhabe an der Politik, sondern auch einen Anspruch auf einen gefälligen Lebensstil gewährleisten solle, den sich vormals nur die Aristokraten leisten konnten (590–876). Aristophanes karikiert diesen Gleichheitsanspruch, indem er die Athenerinnen eine egalitäre Gesellschaft gründen lässt, in der auch die alten Frauen ein Anrecht auf einen jungen Liebhaber erhalten.75 Karikiert und keineswegs nur in Lobreden gepriesen werden auch die römischen Kaiser und für das Selbstverständnis des Prinzipats konstitutive Traditionen. Eine schon für den Hohn und Spott der Zeitgenossen beliebte Zielscheibe ist auf Grund seiner angeblichen körperlichen und geistigen Debilität Claudius, über dessen soeben vollzogene Konsekrierung Seneca dem Augustus folgende Worte in den Mund legt (Apocol. 11, 3): „Den wollt ihr jetzt zum Gott machen? Seht sein Äußeres, von den Göttern im Zorn erschaffen! Kurz und gut: Drei Worte sagt er rasch auf – dann darf er mich als seinen Sklaven mitnehmen. Wer wird den als Gott verehren? Wer an ihn glauben?“76 Anlässlich seines Konfliktes mit den Antiochenern (363 n. Chr.) nimmt sich Julian Apostata in seinem zwischen satirischer Selbstapologie und Strafrede gegen Antiochia schillernden Misopogon („Der Barthasser“) selbst aufs Korn, indem er seine ganze Erscheinung (z. B. den Bart mit den Läusen) teils witzig, teils in provokanter Geschmacklosigkeit als ungepflegt und abstoßend beschreibt, sich in Abgrenzung zu seinen Vorgängern auf dem Kaiserthron zu seiner Abneigung gegen den Theaterbesuch bekennt und seinem Lesepublikum die Armseligkeit des Kaiserhofes mit dem Fehlen von Mimen und Wagenlenkern vor Augen führt (Iul. mis. 338B–339D; vgl. auch 360D).77 Mit gewissem Spott gewürzt ist auch die Warnung an die spätantiken Kaiser des 5. Jh., zur Sicherung der Dynastie die Kaiserherrschaft kleinen Kindern zu übertragen, „denen die Lehrer noch die Hand beim Unterschreiben führen müssen“ und „die man durch Süßigkeiten, Kringelchen und was immer Kindern Spaß macht, verleiten kann, den Konsulat zu vergeben“ (Hist. Aug. Tac. 6, 5f.). Angeprangert wird die erstmals mit der Erhebung des vierjährigen Valentinian II. (371) geübte Praxis, die den jungen Kaiser zum Spielball einer ehrgeizigen Reichs74 Marr/Rhodes 2008: Coşkun 2012, 55‒92. 75 Aristoph. Eccl. 877–883. – Dettenhofer 1999, 95–111; Hartmann 2006, 377–394, hier 386f.;

Holzberg 2010, 190–205.

76 Zu Senecas Apocolocyntosis vgl. Knoche 1982, 62–68; Adamietz 1986, 356–382; O’Gorman

2005, 95–108; Reiser 2007, 469–481.

77 Wiemer 1998, 733–755; Janka 2008, 177–206.

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elite (z. B. Kaiserfrauen oder Heermeister) werden ließ und im konkreten Fall dem magister militum Merobaudes als Kaisermacher 377 zu einem ersten und 383 zu seinem zweiten Konsulat verholfen hatte.78 Reflexion von politischer Organisation im Mittelmeerraum legt den Fokus, insbesondere bei grundlegenden Umgestaltungen oder der Etablierung neuer Herrschaftsformen, immer auch auf die Legitimation von Herrschaft; es wird eine „exklusive theokratische Ideologie“79 kreiert: Als Argumentationshilfen bemüht wurden dabei die eigene göttliche Abstammung, göttlicher Beistand, übermenschliche Genialität und die Anknüpfung an Traditionen.Alexander der Große betrachtete Herakles, Ammon/Zeus und Achill als seine Ahnen; Octavian führte sich auf den Gott Apollon zurück, der dann auch als Augustus’ persönlicher Schutzgott gewissermaßen der „Hauptgott der neuen Monarchie“80 werden sollte; und die Mitglieder der diokletianischen Tetrarchie stilisierten sich zu direkten Abkömmlingen von Jupiter und Herkules, um allen potenziellen Usurpationen die legitimatorische Grundlage zu entziehen. Bei der Errichtung des Prinzipats versicherte sich Octavian der Akzeptanz seiner aristokratischen Standesgenossen, indem er demonstrativ alle seine außerordentlichen Machtbefugnisse aus der Zeit der Bürgerkriege vor dem Senat niederlegte und sich im Gegenzug neue Ämter und Kompetenzen verleihen ließ, um seine neue Machtstellung (de facto Ausdruck einer monarchischen Herrschaftsform) mittels einer komplexen rechtlichen Konstruktion in der alten republikanischen Ordnung zu verankern. Neben diesem Akt der res publica restituta im Januar 27 v. Chr. traten eine Reihe von Ehrungen zur sakralen Überhöhung Octavians wie die Auszeichnung mit dem Ehrennamen augustus („der Erhabene“), der Kaiserkult und die Propagierung der Vorstellung einer gottgewollten Herrschaft.81 Ebenfalls im Sinne der zeitgenössischen politischen Propaganda preist Eusebius von Caesarea Konstantin den Großen: Mit der göttlichen Siegeszusage „in diesem Zeichen wirst du siegen“ (Eus. Vita Constantini 1, 28: in hoc signis vinces) sei er gegen seinen Rivalen Maxentius im Oktober 312 n. Chr. in die Schlacht an der Milvischen Brücke gezogen; in Erfüllung des göttlichen Willens habe er die Alleinherrschaft eines einzigen Kaisers über das Römische Reich wiederhergestellt, „um sofort allen die Botschaft von der Alleinherrschaft Gottes zu bringen“ (Eus. Vita Constantini 2, 19, 2).82 In Frage gestellt wird die göttliche Beauftragung des Herrschers durch verlorene Kriege und auch Naturkatastrophen; entsprechende Deutungsperspektiven zeitigten z. B. der Persereinfall und die Pest in der Regierungszeit Justinians: Der Kaiser wird im Katastrophendiskurs des 6. Jh. n. Chr. zum „bö78 Zu den spätantiken Kinderkaisern vgl. Hartke 1951; Demandt 2007, 144. 170. 203; McEvoy

2013.

79 Brandt 2007, 11. 80 Kienast 2009, 230. 81 Kienast 2009, 78–98; Bringmann 2012, 105–173. 82 Kuhoff 1991, 127–174; Brandt 2011, 109f.; Kuhoff 2011, 10–20.

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sen Dämon“ und zur Inkarnation des Antichrist; er habe das Potenzial, alles Übel selbst zu produzieren und willentlich Unheil über das Reich und seine Untertanen zu bringen.83

„Straßen des Meeres“: Maritime Kommunikationswege Schon der Dichter der Odyssee spricht von den „Straßen des Meeres“ (Hom. Od. 12, 259), denn saisonal wechselnde Winde (überwiegend aus nördlicher Richtung), Meeresströmungen, Untiefen, Segeleigenschaften der Schiffe und navigatorische Möglichkeiten zwangen die Seefahrer zur Benutzung bestimmter Routen.84 Homers „Straßen des Meeres“ evozieren die Vorstellung eingeschränkter Handlungs- und Bewegungsfreiheit, lassen aber auch an einen Raum denken, den der antike Mensch sich erschlossen und angeeignet hat; mitgedacht sind also zweifellos die Kommunikationslinien, die häufig über das Meer verliefen. Das Meer wirkte verbindend und ermöglichte es den Griechen, ihren Aktionsradius in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht nahezu bis an die Ränder der damals bekannten Welt auszudehnen. Dieser Prozess lässt sich in der archaischen Zeit mit der Großen Kolonisation fassen: Die Kolonistenzüge, aber auch Händler und andere Schiffsreisende orientierten sich häufig an bekannten Seerouten und vorhandenem Wissen über günstige Reisezeiten, das in mündlicher Form oder in periploi kursierte. Die Bewohner der griechischen Kolonien pflegten über das Meer hinweg mit ihren Mutterstädten wirtschaftliche und kultische Kontakte, mit Griechenland insgesamt blieben sie über die olympischen Spiele und die zentralen kultischen Orte verbunden. Seereisen gestalteten sich oftmals nicht nur risikoreich, sondern auch langwierig; unter Ausnutzung günstiger Windverhältnisse konnten die Reisenden aber in vergleichsweise kurzer Zeit ihr Ziel erreichen: Schiffe in Richtung Norden waren häufig direktem Gegenwind ausgesetzt, was sie angesichts der mangelnden technischen Möglichkeiten, hart am Wind zu segeln, zu häufigem und langwierigen Kreuzen zwang. So benötigte man für die Strecke Byzanz ‒ Rhodos fünf Tage, für die Fahrt in umgekehrter Richtung hingegen zehn Tage.85 Eine nautische Herausforderung war auch die Route zwischen Rom und Alexandria, der Haupttransportweg der römischen Kaiserzeit für die Versorgung Roms sowohl mit ägyptischem Getreide als auch mit Fernhandelsgütern: War die Überfahrt von Puteoli oder Ostia nach Alexandria, wegen der günstigen Winde von Lionel Casson als „a downhill run“86 bezeichnet, im Glücksfall in neun Tagen, sonst in etwa zwei Wochen zu bewältigen, so befuhren die ägyptischen Seefahrer 83 Prok. HA 18, 36–45; vgl. auch 12, 12‒17; 30, 34. – Meier 2004, 86–89. 84 Casson 1995, 272; Warnecke 2002, 93‒104. 85 Zu den Schiffsrouten und Reisezeiten vgl. Casson 1951, 136‒148, bes. 145f.; Casson 1991, 207f.;

Casson 1995, 281‒291; Beresford 2013, 53‒106.

86 Casson 1995, 283.

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mit ihrer für die Reichshauptstadt bestimmten Fracht küstennahe Routen, um dann von der westkleinasiatischen Küste westwärts bei ungünstigen Wind- und Strömungsverhältnissen das Ionische Meer zu durchqueren und nach 50‒70 Tagen Mittelitalien zu erreichen. Letztgenannte Schwierigkeiten illustriert sehr anschaulich der Bericht über die Schiffsreise des Apostels Paulus nach Rom (Apg. 27, 1‒28, 14). Nicht nur Menschen und Handelsgüter kamen über das Meer, auch orientalische Kulturtechniken verbreiteten sich auf diesem Wege.87 Dazu gehörten neben dem Rechnungs- und Vertragswesen auch die Münzprägung und die Schrift: Die früheste Verwendung von Münzen schreibt Herodot den Lydern zu (Hdt. 1, 94, 2); die „Erfindung“ der Alphabetschrift und ihre Weitergabe wurde schon in der Antike als eine Leistung der Phönizier angesehen. Schon Herodot berichtete: „Von diesen Phoinikern, die (mit Kadmos) nach Boiotien gekommen waren, … haben die Griechen vielerlei gelernt, insbesondere auch die (Buchstaben-)Schrift, die die Griechen, wie ich glaube, bis dahin nicht gekannt haben.“88 Auch die moderne Forschung geht davon aus, dass das griechische Alphabet von den Phöniziern an der syrisch-levantinischen Küste übernommen worden ist. Orte der griechischen Adaption phönizischer Schreibgewohnheiten waren zweifellos die Gebiete engen phönizisch-griechischen Zusammenlebens. Derartige Plätze mit einem multikulturellen Klima, das Mehrsprachigkeit und Kulturaustausch begünstigte, waren Zypern (Kition), Kreta und die Levante (Al-Minā, Tell Sūkās, Rās el-Bassīt) der „orientalisierenden Periode“ mit ihren auch ansonsten intensiven Kulturkontakten zwischen Okzident und Orient frühestens Ende des 9., archäologisch sicher nachweisbar seit Mitte des 8.Jh. v.Chr.; vielfach ist in der modernen Forschung von einer „Vermittlerrolle der Phönizier zwischen Orient und Okzident“89 die Rede. Erst Ende des 7. Jh., also gewisse Zeit nach dem Einsetzen ihrer Expansionsund Kolonisationsbewegung, konnten die Griechen den Fernhandel im östlichen Mittelmeer übernehmen. Sie profitierten von ihren guten Beziehungen zu Ägypten und dem Ende der assyrischen Vorherrschaft: War der östliche Mittelmeerraum bis ans Ende der Spätbronzezeit aufgeteilt unter wenigen Großmächten, in der modernen Forschungsliteratur gelegentlich als Mitglieder eines exklusiven Clubs („Great Powers’ Club“90) gesehen, wurde die Partizipation am überregionalen Güteraustausch nach 1200 v. Chr. auf einen größeren Personenkreis ausgeweitet.91 Der „internationale“ Seehandel war gewissermaßen demokratisiert worden, hatte aber zugleich eine Regionalisierung erfahren: So vollzog sich 87 Rollinger/Ulf 2004, 369‒465; van Dongen 2007, 13‒49. 88 Hdt. 5, 97. – Wachter 1989, 19–78; Röllig 1999, 358–386. 89 Vgl. z. B. Latacz 1990, 11‒21, Zitat auf S. 12; Röllig 1992, 93‒102. 90 Tadmor 1979, 1‒14, hier 3f.; Liverani 2000, 15‒27. 91 Zum Wandel des Seehandels im östlichen Mittelmeergebiet nach dem Seevölkersturm vgl.

zusammenfassend Sommer 2005, 54‒84.

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die phönizische Partizipation am Seehandel zunächst in kleineren Aktionsräumen („exchange cycles“92), bevor von einer Dominanz im Güteraustausch über große Distanzen hinweg bis ins westliche Mittelmeer die Rede sein kann; von den Puniern und Griechen wurden die Phönizier aus dem Bereich des westlichen Mittelmeeres verdrängt, so dass Karthago der südliche Teil des westlichen Mittelmeeres zufiel. Die Griechen konzentrierten sich auf die Schwarzmeerregion und Unteritalien, expandierten aber auch bis in den syrisch-palästinischen Raum.93 Wo besiedelte Küstenstriche sind und überseeischer Warentransfer stattfindet, sind auch Piraten. Oftmals ist die Grenze zwischen Handel und Freibeuterei fließend, denn die geraubten Menschen und Güter wurden andernorts mit möglichst hohen Gewinnspannen wieder veräußert.94 Angekommen bei Nestor in Pylos, stellte der greise Heros an Telemachos die Frage, mit der auch Polyphem Erkundigungen über die Identität von Odysseus und seinen Gefährten einholte: „Fremde, wer seid ihr? Von woher kommt ihr die feuchten Pfade gefahren? Ist es eines Geschäftes wegen? Oder schweift ihr nur so dahin wie Seeräuber über die Salzflut, die da umherschweifen und ihr Leben daransetzen, indem sie anderen Böses bringen?“ (Hom. Od. 3, 71‒74; 9, 252‒255; vgl. auch Homerischer Hymnos an Apoll 452‒455). Kaperfahrten waren oftmals auch durch Abenteuerlust und den Drang junger Aristokraten nach Bewährung motiviert und dienten zudem, so Thukydides’ generalisierender Rückblick in die Anfänge der griechischen Geschichte, der „eigenen Bereicherung und Versorgung der Ärmeren mit Lebensunterhalt“ (Thuk. 1, 5); gerade im letzteren Fall galten die maritimen Plünderungszüge als ehrenhaft: „Schande brachte dieses Handwerk nicht, vielmehr Ruhm.“ (Thuk. 1, 5). Auch die Phönizier und Karthager werden sich neben dem friedlichen Erwerb auch gewaltsam auf dem Meer und an den Küsten bereichert haben. Im Zusammenhang mit Roms Indienhandel in der frühen Kaiserzeit berichtet Plinius der Ältere von der Ausstattung der Handelsflotten mit Bogenschützen, um Piratenangriffe auf die Schiffe mit der exotischen und hochpreisigen Fracht abzuwehren (nat. 6, 100‒106).95 Handelsschiffe aufzubringen, war freilich auch Politik mit anderen Mitteln, um durch das gezielte Kappen der Getreideversorgung Athens im Peloponnesischen Krieg den Kriegsgegner entscheidend zu schwächen; für Rom war Piraterie ein probates Mittel in der Auseinandersetzung mit den hellenistischen Staaten und für Marius im Kampf gegen Sulla ebenfalls. Die Sicherheit zur See war in der Wahrnehmung der Zeitgenossen prekär: So spricht Cicero von „einem von 92 Zum Begriff „exchange cycle“ vgl. Sherratt/Sherratt 1993, 361‒378; Sherratt/Sherratt 2001,

15‒38.

93 Zur großen griechischen Kolonisation vgl. die oben in Anm. 4 genannte Literatur. 94 Zur Piraterie im antiken Mittelmeerraum vgl. Ameling 1993, 119‒140; Pohl 1993; Souza 1999;

Schulz 2005, 19‒25 u. ö.; Grieb/Todt 2012; vgl. zuletzt Jaspert/Kolditz 2013.

95 Schuol 2000, 96–99. 417. 428–430; Bianchetti 2002, 280–292; Ruffing 2002, 360–378, hier

370f. mit Anm. 58.

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Piraten überfüllten Meer“ und klagt, dass niemand eine Seereise unternehmen könne, „ohne sich der Gefahr des Todes oder der Sklaverei auszusetzen“ (Cic. Manil. 31f.). Caesar, auf seiner Schiffsreise nach Rhodos in die Gewalt von Seeräubern geraten (75/74 v. Chr.), kam erst nach der Zahlung eines Lösegeldes in Höhe von 50 Talenten wieder frei (Plut. Caesar 1‒4; Suet. Caesar 4). Tatsächlich war Roms Versorgung im 1. Jh. v. Chr. massiv durch Piraterie bedroht; man reagierte mit der Übertragung außerordentlicher Imperien zur Bekämpfung der Seeräuber an Pompeius (67 v. Chr.: lex Gabinia de bello piratico): Der „gemeinsame Feind aller“ (Cic. off. 3, 29, 107) wurde binnen 88 Tagen von Pompeius besiegt. Die systematische Planung, die Schnelligkeit seines Vorgehens und die Koordination seiner militärischen Operationen finden nicht nur rückblickend die Anerkennung der modernen althistorischen Forschung als „Pompeius’ imponierendste Leistung“96 und unverzichtbare Voraussetzung für die Stabilisierung seiner Herrschaft im Osten, sondern beeindruckten schon die Zeitgenossen. So jubelte Cicero, dass Rom nun das Mittelmeer beherrsche „wie einen sicheren und geschlossenen Hafen“ (Cic. prov. 31).97

III. Fazit Der klimatisch und naturräumlich begünstigte Mittelmeerraum bietet vielerorts gute Voraussetzungen für die intensive Siedlungstätigkeit sowie für die politische und wirtschaftliche Expansion der Anrainer. Das östliche Mittelmeergebiet war spätestens seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. eine mediterran-vorderasiatische Kontaktzone mit zunehmender menschlicher Mobilität, verstärkter kultureller Interaktion und intensiviertem Warenaustausch. Bestehende regionale Zirkulationssysteme wurden durch fortlaufende Erschließung neuer Peripherien zu einem großen interkontinentalen Fernhandelsnetz verknüpft, das freilich auch die Übermittlung von Wissen und Ideen, so etwa die Ausbreitung der Schrift und die Christianisierung der Mittelmeerwelt ermöglichte, aber auch die transkontinentale Ausbreitung von Seuchen beschleunigte und Piraten auf den Plan rief. Die antike Mittelmeerregion war ein polyzentrisch ausgerichteter Raum, der seine Prägung erhielt durch profilierte, mit erheblichem Innovationspotenzial weit über ihr eigenes Territorium hinaus wirkenden und insbesondere über den Seeweg miteinander kommunizierenden Akteuren wie Ägypten, die Kykladen, das Assyrerreich, die Phönizier, Athen, Rom oder Alexandria. Der Mittelmeerraum ist Ort intensiver gesellschaftspolitischer Reflexion; dabei geht es um Zuschreibungen von Identität und Alterität (das „Eigene“ und das „Fremde“) mit gemeinschaftsstiftender und -stärkender Funktion: Wesentliche Komponenten sind der Blick auf die Vergangenheit der jeweiligen Gruppe (Abstammung, Tradition), die eigene Verortung in der Geschichte und der eigenen 96 Christ 2004, 65. 97 Zu Pompeius’ Seeräuberkrieg vgl. Souza 1999, 149‒178; Christ 2004, 56‒65.

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Umwelt, der Diskurs über verschiedene (schlechte, gute und ideale) politische Organisationsformen. Großräumige politische Entwicklungen, expansionistische Zielsetzungen und Herrschaftsideologien orientierten sich von der Bronzezeit bis in die Spätantike am Mittelmeer und machten sich die überseeischen Kommunikationslinien zunutze. Unter der römischen Herrschaft war die Oikumene zusammengewachsen, viele Regionen außerhalb des Imperium Romanum (z.B. die Hallstatt-Kultur, das Horn von Afrika oder Indien) waren auf diplomatischem Wege oder durch Handelskontakte mit der Mittelmeerwelt verbunden. Die von Rom vorangetriebene Urbanisierung, die römische Jurisdiktion oder auch die Integration der Provinzialen ins Heer förderten zwar die Romanisierung der neu eroberten Gebiete; dieser Akkulturationsprozess, ebenso wie zuvor auch die Hellenisierung der westlichen Mittelmeerwelt, betraf jedoch in erster Linie die einheimischen Eliten, deren Angehörige zunehmend in die zentralen Institutionen des Reiches integriert wurden. Die gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Diversität des Mittelmeerraumes bleibt aber auch in Zeiten der großen antiken Reichsbildungen erhalten. David Abulafia charakterisiert die Geschichte dieser Region zu Recht folgendermaßen: „Die einander gegenüberliegenden Küsten sind nahe genug beieinander, um leichte Kontakte zu ermöglichen, und weit genug voneinander entfernt, um es den Gesellschaften zu erlauben, sich auf eigene Weise unter dem Einfluss ihres Hinterlandes und der übrigen Anrainer zu entwickeln.“98

Literaturverzeichnis Abulafia 2013: Abulafia, David, Das Mittelmeer. Eine Biographie, Frankfurt am Main 32013. Adamietz 1986: Adamietz, Joachim, Die römische Satire, Darmstadt 1986. Ameling 1993: Ameling, Walter, Karthago, Studien zu Militär, Staat und Gesellschaft, München 1993 (= Vestigia 45). Baltrusch 2012: Baltrusch, Ernst, Herodes, König im Heiligen Land. Eine Biographie, München 2012. Barceló 2007: Barceló, Pedro, Alexander der Große, Darmstadt 2007 (= Gestalten der Antike). Bechert 1999: Bechert, Tilman, Die Provinzen des Römischen Reiches. Einführung und Überblick, Mainz 1999 (= Orbis provinciarum 1). Bengtson 2002: Bengtson, Hermann, Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, München 92002. Beresford 2013: Beresford, James, The Ancient Sailing Season, Leiden 2013 (= Mnemosyne Supplements 351). Bianchetti 2002: Bianchetti, Serena, Seerouten nach Indien in hellenistischer und römischer Zeit, in: Olshausen, Eckart / Sonnabend, Holger (Hrsg.), Zu Wasser und 98 Abulafia 2013, 819f.

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Mittelmeerische Verkehrsmittel, -wege und -netze

Klaus Geus Fernand Braudels „géohistoire“ des Mittelmeerraumes und die doppelte Hermeneutik: Einige kritische Anmerkungen∗ Einleitung Ich habe das Mittelmeer leidenschaftlich geliebt, vermutlich weil ich – wie so viele andere und nach so vielen anderen – aus dem Norden kam. Lange Jahre habe ich glücklich mit seinem Studium verbracht, mehr als meine ganze Jugend. Ich hoffe, daß dafür auch etwas von diesem Glück auf den Seiten dieses Buches spürbar wird und viel von seinem Licht auf unsere Darstellung fällt. Ideal wäre es zweifellos, wenn wir, wie der Romancier seine Personen nach seinen Wünschen gestalten kann, ohne sie ja aus dem Blick zu verlieren, seine mächtige Präsenz stets gegenwärtig halten könnten. Leider oder zum Glück ist jedoch unserem Beruf die wunderbare Beweglichkeit des Romans nicht gegeben. Der beste Leser dieses Buch wird vielleicht der sein, der mit eigenen Erinnerungen, eigenen Bildern des Mittelmeers an meinen Text herangeht, ihm eigene Farbe verleiht und mir dabei hilft, worum ich mich mit aller Kraft bemüht habe: die gewaltige Präsenz dieses Meeres erfahrbar zu machen …

Mit dieser Liebeserklärung an das Mittelmeer leitet Fernand Braudel sein berühmtes Buch „La Méditerrane et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II“ ein. Sie überrascht zum einen durch ihre Leidenschaftlichkeit für diesen in vielerlei Hinsicht monströsen “Gegenstand“; zum anderen aber auch dadurch, dass Braudel sie nicht nur als das intime Bekenntnis eines Einzelnen, sondern sogar als die angemessene Haltung der ganzen Historikerzunft verstanden haben will: Der beste Leser sei derjenige, der nicht mit nüchernem Blick, sondern mit eigenen Erinnerungen und Bildern an das Mittelmeer herangeht.1 ∗

Für die Besorgung einer französischen Zeitschrift danke ich Dr. Anca Dan (Paris). Außerdem bin ich den Diskutanten in Bochum und Bielefeld dankbar für ihre Kommentare.. 1 Ich muss gestehen, dass ich für das Mittelmeer keine „leidenschaftliche Liebe“ hege. Faszination, vielleicht sogar Ehrfurcht; ja, aber leidenschaftliche Liebe? Das nicht. Auch mit eigenen Erinnerungen und Bildern, die sich mit denen Braudels vergleichen ließen, kann ich im Folgenden nicht aufwarten. Daher bitte ich um Nachsicht, wenn ich mich mit der traditionellen Historikerhaltung eines „sine ira et studio“ meinem Gegenstand nähern werde. Einige der hier vorgestellten Überlegungen habe ich bereits in dem von Thomas Beck und mir verfassten „Katechismus der Geschichtswissenschaft“ (2005) vorweg genommen.

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Auch wenn man versucht ist, diesen Satz als bloßes Bonmot abzutun, das sich nicht oder allenfalls mittelbar auf das historiographische Konzept Braudels bezieht, bleibt die Frage: Welchen Stellenwert schreibt Braudel Zeit und Raum zu? Um diese beantworten zu können, empfiehlt es sich, zuerst einen Blick auf den zeitgenössischen Kontext zu werfen.

Fernand Braudel und die Schule der Annales Fernand Braudels Buch „La Mediterranee et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II“ erschien in Paris im Jahre 1949. Geschrieben hat Braudel das einbändige, 1160 Seiten starke Werk2 aber vor allem in den bewegten Zeiten der französischen Kolonialherrschaft in Algerien (1924–1930), der Vargas-Diktatur in Brasilien (1934–1937) und der Kriegsgefangenschaft in Deutschland (1940–45).3 Braudel war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits 47 Jahre alt, hatte aber noch keine längere Publikation vorzuweisen. Er widmete das Buch seinem väterlichen Freund Lucien Febvre, einem der Begründer der Schule der „Annales“. Braudel war mit seinem opus magnum in den Kreis der Schule aufgenommen, die angetreten war, die Historiographie des 20. Jahrhunderts zu revolutionieren. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert sah sich nämlich die „Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen“, also die „traditionelle“ Geschichtswissenschaft, die sich auf „große“ Personen und Ereignisse konzentriert, ebenso wie die Nationalgeschichte, in ein Rückzugsgefecht verwickelt. Dieses führte und führt sie mit wechselndem Erfolg: Beobachtet man den Buchmarkt, scheint sie heute wieder „Konjunktur“ zu haben – auch wenn man vielleicht den Eindruck haben kann, dass hier nicht mehr Wissenschaft per se oder für peers, sondern für ein „breiteres Publikum“ betrieben wird. Jedenfalls ist nicht zu verkennen, dass die Ereignisund Personengeschichte zunehmend weniger das Feld beherrscht. Insbesondere vergleichende Ansätze4 machen ihr heute erfolgreich das Feld streitig. Vorausgegangen waren Ansätze, wie sie etwa von Karl Lamprecht (1856– 2 In der mir vorliegenden zweibändigen Paperback-Ausgabe von 1979 (4. Auflage), nach der

ich im Folgenden zitiere, sind es 1216 eng bedruckte Seiten.

3 Die wichtige Einleitung des Buches datiert bereits vom Mai 1946; die Verteidigung seiner

thèse fand am 1. März 1947 statt.

4 Die von Historikern praktizierte „vergleichende Methode“ darf sich nicht in dem Aufspü-

ren von oberflächlichen Analogien und Unterschieden und dem additiven Nebeneinanderstellen von Befunden erschöpfen. Um den sperrigen Gegenstand zugänglicher zu machen, ist eine stete Verfeinerung der vergleichenden Methode vonnöten. Selbstverständlich ist die vergleichende Methode nicht nur synchron, sondern auch diachron einsetzbar. Die rekonstruierten Typologien müssen in diesem Fall strikt quellenbasiert sein, d. h. man darf nicht abstrakte Typologien ohne Kenntnis der Quellen und ihrer Aussagekraft auf andere Epochen übertragen. Dies ist schwierig, da nur die wenigsten Historiker intime Quellenkenntnis in mehr als einer Epoche haben. Diachrone Vergleiche gehören daher zu den ambitioniertesten, weil voraussetzungsreichsten Aufgaben des Historikers. Denn zwei Tatsachen entrinnen

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1915) vertreten wurden, der die Erforschung der kulturellen Basis historischer Epochen gefordert hatte, oder die sozialhistorischen Ansätze von Marc Bloch und Lucien Febvre, die historisches Handeln nicht länger von oben, gewissermaßen vom First des Gebäudes, her verstehen wollten; vielmehr spürten sie vom Fundament, quasi von „unten“, den in der traditionellen Nomenklatur „Namenlosen“ nach; vor allem mit seriellen und statistischen Methoden wollte die AnnalesSchule die Stimme der „anonymen Masse“ hörbar machen.5 Das Verdienst der Annales-Schule in Frankreich liegt also darin, die Geschichtswissenschaft für strukturelle Phänomene geöffnet und den Methodenpluralismus – insbesondere durch die Anwendung von quantitativen Verfahren – in sinnvoller Weise praktiziert zu haben. Die in der Annales-Schule entstandenen Wörterbücher, Konkordanzen und Handbücher haben zweifellos dauerhaften Wert. Unwidersprochen blieben aber weder ihre Methoden noch ihre Ergebnisse. Ein Zielobjekt der Kritik war die sogenannte Mentalitätsgeschichte, die viele Historiker, vielleicht nicht ganz zu Recht, für das zentrale Thema der Annales-Schule halten.6 Als erster hat der französische Mediävist Marc Bloch die »mentalité« als geschichtsmächtige Struktur thematisiert.7 Dabei ging er davon aus, dass zu bestimmten Zeiten und in bestimmten gesellschaftlichen Klassen spezifische Denkmuster gewissermaßen als Matrix ausgeprägt werden. Die dabei beobachtete Persistenz dieser Muster hat später Fernand Braudel prägnant als „Gefängnis der langen Dauer“8 apostrophiert. Die Mentalitätsgeschichte war bis vor kurzer Zeit noch en vogue, scheint aber mittlerweile in eine Sackgasse geraten zu sein – und dies aus unterschiedlichen Gründen. Problematisch erscheint mir vor allem ihr Anspruch, Begriffe formulieren zu können. Angeblich sei sie sogar in der Lage, „epochale Geistesverfassungen“, z. B. eine „mentalité de l’ère féodale“9 zu rekonstruieren. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Arbeiten haben aber gezeigt, dass sich in Fragen der Mentalitäten keine monolithischen Blöcke ausmachen lassen. Pointiert ausgedrückt: es gibt überhaupt keine Mentalität eines Volkes, einer Schicht oder eiwir auf absehbare Zeit nicht: erstens, dass wir Geschichte nur „szenisch“ begreifen können, die Szenen also wesentliche Erkenntnisse entfalten und einen Anfang und einen Schluss haben müssen, mithin einer Epoche oder Periode bedürfen; zweitens, dass jedes Handeln in die Zukunft zwar ungewiss, aber jedes Handeln ohne Plan schieres Vabanquespiel ist. Letzterem könmen wir nur dann entrinnen, wenn die Datenbasis für die nötige Extrapolation unserer historisch bedingten Gegenwart in die Zukunft möglichst lückenlos ist. 5 Die Publikationen über die Annales-Schule sind mittlerweile ähnlich umfangreich wie die Publikationen der Vertreter der Annales-Schule selbst. Für eine erste Orientierung vgl. Burke 1991. 6 Vgl. dazu auch Burke 1997. 7 Vgl. dazu Müller 2011. 8 Braudel 1958: 731: „les cadres mentaux, aussi, sont prisons de longue durée.“ 9 Bloch 1994: 116.

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ner Region. In Wirklichkeit geht es hier um die Eruierung eines Codes, also um Diskurse, in denen um „Bedeutung“ gerungen wird. Der Historiker entdeckt in den Quellen, wie ich meine, nicht „Mentalität“, sondern „Struktur“10.11

Braudels historiographisches System Braudel selbst scheint sich dieses Problems später durchaus bewusst gewesen zu sein. Jedenfalls sprach er in seinem Werk häufiger von Strukturen und Prozessen als von „Mentalitäten”. Wo und wie aber sind nun diese Strukturen und Prozesse innerhalb des größeren Ganzen, der Geschichte, einordnen? Wie verhalten sie sich gegenüber singulären Ereignissen oder kurzfristigen Wandlungen? Da in der Geschichte, je nach wahr nehmendem Subjekt und wahr genommenem Objekt, theoretisch unendlich viele verschiedene Zeiten existieren, ordnete Braudel sie in ein dreistufiges Grundschema ein: die Zeitstufe der „Strukturen“ oder „langen“ Dauer, die Zeitstufe der „Konjunkturen“ oder „mittleren Dauer“ und schließlich die Zeitstufe der „Ereignisse“ oder der kurzen Dauer. Diesen drei Zeitstufen entsprechen bestimmte historische, insbesondere sozialgeschichtliche Realitäten. Der Historiker im Braudel’schen Sinne sei nun in der Lage, den Einfluss und die Relevanz dieser Realitäten zu analysieren und adäquat zu beschreiben. Sein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der longue durée. Deren nur unmerklich wandelbare Strukturen und langsame Prozesse dauern mindestens ein Jahrhundert (oder drei Generationen). Sie sind das schon genannte „Gefängnis der langen Dauer“, weil sie die Grenzen des Möglichen und Unmöglichen, den Handlungsspielraum der Individuen und Kollektive bilden. Beispiele dafür sind die Zivilisationen, die sich von bestimmten Grundnahrungsmitteln wie Oliven, Getreide und Wein ernähren und die ihr Leben auf den jahrhundertelangen Rhythmus von Säen und Ernten, Arbeit und Freizeit eingerichtet haben. Es ist primär die Geschichte der naturräumlichen Elemente wie der Berge und Täler oder der Straßen und Schiffsrouten. Aber auch die Religion gehört nach Braudel zu den Elementen der longue durée. Die Strukturen der langen Dauer sind die allgemeinsten und am tiefsten wirkenden, aber oft auch die von Zeitgenossen am 10 Als „Strukturen“ bezeichnen die Historiker nach Braudel in der Regel Grundmuster, die

über eine lange Zeitdauer relativ stabil sind (wie z. B. kulturelle Werte, Rituale, Techniken, das Wirken von Institutionen wie der Kirche), als Prozesse dagegen komplexe Veränderungen, die grundlegend an der Organisation von größeren Menschengruppen wie Staaten oder Kulturkreisen rühren (wie z. B. die Industrialisierung). Prozesse und Strukturen eignen sich besonders für eine Periodisierung von Geschichte, da sie sich gut beobachten und einfach beschreiben lassen. 11 Vgl. auch Foucault 1977: 39: „… aber es geht auch nicht darum, Strukturen zu finden, die dem Ereignis vorausliegen, ihm fremd und feindlich sind. Es gilt, die verschiedenen, verschränkten, oft divergierenden aber nicht autonomen Serien zu erstellen, die den „Ort“ des Ereignisses, den Spielraum seiner Zufälligkeit, die Bedingungen seines Auftretens umschreiben lassen.“

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wenigsten spürbaren, explizit gemachten und daher von modernen Historikern oft übersehenen Faktoren. Braudel verstand sich zeitlebens als Anwalt gerade dieser longue durée. Selbstverständlich gibt es neben dieser langen, „gleichsam unbewegten“ Geschichte weitere, andere, kürzere Rhythmen. Die Zeit der mittleren Dauer, die sich über Jahre oder Jahrzehnte erstreckt, wird von Braudel auch als die Zeit der „Konjunkturen“, der „Gruppenbewegungen“ (des movements d’ensemble) oder schlicht als „soziale“ Zeit bezeichnet. Hier wiederholen sich über mehrere Jahre hinweg immer wieder bestimmte politische, soziale und kulturelle Ereignisse; oder – andere Möglichkeit – sie entstehen und schwinden innerhalb des Zeitraums einer Generation. Der Aufstieg und Niedergang einer überregional wirkenden Handelsstadt oder das Lebensgefühl der Deutschen nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Bedingungen des Versailler Vertrags wären Beispiele für eine solche „soziale Zeit“ oder Konjunktur. Diese Konjunkturen bilden dann ihrereits oft Referenzpunkte oder Bezugsrahmen für die die dritte Zeitkategorie, den Begebenheiten der kurzen Dauer. Es ist die Ebene mit Ereignis(„événementielle“-)Charakter, plötzliche oder über wenige Tage andauernde Vorgänge. Beispiele wären etwa Schlachten zwischen Nationen, Erdbeben oder auch die Publikation eines Bestsellers. Geschichte lässt sich nach Braudel nicht verstehen, wenn nur diese Ereignisgeschichte, die histoire événementielle, berücksichtigt wird. Er veranschaulicht sein Konzept gerne mit dem Bild vom Strom der Geschichte, wo die Oberfläche mit ihren Wellenbewegungen zwar gut sichtbar ist, aber gegenüber den tiefer liegenden Wasserströmen auch ephemer und unter globaler Perspektive unbedeutend wirkt. Zweifellos ein faszinierendes Konzept! Vor allem eines, das den Blick für die langfristigen Prozesse und Strukturen in der Geschichte freilegen kann. Allerdings auch eines, das bei näherem Hinsehen einige Unklarheiten aufweist.12 Eines der Probleme des Braudelschen Einteilung kann man etwa an der Geschichte seines eigenen Werkes verdeutlichen. Während das Erscheinen von La Méditerranée im Jahre 1949 zunächst einmal ein Ereignis der kurzen Dauer war, hat es sich durch seine Rezeption innerhalb der Historiker-Zunft, insbesondere in der Annales-Schule, zu einer Konjunktur entwickelt. Sollte Braudels „Mittelmeerbuch“ eines Tages zum Allgemeingut unserer Kultur werden, wofür es gewisse Anzeichen gibt, wäre es schließlich auch Teil der longue durée. Es gab und gibt weitere Einwände gegen Braudels Zeitkonzept, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann.13 Stattdessen will ich mich dem zweiten großen The12 Vorgeworfen wurde Braudel u. a. auch, dass er zu seiner Zeit veraltete Literatur zitierte und

wichtige moderne Literatur – nach Péguy 1986 sogar absichtlich – nicht rezipierte. So kennt er z. B. Christallers berühmte Zentralitätstheorie (1933) nicht. 13 Bailyn wirft Braudel vor, dass sein Buch zwar ein Thema, aber keine Problemstellung habe. Braudel versuche das Unmögliche: alles, was man über das 16. Jh. weiß, in ein Werk zu pa-

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ma in Braudels Konzept, dem Raum und insbesondere dem Mittelmeerraum zuwenden.

Braudels Raumbegriff14 Braudel hat nicht erst seit seinem berühmten Aufsatz „Histoire et sciences sociales: La longue durée“ von 1958, wie man gelegentlich liest, die „lange Dauer“ für prinzipiell identisch mit der géohistoire erklärt.15 Ohne dass er dies explizit gesagt hätte, macht Braudel hier Anleihen bei der modernen Physik, wenn er die longue durée auch als „geographische Zeit“ bezeichnet. Denn in dem Raum-ZeitGefüge der Relativitätstheorie Einsteins bedingen Raum und Zeit sich wechselseitig und fallen in einer gleichsam kosmischen Perspektive zusammen. Zu Recht beschreibt Braudel den Raum nicht einfach nur als einen „Container“ oder eine „Schaubühne“,16 auf der sich historisches Geschehen abspielt.17 Braudels Leistung liegt darin, dass er uns gelehrt hat, den Raum als Bündel von komplexen Beziehungen zwischen der Landschaft und dem Menschen zu verstehen. Allerdings: das Bündel ist vielleicht komplizierter verschnürt, als Braudel gedacht hat.18 Denn dieses scheint mir in diesem Zusammenhang betont werden zu müssen: Auch der Raum kann letzten Endes vom Historiker nicht ahistorisch betrachtet werden. Als Historiker oder historisch arbeitende Forscher haben wir bei seiner Erkundung ebenso wenig direkten Zugriff auf ihn, wie wir auf historisches Geschehen direkten Zugriff haben. Wir arbeiten stattdessen mit Schriftquellen oder materiellen Hinterlassenschaften und damit letztlich mit den darin vorhandenen Informationen, genauer gesagt: den „Zeichen“ (im Wittgenstein’schen Sinne). Zeichensysteme sind in sich logische Verweis-Gruppierungen, die keine eindeutige Sinnzuordnung zur Welt besitzen, vielmehr ein Fundus von Repräsentanten sind, die diskursabhängig auf etwas „Gemeintes“ hinweisen. Der Aufbau cken. Das Braudel’sche Schema sei nur vordergründig ein Ordnungsprinzip, in Wirklichkeit trenne es viele Dinge, die zusammengehören. In der historischen Praxis sei damit eine Konstruktion einer „integrierten Welt“ nicht möglich: „The fact is that Braudel reached closest to his goal of an integrated study of „world“ only when he neglected the means he had chosen to lead to this end“ (Bailyn 1951: 282). 14 Vgl. dazu auch Piltz 2009. 15 Vgl. die Zusammenfassung „Géohistoire et détermisme“ am Ende des 1. Teils seines Mittelmeerbuchs (S. 295–304 der 1. Aufl. 1949). In späteren Auflagen fehlt sie allerdings. 16 Er ist auch mehr als ein simples Konglomerat aus politischen Areas oder aus geomorphologischen Einheiten. Braudel zeigt ein erstaunliches Bewusstsein für den Wandel von ökologischen Faktoren, der Bedeutung von Ressourcen als Kulturgütern u. a. m. 17 „Braudel trennt die Geschichte also nicht mehr von den Räumen, in denen sie geschieht, sondern führt sie mit ihren Landschaften, Äckern und sogar mit ihren Blumen vor Augen“ (Günzel 2010: 122). 18 Und wahrscheinlich gibt es auch mehr als eine Methode, dieses komplexe Bündel zu entwirren.

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der Zeichensysteme entspricht also nicht dem Aufbau der Welt, oder anders gewendet: ein Begriff entspricht nicht e i n e m Ding; ein Satz entspricht nicht e i n e m Sachverhalt.19 Vielmehr verhalten sich Zeichensysteme zur Welt – oder besser: zur jeweiligen Meinung von der Welt – wie Schachfiguren und Spielregeln zum Schachspiel. Figuren und Regeln schließen absurdes Handeln aus, determinieren jedoch nicht die Abfolge von Zügen. Jeder Schachspieler weiß, dass es keinen Plan vom ersten bis zum letzten Zug geben kann, eben genau deshalb, weil er nicht wissen kann, welche Züge sein Gegenüber machen wird. Gleichwohl ist völlig klar, welche Züge in der jeweiligen Situation ausgeschlossen sind. In dieser Weise wirken Zeichensysteme als Regelwerke für Kommunikation, ohne die Kommunikation zu determinieren. Die Aufgabe des Historikers kann letzten Endes nur in der Eruierung von Codes oder Zeichensystemen liegen.20 Zeichen werden aber sowohl vom historischen Akteur als auch vom rezenten Historiker benutzt.21 Daher ist eine Art „doppelter Hermeneutik“ anzuwenden, um die historischen und räumlichen Verhältnisse unzweideutig darstellen zu können. Dies heißt nicht nur, dass der Historiker vor einer codierten „gemeinten Welt“22 sitzt, wenn er Quellen liest, die er dechiffrieren muss, sondern auch, dass er stets gegenüber seinen eigenen „Gewissheiten“, seinen „Vorannahmen“ zu seiner eigenen Zeit kritisch bleiben sollte. Gesagtes gilt ebenso für den „Raum“ im Braudel’schen Sinne, der géohistoire. Auch er ist trotz seiner Mächtigkeit und Stabilität nichts „Festes“, sondern letztlich ein historisches Konstrukt, das von modernen Forschern jeweils neu dechiffriert werden muss. Vielleicht hat Braudel diesen möglichen Einwand schon ge19 Wittgenstein 1989: 4. 20 Auf diesen Sachverhalt hat Ludwig Wittgenstein in seinem so genannten „Linguistic Turn“

nach seiner Emigration 1932/33 hingewiesen: „Wenn wir sagen: ›jedes Wort der Sprache bezeichnet etwas‹, so ist damit vorerst noch gar nichts gesagt; es sei denn, daß wir genau erklärten, welche Unterscheidung wir zu machen wünschen. (Es könnte ja sein, daß wir die Wörter der Sprache … von Wörtern ›ohne Bedeutung‹ unterscheiden wollten, wie sie in Gedichten Lewis Carroll’s vorkommen, oder von Worten wie ›juwiwallera‹ in einem Lied.)“ (I 13 = 2001: 751). Vgl. auch: „Am direktesten ist das Wort ›bezeichnen‹ vielleicht da angewandt, wo das Zeichen auf dem Gegenstand steht, den es bezeichnet. Nimm an, Werkzeuge, die A beim Bauen benützt, tragen gewisse Zeichen. Zeigt A dem Gehilfen ein solches Zeichen, so bringt dieser das Werkzeug, das mit dem Zeichen versehen ist. / So, und auf mehr oder weniger ähnliche Weise, bezeichnet ein Name ein Ding, und wird ein Name einem Ding gegeben. – Es wird sich oft nützlich erweisen, wenn wir uns beim Philosophieren sagen: Etwas benennen, das ist etwas Ähnliches, wie einem Ding ein Namentäfelchen anheften“ (I 15 = 2001: 752). 21 Dies hat z. B. Müller 2001 für die Interpretation vor- und frühgeschichtlicher Zeugnisse gefordert. 22 In der „gemeinten Welt“ gibt es Paradigmata, die autoritativen Charakter haben und zeitbedingt darüber entscheiden, ob jemand eine plausible Aussage macht bzw. einen Begriff „richtig“ gebraucht, oder ob jemand „Unsinn“ redet bzw. ein Zeichensystem „falsch“ verwendet, worauf Michel Foucault (vgl. oben Anm. 11) eindringlich hinwies.

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ahnt, als er in späteren Auflagen seines Mittelmeerbuchs einen Satz an den Anfang des 1. Teils stellte, der in der Erstauflage noch fehlte: „La géographie, à laquel nous pouvons comme à l’histoire tout demander, privilégie ainsi une histoire q u a s i [von mir gesperrt; KG] immobile …“ („Die Geographie – der wir, genau wie der Geschichte, jede Frage stellen können – begünstigt also die Entdeckung einer quasi unbewegten Geschichte …“).23 Wegen der „doppelten Hermeneutik“ sind der Übertragbarkeit des Braudel’ schen Konzepts auf andere Epochen – etwa der antiken Mittelmeerwelt – klare Grenzen gesetzt. Macht man sich diese allerdings bewusst, werden auch Altertumswissenschaftler mit Gewinn zu diesem Klassiker der modernen Geschichtswissenschaft greifen.24

Literaturverzeichnis „Braudeliana“ Braudel, Fernand: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. 3 Bde. Übers. v. Grete Osterwald. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990. [Original [einbändige Erstauflage]: La Méditerranée et le Monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. Paris: Libairie Armand Colin, 1949]. Braudel, Fernand: Histoire et sciences sociales : La longue durée. In: Annales 13 (1958). S. 725–58; dt. Die lange Dauer. In: Schieder, Theodor; Gräubig, Kurt (Hrsg.): Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977. S. 164–204 (Wege der Forschung, 377). Braudel, Fernand: Die Suche nach einer Sprache der Geschichte: Wie ich Historiker wurde. Übers. v. Walle Bengs. In: Braudel, Fernand ; Febvre, Lucien ; Momigliano, Arnaldo; Davis, Natalie Zemon; Ginzburg, Carlo; LeGoff, Jacques, Koselleck, Reinhard: Der Historiker als Menschenfresser: Über den Beruf des Geschichtsschreibers. Berlin: Klaus Wagenbach, 1990 (Wagenbach Taschenbuch; 187). S. 7–14. Braudel, Fernand: Les mémoires de la Méditerranée : Préhistoire et antiquité ; Édition établie par Roselyne de Ayala et Paule Braudel ; Préface et notes de Jean Guilaine et Pierre Rouillard. Paris: Éditions de Fallois, 1998. Braudel, Fernand: Geschichte als Schlüssel zur Welt: Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941. Hrsg. v. Peter Schöttler. Stuttgart: Klett-Cotta, 2013. [Original in Bd. 2 der Werkausgabe: Les écrits de Fernand Braudel, hrsg. v. Roselyne de Ayala u. Paule Braudel. Paris: Éditions de Fallois, 1997].

Sekundärliteratur Bailyn, Bernard: Braudel’s geohistory – a reconsideration. In: Journal of Economic History 11, 3 (1951). S. 277–82. 23 Braudel 1949: [3] bzw. Braudel 2001: 31. 24 Braudels eigener Versuch auf dem Feld der Alten Geschichte, geschrieben in den Jahren

1968/70, erschien erst postum. Vgl. Braudel 1998.

FERNAND BRAUDELS „GÉOHISTOIRE“ DES MITTELMEERRAUMES

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Beck, Thomas; Geus, Klaus: Katechismus der Geschichtswissenschaft: Ein Lehrbuch in 100 Fragen und Antworten. 2., überarb. und erw. Aufl. Oberhaid: Utopica, 2005 (Lehr– und Handbücher für Wissenschaft und Unterricht; Bd. 1). Beck, Thomas / Müller, Johannes: Sozialtheorien und archäologische Interpretation. In: Müller, Johannes (Hrsg.): Vom Endneolithikum zur Frühbronzezeit: Muster sozialen Wandels? (Tagung Bamberg 14.–16. Juni 2001). Bonn: Rudolf Habelt, 2002. S. 15–9 (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie; 90). Bloch, Marc: La société féodale. Paris: Albin Michel, 1994 [orig. 1939–1940]. Burke, Peter: Offene Geschichte: Die Schule der „Annales“. Berlin: Wagenbach, 1991. Burke, Peter: Strengths and weaknesses in the history of mentalities. In: Burke, Peter: Varieties of cultural history. Ithaca; New York: Cornell University Press, 1997. S. 162–82. Christaller, Walter: Die zentralen Orte in Süddeutschland: Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeit der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischer Funktion. Jena: Fischer, 1933 (Ndr.: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980 u. ö.). Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt/Main; Berlin; Wien: Ullstein, 1977 (Anthropologie = Ullstein-Buch 3367). Günzel, Stephan (Hrsg. unter Mitarbeit von Franziska Kümmerling): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart; Weimar: J. B. Metzler, 2010. Müller, Johannes: Hermeneutics and Natural Science in Prehistoric Archaeology. In: Archaeologia Polona 39 (2001). S. 147–53. Müller, Bertrand: Le concept de civilisation et l’évolution historiographique dans les annees 1930. In: Schöttler, Peter; Rheinberger, Hans-Jörg (Hrsg.): Marc Bloch et les crises du savoir. Berlin: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 2011 (Preprint 418). S. 27–37. Péguy, Charles-Pierre: L’univers géographique de Fernand Braudel. In: Éspace Temps 34/5 (1986). S. 77–82. Piltz, Eric: „Trägheit des Raums“: Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft. In: Döring, Jörg; Thielmann, Tristan: Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. 2. unv. Aufl. Bielefeld: transcript, 2009. S. 75–102. Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung: Tractatus logico-philosophicus; Kritische Edition. Hrsg. v. Brian McGuinness u. Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen: Kritisch-genetische Edition. Hrsg. v. Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001.

Helmuth Schneider Das Zeitalter der Phoiniker, Griechen und Etrusker Urbanisierung, Handel und kultureller Wandel im Mittelmeerraum zwischen 1000 und 500 v. Chr.

Mit dem Erscheinen von Fernand Braudels ‚La méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II.’ im Jahr 1949 hat sich der Blick des Historikers auf das Mittelmeer und den Mittelmeerraum grundlegend verändert: Der Raum und die naturräumlichen Voraussetzungen, mit denen Gesellschaften konfrontiert waren, wurden zu einem zentralen Thema der Geschichtswissenschaft.1 Um eine Verbindung zwischen dem scheinbar zeitlosen, kaum Veränderungen unterworfenen Naturraum und dem historischen Geschehen herzustellen, formulierte Braudel die These, der Historiker habe es bei der Analyse von Gesellschaften mit drei Zeitebenen zu tun, die er als l’histoire de longue durée, als l’histoire conjoncturelle und l’histoire événementielle bezeichnet hat.2 Die histoire conjoncturelle kann aufgefasst werden als die Geschichte langdauernder Entwicklungen und Prozesse, während die histoire événementielle die Geschichte der Ereignisse ist, die von kurzer Dauer sind und nach Auffassung von Braudel für den modernen Historiker gegenüber der longue durée und den wirtschaftlichen Strukturen nur eine geringe Relevanz besitzen. Der Ansatz von Braudel stellt eine grundsätzliche Neuorientierung der historischen Fragestellung dar, denn die naturräumlichen Voraussetzungen historischer Gesellschaften waren vor ‚La méditerranée’ 1 Zu Braudel vgl. P. Burke, Offene Geschichte. Die Schule der Annales, Berlin 1991, S. 37-

47. L. Raphael, Fernand Braudel (1902-1985). La méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II., in: V. Reinhardt (Hrsg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997, S. 62-65. L. Raphael, Fernand Braudel (1902–1985), in: Ders. (Hrsg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft, Band II, Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis, München 2006, S. 45-62. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Werk Braudels bietet H. Lutz, Braudels La Méditerranée. Zur Problematik eines Modellanspruchs, in: R. Koselleck, H. Lutz, J. Rüsen (Hrsg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982 (= Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik Band 4), S. 320-352. 2 Vgl. dazu auch F. Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften – Die longue durée, in: H.U. Wehler (Hrsg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972, S. 189-215 (ursprünglich: Histoire et Sciences Sociales. La Longue Durée, Annales 13, 1958-725–753).

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von der Geschichtswissenschaft kaum angemessen wahrgenommen und nicht systematisch untersucht worden.3 In den Altertumswissenschaften wurde Braudels ‚La méditerranée’ zunächst kaum rezipiert, obwohl gerade die Althistorie diejenige historische Disziplin ist, die mit Griechenland und Rom vor allem Gesellschaften des Mittelmeerraumes zum Gegenstand hat. Immerhin ist zu beachten, dass fast gleichzeitig mit Braudel M. Cary eine Monographie über die geographischen Grundlagen der griechischen und römischen Geschichte verfasste; allerdings fand dieses Buch nicht die Beachtung, die es verdient hätte.4 Die griechische und römische Geschichte stand weiterhin im Zentrum der Althistorie, die naturräumlichen Voraussetzungen der antiken Geschichte wurden hingegen nur selten thematisiert, das Erklärungspotential des Braudelschen Modells für die Analyse vormoderner Gesellschaften und insbesondere für die Geschichte des Mittelmeerraumes wurde allenfalls in Ansätzen genutzt.5 Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten entstand vornehmlich in der englischsprachigen althistorischen Forschung ein Interesse am Mittelmeerraum als ganzem, das seinen Ausdruck in einer Reihe von Monographien und Aufsatzbänden fand.6 Der Versuch, die Antike als eine auch durch die naturräumlichen Voraussetzungen des Mittelmeerraumes geprägte Epoche zu bestimmen, stieß indes auf eine entschiedene Kritik, die sich gegen den „Mythos vom Mittelmeerraum“ richtete.7 An dieser Stelle kann auf die Argumentation einer solchen Kritik nicht näher eingegangen werden, es soll aber darauf hingewiesen werden, dass die The3 Im vergangenen Jahrzehnt hat es in der Geschichtswissenschaft wiederum eine Hinwendung

zum Raum gegeben; der ‚Spatial Turn’ wurde als Paradigmenwechsel gesehen, doch hier ging es nicht primär um die naturräumlichen Bedingungen menschlichen Handelns, sondern um die vom Menschen geschaffenen Räume, um die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren, die auf die Wahrnehmung und Gestaltung des Raumes einwirkten. Vgl. dazu K. Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. 4 M. Cary, The geographic background of Greek and Roman History, Oxford 1949. 5 Eine Ausnahme: H.-J. Gehrke, Geographische Grundlagen, in: H.-J. Gehrke, H. Schneider (Hrsg.), Geschichte der Antike. Ein Studienbuch, Stuttgart 2000, S. 1–8. 4. Aufl. Stuttgart 2013, S. 28-36. 6 Vgl. vor allem P. Horden, N. Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History, Oxford 2000. W. V. Harris (Hrsg.), Rethinking the Mediterranean, Oxford 2003. R. Sallares, Ecology, in: W. Scheidel, I. Morris, R. Saller (Hrsg.), The Cambridge Economic History of the Greco-Roman World, Cambridge 2007, S. 15–37. Vgl. ferner R. Schulz, Die Antike und das Meer , Darmstadt 2005. In der Geographie wurde der Mittelmeerraum über die Ländergrenzen hinweg zum Thema: H.-G. Wagner, Mittelmeerraum, Darmstadt 2001. Die Geschichte des Mittelmeerraumes von der Bronzezeit bis zum 20. Jh. ist Gegenstand einer bedeutenden neueren Monographie: D. Abulafia, The Great Sea. A Human History of the Mediterranean, London 2011 (dt. Das Mittelmeer, Frankfurt 2013). 7 D. Timpe, Der Mythos vom Mittelmeerraum: Über die Grenzen der alten Welt, Chiron 34, 2004, 1–23.

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se, „konkret und wichtig“ seien „doch vor allem die durch geographische Beinamen vielfältig spezifizierten Teilmeere und Buchten“,8 im Widerspruch zu der Beschreibung des Mittelmeeres schon bei Strabon steht. In der zwei Bücher umfassenden Einleitung seines Werkes zur Geographie bezeichnet es Strabon als die Aufgabe des Geographen, die Gestalt und die Größe des bewohnten Teils der Erde anzugeben und zugleich die Eigenart dieser Gebiete darzulegen.9 Zwischen dem Meer und dem Land bestand nach Strabon eine enge Beziehung, denn das Meer formte durch Buchten, Meerengen, Landengen, Halbinseln und Vorgebirge das Festland; die von Natur aus entstandenen Vorzüge und Nachteile eines Gebietes sind vom Geographen darzustellen, weil sie im Gegensatz zu den von den Menschen geschaffenen räumlichen Strukturen von Dauer sind.10 Die bewohnte Welt ist nach Strabon vom Meer umgeben und weist vier große Buchten auf, das Kaspische Meer, das hier nicht als Binnengewässer, sondern als Teil des Okeanos gesehen wird, den Persischen Golf, den Arabischen Golf (das rote Meer) sowie das Meer, das inneres oder unser Meer genannt wird, das Mittelmeer. Von Westen nach Osten erstreckt sich dieses Meer von den Säulen des Herakles, der Straße von Gibraltar, bis zu den Regionen des Ostens.11 Im folgenden Abschnitt beschreibt Strabon ausführlich dieses innere Meer, zu dem nach seiner Auffassung auch der Pontos Euxeinos, das Schwarze Meer, gehört.12 Das Mittelmeer ist stark untergliedert: Strabon erwähnt das westliche Mittelmeer, das im Osten von Italien und Sizilien begrenzt wird, das Sizilische Meer, das von Unteritalien im Westen bis Epirus, bis zur Peloponnes und bis Kreta im Osten reicht, das im Süden angrenzende Libysche Meer, die Adria zwischen Illyrien und Italien, die Ägäis, das Schwarze Meer, das durch Meerengen mit der Ägäis verbunden ist, und schließlich das östliche Mittelmeer.13 Abschließend nennt Strabon als südlichsten, nördlichsten, westlichsten und den östlichsten Punkt des Mittelmeeres die große Syrte, die Mündung des Tanais (h. der Don), die Meerenge bei den Säulen und Dioskourias an der Ostküste des Schwarzen Meeres, eine Stadt, die – wie Strabon zu Recht behauptet – weiter östlich als der Golf von Issos liegt.14 Gerade diese Angaben zeigen mit aller Deutlichkeit, dass für Strabon das Mittelmeer eine räumliche Einheit begründete. 8 Timpe, Mythos (wie Anm. 7), S. 7. 9 Strab. 2, 5, 13. Zu Strabon vgl. J. Engels, Augusteische Oikumenegeographie und Universal-

historie im Werk Strabons von Amaseia, Stuttgart 1999.

10 Strab. 2, 5, 17. Es ist im übrigen faszinierend zu sehen, dass ein antiker Geograph ähnlich wie

Braudel zwischen den von Natur aus gegebenen Verhältnissen, die dauernden Bestand haben, und den von Menschen geschaffenen Gegebenheiten, die von unterschiedlicher Dauer sind und über längere oder kürzere Zeit existieren, differenziert hat. 11 Strab. 2, 5, 18. 12 Strab. 2, 5, 19–25. Pontos Euxeinos: Strab. 2, 5, 18. 2, 5, 22–23. 13 Strab. 2, 5, 19–25. 14 Strab. 2, 5, 25.

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Ähnliches gilt für Plinius, der in der naturalis historia konstatiert, dass Europa durch vier große Buchten des Mittelmeeres seine geographische Gestalt erhält; an anderer Stelle listet Plinius die Fahrtdauer von Schiffen auf verschiedenen Seewegen auf und nennt dabei die Routen zwischen Sizilien und Ägypten sowie Puteoli und Ägypten, und ferner zwischen Ostia einerseits und Gades, Hispania citerior, Gallia Narbonensis und Africa andererseits.15 Der ganze Mittelmeerraum von Gades bis Ägypten ist hier im Blick. Es widerspricht demnach keineswegs antiken Vorstellungen, wenn im folgenden der Versuch unternommen wird, die Zeit zwischen 1200 und 500 v. Chr. vor allem unter dem Aspekt der Geschichte des mediterranen Raumes zu erfassen. Dabei werden zunächst die naturräumlichen Voraussetzungen der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung dargestellt (I); Thema der nächsten Abschnitte sind die Phoiniker und Karthager (II) sowie die Griechen (III), die Völker also, die wesentlich zum kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Wandel des Mittelmeerraumes beigetragen haben. Die Entwicklung in Italien und die Beziehungen zwischen den Etruskern einerseits und den Karthagern andererseits werden in Abschnitt IV kurz skizziert. Von entscheidender Bedeutung für die folgenden Jahrhunderte war der kulturelle und wirtschaftliche Wandel im Mittelmeerraum, der in Teil V zusammenfassend beschrieben wird. Zum Abschluss wird auf das Bild des Mittelmeerraumes bei Herodot eingegangen (VI).

I. Die naturräumlichen Voraussetzungen haben die Dynamik der Entwicklungen im Mittelmeerraum keineswegs verursacht oder gar determiniert, aber doch in so hohem Maße beeinflusst, dass es sinnvoll erscheint, die geographischen Faktoren, denen hierbei eine besondere Bedeutung zukommt, kurz zu skizzieren. Ein wichtiger Faktor in der Geschichte des Mittelmeerraumes ist der Kontrast zwischen Ebene und Gebirge. Die mediterranen Länder weisen eine Vielzahl von hohen Gebirgszügen auf, die in Italien und auf dem Balkan vorwiegend in nordsüdlicher Richtung verlaufen. Die Gebirge stellen einen eigenen Lebens- und Wirtschaftsraum dar, dessen Bedingungen sich grundlegend von denen der Ebene unterscheiden.16 Die Temperaturen im Winter sind so niedrig, dass wichtige Kulturpflanzen wie Wein und Olivenbäume nicht gedeihen; an den steilen Hängen der Berge ist ein Getreideanbau ebenfalls nicht möglich. Aus diesen Gründen konnten in der Praemoderne urbane Zentren mit einer größeren Bevölkerung in den Gebirgsregionen nicht mit Lebensmitteln versorgt werden, die Städte der Antike sind auf ein fruchtbares Umland in der Ebene oder im Hügelland an15 Plin. nat. 3, 5. 3, 6. 3, 97. 4, 1. 4, 75. 19, 3f. 16 Strab. 2, 5, 26. Vgl. auch die aufschlussreichen Bemerkungen Strabons zur Lebensweise der

Ligurer: Strab. 4, 6, 2.

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gewiesen.17 Bei den fruchtbaren Ebenen handelt es sich meist um relativ kleine Gebiete, die über den ganzen Mittelmeerraum verteilt sind. Abgesehen von den Alluvialböden in einigen Flusstälern und Böden vulkanischen Ursprungs wie etwa in Campania sind die Böden insgesamt eher humus- und nährstoffarm. In weiten Gebieten sind unter diesen Voraussetzungen nur geringe Ernteerträge zu erwarten; nach Columella wurde im Getreideanbau Italiens allenfalls ein vierfacher Ertrag erreicht.18 Es gab aber auch Landschaften wie etwa Campania oder das Tal des Guadalquivir im Südwesten Spaniens, in denen hohe Überschüsse an Agrarerzeugnissen erzielt werden konnten. Das mediterrane Klima hat die antike Landwirtschaft stark geprägt. Die Niederschlagsmengen sind auf die Jahreszeiten ungleich verteilt; in den Monaten zwischen Oktober und März fällt Regen, es folgt auf diese Monate eine kurze Reifezeit und darauf eine lange Trockenperiode, in der viele Flüsse kein Wasser führen. Der Ackerbau hat sich an diese klimatischen Bedingungen angepasst; die Aussaat des Getreides erfolgte vor Einsetzen des Winterregens, geerntet wurde im Frühjahr. Ein gravierendes Problem für die bäuerliche Bevölkerung stellten die regional unterschiedlichen Niederschlagsmengen dar. Da die Tiefdruckgebiete im Winter von Westen nach Osten ziehen, regnet es stärker an der Westseite der Gebirge in Italien, auf dem Balkan und in Griechenland; aus diesem Grund sind die Niederschläge in Westgriechenland wesentlich höher als in den östlichen Landesteilen oder auf den Inseln der Ägäis.19 Das Drama für die antiken Bauern bestand darin, dass in vielen Regionen der Regen nicht ausreichte, um Weizen anzubauen; obwohl aus Weizen hergestelltes Brot als Nahrungsmittel bevorzugt wurde, baute man unter diesen Bedingungen vornehmlich Gerste an, die weniger Niederschläge als Weizen benötigte. Aber auch so war die Ernährung der Bevölkerung nicht immer gesichert: In trockenen Jahren mit geringen Niederschlägen und einer längeren Dürreperiode konnte es zu Missernten kommen, die Hunger zur Folge hatten. Eine Strategie der Bevölkerung in niederschlagsarmen Regionen bestand darin, zur Pflanzung von Olivenbäumen, die extrem wenig Wasser benötigen, und zum Weinbau überzugehen. Damit entstanden Landschaften, die nicht genügend Getreide für die Versorgung der eigenen Bevölkerung, aber Überschüsse an Öl und Wein produzierten. Ungleich verteilt sind im Mittelmeerraum auch die Bodenschätze, vor allem die Metallvorkommen. In den erdgeschichtlich jungen Kalksteingebirgen werden Edelmetalle, Gold und Silber, nicht gefunden; Eisenerze konnten in vielen Gegenden abgebaut werden, aber das verarbeitete Eisen hatte eine unterschiedliche Qualität, und es gab Vorkommen von Eisenerzen, deren Verhüttung ein Ei17 Dies wusste auch Alexander, wie eine von Vitruvius erzählte Anekdote zeigt: Vitr. 2 praef.

3: „… quaesiit, si essent agri circa, qui possent frumentaria ratione eam civitatem tueri.“

18 Colum. 3, 3, 4. 19 Wagner, Mittelmeerraum (wie Anm. 6), S. 204–207. Zu den stark schwankenden Nieder-

schlagsmengen vgl. Aristot. meteor. 360b.

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sen von hoher Qualität ergab. So war das Eisen von Elba schon früh begehrt, in römischer Zeit wurde Eisen aus Noricum geschätzt. Kupfer kam im Mittelmeerraum relativ häufig vor; wichtiges Zentrum der Kupfergewinnung war die Insel Zypern. Die Vorkommen von Gold und Silber, die ein unabdingbares Material für die Herstellung von Prestigegütern darstellten, waren im wesentlichen auf zwei erdgeschichtlich alte Massive beschränkt; im Ägäisraum handelt es sich um das Rhodopen-Kykladen-Massiv, das sich von den thrakischen Gebirgen über Thasos bis zum östlichen Attika und zur Insel Siphnos erstreckt. Weitere Gebiete mit reichen Metallvorkommen waren der Südwesten und Nordwesten der Iberischen Halbinsel. Neben Eisen wurde in den antiken Gesellschaften in großem Umfang Bronze verarbeitet, eine Legierung von Kupfer und Zinn, die sich wesentlich besser als reines Kupfer zur Herstellung von Geräten und Instrumenten und vor allem zum Guss eignet. Kupfer stand hinreichend zur Verfügung, aber es gibt kaum Vorkommen von Zinn im Mittelmeerraum. Die Suche nach Zinn war ein entscheidender Impuls für die Seefahrt und die Handelsaktivitäten der Phoiniker und Griechen. In der Zeit vor 500 v. Chr. waren nur wenige Marmorbrüche bekannt; Marmor, ein begehrtes Material für Prestigebauten wie Tempel und für Statuen der Götter und Aristokraten, war selten, kostbar und musste in vielen Fällen über größere Entfernungen zu der Baustelle eines Tempels oder zu dem Platz, an dem eine Statue aufgestellt werden sollte, transportiert werden. Das Mittelmeer war für die Gesellschaften der Antike kein die Länder trennendes, sondern ein sie verbindendes Element; es war eine natürliche Infrastruktur, die es ermöglichte, größere Entfernungen mit dem Schiff zu überwinden.20 Der Landtransport war aufwändig, erforderte viele Trag- oder Zugtiere und vor allem ein gut ausgebautes Wegesystem; ein Schiff reichte aus, um Güter von einer Region in eine andere zu bringen, es konnte am Strand oder in einem natürlichen Hafen be- und entladen werden. Wo es notwendig war, konnte durch die Errichtung einer Mole ein sicheres Hafenbecken geschaffen werden. Viele naturgegebene Faktoren haben die Seefahrt auf dem Mittelmeer begünstigt: Im Sommer machte der klare Nachthimmel es möglich, sich auf See an den Gestirnen zu orientieren, die Wind- und die Strömungsverhältnisse erlaubten Fahrten über das offene Meer. Die Küste war aufgrund der hohen Berge, die oft unmittelbar an den Ufern des Meeres aufstiegen und Höhen von über 1500 Metern erreichten, vom Meer her aus großer Entfernung sichtbar; die Besatzungen konnten an den Gipfeln der Gebirge, an den Vorgebirgen und an den Inseln die Position ihres Schiffes bestimmen. Nachteilig für die Seefahrt war die Abhängigkeit von den Jahreszeiten. In den Wintermonaten verhinderten die starken Stürme jede Seefahrt, es bestand ein ho20 Zur Seefahrt auf dem Mittelmeer vgl. M. E. Aubet, The Phoenicians and the West. Politics,

colonies and trade, Cambridge 1993, S. 139–158. F. Prontera, Maritime Communications, in: G. P. Carratelli (Hrsg.), The Western Greeks, Venedig 1996, S. 201–208.

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hes Risiko, Schiffbruch zu erleiden. Der Güteraustausch und der Verkehr hatten auf dem Mittelmeer einen deutlich saisonalen Charakter; sie ruhten im Winter; von Frühjahr bis Herbst befuhren die Seeleute mit ihren Schiffen das Meer, legten dabei weite Strecken zurück, beförderten Güter und stellten die Verbindung zwischen den verschiedenen Regionen des mediterranen Raumes und den verschiedenen Kulturen her. Bei einer Betrachtung des Mittelmeerraumes in der Zeit zwischen 1000 und 500 v. Chr. darf ein Aspekt nicht übersehen werden, der von eminenter Bedeutung war: die Beziehungen zwischen dem Mittelmeerraum und Mesopotamien. Auch hier spielen die naturräumlichen Bedingungen neben der kulturellen Entwicklung eine wichtige Rolle. Das Land zwischen Euphrat und Tigris war gekennzeichnet durch die urbanen Zentren mit Tempeln, Palästen und einer Gesellschaft, in der die Oberschichten über großen Reichtum verfügten. Es bestand ein großer Bedarf an Prestigegütern, die sozialen Rang und Distinktion zum Ausdruck brachten. Mesopotamien, ein Stromtal mit vorwiegend alluvialen Böden, erbrachte mit Hilfe einer Bewässerungskultur hohe Ernteerträge, die der Versorgung der städtischen Bevölkerung dienten, verfügte aber kaum über nennenswerte Bodenschätze.21 Damit war die Voraussetzung für eine Dynamik gegeben, die in der Zeit nach 1000 v. Chr. erhebliche Auswirkungen auf den Mittelmeerraum haben sollte. Für die Gesellschaften Mesopotamiens war es notwendig, sich die Güter anzueignen, die im eigenen Land nicht vorhanden waren oder erzeugt werden konnten, und die wichtigsten Mechanismen dieser Aneignung waren Herrschaftsausübung und Forderung von Tributen.

II. Die an der Küste der Levante gelegene phoinikische Stadt Tyros hatte in der Zeit nach 1000 v. Chr. enge Verbindungen zum Binnenland, die in den Texten des Alten Testamentes dokumentiert sind.22 Hiram, König von Tyros (969–936 v. Chr.), schloss einen Vertrag mit Salomon, der die Lieferung von Zedern- und Zypressenstämmen für den Bau des Tempels in Jerusalem vorsah; die Bäume sollten im Libanon von Arbeitskräften aus Tyros gefällt und über das Meer nach Iudaea gebracht werden; als Gegenleistung erhielt Tyros von dem jüdischen Kö21 M. Sommer, Die Phönizier. Handelsherren zwischen Orient und Okzident, Stuttgart 2005,

S. 150.

22 H. Tadmor, Die Zeit des Ersten Tempels, die babylonische Gefangenschaft und die Res-

tauration, in: H. H. Ben-Sasson (Hrsg.), Geschichte des jüdischen Volkes, 1. Band, Von den Anfängen bis zum 7. Jahrhundert, München 1978, S. 130–132. M. Clauss, Das Alte Israel. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 1999, S. 29–40. S. F. Bondi, Der Gang der Geschichte, in: S. Moscati, Die Phönizier, Hamburg 1988, S. 38–45, bes. 39f. M. E. Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 35–39. 56–57. G. E. Markoe, Die Phönizier, Stuttgart 2003, S. 34–35. Sommer, Phönizier (wie Anm. 21), S. 79–82.

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nigreich Weizen und Öl.23 Auch ein in der Metallverarbeitung erfahrener Bronzeschmied, der Säulen und Geräte für den Tempel verfertigte, kam aus Tyros.24 Bemerkenswert ist die Kooperation zwischen Tyros und König Salomon im Bau von Schiffen für Fahrten auf dem Roten Meer.25 Zwei kurze Erwähnungen zeigen, an welchen Gütern ein Interesse bestand, nämlich an Sandelholz und Edelsteinen sowie an Gold, Silber, Elfenbein, Affen und Pfauen.26 Salomon soll jedes Jahr große Mengen Gold empfangen haben.27 Die grundlegenden Strukturen des Güteraustauschs im Vorderen Orient werden in den Texten des Alten Testaments deutlich erkennbar: Der jüdische König hatte einen hohen Bedarf an wertvollen Materialien wie Gold, Silber und Elfenbein für die Ausstattung des Tempels und für die Insignien der Herrschaft28 sowie an den wertvollen Holzstämmen des Libanon. Es wurden Flotten ausgerüstet, um Prestigegüter aus Ophir, das am Roten Meer lag, herbeizuschaffen. Das Hinterland von Tyros und Sidon wiederum reichte für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln nicht aus, und so schickte Salomon im Gegenzug Getreide und Öl nach Tyros;29 außerdem trat er mehrere Städte in Galiläa an die phoinikische Stadt ab,30 die auf diese Weise Flächen für den Anbau gewann. Tyros betrieb Handel auf dem Seeweg und hatte Erfahrungen im Schiffbau; phoinikische Handwerker stellten bereits Prestigegüter von hoher Qualität her. Zur Zeit Hirams begannen die Phoiniker, sich dem Mittelmeer zuzuwenden; sie waren auf Zypern präsent,31 vielleicht um dort Kupfer zu erhalten, und es bestanden enge Handelskontakte mit Kilikien und dem nördlichen Syrien.32 Mit der Expansion des assyrischen Reiches veränderte sich im 9. Jh. v. Chr. die Situation für Tyros auf geradezu dramatische Weise: Das Vordringen der Assyrer im nordsyrischen Raum hatte zur Folge, dass die phoinikischen Städte nun zum assyrischen Einflussbereich westlich des Euphrats gehörten. Gleichzeitig nahm in Mesopotamien die Errichtung monumentaler Paläste und Tempel, die der Repräsentation und Legitimation der königlichen Herrschaft dienten, die Ressourcen des assyrischen Reiches zunehmend in Anspruch. Hinzu kam der Bau der neuen Residenz Kalchu, die unter Assurnasirpal II. 878 v. Chr. begonnen wurde.33 Königliche Bautätigkeit und Expansion bedingten einander, denn für die 23 1 Kg 5, 15–32. 2 Chr 2, 3–16. 24 1 Kg 7, 13–45. 2 Chr 2, 7. 2, 13–14. 25 1 Kg 9, 26–27. 10, 11. 10, 22. 2 Chr 8, 17–18. Vgl. 1 Kg 22, 49. 26 1 Kg 10, 11. 10, 22. 2 Chr 9, 21. 27 1 Kg 10, 14 (666 Talente). 2 Chr 9, 13. 28 Der Thron Salomons: 1 Kg 10, 18–20. 2 Chr 9, 17–19. 29 1 Kg 5, 25. Vgl. 2 Chr 2, 10. 30 1 Kg 9, 11. Tyros zahlte für diese Städte 120 Talente Gold: 1 Kg 9, 14. 31 Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 42. Sommer, Phönizier (wie Anm. 21), S. 115–116. 32 Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 66–67. 33 Bondi, Gang der Geschichte (wie Anm. 22), S. 41–43. E. Cancik-Kirschbaum, Die Assyrer.

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Finanzierung der Bautätigkeit war es notwendig, auf die Ressourcen eroberter oder abhängiger Gebiete zuzugreifen.34 Die Edelmetalle besaßen für die assyrische Wirtschaft auch deswegen eine hohe Bedeutung, weil Silber einerseits als Zahlungsmittel und als Wertmesser diente und zunehmend auch in großen Mengen gehortet wurde.35 In der ersten Phase der assyrischen Expansion wurden die phoinikischen Städte noch keiner direkten Herrschaft unterworfen, aber sie mussten hohe Tribute an die assyrischen Könige entrichten. Aus Tyros erhielt Assurnasirpal II. (883– 859 v. Chr.) Gold, Silber, Zinn, Leinenstoffe, Affen und Elfenbein, und ebenso Salmanassar III. (858-824 v. Chr.) Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Zedernholz und Elfenbein.36 Gegen Ende des 9. Jh. v. Chr. verschlechterte sich dann die Lage der phoinikischen Städte, denn die Assyrer, die in dieser Zeit gegen Damaskus vorgingen, erhöhten die Tribute um das Zwanzigfache.37 Wie die Listen der Tribute zeigen, handelte es sich um Güter, über die Tyros in seinem kleinen Territorium nicht verfügte, sondern die es sich durch Handelsaktivitäten aneignen musste. Es ist durchaus denkbar, dass die Kaufleute von Tyros seit der Zeit Hirams an Gewinnen aus Handelsgeschäften interessiert waren, aber gerade der Zwang, Edelmetalle in großen Mengen als Tribut an die Assyrer zu liefern, machte es für Tyros notwendig, die geforderten Güter auf Handelsfahrten in weit entfernten Regionen zu beschaffen. Die Handelskontakte zu Ägypten und zu Kilikien sowie die Präsenz auf Zypern halfen den Phoinikern, diese Herausforderung zu meistern. Mit dem phoinikischen Fernhandel, der schließlich das gesamte Mittelmeer umfasste und Tyros sowie Sidon zu Städten mit einem ungeheuren Reichtum werden ließ, beginnt die wirkliche Einheit des Mittelmeerraumes von der Levante bis hin zur Straße von Gibraltar. Die Seefahrt der Zeit zwischen 1000 und 500 v. Chr. unterscheidet sich damit von der Situation der Bronzezeit, in der im östlichen Mittelmeer Verbindungen zwischen Griechenland, der Ägäis und Kreta einerseits und Zypern, der Levante und Ägypten andererseits existierten, aber das westliche Mittelmeer nur in geringem Umfang in diese Handelskontakte einbezogen war. Die Phoiniker fuhren mit ihren Schiffen nach Westen, während sie gleichzeitig die Handelskontakte mit dem syrischen Raum und mit Israel aufrecht erhielten. Auf dem Seeweg erreichten sie Kreta und die Ägäis, Sizilien, Sardinien, das nordGeschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2003, S. 60–62.

34 Vgl. Cancik-Kirschbaum, Assyrer (wie Anm. 33), S. 65–66: „Der Zugang zu neuen Ressour-

cen – sei es in Form von Kriegsbeute und Tributzahlungen, sei es ein Form von langfristig zu leistenden Steuern der eroberten Gebiete – war ein treibendes Element der assyri-schen Expansionspolitik.“ 35 Aubet (wie Anm. 20), S. 60–64. 36 Bondi, Gang der Geschichte (wie Anm. 22), S. 41. Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 46. 70. 37 Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 70–71.

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westliche Afrika und schließlich die Iberische Halbinsel.38 Im Südwesten Spaniens wurden die reichen Silbervorkommen von der einheimischen Bevölkerung abgebaut, und damit ergab sich dort für die Phoiniker die Chance, durch Austausch und Handel große Mengen von Kupfer und Silber zu erwerben; die Metalle wurden nach Tyros gebracht und dort weiter verarbeitet oder aber als Tribut in Barrenform an die Assyrer geliefert. Für die Handelsfahrten bis zur Iberischen Halbinsel waren Stützpunkte und Häfen notwendig; nicht die Gründung von Städten, sondern die Errichtung von Handelsstationen war für die erste Phase der phoinikischen Expansion charakteristisch. Die Metallverarbeitung in Tyros hatte ein hohes handwerkliches und künstlerisches Niveau; daneben waren die Elfenbeinschnitzerei und die Textilherstellung, vor allem die Purpurfärberei, von Bedeutung für die Wirtschaft der phoinikischen Städte.39 Auf diese Weise waren die Phoiniker in der Lage, durch kostbare Geschenke in anderen Regionen Handelsbeziehungen anzuknüpfen und gegen wertvolle Erzeugnisse ihres Handwerks Metalle und Rohstoffe zu tauschen. Die phoinikische Expansion ist durch archäologische Zeugnisse im westlichen Mittelmeerrraum gut bezeugt, sie wird überdies in der griechischen Literatur differenziert beschrieben. Bei Herodot wird der Weinexport der Phoiniker nach Ägypten und ihre Präsenz in Memphis, wo sie ein ganzes Stadtviertel bewohnten, erwähnt.40 Die Phoiniker erreichten die Agäis und verkauften ihre Waren in Argos;41 auf der Insel Kythera errichteten sie den Tempel der Aphrodite, im Norden, auf der Insel Thasos, einen Tempel des Herakles.42 Herodot behauptet, er habe auf Thasos phoinikische Goldbergwerke gesehen, ein Hinweis auf das Interesse am Handel mit Edelmetallen.43 In dem Abschnitt zur Landeskunde Siziliens geht Thukydides auf die phönizischen Niederlassungen auf der Insel ein: „Es wohnten auch Phoiniker rings um ganz Sizilien auf Vorgebirgen, die sie eingenommen hatten, und auf den vorgelagerten Inseln des Handels wegen mit den Sikelern. Als dann die Griechen in großer Zahl von der See her einströmten, gaben die Phoiniker die meisten Niederlassungen auf, zogen zusammen und bewohnten Motye, Soloeis und Panormis nahe den Elymern im Vertrauen auf das Bündnis mit den Elymern und weil von dort die Fahrt von Karthago nach Si38 S. Moscati, Kolonisation des Mittelmeers, in: Moscati, Phönizier (wie Anm. 22), S. 46–53.

W. Huß, Die Karthager, München 1990, S. 4–15. Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 167–184. Markoe, Phönizier (wie Anm. 22), S. 173–192. Sommer, Pönizier (wie Anm. 21), S. 113–143. 39 Zum phönizischen Kunsthandwerk vgl. Markoe, Phönizier (wie Anm. 22), S. 146–170. Sommer, Phönizier (wie Anm. 21), S. 84–96. 40 Weinexport: Hdt. 3, 6, 1. Phoiniker in Memphis: Hdt. 2, 112, 2. 41 Hdt. 1, 1, 1–4. Einfuhr von Styrax nach Griechenland: Hdt. 3, 107, 2. 42 Hdt. 1, 105, 3. 2, 44, 4. Phoiniker auf Thera: Hdt. 4, 147, 4. U. Gehrig, Die Phönizier in Griechenland, in: U. Gehrig, H. G. Niemeyer (Hrsg.), Die Phönizier im Zeitalter Homers, Mainz 1990, S. 23–31. 43 Hdt. 6, 46–47.

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zilien am kürzesten ist.“44 Damit wird die Entwicklung der phoinikischen Präsenz in Sizilien präzise beschrieben; anfangs existierten nur Niederlassungen an den Vorgebirgen, und erst in einer zweiten Phase kam es unter dem Druck des Vordringens der Griechen auf Sizilien zur Herausbildung größerer Siedlungen.45 Die Darstellung des Thukydides findet ihre Bestätigung im Bericht des sizilischen Historikers Diodoros über Malta, der ausdrücklich erklärt, dass die Phoiniker, die Handelsfahrten bis zum westlichen Okeanos unternahmen, Malta als Zufluchtsort in Besitz nahmen, weil es über gute Häfen verfügte und mitten im Meer lag. Charakteristisch für die phoinikische Siedlung sind die Aktivitäten in den verschiedenen Zweigen des Handwerks, und bedingt durch die Förderung der phoinikischen Kaufleute prosperierte die Stadt.46 Der aus dem Handel resultierende große Reichtum der Phoiniker wird von Diodoros an mehreren Stellen erwähnt; im Abschnitt über die Iberische Halbinsel betont er die entscheidende Rolle, die dabei der Handel mit Silber spielte. Die Phoiniker tauschten das Edelmetall, das von der einheimischen Bevölkerung gewonnen und an die Küste gebracht wurde, mit Erzeugnissen von geringem Wert und brachten es dann nach Griechenland, nach Asien und zu anderen Völkern.47 Den Verkauf von Waren in Argos beschreibt Herodot zu Beginn seiner Historien mit folgenden Worten: Die Phoiniker „beförderten ägyptische und assyrische Waren und kamen so unter anderem auch nach Argos. Damals war Argos die mächtigste aller Städte in dem Land, das heute Hellas genannt wird. In diesem Argos boten die Phoiniker nach ihrer Ankunft ihre Waren zum Kauf an. Am fünften oder sechsten Tag, als sie schon fast alles verkauft hatten, kam mit vielen anderen Frauen auch die Königstochter zum Strand; ihr Name war Io. […] Die Frauen traten nahe an das Heck des Schiffes heran und kauften von den Waren, die sie am liebsten hatten.“48 Die Phoiniker betrieben nach Herodot einen Zwischenhandel und brachten Waren aus dem Orient und aus Ägypten nach Griechenland. Sie verkauften die Waren direkt vom Schiff an die Bevölkerung, was längere Zeit in Anspruch nahm. Ein anschauliches Bild vom phoinikischen Handel entwirft bereits Homer in der Odyssee;49 der Schweinehirt Eumaios, ein treuer Gefolgsmann des Odysseus, erzählt, wie die Phoiniker nach Syria kamen, einer Insel weit im Westen: Dorthin kamen Phoiniker einst, berühmt in der Seefahrt, Gauner, und brachten unendlichen Kram im schwärzlichen Schiffe. … 44 Thuk. 6, 2, 6. 45 Markoe, Phönizier (wie Anm. 22), S. 178–179. 46 Diod. 5, 12, 2–3. 47 Diod. 5, 20, 1–2. 5, 35, 4. Vgl. Aristot. mir. 135, 844a. 48 Hdt. 1, 1, 1–4. 49 J. Latacz, Die Phönizier bei Homer, in: Gehrig, Niemeyer (Hrsg.), Phönizier im Zeitalter

Homers (wie Anm. 42), S. 11–21. Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 102–108.

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Und die Phoiniker weilten ein ganzes Jahr auf der Insel, Kauften und schleppten ins Schiff unzählige Güter zusammen. Als sie das räumige Schiff zur Heimfahrt wieder befrachtet, Sandten sie einen weg, … Und ein verschlagener Mann erschien im Hause des Vaters, Mit einem Halsgeschmeide von Gold und Stücken von Bernstein; Und die Mägde im Saal und meine würdige Mutter Ließen es rings durch die Hände gehn und besahen es eifrig, Und versprachen den Kauf …50

Die Phoiniker raubten schließlich den Sohn des Königs, den kleinen Eumaios, und verkauften ihn auf Ithaka;51 der Verkauf von Menschen in die Sklaverei wird auch an einer anderen Stelle von Homer erwähnt: Odysseus erzählt in einem fiktiven Bericht über sein Leben, ein Phoiniker habe geplant, ihn auf einer Handelsfahrt von Phoinikien nach Libyen teuer zu verkaufen. Das Vorhaben scheiterte nur daran, dass das Schiff in einen Sturm geriet und unterging, und Herodot beginnt seine Darstellung des Krieges zwischen Griechen und Persern mit dem Raub der Io in Argos.52 Ein einzigartiges Dokument beleuchtet die Weite der Handelsbeziehungen der Phoiniker, nämlich der Katalog, in dem der Prophet Ezechiel die Waren sowie Güter des phoinikischen Handels und die Völker sowie Städte, mit denen Tyros Handel trieb, auflistet.53 In dieser Passage wird Tharsis im Westen ebenso aufgeführt wie Juda und Israel, Damaskus, die Araber und Assur im Osten, um hier nur einige wenige zu nennen. Mit den Handelsfahrten in den Westen war der Austausch mit den Völkern des Orients keineswegs zum Erliegen gekommen. Aufschlussreich ist die Bemerkung über Tharsis am Anfang des Katalogs: „Tharsis trieb Handel mit dir wegen der Menge all deiner Güter; Silber, Eisen, Zinn und Blei lieferte es dir als Tauschware.“54 Hier ist ohne Zweifel Tartessos gemeint, die Region im Südwesten der Iberischen Halbinsel. Es ist signifikant, dass der Katalog mit den Metallen beginnt. Kostbare Materialien wie Elfenbein und Ebenholz wurden als Tribut geliefert, Saba lieferte Gewürze, Edelsteine und Gold. Landwirtschaftliche Produkte wie Weizen, Honig und Öl kamen aus Juda und Israel.55 Die Epen Homers belegen die außerordentliche Wertschätzung phoinikischer Artefakte in der griechischen Welt; in der Ilias setzt Achilleus einen in Sidon verfertigten großen Krater als Kampfpreis bei den Wettkämpfen zu Ehren des Patroklos aus: 50 Hom. Od. 15, 415–416. 15, 455–463. J. Latacz, Phönizier bei Homer (wie Anm. 49), S. 18–20. 51 Hom. Od. 15, 465–483. 52 Hom. Od. 14, 287–313. Hdt. 1, 1, 4. 53 Ez 27, 12–24. Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 98–102. 54 Ez 27, 12. 55 Ez 27, 15; Saba: 27, 22; Juda und Israel: 27, 17.

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Erst einen silbernen Krug, getrieben; er mochte sechs Maße Fassen; an Pracht übertraf er die anderen sämtlich auf Erden Weit; denn es hatten ihn kunstgeübte Sidoner gebildet, Und Phoiniker führten ihn fort über neblichte Meere, Hielten im Hafen und gaben ihn als Geschenk dem Thoas.56

Einen phoinikischen Krater, der unter den Schätzen des Menelaos das wertvollste Kunstwerk war, gibt dieser als Geschenk dem jungen Telemachos, der nach Sparta kam, um das Schicksal seines Vaters zu erkunden: Geb’ einen Mischkrug dir von unvergleichlicher Arbeit, Aus geläutertem Silber, gefasst mit goldenem Rande, Von Hephaistos geformt! Ihn gab der Sidoner König Phaidimos mir …57

Daneben werden in der Ilias Gewänder, die Frauen aus Sidon gewebt haben, gerühmt.58 Gegen Ende des 9. Jh. v. Chr. begann die zweite Phase der phoinikischen Expansion mit der Gründung von Siedlungen, die nun nicht mehr Handelsstationen waren, sondern den Charakter von Städten besaßen, wie aus den archäologischen Überresten eindeutig hervorgeht. Gerade die Nekropolen und der Tophet, die Stätte, an der die den Göttern geopferten Kinder bestattet wurden,59 sind ein Beleg dafür, dass Phoiniker einen Ort ständig bewohnten. Diodoros bezeichnet die neugegründeten phoinikischen Städte als Apoikien, also mit einem Begriff, der sonst auf die griechischen Städte außerhalb des Mutterlandes angewendet wurde.60 Dies deutet darauf hin, dass die phoinikischen Städte im Westen – zumindest in der Sicht der Griechen – selbständige Gemeinwesen waren. Auf der Iberischen Halbinsel, die für den phoinikischen Handel mit Silber eminent wichtig war, soll Gades von den Tyriern aufgrund eines Orakels gegründet worden sein. Die Stadt liegt – wie auch sonst phoinikische Siedlungen – auf einer Insel unmittelbar vor der Küste westlich von Gibraltar.61 Es gab hier einen berühmten Tempel des Melquart, und der Hafen war ein Handelszentrum, in dem das iberische Silber verschifft wurde. Im Hinterland von Gades existierten zahlreiche Werkstätten mit Schmelzöfen, in denen die Erze verhüttet wurden.62 56 Hom. Il. 23, 741–745. Latacz, Phönizier bei Homer (wie Anm. 49), S. 14. 57 Hom. Od. 4, 615–618. Latacz, Phönizier bei Homer (wie Anm. 49), S. 16. 58 Hom. Il. 6,286–292. Latacz, Phönizier bei Homer (wie Anm. 49), S. 12–14. 59 Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 207–217. Markoe, Phönizier (wie Anm. 22), S. 134–138.

Antike Quellen: Diod. 20, 14, 4–7. Iust. 18,6.

60 Diod. 5, 20, 1. 61 Strab. 3, 5, 5. Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 218–247. Markoe, Phönizier (wie

Anm. 22), S. 186–188.

62 Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 236–241.

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Gleichzeitig war Gades auch der Ausgangspunkt für die Fahrten über den Atlantik zu den Kassiterides und vielleicht nach Cornwall; hier erhielten die Phoiniker das im Mittelmeerraum so seltene Zinn, das für die Herstellung von Bronze unverzichtbar war.63 In Nordafrika war das noch vor Karthago gegründete Utica eine wichtige Station auf der Fahrt nach Westen.64 Die bedeutendste phoinikische Gründung war sicherlich die Karthagos, die nach Timaios auf die Jahre zwischen 814 und 812 v. Chr. zu datieren ist.65 Im Bericht des Iustinus über die Entstehung der Stadt sind zwei Sachverhalte wichtig: Die Initiative zur Flucht der Elissa aus Tyros resultierte aus Streitigkeiten innerhalb der Königsfamilie, und Elissa fand auf Zypern Unterstützung für ihr Vorhaben, im Westen eine neue Heimat zu suchen.66 Es gelang den Tyriern jedenfalls, in Nordafrika auf dem Gebiet des heutigen Tunis eine Siedlung zu gründen, die sich schon bald zu einer größeren, prosperierenden Stadt entwickelte.67 Es bestanden zwischen Karthago und Tyros enge Beziehungen, die ihren Ausdruck in der jährlichen Abgabe eines Zehnten der öffentlichen Einkünfte für den Tempel des Melqart in Tyros fanden.68 Die Entwicklung im Mittelmeerraum wurde im 8. und 7. Jh. v. Chr. wiederum stark von der Expansion der Assyrer beeinflusst; unter Tiglatpilesar (744–727 v. Chr.) und Sargon II. (722–705 v. Chr.) wandelte sich das Verhalten der Assyrer, die nun nicht mehr nur Tribute von fremden Völkern und Städten forderten, sondern in direkter Konfrontation zur „systematic strategy of destruction, devastation, mass deportations“ übergingen; die neue Hauptstadt Dur-Scharrukin wurde von Kriegsgefangenen errichtet.69 Im Jahr 701 v. Chr. floh der König von Tyros in das phoinikische Zypern, Tyros verlor die Herrschaft über Sidon und weite Gebiete auf dem Festland, assyrische Amtsträger kontrollierten schließlich den Hafen von Tyros, das seine Selbständigkeit unter der Babylonischen Vorherrschaft nach einer dreizehnjährigen Belagerung (585–572 v. Chr.) vollkommen einbüßte.70 Das Schicksal von Tyros teilte auch die andere bedeutende phoinikische Stadt der Levante, Sidon; die Stadt wurde nach einer Revolte gegen die assyrische 63 Strab. 3, 5, 11. Vgl. Aristot. mir. 136, 844a. 64 Aristot. mir. 134, 844a. Iust. 18,4. Vgl. auch Plin. nat. 16, 216 zum Tempel in Utica. 65 Nach Timaios wurde Karthago 38 Jahre vor der ersten Olympiade (776 v. Chr.) gegründet,

demnach zwischen 814 und 812 v. Chr.: W Huß, DNP 6, 1999, Sp. 295–297, s. v. Karthago. Iustinus behauptet, Karthago sei zweiundsiebzig Jahre älter als Rom. Dieser Angabe zufolge wäre die Gründung auf das Jahr 825 v. Chr. zu datieren: Iust. 18, 6. 66 Iust. 18, 4–6. 67 Huß, Karthager (wie Anm. 38), S. 16–19. Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 187–199. Sommer, Phönizier (wie Anm. 21), S. 122–127. 68 Diod. 20, 14, 2. Polyb. 31, 20 (Erstlingsopfer). Iust. 18,7 (Zehnte der Kriegsbeute). 69 Bondi, Gang der Geschichte (wie Anm. 22), S. 42–43. Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 48. Cancik-Kirschbaum, Assyrer (wie Anm. 33), S. 73. 70 Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 48–49. Sommer, Phönizier (wie Anm. 21), S. 153–190.

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Herrschaft von Asarhaddon (680–669 v. Chr.) erobert, geplündert und zerstört, der König hingerichtet.71 Diese Ereignisse hatten erhebliche Rückwirkungen auf den westlichen Mittelmeerraum, denn Tyros konnte unter diesen Voraussetzungen seine führende Position in der phoinikischen Welt nicht mehr aufrecht erhalten. An seine Stelle trat im westlichen Mittelmeerraum nun Karthago, das den Handel zunehmend zu kontrollieren vermochte, darüber hinaus aber auch große Gebiete im Süden der Iberischen Halbinsel, auf Sizilien und auf Sardinien beherrschte.72 Auf Ebusos (h. Ibiza) gründete Karthago eine Siedlung, die Diodoros auf die Zeit um 650 v. Chr. datiert.73 Ebusos, das hervorragende Häfen besaß, war ein wichtiger Stützpunkt auf der Route zwischen Gades und Sardinien,74 wo schon im 8. Jh. v. Chr. phoinikische Siedlungen an der Küste existierten.75 Sardinien war das erste große Gebiet außerhalb Afrikas, das die Karthager unterwerfen und ihrem Herrschaftsbereich eingliedern konnten. Aristoteles behauptet, dass die Karthager auf Sardinien Anbauflächen und Pflanzungen zerstörten und verboten, Nutzpflanzen anzubauen, so dass das Land unfruchtbar wurde.76 Wie der Vertrag zwischen Karthago und Rom aus der Zeit des späten 6. Jh. v. Chr. zeigt, galten in Sardinien und Libyen dieselben Vorschriften für Händler aus Italien.77 Die Karthager führten einen Krieg gegen Massalia und griffen unter ihrem Feldherrn Malchus nach 550 v. Chr. militärisch auch in die inneren Verhältnisse von Sizilien ein;78 sie kamen auf diese Weise in Konflikt mit den griechischen Städten und insbesondere mit Syrakus. Als der Spartaner Dorieus etwa um 510 v. Chr. eine Apoikie am Berg Eryx im Westen Siziliens gründete, intervenierten die Karthager und zerstörten die Stadt.79 Mit diesem karthagischen Erfolg war jene Konstellation entstanden, die in den folgenden Jahrhunderten von der Schlacht bei Himera 480 v. Chr. bis hin zum Ersten Punischen Krieg die Geschichte Siziliens prägen sollte. Auf der Iberischen Halbinsel unterstützten die Karthager militärisch die Stadt Gades, als sie von den benachbarten Völkern angegriffen wurden; sie nahmen 71 Sommer, Phönizier (wie Anm. 21), S. 170. 72 S. Moscati, Das Karthagische Reich, in: Moscati, Phönizier (wie Anm. 22), S. 54–61. 73 Diod. 5, 16, 2–3. 74 Diod. 5, 16, 3. Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 272–273. 75 Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 203–207. Markoe, Phönizier, (wie Anm. 22),

S. 179–182. Sommer, Phönizier (wie Anm. 21), S. 128–131.

76 E. Acquaro, Sardinien, in: Moscati, Phönizier (wie Anm. 22), S. 210–224. Aristot. mir. 100. 77 Polyb. 3, 22. 78 Krieg gegen Massalia: Iust. 43, 5. Thuk. 1, 13, 6. V. Tusa, Sizilien, in: Moscati, Phönizier

(wie Anm. 22), S. 186–203. W. Ameling, Karthago. Studien zu Militär, Staat und Gesellschaft, München 1993, S. 127–130. Sizilien: Iust. 18, 7. 19, 1. Zu den Karthagern auf Sizilien vgl. L. M. Hans, Karthago und Sizilien, Hildesheim 1983. Zur Datierung vgl. Oros. 4, 6, 9 und Ameling, Karthago, S. 73, Anm. 25. Zu Malchus vgl. Ameling, Karthago, S. 73–80. 79 Hdt. 5, 46. Diod. 4, 23, 3.

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nach ihrem Sieg das Gebiet im Südwesten Spaniens in Besitz.80 Im späten 6. Jh. waren mit den Besitzungen auf Sizilien, Sardinien und auf der Iberischen Halbinsel die Grundlagen für ein karthagisches Reich geschaffen,81 lange Zeit vor dem Einsetzen der außeritalischen Expansion Roms im 3. Jh. v. Chr.

III. Die Phoiniker waren seit dem 8. Jh. v. Chr. nicht mehr allein in den Weiten des Mittelmeeres. Auch Griechen befuhren mit ihren Schiffen die See und gelangten in ferne Gegenden, wo sie Handel trieben oder Städte gründeten und sich Land aneigneten, um es zu bebauen. Scheint es auf den ersten Blick viele Parallelen zwischen der phoinikischen und der griechischen Expansion zu geben, so fallen bei genauerer Untersuchung doch gravierende Unterschiede auf. Dies gilt besonders auch für die Voraussetzungen der Expansion und für die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in Griechenland und in der Levante. Während die Welt der Phoiniker von Handel und Handwerk, Reichtum und kostbaren Prestigegütern geprägt war, bestimmten gegen Ende der Dark Ages Landarbeit, Armut und Hunger das Leben der Griechen. Hunger war in der realistischen Beschreibung der Lebenswelt der Bauern in den ‚Erga’ des Hesiodos immer gegenwärtig. So gibt Hesiodos den Rat, der Bauer solle durch seine Arbeit die Vorräte an Nahrung anfüllen und dadurch den Hunger vermeiden;82 Hunger wiederum zwingt zum Betteln.83 Die Seefahrt sieht Hesiodos als Versuch, der Not und dem Hunger zu entkommen.84 Grundsätzlich gehört es zu den Lebensbedingungen des Menschen, dass er arbeiten muss, denn Zeus hat aus Zorn darüber, dass Prometheus ihn getäuscht hat, die Nahrung verborgen,85 und der Gott straft auch das Unrecht, indem er den Menschen Hunger und Seuche schickt.86 Hunger, Mangelernährung und Missernten gehörten zu den wichtigen Ursachen dafür, dass Griechen ihr Land verließen und aufbrachen, um in fremden 80 Iust. 44, 5. M. E. Aubet Semmler, Spanien, in: Moscati, Phönizier (wie Anm. 22), S. 226–242. 81 Iust. 19, 1. Hier wird Mago als der eigentliche Begründer des karthagischen Reiches bezeich-

net. Vgl. Moscati, Das karthagische Reich (wie Anm. 72), S. 54–57.

82 Hes. erg. 299–307. Vgl. 363–364. Vgl. zum Hunger M. Jameson, Famine in the Greek World,

in: P. Garnsey, C. R. Whittaker (Hrsg.), Trade and Famine in Classical Antiquity, Cambridge 1983, S. 6–16. P. Garnsey, Famine and Food Supply in the Graeco-Roman World. Responses to Risk and Crisis, Cambridge 1988. 83 Hes. erg. 391–404. 84 Hes. erg. 646–647. Vgl. zum Vater des Hesiodos Hes. erg. 634–640. 85 Hes. erg. 47–48. 86 Hes. erg. 241–242.

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Regionen eine neue Heimat zu finden.87 Bei Herodot liegt ein klassischer Bericht über den Zusammenhang von Nahrungsmangel und Auswanderung vor: Auf der Insel Thera (h. Santorin) fielen sieben Jahre lang keine Niederschläge, so dass alle Bäume auf der Insel verdorrten.88 In dieser Notlage wandten die Bewohner sich an das Orakel von Delphi, das an die schon früher ergangene Aufforderung, eine Apoikie in Libyen zu gründen, erinnerte. Das Orakel verlangte geradezu eine Fahrt ins Ungewisse, denn die Theraier wussten nicht einmal, wo Libyen lag. Korobios, ein Purpurfischer, erzählte den Theraiern, die ausgesandt waren, um einen geeigneten Platz für eine Besiedlung in Libyen zu finden, schließlich von der Insel Platea vor der Küste. Als dies in Thera berichtet wurde, wurde der Beschluss gefasst, „dass aus allen sieben Gemeinden der Insel immer je einer von zwei Brüdern durch Los für die Auswanderung bestimmt werden sollte, ihr Führer und König aber sollte Battos sein.“89 Die Angabe, dass zwei Fünfzigruderer bemannt wurden, lässt vermuten, dass etwa hundert Männer aus Thera nach Libyen geschickt wurden. Es gab keine Möglichkeit der Rückkehr; als die nach Libyen ausgesandten Theraier erfolglos und ratlos nach Thera zurückkehrten, wurden sie bei der Einfahrt in den Hafen beschossen90 und so gezwungen, wiederum nach Libyen zu segeln, wo sie dann schließlich Kyrene gründeten.91 Eine Missernte war auch Anlass für die Gründung von Rhegion in Unteritalien; die Bewohner von Chalkis entsandten jeden zehnten Mann nach Delphi; von dort fuhren die Männer nach Unteritalien.92 Eretria und Chalkis schickten Siedler auch zur Insel Pithekussai (h. Ischia),93 und Chalkis und Kyme gründeten gemeinsam die Apoikie Kyme in Campania, die Strabon für die älteste griechische Siedlung im Westen hielt;94 Massalia (h. Marseille) wiederum war eine Stadt der Phokaier.95 87 J. Boardman, The Greeks Overseas. Their Early Colonies and Trade, New ed. London

1980. A. J. Graham, The colonial expansion of Greece, in: J. Boardman, N. G. L. Hammond (Hrsg.), The Cambridge Ancient History, 2nd ed. Vol. III 3 The Expansion of the Greek World, Eight to Sixth Centuries B. C., Cambridge 1982, S. 83–162. G. P. Carratelli, An Outline of the Political History of the Greeks in the West, in: Carratelli, The Western Greeks (wie Anm. 20), S. 141–176. R. Osborne, Greece in the Making 1200-479 BC, 2nd ed. London 2009, S. 98–123. K.-J. Hölkeskamp, E. Stein-Hölkeskamp, Die Dark Ages und das archaische Griechenland, in: H.-J. Gehrke, H. Schneider (Hrsg.), Geschichte der Antike, 4. Aufl. Stuttgart 2013, S. 63–144, bes. S. 125–132. 88 Hdt. 4, 151, 1. 89 Hdt. 4, 153. 90 Hdt. 4, 156, 2. 91 Hdt. 4, 159. Vgl. außerdem die Inschrift bei Meiggs, Lewis Nr. 5 (deutsche Übersetzung HGIÜ 6) 92 Strab. 6, 1, 6. 93 Strab. 5, 4, 9. 94 Strab. 5, 4, 4. 95 Strab. 4, 1, 4. Iust. 43, 3.

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Die Gründung der griechischen Städte auf Sizilien wird von Thukydides in einem Exkurs kurz dargestellt,96 in dem die Dynamik des griechischen Vordringens besonders deutlich wird. Es ist für die griechische Expansion charakteristisch, dass einzelne Apoikien auch später Zuzug aus dem Mutterland erhielten und immer wieder die Initiative ergriffen, neue Städte zu gründen. Auf Sizilien wurden zunächst Naxos von Chalkis (etwa 735 v. Chr.) und Syrakus (734/3 v. Chr.) von Korinth an der Ostküste der Insel gegründet, aber schon nach kurzer Zeit legten die Chalkidier von Naxos zwei weitere Städte an, nämlich Leontinoi und Katane.97 Andere Griechen folgten nach, so die Bewohner von Megara, die eine Zeitlang zusammen mit den Chalkidiern in Leontinoi wohnten, nach inneren Konflikten die Stadt aber verlassen mussten und nördlich von Syrakus Megara gründeten, dessen Bewohner die hyblaiischen Megarer genannt wurden. Mit Unterstützung von Megara in Griechenland gingen die hyblaiischen Megarer in den Westen der Insel und siedelten in Selinus.98 An der Südküste Siziliens entstand unter Führung von Antiphemos aus Rhodos und Entimos aus Kreta die Stadt Gela, die nach einhundertundacht Jahren wiederum Akragas gründete.99 Auch für Zankle, das spätere Messana, erwähnt Thukydides die Präsenz von Chalkidiern,100 die dann unter Beteiligung von Verbannten aus Syrakus etwa 649 v. Chr. Himera an der Nordküste Siziliens gründeten.101 Der ersten Generation von Siedlern folgten oft Griechen aus dem Mutterland; in Zankle bebauten beide Gruppen gemeinsam das Land.102 Es kam auch zu Kämpfen zwischen den Griechen auf Sizilien und später eintreffenden Gruppen; so verdrängten Samier, die von den Persern aus Samos vertrieben worden waren, die Bewohner von Zankle, mussten aber wiederum Anaxilas, dem Tyrann von Rhegion, weichen, der dann Griechen verschiedener Herkunft in der Stadt ansiedelte und diese in Messana umbenannte.103 Nicht jede geplante Gründung gelang; im späten 6. Jh. v. Chr. versuchte der Spartaner Dorieus, der aus königlicher Familie stammte, sich mit einer Gruppe von Männern in Libyen niederzulassen, wurde dort aber von einem libyschen Stamm und den Karthagern vertrieben; nach dem Scheitern dieses Unternehmens erhielt Dorieus den Rat, am Berg Eryx im äußersten Westen Siziliens auf dem Land, das den Herakliden gehören sollte, eine Apoikie Herakleia zu gründen. Von der Pythia in Delphi durch den Orakelspruch, er werde das Land er96 Thuk. 6, 3–5. 97 Thuk. 6, 3. 98 Thuk. 6, 4, 1–2. 99 Thuk. 6, 4, 3–4. 100 Thuk. 6, 4, 5. 101 Thuk. 6, 5, 1. Zur Datierung vgl. Diod. 13, 62, 4. 102 Thuk. 6, 4, 5. 103 Thuk. 6, 4, 5–6. Vgl. Hdt. 6, 22–24. Eine andere Datierung: Paus. 4, 23, 6–10.

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obern, ermutigt, fuhr Dorieus mit seiner Flotte nach Sizilien; dort schlugen die Karthager und die Bewohner von Segesta, die zur autochthonen Bevölkerung Siziliens gehörten, in einer Schlacht die Spartaner, deren Anführer mit einer einzigen Ausnahme umkamen.104 Die griechische Expansion auf Sizilien war ein gewaltsamer Vorgang; die Griechen drangen keineswegs in unbesiedelte Gebiete vor, sondern sie verjagten die Sikeler aus ihrem Land, so aus dem Gebiet, in dem Syrakus errichtet worden ist, oder aus dem Gebiet von Leontinoi.105 Noch zu Beginn des 4. Jh. v. Chr. erinnerten sich die Sikeler an ihre Vertreibung aus dem Gebiet von Naxos vor der Gründung der Stadt.106 Neben dem Kampf gegen die autochthonen Völker führte auch das Machtstreben einzelner Tyrannen ebenso wie die Konkurrenz zwischen den griechischen Städten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen; so vertrieb Gelon, Tyrann von Syrakus, die hyblaiischen Megarer aus ihrer Stadt,107 in Unteritalien wurde in Unteritalien wurde Sybaris, das aufgrund der Fruchtbarkeit des Umlandes sehr reich geworden war, nach inneren Konflikten von Kroton zerstört.108 Kyrene erhielt etwa sechzig Jahre nach der Gründung ebenfalls Verstärkung durch Siedler, die nach einem Orakelspruch der Pythia nach Libyen gingen. Nachdem die Zahl der waffenfähigen Männer stark angewachsen war, konnten die Kyrenaier den Libyern große Teile ihres Landes wegnehmen.109 In dieser Situation intervenierte der ägyptische König Apries, wurde aber von den Kyrenaiern kurz vor 570 v. Chr. vernichtend geschlagen.110 Die griechische Expansion im Westen fand ihre Grenzen im Einflussbereich der Karthager und der Etrusker; Massilia und dessen Apoikie Emporion111 waren an der Mittelmeerküste Galliens und der Iberischen Halbinsel die einzigen griechischen Städte, eine dauerhafte griechische Präsenz im Bereich der etrurischen Küste oder auf Sardinien lag außerhalb des Bereichs des Möglichen. Im Osten waren die nördliche Ägäis und die Küsten des Schwarzen Meeres Ziel der Bestrebungen griechischer Städte vor allem Kleinasiens, in fremden Gebieten Fuß zu fassen. Im östlichen Mittelmeerraum existierten seit Ende des 2. Jt. v. Chr. griechische Städte auf Zypern,112 an den Küsten der Levante und Ägyptens bestand aber keine Chance, neue Städte zu gründen. 104 Hdt. 5, 42–46. Diod. 4, 23, 3. Vgl. Hdt. 7, 158, 2. 105 Thuk. 6, 3, 2–3. 106 Diod. 14, 88, 1. 107 Thuk. 6, 4, 2. 108 Diod. 12, 9 – 10,1. Strab. 6, 1, 13. 109 Hdt. 4, 159, 1 110 Hdt. 4, 159, 4–6. Vgl. Hdt. 2, 161. 111 Strab. 3, 4, 8. 112 Zu den griechischen Städten auf Zypern vgl. Strab. 14, 6, 3.

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Die Priester des panhellenischen Apollon-Heiligtums in Delphi hatten einen erheblichen Einfluss auf die griechische Expansion. Bei den verschiedensten Schwierigkeiten wandten sich Städte oder einzelne Personen mit Fragen an die Pythia,113 und selbst Nichtgriechen wie der lydische König Kroisos befragten das Orakel.114 Es war im 6. Jh. v. Chr. üblich, dass eine Stadt, die Siedler entsenden wollte, oder ein Aristokrat, der eine Apoikie zu gründen beabsichtigte, sich an das Orakel von Delphi wandten und es um Rat fragten. Es wurde kritisch vermerkt, wenn dies versäumt worden war.115 In manchen Fällen hat Delphi auch in die inneren Verhältnisse einer Apoikie eingegriffen, so etwa im Fall von Kyrene.116 Damit liefen alle Informationen über die Planungen der Städte, über den Erfolg oder Misserfolg einzelner Unternehmungen und über die Lage in den Gebieten außerhalb Griechenlands in Delphi zusammen. Es war ein charakteristisches Merkmal der griechischen Expansion, dass die Apoikien sich selbst verwalteten, politische Institutionen besaßen, sich Gesetze gaben und damit freie und autonome Städte waren. Bei den Apoikien handelte es sich also keineswegs um abhängige Kolonien, wie der häufig verwendete Begriff der griechischen Kolonisation nahe legt. Bedingt durch gemeinsame Kulte und die gemeinsame Sprache bestanden noch enge Beziehungen zwischen Apoikie und Mutterstadt, von der die Siedler entsandt worden waren, aber aus solchen Verbindungen resultierte keineswegs zwangsläufig ein gemeinsames politisches Handeln von Apoikie und Mutterstadt.117 Das Ergebnis der Expansion fasste Platon in einer klassischen Formulierung mit den Worten zusammen, dass die Griechen um das Meer herum wohnten wie die Frösche um einen Tümpel.118 Primäres Ziel der griechischen Expansion und der Gründung von Apoikien war die Aneignung von Anbauflächen und die damit verbundene Zuteilung von Land an Menschen, die in Griechenland keine Chance mehr auf ausreichenden Landbesitz und damit auf eine wirtschaftlich gesicherte Existenz besaßen. Die Verteilung der Anbauflächen war deswegen eine zentrale Aufgabe bei der Stadt113 Herodot bietet viele Beispiele für Anfragen von griechischen Städten in Delphi; hier können

nur einige genannt werden: Hdt. 1, 65, 3 (Sparta). 1, 66, 2 (Sparta). 1, 67, 4 (Sparta). 1, 165, 1 (Phokaia; vgl. 1, 167, 4). 1, 167, 2 (Agyllaier; Südetrurien). 1, 174, 5 (Knidos). 3, 57, 4 (Siphnos). 4, 150, 3 – 151, 2 (Thera). 4, 155, 2–4. (Thera/Battos). 4, 157, 2 (Theraier in Libyen). 4, 159, 3 (Kyrene). 4, 161 (Kyrene). 4, 163 (Arkesilaos). 5, 82, 1 (Epidauros). Die Rolle der Priester von Delphi hat auch Chr. Meier betont: Chr. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980, S. 73–76. 114 Hdt. 1, 53, 3. 1, 55, 2. 1, 85, 2. 1, 91, 1–6. 115 Hdt. 5, 42, 2. 116 Hdt. 4, 161. 117 Hölkeskamp, Stein-Hölkeskamp, Archaisches Griechenland (wie Anm. 86), S. 131. Vgl. F. Sartori, The Constitutions of the Western Greek States: Cyrenaica, Magna Graecia, Greek Sicily, and the Poleis of the Massaliot Area, in: Carratelli, The Western Greeks (wie Anm. 20), S. 215–222. 118 Plat. Phaid. 109a–b.

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gründung, wobei die Tendenz bestand, die Fläche in gleichgroße Landlose aufzuteilen. Wie die Schilderung der vor dem Land der Kyklopen gelegenen Insel bei Homer zeigt, konnte ein Grieche, der zur See fuhr, die Möglichkeiten einer landwirtschaftlichen Nutzung einer Wildnis genau einschätzen. Wichtig war außerdem, dass Schiffe dort leicht anlegen konnten: Gegenüber der Bucht des Kyklopenlandes erstreckt sich Weder nahe noch fern, ein kleines waldiges Eiland, Welches unzählige Scharen von wilden Ziegen durchstreifen. Denn kein menschlicher Fuß durchdringt die verwachsene Wildnis, Und nie scheucht sie dort ein spürender Jäger, der mühvoll Durch die Wälder pirscht und steile Felsen umklettert. Nirgends weidet ein Hirt, und nirgends ein Pflüger; Unbesäet liegt und unbeackert das Eiland, Ewig menschenleer, nur meckernde Ziegen ernährt es. Denn es gebricht den Kyklopen an rotgeschnäbelten Schiffen, Auch ist unter dem Schwarm kein Meister kundig des Schiffsbaus, Schöngebordete Schiffe zu zimmern, dass sie mit Botschaft Zu den Völkern der Welt hinsegelten, wie sich die Menschen Sonst wohl oft in Schiffen besuchen über das Meer hin; Die aber schüfen die Wildnis bald zu blühenden Auen. Denn nicht karg ist der Boden und trüge zu jeglicher Jahrszeit. Längs des grauen Meeres Gestade breiten sich Wiesen, Reich an Quellen und Klee. Dort rankten beständig die Reben, Und leicht pflügte der Pflug, und volle Ährengefilde Reiften jährlich der Ernte, denn fett ist unten der Boden. Und der Hafen so sicher! Kein Schiff bedarf da der Fessel, Weder geworfener Anker, noch angebundener Seile, Sondern es landet und weilt so lange, bis es dem Schiffer Weiter zu fahren gefällt, und günstige Winde sich heben.119

Dieser präzise Blick war die Voraussetzung dafür, dass die Griechen im Mittelmeerraum jene Küsten fanden, die ihnen das Potential zur Entwicklung urbaner Strukturen boten. Die Griechen befuhren jedoch nicht nur auf der Suche nach Land und nach Siedlungsmöglichkeiten das Meer. Die Gründung der Apoikien in Regionen, die von Griechenland weit entfernt lagen, ist in engem Zusammenhang mit dem Handel zu sehen. Aufgrund ihrer Handelsfahrten kannten die Griechen die Küsten fremder Länder und waren mit dem Schiffbau und der Seefahrt vertraut, und es ist kein Zufall, dass Chalkis und Eretria auf Euboia, Städte also, die im Handel eine wichtige Rolle spielten, in der ersten Phase der Expansion an der Gründung von Apoikien führend beteiligt waren. Es gibt eine Reihe von Aussagen in der 119 Hom. Od. 9, 116–139 (Übersetzung von J. H. Voss).

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frühen griechischen Literatur, die eine eher ablehnende Haltung gegenüber Seefahrt und Handel zum Ausdruck bringen, aber dies sollte nicht dazu veranlassen, die Bedeutung des Handels für die archaische Gesellschaft zu unterschätzen. Eine geradezu klassische Formulierung für die Verachtung des Händlers in der griechischen Aristokratie findet sich in Homers Odyssee; bei den Phaiaken vermutet einer der Edlen, Odysseus sei ein Händler, der nicht fähig ist, an sportlichen Wettkämpfen teilzunehmen, und schmäht ihn mit folgenden Worten: Nein, wahrhaftig! O Fremdling, du scheinst kein Mann, der auf Kämpfe Sich versteht, so viele bei edlen Männern bekannt sind; Sondern so einer, der stets befährt vielrudrige Schiffe, Etwa ein Schiffsherr, der umherfährt, Handel zu treiben, Wo du die Ladung besorgst und jegliche Ware verzeichnest, Und den erscharrten Gewinn! Wie ein Kämpfer siehst du mir nicht aus!120

Hesiodos wiederum warnt in den ‚Erga’ vor Seefahrt und Handelsgeschäften: Leg nicht alle Güter hinein in die bauchigen Schiffe, Lass das meiste zurück, den kleineren Teil nur verfrachte! Schrecklich ist’s, in den Wellen des Meers ein Leid zu erfahren.121

Für die Seefahrt war die Wahl des richtigen Zeitpunktes entscheidend für Erfolg und Misserfolg einer Fahrt; nur im Frühling und im Sommer konnte das Meer gefahrlos befahren werden, im Herbst sollte ein Boot auf Land gezogen werden.122 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Hesiodos als Ziel der Seefahrt und des Handels den Gewinn (kérdos) erwähnt.123 Die Seefahrt ist in den ‚Erga’ die saisonale Tätigkeit eines Mannes, der das Land bebaut,124 aber die kurze Phase, in der das Meer befahren werden kann, nutzt, um seine Erzeugnisse mit dem Schiff dorthin zu bringen, wo er sie mit Gewinn verkaufen kann. Die Hinwendung zu Seefahrt und Handel war oft bedingt durch die mangelnden Ressourcen einer Stadt, deren Anbaufläche für die Ernährung der Bevölkerung nicht mehr ausreichte. Beispiele hierfür sind Aigina und Phokaia.125 Die Situation in Aigina wird anschaulich von Strabon beschrieben: Der Boden auf Aigina ist steinig, es wurde allenfalls Gerste angebaut. Nach Ephoros, den Strabon hier zitiert, war Aigina ein Handelsplatz (emporion), denn wegen der Unfruchtbarkeit des Bodens trieben die Menschen Handel zur See, und aus diesem 120 Hom. Od. 8, 159–164 (Übersetzung von J. H. Voss). 121 Hes. erg. 689–691. 122 Hes. erg. 619–625. 663–682. 123 Hes. erg. 631. 643. Vgl. auch 685. 124 Hes. erg. 622. 125 Zu Aigina und Phokaia vgl. H.-J. Gehrke, Jenseits von Athen und Sparta. Das Dritte Grie-

chenland und seine Staatenwelt, München 1986, S. 172–176. Vgl. A. Möller, Naukratis, Trade in Archaic Greece, Oxford 2000, S. 75–78.

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Grund wurden allgemein Billigwaren als Aiginetische Handelswaren bezeichnet.126 Aufgrund dieser Handelsgeschäfte prosperierte Aigina.127 Die Bewohner von Phokaia in Kleinasien wiederum waren dadurch, dass sie nur ein kleines und wenig fruchtbares Territorium hatten, gezwungen, sich zur See hin zu orientieren und Fischfang oder Handel zu treiben oder gar Piraten zu werden. Nach Herodot waren sie die ersten Griechen, die „weite Seefahrten unternahmen und so die Adria, Etrurien, Iberien und Tartessos entdeckten.“ Von Tartessos erhielten die Phokaier das Geld, das es ihnen erlaubte, Stadtmauern aus großen, behauenen Steinen zu errichten. Auch der Reichtum von Korinth, das Häfen im Westen und Osten des Isthmos besaß, beruhte nach dem Urteil des Thukydides weitgehend auf Handel und Seefahrt.128 Handelsfahrten und die Entdeckung neuer Seewege beruhten bisweilen auf Zufällen; so berichtet Herodot über eine Fahrt von Samiern auf dem Schiff des Kolaios, die nach Ägypten gelangen wollten, aber an die Küste Libyens verschlagen wurden und wieder in See stachen: Sie „nahmen Kurs auf Ägypten, wurden aber vom Ostwind abgetrieben. Schließlich, als der Sturm nicht nachließ, fuhren sie durch die Säulen des Herakles unter göttlichem Geleit nach Tartessos. Dieser Handelsplatz (emporion) war damals noch unberührt; als daher das Schiff wieder nach Samos heimkehrte, brachte es einen reichen Erlös seiner Waren mit nach Hause wie nie ein griechisches Schiff, von dem wir genaue Nachricht haben.“129 Die Samier ließen aus dem Zehnten ihrer Gewinne einen großen Krater aus Bronze herstellen und weihten diesen dem Heraion.130 Indem sie einen Teil ihrer Gewinne für Weihgeschenke verwendeten, suchten die Händler sich das Wohlwollen der Götter zu sichern. Bei Herodot erscheint als ein anderer erfolgreicher Händler Sostratos aus Aigina, ein Name, der auch durch eine Inschrift auf einem Anker in Graviscae (südliches Etrurien) bezeugt ist.131 Die Angaben über die Phokaier, über Kolaios und Sostratos zeigen, dass die griechischen Händler nicht nur in den griechisch geprägten Regionen aktiv waren, sie trieben auch Handel mit den etruskischen Städten, mit der Levante und mit Ägypten. Dabei waren im Osten Handelsplätze wie Al Mina an der Mündung des Orontes oder Naukratis im Nildelta von großer Bedeutung.132 Wie Herodot berichtet, gab der Pharao Amasis den griechischen Händlern, die sich nur zeitweise in Ägypten aufhielten, in Naukratis Plätze für Altäre und Heilig126 Strab. 8, 6, 16. 127 Hdt. 5, 81, 2. Paus. 2, 29, 5. 128 Phokaia: Iust. 43, 3. Hdt. 1, 163. Korinth: Thuk. 1, 13, 2–5. Vgl. Strab. 8,6,20. 129 Hdt. 4, 152, 1–3. 130 Hdt. 4, 152 ,4. 131 Hdt. 4, 152, 3. Der Anker des Sostratos: Boardman, Greeks overseas (wie Anm. 87) S. 206. 132 Boardman, Greeks overseas (wie Anm. 87) S. 39–54 (Al Mina). 118–133 (Naukratis).

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tümer.133 Bemerkenswert ist die Aufzählung der Städte, die an der Gründung des Hellenion, des größten Heiligtums in Naukratis, beteiligt waren. Es handelt sich um die ionischen Städte Chios, Teos, Phokaia, Klazomenai, die dorischen Poleis Rhodos, Knidos, Halikarnassos und Phaselis sowie um das aiolische Mytilene. Eigene Heiligtümer besaßen die Händler aus Aigina, Samos und Milet, und zwar die Aigineten für Zeus, die Samier für Hera und die Milesier für Apollon.134 Naukratis war keine Apoikie, also keine autonome griechische Stadt, sondern unterstand immer den Ägyptern. Die Griechen stellten allerdings die Aufseher über das Emporion. Naukratis war der einzige Handelsplatz für Griechen in Ägypten, ausdrücklich war es verboten, mit einem Schiff vom Meer kommend in einen anderen Nilarm einzufahren. Die Existenz von Naukratis, die Errichtung des Handelsplatzes und die große Zahl der Städte, denen dort gemeinsam oder allein Heiligtümer gehörten, sind ein Indiz dafür, dass der Handel zwischen den Städten der Ägais und Griechenland im 6. Jh. v. Chr. einen erheblichen Umfang angenommen hatte. Von den Inseln der Ägäis wurde Wein in großen Mengen nach Ägypten exportiert;135 es ist bekannt, dass Sapphos Bruder Charaxos Wein aus Lesbos in Naukratis verkaufte.136 Die Familie der Sappho gehörte ohne Zweifel zu der aristokratischen Oberschicht von Lesbos, und es ist anzunehmen, dass Charaxos Wein, der auf dem Land der Familie erzeugt wurde, nach Ägypten brachte.137 Der Weinbau gab den Landbesitzern auf den Inseln der Ägäis die Möglichkeit, durch Verkauf ihrer Erzeugnisse Gewinne zu erwirtschaften und auf diese Weise Reichtum zu erwerben. Auch Athen scheint im 6. Jh. v. Chr. Agrarerzeugnisse exportiert zu haben; in Attika wurden Ölbäume an Hängen gepflanzt, wo ein Ackerbau nicht mehr möglich war.138 Unter diesen Voraussetzungen wurde mehr Olivenöl erzeugt als für den Bedarf der eigenen Bevölkerung notwendig war, weswegen Olivenöl von dem Verbot, Agrarerzeugnisse zu exportieren, ausdrücklich ausgenommen war.139 Griechen, die im Mutterland und in den Apoikien kein Auskommen fanden, gingen auch als Söldner nach Ägypten; Psammetichos I. (664–610 v. Chr.) gab Ionern und Karern, die in seinem Heer dienten, Land beiderseits des Nils in der Nähe der Stadt Bubastis;140 als Psammetichos II. (595–589 v. Chr.) einen Feldzug 133 Hdt. 2, 178–179. Zu Naukratis vgl. Möller, Naukratis (wie Anm. 125). 134 Moeller, Naukratis (wie Anm. 125), S. 75–88. 135 Hdt. 3, 6, 1. 136 Hdt. 2, 135. Strab. 17, 1, 33. Athen. 13, 596b 137 Sapphos Bruder Larichos gehörte zu den jungen Aristokraten in Mytilene. Vgl. hierzu

Athen. 10, 425a und Sappho 203 Campbell.

138 L. Foxhall, Feeling the earth move: cultivation techniques on steep slopes in classiscal an-

tiquity, in: G. Shipley, J. Salmon (Hrsg.), Human Landscapes in classical Antiquity. Environment and Culture, London 1996, S. 44–67. 139 Plut. Solon 24, 1. 140 Hdt. 2, 154, 1. T. F. R. G. Braun, The Greeks in Egypt, in: CAH III 3 (wie Anm. 87), S. 32–56.

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nach Süden unternahm, waren Griechen Soldaten in seinem Heer; sie hinterließen Inschriften auf der Statue von Ramses II. in Abu Simbel.141 Später siedelte Amasis (570–526 v. Chr.) die Griechen nach Memphis um; seit dieser Zeit stellten sie die Leibwache des Königs.142 Wie Herodot feststellt, waren diese Griechen die ersten Fremden, die sich dauerhaft in Ägypten niederließen, mit der Folge, dass die Griechen seitdem über die Vorgänge in Ägypten bestens informiert waren.143 So bedeutend die griechische Expansion in der Geschichte des Mittelmeerraumes war, so sollte darüber nicht der Wandel in Griechenland und in der Ägäis übersehen werden. In Griechenland kam es zur Herausbildung der Polis, einer Stadt, deren grundlegende Institutionen der Rat, die Volksversammlung, die gewählten Amtsträger und die Gerichte waren. Die Stadt gab sich eigene Gesetze, war also autonom, und sie entschied über alle Belange, unter Einschluss der Beziehungen zu anderen Städten, selbst, war also frei.144 Die Tatsache, dass es nach 1000 v. Chr. im östlichen Mittelmeerraum keine Macht mehr gab, die fähig war, einen Anspruch auf Herrschaftsausübung in Griechenland zu erheben, gab den Griechen die Chance, ihre eigenen politischen Institutionen unbeeinflusst von äußerer Einwirkung zu entwickeln.145 Im Inneren wurde die freie Entfaltung einer politischen Kultur dadurch begünstigt, dass die Griechen keine starke Priesterkasten kannten, die ein religiös legitimiertes Königtum vor Veränderungen hätten bewahren können, und die Aristokratie sich als zu schwach erwies, um eine größere Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen dauerhaft zu verhindern. Kennzeichen der Polis ist die Einheit von urbanem Zentrum und ländlichem Territorium; damit wurde die bäuerliche Bevölkerung des Umlandes in die Bürgerschaft und damit in das politische System der Stadt integriert. Obgleich in der archaischen Zeit in vielen Poleis Stadtherren oder Tyrannen die Macht ausübten, wurde doch insbesondere mit den Reformen Solons und den Gesetzen des Kleisthenes während des 6. Jh. in Athen eine politische Entwicklung eingeleitet, die einen eminenten Einfluss auf die politischen Strukturen der Antike ausüben sollte.146 141 ML 7 142 Hdt. 2, 154, 3. 143 Hdt. 2, 154, 4. 144 Hölkeskamp, Stein-Hölkeskamp, Archaisches Griechenland (wie Anm. 87), S. 105–111. 145 Dies betont A. Heuss, Die archaische Zeit Griechenlands als geschichtliche Epoche, in:

F. Gschnitzer, Zur griechischen Staatskunde, Darmstadt 1969, S. 36–96, besonders S. 39–41. 146 J. Martin, Von Kleisthenes zu Ephialtes. Zur Entstehung der athenischen Demokratie, in:

K. H. Kinzl, Demokratia. Der Weg zur Demokratie bei den Griechen, Darmstadt 1995, S. 160–212. Hölkeskamp, Stein-Hölkeskamp, Archaisches Griechenland (wie Anm. 87), S. 121–122. 140–144.

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IV. Wie die griechischen Apoikien waren die phoinikischen Städte im Westen, Utika und Karthago in Nordafrika oder Gades auf der Iberischen Halbinsel urbane Zentren, in denen sich kulturelle, politische und wirtschaftliche Entwicklungen verdichteten. Zur architektonischen Ausgestaltung dieser Städte gehörten Tempel und Heiligtümer ebenso wie öffentliche Plätze und Gebäude oder Bauwerke der Infrastruktur. Auch in Italien war die Entstehung von Städten ein Vorgang von historischer Bedeutung; dies gilt nicht allein für den Süden, wo die griechischen Apoikien an den Küsten eine Städtelandschaft schufen, sondern gerade auch für das Gebiet zwischen dem Arno und der Tibermündung. Aus den Siedlungen der Villanova-Kultur entwickelten sich im Binnenland genuine Städte, die auf gut zu verteidigenden Hügeln lagen und von einer aristokratischen Oberschicht beherrscht wurden. Die Kultur der Etrusker wird besonders sichtbar in den Grabanlagen mit den Wandgemälden, die das Leben in Etrurien und die Wertvorstellungen der Aristokratie widerspiegeln, und in den Grabbeigaben, die Zeugnis der ästhetischen Präferenzen der etruskischen Gesellschaft sind. Eine Verbindung zu anderen Regionen des Mittelmeerraumes wurde durch Hafenstädte wie Graviscae und Pyrgi hergestellt. Mit ihrer Präsenz an der Küste nördlich der Tibermündung und ihrem Vordringen nach Latium waren die Etrusker die dritte Macht, die neben den Karthagern und Griechen die Geschicke im westlichen Mittelmeer bestimmte.147 Politisch war der Mittelmeerraum eine Welt autonomer und freier Städte, die zuweilen aber feste Städtebünde wie in Etrurien oder Latium schufen. Allein Karthago war es im Westen gelungen, die Herrschaft über weit entfernte Gebiete auf der Iberischen Halbinsel, auf Sardinien oder Sizilien zu erlangen und so geradezu ein karthagisches Reich zu errichten. Die Einwohnerschaft vieler Städte gehörte keineswegs nur einem Volk an; für das 6. Jh. v. Chr. fehlen hierfür eindeutige Zeugnisse, aber es gibt etwa Belege dafür, dass im späten 5. und frühen 4. Jh. v. Chr. Griechen dauerhaft in Karthago und Karthager dauerhaft in Syrakus und anderen griechischen Städten auf Sizilien wohnten.148 Im 6. Jh. v. Chr. waren es wiederum Ereignisse im Vorderen Orient, die Einfluss auf die Verhältnisse im Westen des Mittelmeerraums nahmen. Mit dem Sieg über die Meder, der Einnahme von Babylon und der Eroberung Ägyptens stieg das Perserreich zur führenden Macht im Orient auf; zu einer Konfrontation mit den Griechen kam es nach dem Sieg über Kroisos, den König des Lyderreiches, 147 M. Torelli, Die Etrusker. Geschichte, Kultur, Gesellschaft, Frankfurt 1988. F. Prayon, Die

Etrusker. Geschichte, Religion, Kunst, München 1996. G. Camporeale, Die Etrusker. Geschichte und Kultur, Düsseldorf, Zürich 2003. 148 Karthager in Syrakus und anderen griechischen Städten in Sizilien: Diod. 14, 46, 1–4. Griechen in Karthago: Diod. 14, 77, 5.

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zu dem auch die griechischen Städte an der kleinasiatischen Küste gehört hatten. Die Perser leiteten ein große Offensive gegen die Griechen ein, ihr erstes Ziel war die Stadt Phokaia.149 Die Phokaier wiederum, die nicht geneigt waren, sich dem Perserkönig zu unterwerfen, verließen die Stadt und fuhren auf ihren Schiffen in den Westen, wo sie bereits um 600 v. Chr. Massalia und später auf Korsika Alalia gegründet hatten.150 Allerdings verlegten sich die Phokaier von Alalia auf Seeraub und provozierten damit eine Reaktion sowohl der Karthager, zu deren Herrschaftsbereich Sardinien gehörte, als auch der Etrusker, deren Handel auf die Sicherheit der Seewege angewiesen war. Karthager und Etrusker stellten gemeinsam eine Flotte auf und konnten um 540 v. Chr. trotz einer Niederlage in einer Seeschlacht die Phokaier zum Abzug aus Korsika zwingen. Die Phokaier gründeten dann die Stadt Hyele (Elea/Velia) in Süditalien.151 Diese Ereignisse machen deutlich, dass es im Mittelmeergebiet während des 6. Jh. v. Chr. kein isoliertes Nebeneinander von Phoinikern, Griechen und Etruskern mehr gab, sondern dass die verschiedenen Kulturen und Völker in eine Phase enger freundlicher oder feindlicher Beziehungen eingetreten waren und eine Konstellation der Mächte entstanden war, die bis zu den Punischen Kriegen im 3. Jh. v. Chr. Bestand haben sollte. Im Westen spielte der Handel eine nicht unwichtige Rolle in der Interaktion zwischen den Kulturen. Die Goldbleche von Pyrgi152 und die Weihung des Sostratos sind Dokumente für die Präsenz von Karthagern und Griechen in den etruskischen Häfen; der Text der Goldbleche enthält eine Weihung an Astarte, für deren Heiligtum die Stadt Caere Platz zur Verfügung gestellt hatte. Die Handelsbeziehungen wurden im Westen im späten 6. Jh. v. Chr. durch Verträge geregelt; Aristoteles erwähnt exemplarisch Verträge zwischen Karthago und den Etruskern,153 und mit dem ersten Vertrag zwischen Karthago und Rom ist der Text einer solchen Vereinbarung überliefert.154 Der Vertrag, den Polybios auf das Consulat des L. Iunius Brutus, also auf das Jahr 509 v. Chr., datiert, enthält im wesentlichen vier Bestimmungen: Den Römern und ihren Verbündeten wird untersagt, mit Kriegsschiffen über das in Afrika gelegene schöne Vorgebirge hinaus zu fahren, Handelsgeschäfte dürfen in Libyen oder auf Sardinien nur in Gegenwart eines Herolds oder Schreibers abgeschlossen werden, in den karthagischen Gebieten Siziliens sollen Römer den 149 Hdt. 1, 163, 1. 150 Zur Gründung von Massalia vgl. Iust. 43, 3. 151 Hdt. 1, 166–167. 152 Vgl. Moscati, Das karthagische Reich (wie Anm. 72), S. 57. Camporeale, Etrusker (wie

Anm. 147), S. 112

153 Aristot. pol. 1280a. 154 Pol. 3, 22.Polybios kommentiert den Vertrag in 3, 23. Vgl. Moscati, Das karthagische Reich

(wie Anm. 72), S. 57. Huß, Karthager (wie Anm. 38), S. 47–53. Ameling, Karthago (wie Anm. 78), S. 130–132. 141–154.

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Karthagern gleichberechtigt sein, und schließlich werden Bestimmungen zum Schutz der Küstenregion Mittelitaliens von Ardea bis Tarracina vor militärischen Aktionen der Karthager formuliert. Das Verbot, mit Kriegsschiffen über das schöne Vorgebirge hinaus zu fahren, richtete sich wohl weniger gegen Rom als vielmehr gegen die Städte an der Küste Latiums, die Seeraub betrieben. Die Vorschrift, Handelsgeschäfte nur in Gegenwart eines Herolds oder Schreibers abzuschließen, sollte Rechtssicherheit schaffen angesichts einer Situation, in der ein Fremder nicht das Recht hatte, einen Bürger einer Stadt, in der er Handel trieb, anzuklagen.155 Die Vertragsbestimmungen setzen voraus, dass Händler aus Rom oder aus den Städten Latiums am Seehandel zwischen Italien, Sardinien, Sizilien und Nordafrika beteiligt waren. Rom war im späten 6. Jh. v. Chr. keine von allen Entwicklungen im Mittelmeerraum isolierte Stadt von Kleinbauern, sondern war eingebunden in ein überregionales Netz von Handelsbeziehungen, die auch ihren Niederschlag in den archäologischen Zeugnissen fanden.156 Für den östlichen Mittelmeerraum bedeutete der Aufstieg des Perserreiches unter Kyros und seinen Nachfolgern ohne Zweifel eine tiefe Zäsur. Es war ein Reich entstanden, das weit größer war als das Assyrerreich oder das Babylonische Reich; aber wichtiger noch für die historische Entwicklung war die Tatsache, dass mit der Expansion des Perserreiches die Konstellation des 2. Jt. v. Chr., in dem zwischen Ägypten, dem Hethiterreich in Kleinasien und den mesopotamischen Reichen ein labiles Gleichgewicht bestand, nicht mehr existierte. Kleinasien, Mesopotamien, der Iran und Ägypten wurden vom persischen Großkönig beherrscht, dem auch die phoinikischen Städte der Levante und die griechischen Städte in Kleinasien unterstanden. Damit war für die Griechen jene historische Phase definitiv beendet, in der weder Ägypten noch eine Macht des Orients in der Lage waren, ihren Machtbereich auf den Raum der griechischen Städte auszudehnen.

V. Bei dem Versuch, die Entwicklungen im Mittelmeerraum zwischen 1000 und 500 v. Chr. zu beschreiben, darf der kulturelle Wandel nicht übersehen werden, der zu einem nicht unerheblichen Teil auf direkte Kontakte und auf die Interaktion zwischen den verschiedenen Kulturen zurückzuführen ist. Bedeutsam ist hier zweifellos die Begegnung der Griechen mit der ägyptischen und der phoinikischen Kultur. Thales von Milet, der Begründer der ionischen Naturphilosophie, soll ebenso wie der Athener Solon nach Ägypten gereist sein und dort viele Gespräche mit Priestern geführt haben. Den Griechen war bewusst, dass sie viele 155 Vgl. Ameling, Karthago (wie Anm. 78), S. 148–151. 156 Vgl. etwa zu den Funden im Heiligtum bei Sant’Omobono R. R. Holloway, The Archae-

ology of Early Rome and Latium, London 1994, S. 68–80.

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ihrer zivilisatorischen Errungenschaften aus Ägypten und aus dem Orient übernommen haben; in einem Platon zugeschriebenen Text findet dieses Bewusstsein Ausdruck in der Bemerkung, dass die Griechen das, was sie von den Barbaren übernahmen, zu etwas schöneren gemacht haben.157 Gerade Herodot hat den Ägyptern und dem Orient viele Erfindungen zugeschrieben.158 Die Griechen haben in Ägypten die monumentalen Tempelanlagen ebenso wie die großen Statuen der Pharaonen gesehen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass sie hier Anregungen für ihre eigene Bautätigkeit und für die Schaffung großer Statuen von Gottheiten, Männern und Frauen erhielten. Bis zum 7. Jh. v. Chr. war Griechenland ein Land ohne Steinbauten und ohne Statuen; die Plastik war wesentlich begrenzt auf kleine Bronzestatuetten, die meist als Weihgaben dienten. Um 600 v. Chr. veränderte sich dieses Bild radikal: In dieser Zeit begannen die griechischen Städte, monumentale Tempel aus Stein zu errichten, die Ansehen und Prestige einer Stadt steigern sollten. Diese geradezu fieberhafte Bautätigkeit beschränkte sich keineswegs auf das Mutterland, sondern erfasste auch die Apoikien in Unteritalien und auf Sizilien. Welche technischen und logistischen Probleme dabei zu meistern waren, zeigt das Beispiel des Apollon-Tempels in Korinth aus der Zeit um 540 v. Chr.: Der Tempel hatte an den beiden Frontseiten je sechs Säulen, an den Langseiten je 15 Säulen, insgesamt also 38 Säulen, die bei einer Höhe von über sechs Metern aus einem einzigen Steinblock gearbeitet waren. Etwa in derselben Zeit, in der Mitte des 6. Jh. v. Chr., wurde auch der älteste der drei dorischen Tempel in Paestum gebaut, der jeweils 9 Säulen an den Frontseiten und 18 Säulen an jeder Langseite besitzt; die Säulen haben eine Höhe von 6,45 Metern und einen unteren Durchmesser von 1,45 Metern.159 Der Transport des Baumaterials erforderte erhebliche Anstrengungen: Bei dem Bau des Tempels von Delphi wurde für die Errichtung der Frontseite Marmor aus Paros verwendet, also ein Material, das ca. 2,5 Tonnen je Kubikmeter wiegt. Der Marmor musste von der Insel Paros über den Isthmos zum Korinthischen Golf 157 Thales: Diog. Laert. 1, 27. Solon: Plat. Tim. 21e–22b. Aristot. Ath. pol. 11. Plut. Solon 25f.

Diog. Laert. 1, 50. Plat. Epinomis 987d–e. Vgl. J. Wiesehöfer, Die Griechen und der Orient im 1. Jahrtausend v. Chr., in: Gehrke, Schneider (Hrsg.), Geschichte der Antike (wie Anm. 87), S. 47–63. 158 Münzprägung: Hdt. 1, 94, 1 (Lyder). Kalender mit zwölf Monaten und 5 Schalttagen, Tempelbau, Steinplastik: Hdt. 2, 4. Geometrie: Hdt. 2,109, 3 (Ägypten). Gnomon und Stundeneinteilung: Hdt. 2, 109, 3 (Babylonien). Schild und Helm: Hdt. 4, 180, 4 (Ägypten). Fahren mit Viergespannen: Hdt. 4, 189, 3(Libyen). 159 G. Gruben, Die Tempel der Griechen, München 1966. Korinth: S. 94–96. Paestum: S. 235–244. Vgl. ferner Gruben, a. a. O. S. 72–77 zu Delphi, Apollon-Tempel (ca. 530–510 v. Chr.); S. 104–107: Korkyra, Artemis-Tempel (um 580 v. Chr.); S. 257–261: Syrakus, Apollontempel (ca. 570/560 v. Chr.); S. 271–276: Selinunt, Tempel C (um 550 v. Chr.); S. 277–279: Selinunt, Tempel F (um 530 v. Chr.); S. 321–329: Samos, Hera-Tempel III und IV (550–500 v. Chr.). Vgl. ferner J. Charbonneaux, R. Martin, F. Villard, Das archaische Griechenland 620–480 v. Chr., München 1969. Zu Unteritalien und Sizilien vgl. D. Mertens, Greek Architecture in the West, in: Carratelli, The Western Greeks (wie Anm. 20), S. 315–346.

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transportiert werden; allein der Weg von der Küste zum hochgelegenen ApollonHeiligtum stellte eine eminente Herausforderung dar.160 Die aristokratischen Familien haben im 6. Jh. v. Chr. ähnlich wie die Städte durch den Tempelbau ihr Prestige durch die Aufstellung überlebensgroßer Statuen schöner junger Männer und kostbar gekleideter junger Frauen zu steigern versucht. Diese Intention wird deutlich erkennbar am Fall der Statue des Kroisos, eines jungen Mannes, der im Kampf gefallen ist, wie das Epigramm auf der Basis verkündet. Der Kouros, der auf dem Grab aufgestellt war, bezeugt den sozialen Rang und den Reichtum einer Familie, die eine solche Statue finanzieren konnte.161 Die Kouroi der ersten Jahrzehnte nach 600 v. Chr. hatten eine Höhe zwischen 1,84 und 3,05 Meter; die griechischen Bildhauer folgten stilistisch zunächst ägyptischen Vorbildern, entwickelten dann aber eine eigene Formensprache. Auch Städte waren Auftraggeber von solchen Statuen; so berichtet Herodot, dass die Stadt Argos Standbilder von Kleobis und Biton anfertigen und in Delphi aufstellen ließ.162 Anthony Snodgrass hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wie beim Tempelbau der Transport der Steinblöcke für die überlebensgroßen Kouroi erhebliche Anforderungen an die Transportkapazitäten stellte. Für die archaische Zeit (6. Jh. v. Chr.) sind über 1100 Kouroi nachgewiesen, mit Sicherheit sind aber erheblich mehr Kouroi geschaffen worden. In den urbanen Zentren wie auch in den Heiligtümern stand gegen Ende des 6. Jh. eine große Zahl solcher Statuen. Es ist daher anzunehmen, dass von den Steinbrüchen der Ägäisinseln jedes Jahr Stein- und Marmorblöcke mit einem Gewicht von mehr als 100 Tonnen transportiert wurden.163 Daneben existierte die Bauplastik: Die Giebelfiguren und die Metopen der Tempel gehörten ebenfalls zu den griechischen Bildwelten. Seit dieser Zeit war die Welt der Griechen, wie Tonio Hölscher schreibt, voller Bilder.164 Die Griechen, die das Niltal und die Städte der Levante kannten, hatten von Ägypten und dem Orient gelernt, ihr Land, ihre Städte und ihre Heiligtümer durch Bauten, Denkmäler und Skulpturen zu gestalten und sich so eine eigene Welt zu schaffen, der sie eine ihnen gemäße Form gaben. Ein starkes Verlangen nach Bildern war auch im privaten Bereich vorhanden; hier war die Keramik der wichtigste 160 Hdt. 5, 62, 3. Gruben, Tempel (wie Anm. 159), S. 72–77. 161 W. Fuchs, Die Skulptur der Griechen, München 1969, S. 26–37. 158–173. Charbonneaux,

Martin, Villard, Griechenland 620–480 v. Chr. (wie Anm. 159), S. 19–27. 107–168. 233–294. J. Boardman, Greek Sculpture. The Archaic Period, London 1978. Statue des Kroisos: Fuchs, a. a. O. Abb. 20, 21. Boardman, a. a. O. fig. 107. 162 Hdt. 1, 31, 5. Vgl. Boardman, Greek Sculpture (wie Anm. 161), fig. 70. 163 A. M. Snodgrass, Heavy Freight in Archaic Greece, in: P. Garnsey, K. Hopkins, C. R. Whittaker (Hrsg.), Trade in the Ancient Economy, London 1983, S. 16–26. Zu den Kouroi vgl. S. 21–22. 164 T. Hölscher, Die griechische Kunst, München 2007, S. 7.

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Bildträger. Gefäße und Schalen jeglicher Art wurden mit Bildern versehen, die Szenen des Mythos, aber auch des Alltags darstellen. Die Urbanisierung war aber nicht nur mit einer architektonischen Ausgestaltung der urbanen Zentren und der Aufstellung von Bildwerken verbunden, vielmehr erhielten die Städte auch eine Infrastruktur, die über die Ummauerung der Städte weit hinausging. Noch in archaischer Zeit erhielt Athen ein Leitungssystem, das Wasser aus einer entfernten Quelle in die Stadt führte; es wurden gleichzeitig Brunnenhäuser mit Wasserspeiern gebaut, in denen die schweren Hydrien ohne größere Anstrengung gefüllt werden konnten. Die Versorgung städtischer Haushalte mit Wasser wurde dadurch erheblich erleichtert.165 Für andere Poleis ist ebenfalls der Bau von Brunnenhäusern oder von Wasserleitungen bezeugt, so für Megara das Brunnenhaus des Theagenes166 oder die um 550 v. Chr. begonnene Eupalinos-Leitung auf Samos, die durch einen Tunnel geführt wurde.167 Mit dem Hinweis auf den Bau der Wasserleitung und der Mole am Hafen begründet Herodot seinen langen Exkurs über die Geschichte von Samos: „Ich habe mich mit den Samiern etwas länger beschäftigt, weil sie drei der gewaltigsten Bauwerke aller Griechen aufgeführt haben: Sie durchbohrten einen Berg von 150 Klaftern Höhe von unten her und gruben einen Tunnel mit zwei Öffnungen. Seine Länge beträgt sieben Stadien [ca. 1302 Meter], die Höhe und Breite je acht Fuß. Durch seine ganze Länge ist ein anderer Kanal geführt, zwanzig Ellen tief, drei Fuß breit, durch den das Wasser in Röhren zur Stadt geleitet wird, es kommt aus einer starken Quelle. Baumeister des Tunnels war Eupalinos aus Megara, Sohn des Naustrophos. Das ist das eine der drei Bauwerke. Das zweite ist ein Damm im Meer um den Hafen herum, etwa zwanzig Klafter tief; der Damm ist mehr als zwei Stadien lang.“ Erst an dritter Stelle folgt bei Herodot die Erwähnung des Heratempels.168 Ähnlich wie in den griechischen Städten war die Stadtentwicklung in Rom während des 6. Jh. v. Chr. mit dem Bau eines Tempels und mit Maßnahmen zur Schaffung eines innerstädtischen Raumes, der als politische Zentrum dienen konnte, verbunden. Mit dem Iuppiter-Tempel, der 509 v. Chr. geweiht worden war, gehörte Rom zu den Städten des Mittelmeerraumes, die ihr Selbstbewusstsein durch Errichtung eines monumentalen Heiligtums für die Stadtgottheit zum Ausdruck brachten. Die sumpfige Ebene unterhalb des Capitols wurde durch einen Kanal, der später Cloaca maxima genannt wurde, entwässert; auf die165 R. Tölle-Kastenbein, Das archaische Wasserleitungsnetz für Athen und seine späteren Bau-

phasen, Mainz 1994. Zur Wasserversorgung griechischer Städte vgl. D. P. Crouch, Water Management in Ancient Greek Cities, Oxford 1993. 166 J. Travlos, Bildlexikon zur Topographie des antiken Attika, Tübingen 1988, S. 258–287 mit den Abb. 324–327. 167 H. J. Kienast, Die Wasserleitung des Eupalinos auf Samos, Bonn 1995 (Samos Band XIX). 168 Hdt. 3, 60, 1–4.

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se Weise entstand das Forum Romanum, das ein Pflaster erhielt und Versammlungsplatz des Volkes wurde.169 Neben der Urbanisierung vieler Regionen des Mittelmeerraumes war die Verbreitung der Schrift eine weitere Entwicklung von eminenter Bedeutung nicht allein für die Geschichte der Antike, sondern überhaupt für die Geschichte Europas. Die Griechen übernahmen das phoinikische Alphabet und fügten den Konsonanten noch die Vokale hinzu, so dass eine Schrift entstand, die für eine vollständige Wiedergabe gesprochener Wörter geeignet war.170 Herodot hat die Übernahme der phoinikischen Schrift auf die Einwanderung des Kadmos in Griechenland zurückgeführt. Die Ionier sollen die Schrift in Griechenland von den Phoinikern gelernt und dann verändert haben.171 Die Verbindung der Schrift mit Kadmos ist sicherlich fiktiv, die Übernahme der Buchstaben der Phoiniker ist hingegen als historischer Vorgang anzusehen, der gegenwärtig auf die Zeit um 750 v. Chr. datiert wird; diese Datierung wird gestützt durch eine Reihe von griechischen Inschriften und Graffiti, die aus der Mitte des 8. Jh. v. Chr. stammen; zu nennen ist hier vor allem die Versinschrift des Nestorbechers aus Pithekoussai, die demjenigen, der aus dem Becher trinkt, verspricht, dass ihn das Verlangen der schönbekränzten Aphrodite ergreifen wird.172 Es bleibt unklar, in welcher Region die Griechen sich die phoinikischen Buchstaben angeeignet haben; möglich sind sowohl Orte oder Gebiete im Osten wie Al Mina oder Zypern, wo enge Kontakte zwischen Griechen und Phoinikern bestanden, als auch der Ägäisraum. Wahrscheinlich entstand die griechische Schrift in der Sphäre des Fernhandels,173 sie wurde aber bald zur Aufzeichnung von Gesetzen oder Verträgen verwendet.174 Die Kenntnis der Schrift und die Fähigkeit zu schreiben verbreiteten sich in den griechischen Städten relativ schnell; im frühen 6. Jh. v. Chr. konnten die Söldner des Psammetichos schreiben, wie die Graffiti an der Statue des Ramses in Abu Simbel belegen.175 Auch Handwerker konnten lesen und schreiben: Viele Tongefäße weisen Inschriften wie auch Signaturen einzelner Vasenmaler auf. Ein einziger schwarzfiguriger Krater, die von Ergotimos und Kleiti169 Tempel des Iuppiter: Liv. 2, 8, 6–8. Cloaca Maxima: Liv. 1, 38, 6. 1, 56, 2. Vgl. Dion. Hal. ant.

3, 67, 4–5. F. Kolb, Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike, München 1995, S. 77–84. 92–93. Kolb hält es für möglich, dass griechische Impulse die Stadtplanung in Rom beeinflusst haben. Vgl. Kolb, a. a. O. S. 102–108, vor allem S. 107. 170 E. A. Havelock, The Literate Revolution in Greece and Its Cultural Consequences, Princeton 1982. W.V̇. Harris, Ancient Literacy, Cambridge Mass. 1989. R. Thomas, Literacy and Orality in Ancient Greece, Cambridge 1992. R. Wachter, DNP 1, 1996, Sp. 537–547 s. v. Alphabet II. Das griechische Alphabet. Osborne, Greece in the Making (wie Anm. 87), S. 101–105. 171 Hdt. 5, 58, 1–2. 172 ML 1. 173 Wachter, Alphabet (wie Anm. 170), Sp. 543. 174 ML 2. 5. 6. 8. 10. 175 ML 7.

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as verfertigte François-Vase in Florenz, weist 129 Inschriften auf, bei denen es sich meist um die Namen der dargestellten Personen handelt.176 Wurde der Text von Gesetzen und Verträgen oft in Stein eingemeißelt, stand für literarische Texte mit dem Papyros, der aus Ägypten eingeführt wurde, ein Beschreibstoff zur Verfügung; wurden einzelne Papyrusseiten aneinandergefügt, entstand eine Buchrolle, auf der längere Texte geschrieben werden konnten. Die frühe griechische Literatur bestand zunächst aus Gedichten, die normalerweise nur wenige Verse hatten, und Lehrgedichten wie die Erga von Hesiodos, aber auch die längeren Epen wie die Homers wurden aufgezeichnet; im späten 6. Jh. v. Chr. verfasste dann Hekataios von Milet Prosaschriften, die logoi genannt wurden.177 Damit waren die Grundlagen für die Entwicklung der Geschichtsschreibung sowie der Philosophie und für die Entstehung einer Fachliteratur im Bereich etwa der Medizin und der Rhetorik geschaffen. Von erheblicher Tragweite für die wirtschaftlichen Strukturen der Antike waren zwei weitere Neuerungen, die ebenfalls in das 6. Jh. v. Chr. zu datieren sind: die Münzprägung und die Sklaverei. Im Mittelmeerraum hatte Edelmetall, insbesondere Silber, bereits Geldfunktion; das nicht geprägte Metall musste bei dem Austausch auf seinen Edelmetallgehalt geprüft und vor allem gewogen werden. Nach Herodot haben zuerst die Lyder Münzen aus Gold und Silber geprägt; wahrscheinlich bestanden diese Münzen aus Elektron, einer natürlich vorkommenden Legierung von Gold und Silber; Goldvorkommen in der Nähe von Sardes werden von Herodot an anderer Stelle erwähnt.178 Die Prägung von Münzen wurde von den Griechen noch im 6. Jh. v. Chr. übernommen. Durch den Stempel wurden das Gewicht und der Feingehalt der Münze garantiert, sie musste normalerweise nicht mehr geprüft und gewogen werden. Die Transaktionskosten im Handel sind mit der Münzprägung erheblich gesunken,179 und Aristoteles hat hervorgehoben, dass das Münzgeld sich vor allem im Fernhandel als vorteilhaft erwies.180 Der Gebrauch des Münzgeldes fand in Griechenland und in den Apoikien sehr schnell eine weite Verbreitung und bewirkte damit – zusammen 176 Harris, Literacy (wie Anm. 170), S. 52. Zur François-Vase vgl. Charbonneaux, Martin, Villard,

Griechenland 620–480 v. Chr. (wie Anm. 153), S. 59–63.

177 Zu Hekataios vgl. K. Meister, DNP 5, 1998, Sp. 264–267 s. v. Hekataios 3. 178 Hdt. 1, 94, 1. Im Paktolos mitgeführter Goldstaub: Hdt. 5, 101, 2. Elektron aus Sardes: Soph.

Ant. 1037–1038. Strabon führt in Anlehnung an Ephoros die Münzprägung auf Pheidon von Argos zurück: Strab. 8, 3, 33. Vgl. R. Göbl, Antike Numismatik Band 1. Einführung, Münzkunde, Münzgeschichte, Geldgeschichte Methodenlehre, Praktischer Teil, München 1978, S. 34f. (Elektron); S. 45f. (Erfindung der Münze); S. 146–149 (Die Entstehung der Münze). 179 Vgl. J. H. Kroll, The Monetary Use of Weighed Bullion in Archaic Greece, in: W. V. Harris (Hrsg.), The Monetary Systems of the Greeks and Romans, Oxford 2008, S. 137: „One was that by obviating weighing, it made monetary exchange simpler, faster, and far more efficient“. 180 Aristot. pol. 1257a–1257b.

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mit dem zunehmenden Abbau von Edelmetallen – eine weitgehende Monetarisierung der griechischen Wirtschaft. Münzgeld war seit dem späten 6. Jh. v. Chr. ein nicht mehr wegzudenkendes Element der griechischen und generell der antiken Wirtschaft.181 Im archaischen Griechenland existierten durchaus Unfreie und der Status der Unfreiheit; es handelte sich bei diesen Unfreien um Bewohner des Landes, denen wie den Penesten in Thessalien oder den Heloten in Sparta die Freiheit genommen worden war, die mit ihren Familien auf dem Land lebten, die Felder bebauten und gezwungen waren, an eine Herrenschicht einen großen Teil der Erträge abzuliefern. Sklaven erscheinen auch in den Epen Homers, so die Amme Eurykleia oder der Schweinehirt Eumaios; die im Haushalt eines Aristokraten tätigen Frauen waren meist Sklavinnen, die Hirten, die für die Viehherden und die Schweine verantwortlich waren, Sklaven.182 Von diesen Verhältnissen in der traditionalen griechischen Gesellschaft unterschied sich manifest die Kaufsklaverei; die Bewohner von Chios sollen nach dem Zeugnis des Historikers Theopompos als erste Barbaren gekauft und als Arbeitskräfte eingesetzt haben.183 Es ist bezeichnend, dass die Kaufsklaverei dort entstand, wo auf dem Land hohe Überschüsse produziert wurden, die dann von den Grundbesitzern selbst oder von Kaufleuten exportiert worden sind. Hier bestand ein hoher Bedarf an Arbeitskräften, die nicht mehr aus der eigenen Bevölkerung kamen. Die Insel Chios wird jedenfalls unter den Städten aufgeführt, die in Naukratis das Hellenion gegründet hatten und damit maßgeblich am Ägyptenhandel beteiligt waren.184 Die Aussage des Theopompos wird auch durch einen Bericht bei Herodot bestätigt, der Chios im Zusammenhang mit dem Menschenhandel nennt: Panionios aus Chios machte ein Geschäft daraus, schöne Knaben zu kaufen, kastrieren zu lassen und an die Perser weiterzuverkaufen.185 Der Kauf von Sklaven hatte für die betroffenen Menschen schwerwiegende Konsequenzen; sie waren rechtlos, der Willkür ihrer Besitzer ausgeliefert, lebten fern ihrer Heimat und hatten keine Familie; sie waren gleichsam auf ihre Arbeitskraft reduziert. Ohne Zweifel war 181 Vgl. Göbl, Numismatik (wie Anm. 178), S. 147. Kroll, The Monetary Use (wie Anm. 179),

S. 12–37, besonders S. 37: “In these ways the shift to silver coinage facilitated the progressive monetization of the Greek economy”. H. S. Kim, Archaic Coinage as Evidence for the Use of money, in: A. Meadows, K. Shipton (Hrsg.), Money and its Uses in the Ancient Greek World, Oxford 2001, S. 7–21. H. S. Kim, Small Change and the moneyed economy, in: P. Cartledge, E. E. Cohen and L. Foxhall (Hrsg.), Money, Labour and Land. Approaches to the economies or Ancient Greece, London 2001, S. 44–51. 182 Hom. Od. 1, 429–433 (Eurykleia). 15, 403–483 (Eumaios). 24, 211–212 (Sklavin des Laërtes, eine Frau aus Sizilien). E. Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung in der griechischrömischen Welt, Hildesheim 2009, S. 53–59. 183 Theopompos bei Athen. 6, 265b–c. 184 Hdt. 2, 178, 2. 185 Hdt. 8, 105.

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die Institution der Sklaverei ein grundlegender Faktor der antiken Wirtschaft bis hin zum Principat.186 Kein einzelnes Volk besaß eine politische, wirtschaftliche oder kulturelle Dominanz im Mittelmeerraum. Die Beziehungen zwischen Phoinikern, Karthagern, Griechen und Etruskern waren durch verwandtschaftliche Verbindungen, wie sie etwa für Thales von Milet behauptet werden, und vielfältige Prozesse der Akkulturation geprägt.187 Fremde Kulte hatten Einfluss auf die Griechen in den Apoikien; so verehrten die Frauen von Kyrene die ägyptische Göttin Isis und lehnten es aus Furcht vor der Göttin ab, Kuhfleisch zu essen.188 Herodot behauptet, griechische Götter hätten ihren Ursprung im Orient oder in Ägypten; in Askalon soll der älteste Tempel der Aphrodite existiert haben, von dort soll der Kult der Göttin dann nach Zypern gelangt sein.189 Nach Etrurien haben die Griechen nahezu unzählige bemalte Tongefäße ausgeführt; die François-Vase, die in Chiusi gefunden wurde, ist hierfür nur ein Beispiel. Die Etrusker rezipierten Mythen und Bildprogramme dieser Gefäße und schufen selbst Bildwelten, die viele Ähnlichkeiten mit denen der Griechen aufweisen.190 In diesem Zusammenhang darf die autochthone Bevölkerung vieler Regionen nicht übersehen werden. Keltiberer, die Kelten im heutigen Südfrankreich, die Gebirgsstämme in Italien, die an die Küste drängten, die Sikeler auf Sizilien, die Thraker im heutigen Nordgriechenland ebenso wie die Libyer in Nordafrika gehörten zur Bevölkerung an den Küsten des Mittelmeeres. Durch die Begegnung mit Phoinikern, Karthagern und Griechen kam es in vielen Regionen des Mittelmeerraumes zu einem Prozess kulturellen Wandels. So ist im Südwesten der Iberischen Halbinsel ein deutlicher phoinikischer Einfluss auf das Hinterland, dessen Bewohner in großen Mengen phoinikische Waren einführten, erkennbar.191 Eine derartige Entwicklung beschreibt eindrucksvoll auch Iustinus in seinem Abschnitt über die Phokaier in Massalia: „Von diesen lernten nun die Gallier, indem sie ihr bisher barbarisches Wesen ablegten und ziviler wurden, ein gesittetes Leben zu führen, Ackerbau zu treiben und Städte mit Mauern zu umgeben. Damals gewöhnten sie sich auch daran, nach Gesetzen und nicht bloß mit Waffengewalt zu leben, auch Reben zu beschneiden und Ölbäume anzupflanzen, und bald war es um Menschen und Dinge so glanzvoll bestellt, dass nicht Griechenland nach Gallien ausgewandert, sondern Gallien nach Griechenland 186 Vgl. L. Schumacher, Sklaverei in der Antike. Alltag und Schicksal der Unfreien, München

2001. Herrmann-Otto, Sklaverei und Freilassung (wie Anm. 182).

187 Hölkeskamp, Stein-Hölkeskamp, Archaisches Griechenland (wie Anm. 87), S. 129–131. Tha-

les: Hdt. 1, 170. Diog. Laert. 1, 22.

188 Hdt. 4, 186, 2. 189 Hdt. 1, 131. 2, 42–45. 2, 48–53. Aphrodite: Hdt. 1, 105. 1, 131, 3. 190 M. Torelli, The Encounter with the Etruscans, in: Carratelli, The Western Greeks (wie

Anm. 20), S. 567–576.

191 Aubet, Phoenicians (wie Anm. 20), S. 236–247.

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versetzt zu sein schien.“192 Angesichts solcher Entwicklungen wird die Vorstellung, dass einzelne Völker eine genuine Kultur besitzen, die sich unberührt von äußeren Einflüssen entwickelt, der Situation im Mittelmeerraum nicht gerecht. Die Kulturen des mediterranen Raumes waren in hohem Maße durch Handelsbeziehungen, Warenströme, die Gründung von Apoikien und die Mobilität der Menschen geprägt.

VI. Zum Abschluss soll die in der Einleitung angesprochene Frage, ob der Mittelmeerraum ein bloßer moderner Mythos ist oder ihm für die Antike und insbesondere für die archaische Zeit Realität zuzuschreiben ist, noch einmal aufgegriffen werden, indem am Beispiel der Historien Herodots die Frage untersucht wird, inwieweit die Griechen in der Zeit der Perserkriege das Mittelmeer und die umliegenden Länder als eine Einheit wahrgenommen haben. Im Prooimion seines Geschichtswerkes nennt Herodot als Thema seiner Darstellung den Konflikt zwischen Griechen und Barbaren, wobei er der Frage nach den Ursachen dieses Konfliktes eine besondere Bedeutung beimisst.193 Dieser Intention entsprechend schildert Herodot den mit Kyros beginnenden Aufstieg der Perser zu der einzigen Großmacht des Orients und die Kriege der Perser gegen die Griechen bis hin zu dem Feldzug des Xerxes 480/479 v. Chr. In dieser Perspektive bezieht Herodot einen Raum in seine Darstellung ein, der weit über die Siedlungsgebiete der Griechen und über die am Mittelmeer gelegenen Länder hinausreicht: In großen Exkursen werden die von den Persern im Orient und östlichen Mittelmeerraum eroberten Reiche und deren Kultur eingehend beschrieben, so das Reich der Lyder,194 Babylon und Babylonien195 sowie Ägypten;196 daneben werden auch Völkern wie den Skythen, die keine städtische Zivilisation besaßen, lange Exkurse gewidmet.197 In dem Abschnitt über die Skythen wird 192 Iust. 43, 4. Vgl. M. Bats, The Greeks in Gaul and Corsica, in: Carratelli, The Western Greeks

(wie Anm. 20), S. 577–584. V. Kruta, The Greeks and Celtic Worlds. A Meeting of Two Cultures, in: Carratelli, a. a. O. S. 585–590. H. Botermann, Wie aus Galliern Römer wurden. Leben im Römischen Reich, Stuttgart 2005, S. 68–76. Für Sizilien und Süditalien vgl. die Arbeiten in Carratelli, The Western Greeks (wie Anm. 20): V. La Rosa, The Impact of Greek Colonists on the non-Hellenic Inhabitants of Sicily, S. 523–532. B. d’Agostino, The Impact of the Greek Colonies on the Indigenous Peoples of Campania, S. 533–540. A. Bottini, The Impact of the Greek Colonies on the Indigenous Peoples of Lucania, S. 541–548. E. M. de Juliis, The Impact of the Greek Colonies on the Indigenous Peoples of Apulia, S. 549–554. 193 Hdt. 1 prooemium. Vgl. 1, 95, 1. 194 Hdt. 1, 93–94. 195 Hdt. 1, 192–200. 196 Hdt. 2, 2–182. 197 Hdt. 4, 46–82. Vgl. zu den Massageten Hdt. 1, 215–216.

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die Lebensweise dieses Steppenvolkes direkt aus der Natur des Landes abgeleitet.198 In einem längeren Exkurs zur Geographie beschreibt Herodot die Gestalt der Erde und nennt drei Kontinente, Asien, Libyen und Europa. In seiner Vorstellung werden die Landmassen der Erdteile von den Meeren begrenzt.199 Griechenland und die Länder des westlichen Mittelmeerraumes bleiben aber keineswegs unbeachtet. Der Feldzug Spartas gegen Samos und die Tyrannis des Polykrates werden ebenso ausführlich geschildert wie die Einnahme der Insel durch die Perser;200 die Ereignisse in Kyrene von der Gründung bis zum Feldzug des Persers Aryandes sind ebenfalls Gegenstand eines längeren Exkurses.201 Im Zusammenhang mit dem Aufstand der ionischen Städte in Kleinasien geht Herodot dann auf die Verhältnisse in Athen und auf die Tyrannis in Korinth ein; er beschreibt daneben auch die Vorgänge auf Zypern bei der Niederschlagung der Revolte.202 In den Büchern über die persischen Feldzüge gegen Griechenland wird über das frühere Geschehen in verschiedenen griechischen Gebieten berichtet, so etwa über die Herrschaft des Miltiades auf der Chersones oder über die Situation in Sparta und auf Aigina.203 Der westliche Mittelmeerraum kommt mehrmals in den Blick des Historikers, so etwa in den Kapiteln über die Fahrt der Phokaier in den Westen und die Schlacht bei Alalia;204 Tartessos und die Handelsfahrten in den Westen werden erwähnt,205 und es finden sich in den Historien mehrere Berichte über die Geschichte Siziliens.206 Entscheidend ist nun, dass zwischen den Städten und Völkern des Mittelmeerraumes enge Beziehungen bestanden. Wie Herodot hervorhebt, erreichten die Phoiniker ebenso wie griechische Kaufleute die Iberische Halbinsel, und auf die Präsenz der Griechen in Ägypten weist Herodot mehrmals hin; griechische Frauen lebten als Hetairen in Naukratis. Ereignisse im Osten hatten Auswirkungen auf den Westen: Die persische Expansion hatte zur Folge, dass die Phokaier ihre Stadt in Kleinasien verließen und nach Korsika gingen, wo sie Seeraub betrieben. Dadurch kam es schließlich zu einer Koalition zwischen Etruskern und Karthagern, die gemeinsam Krieg gegen die Phokaier führten. Im Fall eines Krieges wurden weit entfernte Städte oder Herrscher um Hilfe gebeten; so versuchten die Ioner während ihres Aufstandes gegen die Perser Sparta und dann Athen als 198 Hdt. 4, 47, 1. 199 Hdt. 4, 36–45. 200 Hdt. 3, 39–60. Der Tod des Polykrates: Hdt. 3, 120–125. Die Eroberung von Samos: Hdt. 3,

142–149.

201 Hdt. 4, 145–167. 200–205. 202 Hdt. 5, 55–90. Zu Sparta vgl. Hdt. 5, 39–51. Sikyon: Hdt. 5, 67–68. Korinth: Hdt. 5, 92–95.

Zypern: Hdt. 5, 104–115.

203 Chersones: Hdt. 6, 33–40; Thasos: Hdt. 6, 46–47. Sparta: Hdt. 6, 50–86. Aigina: Hdt. 6,

87–93.

204 Hdt. 1, 163–167. 205 Hdt. 1, 163. 4, 152. 206 Hdt. 5, 43–48. 7, 153–156.

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Verbündete zu gewinnen, und die Griechen wiederum wandten sich angesichts der persischen Invasion mit einem Hilfegesuch an Gelon, den Stadtherrn von Syrakus, der wiederum die griechischen Gesandten darauf hinwies, dass er in Griechenland keine Unterstützung gefunden hatte, um Dorieus gegen die Karthager zu rächen.207 Interaktion und Kommunikation im Mittelmeerraum sind vor allem durch die Befragung des Orakels von Delphi und durch die Weihgeschenke gut bezeugt; griechische Städte aus verschiedenen Regionen des Mittelmeerraumes befragten das Orakel ebenso wie Nichtgriechen, darunter auch die Herrscher des Lyderreiches.208 Der ägyptische König Amasis stiftete mehreren Heiligtümern in Griechenland Weihgeschenke, der Athene auf Lindos und dem Hera-Tempel auf Samos.209 Die von Herodot erzählten Mythen sind ebenfalls nicht an eine einzige Landschaft gebunden; der Raub der Io und der Europa sind Geschichten mit Schauplätzen in Griechenland, Kreta und Phoinikien;210 Paris wurde – wie Herodot meint – mit der geraubten Helena von Sparta durch widrige Winde zuerst nach Ägypten verschlagen und kehrte von dort über Sidon nach Troia zurück, während Helena im Nilland zurückblieb.211 Einzelne Taten des Herakles werden genau lokalisiert: Es wird erzählt, dass er die Rinder des Geryones, der auf einer Insel bei Gadeira herrschte, wegtrieb, sich im Land der Skythen aufhielt und auf Sizilien das Land am Eryx erwarb; in der Bucht von Magnesia soll er von den Argonauten zurückgelassen worden sein und schließlich in der Nähe des Spercheios den Tod gefunden haben.212 Es ist signifikant, dass der westlichste Punkt des Mittelmeeres, die Meerenge zwischen der Iberischen Halbinsel und Afrika, untrennbar mit dem Namen des Herakles verbunden ist, denn die Gebirge an der Meerenge wurden als die Säulen des Herakles bezeichnet, die das von den Griechen befahrene Meer von dem äußeren Meer trennen.213 Als Herodot Nachforschungen über Herkunft und 207 Hilfegesuch der Ioner: Hdt. 5, 38,2. 5, 49–51. 5, 55. Gelon: Hdt. 7, 145. 7, 153. 7, 157–162. 208 Zur Befragung des Orakels vgl. Anm. 112 und ferner Hdt. 1, 53 (Kroisos). Weihgeschenke des

Gyges: Hdt. 1, 14. Alyattes: Hdt. 1, 25. Kroisos: Hdt. 1, 51. Rhodopis aus Ägypten: Hdt. 2, 135, 3–4. Euelthon aus Zypern: Hdt. 4, 162, 3. Der Eindruck weitreichender, den gesamten Mittelmeerraum umspannender Beziehungen von Städten, Heiligtümer und Königen wird klar unterstützt von Pausanias, der zahlreiche Weihgeschenke aufführt; zu Massalia vgl. Paus. 10, 8, 7. Das Schatzhaus der Massalioten wurde etwa 530 v. Chr. errichtet. Vgl. F. Eckstein, in: Pausanias, Reisen in Griechenland, Band III, Darmstadt 1989, S. 359 Anm. 39. Kroisos: Paus. 10, 8, 7. Korkyra: Paus. 10, 9, 3–4. 209 Hdt. 2, 182. 210 Hdt. 1, 1–2. 211 Hdt. 2, 113–120. 212 Geryones: Hdt. 4, 8, 2. Herakles im Skythenland: Hdt. 4, 8–10. 4, 82. Sizilien: Hdt. 5, 43. Herakles und die Argonauten: Hdt. 7, 193. Tod des Herakles: Hdt. 7, 198, 2. 213 Hdt. 1, 202, 4. 2, 33, 3. 4, 8, 2. 4, 42, 4. 4, 43, 3. 4, 152, 2. 4, 181, 1. 4, 185, 1. 4, 196, 1. 8, 132, 3.

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Alter des Herakleskultes anstellte, ging er nach Tyros, wo ein Tempel des Herakles existierte. In seiner Beschreibung des Tempels erwähnt Herodot, dass zwei Säulen darin standen, „die eine aus reinem Gold, die andere aus Smaragd, der in den Nächten herrlich leuchtete.“214 Der äußerste Westen war auf diese Weise mit dem äußersten Osten des Mittelmeeres durch den Namen des Herakles verbunden, und die Säulen, die in einem Tempel einer Stadt der Levante standen, wurden zum Namensgeber der Meerenge im Westen. Solche Beziehungen waren aber nur möglich, weil die Griechen das Mittelmeer als ein Meer auffassten, das Meer, das sie mit ihren Schiffen befuhren. An der Einheit des Mittelmeeres und des Mittelmeerraumes bestand spätestens in dem Werk Herodots, das die Welt des 6. Jh. v. Chr. beschreibt, keinerlei Zweifel.

214 Hdt. 2, 44, 2.

Rainer E. Zimmermann Mesógios – Zur Struktur der Polis-Netzwerke Dem Andenken an Nicole Loraux (1943–2003) gewidmet. „There may be cultural, ethnic or linguistic frontiers; but there are no natural ones.“ Peregrine Horden, Nicholas Purcell: The Corrupting Sea1

1. Einleitung Im Rahmen des Projektes „Sprache & Raum“2 geht es im vorliegenden Text primär um die Darlegung einer unmittelbaren, strukturellen Korrespondenz (im Grunde: einer strukturellen Isomorphie) zwischen der Topologie des Sozialraums auf der einen Seite und der Topologie der Kommunikationsnetzwerke auf der anderen, welche als dynamisches Gerüst (oder präziser „Kreislaufsystem“) diesen Sozialraum recht eigentlich aufspannen. Dieser Vermittlungszusammenhang, der vor allem der dem Projekt unterliegenden, motivierenden Argumentation dient, dass es nämlich die Sprache (im Rahmen des kommunikativen Diskurses) sei, welche jene erste topologische Struktur vor allem prägt, während umgekehrt sie selbst zugleich von der letzteren geprägt werde, wirft tiefgehende ontologische und epistemologische Fragen ebenso auf wie auch Fragen, die mit der Begründung von Systemen (im Sinne der neueren Theorien emergenter, komplexer Systeme) zu tun haben. Diese Fragen sind an anderen Orten besprochen worden und sollen daher nicht Gegenstand des Vorliegenden sein.3 Wir wollen 1 Peregrine Horden, Nicolas Purcell: The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History.

Blackwell, Malden (MA), Oxford, Carlton, 2000. Hier: 24.

2 Rainer E. Zimmermann, Panagiota Kasapidou: Vom Rebetiko zum Entechno Laiko. Bemer-

kungen zum griechischen Sozialraum mit einem Anhang ausgewählter Liedertexte. Shaker, Aachen, 2010. Rainer E. Zimmermann: Η ΝΕΑ ΠΟΛΥ. Neue Stadtbegriffe auf dem Weg in die Heimat. LIT, Münster, 2014. Den Programmentwurf dazu sehe man in: Nadine Giese, Gerd Koch, Silvia Mazzini (eds.), SozialRaumInszenierung. Schibri, Berlin etc., 2012, 269–286. 3 Man sehe vor allem Rainer E. Zimmermann: System des transzendentalen Materialismus. Mentis, Paderborn, 2004. Zu den Sichtweisen der neueren Systemtheorie sehe man auch die

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uns stattdessen hier eher mit spezielleren Stabilitätsfragen von kommunikativen Netzwerken befassen. Es fällt aber heutzutage nicht leicht, angesichts der politischen Gegebenheiten im südlichen Europa, hierin eine Systemstruktur festzustellen, die im Vorliegenden in Frage steht, weil die kognitiven Konventionen der herrschenden Herangehensweise dem allemal entgegenwirken. Aber in der Musik kann man sie noch am besten lokalisieren, wenn man genau hinschaut bzw. hinhört: Bei dieser Struktur handelt es sich nämlich wesentlich um das makroregionale kulturelle System4 mit seinen definiten Orten und seinem Weltgerüst bzw. Weltbezugsrahmen (la trâme du monde) im Sinne von Horden und Purcell. Nehmen wir als Beispiel das Lied „Mesógios“ (Mittelmeer), anlässlich eines Konzertes in Paris im Jahr 1996 vorgetragen von George Moustaki und Giorgos Dalaras.5 Dieses Beispiel zeigt den charakteristischen Zusammenhang, der hier besprochen werden soll, wenn auch im ganz kleinen Maßstab: Das von George Moustaki komponierte Lied (zuerst mit einem französischen Text unter dem Titel „Mediterranée“ vorgetragen) wurde ursprünglich für Melina Mercouri geschrieben, die 1967 ins Exil nach Paris ging. Obwohl in der Hauptsache zwischen Paris und Athen kommuniziert, greift somit das Thema des Liedes auf den gesamten Mittelmeerraum aus, der nicht nur durch die antike, sondern auch durch die moderne Geschichte definiert wird. In der gegenwärtig vorgetragenen Liedfassung entfällt die letzte Strophe, weil sich die Situation zwischenzeitlich verändert hat. (S. 128, Anhang 1) Abgesehen davon, dass diese Art der „makroregionalen“ Kommunikation nicht nur in der Musik weitverbreitet ist, dort allerdings wesentlich augenfälliger als zum Beispiel in der literarischen Rezeption, erhebt sich sogleich die Frage nach der Grundstruktur, die geeignet ist, Linien der konkreten Kommunikation im Mittelmeerraum überhaupt zu bestimmen. Bevor aber eine solche Grundstruktur zureichend offengelegt werden kann, bedarf es zunächst der Klärung einiger Hauptbegriffe, welche den in Frage stehenden Sozialraum charakterisieren und dabei mit dem Polis-Begriff eng verbunden sind. Diesen letzteren werden wir deshalb im Abschnitt 2 genauer betrachten. Im Abschnitt 3 werden wir Aspekte einer formalen Harmonik näher beleuchten, welche geeignet sind, Stabilitätskriterien für die Interaktion zwischen der Topologie des Sozialraumes und der Topologie der Kommunikation zu bestimmen. Wir werden dann im Abschnitt 4 einige Eigenschaften von Netzwerken untersuchen und diese im Zusammenhang aktuellen Webseiten der emcsr-Kongresse.

4 Im Unterschied zu Horden und Purcell bevorzugen wir hier den Ausdruck „makroregio-

nal“, weil die Zusammenhänge der kommunizierenden Regionen, die hier in Frage stehen, zumeist über sehr große geographische Entfernungen hinweg wirken. Bei Horden und Purcell ist dagegen in der Regel „makro“ durch „mikro“ ersetzt. 5 Video unter http://www.youtube.com/watch?v=gcadjlC-peQ.

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mit den übrigen Ausführungen diskutieren. Im Abschnitt 5 schließlich werden wir auf einige Anwendungsmöglichkeiten des Geschilderten eingehen. Zwei kurze Textanhänge vervollständigen das Vorliegende und ermöglichen den Lesern eine eigene, weitergehende Interpretation makroregionaler Aspekte.

2. Der Polis-Begriff Im Grunde handelt es sich bei der griechischen Kolonisierung des Mittelmeerraums (ungefähr ab 750 v. Chr.) um die Errichtung eines Netzwerkes, das in der Hauptsache aus Poleis besteht.6 Was ist eine Polis genau? Wir können dazu eine erste Definition angeben. Eine Polis erfüllt die folgenden vier Bedingungen: 1. Es gibt einen Mindestgrad an Urbanisierung. 2. Es gibt eine Marktwirtschaft, die auf Handel basiert. 3. Es gibt eine politische Entscheidungsfindung durch Mehrheitsbeschluss nach einer Debatte in einer Versammlung. 4. Es gibt eine Interaktion zwischen Stadtstaaten in einem Netzwerk. In diesem Sinne besteht eine Polis aus einem Kern, dem Stadtgebiet, und seinem Hinterland (chóra), das primär der Versorgung des Stadtgebietes dient. Diese ist mit einem Hafen verbunden (limén), in dem sich ein Großmarkt befindet (empórion), auf welchem die eingehenden Waren gebührenpflichtig entgegengenommen, angekauft und verteilt werden. Das Gegenstück des Großmarktes ist dann der Stadtmarkt im engeren Sinne (agorá), auf dem die Waren an die einzelnen Konsumenten gelangen. Das wesentliche Organisationsprinzip der Polis beruht auf der Unabhängigkeit und Selbstversorgung (autárkeia) und begründet auf diese Weise die Gemeinschaft der Bürger (koinonía). Kennzeichen der Gemeinschaft ist die gemeinsame Sprache (koiné), die Ausübung gemeinsamer, heiliger Kulte an heiligen Orten, die Verfolgung gemeinsamer Sitten und die Beachtung gemeinsamer Traditionen. Dabei gibt es auch überregionale Institutionen, wie das Orakel von Delphi (dessen Ursprung wahrscheinlich bis in die mykenische Epoche zurückreicht) oder die Olympischen Spiele (vermutlich seit 776 6 Man sollte in diesem Zusammenhang beachten, dass das Wort “colonia” dem Lateinischen

entstammt und sich von “colere” ableitet (anpflanzen, kultivieren [Cicero]). Insofern bedeutet es nichts anderes als das, was die Griechen “apoikía” nannten, was seinerseits “Teilung, Ab-teilung” bedeutete. Mit anderen Worten, hat die Bezeichnung “Kolonie” in diesem Sinne nichts mit dem Begriff des “Herrschens über ein Territorium” zu tun, wie er im Zuge des imperialistischen 19. Jh. eingebürgert worden ist. Nicht nur die griechische, auch die römische Version deutet primär stets auf eine urbane Siedlung, nicht auf ein Territorium. Mithin behalten wir den Begriff der “Kolonie” hier bei.

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v. Chr.). Die innere Dynamik der Gemeinschaft kann, einem Vergleich von Richard Sennett folgend, als eine begriffen werden, die sich im Spannungsfeld zwischen den beiden Polen der agorá und des theátron abspielt, wobei das erstere als ein Bereich zur Einübung in die Vielfalt verstanden werden kann und das letztere als ein Bereich zur Einübung in die (thematische) Konzentration der Einheit.7 Wie Nicole Loraux in ihren Arbeiten gezeigt hat,8 wird in diesem Zusammenhang die räumliche Syntax in die politische Semantik übersetzt. In diesem Sinne gibt es konkrete Gebäude, die sich als materieller Ausdruck der Institution verstehen, die sie beherbergen, so dass der Diskurs des öffentlichen Raumes formal durch die Anlage von Mauern, Straßen, Türmen, Tempeln, Verwaltungsgebäuden und Sportplätzen umgrenzt (berandet) wird und dabei auf die Institutionen der ekklesía (Vollversammlung), boulé (Geschäftsführender Ausschuss, Senat/Magistrat), gerousía (Ältestenversammlung), dikastería, archai (die jeweiligen Beamtenorganisationen) explizit Bezug nimmt. Im Grunde sind die, oftmals durch tradierte Rituale wie aufgefüllten, Gebäude Synekdochen der Gemeinschaft. So stellen Akropolis, Bouleuterion, Agorá und Nekropolis invariante Orte des Diskurses dar, an denen auf besondere Weise strukturierte Diskurshandlungen ausgeführt werden, so wie im Speisesaal des Prytaneions die regelmäßigen Essen des Magistrats stattfinden oder die Kulthandlungen im Sanktuarium des Dionysos und die Theateraufführungen in der Umgebung. Der Diskurs des öffentlichen Raumes schließt nahtlos an den Diskurs des privaten Raumes an. Der Fraktalität der Stadtgliederung entspricht dabei die Fraktalität der inneren Organisation des Haushalts: Polis, Komé (Dorf) und Haushalt (oikos) umgreifen auf diese Weise einen hodologischen Raum auf verschiedenen Organisationsebenen. Im Kleinen spiegeln sich diese Ebenen in der Hierarchie der fiktiven Familienstrukturen (demoi, komai, phylai, phratrai, gene) wider und stimmen ihrerseits in der Art einer strukturellen Isomorphie mit der Genealogie überein. Die Makroebenen der Stadtorganisation sind somit in den Mikroebenen verankert: Das Ganze differenziert sich in seine Teile aus (top-down), zugleich bestimmen die Teile das Ganze (bottom-up). Wenn die erlebte Biographie in einer solchen Stadtorganisation bedeutet, die Organisationshierarchien zu verinnerlichen, dann bedeutet das ganz konkret, dass die Organisation einer Logik folgt, die sich im kommunikativen Diskurs abzubilden geeignet ist. Anders gesagt: Zwar folgt die Organisation des urbanen Raumes einer eigenen Logik, aber zugleich bestimmt diese auch die Logik der Reflexion und der Sprache, die von 7 Richard Sennett: The Spaces of Democracy. In: Robert A. Beauregard, Sophie Body-

Gendrot (eds.), The Urban Moment. Sage, Thousand Oaks, London, New Delhi, 1999, 273–285. 8 Nicole Loraux: The Invention of Athens. The Funeral Oration in the Classical City. Zone Books, New York, 2006. (Payot & Rivages, Paris, 1981). Ebenso Nicole Loraux: The Divided City. On Memory and Forgetting in Ancient Athens. Zone Books, New York, 2006 (2001). (Payot & Rivages, Paris, 1997)

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den Bewohnern dieses Raumes ausgeübt werden. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Logik die Qualität der Orte (Topoi) bestimmt, welche die Charakteristik einer Stadt wesentlich bestimmen. Historisch gesehen, sind diese Topoi immer auch Chronotopoi (im Sinne Bachtins), aber für den einzelnen Anwohner haben sie eher persönliche Bezüge und manifestieren sich vor allem als Heterotopien (Foucault) oder Topophilia (Yuan). Es gibt zudem Logoi als übergeordnete Erkennungszeichen der Stadt (etwa die Akropolis für Athen), die oftmals aus früheren historischen Epochen stammen, welche der Stadt im engeren Sinne vorausgehen: Ein Athener, der – ganz gleich, an welcher Stelle in der Stadt er sich gerade befand – jederzeit zur Akropolis aufblicken konnte, die von der Sonne angestrahlt, hell beleuchtet über der Stadt aufragte, fühlte sich auf ganz körperliche und explizite Weise mit dem Schicksal Athens verbunden und konnte sich selbst als Repräsentant attischer Kultur empfinden. Innerhalb der politischen Organisation der Gemeinschaft ist im Grunde hierbei der Areopag die für die Ritualisierung der Umgangsformen bzw. der Gestaltungsformen der Stadt zuständige Institution. Freilich gilt das vor allem für die Struktur der klassischen Epoche, die nicht vollständig repräsentativ ist für die gesamte Stadtgeschichte. Gleichwohl haben sich die Hauptaspekte dieser Struktur noch bis in die Spätantike hinein erhalten, auch, wenn sie im Laufe der Jahrhunderte und im Rahmen des römischen Imperiums andere Konnotationen gewonnen haben. Es ist bis heute nicht eindeutig geklärt, inwieweit die Gestaltungsideen für Wohnquartiere, eingeführt durch Hippodamos von Milet, die Entwicklung griechischer und römischer Stadtplanung tatsächlich beeinflusst haben, weil sie wohl nicht vor 450 v. Chr. praktisch umgesetzt wurden. Allerdings mag sich die reguläre geometrische Form auch unter anderen Gesichtspunkten bereits früher angeboten haben. Offensichtlich ist in diesem Zusammenhang die Wechselwirkung zwischen ökonomischer Sparsamkeit und ästhetischer Harmonisierung durch Symmetrien. Die Isomorphie mit der römischen Systematik der militärischen Ansiedlung ist augenfällig. Es spielen aber eher ökonomische (bzw. raum-logische) Kriterien eine Rolle als kultische (wegen der Orientierung an den Himmelsrichtungen). In dieser Gestalt ist die Grundstruktur der Geometrie bis in die moderne Stadt der italienischen Renaissance (wenigstens bis zur Gründung der Commune di Bologna im Jahr 1115) erhalten geblieben.

3. Formale Harmonik Man kann jetzt in zwei Bewegungen die Bausteine für eine Polis in eine formale Harmonik einführen, die den Diskurs mit der Sozialraum-Struktur verbindet. Es ist vor allem die Institution der freien Rede (parresía), welche ein genau-

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es Abbild des internen Spannungsfeldes darstellt, nämlich nach innen wie nach außen als instabiles, dynamisches (also in Bewegung und Veränderung befindliches) Gleichgewicht zwischen stásis und pólemos (Massimo Cacciari), das erstere den inneren Kampf bezeichnend zwischen den verschiedenen Standpunkten im politischen Diskurs, das letztere den äußeren Kampf bezeichnend in der Auseinandersetzung mit den Konkurrenten, seien sie andere Poleis oder fremde Kulturen, wie etwa die persische. (Wobei das Wort „fremd“ hier nur als Relativum zu verstehen ist, weil die griechische Mythologie selbst den gesamten östlichen Mittelmeer-Raum als einheitlichen Kulturraum versteht, so dass alle Konkurrenten im Grunde Familienmitglieder sind, die nur unterschiedliche Auffassungen vertreten.) Die Innen- und Außendifferenzierung der Interessen und Motive geht also mit einer klar gegliederten Transparenz einher. Von den Mythen der Nostoi bis hin zu der modernen, alltäglichen Frage, welche Grenzsteine (horoi) die Stadt kennzeichnen und welche Stoen errichtet werden, zieht sich eine thematische Hauptlinie: Es geht darum, Räume zu schaffen, die Menschen dazu bringen, einander wahrzunehmen, so zwar, dass die Komplexität der urbanen Erfahrung einen stabilen Widerstand bietet gegen die Ansprüche der Herrschaft einzelner. Insofern kann man zu Recht von formaler Harmonik sprechen. Zugleich aber drückt der urbane Raum (ganz materiell) die Vernunft aus, welche den damit gesetzten Ansprüchen genügt: Diese unterliegende Vernunft (hypokeímenon) ist das Subjekt der Gemeinschaft. Das Ideal von Synoikismos (Zusammenwohnen) und Sympoliteia (Zusammenleben) kann nur dann verwirklicht werden, wenn es gelingt, die Einheit in der Einheit und den Gegensätzen zu erhalten. (Schelling hätte dies einen dialektischen Vermittlungszusammenhang genannt.) Diese Erhaltung ist aber recht eigentlich eine metastabile Dynamik, wie es durch das bei Heraklit gegebene Beispiel vom kykeôn illustriert wird: Nur das ständige Umrühren erhält die Mischung des Getränks. Andernfalls zerfällt die Mischung in ihre einzelnen Bestandteile, die einander unversöhnlich gegenüberstehen. Das Rühren besorgt der Nomos, der auf nichts anderes sich stützt als auf den Logos. Auch das kann eine formale Harmonik genannt werden. Im Theater wird diese Harmonik allumfassend zum Ausdruck gebracht: Offensichtlich ist das Theater durch einen rhetorischen Gegensatz zur Agorá bestimmt, ist aber mit ihr zugleich auf das Engste vermittelt: Menschen sitzen still und lauschen einzelnen Stimmen. (Auf dem Marktplatz sitzen sie keineswegs still und sprechen selbst viel – lauschen aber auch und nehmen Vieles auf, während sie im Theater einzelnes Wesentliches aufnehmen. Im Grunde gilt das auch dann, wenn im Theater keine Aufführungen stattfinden, sondern Versammlungen der Ekklesía, die dann eigene Entscheidungen zu treffen hat.) Der wichtige Punkt ist dabei die Rolle des Imaginären, dokumentiert durch die zentrale Erfindung des griechischen Theaters: der Trennung von Bühne (als dem Raum der aktiven Performanz) und den Zuschauer-Rängen (als dem Raum der passiven Performanz). Die räumliche Syntax wird dabei im Detail gebrochen: Sie bestimmt die Frakta-

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lität des Raums in der Gliederung von orkhéstra und skēnē. Der Raum spricht sich selbst. (Peter Brook) In der Pnyx (als dem politischen Theater) wird diese Systematik gleichfalls widergespiegelt: Man kann sehen und hören, wer applaudiert oder wer verhöhnt, wie abgestimmt wird. Die dominanten Orte (Topoi) der Stadt sind mithin Orte der Selbstdarstellung: Agorá, Gymnasion, Pnyx, Theátron, aber auch die Akrópolis. Über welche Größenordnungen (guesstimates) sprechen wir hier? Vermutlich gab es in der Antike (nur auf die griechischen Poleis bezogen) 232 belegte ummauerte Städte, 636 erschlossene Gebiete (Territorien) für insgesamt ca. 1000 poleis mit ca. 7.5 Millionen Bewohnern. Das macht durchschnittlich eine Gesamtzahl von rund 27.000 Einwohnern, von denen rund 9000 urban lebten. Es gab dabei rund 7.500 erwachsene (freie) Männer, die in der Ekklesía stimmberechtigt waren. Hinzu kamen noch die Metoikoi (die residenten Fremden) und die Xenoi (die reisenden Fremden). Wenn die Einwohnerzahl eine bestimmte Grenze überstieg, wanderte ein Teil aus und gründete Kolonien. Mit anderen Worten: Die Kolonisierung verstand sich primär als Regulativ der Bevölkerungsdichte und mithin der Versorgungsqualität. Offenbar entstand diese Tätigkeit durch eine überlappende Vermittlung, die, vor allem von den Phoeniziern betrieben, sich alsbald auf Griechen und Römer übertrug, speziell in der griechischen Variante vermutlich zwischen 750 v. Chr. und 550 n. Chr. Der wesentliche Aspekt dabei ist der Umstand, dass vom Grundsatz her das Meer das Land gestaltet und nicht umgekehrt (Es gibt eine mediative Priorität der See) – und es ist dieser Umstand, welcher an der Wurzel der kolonialen Netzwerkstruktur liegt, die eine neuerliche Isomorphie zur genealogischen Struktur und zur Polis-Struktur insgesamt bietet.

4. Netzwerke Beginnen wir mit der Definition der Netzwerke und einigen technischen Vorbemerkungen: Definition: Netzwerk Ein Netzwerk ist eine Menge von Knotenpunkten (vertices) und Verbindungen zwischen ihnen (edges). Die ersteren beschreiben die Operatoren (Agenten), die letzteren die Operationen (Interaktionen) zwischen den Agenten. Als Beispiel können wir wählen: Knotenpunkte = Poleis, Emporia, etc.; Verbindungen = Reisewege zwischen den Knotenpunkten (Transport von Menschen, Rohstoffen, Gütern aller Art, Wissen, kulturellen Eigenarten).

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Technische Vorbemerkungen Konkrete (das heißt: empirisch vorfindliche) Netzwerke können durch mathematische Graphen abgebildet werden. Ein Graph ist einer mathematischen Kategorie isomorph (die im Unterschied zur Menge aus Objekten und Morphismen besteht). Ein Graph ist auch einem zellulären Automaten isomorph. Konsequenz: Das Netzwerk wird ein universelles Instrument der Formalisierung und gewinnt somit heuristischen Wert. Wesentlich ist hierbei die relationale Komplexität der Netzwerke: Das heißt, ein Hauptkriterium für die qualitative Beschaffenheit des Netzwerkes ist seine Konnektivität. Zwei Matrizen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: die Nachbarschafts-Matrix (adjacency matrix) als eine Kenngröße des Netzwerkes, die bestimmt, wieviele Knotenpunkte über genau einen Schritt auf dem Pfad zwischen ihnen miteinander verbunden sind, in diesem Sinne also benachbart. Zum anderen ist auch die Entfernungs-Matrix (distance matrix) hilfreich, welche die Frage beantwortet: Wieviele Schritte beträgt die Distanz zwischen zwei Knotenpunkten bzw. wieviele Pfade der Länge 𝑛 gibt es zwischen allen Agenten? Derartige Untersuchungen erweisen sich nützlich, wenn man Kriterien für die Stabilität und Robustheit der Netzwerke betrachten will. Vor allem im Hinblick auf charakteristische Probleme der Perkolation finden diese Aspekte ihre Anwendung. Mithin bestimmt im wesentlichen eine kombinatorische Metrik über die Morphologie des dynamischen Interaktionsnetzes in Systemen. Besonders optimale Verbindungen zwischen Knotenpunkten definieren geodätische Pfade. Offensichtlich korrespondieren die topologischen und geometrischen Eigenschaften der insbesondere sozialen Netzwerke, zum Beispiel ihre Dezentralisierung, mit wichtigen Eigenschaften der Kommunikation, zum Beispiel mit Blick auf die Machtverteilung unter den Knoten. Explizit eng miteinander verbundene Gruppenbereiche (Cliquen) erhöhen die Stabilität von Netzwerken ebenso, wie Abkürzungen in der Pfadstruktur. Man nennt solche speziellen Welten Kleine Welten. Für diese gibt es einen eigenen theoretischen Ansatz. Ein Knotenpunkt (vertex) gehört einer Clique der Größe 𝑛 an, wenn er 𝑛–𝑘 direkte Verbindungen zu der Clique unterhält. Die maximale Gruppe von Agenten, die alle mit 𝑘 anderen Mitgliedern der Gruppe verbunden sind, heißt 𝑘 -Kern der Gruppe. Zwei Knotenpunkte sind (automorph) äquivalent, wenn sie austauschbar sind. (Agententausch beeinflusst nicht die Distanzen zwischen den anderen Agenten im Netzwerk.) Die Evolution von Netzwerken bestimmt sich bei kleinen Welten vor allem durch die Potenzgesetz-Form für die Evolution des Grades eines Netzwerkes. (Grad = Anzahl der Verbindungen, über die ein Knoten zu anderen Knoten verfügt. (in-degree vs. out-degree)) Dagegen ist die zufällige Gradverteilung binomial verteilt:

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Abb. 1: Kleine-Welt-Spielmodell mit drei shortcuts (5–11, 13–17, 15–18).

𝑃(𝑘) = (

𝑛−1 𝑘 ) 𝑝 (1 − 𝑝)𝑛−1−𝑘 𝑘

Die im Grunde triviale Voraussetzung, dass nämlich die Hinzufügung von Verbindungen im Netzwerk häufiger geschieht als der Abbruch von Verbindungen, wird in der Hauptsache durch skalenfreie Verteilungen geleistet, welche die bereits erwähnte Potenzform haben: 𝑃(𝑘) ∼ 𝑘 −𝛾

Als Spielmodell nehmen wir eine kleine Welt mit gerade 20 Knotenpunkten (Abb. 1). Wir können hierbei deutlich die vorhandenen Abkürzungen (shortcuts) erkennen. Die Nachbarschafts-Matrix hat die in Tab. 1 gegebene Form. Benachbarte Knoten sind hier durch die Entfernung 1 gekennzeichnet. Alle anderen sind auf Null

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Tab. 1: Die Nachbarschafts-Matrix zum Beispiel in Abb. 1.

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gesetzt, wobei wir hier nur jene Nullen zeigen, welche die Hauptdiagonale besetzen (also die Entfernung des Knotens zu sich selbst angebend). Die freigelassenen Elemente der Matrix müssten gleichfalls Nullen sein. Bei 20 Knotenpunkten gibt es maximal 400 Elemente der Matrix. Die Entfernungs-Matrix ergibt sich dagegen in der in Tab. 2 dargestellten Form. Wir können hier deutlich sehen, dass jeder Punkt von jedem anderen aus über maximal vier Schritte erreicht werden kann, wobei die Abkürzungen natürlich kräftig mithelfen. (Man kann zeigen, dass man, bezogen auf die gesamte Bevölkerung des Planeten Erde, nicht mehr als sechs Schritte benötigt, um alle lebenden Menschen miteinander zu verbinden.) In der Regel sind die konkreten Netzwerke, mit denen man zu tun hat, allerdings wesentlich komplexer, wie am nächsten Beispiel zu sehen. Dank der Computer-Technik können aber auch solche Rechenprobleme leicht bewältigt werden. Für die uns im Vorliegenden interessierenden Fälle sind die Knotenpunkte die griechischen Kolonien im Mittelmeer-Raum. Die Verbindungen zwischen ihnen sind die Transportwege zur See, die bis zu einem bestimmten Grad von der Tradition abhängen, die bereits die Phönizier zur Verfügung gestellt haben. Der wesentliche Punkt hierbei ist, dass jede Metropolis hinsichtlich der von ihr begründeten Kolonien bzw. der von diesen anschließend begründeten Kolonien, ein eigenes Netzwerk definiert, weil die Kolonien zwar autark und autonom sind, gleichwohl aber kulturelle und zum Teil auch politische Bindungen vor allem mit der Metropolis unterhalten. Mit anderen Worten: Das Netzwerk der griechischen Poleis ist ein Netzwerk, das selbst aus Netzwerken besteht. Oder anders gesagt: Die Welt der griechischen Mittelmeer-Kolonien ist eine kleine Welt, die aus kleinen Welten besteht. Das hat unmittelbar zur Folge, dass trotz der mitunter enormen Entfernungen die Stabilität der Netzwerke über einen langen Zeitraum hinweg stabil geblieben ist. Es stellt sich hier natürlich sogleich die Frage, was im einzelnen zur Instabilität dieses Netzwerkes der Netzwerke beigetragen hat, als eine Netzwerk-Organisation der Poleis zugunsten eines Territorialstaates aufgegeben wurde. Es liegt nahe zu vermuten, dass dies damit zusammenhängt, dass die Teilnehmer am Netzwerk in der Konfrontation mit dem persischen Territorialreich gezwungen waren, selbst Eigenschaften des Territorialreichs anzunehmen, die mit dem Netzwerksystem inkompatibel waren. Doch die Klärung dieser Frage wird erst das Ergebnis weiterer Untersuchungen sein. Andererseits wird jetzt aber deutlich, auf welche Weise die verzweigte Organisation griechischer Stadtstaaten ihre Überlegenheit fördern konnte. Tatsächlich geschieht die Ausbreitung in der Hauptsache durch Verzweigung. (Beiläufig gesagt, hat auf eben diese Weise auch der Apostel Paulus das Netzwerk seiner frühchristlichen Gemeinden begründet.) Die mediative Rolle des Meeres steht dabei im Mittelpunkt: Zwar gibt es einen Rahmen, der den Mittelmeer-Raum (das Schwarze Meer inbegriffen) einigermaßen begrenzt, die verschiedenen über-

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3 3 2 1 0 1 2 3 4 4 3 2 3 2 1 2 3 3 3 4 3

4 4 3 2 1 0 1 2 3 3 2 1 2 2 1 1 2 3 2 3 2

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8 4 4 4 4 3 3 2 1 0 1 2 3 3 4 2 3 2 1 1 2

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Tab. 2: Die Entfernungs-Matrix zum Beispiel in Abb. 1.

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lieferten periploi, aber der präzise Verlauf der sich verzweigenden Besiedlungen liegt nicht von vornherein fest. Der ganze Prozess der Besiedlung beginnt keineswegs mit Athen und Sparta, den klassischen Hauptkontrahenten, sondern mit Chalkis und Eretria, die zuerst Pithekoussai (770 v. Chr.) auf der Insel Ischia und dann Kyme (757 v. Chr.) in Apulien besiedeln. Von Chalkis aus werden in der Folge Naxos, Zankle (Sizilien) und Rhegion (Kalabrien) besiedelt. Eretria unterhält unter anderem den Handelsstützpunkt Al Mina (empórion) (800 v. Chr.). Dagegen kann Korinth den Vorteil nutzen, dass es über zwei Häfen verfügt. Von dort aus geht die Besiedlung zunächst über Ithaca (810 v. Chr.) nach Illyrien und sodann nach Syrakus, Kerkyra (Leukas/Anaktorium, Apollonia etc.). Ähnlich wichtige Besiedlungslinien gehen von Megara nach Byzantium, von Thera nach Cyrene und Milet. Zudem wurde der Pontus Euxinus über Messenien besiedelt (es handelte sich im wesentlichen um eine Gründung durch Flüchtlinge, die sich dem Einfluss Spartas entziehen wollten), später Zankle (494 v. Chr.) bzw. Messina, durch Sparta selbst auch noch Tarentum, und schließlich Phokaiaer (hierbei handelte es sich um Flüchtlinge vor den Persern), die ihrerseits Massalia und Alalia (auf Korsika) besiedelten. Besonders prominent ist das Beispiel Pithekoussai (775–750 v. Chr.), welches als Kolonie von Chalkis der Auseinandersetzung mit Eretria im Lelantischen Krieg vorausgeht und bei dem Athen erst vergleichsweise spät (506 v. Chr.) eingreifen wird. Die wesentlichen Tochterkolonien Kyme, Parthenope (erst 530 v. Chr. in Palaiopolis und Neapolis geteilt) werden über längere Zeit hinweg ein Gleichgewicht gegen die Etrusker (und Römer) halten, bis es bei den Phocaern auf Alalia (565 v. Chr.) zur ersten Konfrontation mit den Etruskern kommt. Daraufhin kommt es auch zu Kämpfen in Süditalien, in die sogar Karthago (535–480 v. Chr.) eingreift: Erst bei Kyme im Jahr 474 v. Chr. werden die Etrusker zurückgeschlagen. Einige Zeit später werden die Römer die endgültige Dominanz in Italien mit dem Sturm auf die etruskische Hochburg Veji (390 v. Chr.) gewinnen, was die Römer aber nicht daran hindern wird, ihre Kinder zum griechischen Sprachunterricht ins etruskische Cerveteri zu schicken, das 335 v. Chr. als civitas sine suffragio in die römische Republik aufgenommen wird. Der griechische Siedlungsraum umfasst zu jener Zeit bereits das gesamte Gebiet des Mittelmeerraums ebenso wie den Raum des Schwarzen Meers. In diesem Sinne geht es im Vorliegenden also vor allem um die Bestimmung der dynamischen Struktur eines Netzwerkes, das im wesentlichen den historischen Verlauf der Interaktionen zwischen seinen Knotenpunkten abzubilden imstande ist, dabei aber auf Grund seiner strukturellen Universalität Aufschluss geben kann über wichtige Aspekte von Konnektivität, Komplexität und Stabilität. Die Stabilität der auf diese Weise entstehenden Besiedlungs-Netzwerke (bzw. Polis-Netzwerke) lässt sich am besten durch neuere Arbeiten zur Netzwerktheo-

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rie präzisieren.9 Bei anderer Gelegenheit werden die Ergebnisse hierzu im Detail ausgeführt werden.10 Hier sei nur kurz auf ein wesentliches Detail hingewiesen, dass sich später noch als bedeutsam erweisen wird: Hierarchische Propagation von Selbstähnlichkeit in den verschiedenen Organisationsformen der mit polarer Spannung aufgeladenen Kleinen-Welt-Modelle verspricht optimal harmonische (Meta-) Stabilität. Darunter verstehen wir in der Hauptsache das Resilienzprinzip für Systeme, das diese dazu befähigt, so stabil wie möglich spontane Veränderungen in der Umwelt zu kompensieren. Dabei hängt die Stabilität letztlich vom Grad der ClusterBildung ab, das heißt von der Dichte der jeweiligen Clique. Trägt man insbesondere die charakteristische Pfadlänge 𝐿(𝑝) gegen den Cluster-Koeffizient 𝐶(𝑝) mit 𝑛 > 𝑘 ab, so erhält man: 𝐿 ≈ 𝑛/2𝑘 , 𝐶 ≈ 3⁄4 mit 𝑝 → 0 für den starken Fall (strong clustering) und sodann 𝐿 ≈ ln(𝑛)/ ln(𝑘), 𝐶 ≈ 𝑘/𝑛 < 1 mit 𝑝 → 1 für den schwachen Fall (weak clustering). Aber dazwischen, im Bereich 0 < 𝑝 < 1, gibt es Fälle der Abkürzung durch die spontane Hinzufügung langreichweitiger Netzwerkverbindungen, die bei niedrigem 𝐿 gleichwohl 𝐶 erheblich erhöhen. (Statt Knoten-zu-Knoten-Verbindung nunmehr Nachbarschaft-zu-NachbarschaftVerbindung) Auf diese kommt es am Ende an, und sie erweisen sich zudem als von großem Einfluss auf die Konstitution sozialer Gruppen.11

5. Vorläufige Schlussfolgerungen Jetzt kann man den Zusammenhang zu dem erkennen, was Horden und Purcell unter Makroregionalität 12 verstehen und was sie am Beispiel der vier definiten Orte (Süd-Ligurien – Cycladen – Bekaa – Cyrene) zu illustrieren unter9 Im allgemeinen lässt sich das an den Arbeiten von Ralf-Peter Märtin et al.: Jenseits des Ho-

rizonts. Raum und Wissen in den Kulturen der Alten Welt. TOPOI, Berlin, Staatl. Mus., Theiss, Stuttgart, 2012 darstellen und bereits auch in dem Katalog der berühmten Ausstellung in Venedig, Giovanni Pugliese Carratelli (ed.): The Western Greeks. Bompiani, 1996. (Palazzo Grassi, Venezia) Speziell zur Netzwerktheorie sehe man die Arbeiten von Watts und Strogatz, zum Beispiel: Collective Dynamics of Small-World Networks, Nature 393, 440–442, 1998. Neuerdings, wenn auch recht unspezifisch Irad Malkin: A Small Greek World, OUP, 2011. 10 Rainer E. Zimmermann, Simon M. Wiedemann: Die Stabilität von Siedlungsnetzwerken in den antiken Mittelmeer-Kulturen. In Vorbereitung. 11 Seit 1978 bereits wird, vornehmlich in der Anthropologie bzw. Ethnologie, der Einfluss der Gruppentheorie auf soziale Netzwerke untersucht. Man sehe zum Beispiel John Paul Boyd: The Universal Semi-Group of Relations, Social Networks, 2 (1979/80), 91–117. Ursprünglich ist diese Untersuchung von Lévi-Strauss her entwickelt worden, unter Beteiligung des Mathematikers André Weil (in: Les structures élémentaires de la parenté, amerikanische Ausgabe, Chicago, 1969, ch. 14). 12 Tatsächlich benutzen Horden und Purcell den Ausdruck „Mikroregionalität“, aber wie oben bereits erwähnt, bevorzugen wir stattdessen „Makroregionalität“, um den Distanzdimensionen im Mittelmeer-Raum Rechnung zu tragen.

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nehmen. Dazu zitieren sie Arnaldo Momigliano (1955): „When I want to understand Italian history, I catch a train and go to Ravenna. There, between the tomb of Theodoric and that of Dante, in the reassuring neighbourhood of the best manuscript of Aristophanes and in the less reassuring one of the best portrait of the Empress Theodora, I can begin to feel what Italian history has really been.”13 Und Horden und Purcell schließen daraus: „Regions like our four ‚definite places‘ are the Ravennas of Mediterranean history.” Mit anderen Worten: Darunter verstehen sie im Grunde makroregionale Knotenpunkte in einer Topologie der Kommunikation, die im Kern einer urbanen Logik unterliegt, welche die Mentalität nachhaltig prägt. Zu dieser Art von geprägten Mentalitäten gehört zum Beispiel jene der Athener, die bewirkt, „[…] dass man sich der vorgegebenen Wirklichkeit nicht einfach anheimgab; […]“, wie es Christian Meier im Zusammenhang mit der Schlacht bei Salamis formuliert hat.14 An dieser Stelle setzt das zuvor bezeichnete Projekt „Sprache & Raum“ ein, um den Zusammenhang zwischen dem Raumdesign (der expliziten Topologie) und der Diskursgestaltung (Kommunikation/Rhetorik) zu untersuchen. Wir gehen davon aus, dass es gerade die letztere ist, welche die „Mentalität“ (hier im Sinne der französischen Marc-Bloch-Schule benutzt) einer sozialen Gruppe recht eigentlich definiert. Ein Beispiel aus neuerer Zeit wäre die Organisation der Quartiersräte im Bologna der sechziger bis achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Mithilfe der „Topos-Theorie“ in der Mathematik kann der Untersuchungsgang auch durch Aspekte der formalen (d. h. mathematischen) Modellierung unterstützt werden, was vor allem daran liegt, dass die hier bereits erwähnte Netzwerk-Theorie der Topos-Theorie unter bestimmten Voraussetzungen isomorph ist. Im wesentlichen ist dabei ein Topos eine mathematische Kategorie plus eine (logische) zusätzliche Struktur. Eine solche Herangehensweise gestattet den Übergang von der formalen Logik zur formalen Hermeneutik bzw. von der Syntax zur Semantik. Das hier in Frage stehende Hauptergebnis geht auf Forschungen von Steven Vickers zurück und lautet: Ein Topos ist eine Lindenbaum-Tarski-Algebra für eine logische Theorie, deren Modelle die Punkte eines Raumes sind.15 Im hier besprochenen Projekt soll dieser mathematische Satz verallgemeinert werden, so zwar, dass er nunmehr lautet: Ein schwacher (Fuzzy-) Topos ist eine (schwache) Lindenbaum-Tarski-Algebra für eine (vorwissenschaftliche) Alltagstheorie, deren Modelle die Punkte des Sozialraums sind. (Eigene Konjektur, 2010) Im Rahmen dieses Ansatzes sind bereits Räume modelliert worden, deren Punkte (theo13 Arnaldo Momogliano: Ausgewählte Schriften, 3 Bde., Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Darmstadt, 2011, II, 37f.

14 Christian Meier: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Siedler, Berlin, 1993 (Pantheon,

2012), 40.

15 Steven Vickers: http://www.cs.bham.ac.uk/ sjv/papers.php passim. (Letzter Zugriff: März

2014)

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retische) Sätze sind.16 Wir gehen darauf aus, auch solche Räume zu modellieren, deren Punkte Sätze der Alltagssprache sind. Auf diese Weise kann man deutlich sehen, wie der sprachliche Diskurs die Struktur des Sozialraums bestimmt und umgekehrt, wie dessen topologische Gestalt auf den Diskurs zurückwirkt. Denn Räume, deren Punkte Sätze der Alltagssprache sind, erweisen sich als nichts anderes als Sozialräume, die vor allem auf den kommunikativen Diskurs gegründet sind. Was die Anwendungsmöglichkeiten dieses Ansatzes angeht, so ist angestrebt, im Rahmen eines „Europas der Regionen“ mit ihren Invarianten (Grundrechten, Institutionen, Sprachen) einen (politischen) Spielraum zu definieren, der imstande ist, einige jener Forderungen zu erfüllen, wie sie erst kürzlich von Claus Leggewie formuliert worden sind, mit Blick auf eine Zukunft der MittelmeerStaaten.17 Es geht dabei nicht um die verspätete Wiederbelebung eines PolisNetzwerks, aber zumindest um die Nutzung einer Kenntnis verallgemeinerter Vorbedingungen (sowie Stabilitätsbedingungen) für die Prinzipien, welche diese Netzwerke zuallererst ins Leben gerufen haben. Als Abschlussimpression in diesem Sinne sei schließlich in Anhang 2 (S. 130) ein weiteres Beispiel aus der Musik gegeben.18 Frage: Um welches makroregionales Kultursystem handelt es sich?

Anhang 1 Μεσόγειο τη λεν και παίζουνε γυμνά παιδιά με μαύρα μάτια αγάλματα πικρά γέννησε τους Θεούς, τον ίδιο το Χριστό το καλοκαίρι εκεί δεν τρέμει τον καιρό μεσ’ τη Μεσόγειο. Το αίμα τους αιώνες σκάλισε εκει τα βράχια και τους κάβους και τη βαθιά σιωπή νησιά σαν περιστέρια αιώνιες φυλακές το καλοκαίρι εκεί δεν τρέμει τις βροχές

Es heißt Mittelmeer, und nackte Kinder spielen [dort] mit den dunklen Augen bitterer Statuen. Es hat Götter hervorgebracht und sogar Christus selbst. Der Sommer dort fürchtet nicht das Wetter, [dort] im Mittelmeer. Blut hat die Jahrhunderte in die Felsen und Kaps gegraben, in die widerhallende Stille der taubengleichen Inseln, ewige Gefängnisse. Der Sommer dort fürchtet nicht den Regen,

16 Rainer E. Zimmermann, Simon M. Wiedemann: Kreativität und Form. Programm eines

Glasperlenspiels zum Experimentieren mit Wissen. Springer-Vieweg, Berlin, Heidelberg, 2012. 17 Claus Leggewie: Zukunft im Süden. Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben kann. Körber, Hamburg, 2012. 18 Video unter http://www.youtube.com/watch?v=skFwEZ1lKgY.

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μεσ’ τη Μεσόγειο.

[dort] im Mittelmeer.

Οι κάμποι κι οι ελιές χάνονται στη φωτιά

Die Ebenen und Olivenbäume sind im Feuer verschwunden. Leer sind die Hände wie die Körper. Völker in Verzweiflung und Bitternis des Todes. Der Sommer dort verliert nicht seine Flügel, [dort] im Mittelmeer.

τα χέρια μένουν μόνα κι άδεια τα κορμιά λαοί της συμφοράς και πίκρα του θανάτου το καλοκαίρι εκεί δε χάνει τα φτερά του μεσ’ τη Μεσόγειο. εδώ στη λίμνη αυτή γεννήθηκα κι εγώ μεσόγειος του φόβου και των πικρών καιρών τα όνειρα που ’παίζαν στα βαθιά νερά γινήκαν δέντρα μόνα στα ξερά νησιά μεσ’ τη Μεσόγειο Τον Παρθενώνα κρύβουν σύννεφα βαριά στην Ισπανία εχάθη η λέξη λευτεριά. Αλλ’ αν η Αθήνα μένει όνειρο πικρό το καλοκαίρι εκεί δεν τρέμει τον καιρό. Μεσ’ τη Μεσόγειο

Hier an diesem See wurde auch ich geboren, Mediterran durch die Angst und bittere Zeiten. Die Träume, die sich im tiefen Wasser abspielten, verwandelten sich in einsame Bäume auf wüsten Inseln, [dort] im Mittelmeer. Der Parthenon ist von schweren Wolken verdunkelt, in Spanien ist das Wort Freiheit verlorengegangen. ber obwohl Athen noch ein bitterer Traum ist, fürchtet der Sommer dort nicht das Wetter, [dort] im Mittelmeer. Le ciel est endeuilléé, Par-dessus l’Acropole Et liberté ne se dit plus En espagnol. On peut toujours rêver, D’Athènes et Barcelone. Il reste un bel été Qui ne craint pas l’automne, En Méditerranée. George Moustaki/Dimitris Christodoulou (Melina Mercouri) Übers. R. E. Zimmermann (2011)

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Anhang 2 Κι αν σε θέλω κι αν με θέλεις τίποτα δε βγαίνει στο μεσαίο το κατάρτι είμαστε δεμένοι

Obwohl ich dich will, obwohl du mich willst, ergibt sich nichts, wir sind am Hauptmast festgebunden.

Με τα χέρια στον αέρα μόνη σου χορεύεις

Mit deinen Armen in der Luft tanzt du allein, und du fesselst mich und entfesselst mich und führst mich ständig an. Auf trunkenen Füßen und ohne Schuhe

και με δένεις και με λύνεις κι όλο με μπερδεύεις με τα πόδια μεθυσμένα και χωρίς τις γόβες σ’ ένα έργο δίχως τέλος όλο κάνεις πρόβες Με τα χέρια σηκωμένα κάπου θες να φτάσεις μιαν αόρατη κορδέλα προσπαθείς να πιάσεις με τα μάτια σου κλεισμένα μέσα μου κοιτάζεις σαν ολάνοιχτο βιβλίο πάλι με διαβάζεις

probst du immer nur ein Spiel ohne Ende. Mit deinen erhobenen Händen greifst du irgendwohin, du streckst dich, um ein unsichtbares Band zu ergreifen. Mit deinen geschlossenen Augen blickst du gerade durch mich hindurch. Du liest mich wie ein offenes Buch. Amrani Abderrahmane/Mihalis Ghanas (Raschid Taha: Ya rayah - Chaabi) Übers. R. E. Zimmermann (2011)

Hubert Cancik Das Mittelmeer im lukanischen Geschichtswerk 1 Der Weg der Ekklesia an die Küsten 1.1 „Das Haus am Meer“ 1. Das innere, das Mittelmeer (mare internum) wird in dem zweibändigen Geschichtswerk des Lukas zum ersten Mal von einem Engel genannt. Er spricht in einer Vision zu Cornelius, dem Hundertführer der Italischen Kohorte in Caesarea:1 Lass den Petrus zu dir kommen; er ist in Jaffa bei Simon, dem Gerber; „dieser hat ein Haus am Meer“ – ᾧ ἐστιν οἰκία παρὰ θάλασσαν / hoi estin oikía pará thálassan. Petrus kommt, und er, der Erstberufene, bekehrt in Caesarea maritima Cornelius, den ersten Frommen und Gottesfürchtigen aus den Völkern.2 Die Inszenierung des Historikers lehrt: Die Ekklesia, die (Gesamt-)Kirche der Christianer,3 steigt vom Binnenland an die Küste hinab, sie kommt in die großen Hafenstädte, in die Metropolen der römischen Provinzen. Hiermit, mit den Kapiteln neun bis zehn des zweiten Teils seines Geschichtswerks, des „Zweiten Logos“, genannt „Apostelgeschichte“, beginnt Lukas ein neues Thema: die Bekehrung der nicht-jüdischen Völker. Nach den großen Erfolgen unter den Juden in dem eher ländlichen, dörflichen, hügeligen Binnenland von Galiläa, Samaria und Judäa drängt die immer wachsende Bewegung der Christianer jetzt an das innere Meer. Jetzt zum ersten Male kommt das Mittelmeer in die Bibel mit seinen Küsten, Schiffen, Häfen und Inseln. Lukas nennt Zypern, Kreta und Sizilien, Lesbos 1 Lukas, Apg. 10,6, wiederholt in 10,32. – Das „Galiläische Meer“ ist bei Lukas ein Binnensee,

λίμνη, nicht θάλασσα (Luk. Evg. 5, 1; 8, 22f.). – Für freundliche Hinweise danke ich Martin Leutzsch und Eckart Olshausen. 2 Der Erste, den Paulus bekehrt, ist ebenfalls ein Römer, sogar ein Proconsul, Sergius Paulus in Paphos (Apg. 13,7): Die soziale Richtung und die Romfreundlichkeit sind die politische Botschaft dieser Erzählung. Sergius wird bekehrt, eine Taufe ist nicht erwähnt. Der Status des Kämmerers der Kandake, den Philippus auf dem Wege nach Gaza bekehrt (Apg. 8, 26–40), ist unklar. Philippus missioniert ausschließlich von Asdod bis Caesarea, also die Küste nordwärts; das Stichwort θάλασσα aber spart sich Lukas auf bis Kap. 10. – Zur Romfreundlichkeit des Lukas vgl. Leutzsch, Weihnachtsgeschichte. 3 Ekklesia ist in dem auch kompositionell wichtigen Summarium, Apg. 9, 31, nicht Ortsgemeinde, sondern (Gesamt-)Kirche.

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HUBERT CANCIK

mit Mytilene, Knidos, Kos, Rhodos, Chios, Samothrake, Klauda und schließlich Malta, wo ihm der Sturm das Schiff zerbrach.4 Ein neues, umfangreiches Wortfeld kommt durch Lukas in die Bibelsprache: schwimmen, Schiffszeichen, loten, gegen den Wind steuern – kolymbán, parásemon, bolízein, antophthalmeín.5 Lukas, der Geschichtsschreiber, inszeniert den maritimen Raum. Er bringt das Mittelmeer in die Bibel. Zu den binnenländischen Räumen und Verkehrsmitteln – Sinai und Libanon, Steppe und Wüste, Kamel, Esel und Wagen – kommen jetzt das Gestade (he parálios chóra) – im Neuen Testament nur bei Lukas belegt;6 der Meeresstrand (aigialós),7 die Inseln, die großen Schiffe aus Ägypten, das kleine Beiboot (skáphos) und schließlich die hölzerne Planke, mit deren Hilfe die Schiffbrüchigen sich an den Strand retten: sanís – nur hier bei Lukas, der einzige Beleg im ganzen Neuen Testament.8 2. Spät also kommt das „große“, das „hintere“ Meer – so die hebräischen Namen – als ein erfahrener, vorgestellter und dargestellter Raum in die Bibel.9 Am Anfang der hellenischen Literatur steht ein Katalog von Schiffen, ein ganzes Buch lang, dann die Irrfahrten des Erfindungsreichen von Troia durch das Mittelmeer nach Ithaka; die Abenteuer der Argonauten; die Flucht des Aeneas durch alle Kontinente von Asien über Afrika nach Hesperien, wo er am Tiber eine Stadt gründet und ein Volk (condere gentem).10 Hesiods Götterlehre kennt viele Meeresgottheiten, er nennt die Nereiden, fünfzig Töchter des alten Nereus,11 alle mit eigenem Namen, alle wohlgestaltet mit rosenfarbenen Armen und grünem Haar.12 Die unerschöpfliche Phantasie und Bilderfreude dieser Kultur hat 4 Klauda liegt südlich von Kreta, Apg. 27, 16. – Zu allen topographischen, nautischen und

kulturgeschichtlichen Details vgl. die Beiträge in Gill / Gempf (eds.): The Book of Acts, und die dort angegebene Forschungsliteratur, bes. Rapske, Acts, Travel and Shipwreck. 5 Schwimmen: Apg. 27, 43; Schiffszeichen: Apg. 28, 11; loten: Apg. 27, 28; gegen den Wind steuern: Apg. 27, 15. 6 Luk. Evg. 6, 17: Markus, Lukas’ Quelle, nennt nur die beiden Ortsnamen; parhálios ist einer der ganz seltenen Ausblicke an die Meeresküste in den Evangelien. 7 Luk. Apg. 21, 5; 27, 39; vgl. Mt. 13, 2 (Strand am Galiläischen „Meer“). 8 Planke: Luk. Apg. 27, 44; einige Belege in LXX. 9 Dies gilt trotz des kleinen Propheten Jonas, der in Jaffa sich nach Westen, nach Tartessos einschiffte und, wie einst Perseus, von einem Seeungeheuer (Ketos) verschlungen und wieder ausgespieen wurde. Vgl. 1 Könige 10, 22; Psalm 77, 10. – Die Völkertafel der Genesis nennt Kaftor, Tarschisch, die Inselvölker. Das Rote Meer und das Tote Meer sind in der Bibel Grenzen und Durchgangszonen. 10 Zur Gattung Periplus s. Olshausen, Der Periplus. 11 Hesiod, Theogonie 243–264: Proto, Eukrate, Sao, Galatea, Nemertes u. a. m.; Homer nennt immerhin 33 mit Namen (Ilias 16, 39-49). 12 Hesiod Theogonie 247. 251; Horaz, Oden 3,28,10. Herakles überlistet den wahrsagenden Meergreis, um von ihm den Ort der Hesperiden zu erfahren (Apollodor 2, 5, 11). Dessen Gemahlin ist Doris, eine Tochter von Okeanos und Thetys.

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in einer Fülle von Skulpturen, Malereien und Mosaiken den Raum und das Element Meer ins Bild gebracht.13

1.2 Der Raum des zweiten Logos 1.2.1 Übersicht Der Raum, der im zweiten Logos des lukanischen Geschichtswerks imaginiert, erfahren und dargestellt wird, ist zunächst das Binnenland von Palästina, dann die Küste von Gaza bis Antiochien am Orontes, das Mittelmeer bis zur Westküste Italiens, Teile von Griechenland, Makedonien und des südlichen Kleinasien. Ägypten, Kyrene und die Syrte sind die südliche Begrenzung. Diese Gebiete liegen innerhalb des römischen Imperiums. Mit ökumenischen Ausblicken aber und in einigen Episoden greift Lukas weit über die damaligen Grenzen des Imperiums hinaus. Philippus bekehrt den Finanzminister der Herrscherin von Äthiopien.14 Zum Pfingstfest ist die jüdische Diaspora in Jerusalem versammelt:15 von Elam im fernen Osten, Pontos im Norden bis Libyen im Süden. Einige christliche Autoren der Antike gehen noch weiter und nennen Armenien und Indien.16 Der mythische Raum ist karg: ein gestaltloser „Himmel“ mit hilfreichen Engeln, kein Hades, kein Palast der Meerjungfrauen im tiefen Meer, keine Insel mit Göttin, kein Sehnsuchtsland an den Rändern der Welt. Aber Lukas bezeichnet mit einer kühnen Hyperbole die Grenze und das Ziel seiner Geschichte: nicht weniger als „das Äußerste der Erde“ – to éschaton tes ges.17 Nur ein Vergil konnte noch weiter gehen: Die Herrschaft der Römer, dichtet er, hat überhaupt keine Grenzen, weder im Raum noch in der Zeit – sie ist imperium sine fine.

1.2.2 Der erfahrene Raum Der im Zweiten Logos tatsächlich ‚erfahrene’ maritime Raum lässt sich durch eine Liste der von Lukas genannten Häfen darstellen. Die Häfen im Zweiten Logos Adrymettium (Mysia)

Heimathafen eines Schiffes, Apg. 27, 2

13 Nur an zwei prominente Meer-Gottheiten sei hier erinnert: Nereus und Aphrodite. (1) Ne-

reus, Herakles, Nereiden; attische Kylix, ca. 530/500 v. Chr.; FO Tarquinia; AO Tarquinia, Museo Nazionale; (2) Aphrodite, Eros, Himeros, Meer; Mosaik, römisch; AO: Bardo Museum, Tunis. 14 Apg. 8, 27. 15 Apg. 2, 7–11. 16 Tertullian, Augustin, Chrysostomus: so Nestle, ohne weitere Angaben. 17 Apg. 1, 8: „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und ganz Judäa und Samaria und bis zum Äußersten der Erde“. Das ist der geographische Aufriss des zweiten Logos; die Reise zum Eschaton der Erde beginnt in Apg. 10.

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Alexandreia (Ägypten) Antiocheia am Orontes Assos (Hellespont) Attalia (Pamphylien) Caesarea maritima (Iudaea) Ephesos (Asia) Gaza Joppe/ Jaffa „Schöne Häfen“ (Kreta) Kenchreai (Achaia) Korinthos (Achaia) Kos Malta Milet Mitylene (Lesbos) Myra (Lykien) Nea Polis (Makedonien) Paphos (Zypern) Patara (Lykien) Phoenix (Kreta) Ptolemais (Phönizien) Puteoli (Campania) Rhegion Rom Salamis auf Zypern Samos Seleukeia Sidon Syrakus Thessalonike Troas (Hellespont) Tyros

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Heimathafen eines Schiffes, Apg. 27, 6; Heimat des Apollos, Apg. 18, 24 s. Seleukeia Apg. 20, 13 Apg. 14, 25 Apg. 8, 40; 25, 13 Apg. 18, 19 Apg. 8, 26 Apg. 9, 36 Apg. 27, 8 Apg. 18, 18 Apg. 18 Apg. 21, 1 Apg. 28, 11 (Winterhafen) Apg. 20, 15 Apg. 20, 14 Apg. 27, 5 Apg. 16, 12 (Hafen von Philippi) Apg. 13, 6 Apg. 21, 1 (Leuchtturm) Apg. 27, 8 Apg. 21, 7 Apg. 28, 14 (Hafen für Rom) Apg. 28, 13 s. Puteoli Apg. 13, 5 Apg. 21, 1 Apg. 13, 4 (Hafen von Antiocheia) Apg. 27, 3 Apg. 28, 12 Apg. 17, 1 Apg. 16, 11; 20, 5 Apg. 21, 3

Die etwa dreißig Namen dokumentieren die Verlagerung des Geschehens von Galiläa, Samaria, Jerusalem an die Küsten, auf das Meer und damit die Öffnung

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nach Westen. Einige dieser Hafenstädte sind, nach antikem Maßstab, Groß-Städte, Hauptstädte einer römischen Provinz und Sitz eines Proconsuls oder Statthalters.18 Die Provinzhauptstädte im Zweiten Logos Metropole Alexandreia Kaisareia (Caesarea maritima) Antiocheia Paphos Tarsos Patara Ephesos Rhodos Thessalonike Korinthos Syracusae

Provinz Aegyptus Iudaea Syria Cyprus Cilicia Lycia et Pamphylia Asia Bezirk Insulae Macedonia (2. Region) Achaea Sicilia

Die Liste zeigt, wie die Ekklesia sich aus dem eher ländlich geprägten Binnenland Palästinas in die großen hellenistischen Städte verlagert und dabei der römischen Obrigkeit näher kommt.19

1.3 Die Elemente der Darstellung 1. Der einfache Fahrtenbericht enthält folgende Elemente: (1) Ausgangspunkt der Fahrt mit dem Stichwort an-ágesthai – ‚in See stechen’; (2) Stationen (Route, Itinerar); (3) Umstände der Fahrt (Kurs, Wind, Meer); (4) Dauer von Fahrt und gegebenenfalls Zwischenaufenthalten; (5) das Ziel und (6) gelegentlich perihegetische Zusätze, die zu umfangreichen Episoden ausgeweitet werden können. Ein Beispiel:20 (1) „In See gestochen von Troas aus ∥ 18 Vgl. Haensch: Capita Provinciarum; Karte: Wittke u. a. (Hrsg.): Historischer Atlas,

S. 176–177.

19 Aus der reichen Literatur zur Soziologie des frühen Christentums, den Stadien seiner Helle-

nisierung und Romanisierung vgl. Hengel: Judentum und Hellenismus; Theißen: Studien zur Soziologie des Urchristentums, bes. S. 142–159; Lampe, Die stadtrömischen Christen. 20 Apg. 16, 11–12. Der Text von D bringt lehrreiche Varianten.

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(3) fuhren wir auf geradem Kurs ∥ (2.1) nach Samothrake, ∥ (4) am folgenden Tage ∥ (2.2) nach Nea Polis ∥ (5) und von dort nach Philippi, ∥ (6) welches ist eine Stadt der ersten Region Makedoniens, eine Colonia.“

Der Bericht bringt einen perihegetischen Zusatz, wie er für viele Fahrtenberichte charakteristisch ist, die Kurzbeschreibung Philippis. Der Ehrentitel dieser Stadt schließt die kleine ékphrasis tópou (‚Ortsbeschreibung’) ab; sie ist eine colonia, sagt Lukas, mit einem klangvollen Latinismus und einem biblischen hapax legomenon, das nur hier bei Lukas und nie wieder in der ganzen griechischen Bibel benutzt wird. Lukas benutzt das Wort als Zeichen für Romanisierung. 2. Das Schema dieser nautischen Fahrtenberichte ist seit Beginn der griechischen Historiographie eine feste Form. Ein Beispiel aus der „Umfahrung“ (períplous) des Pseudo-Skylax von Karyanda:21 „(§ 16) Umbrer. Nach den Samniten ist das Volk Umbrer, und eine Stadt in ihr (Umbria) ist Ancona. Dieses Volk aber verehrt Diomedes, da es von ihm Guttaten erfuhr; und es gibt ein Heiligtum für ihn. Die Vorbeifahrt an Umbrien ist zwei Tage und eine Nacht. (§ 17) Tyrrhener […]“

Der Fahrtenbericht des Hanno von Karthago beginnt mit dem Beschluss der karthagischen Obrigkeit, eine Flotte über die Säulen des Herakles hinaus zu schicken „und Städte zu gründen der Libyophoeniker“:22 πλεῖν ἔξω Στηλῶν Ἡρακλείων καὶ πόλεις κτίζειν Λιβυοφοινίκων. Der Bericht ist in der Wir-Form gehalten, nirgends spricht Hanno in der ersten Person Singular.23 Alle Elemente des ‚klassischen’ Fahrtenberichtes sind in dieser griechischen Übersetzung eines westsemitischen Textes aus dem späten 6. Jh. v. Chr. nachweisbar: das Stichwort ‚in See stechen’ (an-ágesthai), der Kurs, das Ziel, die Dauer von Fahrt und Aufenthalt, die perihegetischen und ethnographischen Zusätze. An der Stelle, wo in den Berichten des Lukas die Gründung oder Stärkung einer Gemeinde steht, berichtet 21 Pseudo-Skylax von Karyanda, Periplus maris ad litora habitata Europae et Asiae et Libyae, in:

Müller: Geographi Graeci, I, S. 15–96. – Skylax lebte zur Zeit des Dareios (um 500 v. Chr.); der ‚Periplus’ ist eine Kompilation wohl der spätklassischen Zeit, enthält aber alte Nachrichten. – Vgl. Meyer, Hellenistische Geographie. 22 Hannonis Carthaginiensium regis periplus, in: Müller: Geographi Graeci, I, S. 1-14. – Condere gentem/ urbem ist Thema von Vergils Aeneis, wie im Proöm entwickelt. – Zur Fahrt Hannos s. Wittke u. a. (Hrsg.), Historischer Atlas: „Fernerkundung der antiken Welt“. 23 Der Beschluss der Karthager und die Ausfahrt stehen in drittpersönlicher Narrative.

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Hanno die Gründung oder Stärkung von Siedlungen und die Gründung von Heiligtümern. Der Anfang des Textes lautet:24 „Und er fuhr los mit 50 Fünfzigruderern und 30.000 Männern und Frauen. In See gestochen, fuhren wir an den Säulen (des Herakles) vorbei. Nach zweitägiger Fahrt gründeten wir (ektísamen) die erste Stadt, die wir Thymiaterion nannten. Zu ihren Füßen liegt eine große Ebene. Und danach, in See gestochen, Richtung Westen kamen wir nach Solois, einem Vorgebirge von Libyen, dicht mit Bäumen. Dort gründeten wir (hidrysámenoi) ein Heiligtum für Poseidon und fuhren danach wieder Richtung Osten, einen halben Tag lang […].“

Eine Tagesreise weiter werden zwei Städte am Meer durch neue Siedler verstärkt. Eine kleine Insel wird besiedelt und ‚Kerne’ benannt. Einheimische Dolmetscher, die offenbar Phönizisch verstehen, werden von hier mitgenommen und drei Gorillas gefangen, deren Haut später in Karthago ausgestellt wird.25 Ein weiteres Beispiel aus Lukas:26 „Als es aber daran war, dass wir in See stechen mussten,∥ rissen wir uns von ihnen los,∥ fuhren in geradem Kurs∥ und kamen nach Kos,∥ am folgenden Tage∥ nach Rhodos und von dort nach Patara.∥ Und wir fanden ein Schiff, das direkt nach Phoenizien durchfuhr; wir bestiegen es und stachen in See.∥ Wir sichteten Zypern, ließen es links liegen∥ und kamen hinab nach Tyros.∥ Dort nämlich sollte das Schiff die Ladung löschen.“

Der Fahrtenbericht des Hanno zeigt die Praxis einer dominanten Seemacht – Fahren, Erkunden, Gründen. Der Bericht führt über das Mittelmeer hinaus und lehrt damit, dass schon in archaischer Zeit die méditerranée kein geschlossener Raum ist. In die lange und breite Tradition dieser Texte gehört schließlich auch der Fahrtenbericht des Lukas, der in die Trias ‚Fahren/ Erkunden/ Gründen’ das ‚Verkünden’ stellt.27 Was sind die ‚Erkundungen’ des Lukas?

2 Ethnographie und Periegese im Fahrtenbericht 2.1 Die Serie der fremden Kulte 1. Gegenstand der alten ionischen „Erkundung“, der historíe, der ‚Geschichte’ im weiten Sinne ist die Beschreibung der Länder, der Völker, ihrer Lebensumstände, Sitten und ihrer ‚Geschichte’ im engeren Sinn. In den Teil ‚Sitten’ gehören 24 Hannonis periplus, in: Müller: Geographi Graeci, I, S. 1–3. 25 Ebd. §5, §6, §8, §18 (Schluss). 26 Apg. 21,1–3. 27 Tradition: Pseudo-Skymnos, Periodos Ges an König Nikomedes (um 130 v. Chr.), der kon-

sequent die griechischen Kolonien nennt und ihre Gründung angibt: Text mit Einleitung, Kommentar von Martin Korenjak.

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die Nachrichten über Religion. Die griechischen Historiker verstehen sie als einen eigenen, beobachtbaren Gegenstand neben Familienleben, Wirtschaft und Kriegführung. Aus diesem ethnographischen Interesse entwickelt sich eine Art ‚Religionsgeschichtsschreibung’. In der Zeit, als das lukanische Geschichtswerk entstand, untersuchte Cornelius Tacitus die Religion der Germanen in einer ethnographischen Einzelschrift, die der Juden in einem Exkurs seiner Historien und die Entstehung der römischen Herrscherverehrung als ein durchgehendes Teilthema in seinem Spätwerk, den Annalen.28 Die nicht zahlreichen, meist kurzen Hinweise auf fremde Religionen, die in den Reiseberichten des Zweiten Logos gegeben werden, sind in der folgenden Liste zusammengestellt. 2. Die fremden Religionen im Zweiten Logos Namen von Göttern29 *AgnostosTheos (Apollo (*Ares Artemis Magna Ephesia (Athene (*Demeter Dioskuren Hermes (Hypsistos Theos Zeus

Apg. 27, 23; nur in Orts- und Personennamen); Apg. 17, 19: Areios pagos); Apg. 19, 24. 27. 28. 34. 35: Kult in Ephesos; Apg. 17, 15: Ortsname: Athen, Athener); nur PN, nur Apg. 19,24. 38); Apg. 28, 11: Schiffszeichen; Apg. 14, 12: Gott, auch PN; Apg. 16, 17: in Kleinasien besonders häufiges Gottesprädikat); Apg. 14, 12–13: Kult in Lykien.

Kult 1)

Aberglaube

2)

Alltagsreligion

Apg. 28, 4: Die ‚Eingeborenen’ von Malta halten Paulus für einen Gott. Apg. 28, 12: Dioskuren als Schiffszeichen;

28 Vgl. Cancik: Historisierung von Religion; ders.: Zur Verwissenschaftlichung des historischen

Diskurses.

29 Mit * gekennzeichnete Namen nur an den angegebenen Stellen im NT belegt. – Nicht im

NT belegt sind theophore Namen wie Asklepiades, Poseidonios, Artemidoros, Hephaistion u. a. m. – Vgl. den auch sonst für Juden bezeugten ‚mythologischen’ Namen Iason (Apg. 17,5).

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3)

Altar eines Agnostos Theos

4)

Bilderkult

5)

Divination

6)

Epiphanie

7)

Herrscherverehrung

8)

Neokóros

9) 10)

Tieropfer Zauber – Magie – Exorzismus

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Apg. 17, 23: Paulus in Athen besichtigt fremde Religion (sebásmata). Apg. 19, 35: Bild vom Himmel gekommen. Apg. 16, 16: Der Wahrsagegeist (Pneuma Python); Apg. 14, 8–18: Paulus und Barnabas in Lystra; Apg. 12, 21-23: ‚Apotheose’ des Herodes Agrippa I. (10 v.– 44 n. Chr.) in Caesarea durch Akklamation des Volkes;30 Apg. 19, 35: „Hüter des Tempels“ – Ehrentitel der Stadt Ephesos; Apg. 14, 18: Zeuskult in Lystra; Apg. 13, 6–12: der jüdische „PseudoProphet“ und „Magier“ Bar-JesusElymas; Apg. 19,13: jüdische Exorzisten benutzen den Namen „Jesus“; Apg. 19, 19: Verbrennung von Zauberbüchern (Ephésia Grámmata) in Ephesos.

Die Aufstellung zeigt einerseits, wie gering das Interesse an der Religion der Hellenen und Römer ist, andererseits, wie sich die Nachrichten hierzu in den Reiseberichten des Zweiten Logos häufen. Die Hinweise auf fremde Religionen, besonders diejenigen für Lystra, Athen und Ephesos, bilden eine Serie, eine Nebenlinie neben dem viel stärker ausgebauten Erzählfaden von den Anfeindungen durch Juden oder der Serie der Wundertaten. Die Nebenlinie ist sprachlich markiert durch seltene Worte, die teilweise nur hier im Neuen Testament belegt sind.

2.2 Drei Städtebilder 2.2.1 Lystra / Lykaonien (Apg. 14, 8–18) Die ausführlichste Darstellung, die Lukas einem griechischen Kult zugestanden hat, gilt dem Zeus-Kult von Lystra in Lykaonien. Hier heilt Paulus einen Lahmen und wird daraufhin von den Einheimischen für einen Gott gehalten: „Die Götter haben sich den Menschen angeglichen und sind zu uns herabgekommen.“ Sie 30 Das Volk ruft nach der Rede des Herodes: „Eines Gottes Stimme und nicht eines Menschen“.

Anders Sueton, Nero 21: caelestis vox Neros.

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nennen Paulus, weil er das Wort führt, „Hermes“ und seinen Begleiter Barnabas „Zeus“. Beide Götternamen sind nur hier im Neuen Testament belegt. Es gibt außerhalb der Stadt ein Heiligtum des Zeus; der Zeuspriester lässt die Türen des Tempels mit Girlanden bekränzen und Stiere herbeiholen, um mit dem Volk eine Götterbewirtung (Theoxenie) zu feiern.31 Mit Mühe nur können die beiden Apostel dem frommen Eifer entfliehen. Lukas nutzt aber die Situation, um hier zum ersten Mal in seinem Geschichtswerk eine „natürliche Theologie“ einzuführen. Diese gestattete, „dass in den vergangenen Generationen alle Völker ihre eigenen Wege gingen“, denn aus den Gaben der Schöpfung konnten sie die Güte des Schöpfers erkennen.32 Die verhältnismäßig ausführliche Darstellung eines hellenischen Kultes dient als wirkungsvoller Hintergrund für die Ansätze einer theologia naturalis.33 Die Episode in Lystra bereitet so die Rede vor, die der Apostel in Athen auf dem Areopag halten wird.

2.2.2 Athen / Achaia (Apg. 17, 16–34) a) Die Situation in Athen hat Lukas völlig anders inszeniert als in Lystra. In Athen gibt es keinen Kult frommer, aber nicht einmal der griechischen Sprache mächtiger Eingeborener,34 keine Auseinandersetzung mit Juden, keine hilfreichen oder repressiven Behörden von Römern oder Munizipalbeamten, sondern nur Stadtbesichtigung, Disput mit Philosophen, eine der Situation aufs schönste angepasste Rede und einen freundlich ironischen Abschied:35 „Über diese Sache wollen wir dich noch ein andermal hören.“ Die Stadt ist voll von Idolen, Bildern von Menschen, Heroen und Göttern.36 Paulus geht, nicht ohne Zorn, durch die Stadt, betrachtet die verehrungswürdigen Stätten (sebásmata), findet den Altar für einen „Unbekannten Gott“ und schließt daraus auf die Frömmigkeit der Athener. Die Phantasie hat großen Spielraum zu raten, was er da gesehen habe: unübersehbar Athene, die Schutzgottheit der Stadt auf dem Burgberg, den Parthenon, das unvollendete Olympieion. Er unterhält sich am Sabbat in der Synagoge mit Juden und Gottesfürchtigen und 31 Der Text D erkennt, dass die genannten Tätigkeiten für nur einen Priester nicht zu bewälti-

gen sind, und schreibt: „Die Priester […].“

32 Apg. 14,16: ὃς ἐν ταῖς παρῳχημέναις γενεαῖς εἴασεν πάντα τὰ ἔθνη πορεύεσθαι ταῖς ὁδοῖς αὐτῶν. –

Vgl. Paulus, Römer 1,20. – Vgl. das Plädoyer für Religionsfreiheit aufgrund einer natürlichen Theologie bei Themistios, oratio V, 68b-69a. 33 Die skizzierte Szene wird von Lukas profiliert durch die unmittelbar folgenden lebensbedrohlichen Angriffe von Juden. 34 Apg. 14,11: Sie sprechen „lykanonisch“, verstehen aber offenbar Griechisch. 35 Apg. 17,32; vgl. Paulus, 1 Thess. 3: Aufenthalt in Athen. 36 Apg. 17,16: kat-eídolon pólin.

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jeden Tag auf dem Markt mit Stoikern, Epikureern und mit allen, die vorbeikommen. So ist es Sitte in Athen. Lukas kennt den sprichwörtlichen Wissensdurst der Athener, die immer hören wollen, was es Neues gibt.37 Das ist eine perfekte Stadtbeschreibung. Wie die Beschreibung des Zeuskultes in Lystra geben die jüdischen laudes Athenarum den Rahmen für eine Grundsatzrede über das schwierige Verhältnis hellenischer Kultur und christlicher Verkündigung. b) Eine professionelle antike Beschreibung Athens bietet sich zum Vergleich an. Herakleides Kretikos (3. Jh. v. Chr.) schreibt in seinem Buch „Über die Städte in Hellas“ fünf Kapitel über Athen. Er beginnt folgendermaßen:38 „Die Stadt ist ganz trocken, gar nicht gut mit Wasser versehen, von winkligen Straßen unschön durchschnitten, da in alter Zeit erbaut. Die meisten Häuser sind geringwertig, nur wenige höheren Anforderungen entsprechend; kaum dürfte ein Fremder beim ersten Anblick glauben, dass dies ‚die Stadt der Athener’ sei; nach kurzer Zeit aber wird er es wohl glauben. So ist dort das Schönste auf Erden: ein Theater, der Beachtung wert, groß und bewunderungswürdig; ein prachtvolles Heiligtum der Athena, der Welt entrückt, sehenswert, der Parthenon, über dem Theater gelegen; großen Eindruck macht er auf die Beschauer. Das Olympieion, zwar nur halbvollendet, aber eindrucksvoll schon durch den Bauplan; großartig wäre es geworden, wenn es vollendet worden wäre. Drei Gymnasien: die Akademie, das Lykeion, das Kynosarges; ganz mit Bäumen bepflanzt und mit Rasenplätzen versehen. Mancherlei Feste, von mancherlei Philosophen auch geistige Verführungen und Erholungen; viel Zeitvertreib und fortwährend Schaustellungen.“

Der griechische Periheget sieht außer dem Parthenon weder die verehrungswürdigen Stätten oder Altäre noch fallen ihm die vielen öffentlichen Kunstwerke auf. Die Freuden städtischen Lebens, Schauspiele, Künstler und die Athener selbst sind ihm wichtiger. „Die Athener“, schreibt Herakleides (cap. 4), „sind großgesinnt, offen in ihrem Charakter, edle Bewahrer der Freundschaft.“ Bei allen Unterschieden zwischen den Athenbildern bei Lukas und Herakleides dürfte aber doch deutlich sein, wie Lukas die Topik der perihegetischen Literatur benutzt.

2.2.3 Ephesos / Asia (Apg. 19,1–40) a) In Ephesos, der Hauptstadt der Provinz Asia, hat Paulus mehr als zwei Jahre lang gewirkt.39 Ephesos ist Hafenstadt, ein Handelszentrum mit damals etwa 37 Demosthenes 4,10. 38 Herakleides Kretikos, Über die Städte in Hellas, cap. 1, s. Müller: Geographi Graeci, I,

S. 97–110. – Zur Topik der laudes Athenarum vgl. Isokrates, Panegyricus 41–47; Thukydides 2,38; Cicero, de finibus, Buch V. 39 Apg. 19,8 und 19,10; vgl. 20,31. – Vgl. Paulus, 2 Kor. 1, 8–11.

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700.000 Einwohnern. Die Stadt ist „Tempelhüterin“ des Artemision, einer alten, extraurbanen Kultanlage; sie verehrt Hestia, Demeter, Serapis und seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert auch Roma und schließlich deren Kaiser.40 Nichts davon hat Lukas für seine Leser wahrgenommen: nicht frommer Kult, wie in Lystra, nicht irenische Religionsphilosophie, wie in Athen. In Ephesos zeigt er die Diversität der jüdischen und christlichen Gruppen, das aggressive Verhalten der Verehrer der Artemis und die Korrektheit der Behörden, die religiös motivierten Streit unterbinden. Der Text geht weit über Topik und Anliegen perihegetischer Literatur hinaus: Kapitel 19 der Apostelgeschichte des Lukas ist (a) ein Stück antiker Religionsgeschichtsschreibung und (b) einer der wenigen Texte, die Symbiose und Konkurrenz mehrerer mediterraner Religionen narrativ zu erfassen versuchen. b) Lukas nennt folgende religiöse Gruppen: • die Synagoge der Juden; • Johannesjünger; • die von der Synagoge abgespaltene Gemeinde des Paulus (Christianer); • Verehrer der Artemis. Exorzismus und Zauberei sind religionsübergreifend verbreitet. Jüdische Exorzisten gebrauchen den Namen ‚Jesus’; Christianer benutzen große Mengen Zauberbücher, die Ephésia grámmata. Obschon das gewaltige Heiligtum der Großen Göttin nicht von Lukas genannt wird, gibt er doch, im Vergleich mit anderen Quellen, beachtlich zahlreiche und konkrete Nachrichten über Kult und Kultorganisation. Wir erfahren den Namen und die Epiklesen der Gottheit, und zwar unverstümmelt: Artemis, die Große; die Artemis der Ephesier; dazu die Akklamation im Theater: „Groß ist die Artemis der Ephesier“. Der Status von Ephesos als neokóros (Tempelhüterin) ist genannt und das nicht von Händen gefertigte, vom Himmel gefallene Bild der Gottheit. Es gibt teure Devotionalien und organisierte Hersteller und Verkäufer. Der Kult sei nicht nur in Asien, sondern in der gesamten Oekumene verbreitet. Welche jüdischen oder christlichen Texte schildern einen Kult ihrer hellenischen oder römischen Nachbarn so detailliert wie Lukas? c) Lukas schildert den fremden Kult und die abergläubischen Praktiken höchst selektiv, mit Herablassung und einigem Spott. Die Devotionalienhandwerker (technítai) strömen in das Theater, können aber keine geordnete Versammlung 40 Nachweise und reiche Literaturangaben bei Thiessen: Christen in Ephesus; Strelan: Paul,

Artemis, and the Jews; Trebilco: The Early Christians in Ephesus.

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organisieren; die meisten, schreibt Lukas, wussten nicht, weswegen sie zusammengekommen waren. Sie machen einen Heidenlärm (krázein) und schreien etwa zwei Stunden lang: „Groß ist die Artemis der Ephesier!“41 Aber die Obrigkeit kann weder Tempelraub noch Blasphemie feststellen und schickt schließlich die Schreier mit einer Verwarnung und mit dem Hinweis auf den gegebenenfalls einzuschlagenden Rechtsweg nach Hause. Auch diese Erzählung des Lukas enthält sich, trotz des ironischen Tons, jeder Blasphemie und jeder, auch nur verbalen, Bilderstürmerei. Das ist, wie ein Blick in die Talmudtraktate „Fremder Dienst“ (‘abodáh zarah) lehrt, keineswegs selbstverständlich.

2.3 „Fremder Dienst“ im Zweiten Logos 1. Die Serie der ethnographischen Angaben in den Reiseberichten des Zweiten Logos zeigt zweierlei: (a) die Nähe dieser Partien zur perihegetischen Literatur wie Hanno von Karthago, Skylax von Karyanda oder Herakleides Kretikos; (b) eine gemäßigte Intoleranz, die fremde Kulte ablehnt, aber doch selektiv wahrnimmt und sie distanziert, mit Ironie und Herablassung darstellt, aber nicht blasphemisch redet oder gar die Zerstörung fremder Kultgegenstände fordert. Kritik an der Herrscherverehrung ist fast völlig ausgespart. Diese Position fügt sich zu der grundsätzlichen Loyalität gegenüber der Obrigkeit im lukanischen Geschichtswerk und der Tendenz zur sozialen Mittel- und Oberschicht, wie sie etwa in den beiden Erstbekehrten deutlich wird: dem Offizier Cornelius, bekehrt durch Petrus, und dem Proconsul Sergius Paulus, auf Zypern bekehrt durch Paulus. Um einen Maßstab für den Grad der Toleranz zu finden, der im lukanischen Geschichtswerk erreicht wird, sei an den Traktat „Fremder Dienst“ (‘abodáh zarah) erinnert. 2. Der Traktat „Fremder Dienst“, der im babylonischen und im Jerusalemer Talmud überliefert ist, beginnt mit dem strikten Verbot aller Bilder.42 Nur wenn sie herabgestürzt sind, ist es erlaubt, sie anzusehen.43 Fromme sehen nicht auf das Bild einer Münze und schließen die Augen, wenn sie an Bildern vorbeigehen müssen.44 Handel und Handwerk sind von religiösen Regeln betroffen:45 „Man 41 Apg. 19, 28; 18, 34. – Das Gegenstück gibt in Apg. 20 die Versammlung der Christen. – Zu

‚Götzenverspottung’ in der jüdischen und christlichen Literatur: Ezechiel 22, 3–4: „Mist“; Psalm 96, 5: „Schwächlinge“; Deuteronomium 29, 16: „Scheusale“; (Deutero-)Jesaja 44, 6–20; s. Preuss: Verspottung fremder Religionen. 42 mAZ 3, 1. Die beiden Traktate sind durch neuere Übersetzungen und Kommentare erschlossen; Goldschmidt: Talmud, Bd. 9, S. 431–661. 43 R. Johanan in jAZ 3, 1; vgl. Mireille Hadas-Lebel: Paganisme, bes. S. 420–422. – Zur religionsgeschichtlichen Analyse vgl. Cancik: Fremde Bilder; ders.: Wahrnehmung, Vermeidung, Entheiligung, Aneignung. 44 mAZ 1, 8, 1. Für diese und viele andere Regeln gibt es jeweils Ausnahmen. 45 jAZ 3, 1; jAZ 3, 11.

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darf für Götzen keine Schmucksachen fertigen, Halsketten, Nasenringe und Fingerringe.“ Oder die generelle Vorschrift:46 „Drei Tage vor den Festen der NichtJuden ist es verboten, mit ihnen Handel zu treiben […].“ Tiere, die ein Hellene opfern könnte, sollen nicht verkauft werden, es sei denn man verstümmelte sie vorher:47 „[…] denn keinen verstümmelten Hahn bringen sie ihren Götzen dar“. Auch die Namen der fremden Gottheiten sollen verstümmelt werden:48 „Hieß er ‚Königsgesicht’, so nenne man ihn ‚Hundsgesicht’.“ Lukas hat keine Götternamen verstümmelt, er hat seinen Paulus sogar Inschriften auf Altären lesen lassen, was nach der Auffassung von Rigoristen durchaus nicht ohne weiteres erlaubt ist.49 Die neugierige, oft sympathisierende Zuwendung zu kultureller und religiöser Diversität, wie griechische und römische Historiker sie praktizieren, ist dem lukanischen Geschichtswerk jedoch unbekannt. Seine Position dürfte mit dem Ausdruck ‚gemäßigte Intoleranz’ zutreffend bezeichnet sein.

3 Das „Zeichen der Dioskuren“ 3.1 Von Caesarea maritima nach Puteoli 1. Der letzte Teil des Zweiten Logos (cap. 27–28) führt den Leser weit durch das Mittelmeer, von Caesarea in Iudaea bis Puteoli, dem Hafen für Rom. Drei Schiffe werden nacheinander benötigt; das zweite befördert 276 Menschen. Acht Stationen werden angelaufen, ein Schiff geht verloren, auf Malta wird drei Monate lang überwintert. Mit mancherlei Variationen wird das Schema des Fahrtenberichts wiederholt: Abfahren, in See stechen, Dauer von Fahrt und Aufenthalt, die Route ‚östlich an Zypern vorbei’, ‚südlich von Kreta entlang’; die Jahreszeiten und die Winde, darunter der Eurakylon (27, 14), der bisher nur an dieser Stelle bei Lukas nachzuweisen und deshalb als Textverderbnis verdächtig war, bis Marius Reiser den Namen auf einer Windrose in Afrika nachzuweisen vermochte.50 Die regelmäßig wiederkehrenden Formen ‚Schiff besteigen, abfahren, anlegen’ – gliedern und prägen den lukanischen Text wie jenes enteúthen exelaúnei die Anabasis Xenophons. In sechzig Versen der Nestle-Ausgabe (27, 1 – 28, 16) schreibt Lukas einen klassischen Mittelmeertext, wenig rhetorisiert, mit zahlreichen nautischen Details. Keine andere Landschaft hat er so ausführlich und intensiv geschildert wie das mare internum, nicht Galiläa, nicht seine vermutete kilikische Heimat, 46 mAZ 1, 1. 47 mAZ 1,5. 48 bAZ 3, 5. 49 jAZ 3, 1; Tosefta Shab. 17, 1. 50 Reiser: Von Caesarea nach Malta, mit Abbildung der Inschrift aus Thugga, die seit Anfang

des 20. Jh. bekannt ist, aber nicht zur Erklärung von Apg. 27, 14 herangezogen wurde. Danach ist der Eurakylon ein Ost-Nord-Ost-Wind. – Haenchen: Acta 27.

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deren Dialekt er gesprochen haben soll, oder das Hügelland von Iudaea. Wo gibt es – nach Länge, Konkretion, Genauigkeit, Stil – ähnliche Texte in der antiken Literatur? 2. Die Fahrt, Sturm, Schiffbruch und die parádoxos sotería (Rettung wider Erwarten) werden in gehobener (Fach-)Prosa, ohne epische oder romaneske Ausmalung beschrieben.51 Auffällig ist der dichte nautische Jargon. Dieser sermo nauticus52 beschert uns einige seltene Worte, die bei Lukas oder im Neuen Testament oder gar, wie einst der Wind Eurakylon, in der ganzen Graecität kaum wieder zu belegen sind. Häufig ist das leitmotivische anágein – „in See stechen“,53 gut verständlich ist „geraden Kurs laufen/ halten“ und „mit dem Bug gegen den Wind steuern“ und „loten“; was aber „das Schiff untergürten/ umgürten“ heißt, ist bis jetzt nicht völlig geklärt.54 Auch hier hat Lukas eine Episode eingelegt, die den religiösen Bewusstseinsstand der „Barbaren“ anschaulich und nicht ohne Ironie beschreibt. Als Paulus von einer Schlange in die Hand gebissen wird, halten ihn die Eingeborenen für einen Mörder, der zwar dem Meer entronnen sei, den aber Dike, die Gerechtigkeit (Δίκη), nicht am Leben lassen wolle. Sie erwarten, dass Paulus von dem Gift „entzündet“ werde oder plötzlich tot umfalle. „Lange“ beobachten sie ihn; als nichts Ungewöhnliches geschieht, schlägt ihre Meinung um: „Sie sagten, dass er ein Gott sei.“ Die Barbaren, das zeigt diese Episode, sind zwar „menschenfreundlich“, aber wankelmütig und in Religionssachen unverständig. Dennoch ist es auffällig, dass Lukas ihre Aussage, Paulus sei ein Gott, nicht wie im Falle Lystra (s. o. 2.2.1) ausdrücklich korrigiert. 51 Richtig gesehen bei Reiser: Von Caesarea nach Malta, S. 50. 52 mit Anm. 32. Die von Reiser

herangezogenen Parallelen haben wenig oder keinen sermo nauticus, auch Aelius Aristides nicht. 52 Servius zu Vergil, Aeneis 3,127: tractus sermo a nautis; Scholion zu Lucan, bellum civile 2,44: ‚lege’ sermo nauticus. 53 Apg. 20, 3; 21, 1f.; 27, 2. 4. 12. 21; 28, 10 u. ö. – Der einzige Beleg für anágein im LukasEvangelium ist unsicher (8, 22). 54 Euthy-dromein: 16, 11 und 21, 1 – sonst nicht in Lukas, NT, LXX; ant-ophthalmein: 27, 15 – nur hier in der griechischen Bibel; bolizein: 27, 28; hypo-zonnynai: 27, 17. – Vgl. (ἀγκύρας) περιελεῖν: 27, 40; 28, 13; αἱ ζευκτηρίαι τῶν πηδαλίων: 27,40. – Nach fachkundiger Auskunft ist das (horizontale) „Umgürten“ des Schiffes mit Tauwerk unterhalb der Brüstung gemeint. Dadurch soll verhindert werden, dass das schwer beladene Schiff zerbricht, wenn ein Teil des Schiffs sich auf einem Wellenberg befindet, der andere Teil jedoch keine Unterstützung im Wasser hat. – Das Wort „umgürten“ ist in der deutschen Seemannssprache bekannt; engl. to gird, to fasten around, „to brace a ship“ (Lidell-Scott: Greek –Englisch Lexicon, 1958). Antike Beschreibungen dieser Technik scheint es, außer bei Lukas, nicht zu geben; vgl. Polybios, Historiae 27, 3, 3: ναῦς ὑποζωννύειν – „Schiffe segelfertig / bereithalten“. Zur Gürtung s. Holzner: Paulus; auf S. 383 ist das sehr professionelle Buch von Breusing: Die Nautik der Alten, zitiert; vgl. Holzner, S. 387. – Weitere Literatur bei Rapske: Acts, Travel and Shipwreck, bes. S. 34–35.

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Auf Malta besteigen die Reisenden ihr drittes Schiff, ein alexandrinisches mit einem geschnitzten oder gemalten Zeichen am Bug, einem pará-semon, welches das Schiff unter den Schutz der Dioskuren stellt. Auch dieses Wort, pará-semon, ist nur hier im NT und nicht in der LXX belegt. Unter dem Zeichen der Dioskuren, den beiden Nothelfern auf See, fährt Paulus nach Puteoli – auch dies ein Indiz für lukanische Unbefangenheit und seine ‚gemäßigte Intoleranz’ oder auch ‚eingeschränkte Toleranz’.55

3.2 Lukas, Josephus, Lukian 1. Auf der Seereise von Iudaea nach Italien wird in dem lukanischen Fahrtenbericht sehr viel Mittelmeer sichtbar. Das ist keineswegs selbstverständlich, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen mögen. Im Sommer 64 reist Josephus, später Flavius Josephus, von Iudaea nach Rom.56 Er begleitet jüdische Priester, die Felix, der Prokurator von Iudaea, verhaftet, „gebunden“ und nach Rom überstellt hat.57 Mitten in der Adria geht das Schiff mit 600 Menschen im Sturm verloren. Josephus schwimmt die ganze Nacht und wird schließlich von einem kyrenäischen Schiff aufgenommen. Er fährt mit den ebenfalls geretteten Priestern nach Dikaiarcheia, das die Italiker ‚Potioloi’ nennen, also in denselben Hafen wie Paulus, und reist von dort nach Rom. Josephus gibt keine weiteren Stationen an, weder Route noch Winde noch sonstige nautische Details; sein Bericht ist wesentlich kürzer als der Bericht über die Fahrt des Paulus (etwa ein Fünftel). Die Ähnlichkeiten zum Prozess Pauli, seiner Verbringung nach Rom, den vielen Gefahren der Seefahrt sind deutlich. Umso klarer aber werden gerade deshalb auch die Unterschiede zwischen dem knappen autobiographischen Bericht des Josephus und der ausführlichen Schilderung im Zweiten Logos. 2. Das zweite Beispiel steht bei Lukian von Samosata (ca. 120 – ca. 190). In einem Gespräch mit dem Titel „Das Boot“ gibt Lukian die Beschreibung eines Riesenschiffs und den Bericht des Kapitäns, der das Schiff von Alexandria / Pharos nach Italien steuern sollte, aber durch widrige Winde in den Piraeus, den Hafen von Athen, getrieben wurde.58 Das Schiff trägt auf beiden Seiten des Bugs ein Bild der 55 Apg. 28, 11; vgl. Dölger: Dioskuroi. – Vgl. Lukian, Navigium § 5 über ein ägyptisches Schiff

im Piräus: „Der Bug tritt weit gelängt nach außen und oben vor / über und hat den Beinamengott (die Namen gebende Gottheit) auf beiden Seiten, die Isis.“ 56 Flavius Josephus, de vita sua, cap. 3. – Der Aufenthalt Pauli in Rom wird um 60 n. Chr. angesetzt. – Zu Philos Gesandtschaftsreise nach Rom vgl. den Beitrag von Niehoff in diesem Band. 57 Es ist nicht gesagt, dass diese Priester römische Bürger sind oder an den Kaiser appelliert haben. Aus der Verbringung nach Rom allein ist nicht auf römisches Bürgerrecht zu schließen. 58 Lukian, Navigium, § 7–9: (a) Beschreibung des Schiffes; (b) Fahrtenbericht; jeweils etwa eine Nestle-Seite. – Der Bericht des Kapitäns wird von einem Gesprächspartner im drittpersönlichen Narrativ erzählt.

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Göttin Isis, wie jenes, mit dem Paulus fuhr, das Bild der Dioskuren. Die Bestandteile des Fahrtenberichts finden sich hier wieder; Abfahrt, Winde, die Route mit einigen Ortsnamen, gefährlicher Sturm und die Dauer der Fahrt – siebzig Tage. In höchster Not zeigen die Götter ein Leuchtfeuer auf dem Lande, ein Dioskur setzt seinen hellen Stern auf die Mastspitze und leitet das Schiff aus den Klippen auf die offene See. Lukians Text ist ein gutes Beispiel für einen literarisch gefassten Fahrtenbericht. Der Text des Lukas ist etwa viermal so lang, detaillierter, technischer. 3. Die beiden Beispiele, Flavius Josephus und Lukian, dürften die Besonderheit der lukanischen Darstellung noch einmal verdeutlicht haben. Es gibt, so scheint es, in der antiken historischen Literatur keinen Text, der so umfangreich, detailliert und genau eine Fahrt durch große Teile des Mittelmeers schildert. Es bleibt nur noch die Frage, weshalb Lukas das so gemacht hat. Gewiss wird ein heroischer Paulus sichtbar: ein Warner mit prophetischen Gaben,59 ein besonnener Ratgeber in großer Not,60 ein Wundermann, ja ein theós, dem ein Schlangenbiss nicht schadet.61 Aber braucht es für dieses Paulus-Bild den Eurakylon, Treibanker, Vormastsegel und die Umgürtung des Schiffes?

Abkürzungen AZ: bAZ: jAZ: mAZ: B.: b.: R.: TB Megillah: TJ Sota:

Abodah Zarah Babylonischer Talmud, Abodah Zarah Jerusalemer Talmud, Abodah Zarah Mischnah Abodah Zarah Buch ben Rabbi Babylonischer Talmud, Megillah Jerusalemer Talmud, Sota

59 Pauli Warnung vor der Weiterfahrt aus den Schönen Häfen: Apg. 27, 9–11. 60 Apg. 27, 21–26. 61 Apg. 28, 3–6.

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Literaturverzeichnis Breusing, Arthur: Die Nautik der Alten, Bremen 1886. Cancik, Hubert: Religionsgeschichten. Gesammelte Aufsätze II, hg. von Hildegard Cancik-Lindemaier, Tübingen 2008. Cancik, Hubert: Historisierung von Religion – Religionsgeschichtsschreibung in der Antike (Varro –Tacitus – Walahfrid Strabo) (2001), in: Ders.: Religionsgeschichten, 28–41. Cancik, Hubert: Fremde Bilder. Kult und Kunst in den Talmud-Traktaten Abodah Zarah (2004), in: Ders.: Religionsgeschichten, 209–226. Cancik, Hubert: Wahrnehmung, Vermeidung, Entheiligung, Aneignung: Fremde Religionen bei Tertullian, im Talmud (AZ) und bei Eusebios (2006), in: Ders.: Religionsgeschichten, 227–236. Cancik, Hubert: Zur Verwissenschaftlichung des historischen Diskurses bei den Griechen, in: E. Blum, W. Johnstone, Ch. Markschies (Hrsg.): Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch? Münster 2005, 87–100. Die Reisebilder des Herakleides. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar mit einer Übersicht über die Geschichte der griechischen Volkskunde, von Friedrich Pfister, Wien 1951 (Sitzungsber. Oesterr. Ak. Wiss., Phil.-hist. Kl. 227, 2). Dölger, Franz Joseph: Dioskuroi. Das Reiseschiff des Apostels Paulus und seine Schutzgötter, in: Ders.: Antike und Christentum 6, 1950, 276–285. Goldschmidt, Lazarus: Der babylonische Talmud neu übertragen. Königstein, Ts. 1981 (Ndr. der 2. Aufl. Berlin 1967). Hadas-Lebel, Mireille: Le paganisme à travers les sources rabbiniques des IIe et IIIe siècles. Contribution à l’étude du syncrétisme dans l’empire romain, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II 19. 2, Berlin u. a. 1979, 397–485. Haensch, Rudolf: Capita Provinciarum. Statthaltersitze und Provinzialverwaltung in der römischen Kaiserzeit, Mainz 1997. Hengel, Martin: Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zu Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr., Tübingen 1969; 21973. Holzner, Josef: Paulus. Sein Leben und seine Briefe in religionsgeschichtlichem Zusammenhang dargestellt, Freiburg 1939. Korenjak, Martin: Die Welt-Rundreise eines anonymen griechischen Autors („PseudoSkymnos“), Hildesheim 2003. Lampe, Peter: Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte, Tübingen 1987. Leutzsch, Martin: Die Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums, in: R. Faber (Hrsg.): Politische Weihnacht in Antike und Moderne. Zur ideologischen Durchdringung des Fests der Feste. Würzburg 1997, 41–58. Meyer, Doris: Hellenistische Geographie zwischen Wissenschaft und Literatur, in: W. Kullmann u. a. (Hrsg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tübingen 1998, 193–218. Müller, Karl: Geographi Graeci minores I, Paris 1855. Olshausen, Eckart: Der Periplus zwischen Seehandbuch und Literatur, in: Periplus. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte, 23, 2013, 35–57.

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Preuss, Horst Dietrich: Verspottung fremder Religionen im Alten Testament, Stuttgart 1971. Rapske, Brian M.: Acts, Travel and Shipwreck. In: D. W. J. Gill and C. Gempf (eds.): The Book of Acts in Its Graeco-Roman Setting, Grand Rapids, MI 1994, 1–47 (The Book of Acts in Its First Century Setting, vol. 2). Reiser, Marius: Von Caesarea nach Malta. Literarischer Charakter und historische Glaubwürdigkeit von Act 27, in: F. W. Horn (Hrsg.): Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literaturgeschichtliche Aspekte. Berlin / New York 2001, S. 49–74. Strelan, Rick: Paul, Artemis, and the Jews in Ephesus, Berlin u. a. 1996. The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture. Ed. by Peter Schaefer, 3 vols., Tübingen 1998–2002. Theißen, Gerd: Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979. Thiessen, Werner: Christen in Ephesus. Die historische und theologische Situation in vorpaulinischer und paulinischer Zeit und zur Zeit der Apostelgeschichte und Pastoralbriefe, Tübingen u. a. 1995. Trebilco, Paul R.: The Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius, Tübingen 2004. Wittke, Anne-Maria / Eckart Olshausen, Richard Szydlak (Hrsg.): Historischer Atlas der antiken Welt. Der Neue Pauly Supplemente 3, Stuttgart – Weimar 2007.

Frühe Hochkulturen des Mittelmeerraums

Wolfgang Röllig Sprachen und Schriften im antiken Mittelmeerraum Wenn heute von „Kulturen des Mittelmeerraumes“ gesprochen wird, so erweckt das die Vorstellung einer Einheit von Klima, Vegetation, Küche und Kultur, die zwar im Zeitalter des Massentourismus scheinbar existiert, dies aber auch heute nur bei extrem oberflächlicher Betrachtung. Umso mehr gilt das vom Altertum, in dem die Anrainer dieser Region erst allmählich staatliche Institutionen und damit verbunden eigene für uns fassbare Kulturen und Administrationen herausbildeten. Es dürfte deshalb nicht überraschen, dass das Bild, das ich im Folgenden zu zeichnen habe, überaus uneinheitlich ist. Zunächst eine historische Prämisse: Schriftkultur ist in bestimmten Regionen des Mittelmeerraumes zwar schon vom 3. Jt. v. Chr. an nachweisbar, in größerer Diversifikation aber erst seit der 2. Hälfte des 2. Jt. Denn in dieser Zeit spielten sich historische Vorgänge ab, die wir heute unter dem Etikett „Seevölkersturm“ zusammenfassen und die offenbar zu einer völligen Umwälzung der ethnischen und institutionellen Situation der Region führten. Archäologisch gesprochen ist das die Epoche der ausgehenden Spätbronzezeit und der beginnenden Eisen-IZeit, absolut-chronologisch von ca. 1200 bis ca. 900 v. Chr. Über die Ursachen dieser radikalen Umwälzungen rätselt die Wissenschaft noch immer, doch scheinen dabei mehrere und recht verschiedene Faktoren eine Rolle gespielt zu haben: Erschütterungen des natürlichen Gleichgewichts durch Vulkanausbrüche (Thera) und Erdbeben; Klimaveränderungen und in der Folge davon Missernten und Hungersnöte; Seuchen und dadurch Entvölkerung mancher Landstriche; Einwanderung neuer, bisher unbekannter Volksstämme und Zerfall hergebrachter politischer Institutionen; innere Zwistigkeiten und Erbstreitigkeiten in scheinbar stabilen Dynastien; in der Folge Verlust der Zentralgewalt und Regionalisierung; Zusammenbruch der städtischen Zentren und Abwanderung der Bevölkerung bis zur Nomadisierung. Es folgte eine Periode der allmählichen Konsolidierung und Herausbildung neuer staatlicher Strukturen mit einem ebenfalls neuen kulturellen Umfeld, in das allerdings traditionelles Kulturgut einfloss. Folglich müssen wir auch für unsere Fragestellung zwei unterschiedliche Perspektiven wählen: Diejenige vor und die nach dieser Zeitenwende. Dass das sinnvoll und notwendig ist, wird sich gleich zeigen. Doch zuvor müssen wir noch den geographischen Raum abschreiten, den wir hier als „Mittelmeerraum“ bezeichnet haben. Beginnen wir im äußersten Westen, so ist das die iberische Halbinsel,

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vornehmlich Spanien, denn Portugal kann man ja nicht zu den Mittelmeeranrainern zählen, danach Südfrankreich und die Inseln Korsika, Sardinien und Sizilien, natürlich gefolgt von Italien. Unter Auslassung des Balkan folgen Griechenland und Kreta, dann die Türkei, Syrien und Libanon samt Zypern, Palästina und Ägypten - und mit Nordafrika schließt sich der Kreis. Für jeden, der diese Regionen kennt ist klar, dass bereits die naturräumlichen Voraussetzungen in vielen dieser Gebiete extrem unterschiedlich waren und sind. Das hat zur Folge, dass auch die jeweiligen kulturellen und staatlichen Entwicklungen ganz verschieden verlaufen. Allerdings profitieren alle diese Länder davon, dass bereits in der Spätbronzezeit die Seefahrt im Mittelmeer so weit entwickelt ist, dass Handel über große Distanzen hinweg getrieben werden kann. Auch wenn das zunächst lediglich Küstenschifffahrt ist, die natürliche Häfen nützt und auf die Meeresströmungen und konstanten Windrichtungen zu bestimmten Zeiten im Jahr angewiesen ist, so verband sie doch weit entfernte Gebiete und knüpfte kulturelle Kontakte, die bis zur Mitte des 2. Jt. v. Chr. noch nicht bestanden hatten. Diese Kontakte aber bedeuten Kommunikation. Es ist unmöglich, erfolgreich Handel zu treiben, ohne mit denjenigen, die liefern oder die man selbst beliefert, ins Gespräch zu kommen. Auch wenn – sehr viel später – Herodot1 von den Karthagern berichtet, dass sie mit den Libyern2 Handel trieben, indem sie ihre Waren am Strand ausbreiteten, durch Rauchzeichen auf sich aufmerksam machten und dann bei ihren Schiffen abwarteten, bis die Eingeborenen ihre Waren als Gegengaben hinlegten, dürfte das nicht die übliche Form des Handels gewesen sein. Vielmehr wird eine Erzählung der Odyssee Homers die Realität abbilden, die davon spricht,3 dass ein phönizisches Kauffahrteischiff im Hafen der Insel Syria für lange Zeit, ja sogar ein ganzes Jahr lag, Waren einhandelte und am Schluss mit Hilfe einer durch einen Phönizier verführten Amme sogar den Königssohn und reiches Tafelgeschirr erbeutete. Im Laufe dieser langen Zeit kam es natürlich zu intensiven – und nicht nur Liebes-Kontakten, so dass wir davon ausgehen können, dass auch „Kulturgüter“ – wie etwa Erzählungen historischen oder religiösen Inhalts – ausgetauscht wurden. Damit sind wir bereits in zwei Regionen, die nachweislich in Sprache und Schrift aufeinander einwirkten. Doch gehe ich noch einen Schritt zurück: Syrien ist uns dank erfolgreicher Ausgrabungen in seiner Brückenfunktion zwischen Ägypten und dem Zweistromland und in seiner historischen Entwicklung heute recht gut bekannt. Hier war bereits im 3. Jt. die im Südiraq entstandene und blühende Keilschriftkultur angekommen und hatte zur Verschriftung auch der eigenen Landessprache z. B. in Ebla geführt. Ein besonders charakteristisches und vielgestaltiges Bild bietet dann in dem uns interessierenden Zeitraum um 1300 v. Chr. die Hafenstadt Ugarit (heute: Rās Šamra) nahe Latakiye. Hier 1 Hdt. IV 196 2 Gemeint sind damit die Bewohner Afrikas jenseits der Säulen des Herkules. 3 Homer, Odyssee XV 402-482.

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wurden bei französischen Ausgrabungen Texte in akkadischer (babylonisch-assyrischer), hethitischer und hurritischer Sprache gefunden, vor allem aber solche in der einheimischen, dem Kanaanäischen nahestehenden ugaritischen Sprache. Auch sie wird, wie die akkadische, in Keilschrift auf Tontafeln geschrieben, allerdings meist in einer Abart der Keilschrift, die nicht Wörter und Silben, sondern lediglich die Konsonanten eines Wortes wiedergibt. Damit erweist sie sich als ein Ableger der wenig früher im kanaanäischen Raum – wohl unter ägyptischem Einfluss – entstandenen sog. Alphabetschrift, deren Zeichenformen sich sogar zum Teil im ugaritischen Alphabet wiedererkennen lassen. Es hat, entsprechend dem Lautstand des frühen Kanaanäisch, (in der Regel) 30 Zeichen, die rechtsläufig geschrieben werden. Auch die Folge der Konsonantenzeichen ist, wie „Alphabete“ beweisen, dieselbe wie später z. B. im Phönizischen und Hebräischen, nur dass einige Zeichen für Konsonanten, die nur dem Hurritischen eigen sind, und die Zeichen für Aleph mit inhärierendem Vokal am Ende der Alphabetreihe hinzugefügt werden. Diese Schrift wird fast ausschließlich für Briefe, Rechtsurkunden und mythologische Texte in ugaritischer Sprache und im ugaritischen Sprachraum verwendet, wurde im weiteren Umkreis wohl nicht verstanden und gebraucht. Dennoch ist das Beispiel Ugarit von besonderer Bedeutung, zeigt es doch, dass man es verstand, im Interesse der Kommunikation mit den Nachbarländern sich der dort gebräuchlichen Schriftsysteme zu bedienen, im internen Gebrauch aber seine eigene Tradition entwickelte und pflegte. Ugarit wurde im Zuge des Seevölkersturms zerstört und nicht wieder besiedelt. Die kleine benachbarte Hafenstadt al-Mina jedoch hat, nach der dort gefundenen Keramik zu schließen, engen Kontakt zur Ägäis und zum protogeometrischen Griechenland unterhalten und damit eine Tradition fortgeführt, die wir jetzt näher betrachten wollen. In Griechenland beginnt die Schriftkultur mit der Linear-Schrift A noch vor der sog. „Palast-Zeit“, d. h. vor ca. 1420 v. Chr. und findet sich, wahrscheinlich aus Kreta kommend, vor allem in Argos und Tiryns. Da die sehr kurzen Texte bisher noch nicht entziffert sind, lässt sich nicht sagen, welche Sprache die Erfinder und Nutzer dieser Schrift hatten. Das Bild ändert sich mit dem Aufkommen der Linear-Schrift B in der mykenischen Palastzeit, ca. 1420–1180v. Chr. Sie wird in Tontafeln eingeritzt und besteht aus ca. 160 Wort- und ca. 90 einfachen Silbenzeichen. Sie ist rechtsläufig und ist, soweit wir es aufgrund archäologischer Funde wissen, für die Administration in den nun dominierenden Palästen, z. B. in Pylos und Theben in Böotien, in Knossos und Chania auf Kreta geschaffen worden. Obgleich die erhaltenen meist kleinen Täfelchen nur ephemere Vorgänge registrieren, ist damit zu rechnen, dass auch längere Texte auf vergänglichem Material (Holz, Papyrus, Pergament) existierten. Die recht unvollkommen mit Hilfe dieser Schrift aufgezeichnete Sprache ist ein archaisches, mykenisches Griechisch. Naturgemäß sind religionshistorisch relevante Sachverhalte – abge-

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sehen von Götternamen wie z. B. Poseidon (po-se-da-o) – in dieser Sprache und Schrift nicht aufgezeichnet. Auch nach dem Untergang der mykenischen Palastkultur lebt dieses Schriftsystem weiter, allerdings nicht auf Kreta oder auf der Peloponnes, sondern auf Zypern in der kypro-minoischen Schrift (sog. Linear C). Sie dient dort zur Aufzeichnung der eteokyprischen Sprache einerseits, des arkadisch-kyprischen Dialekts des Griechischen andererseits. Allerdings hat diese Schrift, die bis ins 3. Jh. v. Chr. bezeugt ist, außerhalb der Insel keine Verwendung gefunden, ist letztlich für unser Thema bedeutungslos. Bleiben wir zunächst noch in der Spätbronzezeit, so treffen wir in Kleinasien eine etwas komplizierte Situation an. Zunächst: Die dominierende Schrift ist die Keilschrift, die in Kappadokien zwar schon in der Zeit der assyrischen Handelskolonien, d. h. ca. 1800 – 1680v. Chr. in Gebrauch gewesen war, aber speziell für die Niederschrift des zur indogermanischen Sprachgruppe gehörigen Hethitisch (Selbstbezeichnung: Nesisch) – wohl aus Nordsyrien – wieder eingeführt wurde. Die meisten Texte stammen aus der ehemaligen Hauptstadt Ḫattuša (heute Boğazkale) im Halysbogen und wurden dort bei Ausgrabungen seit 1906 vor allem von deutschen Archäologen geborgen. Der Typus dieser Keilschrift entspricht derjenigen des Babylonisch-Assyrischen, d. h. es handelt sich um eine Wort-Silbenschrift mit vor- oder nachgesetzten Determinativen. Die Tontafelarchive der Hauptstadt waren sehr umfangreich. Sie enthielten Texte ganz unterschiedlicher Entstehungszeit und Gattungen: Gesetzestexte, Staatsverträge, Rechtsurkunden, Briefe, historische Berichte, Gebete, Beschwörungen und Rituale. Sie sind in der semitischen akkadischen und in der indogermanischen hethitischen Sprache abgefasst. Darüber hinaus existieren Texte in Hattisch, d. h. der Sprache der anatolischen „Urbevölkerung“, verwendet nur noch in religiösen Texten mit Anrufungen hattischer Gottheiten in der diesen geläufigen Sprache. Ferner finden sich zahlreiche Texte in Hurritisch, einer weder semitischen noch indogermanischen Sprache. Sie sind wohl aus einer kultischen Tradition erwachsen, die wahrscheinlich durch hurritische Bevölkerungselemente in Nordsyrien und Nordwestanatolien, die diese Sprache des Mittani-Reiches sprachen, mitgebracht wurden. Damit nicht genug wurden noch die beiden indogermanischen Sprachen Palaisch und Luwisch gesprochen, letzteres vielleicht gleichzeitig mit dem Hethitischen und fast in dessen ganzem Sprachgebiet. Aufgrund der unterschiedlichen äußeren Erscheinungsform unterscheidet die Forschung zwischen dem Keilschrift- und dem Hieroglyphen-Luwisch. Letzteres ist weit verbreitet und wird auch noch nach dem Untergang des Hethiterreiches geschrieben. Es besitzt ein recht kompliziertes Schriftsystem, dessen „Hieroglyphen“ nichts mit denen Ägyptens zu tun haben. Vielmehr verwendet diese Schrift an Piktogramme erinnernde Logogramme (Wortzeichen) und ergänzende Silbenzeichen und Determinative. Da die Schriftrichtung nicht festgelegt ist, die Zeichen auch verschieden, d. h. in einer „klassischen“ oder einer vereinfachten Form geschrieben sein können, ist die Lesung und Deutung der oft nur kurzen

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Texte schwierig. Neben Inschriften auf Stempelsiegeln gibt es vor allem Monumentalinschriften auf Felswänden oder Orthostatenblöcken, aber auch Hinweise darauf, dass z. B. Holz – neben Blei – als Schreibmaterial für hieroglyphenluwische Texte diente. Das Weiterleben dieser anatolisch-indogermanischen Sprachtradition lässt sich im westlichen Kleinasien noch weiter verfolgen, da es vom 8. bis zum 3. Jh. v. Chr. ein kleines Korpus von Inschriften in Lykisch (in Lykien), Karisch (in Karien), Pisidisch (in Pisidien) und Sidetisch (in Side) gibt, die zwar dann das (z. T. abgewandelte) griechische Alphabet benutzen, ihrem Sprachbau und Lexikon nach jedoch zu den altanatolischen Sprachen zu stellen sind. Die Mittelmeeranrainer der Spätbronzezeit benutzten im internationalen Verkehr die Keilschrift und – als lingua franca – das Akkadische, wenn auch häufig mit lokalen sprachlichen Einsprengseln oder Glossen. Das wissen wir aus dem Archiv von Keilschrifttexten, das in Tell el-Amarna gefunden wurde, der von Pharao Amenophis IV. Echnaton gegründeten neuen Hauptstadt Ägyptens namens Achet-Aton. Zusammen mit der staatlichen Administraton war offenbar ein Teil der diplomatischen Korrespondenz aus Theben in die neue Hauptstadt verbracht worden und wurde dort 1887 von Beduinen entdeckt und durch spätere Ausgrabungen ergänzt. Die insgesamt 382 Tafeln enthalten in der Hauptsache die diplomatische Korrespondenz der Pharaonen der sog. Amarna-Zeit (Mitte 14. bis 13. Jh. v. Chr.) mit den gleichzeitigen Herrschern von Babylonien, Assyrien, Mittani, Hatti und Arzawa (Kleinasien), Alašiya (Zypern) und der Kleinstaaten Syrien-Palästinas. Thematisch kreisen diese Texte meist um Fragen der internationalen Beziehungen mit Geschenkaustausch, dynastischen Heiraten, militärischer und wirtschaftlicher Hilfeleistung. Sie belegen eindrucksvoll, dass das enge Geflecht diplomatischer Beziehungen mit der Hilfe der Keilschrift und der akkadischen Sprache aufrecht erhalten wurde, und dass damals bereits eine Art politischer Oekumene entstanden war. Zu ihr gehörten, und das ist besonders aufschlussreich, auch die Staaten an der libanesisch-palästinensischen Küste, in denen bereits damals die Anfänge eines neuen Schreibsystems erprobt wurden. In Ägypten selbst war die Keilschrift allerdings ein Fremdkörper, der – nach Ausweis des Amarna-Archivs – in der Kanzlei gelehrt und gelernt werden musste, wobei man neben Texten der babylonischen Schultradition auch literarische Werke wie z. B. den Unterweltsmythos von “Nergal und Ereškigal”, die Erzählung von “Adapa und der Südwind” benutzte. In Ägypten selbst wurde weiterhin das Schriftsystem der Hieroglyphenschrift für bestimmte traditionelle Aufgaben verwendet. Es besteht aus Ideogrammen (Bildzeichen), Phonogrammen (Lautzeichen) und Determinativen. Die Schriftrichtung ist nicht festgelegt, lässt sich aber an der Ausrichtung der Bildzeichen meist ablesen. Für den täglichen Gebrauch wurden die schönen aber oft recht komplizierten Bildzeichen als „hieratisch“ kursiviert. Daneben tritt in der Spätzeit (ab ca. 650 v. Chr.) das Demoti-

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sche, eine zwischen Neuägyptisch und Koptisch stehende und linksläufige Schrift, die den jetzt gegenüber dem klassischen Ägyptisch bereits stark veränderten Lautstand der Sprache Unterägyptens repräsentiert und bis ca. 450 n. Chr. in Gebrauch ist. Da sich das System der Hieroglyphenschrift schlecht zur Wiedergabe fremder Namen und Begriffe eignet, verwendet man im Neuen Reich sporadisch auch eine lautliche Variante, die sog. „Gruppenschrift“. Sie vereinfacht das System der Hieroglyphenschrift dahingehend, dass einfache Zeichen zur Notation von Silben Verwendung finden, wobei auch die Vokale berücksichtigt werden, so dass letztlich eine Art Silbenschrift als Vorstufe zu einer reinen Alphabetschrift entsteht. Allerdings setzt sich dieses Schriftsystem etwa für die Schreibung ägyptischer Texte nicht durch, sondern bleibt auf einige wenige Sonderfälle beschränkt. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass diese Sonderentwicklung auf die Ausformung der fast gleichzeitig in Syrien-Palästina aufkommenden Alphabetschrift eingewirkt hat. Folgen wir der Küstenlinie des Mittelmeers nach Westen, d. h. von Libyen bis nach Gibraltar, so kommen wir in eine Zone, in der für den Zeitraum bis zum Ende des 2. vorchristlichen Jahrtausends keine Überlieferung von Schriften und/oder Sprachen vorliegt. Das gilt dann auch von der iberischen Halbinsel, Frankreich und Italien, wo jeweils erst im 1. Jt. Schriften und damit auch Sprachgruppen nachweisbar sind, d. h. nach den großen Umwälzungen, die mit dem sog. Seevölkersturm zusammenhingen. Wie eingangs bereits erwähnt, bricht die relativ einheitliche Kultur des östlichen Mittelmeerraumes am Ende der Spätbronzezeit zusammen und gerade in den Anrainerstaaten des Mittelmeeres kommt es zu tiefgreifenden Veränderungen. Sie gehen einher mit einer neuen Technologie, der Verhüttung von Eisenerz, so dass diese neue Epoche im wissenschaftlichen Sprachgebrauch als „Eisenzeit“ bezeichnet wird. Diese Veränderungen haben ihre Ursache auch in dem Zustrom neuer ethnischer Gruppen, die wahrscheinlich sowohl auf dem Wege übers Festland als auch übers Meer kommen, sich in den Küstengebieten festsetzen und dort ihrerseits Wanderbewegungen oder Kolonisationen auslösen. Sie sind uns bekannt dadurch, dass fast zur gleichen Zeit die entscheidende Entwicklung der Schrift in Syrien-Palästina von statten geht, die sich in Ugarit bereits angekündigt hat: der Übergang von der Keilschrift, der Wort-Silben-Schrift, zur reinen Buchstaben- bzw. Konsonantenschrift. Die antike Tradition (Herodot; Euripides) verbindet die Einführung des griechischen Alphabets mit dem Namen des Kadmos, Sohn des Königs Agenor von Tyros (oder Sidon), der auf der Suche nach seiner Schwester Europa auf die Insel Kalliste (später: Thera/Santorin) kommt und deren Bewohnern das Schreiben lehrt. Nach einigen Abenteuern erreicht er auch Böotien und gründet dort am Fuße des Teumessos die Stadt Theben, deren König er wird. Diese Legende transportiert das Wissen davon, dass das Alphabet ursprünglich eine phönizische

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„Erfindung“ war. Seine Anfänge lassen sich, wie oben erwähnt, schon bis in die Mitte des 2. Jt. v. Chr. zurückverfolgen, wobei die Zone mit den Kulturkontakten zwischen kanaanäischer Keilschrifttradition und ägyptischer Hieroglyphenschrift in Südpalästina/Sinai offenbar besonders produktiv war. Jedenfalls gibt es sehr frühe, noch stark piktographische Texte (Steininschriften) im Kultbezirk eines Hathor-Tempels bei den Türkis-Minen von Serabit el-Khadem im Sinai, die sich – jedenfalls teilweise – lesen und verstehen lassen. Ganz ähnlich und wahrscheinlich nicht auf Ägypter sondern auf Semiten zurückzuführen sind die jüngst entdeckten Inschriften vom Wadi el-Hol westlich von Luxor, die vielleicht noch etwas älter sind als die vom Sinai. Die frühe Alphabetschrift zeigt schon alle Charakteristika der späteren phönizischen Konsonantenschrift, d. h. die Zeichen haben sich bereits von der ursprünglichen bildlichen Bedeutung gelöst und nach dem akrophonischen Prinzip klare Lautwerte angenommen, die den Phonemen, d. h. den kleinsten bedeutungsunterscheidenden lautlichen Einheiten der phönizischen Sprache entsprechen, z. B. das Bild eines Hauses (phön. bait) für den Konsonanten 〈b〉, die Zeichnung einer Wasser(welle) (phön. mayim) für den Konsonanten 〈m〉, die Zeichnung eines Rind(erschädel)s (phön. ʾalp) für den nur dem Semitischen eigenen „Knacklaut“ Alef am Silbenanfang usw., insgesamt ein Bestand von lediglich 22 Konsonantenzeichen. Determinative sind unbekannt. Auch Worttrennung durch Spatien, Punkte oder Striche wird zunächst nicht durchgeführt. Dieses Schriftsystem setzt bereits voraus, dass Silben getrennt und das konsonantische „Gerippe“ eines Wortes erkannt und isoliert werden können. Diese Vorleistungen der Keilschrift (Silben) und der ägyptischen Hieroglyphenschrift (Konsonanten) werden bei der frühen Schriftschöpfung dankbar benutzt und radikal vereinfacht. Nach einer Experimentierphase, in der die Zeichenformen und auch die Reihenfolge der Zeichen in den für den Schulbetrieb erforderlichen Abecedarien noch variieren, bildet sich um 1000 v. Chr. das phönizische Alphabet heraus, das zur Urmutter der meisten semitischen aber auch aller europäischen Schriften wird. Die Benennung „phönizische Schrift“, griech. phoinikeia grammata, erhält seine Berechtigung dadurch, dass die längsten vollständigen und inhaltlich klaren Inschriften aus dem phönizischen Raum stammen, vor allem aus Byblos (Inschrift am Deckel des Sarkophags des Königs Achirom, um 1000 v. Chr.). Da von den Städten der Levanteküste – vor allem Sidon, Sarepta, Tyros – ausweislich der Berichte, die das Alte Testament darüber erhalten hat,4 schon in der frühen Eisenzeit Handel im gesamten Mittelmeerraum getrieben wird, verbreitet sich diese Schrift dort wohl recht schnell, ohne dass wir bis heute den genauen Zeitraum und die jeweiligen Orte exakt bestimmen können.5 4 Fahrten nach Tarschisch 1 Reg 10, 22; 2Chron 9, 21; vgl. auch Jes 2, 16; Ps 48, 8; 72. 10 u. ö.;

nach Ophir 1Reg 9, 28; 10, 11; 1Chron 1, 23 u. ö.

5 Z. B. wird die sehr alte Inschrift von Nora auf Sardinien CIS I 144 an das Ende des 9. Jh.

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E i n e Entlehnung des frühen Alphabets wird aber besonders bedeutsam und führt zu einer sehr wesentlichen Erweiterung und Vereinfachung, die durch die Griechen. Als sie, wahrscheinlich im frühen 8. Jh. v. Chr., die Bekanntschaft der Konsonantenschrift machen, stellt sich rasch heraus, dass diese für ihre Sprache, die einen größeren Vorrat an Phonemen hat, nicht ausreicht und dass die alleinige Wiedergabe der Konsonanten nicht genügt, um im indogermanischen Griechischen Eindeutigkeit durch die Schrift zu erreichen. Deshalb ist man genötigt, den 22 phönizischen noch drei weitere Konsonantenzeichen und ein weiteres Vokalzeichen zuzufügen: Phi – Xi – Psi und Omega, Zeichen, die man an die bereits feststehende Konsonantenreihe der Abecedarien am Schluss anhängt – ebenso wie das schon einmal beim ugaritischen Keilalphabet geschehen war. Noch wichtiger ist aber, dass einige Zeichen des phönizischen Alphabets, vor allem die für die Laryngale ʾ, ḥ, ʿ im Griechischen keine Entsprechung haben. Sie werden deshalb zum Teil umfunktioniert und zur Darstellung von Vokalen verwendet; Aleph (ʾ) für 〈a〉, Jota (y) für 〈i〉, Waw (w) für 〈u〉 und Digamma und He (h) für 〈e〉 oder 〈ē〉. Auch die dem Phönizischen eigene Differenzierung von vier Zischlauten: Samek (stimmloses 〈s〉), Zayin (stimmhaftes 〈s〉), Ṣade (Affrikata 〈ts〉) und š (〈sch〉) kennt das Griechische nicht, das folglich für sein eigenes 〈s〉 zwar das Zeichen Sigma verwendet, das phön. Samek jedoch für Xi (〈ks〉) und das phön. Ṣade für ein kurzlebiges 〈san〉 (neben s). Mit diesen Neuerungen ist nun das geschaffen, was wir eine „Vollschrift“ nennen, in der – weitgehend – jedem Phonem ein Schriftzeichen entspricht. Um es recht zu verstehen: Das geschieht auf der phonemischen und nicht der phonetischen Ebene. Für letztere ist erst in jüngster Zeit eine internationale phonetische Schrift eingeführt worden. Die Verbreitung der griechischen Vollschrift war, wie man sich denken kann, kein ganz einfacher Prozess, der auch an verschiedenen Orten in unterschiedlicher Geschwindigkeit verläuft. Deshalb verwundert es nicht, dass zunächst einige leicht variierende Alphabete nebeneinander bestehen, so auf Kreta, in Euböa und Lakonien, in Attika, in Korinth und Rhodos. Sie unterscheiden sich hauptsächlich bei den zusätzlichen Zeichen, werden aber allmählich vereinheitlicht, da sich, parallel zu politischen Entwicklungen, die ionische Variante von Attika, auch „milesisches Alphabet“ genannt, durchsetzt. Man schreibt zunächst nur Großbuchstaben (Majuskeln) und wie das Phönizische linksläufig, bald aber auch boustrophedon, „wie das Rind (beim Pflügen) wendet“, d. h. die erste Zeile von rechts nach links, die nächste dann von links nach rechts usw., ab etwa dem 4. Jh. v. Chr. nur noch rechtsläufig. Früheste Zeugnisse der griechischen Alphabetschrift sind die sog. „Dipylon-Kanne“ aus Athen (um 740 v. Chr., linksläufig) und der sog. Nestor-Becher aus Pithekousai / Ischia (wenig jünger), die beide bev. Chr. datiert.

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reits einen kurzen Text in literarischer Formung tragen. Das belegt eindrücklich, dass die Schrift im griechischen Kulturkreis von Beginn an nicht allein zur Aufzeichnung wirtschaftlicher Vorgänge Verwendung findet, sondern ursprünglich mündliche Traditionen in das neue Medium der Schrift überführt werden. Sowohl die phönizische als auch die griechische Schrift treten nun, d. h. ab dem 7. Jh. v. Chr. ihren Siegeszug im Mittelmeerraum an. Bleiben wir zunächst bei der griechischen, so verbreitet sie sich offenbar rasch im östlichen Teil der Ägäis und Kleinasiens und wird dabei von verschiedenen älteren Kulturen adaptiert. So von den Phrygern in Zentralanatolien, die vor allem in Gordion ältere Texte in einer vom Griechischen abgeleiteten Schrift hinterlassen haben, ab dem 1. Jh. n. Chr. dann Inschriften in rein griechischem Alphabet. Ferner von den Lykiern, deren als Lykisch D oder auch Milyisch bezeichnete Sprache ebenfalls im westgriechischen Alphabet aufgezeichnet wird; so auch das Sidetische, das in der Stadt Side und ihrer Umgebung in Pamphylien gesprochen wird. Das trifft auch vom Karischen zu, der anatolischen Sprache der Karer, die die südwestliche Küste Kleinasiens bewohnten. Ganz anders gehen die Lyder mit dem griechischen Alphabet um, die im Westen Kleinasiens – mit Hauptstadt Sardes – leben und eine dem Luwischen verwandte Sprache sprechen. Sie benutzen zwar dessen Zeichenformen, ergänzen sie aber durch andere Zeichen und ordnen den insgesamt 45 Einzelzeichen ganz andere Lautwerte zu, so dass die nicht sehr zahlreichen lydischen Texte des 8. bis 3. Jh. v. Chr. lange Zeit unentziffert blieben. Man ersieht daraus, dass die Verbreitung des Alphabets durchaus noch nicht zur Folge hatte, dass auch die kulturelle Entwicklung der Staaten, die es benutzen, künftig einheitlich verläuft. Vielmehr durchläuft sie oft eine „Experimentierphase“, die erst durch einen politischen Willen beendet und in eine neue Phase der Einheitlichkeit überführt werden muss. Das geschieht letztlich dadurch, dass nach dem Zusammenbruch Assyriens und Babyloniens 539 v. Chr. die Achämeniden weite Teile des Vorderen Orients unter ihre Vorherrschaft bringen und für die zahlreichen Völkerschaften, die damit in eine Verwaltungseinheit mit Sitz in Ekbatana überführt werden mussten, die aramäische Schrift und Sprache als neue lingua franca bestimmen. In der Nachfolge von H. H. Schaeder sprechen wir heute von „Reichsaramäisch“, das schließlich eine Verbreitung von Persepolis bis zu den Dardanellen und bis nach Elephantine am 1. Katarakt des Nils findet. Es ist infolgedessen diejenige Form des phönizischen – nun in der Form des aramäischen – Alphabets, die räumlich und zeitlich die größte Ausdehnung erreicht. Doch gehen wir noch einen Schritt zurück: Die Phase des Umbruchs der Mittelmeerwelt war im 9. Jh. v. Chr. beendet und im Verlauf der Konsolidierung entstehen nicht nur in Kleinasien, sondern auch in Syrien-Palästina Stadt- oder Kleinstaaten, die sich zunächst weitgehend der phönizischen Schrift, teilweise auch der phönizischen Sprache, zur Kommunikation und Außenrepräsentation bedienen. Da ist z. B. der Karatepe, eine Bergfestung am Oberlauf des CeyhanFlusses in Kilikien, deren Fürst Azatiwadda um 740 v. Chr. seine Taten und sei-

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ne Bautätigkeit in einer langen Inschrift verewigt, die sowohl in Luwisch und der entsprechenden Hieroglyphenschrift als auch in phönizischer Sprache und Schrift abgefasst ist. Es ist der längste bisher bekannte phönizische Text überhaupt. Seine Schrift ist die sorgfältig eingemeißelte phönizische Monumentalschrift des 8. Jh. v. Chr. Sie wird auch an anderen Orten Kilikiens und Nordsyriens gebraucht, z. B. in dem nicht weit vom Karatepe entfernten Fürstensitz Samʾal, heute Zincirli in der türkischen Provinz Hatay, wo der Stadtfürst Kulamuwa um 820 v. Chr. noch die phönizische Sprache und Schrift gebraucht, seine Nachfolger wenig später jedoch ihren einheimischen Dialekt in phönizischen Lettern verewigen, wo aber vom 7. Jh. v. Chr. ab auch schon das dann dominierende Aramäische in der gleichen Schrift geschrieben wird. Durchaus vergleichbar ist die Entwicklung in den Staaten Syriens und der Levante, z. B. in Hama, in Damaskus, dann aber auch in Palästina, wo sowohl in Samaria als auch in Jerusalem jetzt die eigene Sprache mit den phönizischen Lettern, allmählich in lokalen Ausprägungen, in zunächst nur kurzen Inschriften notiert wird. Ebenso verläuft die Entwicklung in den Anrainerstaaten Edom, Moab und Ammon, so dass etwa im 7./6. Jh. v. Chr. überall eine Schreibkultur in Entwicklung begriffen ist, die sich von der Keilschrift der Assyrer, die jetzt zeitweilig die politische Vormacht haben, deutlich unterscheidet. Allen diesen Sonderentwicklungen ist eigen, dass sie sich rein äußerlich, d. h. in der Formung der Schriftzeichen, nicht prinzipiell aber in Details unterscheiden, dass sie aber insoweit eine innere Kohärenz haben, als man sich mit dieser Schrift wohl bereits über die Sprachgrenzen hinweg verständigen kann. Auch hier wird allerdings die persische Verwaltung der Achämeniden vom 6. Jh. v. Chr. an für eine Vereinheitlichung sorgen, die die lokalen Schriftformen und sprachlichen Besonderheiten zunächst zugunsten des Aramäischen einebnet, bis schließlich auf dieser Basis und mit der von den arabischen Kaufleuten am Roten Meer verwendeten Schrift und Sprache der Islam seinen Siegeszug antritt. Natürlich behalten die phönizischen Städte ihre angestammte Schrift bei, doch werden sie infolge ihrer ausgedehnten Handelsbeziehungen zu Multiplikatoren besonderer Art. Die Expansion und Kolonisation, die von diesen Städten – vor allem Sidon und Tyros, aber wahrscheinlich auch Byblos und der Insel Arwad, – ausgeht, greift auf die Inseln, zunächst Zypern, wenig später auch Malta, Sizilien, Sardinien, Pantelleria über und erfasst Nordafrika von Libyen bis Marokko (Mogador). Punisch nennt man die phönizische Sprache, die in Nordafrika eine eigene Entwicklung nimmt und dort die einheimischen Sprachen, jedenfalls Berber-Dialekte, allmählich überlagert bzw. verdrängt. Immerhin wird, wahrscheinlich zur Zeit des Numiderkönigs Massinissa (ca. 238–149 v. Chr.), eine eigene libysche Konsonantenschrift geschaffen, die in zahlreichen, meist sehr kurzen Inschriften überliefert ist und die Basis für das noch heute von den Tuareg verwendete Tifinagh bildet. Nach der Zerstörung Karthagos durch die Römer

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(146 v. Chr.) lebt das Punische noch lange – als Neu- bzw. Spätpunisch – weiter und wird später gelegentlich sogar mit dem lateinischem Alphabet geschrieben. Karthago wird (nach Timaios6) 814/13 v. Chr. gegründet, doch erreichen die phönizischen Schiffe auf der Suche nach Silber auch die iberische Halbinsel (Gründung von Cathagena am Kap von Palos7 usw.) und die Insel Ibiza. Wahrscheinlich angeregt durch die Phönizier oder später die Griechen wurden hier und in Südfrankreich, wo verschiedene z. T. keltische Sprachen gesprochen wurden, vor Beginn der römischen Herrschaft mehrere Schriften entwickelt, die formal Ähnlichkeit mit den sie initiierenden Schriften hatten, sich aber im Schrifttyp deutlich von den Vorläufern unterscheiden. Nach heutigem Kenntnisstand gibt es eine Keltiberische, eine Nordostiberische, eine Südostiberische, eine Südlusitanische und eine Graeko-iberische Schrift. Sie alle sind keine reinen Alphabetschriften, sondern verwenden neben den Konsonanten- und Vokalzeichen auch solche, die Konsonanten mit inhärierendem Vokal bezeichnen. Da die in diesen Schriften geschriebenen Texte in Anzahl und Umfang sehr gering sind, haben sie wahrscheinlich keinen spürbaren Einfluss auf die benachbarten Kulturen ausgeübt. Ähnlich vielgestaltig ist die Situation in Italien, wo wenigstens vier Sprachgruppen existierten, von denen die Tyrsenische und die Latinische am bekanntesten und besten überliefert sind. Zum nicht indoeuropäischen Tyrsenischen gehört das Etruskische, das einen nördlichen und einen südlichen Dialekt besitzt und seit ca. 700 v. Chr. das altitalische Alphabet für seine Sprache nutzt. Das ist eine linksläufige Variante des griechischen Alphabets, die wahrscheinlich in der Mitte des 8. Jh. v. Chr. mit griechischen Kolonisten aus Chalkis oder Eretria zunächst nach Pithekusa und nach Kyme in Kampanien kommt, sich dann rasch ausbreitet und auch zur Niederschrift von indoeuropäischen Sprachen, nämlich des Venetischen, des Oskischen und des Umbrischen dient. Zum Latinischen gehört auch das Faliskische, das in zahlreichen Inschriften und ebenfalls dem altitalischen Alphabet überliefert ist, das im 3. Jh. v. Chr. definitiv durch das lateinische abgelöst wird. Dieses besitzt letztlich 26 Zeichen, da im 2. Jh. v. Chr. die stimmlose velare Plosive [k] – geschrieben C – von der stimmhaften Plosive [g] durch einen kleinen Strich – nun geschrieben G – unterschieden wird und griechisch Ypsilon, dem etruskischen Alphabet folgend, für [u] (und [ü]) verwendet, später wieder in der Schreibung von griechischen Namen und Begriffen übernommen wird. Auch das dem Lateinischen fremde Z [dz] wird beibehalten, aber – wie noch heute – an das Ende des Alphabets gestellt. Im Gefolge der Expansion des römischen Reiches verbreitet sich dieses Alphabet dann im gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus. Eine Besonderheit sei noch angeführt: Etwas nördlich von Rom lag in Latium die etruskische Stadt Caere, heute Santa Severa, mit einem wichtigen Hafen und 6 F. Jacoby, Fragmente der griechischen Historiker (Berlin/Leiden) 566 Frgm. 60. 7 Polybios X 8, 2; 10, 1–5.

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Emporion. Von zwei Tempeln, die dort bei Grabungen gefunden wurden und die an das Ende des 6. vorchristliche Jahrhundert datiert werden, war der eine einer Göttin geweiht, die in einer etruskischen Weihinschrift als Uni (Juno), im punischen Pendant dieser Inschrift aber als Astarte bezeichnet wird. Es ist das bisher einzige frühe Zeugnis für die Übernahme der punischen Sprache und Schrift nach Italien und Latium. Anders ist der Befund in Süditalien und auf den Inseln. Während in der Magna Graecia samt Sizilien das Griechische mit seinem Alphabet dominiert, ist auf Sardinien im Küstengebiet phönizisch-punischer Einfluss vorherrschend. Die vorhergehende Nuraghenkultur war nach heutiger Kenntnis illiterat. Auch nach der militärischen Übernahme der Insel durch die Römer im 1. Punischen Krieg (238 v. Chr.) bleibt Sardinien kulturell mit Nordafrika verbunden; neupunische Inschriften sind noch bis in römische Zeit (Anfang des 3. Jh. n. Chr.) bezeugt. Fassen wir zusammen: Die Anrainerstaaten des Mittelmeeres hatten, – schon bedingt durch die naturräumlichen Vorraussetzungen, d. h. starke Zergliederung der Küsten, zahlreiche Inseln, – in den uns fassbaren historischen Perioden ein sehr vielgestaltiges sprachliches Profil. Die Welt der Spätbronzezeit wird beherrscht von zahlreichen, wohl indigenen Sprachen, die bereits dazu tendieren, sich zur gemeinsamen Verständigung eines fremden Schriftsystems, der babylonischen Keilschrift, zu bedienen. Mit dem Zusammenbruch dieser Oekumene um 1200 v. Chr. setzen sich zunächst wieder lokale Tendenzen durch, die aber bald dadurch abgelöst werden, dass das in der Levante schon in der Mitte des 2. Jt. v. Chr. entwickelte System der phönizischen Konsonantenschrift von den Griechen übernommen und in modifizierter Form als Vollschrift zunächst in der Ägäis und in Kleinasien verbreitet wird. Mit der Übernahme als altitalische Schrift wird sie zur Mutter der lateinischen, die im westlichen Mittelmeerraum die Vorherrschaft über eine größere Anzahl lokaler Schriften gewinnt. Im Osten bleibt lange Zeit, d. h. bis zu den Byzantinern, griechische Schrift und Sprache bestimmend, doch kommt es daneben bereits früh durch die Verwaltung der Achämeniden zu einer Verbreitung der aramäischen Sprache und Schrift und damit einhergehend zu einer formalen Modifikation der semitischen Konsonantenschrift, die ihrerseits zwar regionale Besonderheiten – etwa Nabatäisch, Palmyrenisch, Hatrensisch usw. – herausbildet, aber letztlich eine Einheit von Sprache und Schrift vorbereitet, die mit der arabischen Eroberung den ganzen Nahen Osten umfasst.

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Amir Gilan A Bridge or a Blind Alley? Hittites and Neo Hittites as Cultural Mediators∗

The relations between the Hittites and the West have aroused controversy since the dawn of Hittite studies. As early as 1924, the Swiss scholar Emil Forrer linked the name Aḫḫiya(wa), found in the newly excavated and deciphered Hittite texts, with the Achaeans, the Mycenaeans of Bronze Age Greece. His suggestion to connect Aḫḫiya(wa) as well as other names with the Homeric world was accepted by some scholars but vehemently opposed by others, most notably by the philologist Ferdinand Sommer. In 1932, Sommer published his book, Die Aḫḫijavā Urkunden, collecting all of the pertinent Hittite texts available at the time. In the very first sentence in the foreword, he reveals that he wrote the book against his own will, but only because he was repeatedly pressed to write it by several “Vertreter der althistorischen Disziplin” (Sommer 1932, ix). Further in his foreword, Sommer makes no secret of the fact that the purpose of his endeavor was to present the historians for whom he wrote with a rigorous and critical evaluation of Forrer’s work and to strip it of any form of reconstruction or interpretation. Evidently, those historians were reluctant to accept that the Homeric Greeks were attested in Hittite texts. Almost 80 years after Sommer, Beckman, Bryce and Cline present in their almost eponymous book, The Aḫḫiyawa Texts (2011), practically the same Hittite documents with only a few new texts added. The affiliation of these new additions to the corpus is, however, highly controversial. By now, scholarship has securely identified the land of Aḫḫiyawa with the Mycenaean world of the Late Bronze Age. The texts record ongoing contacts of varying quality between Hittites and Mycenaeans starting in the 15th century BCE and ending with the demise of both kingdoms almost three centuries later. More significantly, the academic atmosphere has changed considerably in the time that elapsed between publication of the two books. During this time, mod∗

A preliminary version of this paper was presented at the International Conference “Ancient Greece and Ancient Israel: Interactions and Parallels (10th–4th Centuries BCE)” which took place from October 28–30, 2012 at Tel Aviv University. I would like to thank the organizers Irad Malkin and Alexander Fantalkin, also Achim Lichtenberger for his kind invitation to contribute to this volume and Ilya Yakubovich who kindly shared his unpublished work with me.

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AMIR GILAN

ern scholarship had established what Herodotus knew long ago, that ancient Greek religion owes much to the Ancient Near East. In a recent book on Greek and Near Eastern cultural interactions (2010), Carolina López-Ruiz feels that she must warn her readers against what she calls “reverse orientalism”, the tendency to go to the opposite extreme and consider Ancient Greece as a mere supplement to the Ancient Near East. Hittite Anatolia plays an important role in the discussion about eastern influences on Greek religion. It is true that by the time Herodotus wrote his histories, the Hittite Empire was long forgotten but the advancement of Hittite Studies in the twentieth Century has somewhat corrected the picture. Cultural borrowings and parallels between Hittite Anatolia and the Aegean world were detected already at the dawn of Hittite studies, in the second quarter of the twentieth century, especially in the fields of mythology, religion and literature. As early as 1930 the German Indo-Europeanist Walter Porzig noted the close parallels between the Hittite versions of the dragon slayer myth, the so-called Illuyanka-text and the Greek Typhon traditions. Six years later, it was again Emil Forrer who was the first to recognize that the Hurro-Hittite Kumarbi cycle contains many elements featured in early Greek traditions, particularly in Hesiod’s Theogony. In the late 1940s, Hans Gustav Güterbock in his classic edition of the Hurro-Hittite Epic of Kumarbi drew attention to its remarkable influence on the Hesiodic myth of succession. Recent years have seen a plethora of studies dedicated to the similarities between the Hittite and the Greek worlds, most notably in epic-mythological literature and cultic and ritual practices.1 The dragon slayer stories and the mytholiterary compositions of the Kumarbi “cycle” remain, however, to this day the most striking examples of cultural borrowings in which Hittite texts are involved. This paradigm shift in the study of ancient Mediterranean religion suggests viewing it as an intercultural system, extending beyond regional, political and linguistic borders, drawing upon “a common reservoir of religious practices, tropes, ideas, and cultural strategies and institutions …” (Pongratz-Leisten 2011, 4; see also Haubold 2013). This notion goes hand in hand with a dynamic concept of culture, replacing older organismic notions of culture as preexisting, preeminent and deterministic (Fox 1985; Sökefeld 1997; Sökefeld 2001). The anthropologist Fredrik Barth warns against a notion of culture as “a mode of representation where any particular manifestation is transformed to an abstraction – ‘culture’ – which is treated as internally homogeneous and shared, and externally bounded” (Barth 1987, 84). Rather than predetermining human action, culture is rather a product of it. Richard G. Fox advocates in his study of Sikhism, the Lions of the Punjab (1985) a notion of culture which he denotes as a “Culture in the Making”, which (Fox 1985, 197): 1 See among many others, the recent articles in the Journal of Ancient Near Eastern Religions

vol 6 (2006); the essays in Collins, Rutherford and Bachvarova 2008; the overview in Collins 2010 and the articles in Mouton, Rutherford and Yakubovich 2014.

HITTITES AND NEO HITTITES AS CULTURAL MEDIATORS

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“… only exists as it happens. Each moment of history gives new alignments and relationships, new interactions and oppositions. As people build their current culture out of pieces of the old and live out their material conditions in new ways, so their social world takes on new configurations … Culture then is not a house already constructed in which minor changes in decor and some repairs are permitted. The culture of any single time is a selective construction from the debris and standing structures of the past–contemporary individuals and groups take pieces, not the pattern, of the past and form them into new social arrangements.”

Thus, culture is not invented every time from scratch but is rather based on intentional participation in the practice of existing traditions. Traditions in turn are always associated with social institutions and their individual forms of participation, communication, distribution and delineation (Barth 1987, 77; Sökefeld 1997, 36–37). A somewhat similar shift of attention to the choices taken by the participants in cultural exchange and their motivations is suggested by Johannes Haubold in his recent book Greece and Mesopotamia Dialogues in Literature (2013). This dynamic notion of “Culture in the Making”, the idea that culture is constantly produced by intentional reactivation and reshuffling of older traditions, is especially applicable for the description of both Hittite (Gilan 2008) and NeoHittite (Gilan 2004) “Cultures”. Hittite “Culture” – which actually refers to the cultural choices of the extended Hittite royal family – can be best described as the dynamic product of a long-term transculturation process. Throughout Hittite history, Hittite “Culture” integrated a variety of cultural, religious and linguistic elements – Hittite, Hattian, Luwian, Palaic, Hurrian, North Syrian, Kizzuwatnean and Mesopotamian – producing each time a unique constellation of cultural elements. The Old Hittite kingdom remained bonded with local, central Anatolian traditions. The Empire Period, beginning in the 15th century BCE, marked a new phase in the history of Hittite religion and literature, in which new literary and religious traditions were acquired. These traditions, mostly in Hurrian, originated from Syria and especially from Kizzuwatna, classical Cilicia (Archi 2003; Miller 2004; Strauß 2005; Strauß 2006). Towards the end of the empire, many aspects of Hittite “Culture” were Luwian tinged (Melchert 2003; Yakubovich 2010a; Mouton, Rutherford and Yakubovich 2013). Cultural and ethnic tagging in the Neo-Hittite World is just as complex (Von Dassow 1999; Novák 2002; Gilibert 2011, 9–10). Zincirli (ancient Sam’al), capital of the kingdom of bīt-Gabbari, situated on the eastern slope of the Amanus range, may serve as a good example.2 Sam’al was founded by a certain Gabbar, considered to be a tribal chieftain of Aramaean origins. The earliest monumental inscription originating from Zincirli was “authored” by Kulamuwa, who reigned 2 Wartke 2005; Bryce 2012, 169–175; on the Aramaeans see now Niehr 2014.

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four generations after Gabbar (Bryce 2012, 171). Unlike his predecessors, Kulamuwa bore a Luwian name; his inscription, however, was written in Phoenician. Some of his successors (Panamuwa I and II) had Luwian names; some of their immediate successors, even sons, had Semitic names (Barsur, Bar-Rakib). The inscriptions of the Sam’alian kings that ruled after Kulamuwa were written in the local Sam’alian dialect and one inscription of Bar-Rakib in “Mesopotamian Aramaic” (Bryce 2012, 325, n. 22). Some of the deities venerated in Sam’al were of Luwian origins; others were Semitic (Novák 2004; Niehr 2004; Yakubovich 2010). Sam’alian monumental art, iconographic repertoire and civic architecture were all typical of other Neo-Hittite cities, such as Carchemish (Pucci 2008; Gilibert 2011). In contrast, monumental hieroglyphic Luwian inscriptions have not been found so far in Zincirli, only on seals, one of them on a signet ring of BarRakib (Bryce 2012, 172). Reconstructions of the social and ethnic history of Sam’al, based on this kind of cultural bricolage, are therefore tentative at best. Consequently, one should be aware of the pitfalls of interpretation based on a preeminent notion of culture in which a presumed affiliation to a culture X or to an ethnic group Y predetermines the way people act. Caution is also required for interpretations concerning other regions in the Neo-Hittite world. Gilibert (2011, 9–10) notes that “it is difficult to find any cultural feature that may function as ethnic marker in the Syro-Anatolian region” (see also von Dassow 1999, 249). It seems that when viewed over time, both the Hittite royal family who ruled an empire and the kings of the tiny kingdom of Sam’al shared a very dynamic notion of culture; adopting and practicing elements of different traditions and endowing them with new meanings. Cultural exchange was apparently the norm and should therefore be considered a given. It is the occasional reluctance to adopt the new rather than the readiness to endorse it that should be studied and reflected upon. For example, it was shown by Barbara Neveling-Porter (2003, 66–67) that despite a century and a half of Assyrian domination in Sam’al, the kings in Zincirli retained much of its local culture – as we have seen an amalgam of different traditions in itself – intact. They built palaces and Hilanis according to western rather than Assyrian tradition, and they commissioned monumental art and inscriptions in the local style and (mostly) in local languages. Even pottery production remained mostly local. The situation in Sam’al is contrasted by Neveling-Porter (2003, 64–66) with the almost fully Assyrianized Til Barsip. Returning to the question of the nature and scope of cultural exchange between the Hittites and Aḫḫiyawa, one has to admit that from a broader historical perspective the evidence which suggests that the encounters documented in the Aḫḫiyawa dossier led to large-scale cultural exchange is rather meagre. Most encounters of religious nature between Anatolians and Mycenaeans in the Late Bronze Age took place at the interface between the two worlds – on the western coasts of Anatolia. A case for cultural exchange at the interface was made by Sarah Morris (2001) in her suggestion to trace the origin of Potnia Aswiya, attested at

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Pylos, to Anatolia. Morris also connects her with Ephesia, the great goddess of Ephesus, whose appearance replicated in classical statues is considered to be inspired by Anatolian religious iconography.3 In a recent article, Millington (2013) explores a possible syncretism between the Greek god Ares and the Luwian god Iyarri, based on a study of Greek cult centers in western Anatolia, devoted to the cult of the former. However, western Anatolia never fully belonged to the Hittite cultural sphere. It was politically divided and notoriously unstable (Heinhold-Krahmer 1977; Bryce 2005, passim); archaeologically, the region shows a great deal of regional, cultural and social diversity, but evidence for longterm Hittite cultural influence, let alone dominance, is so far lacking.4 The role of the Luwians in western Anatolia in general and their role as cultural mediators at the western Anatolian interface in particular are now being fiercely debated.5 The Aḫḫiyawa dossier also documents direct contacts between the two capitals. These took place in the form of regular diplomatic correspondence between the palaces of the Late Bronze Age, involving a regular exchange of envoys, letters and gifts. The correspondence between the Hittites and Aḫḫiyawa, which was conducted in Hittite, not in Akkadian, may suggest, as was already noted by several scholars, that scribes who knew Hittite and could read cuneiform were present in the palace of the king of Aḫḫiyawa. In this scribal environment, literary texts and other compositions that belonged to the scribal school curriculum were exchanged. One text that documents another mode of cultural exchange between the two palaces is the famous oracle report KUB 5, 6 ++, dating to the reign of Muršili II or Ḫattušili III, which questions among many other issues the appropriate treatment of two deities of Aegean origin.6 The two deities, the deity of Aḫḫiyawa and the deity of Lazpa (the island of Lesbos), were apparently brought to Ḫattuša in an attempt to cure the ailing king (§ 24, Beckman, Bryce and Cline 2011, 193–194). According to the protocol, the practitioner asked the oracle whether it was permitted to treat the two Aegean deities according to the same cult regimen that was offered to the personal deity of his Majesty, the third deity mentioned in the inquiry. It was ascertained that the two Aegean deities agreed to receive offerings in the local manner of Ḫattuša. From other oracle entries, we know that foreign deities could insist on receiving cultic treatment according to the practices and customs of their land of origin as well. Earlier in the same oracle protocol, in3 See also M. Hutter, in Melchert 2003, 268–269 and now Oreshko 2013, 409–413 and Greaves

2013.

4 Mac Sweeney 2010, 8 with earlier literature. See also the recent discussion in Genz 2011. 5 See Yakubovich 2008, 2010, and the contributions in Mouton, Rutherford and Yakubovich

2013.

6 A recent edition is Beckman, Bryce and Cline, 2011, 183–209 (AhT 20) with references to

earlier literature on page 287. See now Archi 2014, 144–147.

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quiries concerning the right treatment of another deity, probably the goddess Išḫara, are recorded. This deity was deemed to be responsible for the ailment of the king and was therefore asked, by means of an oracle, as to her preferred mode of cult. It was ascertained that the deity preferred to be worshipped in the manner of Aštata (Syrian Emar) rather than in the (local) manner of Mezzulla. Later on in the oracle protocol, it is reported that a delegation from Aštata, including a priest, arrived in Ḫattuša and was interrogated as to the cultic regulations that should be observed vis-à-vis the deity (§ 10–11, Beckman, Bryce and Cline 2011, 186–187; Bachvarova 2009, 36; Collins 2010, 60). This and other similar occurrences attested in the Hittite texts have led scholars to suggest that the two Aegean deities could have been likewise escorted to Ḫattuša by incantation priests, singers and other cult functionaries, making sure that the deities “felt at home” in their new environment and, more importantly, also acting en passant as agents of cultural exchange (Bachvarova 2009, 28–29; Collins 2010, 58, 62). According to this scenario, participants in festivals and other cult happenings would thus come into contact with foreign textual traditions that accompanied the cult and would thus have opportunities to adapt and incorporate those traditions into their own. The exact identity of the two Aegean deities is unknown. According to Singer (2008, 32), the fact that we find these deities in Ḫattuša at all suggests that they must have been important, supra-regional deities. He tentatively proposes to identify the deity from Lazpa/Lesbos as an early hypostasis of Aphrodite. Furthermore, Singer connects the cult of the deity to an incident reported in a letter by Manapa-Tarḫunta, king of the Šeḫa River Land, to his Hittite sovereign. The letter reports that Piyamaradu, the most notorious renegade active in western Anatolia,7 organized a raid on the island of Lesbos, which was at the time under the control of the Šeḫa River Land, a Hittite vassal kingdom. Piyamaradu abducted two groups of craftsmen, most probably purple dyers – one group was working for the Hittite overlord himself, the other for the king of the Šeḫa River Land. Both groups came to Lesbos, according to Singer’s new interpretation of the episode, to present offerings to a local shrine of that supra-regional deity recorded in the oracle protocol mentioned above. The oracle protocol specifying the two deities, the deity of Aḫḫiyawa and the deity of Lazpa, is often cited as an example of religious borrowings between the Hittites and the Aegean world (Morris 2001, 428; Noegel 2007, 34). However, apart from the appearance of the two Aegean deities in KUB 5, 6 ++, they are not attested again, to my knowledge, in the numerous Hittite texts pertaining to the cult in the “Land of the Thousand Gods”. There is no evidence that these two Aegean deities, or any other Aegean deity for that matter, were adopted by 7 On the career of Piyamaradu see Bryce 2005, 224–227, 290–293; Beckman, Bryce and Cline

2011, passim. The letter is now edited by Beckman, Bryce and Cline 2011, 140–144 as AhT 7; earlier literature is found on page 286.

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the Hittites and integrated into the local cult. This sparse evidence should be contrasted with the rich evidence documenting the cultic attention given by the Hittites to the deities of Kizzuwatna, such as the goddess Isḫara (Prechel 1996; Archi 2014) who is also mentioned in the oracular protocol KUB 5, 6 ++. The existence of the two Aegean deities, most probably in the form of statuettes, must therefore be regarded as a unique and singular episode in the history of Hittite religion. A similarly modest volume of inter-cultural exchange can be observed in other domains of Hittite or Mycenaean culture. Opportunities for contact were definitely there. However, as Beckman, Bryce and Cline recently note, it left almost no trace in the archaeological record. Evidence of Hittite objects or Hittite influence in western Anatolia is also surprisingly limited. This seems to be true even for areas that were under direct Hittite control. Beside the occasional finds of objects that were connected to the reciprocal gift exchange of the Late Bronze Age palatial elites or to Hittite administration, mostly in the form of seals and seal impressions, the Hittites left almost no cultural tread marks in the areas under their control. A recent comparative survey, conducted by Hermann Genz (2011), has shown that Hittite objects were only rarely found outside Central Anatolia, and such artifacts usually belonged to the realm of diplomacy rather than to trade: “Compared with the distribution of Mycenaean pottery or Egyptian objects in the eastern Mediterranean during the Late Bronze Age, the quantity of Hittite objects is negligible”. As Itamar Singer (2011, 58) observed in his study of the history of Ugarit: “A century and a half of close political and economic ties have yielded surprisingly little evidence for Hittite influence upon the cultural life of the people of Ugarit.” The situation in Syria was for the most part not very different.8 One notable exception is Cilicia, in which a strong Hittite influence could be recognized in almost all aspects of material culture during the Hittite Empire period (Genz 2011, 310). One of history’s ironies is that Hittite and Luwian cultural traditions actually increased considerably in demand in Syria after the demise of the Hittite Empire. Cilicia was another multi-cultural contact zone in which Greeks encountered local inhabitants (Lane Fox 2009, 73–83; López-Ruiz 2009). Indeed, they might have acquired the alphabet script there.9 The question which is fiercely debated in recent scholarship is precisely how early were Greeks present in Cilicia? At the center of the discussion is the interpretation of several proper names in the bilingual hieroglyphic-Luwian/Phoenician inscription of Cineköy, dating to the second half of the eight century BCE, published by Tekoğlu and Lemaire (2000). The inscription was on a massive basalt bull-drawn chariot, on which stood a colossal limestone statue of the storm god. The statue was found in 1997 near 8 On Hittite cultural presence in Emar see Cohen 2011 and Archi 2014. On the archaeological

remnants of the Hittites throughout their empire see now Simon 2014 with earlier literature.

9 See Sass 2005, 133–156; Lemaire 2008 and Yakubovich, in print.

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the village of Cineköy, not far from Adana. The bilingual hieroglyphic-Luwian/ Phoenician inscription was authored by a king Warika, who is attested, according to most commentators on the text, as Awariku in the Karatepe bilingual inscriptions and as Urikki in Assyrian inscriptions dating to the reigns of Tiglath-pileser III and Sargon II.10 Significantly, the bilingual Cineköy inscription equates the Phoenician name ’dn/dnnym, preserved in the name of the modern city Adana, with Luwian Ḫiyawa. This term was identified with the name Quae/Que, the name for Cilicia in Neo-Assyrian and Aramaic sources11 and recognized as an aphaeresized version of the name Aḫḫiyawa, denoting the Mycenaean world of the Late Bronze Age. The Cilician Ḫiyawa was in turn connected with the Hypachaeans, the ancient inhabitants of Cilicia according to Herodotus (7.91).12 Two Akkadian letters from Ras Shamra, Ugarit, also mention the term Ḫiyawa. The two letters, published by Lackenbacher and Malbran-Labat (2005), originate from the Urtenu Archive and were sent to Ammurapi, the last king of Ugarit, by high-ranking Hittite dignitaries (one of them the unfortunate Hittite King Šuppiluliama II). They deal with a certain delivery, possibly of metal ingots, to the men of Ḫiyawa (Ḫi-ia-a-ú-wi-i), stationed in the Land of Lukka (Singer 2006; Bryce 2010; Gander 2012, 284–286). The editors equated the term Ḫiyawa with Aḫḫiyawa of the Hittite texts and this suggestion has often been followed since (Singer 2006, Singer 2013, see the bibliography in Gander 2012, 284–286). The appearance of the Aegean name Aḫḫiyawa as a designation of Cilicia, parallel to Adanawa, was connected with the appearance of newcomers of Aegean origin to the region, as part of the migrations of the “Sea People” (Bryce 2012, 154). Further support for this scenario was sought in the appearance of the LH IIIC ceramic style in many coastal sites in the region, most notably Tarsus (see most recently Singer 2013, 324–325 with references). However, not all archaeologists agree to relate the appearance of Aegeanizing LH IIIC styles in the late 12th and early 11th centuries BCE with the migratory “Sea Peoples”. Instead, they ascribe it to a continuing cultural exchange with Cyprus and with the Eastern Mediterranean (Lehmann 2013, 326–328; see more generally Strobel 2011). Archaeologically, Cilicia remained closely related to Cyprus in the first centuries of the first millennium as well (Novák 2010, 408–409). Archaeological evidence of direct Greek presence in Cilicia in that period is still lacking (Jean 1999; Novák 2010, 407–408). 10 See Bryce 2012, 155–161 for attestations and discussion; Singer 2013, 322–323. Lipiński 2004,

116–128 suggested that Warika and Awariku were two separate kings, on this question see also Yakubovich 2010a, 152 and now Simon 2014. Lipiński other suggestion, connecting the name Awariku to Greek personal names, receives more acceptance; see now Singer 2013, 324 and Yakubovich, in print. See however Strobel 2011, 247 n. 175. 11 See the overview in Hawkins 2000, 40–45 and most recently Gander 2012 and Simon 2011. 12 Most recently Singer 2013, 324; but see Strobel 2011, 248 n. 248.

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But the equation of Ḫiyawa with Aḫḫiyawa in itself is problematic. It was recently challenged by several scholars (Strobel 2011, 197–199; Gander 2012; Simon 2011) who pointed out that while the loss of the initial A- is often attested in the Iron Age, it is highly irregular in the 13th century BCE. Therefore, the aphaeresized form Ḫiyawa attested in the two Ugarit letters contradicts rather than supports the equation with Aḫḫiyawa. More importantly, they draw attention, following a reference of Hajnal (2003, 41), to a fragmentary Hittite text, KUB 23, 21, a historical record of Arnuwanda I, dating to the first half of the 14th century BCE (edited by Carruba 2008, 65–73; see now Gander 2012, 287–289). The text records the exploits of the Hittite king in Cilicia, mentioning in a broken context the towns [Zu]nnaḫara, Adaniya, [Šin]uwanda and ḫi-ya-x[…].13 The name is unfortunately broken, but the proximity to Adaniya, the obvious parallel to the Cineköy inscription, and the fact that no other names beginning with Ḫiya- are attested so far in Hittite texts pertaining to Cilicia, all make a reconstruction to Ḫiya[wa] (Carruba 2008, 66) rather plausible (Strobel 2011, 198; Gander 2012, 287–289; but see also the arguments recently presented in Oreshko 2013a and Woudhuizen 2014). The possibility that Ḫiyawa should after all be separated from Aḫḫiyawa must be re-considered, but no consensus has been reached on the matter.14 It is instructive to note in this context that the names Adanawa/danuna/ dnnym were connected in a similar way to the Dnyn, attested as one of the “Sea People” as well as with the Greek Danaoi. The fact that Adaniya is attested in Hittite records from the 15th and 14th centuries BCE practically ruled out the latter suggestion (Hawkins 2000, 38–41; Singer 2013, 323). Otherwise, one would have to argue that the Greek Danaoi originated from Cilicia (Novák 2010, 408). The equation of the group of “Sea People” named Dnyn with the inhabitants of Adaniya seems on the other hand more plausible (Strobel 2011, 197; Singer 2013, 323). Another controversy concerns Warika’s/Awariku’s descent. In both the Karatepe and the Cineköy inscriptions he is reported to belong to the House of Mukasa (MPS in the Phoenician text). Mukasa (MPS) was readily connected with Mopsus, the legendary seer of Greek tradition and the founder of several Cilician 13 KUB 23, 21 shows traces of a broken sign on the surface break. The earlier edition KUB 6,

49 as well as the available photo do not show traces of any remains. The reconstruction of Carruba (2008, 66): URUḪi-ya-w[a-an] is based solely on the parallels to the Cineköy inscription. 14 See most recently Woudhuizen 2014. Oreshko (2013a) now proposes a new reading of the Karatepe inscription in support of the Aḫḫiyawa/Ḫiyawa equation. His suggestion concerns the hieroglyphic Luwian name á-*429-wa/i, read so far “Adanawa” on account of the Phoenician parallels ’dn/dnnym. Instead, he reads Aḫḫiyawa – suggesting a value ḪIYA to the unique sign *429, read so far as DANA. This suggestion is now refuted by Woudhuizen 2014. Yakubovich, in print, is agnostic. The publication of the Arsuz inscriptions may shed further light on this matter (Gander 2012, 309; Yakubovich, in print).

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cities. Mopsuhestia (“Mopsos’ hearth”) and Mopsukrene (“Mopsos’ spring”) are indeed attested, but not before the 4th century BCE (López-Ruiz 2009, 489 with n. 10). According to the advocates of this identification, a figure of Greek legend positively turned out to be a historical figure for the first time (Finkelberg 2005; López-Ruiz 2009 with earlier references; see also the references in Gander 2012, 298 n. 113). However, numerous variants of the name are attested around the Mediterranean, the earliest found in a Hittite text known as the Indictment of Madduwata (KUB 14.1, Beckman, Bryce and Cline 2011, 69–100, the name is found on page 94, KUB 14.1 rev. 75), dated to the beginning of the 14th century BCE.15 This, as well as other attestations which do not necessarily originate from a Greek context, have led scholars to doubt the identification of Mukasa of the Karatepe and Cineköy inscriptions with the Greek seer (Lane Fox 2009, 212–216; Strobel 2011, 197–198; Gander 2012). Even if the name is indeed originally Greek, as linguistic analysis suggests (Oettinger 2008), its antiquity and popularity considerably reduce the probability that the Greek seer Mopsus and the founding father Mukasa of the Karatepe and Cineköy inscriptions are one and the same person. Furthermore, the legendary Mopsus was not only connected in antiquity with Cilicia. Seers by that name were connected with various other localities around the Mediterranean (López-Ruiz 2009, 489; Lane Fox 2009, 212– 213). To conclude this part, it seems that rather than confirming the continuous existence of Greeks in Cilicia and in the Northern Levant since the early 12th century BCE, the ongoing discussion underlines the complex and dynamic nature of culture in the region. It precludes, in accordance with the concept of “Culture in the Making”, any deterministic and preeminent interpretations concerning the cultural and ethnic identities of the participants involved. The same may be said about the second newly discovered kingdom of presumed Aegean origin in the Northern Levant, the Kingdom of Palistin/Walistin in the Amuq Valley, Hamath and Aleppo. Like the kingdom of Ḫiyawa/Aḫḫiyawa in Cilicia, this newly discovered kingdom may be considered as evidence for possible early Greek presence on the eastern shores of the Aegean and is also pertinent to the question of possible cultural encounters and exchange between the (Neo-) Hittites and the Greek world. The temple of the storm god of Aleppo excavated on the citadel in Aleppo by an expedition led by Kai Kohlmeyer is one of the greatest archaeological sensations of recent years.16 Numerous decorated orthostats were excavated in the temple as well as sculptures of a sphinx and a lion. In 2003, the eastern wall of the temple of the storm god of Aleppo was revealed, bringing to light two larger than life size relief figures, the storm god, and a king, standing opposite each other. A 15 For a list and discussion of these attestations see Gander 2012, 297–302 with previous literat-

ure.

16 Recent overviews are Kohlmeyer 2011 and 2012.

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12-line inscription was revealed beside the king, which starts with the king’s name and titles. The inscription, published by Hawkins (2011), identifies the King as Taita, the Hero, King of P/Walistin. A connection was readily suggested to the Philistines, one of the “Sea Peoples” attested in the records of Ramses III and the famous adversaries of the Israelites in the Bible. King Taita and his kingdom are already known from several other hieroglyphic Luwian inscriptions, found not far from Hamath, in Meharde and Sheizar in the Orontes valley as well as from Tel Tayinat in the Amuq plain. On account of palaeographic differences between the inscriptions, Hawkins now tends to distinguish between two kings by the name of Taita: Taita I of the Aleppo inscription, with its connections to the temple of Ain Dara, dated to the 11th century BCE, and Taita II, perhaps the grandson of Taita I, of the Meharde-Sheizar inscriptions, dated to the early 10th century BCE. Inscriptions of another ruler of that kingdom, bearing the Hittite name Šuppiluliama, were recently excavated in Arsuz in the bay of İskenderun. The kingdom of Palistin therefore must have been quite large, covering the territories of the 9th century BCE Neo-Hittite states of Arpad, Unqi and Hamath. Its capital was probably Tell Tayinat in the Amuq Plain, usually identified with Neo-Assyrian Kunallua.17 Here too, there seems to be some disagreement on the historical significance of the Aegean cultural traits found on the site. Timothy Harrison, the excavator, considers these cultural traits as an integral part of the culture of the Neo-Hittite town and dates the emergence of the land of Palistin as a powerful regional kingdom very early in the Early Iron Age, right after the collapse of the Hittite Empire. “This polity”, he writes, “was ruled by kings with Hittite names and very possibly with direct ancestral links to the royal dynasty. Intriguingly, this Early Iron Age polity also exhibits strong Aegean cultural ties, both in its material culture and now also epigraphically” (Harrison 2009, 187). Itamar Singer, on the other hand, argues that the Aegean “philistine” settlement should be disconnected from the later “Period I” city, which “bears the character of a typical Neo-Hittite royal city, with large monumental buildings, carved orthostats and monumental hieroglyphic Luwian inscriptions. This could indeed have been the royal seat of Taita king of Palistin, which eclipsed Halab as the dominant city of northern Syria.” (Singer 2012, 466). In fact, Taita’s inscription in the temple of the storm god of Aleppo may shed light on interaction between the Hittite and the Greek traditions but in a different way. It is not the presumed Aegean origin of Taita and his kingdom which are of importance here, but rather the way he is presented in the temple. In his inscription, Taita appears as a conservator of Hittite tradition, as a preserver of Hittite style and as a supporter of the cult of the storm god of Aleppo (Aro 2010, 5–6). Regardless of his origin and the time that elapsed between his reign and 17 See now Weeden 2013 and Galil 2013 for the history of the Kingdom of Palistin.

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Hittite rule in Aleppo, Taita wishes to demonstrate that he was part of the Hittite tradition. The survival of the mythology of the storm god of Aleppo into the first millennium BCE could be explained by the continuity of the cult in the temple, secured by Taita, thus bringing it closer to the Greeks. The ancient Near Eastern background of the Hesiodic succession myth is generally accepted. Hesiod portrays divine genealogy as a rather violent dynastic history, consisting of several generations of “kings in heaven”, each gaining power by defeating his predecessor. The succession myth, spanning from the first ruler in heaven to the present one, shares many parallels with the Babylonian enūma eliš as well as with Philo’s adaptation of the Phoenician History of Sanchuniathon of Beirut, dated to the first century AD but probably citing a Phoenician work of an earlier, Hellenistic date. However, it is the Hurro-Hittite compositions that provide the closest parallels to the Hesiodic narrative. Among these KUB 33.120++ shows the most remarkable parallels.18 This fragmentary text is usually known in the scholarly literature as “Kingship in Heaven”, a term coined by Güterbock (1946). However, Carlo Corti (2007) recently joined a new fragment to the main text, extending the end of column IV and completing the colophon at the end of the composition, by which the original title of the composition was revealed. It was shown by Corti to be “The Song of Emergence” or the “Song of Going Out”. Corti suggested that this title may express something like “Beginning” or “Genesis”, but it probably merely represents, in a playful and ironic manner, the main subject that recurs throughout the composition: “Going out” or “Emergence” in the sense of being born.19 The parallels between the Hittite composition and the Theogony include themes such as castration and stone swallowing resulting in a cult foundation as well as head-birth. These exciting parallels may suggest a direct mode of transmission between the Theogony and its Hurro-Hittite forerunners. Recent scholarship, however, usually denies the possibility of such direct transmission and follows Walter Burkert (1987, 22) in postulating a more complex indirect process of transmission, the product of an entangled network of traditions, a “manyvoiced interplay”. Carolina Lopez-Ruiz, in her chapter on the succession myths concludes that (2010, 127): “The extant versions of these stories … bear witness to a rich and complex Eastern Mediterranean pool of mythic traditions in which the Greeks were also diving for 18 Edited by Güterbock 1946. A recent online edition of the text is E. Rieken et al. (ed.), heth-

iter.net/: CTH 344 (INTR 2009-08-12). Recent translations are Hoffner 1998, 42–45; Haas 2006, 133–143. Recent treatments include van Dongen 2011; Beckman 2011 and Strauss, Clay and Gilan 2014. 19 Archi 2009, 219; Beckman 2011, 28. Van Dongen 2010, 105–109 (see also Van Dongen 2011) now suggests translating the name of the composition as “The Song of Going Forth”.

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many centuries. Within these parameters of cultural exchange, the (geographical and cultural) proximity of Greeks and Northwest Semites … probably accounts for much of what has traditionally been viewed as direct Hittite, Egyptian, or Mesopotamian influences in Greek cosmogonies.”

Indeed, many scholars would explain the shared motifs and mythologems as products of the Eastern Mediterranean koine, a local Graeco-Levantine tradition with a strong Northwest Semitic component, Canaanite or Syro-Phoenician (López-Ruiz 2010; Haubold 2013, 52–53). However, according to López-Ruiz, the question of exactly when and how these motifs entered Hesiod’s local Graeco-Levantine horizon cannot be answered. The tradition is multi-layered and too complex to pin down. Elsewhere (2009, 496–497) she correctly observes that there are endless ways by which Greeks and non-Greeks could have interacted in various contact areas in the Eastern Mediterranean. Haubold even suggests setting aside the question of transmission and other problems of literary history aside in favor of a closer reading of the texts and an investigation of the creative motivations of their authors (Haubold 2013, 53). “The point”, he writes, “was not to borrow some exotic story from somewhere, or to learn from some random reading of some foreign text. The point, rather, was to find out about the gods.” This and similar quests concerning the nature of humans and the divine were explored by many communities across the Eastern Mediterranean (Haubold 2013, 181). Remaining within the realm of literary history, Strauss Clay and Gilan (2014) argue that the striking parallels between the Hittite compositions and the Theogony may point after all to a more direct mode of transmission between the Theogony and its Hurro-Hittite forerunners. Furthermore, they note another affinity between the two traditions: Both use parallel unconventional verbs to denote the anomalous phenomenon of male birth in parallel contexts. They also tentatively suggest that the continuation of the cult in the temple of the storm god, attested by the archaeological evidence and by Taita’s inscription, may provide a possible missing link that keeps alive the cult of the Aleppine storm god and his mythology into the first millennium and closer to the Greeks. The possible connections between the temple of the storm god in Aleppo and the “Song of Emergence” will be explored in the next and last part of this article. The Hurro-Hittite “Song of Emergence” is a rich literary blend of Hurrian, Mesopotamian, and Syrian names, places, motifs and deities. It is a product of another cultural melting pot: the North Mesopotamian-Syrian-Hurro-Hittite koine.20 The composition available to us is a Late Empire Period copy of an Early Empire Period erudite literary elaboration – both of them in Hittite – of earlier mythological and literary materials, probably in Hurrian. It is possibly an oralderived traditional text (Archi 2007; Archi 2009; most recently Bachvarova 2014) but represents in its current form a rather unique Hittite scholarly innovation: 20 Haas 2006, 130–132; Archi 2007; Beckman 2011, 25; Bachvarova 2012, especially 112–114.

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vernacular adaption of Hurrian mythological poems into Hittite. Lorenz and Rieken (2010) locate the primary function of these compositions in the scribal school. A different Sitz im Leben was proposed by Haas (2006, 128) and Archi, who suggests that (2007, 223): “The Hurrian epics, which the Hittites translated into their own language but never imitated, were held near the temple. Such lengthy and complex text in a recitative style must have represented the indispensable basis of subsequent recitations. These performances undoubtedly took place in religious areas on the occasion of cultic celebrations and possibly also at the palace.”

Indeed, a cultic setting is attested for related Hurro-Hittite compositions. A “Song of the Manly Deeds of the Sea” and a “Song of Kingship” were sung during a festival in honor of Mount Ḫazzi alias Mount Zaphon, the Jebel Aqra in the bay of İskenderun. The Greeks may have encountered some of these traditions concerning the storm god in that location (Rutherford 2001, 598–599; Lane Fox 2009, 259–264; Lorenz and Rieken 2010, 229–230).21 The evidence that directly connects the “Song of Emergence” to the cult in the temple of the storm god of Aleppo is by comparison circumstantial. Almost nothing is known about the cult in the temple. This is true not only for the “dark ages” after the fall of the Hittite Empire. Next to nothing is known about the cult of the storm god of Aleppo in his home temple during the better documented Hittite reign of the city. Hittite dominion of Aleppo began when king Šuppiluliama I appointed his son, Telipinu the Priest to govern Aleppo. Most scholars agree that his role in Syria was primarily religious, and that his appointment in Aleppo was more religiously than politically motivated (Kohlmeyer 2011, 255–256; Aro 2010, 3). Hawkins (2011, 36) aptly designates Telipinu as “Archbishop” of Syria. Nothing is known about Telipinu’s religious duties in Aleppo. It is merely known that his son and successor, Talmi-Šarruma, constructed a temple for Ḫepa-Šarruma in the city (Hawkins 2011, 36). On the other hand, there is ample evidence for the cult of the storm god of Aleppo in Ḫattuša, which flourished there since the beginning of the Empire period.22 Administrative texts, such as the cult inventory text CTH 689 issued by king Muwatalli II, as well as different oracular enquiries document several festivals that were celebrated in honor of the deity there (Schwemer 2001, 496). Interestingly, the provisions for the festivals listed in CTH 689 were provided by the palace in Aleppo and by local 21 As Van Dongen (2011, 208) correctly notes, since the name of the composition was identified

as the the “Song of Emergence”, it is now clear that the “Song of Kingship” sung in the vicinity of mount Ḫazzi does not pertain to that composition, as earlier commentators on the text often assumed. 22 On the cult of the storm god of Aleppo in Ḫattuša see Klengel 1965; Souček and Siegelová 1974; Popko 1998 and 2002 and especially Schwemer 2001, 494–502.

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artisans from Aleppo.23 Although the Hittite capital was now famously designated as the “city of the storm god of Aleppo”24 it seems that the Hittite cult of that deity was heavily modeled to the cult in his hometown.25 The history of Hittite renovations in his temple in Aleppo, now revealed in the excavations of that magnificent building, suggests that despite the introduction of his cult to Ḫattuša, the cult of the storm god of Aleppo continued to flourish in Aleppo as well.26 Taking the above into consideration, one may perhaps learn something about the cult of Teššub in Aleppo from the evidence pertaining to his cult in Ḫattuša. In this way, possible hints that link the “Song of Emergence” to the cult of the storm god in Aleppo may be explored. The following facts may connect the “Song of Emergence” to the temple of the storm god in Aleppo: A reference to the “Song of Emergence” is found in a Hurrian prayer to Teššub of Aleppo preserved in the archives in Ḫattuša.27 Kumarbi is explicitly named there as the “Mother (Hurrian nera) of Teššub”, clearly referring to the scene in the “Song of Emergence” in which Kumarbi, after biting the genitals of Anu and swallowing his sperm, practically becomes pregnant with the storm god (Column i 31–33). The text also lists provisions to festivities on Mount Ḫazzi.28 The fragments listed under CTH 660 document cult offerings in the temple of Teššub of Aleppo that took place during the great AN.TAḪ.ŠUM festival. The locus of the cult was identified by Popko (2002), who suggests that the temple was situated in the royal residency in Büyükkale.29 Among the numina that received cult offerings in the adyton of the temple are different deities connected with the storm god and cult objects belonging to him (Haas 1994, 803–806; Archi 2007, 53; Schwemer 2011, 52). Some of these objects play a decisive role in his mythology (Popko 1998). They include his “Weapon” (GIŠTUKUL), with which he vanquished the Sea, and his “Wagon” (GIŠMAR.GÍD.DA), which mysteriously appears in a fragmentary context in the fourth column of the “Song of Emergence” (Beckman 2011, 31). It stands to reason that compositions pertaining to these objects could have been performed in spatial proximity to these objects in the context of their cult. 23 KBo. 14, 142 ii 38–41, see Souček and Siegelová 1974; Schwemer 2001, 497–498.; Hutter 2002,

194.

24 KUB 18, 12 + obv. 1–2, 4, see Popko 1998, 75; Schwemer 2001, 496 n. 4064, both with previous

literature.

25 Souček and Siegelová 1974, 52. Schwemer 2001, 498 is more diffident. See also Hutter 2002,

194f.

26 On the history of the temple of the storm god in Aleppo see now Kohlmeyer 2011 and Kohl-

meyer 2012.

27 KUB 47.78 i 9’–14’, edited by Thiel and Wegner 1984, 187–218; Schwemer 2001, 454–455;

Haas 2006, 251–252; Campbell 2014.

28 Haas 2006, 251–252. 29 See also Torri, 2008, 173–174 and Schwemer 2011, 52.

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Having suggested that the “Song of Emergence” may have been performed in the context of the cult in the temple of the storm god of Aleppo, it is worth taking a closer look at the fragmentary passage containing the aetiology of the cult of the basalt stone that was served to Kumarbi in place of of Teššub (translation after Beckman 2011, 30): KUB 33.120++ i 58–65: (Ea?) spoke to Kumarbi: “Let them call it the […] Stone, and let it be placed on/in […].” He threw the basalt into […] (saying): “They shall in future call you the […] Stone. [Wealthy] men, heroic lords, shall be slaughtering oxen [and sheep] for you. Poor men shall be making offerings to you with [groats].”

Is it merely a coincidence that a similarly “progressive” cult regime is set by Taita in his inscription in the temple of the storm god of Aleppo? (Translation after Hawkins 2011, 45): §4–§12: (He) who comes to this temple to celebrate the god, if he (is) a king let him sacrifice an ox and a sheep. On the other hand if he is a … king’s son, or he (is) a country lord, or he (is) a river-country lord, let him too sacrifice a sheep. On the other hand if he (is) an inferior man, (there shall be) bread, oblation and …

The evidence is hardly conclusive, but it nevertheless suggests a relation between “The Song of Emergence” and the cult of the storm god of Aleppo. As we have seen, Taita presents himself in his inscription as a preserver of the cult in Aleppo. The god to which he pays homage is no other than the mighty Teššub of Aleppo, who engaged the sea in the famous mythological battle. He is also the god that was born out of Kumarbi’s skull and was saved by serving Kumarbi with the basalt stone. He is the addressee of the Hurrian prayer cited earlier, KUB 47.78, summoning him to the throne of Aleppo, naming Anu as his father and Kumarbi as his mother. It could therefore be suggested that Taita and his Kingdom could have preserved the institution that kept alive the cult of the Aleppine storm god and his mythology in the first millennium. This happened either in the form of the cult of the deity in the temple itself, or by preserving the festivities in his honor on Mount Ḫazzi. In conclusion, this article has explored several instances of cultural borrowing between the Hittites and the Aegean World. It has been suggested that a dynamic notion of “Culture in the Making” is essential for the study of eras as culturally complex and diverse as the Eastern Mediterranean of the Late Bronze Age and of the following “Dark Age” of the first half of the first millennium BCE. It has also been argued by reference to the oracle report KUB 5.6++, documenting the cultic treatment of two deities of Aegean origin – the deity of Aḫḫiyawa and the deity of Lazpa – that such sporadic instances of cultural borrowing should be studied in a broader historical context. An overview of current scholarship on recent discoveries that shed new light on Cilicia and the Northern Levant after the

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fall of the Hittite Empire has been presented, discoveries that also pertain to the interaction between the Neo-Hittites and the Greeks. It has been argued, by the example of the temple of the storm god of Aleppo, that the search for “islands” of cultural continuity can be as rewarding as the search for ethnic change. The last section of the article was devoted to exploring the connections between the Hurro-Hittite “Song of Emergence” (KUB (33.120++), the composition showing the most striking parallels to the Hesiodic Theogony, and the cult in the temple of the storm god of Aleppo. Thus, the continuity of the cult in Aleppo, documented now by the excavations in the temple, may also account for the passing on of the composition to the Greeks.

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Michael Sommer The Phoenicians in the Mediterranean Diasporic identities and commercial networks∗

‘Unde interrogati rustici nostri quid sint, punice respondentes Chanani.’1 Thus wrote Saint Augustine as late as in the late fourth century AD, giving expression to his surprise that Punic was still alive as a language, and was spoken in the area surrounding Hippo Regius (modern Annaba), in Numidia. Not only did the peasants speak Punic, but they also regarded themselves as chanani, an expression of ethnic identity which links them directly to the Levant in the Iron Age whose inhabitants were called ‘Sidonians’ or ‘Phoenicians’ by the Greeks. Philo of Byblus, who wrote in the second century AD, called them chna (Canaanites), a term also derived from the western Semitic root kn’n.2 Saint Augustine’s rustici were by no means an exception: the Roman Emperor Septimius Severus, who grew up in Lepcis Magna, spoke Punic as his mother tongue and apparently felt himself close to the inhabitants of Syria (where his second wife Julia Domna came from), which benefited considerably from his rule. Heliodorus of Emesa, where Julia Domna was born, dubbed himself , in the third or fourth century AD, as a man ‘from Emesus [Emesa], a city in Phoenicia, son of Theodosius who fetched his pedigree from the sun’.3 Another case is offered in the Gospels, which relate that when Jesus came to Tyre, he met a woman ‘whose daughter was possessed by an impure spirit’,4 a Greek (Hellēnis) and by origin a Syro-Phoenician (Syrophoinikissa). We have countless examples of individuals who defined themselves as Phoenicians, or were so defined by others. The remarkable persistence – or, more accurately, revival – of Phoenician or Punic identities in the imperial period is a complex matter that deserves some ex∗

This is an updated version of a paper published in Mediterranean Historical Review. I am grateful to the editors for the permission to republish the paper in the present volume. I am also grateful to Hans Georg Niemeyer (1933–2007) for his critical reading of a first draft of this text. This study owes a great deal to his lifetime work. 1 August. Epist. 13. On the following now Prag, ‘Phoinix’ and id. ‘Poenus’. 2 Referring perhaps to the colour red and the artisanship of purple dyeing. In the Hebrew bible, Canaan is the son of Ham and the father of Sidon (Genesis 9:18; 10:15). 3 Heliod. 10.323. For additional information on the author and his work Nesselrath, ‘Heliodor’. 4 Marcus 7:25–26.

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planation. Certainly, the Phoenicians of the Iron Age were as much ‘frogs around a pond’ as their Greek neighbours.5 Furthermore, the Phoenicians’ seafaring and commercial activities were likewise impressive, as were their colonial ventures which, like those of the Greeks, encompassed the entire Mediterranean, and even beyond.6 And yet, in terms of colonial diaspora, the migration of the Phoenicians had a fundamentally different pattern from that of the Greeks. Far fewer people were involved, and rather than an escape from the growing pressures of population, the Phoenician merchant adventurers were seeking new opportunities to make profit, new markets, and new sources of raw materials. Whether in Italy, North Africa, or Spain, the Phoenician settlements overseas were different from the Greek apoikia in almost every respect: first, their material culture displays far more ‘indigenous’ traits than that of Greek colonies;7 second, their settlements were much smaller in size, at least in the early phases; and third, with the significant exception of Carthage (to which we will come back later), they disposed of no hinterland comparable to the Greek chōra, though the Phoenician presence undoubtedly influenced the material culture of neighbouring indigenous settlements. To sum up, while the Phoenician model of expansion in the Mediterranean is as specific and characteristic as the Greek one,8 the cultural element brought in by Phoenicians and Carthaginians is generally not regarded as a constituent influence in the formation of the classical world that took shape while Greeks and Phoenicians settled the Mediterranean coasts.9 It is fair to say that the Phoenician model of opening up, settling, and colonizing the Mediterranean differed in many respects from the patterns we know from the Greek world. In order to point the way for a comparison we will have to address a number of questions: 1. How appropriate is the ‘network’ paradigm, used so widely now in the archaeologies, as a heuristic tool to describe the development and organiza5 For the quote Plat. Phaid. 109b. The notion of the Mediterranean as a common ground of

the people living next to it, very present in Braudel, Mediterranean, has recently been revitalized and universalized by Horden and Purcell, Corrupting Sea. Cf. the instructive review by Shatzmann. 6 On the Phoenician expansion in the Mediterranean in general, among others, see Whittaker, ‘Western Phoenicians’; Sznycer, ‘Expansion’; Bunnens, Expansion; Aubet, Phoenicians; Sommer, Europas Ahnen, 99–121; Sommer, Phönizier, 113–43. 7 For the pottery, cf. Schreiber, Cypro-Phoenician pottery. 8 Niemeyer, ‘Phoenicians in the Mediterranean’; Niemeyer, ‘Phoenician or Greek’, 45–46. Although the importance of agriculture in the Phoenico-Punic West has been re-emphasized in recent years (among others Ameling, Studien), the typological differences between the Greek and the Phoenician ‘colonial’ diasporas in this respect are quite straightforward. Even though Carthage relied heavily on agricultural production for its subsistence, the city was never dominated by an elite of landholders. For a survey of Carthage’s economic and political patterns, cf. Sommer, Europas Ahnen, 221–22 and 248–49. 9 Cf. pars pro toto Boardman, Greeks Overseas, 8, where Phoenicians figure merely as ‘powerful rivals’ of the Greeks.

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tion of the Phoenician trading diaspora in the Mediterranean? In order to get to the bottom of this, we obviously need a little theory of social networks. 2. If so, what were the driving forces which led to the establishment of trading posts and settlements overseas? What impelled the tradesmen of the Levantine coastal cities to leave the security of their homes and in exchange for an uncertain future in distant parts of the Mediterranean? 3. What factors enabled this network to endure over many centuries, surviving various critical turning points in the Mediterranean’s history, and why did the network prove so relatively coherent? What kinds of knowledge management were practised, and how were information, commodities and people, exchanged within the network? And finally: how did the network established by them develop diachronically? It goes without saying that the evidence provides only sketchy answers to many of these questions, and the overall image we can draw from our sources is inevitably incomplete. Networks have been the subject of social theorizing for half a century or so, spawning a well-established sub-discipline of system theory, and a sub-sub-discipline of social sciences, that deal with social networks, for which there are now dedicated chairs, journals, organizations, annual conferences, and online discussion groups. Recently, formal network theory has been applied to archaeological research.10 But such theory which is inspired from the sciences requires valid quantitative data, of which precious little is available in the case of the Phoenicians. For the purpose of this chapter, a network theory ‘light’ may suffice:11 a network is a social structure consisting of vertices or nodes (individuals or collectives) which are linked to each other.12 The maximum number of vertices within one system is generally given to be 150, beyond which the network becomes dysfunctional.13 Networks require repeated (and not just occasional) and formalized 10 For an excellent summary see Rauner, ‘Ziemlich verknotet’. On the development of social

network analysis as a sub-discipline of the social sciences, see Scott, Social Network Analysis, 7–38. For more detail on formal network theory in the archaeologies, see now Brughmans, ‘Thinking’; Brughmans, ‘Connecting’. 11 As outlined and used by Malkin, Small Greek world, 3-64. 12 Cf. Newman, ‘Structure’, 167: ‘A network is a set of items, which we will call vertices or sometimes nodes, with connections between them, called edges. Systems taking the form of networks (also called ‘graphs’ in much of the mathematical literature) abound in the world. Examples include the Internet, the World Wide Web, social networks of acquaintance or other connections between individuals, organizational networks and networks of business relations between companies, neural networks, metabolic networks, food webs, distribution networks such as blood vessels or postal delivery routes, networks of citations between papers, and many others.” 13 The so-called Dunbar’s number; cf. Dunbar, ‘Social Network Size’.

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interaction over longer periods of time. Beyond formal barriers and boundaries, a network comprises various kinds of relationships.14 Economically, a network is a middle-range phenomenon, half-way between market and organizational hierarchy.15 Network theorists distinguish between ‘open’ networks, which tend to be rather large and have relatively loose connections (‘weak ties’) between the vertices, and ‘closed’ ones, which feature strong but often redundant edges, and are usually smaller. ‘Open’ networks with weak ties are generally believed to accelerate the exchange of goods and ideas more than ‘closed’ ones.16 Though networks are by definition multi-polar and decentralized, in most cases they are nevertheless hierarchic. The hierarchic structure of a network is mirrored by the different numbers of connections (edges) that the various vertices have. A high quantity and/or quality of edges means access to a wide range of information, material, and symbolic resources, and accordingly reflects a high status within the system.17 As in von Thünen’s famous ring model, there are nodes with different degrees of complexity and connectivity: central places of various levels with catchment areas of different size.18 With this in mind, it is easier to decide whether or not the ‘network’ paradigm is suitable for analyzing the cluster of entrepots and settlements established everywhere in the Mediterranean from the Early Iron Age onwards by people coming from the Levant. Of course, this cluster did not come into being overnight. Rather, it was the result of a long process starting probably in the third millennium BC, when first contacts between the Levant and the Mediterranean west were established. In the second millennium BC, copper in form of the famous oxhide-ingots found its way from Sardinia via Crete to the Levant.19 It is probably stretching the issue to call such occasional contacts a ‘network’, but the situation changed dramatically after the collapse of the palatial centres shortly after 1200 BC: after a short period of decline in the trans-Mediterranean trade (in which, however, the exchange of commodities continued to take place on a smaller scale), the commercial contacts between east and west became more intense than ever from the tenth century onwards.20 14 “Community structure” is a property shared by most social networks: Vertices are not dis-

tributed equally and homogeneously within the network, but they form clusters (“groups”, “communities”) which again are linked to each other. The links between individuals are usually more frequent than links between groups. Cf. Newman, ‘Structure’, 17–19. 15 Powell, ‘Neither Market’, 300–305. 16 On weak ties and the accelerated spread of ideas within open networks Granovetter, ‘Weak Ties’; Granovetter, ‘Revisited’, 214–220. The innovative forces of open networks is now best exemplified by the rapid distribution of open-source software via the internet. 17 Scott, Social Network Analysis, 166–75. 18 Beckmann, ‘Von Thünen’; Mills ‘Efficiency’. 19 Catling, Knossos Area; Coldstream, ‘Greeks and Phoenicians’; Niemeyer, ‘Die phönizischen Niederlassungen’, 46–47. 20 On the collapse Liverani, ‘Collapse’; Zaccagnini, ‘Ceremonial Exchange’; Sommer, ‘Unter-

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The resurgent production of luxury commodities in the Levantine coastal cities, which we find echoed in the biblical account of the construction of the Temple in Jerusalem, in the Homeric Epics and of course in the findings of precious artefacts of Near Eastern origin in Lefkandi21 and Crete22 (Knossos and the Idaean Cave), required access to raw materials and markets. It also required knowledge: knowledge of navigational and nautical techniques, but first of all knowledge of places to procure such raw materials, and where to sell the finished products. The Levantine coastal cities with their relatively high degree of continuity between the Bronze and the Iron Ages could possibly build on the experiences of their forefathers, but more importantly on information acquired by visiting other places and establishing contact with different peoples. Scholars have described this process of gradual rapprochement as ‘pre-colonization’.23 Though the material evidence is sketchy, it provides some notions of the stage that precedes the establishment of full-fledged settlements. A quite instructive passage is offered by the tale of Eumaios in the Odyssey,24 in which a group of Phoenicians visit the island of Syria to trade luxury items (i. e., prestigious high-value goods of no immediate practical use), and stay for more than a year, exchanging information with the locals, but kidnap the king’s son. They bring young Eumaios to Ithaca and sell him to Odysseus’s father.25 The account gives us some idea how the exchange of goods and knowledge in the period of pre-colonization might have worked. The activity of visiting distant coasts and evaluating their potential for subsequent commercial interchange does not appear to require a centralized organization, like that of a royal palace.26 gang’. On the resurgence of the Mediterranean trade in the Early Iron Age, cf. Liverani, Antico Oriente, 629–60; Sommer, Europas Ahnen, 97–99. 21 Popham, Sackett, and Themelis, Lefkandi I ; Coldstream ‘Foreigners’. 22 Gehrig, ‘Phönizier’, 27–31 and now Stampolidis and Kotsonas, ‘Phoenicans’. 23 Niemeyer, Das frühe Karthago, 23–25; Niemeyer, ‘Phönizier am Mittelmeer’; Aubet, Phoenicians, 172–84; Sommer, Phönizier, 113–15. 24 The Homeric epics are, of course, not historical writing in the proper sense; like their origin, their historical context is still the subject of fierce debate, but they can be read as reflections of basic social and mental patterns of the period when they came into being. Equally, Homer’s Phoenicians are not historical figures, and even as fictitious protagonists they would make sense in their literary context only if they were recognizable to the contemporary audience (for a critical assessment cf. Latacz, ‘Phönizier’; Winter, ‘Homer’s Phoenicians’; Sommer, ‘Peripherie’). No less disputed is the historicity of the Hebrew bible. Modern scholarship tends towards a skeptic point of view which puts emphasis on the narrative’s functioning as ‘intentional’ history. The bulk of the texts was compiled during, and in the aftermath of, the Babylonian Exile, i. e., centuries after the period in which the events described supposedly happened (most notably now Liverani, Oltre la bibbia). This does, however, not basically rule out the inclusion of earlier texts into the corpus, such as the ‘Lament over Tyre’ (Ezekiel 27, see below). 25 Od. 15.388–483. 26 Counter to the opinion of Aubet, Phoenicians, 77–118, who believes that the model of cent-

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Rather, it was propelled and performed by small groups of tradesmen operating on a modest scale, possibly individual ship-owners or trading companies sharing one vessel.27 The apparent informality of relations, coupled with a certain regularity in the exchange of goods and information, makes ‘network’ a suitable category to describe the Phoenician’s trade involvements. Another story from the Homeric epics affords similar insights into the process: in a running contest, Achilles offered ‘a mixing-bowl of silver, richly wrought; six measures it held, and in beauty it was far the goodliest in all the earth, seeing that Sidonians, well skilled in deft handiwork, had wrought it cunningly, and men of the Phoenicians brought it over the murky deep, and landed it in harbour, and gave it as a gift to Thoas; and as a ransom for Lycaon, son of Priam, Jason’s son Euneos gave it to the warrior Patroclus. This bowl did Achilles set forth as a prize in honour of his comrade, even for him who so should prove fleetest in speed of foot. For the second again he set an ox great and rich with fat; and a half-talent in gold he appointed for the last.’28

The krater, in this case made by Sidonians, was not only by far the most precious prize awarded at such contests, but as an artefact it significantly also had a long prehistory as a gift and counter-gift.29 From an – admittedly much later – Greek perspective, it was regarded as normal that Phoenicians (the traders, the term is not necessarily restricted to people from the Levant) and Sidonians (the originators) as well as Greeks, all mutually formed part of each others’ gift exchange system and proxenia networks.30 This is admittedly an outsider’s perspective, but nonetheless a revelatory one. Though Greeks and Phoenicians each conformed to their own model of expansion, it is impossible to draw a neat division between one ‘Phoenician’ and one ‘Greek’ network. Knowledge and goods flooded to and fro, quite unimpeded. In its early stages, this large, loose Mediterranean trade network was relatively unhierarchical, though the Levantine traders were obviously in the front line in the ralized palace organization played a major role in the process of Phoenician expansion overseas. The details cannot be discussed here, but the author’s point of view is exposed in Sommer, Phönizier, 97–105. 27 A possible typological parallel is the Hanseatic League in northern Central Europe in its period of expansion. On the Hanseatic merchants and their operation Dollinger, Hanse, 17–24; Schildhauer, Fritze, and Stark, Hanse, 38–67; Friedland, Hanse, 36–71. For a detailed structural comparison, based on Weber, Die Stadt, cf. Sommer, Europas Ahnen, 156–72. 28 Il. 23.741–52. 29 The possible ‘biography’ of a vessel used for symposiastic purposes has recently been reconstructed by Kistler, ‘Großkönigliches symbolon’. The same Kistler has also studied the networking potential of Mediterranean symposiastic culture (Kistler, ‘Connected’). 30 This view is corroborated by a famous honorific inscription (367 BC?) for Straton, king of Sidon, with whom the demos of Athens agrees to exchange the symbola. Cf. Austin and Vidal-Naquet, Gesellschaft und Wirtschaft, 241–42.

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scramble for markets and sources of raw materials; whereas the Greeks, making their appearance on the scene later, remained at the periphery of the system. Being intermediate traders, the Phoenicians, as they were called by the Greeks, did the bulk of the transport and hence linked up the nodes within the system.31 The relatively sudden revival of trade in the later Dark Ages was prompted by a conjuncture of assorted variables,32 the focal point of which was the coastal plain of modern Lebanon. According to data contained in the Egyptian account of Wenamun, in the eleventh century the Phoenician cities traded in timber, including cedar and other types of wood from the Lebanon mountain forests.33 Even though they had skilled labour forces at their disposal, they ostensibly remained mere exporters of raw materials. This changed dramatically in the subsequent centuries. The biblical accounts of Solomon claim that, in joint venture with King Hiram of Tyre, the Israelite king equipped an expedition to Spain (Tarshish) every three years.34 At the same time, Hiram contributed substantially to the construction of the Temple in Jerusalem.35 Be this historical fact or not, the rise of Tyre to hegemonic power in the Levant in precisely this period is echoed by other evidence, and trade contacts between the Levant and the Mediterranean west can be traced, for example, in the tombs of Francavilla Marittima in central Italy, in the emulation of Phoenician techniques in early Italic pottery (impasto rosso), in a Levantine bronze bowl from the Late Bronze Age hoard in Berzocana (Estremadura), and in the occurrence of visual motifs from the Levant (like the Herzsprung shield on tomb stelae in southwestern Spain).36 While all this is too little to prove the precocious foundation dates proffered for some of the Phoenician colonies in Spain and North Africa (Gadir in 1104/3 BC, Utica in 1101 BC), it makes it equally impossible to dismiss the Phoenician presence in the West altogether.37 Why the Phoenicians? What made possible the Phoenician coastal cities’ sudden breakthrough from being suppliers of raw materials to being protagonists of intercontinental long-distance trade? Were they, like the Greeks, reacting to 31 This stage of the Mediterranean long-distance trade network seems appropriately illustrated

by the ‘peer polity interaction’ model, once popular in the archaeologies and used as a panacea to explain the internal forces of change within a given system of societies (‘peer polities’). Cf. Renfrew, ‘Introduction’. 32 In more detail Sommer, ‘Peripherie’, 233–35. 33 For the account and commentary cf. Goedicke, Report. 34 2 Chr 9:21; 2 Chr 20:36–37; Ps 72:10. With reference to the Tarshish ships: 1 Kings 22:49; 2 Chr 9:21; Jes 2:16. 35 1 Kings 5–7. 36 On Francavilla Marittima Maaskant-Kleibrink, ‘Early Cults’. On the adaption of oriental pottery styles in Iron Age Italy Piergrossi, Kortenaar and Acconcia, ‘Sviluppo’. Niemeyer ‘Die phönizischen Niederlassungen’, 50–55; Niemeyer, Das frühe Karthago, 23. 37 Archaeological evidence for use in dating the settlements is scarce. Cf. Niemeyer, Das frühe Karthago, 24–26; Docter et al., ‘Radiocarbon Dates’, 568–70.

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the growing population pressure and the shortage of arable land?38 To be sure, the Lebanese coastal plain is narrow, but it is immensely fertile and, according to the biblical tradition, Tyre imported huge amounts of foodstuffs from nearby Palestine. Were they driven into the sea by the expansion of the Neo-Assyrian Empire towards the Levant from the ninth century onwards, just as the Phokaians were expelled by the Persians much later (as some scholars believe)? Or was it just the urge for profit-making attracted them towards unknown strands?39 Though they cannot be quantified as such, all the above factors figured in the rise of the Phoenician colonial diaspora, but not necessarily directly. While land shortage was a problem in Phoenicia at all times, turning peoples’ attention towards the sea and towards other means of subsistence, especially craftsmanship and trade, it did not urge the Phoenicians to leave their home cities and to settle elsewhere; nor did the expanding Assyrian Empire, though this was a source of substantial political pressure. In the long run, the Assyrians proved unable to assert more than a fairly indirect rule over the Levant, and this fact left the Phoenicians plenty of leeway to do their own business, both economically and politically. Nevertheless, the military expansion of the Assyrian Empire was decisive for the commercial growth of the Phoenician cities. It resulted in a precarious symbiotic balance: avid for luxury commodities, the imperial elite provided an insatiable market for the Phoenician centres of production; the Phoenician long-distance trade, in turn, was vital for the social mechanics of the Assyrian Empire. Decisive, however, for the quick expansion and initial openness of the Phoenician-dominated trade network of the Early Iron Age was the absence of highly centralized power structures. Though the institutions of kingship and royal palace survived in the Phoenician cities, they were merely weak replicas of palace centres such as Ugarit or Byblos.40 The absence of centralized control was only transitional, however. While the ninth century BC saw the resurgence of imperial power on a large scale, Tyre became, almost simultaneously, the hegemonic power within the Levant’s regional system. Tyre integrated her neighbour and major rival city, Sidon, in one territorial state denominated the ‘Kingdom of the Sidonians’, stretching from the Nahr el-Kelb north of Beirut to present-day Israel to the south and asserting indirect rule over Cyprus.41 Within this state, virtually everything was devised to 38 Aubet, Phoenicians, 56–59. 39 Frankenstein, ‘Phoenicians’; Gittin, ‘Neo-Assyrian Empire’; more sceptical Oded, ‘Phoeni-

cian Cities’; Garbini, ‘Fenici in Occidente’, 128–37. Contra, with strong arguments and with chronological considerations in mind, Niemeyer, ‘Phönizier am Mittelmeer’, 188; Niemeyer, ‘The Phoenicians and the Birth’, 245–46. 40 On the political institutions of the Phoenician city-states Sommer, Phönizier, 203–19. On the Levatine bronze age cities Liverani, Antico Oriente, 546–61. 41 And possibly even direct control over Kition and its vicinity. For a detailed reconstruction of the political history, mainly based on the literary evidence, see Katzenstein, History of Tyre, 102–10. Cf. also Aubet, Phoenicians, 27–35; Sommer, Europas Ahnen, 96–97; Sommer,

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serve Tyre’s trade and her merchant classes. The kingdom featured a sophisticated settlement hierarchy, with Tyre sitting like a spider in its web and dedicated especially to her long-distance trade, surrounded by major centres of production such as Sidon42 (where the dyeing industry occupied large parts of the town) and Sarepta43 (a centre of pottery production) and with rural centres at the periphery. The transformation of the Levantine system had direct repercussions on the Mediterranean trade network. The open network of the Early Iron Age turned into a full-fledged world-system, focused exclusively on Tyre. The vertical relationship between Tyre and the various parts of the world-system are echoed in the famous ‘Lament over Tyre’ in the book of Ezekiel: The inhabitants of Sidon and Arvad were your rowers; your wise men, O Tyre, were aboard; they were your pilots. The elders of Gebal and her wise men were with you repairing your seams; all the ships of the sea and their sailors were with you in order to deal in your merchandise. Persia and Lud and Put were in your army, your men of war. They hung shield and helmet in you; they set forth your splendour. The sons of Arvad and your army were on your walls, all around, and the Gammadim were in your towers. They hung their shields on your walls all around; they perfected your beauty. Tarshish was your customer because of the abundance of all kinds of wealth; with silver, iron, tin and lead they paid for your wares. Javan, Tubal and Meshech, they were your traders; with the lives of men and vessels of bronze they paid for your merchandise.44

This passage – in all likelihood a text45 originating in Tyre herself and dating back to the 8th or 7th century BC – clearly illustrates the city’s central position in the Mediterranean trade network, whereas the role of other Phoenician cities (Sidon and Arvad) was largely to support Tyre’s trade and provide soldiers for her army; the same did Persia, Lud (Lydia) and Put (probably Libya); Tarshish (Southern Spain46) imported luxury commodities from Phoenicia and in turn supplied metals; Javan (Ionia), Tubal (the Iberian peninsula?) and Mashech (Cappadocia?) were Tyre’s ‘traders’, an odd expression which could imply that Tyrians were resident there to perform their trade, or alternatively, that Tyrian commodities were traded via these places. Although the ‘Lament over Tyre’, for obvious reasons, exaggerated the city’s importance, it cannot be dismissed that in the eighth century BC, the Phoenician metropolis was a veritable global player, Phönizier, 159–65 and the TAVO map by Röllig, Sader and Kellermann.

42 Ciasca, ‘Fenicia’, 145–47. 43 Pritchard, Sarepta, 111. 44 Ezek 27:8–13. 45 For a thorough analysis of the Ezekiel passage, see Liverani, ‘Trade Network’ and now Saur,

‘Tyros’.

46 Or, in my opionion, less likely Tarsos in southern Anatolia. Cf. Koch, Tarschisch.

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the one focal point of the Mediterranean network that maintained direct links to most of the more peripheral nodes, much like a spider in its web, as noted before. The links between Tyre and her colonies remained close. According to Diodorus Siculus (20.14), the Carthaginians sent a delegation to the sanctuary of the Tyrian Melqart year by year, for centuries. Diodorus claims that the sacrificial offerings brought to Melqart accounted for one tenth of the Carthaginian fiscal budget, although the proportion diminished with time. If this is true, the Carthaginians were, in sharp contrast to Greek colonists, liable to the payment of tribute. Nothing prevents us from assuming that other Phoenician colonies did the same, thus making the Melqart sanctuary not only a steady source of revenue for the mother city, but also a marketplace of information and knowledge. The paramount importance of Melqart throughout the Phoenician colonial diaspora, especially his association with seafaring, suggests that the god played a key role in keeping the network alive – different from, but analogous to, the oracle of Delphi.47 From the early seventh century BC onwards, however, the patterns of the network changed dramatically. Old peripheries gradually developed into new centres, like Northern Syria and the Aegean; little by little, Tyre lost her focal position, and the network became polycentric once again. In the same period of time, what we call the ‘Punic’ civilization took shape in the western Mediterranean. The colonial diaspora in this area now featured a material culture strongly influenced by, but clearly distinct from, Tyre and the other centres in the Levant.48 One element which set apart the Punic world from the rest of the Mediterranean (including Phoenicia proper49) was the tofet, a sanctuary whose precise function remains unknown, but which is generally associated with human sacrifice.50 Also, other features of material culture (like the two-spouted lamps, whereas the ones used in Phoenicia proper were one-spouted51), the language used in inscrip47 On Melqart as a focal point of urban identity throughout the Mediterranean Garbini, ‘Con-

tinuità e innovazioni’, 154–55; Bonnet, ‘Culte’; Bonnet, Melqart; Bonnet, ‘Héraclès’. On the cult of Melqart in Thasos Berchem, ‘Sanctuaires’. The importance of Heracles-Melqart as a syncretistic mythic figure in the Mediterranean ‘middle ground’ is now highlighted by Malkin, ‘Herakles’. On Delphi as a centre of communication and information in Archaic Greece Dunbabin, Western Greeks, 26–39. 48 For an outline, cf. Huss, Karthager, 28–38; Moscati, Chi furono, 132–37; Garbini, ‘Fenici in Occidente’, 128–29, who speaks of ‘occidentalizzazione’ and a process of ‘trapianto’ towards the West. A truly comprehensive history of the Mediterranean in the period preceding the Roman expansion is still much desired. 49 Though there may be traces of tofetim even in the east: for Tyre Seden, ‘Tophet’, for Cyprus (Amathus) Karageorghis, ‘Cyprus’. 50 Ibid., 155–56; Moscati, Adoratori; Moscati, Chi furono, 63–64. For the archaeology of the tofet, see Moscati and Uberti, Scavi al tofet. 51 Garbini, ‘Fenici in Occidente’, 136–37.

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tions – and, apparently, the religious and ethnic identity – contrasted with what we know from the Levant.52 Less evident in the material evidence, but certainly more decisive for Mediterranean history, was the gradual transformation of the Punic world into a powerful albeit informal empire controlled by Carthage. Why did the balance in the Phoenician world shift towards the west? And why to Carthage? Why did the Punic world display such cultural homogeneity, though most of the settlements in the western Mediterranean were no foundations of Carthage, but rather fellow colonies established by Phoenicians from the Levant? Many scholars tended to believe that the big shift followed a master plan devised to deal with political decline in the east; that the foundation of Carthage and the western colonies was a long-term strategy designed by far-sighted statesmen in Tyre.53 Flattering as the attribution of such a political vision may be for the Phoenicians, the idea of a master plan seems a post-festum notion contrived by modern scholars. First, the political and economic decline of the Phoenician centres in the east cannot be traced in the evidence. To be sure, there was political pressure, but documents such as the so-called treaty between Baal and Asarhaddon, dated to the 670s BC, rather prove the persistent efficacy of the symbiotic balance between Assyria and Phoenicia.54 And not even the Chaldaeans, who put Tyre under siege a century later (581–568), succeeded in imposing a lasting supremacy over Phoenicia.55 Achaemenid rule was a period of prosperity for the coastal cities, though Tyre’s hegemony in terms of realpolitik now clearly belonged to the past.56 There was probably no political reason to shift the centre towards the West. Secondly, Carthage’s assumption of leadership in the western Mediterranean was by no means instantaneous. As pointed out earlier, until the late fifth century BC, the general image is rather diffuse. There was, obviously, some notion of belonging together, but the links between the various nodes had weakened again. It was within the renewed openness of the Mediterranean network that a distinct ‘Punic’ identity took shape, of which a common language, religious practices, along with participation in the long-distance trade and the growing political power of Carthage, were constituent elements. By no means foreseen by wise politicians, this process was totally contingent, though her ingeniously chosen location at the crossroads of the Mediterranean and trans-African trade routes, and at the heart of the most fertile coastal strip of present-day Tunisia, contributed substantially to Carthage’s later success. The Carthaginian empire was essentially the fruit of the dynamism inherent in an open network: the free flow of information, people, and material reinforced existing ties and created new ones. 52 Ibid., 136–37. 53 Ibid., 135–36. 54 SAA 2, §5. 55 Katzenstein, History of Tyre, 322–34. 56 Elayi, ‘Cités phéniciennes’; Elayi, Économie; Elayi, Sidon; Elayi, ‘Phoenician Cities’.

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The result was a complete reshuffle of the Mediterranean system, from which the west largely benefited – not only Carthage, but in the long run also Rome. To sum up, the ‘network’ paradigm is most suitable for explaining the emergence of the Phoenician commercial diaspora in the Mediterranean, and its gradual transformation into an informal empire dominated by Carthage. It has become evident, however, that network links did not necessarily connect existing cultural, linguistic, or ethnic identity groups. In this respect, we should not speak of a ‘Phoenician’ or a ‘Greek’ network, but rather of a composite Mediterranean network to which – Phoenicians, Greeks and ‘indigenous’ populations, settled and mobile groups, traders and producers of commodities, mercenaries and slaves – each contributed to a specific extent. Finally, far better than other models, the network paradigm explains the shift from east to west, from Tyre to Carthage, that took place gradually from the seventh century onwards. Sketchy as this outline had to be, due to the evidence available it has hopefully managed to provide a paradigm for comparison, a ‘non-Greek model of expansion’ that fits into the aforementioned single, composite Mediterranean network, whose many facets are the subject of this volume.

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Alter Orient und griechisch-römische Kultur

Achim Lichtenberger Überlegungen zur Genese und Kanonisierung der frühen griechischen Götterikonographie im Mittelmeerraum Dem Andenken an Josef Floren (1941-2012)

Einleitung Die Mittelmeerwelt des 2. Jt. v. Chr. mit ihren Hochkulturen der ägäischen Bronzezeit geriet um 1200 v. Chr. in eine schwere Krise. Auch wenn diese nicht zu einem vollständigen Zusammenbruch führte (wie die ältere Forschung annahm), sondern – wie man heute weiß – eher tiefgreifende Umwälzungen zur Folge hatte, so ist dennoch ein deutlicher Kontinuitätsbruch aller gesellschaftlichen Bereiche festzustellen. Als nach dem Ende der darauf folgenden sogenannten „Dunklen Jahrhunderte“ im Griechenland des 8. Jh. v. Chr. ein Wiederaufleben der materiellen Kultur beobachtet werden kann, war diese grundlegend transformiert.1 Während es für die Kulturen der ägäischen Bronzezeit außerordentlich schwierig ist, auf Bildzeugnissen eine spezifische und individuelle Götterikonographie nachzuweisen,2 finden wir seit dem späten 8. Jh. v. Chr. in der Ägäis figürliche Darstellungen griechischer Götter.3 Wir befinden uns damit im Zeitalter Homers, dem wir in seinen großen Epen Ilias und Odyssee Beschreibungen der Handlungen und des Wirkens der olympischen Götter verdanken. Ein Charakteristikum griechischer Götter, so wie sie bereits Homer beschreibt, ist ihre anthropomorphe Erscheinung. Ein weiteres Charakteristikum ist ihre Individualität, die sich in konkreten Namen manifestiert, die von Anfang an vorauszusetzen ist, da wir sie bereits aus Linear-B-Texten (15.–12. Jh. v. Chr.) kennen.4 Zur Identifikation griechischer Gottheiten auf Bildzeugnissen bieten sich drei Möglichkeiten an, die auch miteinander kombiniert werden konnten: 1 Vgl. jetzt den gesamtmediterranen Überblick bei Broodbank 2013, 445–505. Grundlegend zu

den Dunklen Jahrhunderten Desborough 1972 und Coldstream 1977. Vgl. auch Mazarakis Ainian (Hrsg.) 2011 mit weiteren Beiträgen. 2 Blakolmer 2010. 3 Vgl. zur Einführung Simon 1985. 4 Nilsson 1967; Burkert 2008.

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ACHIM LICHTENBERGER

Ikonographische Identifikationskriterien griechischer Gottheiten Beischrift Aktionszusammenhang Attribute 1. Die Gottheit wird durch eine Beischrift eindeutig benannt. Solche Namensnennungen kommen insbesondere auf Vasenbildern des 6. Jh. v. Chr. (Abb. 1) häufig vor.5 2. Die Gottheit wird durch bestimmte Handlungsabläufe oder durch die Kontextualisierung mit anderen Gestalten gekennzeichnet und kann situationsbedingt eindeutig mit einer aus literarischen Quellen belegten Gottheit identifiziert werden.6 So kann es sich bei einer bewaffneten Gestalt, die aus dem Kopf einer anderen kommt, nur um die Geburt der Athena aus dem Kopf des Zeus handeln (Abb. 2). 3. Die Gottheit wird durch Attribute gekennzeichnet. Attribute als charakteristische Beigabe einer Figur sind in der Regel Gegenstände (wie das Blitzbündel des Zeus, Abb. 1), können aber auch Pflanzen oder Tiere sein. Die Attribute sollen im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Die griechischen Götter werden spätestens seit klassischer Zeit mit einer spezifischen Ikonographie dargestellt. Diese erscheint kanonisiert und – was die Attribute betrifft – nur wenigen Wandlungen im Hellenismus und der römischen Kaiserzeit unterworfen.7 Die Herausbildung dieser Ikonographie begann bereits im späten 8. Jh. v. Chr.8 Sie ist nicht nur zeitlich sondern auch räumlich in der gesamten griechischen Mittelmeerwelt verbreitet. Der wichtigen Frage, wie es dazu kam, dass bestimmte Attribute bestimmten Gottheiten zugeordnet wurden und ob dahinter eine Struktur oder Typologie ermittelt werden kann, wurde innerhalb der Altertumswissenschaften bislang nicht systematisch nachgegangen.9 Deshalb sollen hier einige Überlegungen zu den Götterattributen angestellt werden. Dabei wird es nicht möglich sein, endgültige Erklärungen zu liefern; statt5 Vgl. dazu Snodgrass 2000 sowie Giuliani 2003, 115-158. 6 Zu derartigen erzählerischen Kontextualisierungen vgl. Fittschen 1969; Ahlberg-Cornell

1992; Giuliani 2003; Haug 2012, 377–419.

7 Vgl. dazu die einzelnen Einträge im Lexicon Iconograhicum Mythologiae Classicae, das Gott-

heiten und mythische Gestalten einzeln behandelt und die jeweilige Ikonographie und die Attribute diskutiert. 8 Vgl. auch Coldstream 1976, 12–17; Boschung 2007, 79. 9 Zur Frage, weshalb bestimmte Attribute Kultbildern beigefügt wurden, vgl. Simon 2007, 175–178.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

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Abb. 1: Zeus auf dem Klitias-Krater (Florenz, Archäologisches Nationalmuseum 4209 (nach: Minto 1960, tav. X).

Abb. 2: Reliefpithos aus Tenos mit Kopfgeburt der Athena (nach: Demargne 1984, 988 Nr. 360).

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ACHIM LICHTENBERGER

dessen sollen einige bislang nicht gestellte Fragen angesprochen und ihre methodische Lösbarkeit ausgelotet werden.

(a) Definition Es sei mit einer Definition begonnen.10 Attribut ist abgeleitet von lat. attribuere, zuteilen, beigeben. Attribut kann knapp und allgemein als die einer dargestellten Person (in unserem Fall Gottheit) zur Charakterisierung beigegebenen Beizeichen definiert werden.

(b) Attribute in einem ikonographischen System Bevor wir uns den Attributen widmen, müssen wir in der Betrachtung der Göttergestalt als solcher noch einige Bemerkungen vorausschicken: Wenn wir uns dem Bild einer griechischen Gottheit zuwenden, so gibt es unterschiedliche Bildelemente, die in einem ikonographischen System der Kennzeichnung und Charakterisierung der äußeren Erscheinung einer Gottheit dienen. Bereits erwähnt wurde die anthropomorphe Form, die durch Physiognomie und Tracht spezifiziert werden kann. In einem Drei-Ebenen-Modell der ikonographischen Kennzeichnung griechischer Götter folgen auf „Die anthropomorphe Erscheinung“ und auf „Physiognomie und Tracht“ die „Attribute“. Am allgemeinsten ist der Anthropomorphismus griechischer Götter; eine erste Spezifizierung der Götter nehmen „Physiognomie und Tracht“ vor, und eine konkrete Identifikation erfolgt erst über die Attribute. Drei-Ebenen-Modell der ikonographischen Kennzeichnung griechischer Götter Attribut ↑ Physiognomie und Tracht ↑ Anthropomorphe Erscheinung Daraus folgt, dass „Physiognomie und Tracht“ von „Attributen“ zu unterscheiden sind. Dies sei an zwei Beispielen demonstriert: 10 Zur Definition von „Attribut“ vgl. Brelich 1958; Brilliant 1966; Mylonopoulos 2010b,

173–203.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

Abb. 3: Gott aus dem Meer (Athen, Nationalmuseum, Inv. No. X 15161. Copyright: National Archaeological Museum, Athens (photo: Gerasimos Stournas)).

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Abb. 4: Amphoriskos mit Rückführung des Hephaistos (Athen, Nationalmuseum, Inv. No. 664. Copyright: National Archaeological Museum, Athens (photo: Irini Miari)).

1. Der Peplos wird von Athena getragen, aber auch von anderen Göttinnen, die mit dieser traditionellen Frauentracht ihre „Züchtigkeit“ demonstrieren. Erst die Attribute Waffen oder Kornähren kennzeichnen seine Trägerin auf einer spezifizierenden Bildebene eindeutig als Athena oder Demeter. 2. Der lange Bart ist Zeus eigen, doch auch Poseidon. Beide werden damit als Vatergottheiten und Angehörige einer bestimmten Göttergeneration gekennzeichnet.11 Ohne zusätzliche Attribute ist eine Identifikation schwierig. So ist etwa der berühmte sogenannte „Gott aus dem Meer“ (Abb. 3) immer noch in seiner Identifikation umstritten:12 Hielt er den Dreizack des 11 Landwehr 2008. 12 Athen, Nationalmuseum 15.161. – Siehe zu der Statue Kleine 1976 mit einer Deutung als

Poseidon. Zuletzt hat sich Wünsche 1978 und 1979 für eine Deutung des Gottes als Zeus stark gemacht. Dort auch die Diskussion der Argumente.

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ACHIM LICHTENBERGER

Abb. 5: Varvakion-Statuette (Athen, Nationalmuseum, Inv. No. 129. Copyright: National Archaeological Museum, Athens (photo: Hans Rupprecht Goette)).

Abb. 6: Tetradrachme der Stadt Athen mit Athena und Eule (Archäologisches Museum Münster M4550); Durchmesser: 23/20 mm.

Poseidon oder den Blitz des Zeus? „Anthropomorphe Form“, „Physiognomie und Tracht“ werden häufig erst durch die Hinzufügung von „Attributen“ spezifiziert. In einigen Fällen ist die Abgrenzung von „Attribut“ und „Physiognomie“ schwierig, so im Fall der Darstellung ungewöhnlicher körperlicher Merkmale wie etwa Behinderung, die Hephaistos eigen ist. Eine der frühesten sicheren Darstellungen des Hephaistos auf einem korinthischen Amphoriskos des frühen 6. Jh. v. Chr. in Athen zeigt den Gott reitend ohne Attribute aber mit verdrehten Füßen (Abb. 4).13 Dieses ikonographische Detail gibt es nur für Hephaistos, doch kann es, weil es dem Gott eben eigen und nicht etwa beigefügt ist, nicht als Attribut gewertet werden. Auch bei bestimmten, nur von einigen Göttern getragenen Kleidungsstücken wie etwa einem Pantherfell des Dionysos oder Reisekleidung des Hermes ist der Attributbegriff unscharf und der Übergang von Tracht zu Attribut fließend.

(c) Klassifizierung Dies führt uns zu einer Klassifizierung der Götterattribute. Eine solche ist bislang noch nicht systematisch vorgenommen worden. Nehmen wir etwa Athena 13 Athen, Nationalmuseum 664. – Carpenter 1986, 15f.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

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als Beispiel, so besitzt sie in klassischer Zeit u.a. folgende Attribute: Waffen und Ägis (Abb. 5), die Eule (Abb. 6), den Ölbaum (Abb. 6) und die Spindel.14 Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass hier offensichtlich verschiedene Kategorien von Attributen zusammenkommen. So gibt es Gegenstände (Waffen, Ägis, Spindel), ein Tier (Eule) sowie eine Pflanze (Ölbaum). Auch für andere Gottheiten, wie etwa Zeus lassen sich Beispiele für diese Attributkategorien finden. Sein Blitz ist ein Gegenstand, sein Adler ein Tier.15 Dionysos wiederum hat als Gegenstände den Thyrsos, das Pantherfell und den Kantharos, als Tier den Panther und als Pflanze Efeu und Wein.16 Eine Einteilung der Attribute von Göttern in Gegenstände, Tiere und Pflanzen ist also angemessen.17 Um einen Überblick über die Attribute der 12 olympischen Gottheiten zu erlangen, wurden sie in eine Tabelle eingetragen. Dabei wurde von einer chronologischen Differenzierung Abstand genommen, damit die Tabelle übersichtlich bleibt. Die Attribute sind zum Teil seit dem späten 8., in der Mehrzahl aber seit dem 7. und 6. Jh. v. Chr. belegt. Dabei ist zu betonen, dass selbstverständlich nicht alle Attribute in jedem Bild auftreten müssen. Die Tabelle wurde aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Darstellungen unterschiedlicher Zeitstellung und in unterschiedlichen Gattungen kompiliert, ist somit vereinfachend, genügt aber dem Ziel einer Kategorisierung von Attributen:18 Gottheit

Gegenstand

Tier

Pflanze

Zeus

Blitz (E. 8. Jh.)19

Adler (E. 8. Jh.)20

Eiche (M./E. 4. Jh.)21

Löwe (14./13. Jh.?)22 Kuh (14. Jh.?)23

Granatapfel (E. 7. Jh.)24

Hera

Sonstiges

14 Vgl. dazu Demargne 1984. 15 Vgl. dazu Tiverios u. a. 1997. 16 Vgl. dazu Gasparri 1986. 17 Vgl. auch die Einteilung bei Brelich 1958, 911. 18 In der Regel ist nur jeweils ein frühes Monument angegeben. „Trachtattribute“ sind kursiv

gedruckt.

19 Pithosdeckel, Heraklion, Museum 12445 (1414), aus Knossos. – Tiverios et al. 1997, 316f.

Nr. 12.

20 Pithosdeckel, Heraklion, Museum 12445 (1414), aus Knossos. – Tiverios et al. 1997, 316f.

Nr. 12.

21 Münzen der epirotischen Symmachie. – Franke 1961, 126–133. 22 Vgl. den möglichen Verweis auf Hera am Löwentor von Mykene (Kossatz-Deissmann 1988,

663 Nr. 24).

23 Siegel im Athener Nationalmuseum (6246), aus Mykene. – Kossatz-Deissmann 1988, 663

Nr. 25.

24 Terrakotten aus Großgriechenland. – Kossatz-Deissmann 1988, 667.

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ACHIM LICHTENBERGER

(Hera)

Kuckuck (E. 7. Jh.)25

Poseidon

Dreizack (A. 6. Jh.)26

Pferd (6. Jh.)27 Delphin (6. Jh.)28

Athena

Waffen (A. 7. Jh.)29 Helm (A. 7. Jh.)30 Ägis (um 560)31 Spindel (A. 7. Jh.)32

Eule (A. 6. Jh.)33

Ölbaum (A. 6. Jh.)34

Apollon

Bogen (A. 7. Jh.)35 Lyra (M. 7. Jh.)36 Dreifuß (E. 7. Jh.)37

Löwe (E. 7. Jh.)38

Lorbeer (A. 5. Jh.)39

Artemis

Bogen (M. 7. Jh.)40 Fackel (E. 6. Jh.)41

‚Wildtiere‘ (A. 7. Jh.)42

Aphrodite

Taube, Vogel (E. 8. Jh.,

Eros (M. 6. Jh.)43

25 Holzrelief aus dem Heraion von Samos, verschollen. – Kossatz-Deissmann 1988, 683f.

Nr. 202.

26 Mittelkorinthisches Alabastron, Kunsthandel Basel. – Simon 1994, 462 Nr. 153. Vgl. auch

Mylonopoulos 2003, 363.

27 Korinthische Pinax in Berlin (F 539+630). – Simon 1994, 457 Nr. 109. 28 Korinthische Pinax in Berlin (F 755). – Simon 1994, 457 Nr. 104. 29 Protokorinthischer Krater im Museum von Samos. – Demargne 1984, 960 Nr. 26. Vgl. auch

Anm. 32.

30 Protokorinthischer Aryballos in Oxford, Ashmolean Museum G 146. – Demargne 1984, 965

Nr. 67. Vgl. auch Anm. 32.

31 Burgon-Preisamphora in London, British Museum B 130. – Bentz 1998, 123 Nr. 6.001. 32 Reliefpithos, Museum Tenos. – Demargne 1984, 988 Nr. 360. 33 Tetradrachmen von Athen. – Franke – Hirmer 1964, Tf. 116. 34 Tetradrachmen von Athen. – Franke – Hirmer 1964, Tf. 116. 35 Sog. Mantiklos-Apollon in Boston, Museum of Fine Arts 03.997 (Bogen mit guten Gründen

ergänzt). – Lambrinudakis u. a. 1984, 194 Nr. 40.

36 Melische Amphora im Athener Nationalmuseum, Inv. Nr. 3961 (911). – Fittschen 1969, 143f.

GV 4; Lambrinudakis u. a. 1984, 304 Nr. 1005; Ahlberg-Cornell 1992, 143.

37 Mitra aus Axos im Museum Heraklion. – Lambrinudakis u. a. 1984, 222 Nr. 318; Blome 1982,

85f.

38 Mitra aus Axos im Museum Heraklion. – Lambrinudakis u. a. 1984, 222 Nr. 318; Blome 1982,

85f. Sowie eine Elfenbeinstatuette in Delphi, Museum 9912. – Lambrinudakis u. a. 1984, 222f. Nr. 322. 39 Rf Lekythos im Athener Nationalmuseum 1203. – Lambrinudakis u. a. 1984, 214 Nr. 239. 40 Melische Amphora im Athener Nationalmuseum, Inv. Nr. 3961 (911). – Fittschen 1969, 143f. GV 4; Lambrinudakis u. a. 1984, 304 Nr. 1005; Ahlberg-Cornell 1992, 143. 41 Sf Amphora in Boston, Museum of Fine Arts 68.46. – Kahil 1984, 718 Nr. 1245. 42 Vgl. die diversen Darstellungen der Potnia Theron, die ab dem 7. Jh. v. Chr. auch auf Artemis bezogen werden können. Siehe dazu Kahil 1984, 624–628. 738. Vgl. aber auch die vorsichtigen Ausführungen von Townsend Vermeule 1974, 160–162. 165 sowie nun Barclay 2013. 43 Sf Pinax aus Athen, Athener Nationalmuseum 15131. – Delivorrias 1984, 121 Nr. 1255.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

(Aphrodite)

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mykenische Vorläufer)44

Hephaistos

Werkzeug (A. 6. Jh.)45 Arbeitskleidung (E. 6. Jh.)46

Ares

Waffen (M. 7. Jh.)47

Demeter

Fackel (E. 6./A. 5. Jh.)48

Dionysos

Thyrsos (E. 6. Jh.)51 Kantharos (E. 7. Jh.)52 Pantherfell (E. 7. Jh.)53

Panther (A./M. 6. Jh.)54

Hermes

Kerykeion (E. 7. Jh.)57 Flügelschuhe (E. 7. Jh)58 Reisekleidung (A. 6. Jh.)59

Widder (E. 6. Jh.)60

Kornähren (E. 6. Jh.)49 Granatapfel (A. 6. Jh.)50 Efeu (M. 6. Jh.)55 Traube (M. 6. Jh.)56

44 Bronzescheibe aus Tegea, Museum Tegea. – Delivorrias 1984, 95 Nr. 899. 45 Pyxis aus Theben in Paris, Louvre CA 616. – Hermary – Jacquemin 1988, 646 Nr. 188. 46 Caeretaner Hydria in Wien, Kunsthistorisches Museum IV 3577. – Hermary – Jacquemin

1988, 637 Nr. 103.

47 Melische Amphora in Berlin F 301. – Fittschen 1969, 143; Bruneau 1984, 482 Nr. 52; Ahlberg-

Cornell 1992, 141.

48 Westgriechische Terrakotten. – Beschi 1988, 856 Nr. 100–108. 49 Sf Amphora aus Eleusis, Museum Eleusis 2558. – Beschi 1988, 869 Nr. 294. 50 Böotische Terrakotte in London, British Museum 79.6–24.2. – Beschi 1988, 859 Nr. 144. 51 Sf Lekythos in Wien, Kunsthistorisches Museum IV 196. – Jacobsthal 1927, Tf. 5; Schauber

2001, 35.

52 Melische Amphora in Athen, British School. – Lorimer 1950, Tf. XXXI.1; Fittschen 1969,

139 GP 26.

53 Korinthischer Aryballos in London, British Museum 84.10-11.48. – Gasparri 1986, 451

Nr. 285.

54 Tyrrhenische Amphora in Paris, Louvre E 831. – Gasparri 1986, 453 Nr. 325. 55 Sf Kylix in Neapel, Nationalmuseum Stg. 172. – Gasparri 1986, 428 Nr. 55. 56 Sf Kylix in Neapel, Nationalmuseum Stg. 172. – Gasparri 1986, 428 Nr. 55. 57 Melische Amphora in Athen, Nationalmuseum 354. – Fittschen 1969, 139 GP 25; Ahlberg-

Cornell 1992, 145f.

58 Melische Amphora in Athen, Nationalmuseum 354. – Fittschen 1969, 139 GP 25; Ahlberg-

Cornell 1992, 145f.

59 Sf Olpe in Athen, Nationalmuseum 19159. – Siebert 1990, 309 Nr. 230. 60 Sf Lekythos in London, British Museum B 549. – Siebert 1990, 310 Nr. 252.

220

ACHIM LICHTENBERGER

Die Gegenstand-Attribute sind mit zwei Ausnahmen alle tatsächlich existierende und konkrete Gegenstände. Die Ausnahmen sind das Blitzbündel des Zeus und die Ägis, ein übelabwehrendes und übelbringendes geschupptes Gebilde.61 Ägis und Blitzbündel sind fiktive bzw. rein mythologische Attribute, die anders als die übrigen Attribute keinen real-existierenden Gegenstand der Lebenswelt zum Vorbild haben. Das Blitzbündel ist Zeus zugeordnet, die Ägis ist – wie wir noch sehen werden – eigentlich auch Eigentum des Göttervaters. Es sei die vorsichtige These formuliert, dass mit dem übernatürlichen Charakter der Attribute die hervorgehobene Position des Göttervaters unterstrichen wird. Offensichtlich gab es also eine Hierarchie der griechischen Götterattribute, an deren Spitze das Blitzbündel und die Ägis standen.62 Hierarchie der Gegenstandsattribute Fiktive bzw. rein mythologische Gegenstandsattribute (Blitzbündel, Ägis) Lebensweltliche Gegenstandsattribute (z. B. Dreizack, Bogen, Fackel)

(d) Verhältnis Gottheit zu Attribut Auch in der christlichen Ikonographie verfügen Heilige über Attribute. So werden Märtyrer sehr häufig mit dem Gegenstand ihres Martyriums als Attribut versehen. Als Beispiel kann der heilige Laurentius aus dem Dom zu Münster dienen (Abb. 7).63 Laurentius erlitt sein Martyrium auf einem Rost, den er in seiner Rechten präsentiert. In diesem Fall und bei anderen Märtyrerdarstellungen können wir eine inhaltliche Beziehung zwischen Person und Attribut beobachten, wobei strukturell in der Regel (nicht immer) eine bestimmte und bei allen Märtyrern vergleichbare Situation, nämlich die Art und Weise ihres Martyriums, das Attribut bedingt. Solche Attribute sind also aus einer Handlung entstanden und sagen zunächst wenig über das Wirken der mit dem Attribut gekennzeichneten Gestalt aus. Anders verhält es sich mit griechischen Gottheiten, für die ein klar definierter und mehrheitlich gültiger Strukturzusammenhang weniger offenkundig ist. Den Griechen war nämlich das Attribut nicht nur äußeres Erkennungsmerkmal, sondern drückte etwas vom Wirken einer Gottheit aus. So beziehen sich die Spindel der Athena auf die weiblichen Fertigkeiten der Göttin, die Wildtiere der Artemis auf deren Wirkungsraum über die wilde Natur, die Werkzeuge des Hephaistos 61 Zur Ägis vgl. jetzt umfassend Vierck 2000. 62 Vgl. auch Mylonopoulos 2010b, 182. 63 Zur Vita und Ikonographie des Heiligen Laurentius (gest. 258 n. Chr.) vgl. Petzoldt 1974.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

Abb. 7: Laurentius aus dem Dom zu Münster (photo: Gemma Borgert).

Abb. 8: Pithosdeckel mit Zeus (Heraklion, Museum 12445 (1414). Copyright: Archaeological Museum of Heraklion, Hellenic Ministry of Culture and SportsArchaeological Receipts Fund).

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Abb. 9: Boston, Aryballos des AjaxMalers (Boston, Museum of Fine Arts Inv. Nr. 95.12).

Abb. 10: Melische Amphora aus Rheneia mit Zeus (Mykonos, Museum 554. Nach: Zaphiropoulou 2003, Tf. XLII)).

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ACHIM LICHTENBERGER

Abb. 11: Basaltrelief eines Gottes aus Samal (nach: Akurgal 1961, Tf. 128).

Abb. 12: Tel Ahmar-Stele (nach: Bunnens 2006, 140 Abb. 7).

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

223

auf die Fähigkeiten des Gottes als Handwerker und die Kornähren der Demeter auf deren Wirken für den Ackerbau. Attribute griechischer Gottheiten verweisen daher in erster Linie auf das Wirken der Gottheiten; eine den Märtyrerattributen vergleichbare relativ klare strukturelle Typologie des Mechanismus der Zuweisung von Attributen scheint nicht möglich zu sein. Attribute griechischer Gottheiten erwachsen nicht aus einem biographischen Element der Gottheiten, sondern aus ihrem Wirken, wobei das Attribut sowohl Ausdruck des Wirkens (Kornähren) als auch dessen Tatwerkzeug (Blitzbündel) sein kann.

(e) Frühe Götterbilder und die Suche nach Attributen Diese grundsätzlichen Überlegungen führen zu der für uns zentralen Frage, in welcher Epoche die Götter ihre Attribute bekamen. Bei der Suche nach den frühesten Bildern des Zeus offenbart sich die methodische Schwierigkeit der Erkennbarkeit. Denn: Man erkennt nur, was man bereits kennt. Das heißt Zeus ist nur dann als Zeus zu identifizieren, wenn er ein später kanonisches Attribut trägt. So etwa auf dem Deckel eines kretischen Pithos aus der Nähe von Knossos, der um 700 v. Chr. datiert wird und eine männliche Gestalt mit Blitzbündel und Vogel vor einem Dreifuß zeigt (Abb. 8).64 Blitzbündel und Vogel, möglicherweise ein Adler, weisen die Gestalt als Zeus aus. Auch auf einem etwas späteren protokorinthischen Aryballos in Boston (um 680 v. Chr.) ist wohl Zeus mit dem Blitzbündel im Kampf dargestellt (Abb. 9).65 Dass Zeus Blitzbündel und Adler als Attribute zugewiesen waren, belegt eine dichte literarische Überlieferung, die mit dem etwas älteren Homer beginnt. Auch spätere Bildzeugnisse mit Beischriften, wie der berühmte Klitias-Krater in Florenz, der um 570/560 v. Chr. datiert wird, benennen den Mann mit Blitzbündel als Zeus (Abb. 1).66 Eine Identifikation der Gestalt mit Blitzbündel ist also unproblematisch. Doch es gab auch Zeusbilder ohne solche identifizierenden Attribute. Erinnert sei nur an den um 680/70 v. Chr. zu datierenden Reliefpithos aus Tenos mit der Darstellung der Geburt der Athena aus dem Kopf des Zeus (Abb. 2).67 Hier ist Zeus nur über die Narration (Kopfgeburt der Athena) gekennzeichnet. Es fehlen Blitz und Adler, stattdessen ist der Gott geflügelt wiedergegeben. Es stellt sich daher die Frage, ob bei dieser Darstellung auf die Attribute verzichtet wurde, da Zeus durch die Handlung bereits identifizierbar war oder ob Zeus auch ohne den 64 Heraklion, Museum 12445 (1414). – Tiverios u. a. 1997, 316f. Nr. 12. 65 Boston, Museum of Fine Arts 95.12. – Tiverios et al. 1997, 317 Nr. 16. 66 Florenz, Archäologisches Nationalmuseum 4209. – Minto 1960, Tf. X. 67 Museum Tenos. – Fittschen 1969, 129–131 GS 1; Demargne 1984, 988 Nr. 360; Ahlberg-

Cornell 1992, 144f.

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Handlungszusammenhang in dieser Form für den antiken Betrachter erkennbar war. Wir wissen es nicht; immerhin ist Athena in dem Bild mit mehreren ihrer Attribute (Spindel, Waffen) versehen. Ein anderer geflügelter Zeus auf einer etwas jüngeren Darstellung auf einer auf Rheneia gefundenen sogenannten melischen Amphora (hergestellt auf Paros) trägt zwei Blitzbündel (Abb. 10).68 Ohne diese wäre die Gestalt nicht als Zeus zu erkennen, da ein Interaktionszusammenhang fehlt. Können wir daher schließen, dass die Bedeutung bzw. die kennzeichnende Funktion von Attributen in Nicht-Handlungsbildern wie diesem zunimmt? Zugleich wäre zu erwägen, ob einige Attribute bei solchen Nicht-Handlungsbildern eine Reduktion von Handlungsattributen sind. Uns fehlt leider ein methodisches Instrumentarium, diese Überlegungen zu verifizieren, doch sind Zweifel an einem solchen einfachen Modell angebracht, da z. B. auch orientalische Götter, wie der Wettergott auf einem späthethitischen Relief (8. Jh. v. Chr.) aus Samal Attribute außerhalb eines Handlungszusammenhangs trugen (Abb. 11).69 Die Verwendung von Attributen könnte daher auch von orientalischen Vorbildern abgeleitet werden und muss keine motivtypologische Erklärung („Reduktion“) suchen. Die Verbindung zum Orient wird in diesem besonderen Fall auch von der Beobachtung unterstützt, dass die gewellte Blitzform typologisch eindeutig Vorbild für den Blitz auf dem kretischen Pithosdeckel ist. Anstoß für die Verwendung von Attributen dürfte somit der Orient gegeben haben.70 Im Zusammenhang mit der gewellten Blitzform sei die Frage aufgeworfen, ob nicht auch der Dreizack des Poseidon typologisch von einem solchen nordsyrischen Blitz herzuleiten ist (Abb. 12).71 Diese Beobachtung wurde meines Wissens noch nicht systematisch betrachtet und verdiente weiterer Untersuchung.72 Im Zusammenhang mit frühen Zeusbildern spielt das panhellenische Heiligtum des Gottes in Olympia eine zentrale Rolle. Von Pausanias (5,17,1) wissen wir, dass im Heraion ein altertümliches Bild des stehenden Zeus mit Helm existierte.73 Der Helm ist kein gängiges Attribut des Zeus, doch ist er bei einer Reihe von Bronzen des 8. Jh. v. Chr. aus Olympia zu finden (Abb. 13). Diese zeigen entweder eine männliche Gestalt mit erhobenen Armen oder (später) eine bewaffnete 68 Mykonos, Museum 554. – Tiverios u. a. 1997, 317 Nr. 13; Zaphiropoulou 2003, 178f. Nr. 56

Tf. XLII sowie S. 42f. mit Zweifel an Identifikation der Figur als Zeus.

69 Istanbul, Archäologisches Museum 7516. – Akurgal 1961, Tf. 128. 70 Orientalische Einflüsse dürften insgesamt prägend auf die Anthropomorphisierung indivi-

dueller Götterbilder gewesen sein. Siehe dazu die Fallstudie von Simon 2007. Es ist darüber hinaus sicher kein Zufall, dass eine nicht geringe Zahl der oben angeführten Zeugnisse für besonders frühe Belege von Attributen aus Kreta stammen, wo insgesamt orientalische Einflüsse im 8. und 7. Jh. v. Chr. gut greifbar sind. Vgl. dazu Blome 1982. 71 Vgl. zu dem „trident-like thunderbolt“ Bunnens 2006, 43. 72 Vgl. auch die Diskussion bei Cook II.1 1925, 786–798 sowie Mylonopoulos 2003, 361–364. 73 Vgl. dazu Simon 2007, 172f.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

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Abb. 13: Kleinbronze aus Olympia, Athen Nationalmuseum 6249 (nach: Kunze 1961, 140 Abb. 81f.).

Abb. 14: Dreros-Sphyrelata (Heraklion, Museum 2445–2447. Copyright: Archaeological Museum of Heraklion, Hellenic Ministry of Culture and Sports-Archaeological Receipts Fund).

Abb. 15: Zeus mit Ägis aus Utica (Leiden, Rijksmuseum van Oudheden Inv. Nr. 1824).

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Figur.74 Um die Deutung dieser Bronzen gibt es einen langen Forschungsstreit. Handelt es sich um Zeus75 oder ist hier im Votiv ein Dedikant76 zu erkennen? Der Forschungsstreit scheint zugunsten einer Deutung als Menschen entschieden: Aufgrund der hohen Seltenheit von Götterdarstellungen auf geometrischen Vasen (8. Jh. v. Chr.) – dort sind fast alle Gestalten Menschen – sollen wohl auch diese geometrischen Bronzen Menschen meinen. Allerdings: Vollständig sicher ist das nicht – der Kontext der Bronzen in einem Heiligtum ist ein anderer als derjenige von geometrischen Grabvasen, bei denen eher Darstellungen von Menschen als von Göttern zu erwarten sind. Es gilt daher weiterhin, dass der Helm die Bronzen mit dem alten Kultbild in Olympia verbindet. Eine unzweifelhafte Deutung der Bewaffneten als Zeus wird vor allem wegen fehlender kanonischer Attribute verhindert. Doch wir kennen Götterbilder mit solchen Attributen erst aus dem späten 8. Jh. v. Chr. Der Umkehrschluss, dass es deswegen vorher keine Götterbilder gegeben habe, ist jedoch nicht zulässig. Ein vergleichbares Identifikationsproblem haben wir mit den sogenannten Sphyrelata aus dem kretischen Dreros (Abb. 14).77 Dabei handelt es sich um drei gehämmerte Bronzestatuetten, die zusammen in dem eisenzeitlichen Tempel in Dreros gefunden wurden und in das 8. Jh. v. Chr. datiert werden. Die jugendliche männliche Statue hat eine Höhe von 80 cm, die beiden weiblichen sind 40 bzw. 45 cm hoch. Seit der Erstpublikation durch S. Marinatos wurde, da wir aus einer Inschrift des 3. Jh. v. Chr. von einem lokalen Apollonkult wissen,78 die männliche Statue mit Helm als Apollon, die weiblichen als Artemis und Leto identifiziert, das ganze Ensemble als Kultbildgruppe.79 Diese Interpretation ist jedoch unsicher, es könnte sich ebenso gut um Votive gehandelt haben80 und auch eine gleichzeitige Entstehung scheint nicht sicher.81 Wir wüssten gerne, was der Mann in seiner angewinkelten Rechten hielt. War es ein Bogen, der ihn als Apollo kennzeichnete?82 Wir wissen es nicht und müssen uns sehr vor Zirkelschlüssen hüten. Die frühesten sicheren Darstellungen des Apollon mit Bogen stammen aus dem 7. Jh. v. Chr. und auch für die Sphyrelata aus Dreros wurde von F. Brommer eine Deutung als Menschen favorisiert.83 74 Kunze 1961, 138–141; Himmelmann 2002, 100f. 75 Kunze 1961, 138–141 sowie die bei Himmelmann 2002, 99. 105f. Anm. 21 angegebene zustim-

mende Literatur.

76 Simon 1985, 26f. sowie 2007, 176f.; Himmelmann 2002, 99–102. 77 Heraklion, Museum 2445–2447. – Zuletzt: Bumke 2004, 45–54. 78 Marinatos 1936, 253–255. 79 Marinatos 1936. Zur Forschungsgeschichte vgl. Blome 1982, 13–15; Romano 2000 und Bumke

2004, 45–54.

80 Bumke 2004, 45–54. 81 Romano 2000. 82 Romano 2000, 49; Simon 2007, 175. 83 Brommer 1986, 49.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

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Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass eine Ikonographie mit später verbindlichen Attributen frühestens seit dem späten 8. Jh. v. Chr. belegt ist. Offensichtlich ist die Zeit um 700 v. Chr. die Phase, in der griechische Götter begannen, ihre später kanonischen Attribute anzunehmen. Dies führt uns zeitlich erneut zu Homer, der, nach gegenwärtiger Mehrheitsmeinung, im späten 8. Jh. v. Chr. lebte.

(f) Homer und die Monumente Zu dem Götterbild Homers äußert sich Herodot in seinem Buch 2, Kapitel 53 (Übersetzung von Josef Feix): „Aber woher jeder einzelne Gott stammte oder ob sie schon immer alle da waren, wie sie aussahen, das wussten die Griechen sozusagen bis gestern und vorgestern nicht. Hesiod und Homer haben meiner Meinung nach etwa 400 Jahre vor mir gelebt, aber nicht mehr. Sie haben den Stammbaum der Götter in Griechenland aufgestellt und ihnen ihre Beinamen gegeben, die Ämter und Ehren unter sie verteilt und ihre Gestalt (eidea) klargemacht.“ Diese Aussage zu dem Beitrag Homers und Hesiods am griechischen Pantheon ist vieldiskutiert. Problematisch ist etwa, dass Dionysos und Demeter bei Homer kaum eine Rolle spielen. Von Teilen der angelsächsischen Forschung, die sich mit dem Einfluss Homers auf frühgriechische Sagendarstellungen beschäftigt hat, wird die Aussage Herodots grundlegend in Zweifel gezogen. Demnach hätten Bildkünstler häufig andere, nicht-homerische Sagenversionen als Vorlagen für ihre Werke genommen.84 Gleichwohl ist auch unzweifelhaft, dass die Homerische Schildbeschreibung (Il. 18, 478–608) ein deutlicher Hinweis auf die gegenseitige Wahrnehmung der Künstler von Bildwerken und des Dichters des Epos ist.85 Um das Verhältnis von Homertext und frühgriechischen Bildwerken im Hinblick auf das Bild der Götter und deren Attribute auszuleuchten, wurde die Ilias durchgesehen und alle dort den Göttern beigefügten Attribute oder charakteristischen Handlungsgegenstände aufgelistet:

84 Vgl. etwa Snodgrass 1979 und 1998 sowie Hurwit 1985, bes. 122-124. Vgl. auch Giuliani 2003,

105–114. 85 Vgl. dazu Fittschen 1973; Hurwit 1985, 71–73; Giuliani 2003, 39–46.

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Götterattribute in der Ilias Gottheit

Gegenstand

Tier

Pflanze

Zeus

Ägis86 Blitz87 (asterope, keraunos) Donner/Wolken88 Rüstung89 Geißel90 (mastix) Waage91 (talanton)

Adler92

Eiche93

Sonstiges

(Kuh)94

Hera Poseidon

Dreizack95 (triaina)

Athena

Ägis97 Waffen98 Rüstung99 Helm100

Apollon

Bogen101 (hekebolos) Leier102 Ägis103 Schwert104

(Pferde)96

86 Il. 1, 202. 222; 2, 157. 491. 598. 787; 3, 426; 4, 167; 5, 115. 396. 635. 693. 714. 733. 738–742. 815; 6,

420; 7, 60; 8, 287. 352. 375. 384. 427; 10, 278. 553; 11, 66; 12, 209; 13, 825; 14, 160. 252; 15, 175. 242. 308–310; 22, 221. 87 Il. 1, 580. 609; 7, 443; 8, 419. 455; 10, 154; 11, 66; 12, 275; 14, 417; 15, 117. 379; 17, 591; 19, 121; 20, 16; 21, 198. 401. 420; 22, 178. 88 Il. 1, 354. 419. 511. 517. 560; 2, 146. 781; 4, 30; 5, 631. 735. 764. 888; 7, 280. 454; 8, 2. 38. 387. 469; 10, 552; 11, 318; 13, 624; 14, 54. 293. 312. 341; 15, 154. 192. 220; 16, 121. 666; 17, 198; 20, 10. 19; 21, 199. 499. 520; 22, 178. 182; 24, 64. 89 Il. 5, 735; 8, 387. 90 Il. 12, 37; 13, 812. 91 Il. 16, 658; 22, 209. 92 Il. 8, 247–251; 24, 315. 93 Il. 5, 693; 7, 60. 94 Il. 1, 551. 568 u. ö. („kuhäugig“) 95 Il. 12, 27. 96 Il. 13, 23–30 (aber nicht exklusiv). 97 Il. 2, 447–450; 5, 738–742; 18, 204; 21, 400. 98 Il. 5, 737. 745f. 859; 8, 376. 388–390. 99 Il. 5, 735; 8, 387; 18, 518. 100 Il. 5, 743f. 101 Il. 1, 14. 21. 37. 42. 45-53. 75. 96. 110. 147. 370. 373. 382–385. 451. 479; 2, 766. 827; 4, 101. 105. 119; 5, 339. 444. 449. 760; 7, 34. 58. 83; 9, 564; 10, 515; 15, 231. 243. 253; 16, 94. 513. 706. 711; 17, 333. 585; 20, 68. 71. 295; 21, 229. 278. 461. 472–474. 478; 22, 220. 302; 23, 872; 24, 56. 605. 758. 102 Il. 1, 603. 103 Il. 15, 229f. 308. 318. 361; 24, 20f. 104 Il. 15, 256.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

Artemis

Bogen105 Spindel106

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(Wild)107

Aphrodite Hephaistos

Werkzeug108

Ares

Waffen109 Rüstung110 Kornähren111

Demeter Dionysos Hermes

Kerykeion112 Flügelschuhe113

Betrachten wir diese Aufstellung, so ergeben sich für die Frage nach dem Verhältnis der später kanonischen bildlichen Götterattribute zu dem Homertext drei Aspekte auf die kurz eingegangen werden soll: 1. Eine Vielzahl an Götterattributen stimmt sowohl bei Homer, als auch auf frühen Bildzeugnissen überein. So sind für Zeus Blitz und Adler und für Poseidon der Dreizack jeweils bezeugt. Auch Athena hat in beiden Fällen die Ägis und Bewaffnung. Apollon trägt Bogen und Leier, so wie seine Schwester Artemis mit Bogen und Wild ausgezeichnet ist. Hephaistos hat Werkzeug, Ares Waffen als Attribut. Demeter besitzt Kornähren und Hermes das Kerykeion sowie Flügelschuhe. Die Attribute finden wir jeweils bei Homer und den Monumenten. 2. Die Mehrzahl der Tier- und Pflanzenattribute findet keine Entsprechung im Homertext. Und: Die Ikonographie des Dionysos kann ebenfalls nicht aus der Ilias heraus erklärt werden. 3. Eine Reihe von prominenten Attributen des Homertexts spielt praktisch keine Rolle auf Bildzeugnissen. Dieser Beobachtung soll nun nachgegangen werden. Am auffälligsten ist die Verwendung des Attributs Ägis. In der Ilias ist die Ägis eindeutig Zeus zugeordnet. Insgesamt 34 Belegstellen für die Zuweisung der Ägis 105 Il. 5, 53. 447; 6, 428; 9, 538; 19, 59; 20, 39. 71; 21, 480. 490–496. 502; 24, 605. 106 Il. 16, 183; 20, 70. 107 Il. 5, 52; 9, 539; 21, 485f. 108 Il. 2, 101; 18, 143. 372–417. 468–482. 109 Il. 2, 479; 5, 594. 852; 15, 125f.; 21, 402. 408. 110 Il. 18, 518. 111 Il. 5,500–502. 112 Il. 24, 343f. 113 Il. 24, 340–342.

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an den Göttervater wurden gezählt. Je viermal ist sie Athena und Apollon gegeben, wobei sie die Ägis in der Regel zuvor von Zeus bekamen. Blicken wir nun auf die Bildkunst, so ist dort die Ägis in erster Linie der Athena als Attribut gegeben. Für Zeus gibt es zwar ein paar Bildzeugnisse insbesondere in der Spätklassik und im Hellenismus, doch ist die Ägis nicht sein charakterisierendes Attribut (Abb. 15).114 Nicht existent auf bildlicher Ebene ist die Ägis für Apollon.115 Es ist also offensichtlich, dass andere Traditionen neben Homer zumindest im Hinblick auf die Zuweisung der Ägis auf die Gestaltung der frühen Götterbilder und deren Attribute eingewirkt haben. Auf die Ägis der Athena soll noch zurückgekommen werden. Dass andere Attributzuweisungen Homers für die Götterikonographie nahezu wirkungslos blieben, kann daran abgelesen werden, dass Zeus normalerweise nicht mit Rüstung dargestellt wird, er keine Geißel (mastix) hält und auch die Waage, die in der Ilias an zwei prominenten Stellen erwähnt wird, auf ikonographischen Zeugnissen nur sehr selten eine Rolle spielt.116 Die bei Homer genannte Eiche ist wiederum als Zeusattribut bildlich erst in der zweiten Hälfte des 4. Jh. fassbar.117 Wir können uns also der Skepsis gegenüber Herodots Bericht über den Einfluss Homers auf die griechische Götterwelt anschließen. Offenbar hat die Bildkunst von Texten oder zumindest von uns überlieferten Texten unabhängige Schemata besessen. Die bildenden Künstler haben keine Illustrationen des Homertexts angefertigt. Wenn Homer insgesamt also keineswegs so prägend auf die Bilder war wie zuvor angenommen, wird man wohl schließen dürfen, dass er ebenso wie die bildenden Künstler auf einen vorhandenen Fundus an Vorstellungen über die Götter zurückgriff, es eine gewisse Schnittmenge gab, aber keine vollständige Übereinstimmung. Was die Genese der Kanonisierung der Bilder betrifft, so dürfte deutlich sein, dass der Homertext alleine nicht ausreicht, die Attribute zu erklären.

(g) Kanon? Bislang wurde wie selbstverständlich von einem Kanon der Attribute gesprochen. Dies ist sicher auch für einen Großteil der Bilder zutreffend. Je mehr Denkmäler man allerdings einbezieht, desto problematischer, weil polyvalenter wer114 Vgl. Canciani 1997, 432f. Nr. 117f. Vgl. dazu auch Mylonopoulos 2010b, 193f. Hier abgebildet:

Leiden, Rijksmuseum van Oudheden Inv. Nr. 1824. – Bastet – Brunsting 1982, 7f. Nr. 18.

115 Vgl. dazu die bemerkenswerte Diskussion des Apollon vom Belvedere (Vatikan, Cortile del

Belvedere Inv. Nr. 1015. – Lambinudakis 1984, 198 Nr. 79) bei Hoffmann 1887. Hoffmann hatte – angeregt von Homer – erwogen, dem Gott eine Ägis in die ausgestreckte Hand zu geben. Zu Aphrodite mit Ägis vgl. Mylonopoulos 2010b, 194f. 116 Vgl. dazu Cook II.1 1925, 734 Anm. 3. Zur Psychostasie vgl. auch van Essen 1964. 117 Vgl. o. Anm. 21.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

Abb. 16: Tetradrachme des Antigonos II. Gonatas, auf dem Revers Athena Alkidemos mit Blitzbündel (Triton XVIII, 6.1.2015 Nr. 483) Durchmesser: 29 mm.

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Abb. 17: Aureus des Elagabal, auf dem Revers Sol mit Blitzbündel (BMC V, 575 Nr. 288 Tf. 91.9) Durchmesser: 20 mm.

den die Attributzuweisungen.118 Dies sei am Beispiel des Blitzbündels aufgezeigt. Das Blitzbündel ist Attribut des Zeus. Allerdings wird es auf einigen Ausnahmebildern seit dem frühen 3. Jh. v. Chr. z. B. auch von Athena (Abb. 16), Herakles oder vom Sonnengott (Abb. 17) getragen.119 Umgekehrt ist es aber auch möglich, einen Zeus mit Kornähren zu finden wie etwa auf kaiserzeitlichen Münzen von Kydonia auf Kreta.120 Es stellt sich also die Frage nach der Verbindlichkeit einer Kanonisierung. Dabei gilt es Grundsätzliches zu bedenken: Ist die im Mittelmeerraum lokal und regional stark fragmentierte griechische Religion, die sich ja an Poleis und nicht an Flächenstaaten orientiert, vielleicht gar nicht so einheitlich, dass eine verbindliche Ikonographie existierte? Ist unser Kanon nur ein vereinfachtes Konstrukt, welches der differenzierten Realität nicht gerecht wird? Blicken wir etwa auf die Münzprägungen griechischer Städte in der römischen Kaiserzeit, so begegnen uns dort neben den kanonischen Bildern zahlreiche Lokalgötter, welche die unterschiedlichsten Attribute tragen konnten.121 Gerade die Ausnahmen dürften indes die Regel einer Kanonisierung der Götterattribute bestätigen.122 Denn bei diesen Gottheiten handelt es sich häufig um lokale Sonderformen. Dass etwa Athena auf der Rückseite einer Tetradrachme des Antigonos Gonatas den Blitz trägt, verweist auf ihre enge Beziehung zu Zeus, womit der Blitz weiterhin ein Zeusattribut bleibt. Der Sol Elagabals trägt das 118 Vgl. auch Mylonopoulos 2010b, 191–195. 119 Vgl. die klassische Athena Alkidemos (Cook III 1940, 867–873; Brett 1950), den kaiserzeitli-

chen Herakles von Gadara (Lichtenberger 2003, 90 MZ 36f. 40f.) sowie die Soldarstellungen des Kaisers Elagabal (RIC IV.2, 44 Nr. 198. – Dazu: Lichtenberger 2011, 149). 120 RPC II 53 Nr. 46. 49. 121 Vgl. etwa zu der Vielfalt der Bilder Imhoof-Blumer – Gardner 1887. 122 Dasselbe gilt auch für weitere Ausnahmen, bei denen Gottheiten Attribute anderer Gottheiten tragen. In diesen Fällen verweist das andere Attribut (zumeist in einem Handlungszusammenhang) auf die andere Gottheit. Beispiele sind gesammelt bei Brommer 1986, 45f.

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Blitzbündel, um ihn als höchsten Gott des Pantheons auszuweisen. Und auch die Darstellung des Herakles mit Blitzbündel in der Levante verweist auf dessen hervorgehobene Stellung im Pantheon. Herakles war dort die interpretatio Graeca des lokalen Melqart und somit als höchster Gott Herr des Blitzes. Der Blitz dient als tertium comparationis mit Zeus und verweist damit weiterhin auf Zeus.

(h) Wege der Kanonisierung Angesichts solcher lokaler Phänomene ist es grundsätzlich notwendig, dass wir eine kontextuelle Differenzierung der Bilder vornehmen. Es sei in diesem Zusammenhang die These formuliert, dass eine Kanonisierung der Attribute im Mittelmeerraum vor allem durch überregionale Medien und Zentralorte erfolgte. Dies sei (1) an überregional verhandelter Keramik und (2) anhand panhellenischer Heiligtümer kurz erläutert: 1. Keramik: Die Keramik des 8. Jh. v. Chr. war geprägt von lokalen Regionalstilen, die sich im geometrischen Griechenland gut regional eingrenzen lassen.123 Die Produkte wurden jeweils lokal hergestellt, unterschieden sich von denen anderer Regionen und wurden nicht weit verhandelt. Im 7. Jh. v. Chr. kam es aber zu einem Wandel. Nun bestimmte orientalisierende Keramik aus Korinth überregional den Markt und korinthische Vasen fanden „their way to almost every corner of the Mediterranean world“124 wie D. A. Amyx feststellt. Im 6. und 5. Jh. v. Chr. übernimmt Keramik aus Athen die marktbeherrschende Position Korinths.125 Es ist entsprechend anzunehmen, dass der nach den „Dunklen Jahrhunderten“ im 7. Jh. v. Chr. wieder verstärkt in Griechenland einsetzende Handel einen erheblichen Anteil an der Verbreitung und Bildung einer einheitlichen griechischen Götterikonographie hatte. Dies sei an einem Beispiel konkretisiert, das unter diesem Gesichtspunkt noch nicht betrachtet wurde: Eine der frühesten Darstellungen der Athena mit Ägis überliefert die um 560 v. Chr. zu datierende Panathenäische Burgon-Preisamphora (Abb. 18).126 Panathenäische Preisamphoren enthielten die Siegespreise der panathenäischen Wettkämpfe in Athen in Form wertvollen Öls. Die Athena auf der Burgon-Amphora ist wohl eine Athena Promachos, die auf der Athener Akropolis gestanden haben dürfte. Sie ist damit also zunächst einmal eine Lokalgöttin. Solche Preisamphoren wurden 123 Coldstream 2008. 124 Amyx II 1988, 675. 125 Vgl. Cook 1997, 43–46. 155–158. 126 London, British Museum B 130. – Bentz 1998, 123 Nr. 6.001.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

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Abb. 18: Burgon-Amphora mit Athena Promachos (London, British Museum B 130).

Abb. 19: Verbreitungskarte Panathenäische Preisamphoren (nach: Bentz 1998, 112 Abb. 4.2).

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im gesamten Mittelmeerraum gefunden (Abb.19),127 und es ist deshalb zu erwägen, dass die Ikonographie der attischen Athena über solche Amphoren und weitere den Markt beherrschende spätarchaische attische Vasen überregional verbreitet wurde.128 Die attische Athenaikonographie wurde dank der marktbeherrschenden Stellung der spätarchaischen Keramik aus Athen im gesamten Mittelmeerraum bekannt. Dies ist nur ein Beispiel. Es wäre sicher lohnend, auf breiter Materialbasis im Mittelmeerraum das Verhältnis „Handel von Bildträgern“ – „Kanonisierung der Ikonographie“ zu untersuchen. 2. Heiligtümer: Feste Orte, die einen Kanonisierungsprozess der Götterikonographie begünstigt haben dürften, sind überregionale Heiligtümer. Leider wissen wir fast nichts über die frühen Kultbilder an Orten wie Delos oder Delphi und nur wenig über Olympia. Bereits erwähnt wurde das alte Zeusbild in Olympia mit Helm. Für die gesamtgriechische Ikonographie des Göttervaters hat ein solches Bild offensichtlich keine große Wirkung entfaltet, es wurde nicht imitiert. An demselben Ort lässt sich allerdings auch eine andere Beobachtung machen. Das olympische Sitzbild des Zeus von Phidias aus dem 5. Jh. v. Chr. (Abb. 20) prägte für Jahrhunderte das Bild des Zeus.129 Es wurde zu dem bekanntesten Zeusbild der griechischrömischen Antike. Von dem panhellenischen Heiligtum ausgehend wurde die Ikonographie von Zeus verbreitet, und diesem Bild blieb sogar der römische Staatsgott, Iuppiter Optimus Maximus Capitolinus, verpflichtet.130

(i) Schluss Zum Schluss der Überlegungen zur Genese und Kanonisierung der frühen griechischen Götterikonographie bleibt festzuhalten, dass die Verwendung von Attributen zur Spezifizierung von Gottheiten wohl von orientalischen Vorbildern angeregt wurde. Die Genese einer verbindlichen, d. h. kanonischen Götterikonographie, wie sie vor allem an den Attributen ablesbar ist, setzte im späten 8./frühen 7. Jh. ein. Das homerische Götterbild ist dabei nicht alleiniges Vorbild für die Ikonographie, sondern Teil unterschiedlicher Vorstellungen, von denen einige auch in der Bildkunst fassbar sind. Text und Bild müssen aber getrennt werden. 127 Bentz 1998, 111–116. 128 Die mediterrane Vorbildfunktion der Athenaikonographie auf Panathenäischen Preisam-

phoren konnte auch für die frühhellenistische Zeit herausgestellt werde: Havelock 1980, 42f. 47f. 129 Vlizos 1999. 130 Martin 1987, 134f.

GENESE UND KANONISIERUNG DER FRÜHEN GRIECH. GÖTTERIKONOGRAPHIE

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Abbildung 20: Zeustempel in Olympia mit Zeus Olympios, Rekonstruktionszeichnung (nach: Berve – Gruben 1961, 123 Abb. 13).

Träger einer Kanonisierung dürften überregionale Medien gewesen sein, die eine gemeingültige Ikonographie schufen; religiöse und ökonomische Faktoren leisteten also der Kanonisierung Vorschub. Diese Kanonisierung fand nach Anfängen im 8. und 7. Jh. vor allem im 6. und 5. Jh. v. Chr. unter direktem oder indirektem athenischem Einfluss statt. Mit der Kanonisierung fand jedoch keine vollständige Nivellierung der Ikonographie statt. Zahlreiche Lokalgottheiten pflegten eine eigenständige Ikonographie, die von einer Kanonisierung nur partiell betroffen war. Der Prozess, den wir hier beobachten können, fügt sich gut in das Modell der mikroregionalen Konnektivität des Mittelmeerraums von P. Horden und N. Purcell ein:131 Eine dem kleinteiligen Mittelmeerraum geschuldete Vielfalt der ikonographischen Vorstellungen kann unter bestimmten Bedingungen intensivierter Konnektivität Ansätze einer Vereinheitlichung erfahren. Dennoch bleibt genug Raum für regionale Sonderwege, der Mittelmeerraum ist ein pluriverses Universum.

131 Horden – Purcell 2000.

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André Laks Das Proömium des Diogenes Eine Frage der intellektuellen Mittelmeergeographie

„Seit den Zeiten Attilas haben viele Faktoren zur Aushöhlung der hellenistischen Anschauung von der Welt beigetragen, aber der homo Europaeus ist ein intellektuell durch seine hellenistischen Vorfahren bestimmtes Wesen geblieben. Das Dreieck Griechenland – Rom – Judäa bildet noch heute den Mittelpunkt und wird ihn wahrscheinlich bilden, solange das Christentum die Religion des Westens bleibt. Persien, Mesopotamien und Ägypten bleiben mehr oder weniger auf dem Punkt, wohin sie hellenistische Gelehrsamkeit als Vertreter barbarischer Weisheit gestellt hat. […] Die hellenistische Kultur […] erkannte die Bedeutung Ägyptens, Mesopotamiens und vor allem des Iran an, grenzte sie aber gleichzeitig ein. Sie schuf ein bevorzugtes Verhältnis gegenseitiger Anregungen und Herausforderungen zwischen Griechen und Römern und in begrenzterem Umfang zwischen Juden und Griechen.“ (A. Momigliano, Hochkulturen im Hellenismus, S. 21f.)

„Die Philosophie verbindet mit dem Mittelmeerraum sogleich das antike Griechenland – ein Griechenland, das Sizilien, die Wiege der Rhetorik, und die Küstenregionen Kleinasiens vor den Perserkriegen einschloss“, so Paul Ricœur in einem Vortrag, der 1991 im Rahmen eines Colloquiums zum Mittelmeerraum entstanden ist. Und was wäre auch Thales ohne Milet im Osten und Pythagoras ohne Kroton im Westen? Die Annahme, dass die griechische Philosophie aus dem „Ionischen“ einerseits und dem „Italischen“ andererseits hervorgegangen sei, dient bereits als Organisationsprinzip der einzigen überlieferten Überblicksdarstellung der griechischen Philosophie:1 Leben und Lehren der Philosophen 1 Diogenes Laertius: Leben und Lehren der Philosophen, 1.13. Im Folgenden zit. n. ders., Leben

und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998.

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des Diogenes Laertios, die den Gegenstand des vorliegenden Beitrags bilden. Insofern aber Griechenland mit dem Mittelmeerraum assoziiert wird, stellt sich die Frage, was das „eigentliche“ Griechenland nicht nur anderen Mittelmeerländern, sondern „Anderen“ im Allgemeinen zu verdanken hat – nicht zuletzt deshalb weil die intellektuelle Geographie nur zum Teil mit der der Geographen zusammenfällt. Diese Frage ist in wissenschaftlicher wie in ideologischer Hinsicht noch heute von offenkundiger Aktualität. Griechenland ist Griechenland und wird es immer bleiben. Zugleich aber dringt das „Andere“ in all seinen Formen in sämtliche Nischen unserer Diskurse vor. So gehörte der Versuch einer ethnologisch ausgerichteten „Anbindung“ Griechenlands zu den grundlegenden Tendenzen der Hellenismusforschung des vergangenen Jahrhunderts – hier möge der Verweis auf W. Burkert genügen.2 Die ideologische Dimension der Thematik lässt sich am besten anhand der Thesen M. Bernals über die ägyptischen, d. h. schwarzafrikanischen, Ursprünge der Philosophie illustrieren.3 Ich werde diese Problematik hier nur in Bezug auf die Frage erörtern, wo die Griechen selbst den Ursprung ihrer Philosophie verorteten. Dabei beschränke ich mich zudem auf die Analyse eines einzelnen, wenn auch nicht unbedeutenden Textes: des Prologs der Leben und Lehren des Diogenes Laertios, mit dem das „Ionische“ und das „Italische“ endgültig Eingang in die Topographie der Ursprünge der griechischen Philosophie fanden. Die Entschlüsselung dieses Textes scheint mir komplexer und mithin von größerem Interesse als bislang eingeräumt. Diogenes Laertios selbst ist nicht leicht zu verorten. Seine Lebensdaten können nur näherungsweise und relativ, auf Basis zweier Ausschlusskriterien, bestimmt werden. Hinsichtlich des terminus post quem gehen die Leben und Lehren nicht über den Philosophen Sextus Empiricus (dessen Schriften man im letzten Jahrzehnt des 2. Jh n. Chr. verortet) und seines Schülers Saturninus hinaus;4 die späteste Quelle, derer sie sich bedienen, stammt von Favorinus, geboren um das Jahr 80 und aktiv in der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. Bezüglich des terminus ante quem gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass Diogenes bereits mit der Denkschule des „Neuplatonismus“ vertraut war, welche sich seit der Mitte des 3. Jh. entwickelte (Plotin wurde 205 geboren). Zeitlich können wir ihn demnach in der ersten Hälfte des 3. nachchristlichen Jahrhunderts situieren. Die geographi2 Siehe z. B. Burkert, Walter: Die Griechen und der Orient, München 22004. Ich erlaube mir,

hier außerdem auf einen von mir verfassten und im Rahmen eines Dossiers zur Ausrichtung des Studiums der griechischen Antike in Frankreich erschienen Aufsatz aufmerksam machen: Laks, André: „Le désenclavement de la Grèce : le triangle français“, in: Cités, 59, 2014, S. 53–58. 3 Bernal, Martin: Black Athena: The Afroasiatic Roots of Classical Civilization, Bd. 1: The Fabrication of Ancient Greece; Bd. 2: The Archeological and Documentary Evidence, London 1987–1991. Zur Debatte, die das Werk ausgelöst hat, vgl. Lefkowitz, Mary: Not out of Africa. How Afrocentrism Became an Excuse to Teach Myth as History, New York 1996. 4 Vgl. Diogenes 9.116.

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sche Lokalisierung erweist sich als noch ungewisser. Man hat jüngst die Hypothese gestützt, wonach sich der Beiname „Laertios“ von dem Ort Laerte in Karien oder in Kikilien ableite, während andere Interpreten – aufgrund eines (umstrittenen) Ausdrucks im 9. Buch der Leben und Lehren – die Ansicht vertreten, dass Diogenes in der Stadt Nicäa geboren sei und dort auch gelebt haben könnte.5 Die große Anzahl an Werken wiederum, die in den Leben und Lehren erwähnt werden, könnte auf Alexandria als Arbeits- und Lebensmittelpunkt hindeuten. Doch auch das ist eine bloße Vermutung. Denn niemand geht davon aus, dass Diogenes all das, was er zitiert, tatsächlich selber gelesen hat. Vielmehr dürfte er es – in einem nicht nachvollziehbaren Verhältnis – einigen wenigen ihm zur Verfügung stehenden Werken entnommen haben, etwa den Schriften des Favorinus, die als eine der zentralen direkt benutzten Quellen gelten.6 Sowohl aus einer geographischen als auch aus einer intellektuellen Perspektive stellt Alexandria dennoch einen praktikablen Anhaltspunkt dar, um einem schwer greifbaren Autor konkrete Züge zu verleihen. Dies gilt umso mehr wenn man eine Hypothese in Betracht zieht, die meines Wissens erstmals von A. Momigliano formuliert und später von L. Canfora und I. Ramelli aufgegriffen und weitergeführt wurde. Sie nehmen an, dass die Hauptintention der Leben und Lehren des Diogenes Laertios darin bestanden habe, eine seinerzeit im christlichen Umfeld verbreitete Vorstellung zu widerlegen. Dieser zufolge hatte die Bibel den griechischen Philosophen und Schriftstellern als Inspirationsquell gedient. Die griechische Kultur war demnach keineswegs ein Produkt originär griechischen Denkens, sondern rührte von den Hebräern her.7 Ausführlich dargelegt wird diese Theorie bekanntlich in den Stromateis des Clemens von Alexandria. In methodischer Manier und anhand etlicher Zitate sollte darin die vermeintliche „Plünderung“ (klopè) der Heiligen Schrift durch die Griechen belegt werden.8 Clemens lebte von 150 bis 215 n. Chr. Es ist verlockend anzunehmen, dass er von Diogenes rezipiert wurde, und umso naheliegender, wenn man Letzteren in Alexandria verorten kann. 5 Zur Stadt Laerte, vgl. Masson, Olivier: „La patrie de Diogène Laërce est-elle inconnue?“, in:

Museum Helveticum, 52 (1995), S. 225–230 ; die traditionelle These zugunsten Nicäas deutet den Ausdruck Appollonidês … ho par’hêmôn in 9.109 als „Apollonide, unser Landsmann“ – der besagte Apollonide stammt aus Nicäa. 6 Zu den Quellen des Diogenes Laertios, siehe Mejer, Jørgen: Diogenes Laertius and his Hellenistic Background, Wiesbaden 1978. 7 Momigliano, Arnoldo: „Ancien Biography and the Study of Religion in the Roman Empire“, in: Ders.: On Pagans, Jews and Christians, Middletown, CT 1987, S. 159–177 – siehe v. a. S. 169–173 (Erstveröffentlichung in: Annali della Scuola Normale di Pisa, Reihe III, Bd. XVI, 1 (1986), S. 25–44); Canfora, Luciano: „Clemente di Alessandria e Diogene Laerzio“, in: Storia poesia e pensiero nel mondo antico. Studi in onore di Marcello Gigante, Neapel 1992, S. 79–81; Ramelli, Ilaria: „Diogene Laerzio y Clemente Alexandrio nel contexto di un dibatitto culturale comune“, in: Espacio, Tiempo y Forma, Reihe II, 15 (2003), S. 207–224. 8 Siehe dazu Ridings, Daniel: The Attic Moses: the dependency theme in some early Christian writers (Coll. „Studia Graeca et Latina Gothoburgensia“, 59), Göteborg 1995.

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Die Hypothese Momiglianos stützt sich in erster Linie auf den Prolog der Leben und Lehren. Hier wird in § 3 eine These vertreten, die derjenigen des Clemens diametral entgegen steht: Weit entfernt davon, „barbarische“ Wurzeln zu haben, sei die Philosophie eine durch und durch griechische Erfindung. Diese Leute freilich schrieben „den Nichtgriechen (barbaroi) die Leistungen der Griechen zu“, wo doch diese „nicht nur die Philosophie, sondern auch die Bildung der Menschheit begründet“ hätten. Zwar enthält der Text kein eindeutiges Indiz dafür, dass die Leben und Lehren als spezifische Replik auf christliche Prätentionen gelesen werden müssten, denn während Clemens die Griechen explizit ins Zentrum seiner Argumentation stellt, erwähnt Diogenes seinerseits die Christen nicht ein einziges Mal.9 Vielmehr handelt es sich bei „diesen Leuten“ im oben zitierten Satz gerade n i c h t um Christen, sondern um Griechen; ich werde noch darauf zurückkommen. Unbeschadet dessen tritt die Aussage des Diogenes zweifelsohne in Resonanz zu jener, mit der Clemens im 1. Buch der Stromateis seine Beschreibung der griechischen Philosophen und ihrer Nachfolger beschließt: „Dies ist im Auszug die Reihenfolge der griechischen Philosophen; im Anschluß daran sind die Zeiten der Begründer ihrer Philosophie zu nennen, damit wir dann vergleichen und beweisen können, daß die hebräische Philosophie um viele Geschlechterfolgen älter ist.“10 Die Annahme einer Polemik zwischen Diogenes und Clemens ist vom epistemologischen Standpunkt aus betrachtet ebenso attraktiv wie die Verortung des Ersteren in Alexandria. Sie eröffnet die Möglichkeit, ein schwer greifbares Werk, das zudem häufig als verspätetes und ungeschicktes Nebenerzeugnis hellenistischer Bildung verunglimpft wurde, unter dem ebenso spezifischen wie grundlegenden Aspekt der Auseinandersetzung zwischen heidnischer und christlicher Kultur zu beleuchten.11 So betrachtet scheint selbst das Schweigen des Diogenes gegenüber seinem mutmaßlichen Kontrahenten – ähnlich wie später bei den Neuplatonikern teils aus Furcht, teils aus Verachtung12 – etwas über das Verhältnis zwischen Hellenismus und Christentum zu Beginn des 3. Jh. a u s z u s a g e n. 9 Die Juden werden in 1.9 erwähnt, ohne dass man daraus weitere Schlüsse ziehen könn-

te („Nach anderen stammen auch die Juden von den Magiern ab“). Canfora und Ramelli (a. a. O., Anm. 7 ) sehen in dem Ausdruck eleèmosunén didonai in 5.17 (in einem Aristoteles zugeschriebenen Apophthegma) eine Anspielung auf die christliche Tugend der caritas. 10 Clemens v. Alexandria: Stromateis, 1.65.5, zit. n. ders.: Teppiche wissenschaftlicher Darlegungen entsprechend der wahren Philosophie (Stromateis), in: Des Clemens von Alexandria ausgewählte Schriften, Bd. 3 (Bibliothek der Kirchenväter, Reihe II, Bd. 17), München 1936. 11 Die Leben und Lehren wären dann einem Genre zuzuordnen, wie es zur gleichen Zeit Philostratos‘ Das Leben des Apollonios von Tyra repräsentiert; die thaumaturgischen Kräfte des „göttlichen Menschen“ sind vergleichbar mit denjenigen Jesus‘. 12 Siehe dazu Hoffmann, Philippe: „Un grief anti-chrétien chez Proclus : l’ignorance en théologie“, in: Perrot, Arnaud (Hrsg.): Les Chrétiens et l’Hellénisme. Identités religieuses et culture grecque dans l’Antiquité tardive, Paris 2012, S. 168 ff.

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War nun der „Philhellenismus“ des Diogenes tatsächlich so klar wie es die Äußerung in § 3 suggeriert? Es hängt ganz von der Art und Weise ab, in der man ihn liest. Gewiss ist Diogenes kein Autor, der sich für eine Lektüre im prägnanten Sinn des Wortes eignet; sein gleichsam zusammengestückeltes Werk scheint sich einer solchen Praxis zu entziehen. Man liest es der darin enthaltenen Informationen wegen, nicht etwa aufgrund seiner stilistischen Qualität oder gar um Intentionen aufzuspüren.13 Ich möchte dennoch eine solche Lektüre wagen. Ausgehend zum einen von der Beobachtung, dass die These des Clemens über den hebräischen Ursprung der griechischen Philosophie sowohl in ihrer allgemeinen Struktur als auch in ihrer spezifischen Formulierung zutiefst g r i e c h i s c h ist; zum anderen von der Erwartung, dass eine detaillierte Analyse des DiogenesPrologs in seiner G e s a m t h e i t die These nahelegt, dass das Griechenlandbild des Letzteren vielleicht weniger dem „heidnischen“ Griechenland Momiglianos entsprach, als einem solchen, das wir im hiesigen Kontext als „offen“ bzw. „mediterran“ bezeichnen sollten. Sehen wir uns also die Argumentation innerhalb des Proömiums genauer an. Diogenes schreibt es ohne Umschweife – es ist der erste Satz des Werkes: „Das philosophische Studium sei, so sagen einige Autoren, bei den Nichtgriechen entstanden.“ Auf diese einleitende These, die dann in § 3 scheinbar kategorisch zurückgewiesen wird („...diese Leute sind nicht bewusst, dass sie den Nichtgriechen die Leistungen der Griechen zuschreiben […]“), folgt unmittelbar eine Aufzählung unterschiedlicher Kulturen und Völker, denen man nachsagte, „Philosophie betrieben“ zu haben, sowie jeweils eine Begründung für diese Behauptung. Die Begründungen können entweder darin bestehen, dass sich innerhalb eines Volkes eine Gruppe ausmachen ließ, die „philosophische“ Merkmale aufwies: • bei den Persern gab es die Magier (Religiöse Spezialisten) • bei den Babyloniern und Assyrern die Chaldäer (Astronomen) • bei den Indern die Gymnosophisten (Asketen) • bei den Kelten und Galliern die Druiden (Religiöse Spezialisten). Oder die Begründungen können, wie die zweite Aufzählung zeigt, auf ein Individuum zurückgehen: • Ochos war Phönizier • Zalmoxis war Thraker 13 Es gibt allenfalls eine Debatte über die philosophische Positionierung oder die intellektuelle

Haltung des Diogenes, bzw. darüber, ob man ihm eine solche zuschreiben kann. Siehe insbes. Gigante, Marcello: ‘Biografia e dossografia in Diogene Laerzio’, Elenchos 7 (= Diogene Laerzio storico del pensiero antico), Neapel, 1986, S. 7–102 (cf. bes. S. 47).

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• Atlas war Libyer • Hephaistos war Ägypter. Man hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Namen die verschiedenen Kontinente vorstellen (Ochos steht für Asien; Zalmoxis für Europa; Atlas und Hephaistos für Afrika).14 Mindestens ebenso wichtig ist allerdings die Feststellung, dass der Letztgenannte, Hephaistos, sich in mehrerlei Hinsicht von den anderen unterscheidet: Zum einen ist er der Einzige, dem e x p l i z i t zugeschrieben wird, der „Urheber der Philosophie“ zu sein; zum anderen verstärken sich in seinem Fall die kollektive und die individuelle Rechtfertigungsebene gegenseitig, denn Hephaistos tritt nicht nur als erstes philosophierendes Individuum in Erscheinung, sondern zählt darüber hinaus auch zum Kreise der Priester und Propheten (§ 1). Schließlich und vor allem wird die Nennung des Hephaistos von chronologischen Befunden begleitet. Bereits die Bezeichnung als „Sohn des Nil“ impliziert eine Vorzeitigkeit, denn der Strom repräsentiert augenscheinlich eine vorgeschichtliche Entität. Diogenes präzisiert jedoch: „Von da [vom Leben des Hephaistos] bis zum Makedonenkönig Alexander seien 48863 Jahre vergangen und in ihnen 373 Sonnen- und 832 Mondfinsternisse geschehen.“ Im Falle der Magier erfolgt abermals eine chronologische Zuordnung, wenn der „Perser Zoroaster“ als Ahnherr derselben und somit als Konterpart und möglicher persischer Rivale des Ägypters Hephaistos eingeführt wird. Darüber hinaus erfahren wir, dass der Ursprung der Magier dem Platoniker Hermodor zufolge 5000 Jahre vor dem Trojanischen Krieg liegt, während der Lyder Xantos ihn 6000 Jahre vor der Expedition des Xerxes verorte. Die Differenz zwischen beiden Angaben ist dabei weniger von Bedeutung als die Tatsache, dass der ägyptischen Philosophie hier ein deutlich höheres Alter zugesprochen wird als der persischen. Die Argumentation der „Philobarbaren“ setzt freilich voraus, dass es sich bei den Aktivitäten, denen sich Magier und Druiden, Ochos und Atlas, und vor allem der Ägypter Hephaistos und der Perser Zoroaster widmeten, um „Philosophie“ handelte. Auf die Implikationen dieser Hypothese werde ich weiter unten zu sprechen kommen. Für den Augenblick genügt es hinzuzufügen, dass Diogenes zwischen den beiden Aufzählungen (der kollektiven und der individuellen) und der Anführung der beiden „hybriden“ Fälle des Ägypters und des Persers zwei grundlegende Quellen benennt, auf welche sich die philobarbarische These berief: eine Aristoteles zugeschriebene Abhandlung über die Magier (Magi14 Siehe Gigon, Olof: „Das Proömium des Diogenes Laertios: Strukturen und Probleme“, in:

Luck, Georg (Hrsg.): Horizont der Humanitas (Walter Wili zum 60. Geburtstag), Bern 1960, S. 42. Zu Ochos dem Sidonier, dem vermeintlichen Begründer der atomistischen Doktrin (vgl. 68A55 DK), vgl. Schmidt, Ernst-Günther, „Atome bei Mochos, Nonnos und Demokrit“, Philologus 122, 1978, S. 137–143, der in Nonnos 41, 51–58 einen möglichen Beleg für die Existenz einer „sidonischen“ atomistischen Doktrin sieht. Zu Zalmoxis, vgl. Herodot 4.94–95; zu Atlas, vgl. Cicero, Tusc. 5.6.

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kos) – in der Forschung herrscht Konsens darüber, dass es sich um einen pseudepigraphischen Text aus der hellenistischen Epoche handelt15 – sowie Sotions Diadochai, ein Werk das für die spätantiken Philosophiehistoriker im Allgemeinen und für Diogenes Laertios im Besonderen von zentraler Bedeutung war, da er diesem Werk die Zweiteilung der griechischen Philosophie entsprechend ihrer mediterranen Grenzen entnahm – durch Thales in die von ihm begründete ionische Linie im Osten und die italische, durch Pythagoras nach dessen Fortgang aus Samos begründete im Westen. Diese beiden Referenzen enthüllen uns zum einen, auf welche Quellen sich Diogenes, direkt oder indirekt, bezog; zum anderen zeugen sie vom Interesse der hellenistischen Epoche an der Frage nach den barbarischen Ursprüngen der griechischen Philosophie. Anders als A. Momigliano in seinem berühmten Werk Alien Wisdom suggeriert,16 wäre es aber ein Trugschluss anzunehmen, dass dieses Interesse vor allem auf die Eroberungen Alexanders des Großen oder die Herausbildung des Römischen Reiches zurückzuführen ist. Zwar ergeben die Mitteilungen des Diogenes mitunter erst dann Sinn, oder gewinnen zumindest erst da ihre volle Bedeutung, wo sie mit den großen Ereignissen der griechischen und später der römischen Expansion in Verbindung gebracht werden, wie etwa im Falle der Gymnosophisten oder der Druiden. Aber die Frage nach den außergriechischen Ursprüngen der Philosophie hat eine Geschichte, die bereits auf die Zeit vor Aristoteles zurückgeht und deren Bedeutung, selbst wenn sich nur Hypothesen anstellen lassen, kaum zu unterschätzen ist. Vereinfacht lässt sich zusammenfassen, dass die Problematik bereits im 5. Jh. v. Chr. aufkam – ein Aspekt der vergleichenden Darstellung des Hippias bestand darin, die Ansichten der griechischen mit jenen der barbarischen Autoren in Verbindung zu bringen17 – und dann, angestoßen durch Platon, von der Akademie weiterentwickelt wurde. Man denke etwa an die berühmte Stelle in den Epinomis, als deren Verfasser der Platon-Schüler Philippos von Opus gilt. Die Griechen, heißt es hier, hätten „alles was sie von fremden Völkern empfingen zu größter Schönheit und Vollendung erhoben“.18 Der Hintergrund dieser 15 In anderen Quellen wird diese Abhandlung einem Antisthenes zugeschrieben (Antisthenes

von Athen, oder von Rhodos). Rives, James B.: “Aristotle, Antisthenes of Rhodos, and the Magikos”, Rheinisches Museum, 147, 2004, S. 35–54, spricht sich für Aristoteles selbst als Verfasser aus, in dessen Über die Philosophie die Magier erwähnt werden. 16 Momigliano, Arnoldo: Alien Wisdom. The Limits of Hellenization, Cambridge 1975, (dt.: Hochkulturen im Hellenismus, vgl. das einleitende Zitat). 17 Vgl. Fragment 86B6 DK, welches – nicht zufällig – von Clemens von Alexandria in Strom. 6.15.2 zitiert wird: „Hiervon hat das eine vielleicht Orpheus gesagt, das andere Musaios, kurz der eine hier und der andere dort, anderes wieder Hesiodos oder Homeros; anderes steht bei den übrigen Dichtern, anderes in Prosaschriften, teils bei Griechen, teils bei Barbaren. Ich will aber aus alledem das einander am meisten Verwandte zusammenstellen und so daraus dieses neue und vielgestaltige Buch machen.“ 18 Epinomis, 987d, zit. n. Platon: Briefe, Unechtes, Frankfurt (Main) / Leipzig 1991.

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Aussage findet sich in einer Passage des platonischen Timaios: Die ägyptischen Priester lehren Solon, dass die Philosophie der stets am Ende stehenden Griechen lediglich eine späte Abwandlung ägyptischer Perfektion sei.19 Der einleitenden Darlegung der philobarbarischen These folgt sodann die Präsentation der Gegenthese, der gemäß die Philosophie eine spezifisch griechische Schöpfung war. In den Abschnitten §§ 2–4 führt Diogenes den Ursprung der Philosophie auf zwei Griechen zurück, Musaios und Linos. § 5 widmet sich der von Diogenes interessanterweise verworfenen Ansicht, dass auch Orpheus zu den Philosophen zu rechnen sei. Dieser stellte in der griechischen Tradition eine weitaus größere Autorität dar als Musaios und Linos, doch er war auch eine umstrittene Figur und scheint Gegenstand einer intrahellenistischen Debatte gewesen zu sein.20 Aufgrund seiner thrakischen Wurzeln galt er bei den Gegnern der Orphik nicht als Grieche, sondern als Barbar; darüber hinaus war er, wie aus den Umständen seines Todes hervorgeht, anders als es sich für einen Philosophen gehörte, nicht gottesfürchtig: Am Ende seines ausschweifenden Lebens rissen ihn die Mänaden im Rausch in Stücke.21 Dagegen verfügen sowohl Musaios als auch Linos über eine Herkunft, die über jeden Zweifel erhaben ist: Jener stammt aus Athen, dieser aus Theben – eine Dualität, die vermutlich auf den Wettstreit zwischen den beiden wichtigsten Städten des „kontinentalen“ Griechenland verweist. Wichtig ist an dieser Stelle, dass Musaios und Linos neben Griechentum und Gottesfurcht zwei weitere Kriterien zu erfüllen hatten, wenn der Ursprung der Philosophie als griechisch und nicht als barbarisch erscheinen sollte. Sie mussten vor ihren nichtgriechischen Rivalen gelebt haben und darüber hinaus zu den P h i l o s o p h e n gerechnet werden können. Diese beiden Punkte werden von Diogenes Laertios nacheinander abgehandelt. Bezüglich der Chronologie bedient sich Diogenes, der nun als Wortführer der philhellenischen Partei auftritt, der Rhetorik sowie der Prägnanz. Die Rhetorik liegt in der Behauptung, dass nicht nur die Philosophie, sondern das Menschengeschlecht überhaupt auf die Griechen zurückgehe (§ 3) – als ob dabei das eine das andere impliziere. Die Prägnanz kommt dadurch zustande, dass Diogenes, abgesehen von dieser einleitenden Aussage und im Gegensatz zu den sehr präzisen Hinweisen im Falle des Persers (Zoroaster) und des Ägypters (Hephaistos), kaum auf das Alter des Linos und des Musaios eingeht. Er begnügt sich mit der Feststellung, dass Musaios als Sohn des Eumolpos, des Ahnherrn des athenischen 19 Platon, Timaios, 22b-24c. 20 Vgl. Gigon, a. a. O., S. 41. 21 Siehe zu den antiken Interpretationen des Todes des Orpheus Schlesier, Renate: „Orpheus,

der zerrissene Sänger“, in: A. Avanessin, G. Brandstetter, F. Hofmann (Hrsg.): Die Erfahrung des Orpheus, München 1979, S. 45–60, (Diogenes wird hier allerdings nicht erwähnt); vgl. Gigon, a. a. O, S. 41: „Im Umkreis der Orphika ist unsere Stelle singulär […]“.

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Geschlechts der Eumolpiden, und Linos als jener des Hermes und der Muse Urania gelte. Diogenes zieht aus diesen Angaben keine konkreten Schlüsse,sie genügen ihm, um Musaios und erst recht Linos zeitlich vor Zoroaster zu situieren. Wie aber steht es mit Hephaistos, dem Sohn des Nil? Hier scheint ein chronologisches Argument nicht hinreichend zu sein. Zumindest wird der Fokus stattdessen auf die Werke der beiden Protophilosophen gerichtet. Dem Dichter Musaios werden eine Theogonie und eine Sphaira zugeschrieben; außerdem heißt es, er habe die Ansicht vertreten, dass alles von einem universellen Prinzip ausgehe und zu diesem zurückkehre – eine Auffassung, die bei Aristoteles und Theophrast zum philosophischen Theorem wurde.22 Linos gilt laut Diogenes als Verfasser einer Kosmogonie, einer Beschreibung der Umlaufbahn der Sonne und des Mondes, sowie einer Abhandlung über die Entstehung der Pflanzen und Tiere. Man muss dabei aber auf zweierlei hinweisen : Erstens referiert Diogenes hier abermals mehr oder weniger ohne Engagement, er erzählt gleichsam nach, was von anderen berichtet worden ist. Zweitens, und dies ist wesentlicher, sind die philosophischen Insignien, mit denen er Musaios und Linos ausstattet, seien es nun Werke oder Thesen, offensichtlich das Ergebnis von Zuschreibungen und Interpretationen, deren Wert und Legitimität alles andere als evident sind.23 Zwar gewinnen wir an keiner Stelle den Eindruck, dass Diogenes Laertios sich dieser hermeneutischen Problematik bewusst gewesen wäre, dennoch scheint die Schlussfolgerung unwiderruflich zu sein: „So ist denn die Philosophie von den Griechen ausgegangen“. Zugleich – und nicht wenig überraschend – folgt auf dieses Fazit eine entscheidende Passage, die im Wesentlichen in einer detaillierten Erläuterung der Angaben in §§ 1–2 besteht und deren zentrale Bedeutung auf drei Punkten beruht. Erstens lassen sich in dieser vertieften Darstellung weitere Grundlagen der philobarbarischen Argumentation ausmachen, welche zweitens die Gültigkeit der philhellenischen Beweisführung z. T. in Frage stellen. Drittens schließlich wirkt sich die Position dieses Abschnitts innerhalb des Prologs – an dritter und gleichsam letzter Stelle24 – auf die Ausgewogenheit und Form der gesamten Darstellung aus. In rhetorischer Hinsicht wird dem philobarbarischen Standpunkt deutlich mehr Raum zugestanden als der Gegenposition (fünf Paragraphen gegenüber zwei, wenn man den Orpheus gewidmeten Passus als Exkurs versteht). Dies ver.

22 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, A3, 983b6–21 (zu Thales) und Theophrast, Frag. 226AFHS&G

(zu Anaximander).

23 Um Musaios und Linos als Philosophen auszuweisen, werden angeführt: für Musaios zwei

Werke und eine These und für Linos eine Reihe von Themen, die er in einem oder mehreren Werken abgehandelt haben soll. Es stellt sich die Frage, ob das Verfassen einer Theogonie oder einer Sphaira (oder auch beider Werke ) hinreichen, um Musaios als Philosophen zu qualifizieren. Gleiches gilt für Linos und die ihm zugeschriebene Abhandlung über die Genese der Natur (Tiere und Pflanzen). 24 Mit § 11 endet die Erörterung der Ursprünge der griechischen Philosophie. In § 12 wird Pythagoras als derjenige bezeichnet, der den Ausdruck „Philosophie“ eingeführt habe.

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schafft ihm eine höhere Sichtbarkeit und somit eine Art Vorrangstellung. Der Inhalt der Passage suggeriert ferner, dass Diogenes, ungeachtet der Aussage in § 3, gegenüber der philobarbarischen These durchaus aufgeschlossen war – was allerdings voraussetzt, dass man ihm eine solchermaßen ironisch geprägte indirekte Kommunikation zutraut. Betrachten wir also den entsprechenden Abschnitt genauer. Er setzt in § 6 mit einigen Ausführungen über die Gymnosophisten und die Druiden ein, auf die ich hier nicht näher eingehen werde, da sie im Gegensatz zu §§ 6b–11 keine neuen Interpretationsansätze enthalten. Hier dagegen, im Zusammenhang mit den Magiern (§§ 6b–9) und den Ägyptern (§§ 10–11), können wir solche ausmachen. Als relevant erweisen sich dabei die zitierten Quellen, die Art und Weise der Argumentation sowie die Rollenverteilung zwischen den Persern und den Ägyptern hinsichtlich ihres Beitrags zur Philosophie. Die zitierten Quellen sind nicht nur durchweg griechisch, sondern darüber hinaus wesentlich zahlreicher als die in §§ 1–2 erwähnten, gegenüber denen sie somit an Autorität gewinnen. In §§ 1–2 sind wir Aristoteles und Sotion begegnet. Beide Namen werden auch hier angeführt, doch werden viele weitere hinzugefügt, die diesen in der Tat als Quellen gedient haben dürften: Kleitarchos und Klearchos für die Gymnosophisten; für die Perser Deinon, Hermodor, Eudoxos, Hermipp, Theopomp und Aristoteles‘ Über die Philosophie; und für die Ägypter Hekataios und Aristagoras, außerdem Manetho, der selbst ägyptischer Abstammung war. Man gewinnt den Eindruck, als sei die philobarbarische Partei unter den Griechen deutlich stärker vertreten gewesen als jene der Philhellenen. Im Hinblick auf die Argumente fällt vor allem ins Auge, dass sie in ihrer Form exakt jenen entsprechen, die in §§ 3–4 geltend gemacht werden, um den Vorrang des Linos und des Musaios zu belegen und dass sie hinsichtlich des philosophischen Gehalts wie des theoretischen Wissens fundierter sind. Als Beispiele seien hier zwei Passagen zitiert: die in § 8 angeführte aristotelische Doxographie Zoroasters und die zusammenfassende Darstellung der ägyptischen Philosophie in §§ 10–11. § 8-9: „[…] Aristoteles in Über die Philosophie meint, die Magier seien älter als die Ägypter. Sie nehmen zwei Prinzipien an: eine gute und eine böse Gottheit; jene wird Zeus bzw. Oromasdes, diese Hades bzw. Areimanios genannt, was Hermipp (Über die Magier 1), Eudoxos (Periodos) und Theopomp (Philippika 8) bestätigen, der zugleich betont, den Magiern zufolge würden die Menschen zu neuem Leben auferstehen und unsterblich sein, und die Existenz der Dinge werde durch beschwörende Nennung ihrer Namen garantiert. Das bezeugt auch Eudemos von Rhodos; Hekataios berichtet aber, daß ihnen zufolge die Götter entstanden seien. […]“ §§ 10-11: „Mit der Philosophie der Ägypter über Götter und Gerechtigkeit steht es folgendermaßen; Prinzip ist die Materie; aus ihr haben sich die vier Elemente gesondert und die verschiedenen Lebewesen gebildet; Götte sind Sonne und Mond,

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oder auch Osiris und Isis genannt und rätselhaft symbolisiert durch den Skarabäus, die Schlange, den Geier und anderes, wie Manetho (Physik-Epitome) und Hekataios (Philosophie der Ägypter 1) angeben. Sie errichten Statuen und Heiligtümer, weil die Göttergestalt ja unbekannt sei. Der Kosmos sei geworden, vergänglich und kugelförmig, die Sterne seien Feuer, durch deren Stoffmischung die Dinge auf der Erde geschehen; der Mond verfinstere sich durch Eintritt in den Erdschatten; die Seele lebe nach dem Tode fort und gehe in andere Körper ein; Regen entstehe durch Luftveränderung. Auch das übrige erklärten sie auf natürliche Weise, wie Hekataios und Aristagoras berichten. Sie haben auch Grundsätze über die Gerechtigkeit aufgestellt, die sie auf Hermes zurückführen, und hielten die nützlichen Tiere für Götter. Sie selbst behaupten, die Geometrie und Arithmetik erfunden zu haben. […]“

Auch hier stützen sich die meisten Behauptungen auf bestimmte Interpretationen, die mitunter deutlich allegorischen Charakter haben. In unserem Kontext interessiert aber vor allem das „auch hier“. Denn was ist die philhellenische Argumentation zugunsten des Musaios und des Linos wert, wenn sie sich in formeller Hinsicht nicht im Geringsten von derjenigen unterscheidet, welche die Vertreter der philobarbarischen These zugunsten der Perser oder Ägypter heranziehen? Man könnte natürlich einwenden, dass wir Diogenes ein zu hohes Maß an Intelligenz und Kohärenz zugestehen, wenn wir ihm unterstellen, die beiden Thesen bewusst in dieser Weise gegenübergestellt zu haben, um indirekt zum Ausdruck zu bringen, dass der von ihm offiziell vertretene philhellenische Standpunkt keineswegs besser begründet und vielleicht sogar weniger überzeugend war als die Position der Gegenpartei. Es ist in dieser Frage keine Sicherheit zu gewinnen, da es allein schon die Form des Textes des Diogenes Laertios unmöglich macht, ihn auf Herz und Nieren zu prüfen. Unabhängig davon, ob Diogenes Laertios sich der These vom nichtgriechischen Ursprung der griechischen Philosophie direkt entgegenstellte oder, wie ich vorgeschlagen habe, sich ihr möglicherweise in subtiler Weise anschloss, kann abschließend festgehalten werden, dass es sich dabei um eine entschieden g r i e c h i s c h e These handelt. Dass sie von den Christen aufgegriffen und gegen die Griechen gewendet wurde, wie etwa bei Clemens von Alexandria, ist zwar richtig,25 ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ein entscheidender und ohne Zweifel tonangebender Teil der griechischen Denker den Beitrag der „Anderen“ zur griechischen Philosophie anerkannte. Diese Anerkennung reichte noch über die Grenzen des Mittelmeerraumes hinaus, innerhalb derer Paul Ricœur sein „Griechenland der Philosophen“ verortet, welches mithin auch das Griechenland des Diogenes Laertios und vor diesem das des Sotion war – Sotion, dem 25 Vgl. dazu Stroumsa, Guy, “Philosophy of the Barbarians. On Early Christian Ethnological

Representations” in Cancik, Hubert, Lichtenberger, Hermann, Schäfer, Peter (Hrsg.) Geschichte - Tradition - Reflexion. Festschrift für Martin Hengel zum 70. Geburtstag, Bd. 2 Griechische und Römische Religion, Tübingen 1996, S. 339–368 (hier bes. S. 343–354).

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Diogenes Laertios die Gesamtstruktur seines Werkes verdankt, und der die These vom barbarischen Ursprung der Philosophie nachdrücklich vertreten hatte, wie uns Diogenes explizit mitteilt.

Francesca Vidal Die Bedeutung der Rhetorik im antiken Mittelmeerraum und darüber hinaus „Und lass als Pfand, mein Liebling, dir das Meer“ Carmen Riena

Die aus Mallorca stammende Carmen Riena hat die Erzählung ‚Te deix, amor, la mar com a penyora‘ zwischen 1971 und 19741 verfasst und kann dabei selbstverständlich davon ausgehen, dass ihre Leser wissen, dass es sich bei dem gemeintem Meer um das Mittelmeer handelt. Obwohl die Stadt Barcelona, in der ihre Geschichte spielt, zu dieser Zeit eine vom Meer abgewandte Stadt ist, gehört es zum Denken der Méditerranée, sich dem Meer zugehörig und durch das Meer mit den anderen Ländern an den Küsten verbunden zu sehen. David Abulafia, der sich anschickte, die Biographie dieses Meeres zu verfassen, erklärt, wie es „zu einem ‚Meer zwischen den Ländern‘ [wurde], das die einander gegenüberliegenden Küsten verband, als die Menschen es auf der Suche nach Lebensraum, Nahrung und anderen lebenswichtigen Ressourcen zu überqueren begannen“.2

Europäisches Bewusstsein in Verbindung mit einem Denken der Méditerranée zu sehen, hat also eine lange Tradition. Dennoch ist zu bedenken, dass „die Integration des Mittelmeergebietes zu einem einzigen Handelsraum und nachfolgend zu einem einzigen politischen Raum“ allein schon in der Antike „viele Jahrhunderte gedauert“3 hat. Auch die Entwicklung des europäischen Geistes aus der griechischen Antike ist viel weniger eine stringente Geschichte als eine Abfolge von Bruchstellen und Übergängen, eröffnet gerade dadurch aber neue Perspektiven für zukünftiges Handeln. Ich möchte mich im Folgenden auf die Rolle der Rhetorik und ihre Verknüpfung mit der kulturellen Entwicklung konzentrieren, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, eine historische Kulturanthropologie à la Cicero zu verfassen, der damit die zivilisatorische Macht der Rede begründen wollte. Ebenso werde ich 1 Carmen Riena: Te deix, amor, la mar com a penyora, Barcelona: Planeta Cat, 1997. 2 David Abulafia: Das Mittelmeer. Eine Biographie. Frankfurt am Main: Fischer, 2013. S. 31. 3 Ebd. S. 323.

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nicht die unterschiedlichen Theorien der Rhetorik und ihre jeweiligen immer auf gesellschaftlichen Umwälzungen beruhenden Schwerpunktsetzungen aufzeigen können, oder auch nur die Veränderungen im Übergang von griechischer zu römischer Rhetorik. Hierzu verweise ich auf die vielen Bände des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik.4 Aber ich möchte zumindest Hinweise geben, wie Kultur- und Rhetorikgeschichte ineinander verschlungen sind und wie sich die Rhetorik über die Mittelmeerwelt verbreitete, da das im antiken Griechenland sich herausbildende Erziehungssystem seine Bildungsideale über die Grenzen des Mittelmeers hinaus ausbreitete und die Leitbilder europäischer Erziehung bis ins 18. Jh. hinein prägte. Franz-Hubert Robling hat richtig festgestellt: „Kulturelle Bildung war […] für die antike Pädagogik rhetorische Bildung, die als allgemeine noch vor jeder Fachbildung rangierte. Das galt auch für die Philosophie. Letztere konkurrierte zwar seit den Zeiten von PLATON und ISOKRATES mit der Rhetorik um den dominierenden Einfluß auf die Jugenderziehung, konnte aber die Vorherrschaft der Redekunst im Erziehungswesen nicht brechen und war überdies selbst stark von deren Theorie und Praxis geprägt.“5

Ich selbst will nicht mit der Geschichte der Rhetorik und ihrer Anfänge beginnen, sondern zunächst versuchen, das kulturelle Bewusstsein des Mittelmeerraumes besser zu verstehen, also tatsächlich das Meer – katalanisch mare mar, weiblich nicht sächlich – und ein Denken der Méditerranée in den Vordergrund zu stellen, weshalb ich philologisch ungenau mich nicht immer an die Chronologie halte. Die weibliche Form des Meeres erwähne ich ausdrücklich, weil auch die Rhetorik nicht so selbstverständlich, wie manche glauben, eine männliche Kunst ist, sind uns als ihre Protagonisten auch vorwiegend Männer im Bewusstsein. Erinnern möchte ich mit Fee-Alexandra Haase nur an Aspasia von Milet, die im Perikleischen Zeitalter wohl schon eine Rednerschule gegründet hatte und sowohl Lehrerin als auch Geliebte des Perikles gewesen sein soll und als Zeitgenossin des Sokrates eine von diesem bevorzugte Gesprächspartnerin, will man Platons Dialog ‚Menexenos‘ vertrauen.6 4 Gert Ueding, Hrsg.: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 1–11. Berlin: De Gruyter 5 Franz Hubert Robling: Rhetorische Begriffsgeschichte und Kulturforschung beim ‚Histori-

schen Wörterbuch der Rhetorik‘, in: Archiv für Begriffsgeschichte. Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte. Hrsg. von Gunter Scholtz. Hamburg: Meiner 2000. S. 43–54, hier S. 48. 6 Vgl. Fee-Alexandra Haase: Aspasia – Historische Persönlichkeit und fictio personae. Schriftliche und bildliche Formen der Überlieferung einer Wissenschaft in Platons Dialog Menexenos, Raphaels Fresko Schule von Athen und in modernen Quellen. In: PhiN, Philologie im Netz. Hrsg. V. Paul Gévaudan, Hiltrud Lautenbach, Peter Schneck und Dietrich Scholler 19/2002. Online unter: http://www.fu-berlin.de/phin/phin19/p19t2.htm [S. 43–54] und Dies.: Oralität und Literalität von Lehrtraditionen der Rhetorik und Dialektik in der Antike. Zur Rhetorik der Aspasia im Zusammenhang mit der Gattung Dialog im 4. Jahrhundert v. Chr. In: Perspicuitas. Internet-Periodicum für Mediävistische Sprach-, Literatur- und

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„Du getrautst dich also, sagt Menexenus, diese Rede zu halten, wenn es dir vor dem Senat aufgetragen würde? Warum nicht, erwidert Sokrates, da ich das Glück gehabt habe, eine Lehrmeisterin in der Redekunst zu haben, die viele andre zu sehr guten Rednern gemacht hat, und darunter einen, der unter allen Griechen nicht seines gleichen hat, den Perikles? – Wer wäre diese, versetzt Menexenus, wenn du nicht die Aspasien meinst? …“ So Platon in Wielands Übersetzung.7

Haase schreibt Aspasia zu, das Modell der Induktion als erste gelehrt zu haben. Sie habe gezeigt, wie man jemanden veranlassen kann, durch Einwilligung in einzelne Aussagen zum Schluss etwas zu bejahen, was im Grunde zweifelhaft ist, aber mit dem Mittel der Ähnlichkeit nur den vom Redner beabsichtigten Schluss zulässt.8 Stimmt dies, dann wäre es eine Frau mit der sich belegen ließe, dass dialektische Gespräche – solche, mit denen Philosophen sich dann auf die Suche nach der Wahrheit begeben – sich schon auf Grundlage rhetorischer Techniken entwickelten. Für das Weibliche in unserem Blick auf Rhetorik und Mittelmeer steht aber auch eine Allegorie, die Lukian in seiner Rednerschule verwendet: „Hoch oben soll sie als schöne Dame mit anmutigem Antlitz dasitzen, das mit mannigfaltigen Früchten gefüllte Horn der Amalthea in der Rechten, und neben ihr denke dir den Reichtum ganz von Gold und lieblich anzuschauen. Ferner sollen der Ruhm und die Macht dabei sein und die ganze Gestalt eine Menge kleinen Liebesgöttern gleichender Lobsprüche auf allen Seiten umschweben.“9

Wir wollen keineswegs vergessen, dass Lukian ein Satiriker war, aber seine allegorische Beschreibung kennzeichnet doch, was sich als ein Selbstbewusstsein herausbilden sollte, das uns auch heute noch Europa mit dem rhetorischen Bildungsgedanken verknüpfen lässt. Aber ich schweife ab, mir geht es nicht um ‚weibliche Rhetorik‘ als solche, sondern um den Hinweis, wie sehr unser Meinungswissen unsere Vorstellungen über die antike Welt prägt, gerade weil diese es verstanden hat, mit den Mitteln der Rhetorik dieses Meinungswissen über die Mittelmeerländer hinweg und über ihre Zeit hinaus zu prägenden kulturellen Mustern werden zu lassen. Das Zurückgreifen auf bewährte Muster ist ein beliebtes Mittel jeglicher Argumentation, denn um zu überzeugen verlässt man sich gerne auf Sachverhalte, die als allgemeingültig oder auch nur als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können. Christian Gizewski zählt in seiner VorKulturwissenschaft. Online unter: http://www.perspicuitas.uni-essen.de/gend/aspasia.pdf. [Eingestellt am 19.01.2005; 21 Seiten.] 7 Wielands Werke. 15. Band. Prosaische Schriften II. 1783–1794. Hrsg. v. W. Kurrelmeyer. Berlin 1930. S. 261. Hier zit. n. Haase 2005. 8 Haase 2005. 9 Lukian: Werke. Deutsch von Theodor Fischer. Vierter Band. Vierte Auflage. BerlinSchöneberg [o. J.]. S. 151–152.

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lesung über die Antike10 verschiedene Fundorte auf: das grundlegende historische, geografische und ethnografische Wissen des Rhetors, von Platon letztlich als ‚Nichtwissen’ eingestuft, und zum anderen das durch Religion und Mythologie vermittelte Wissen, also die Vorstellungen, die die Geschichte und das Selbstverständnis des Gemeinwesens begründen wie etwa Heroen- und Gründungslegenden oder die mythologische Allegorisierung politischer Werte und Ideen sowie überhaupt die rechtliche und politische Wert- und Ideenwelt. Hinzu kamen in der Antike noch Logik und Philosophie, seit Aristoteles eingeteilt in politische, ökonomische und ethische sowie die Topik, also das schlussfolgernde Argumentieren mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsaussagen. Dazu zu zählen ist schließlich die Sophismatik, aufgrund derer Schlussfolgerungen als logisch erscheinen und so Zustimmung erhalten. Aber auch an das Alltags-, Zeit- und Weltwissen in seiner topischen Form ist zu erinnern; darunter Sprichwörter, Lebensweisheiten, Gerüchte und Vorurteile, die die Mentalitäten der Hörer spiegeln und tragend für die Entwicklung der öffentlichen Meinung sind, nicht anders als Bilder und musikalische Fundi. Nur wenn auf diese Muster geschaut wird, lässt sich erklären, warum der Mittelmeerraum sich als miteinander verbunden betrachtet nicht allein aufgrund seiner geografischen Lage, sondern seines kulturellen Einverständnisses wegen, das sich durch Abgrenzungen hindurch entwickelte. Der Blick hierauf sollte also immer auch den Zweck haben, genau diese Abgrenzungen in Frage zu stellen, denn wie Gert Ueding in einer Europarede Ende der achtziger Jahre konstatierte, „Europa definiert sich in dialektisch-parteilicher Rede aus dem Gegensatz und in Konkurrenz zu Asien, dem es doch, nimmt man die Mythologie soweit ernst […] seinen Namen und – wie die Kadmos-Sage zeigt – seine Kultur verdankt.“11

Wir erinnern uns an den Mythos: Agenor, untröstlich über den Verlust seiner geraubten Tochter Europa, schickt seine Söhne Kadmos, Phönix und Kilix auf die Suche nach Europa. Auf ihrer Reise stiften sie in Griechenland Heiligtümer für Poseidon, den Gott des Meeres und lehren die Bewohner das Schreiben. Kadmos soll das phönizische Alphabet nach Griechenland gebracht, Theben gegründet und einige kulturelle Grundlagen mehr geschaffen haben. Ueding geht es in seiner Darstellung darum zu zeigen, wie die Grenze zu Asien der Mythenbildung diente, deshalb erinnert er an Hippokrates‘ geographische Reflektionen, die mit den Worten beginnen: „Was Asien und Europa anbelangt, so will ich darlegen, wie sehr sich beide überhaupt voneinander unterscheiden …“12 und auch 10 Vgl. Christian Gizewski: Alte Geschichte im Netz. Online unter: http://agiw.fak1.tu-

berlin.de/Auditorium/RhMusAnt/Kap_2.htm

11 Gert Ueding: Rhetorik als Fundament des modernen Europa, in: Gert Ueding / Thomas

Vogel, Hrsg.. Von der Kunst der Rede und der Beredsamkeit. Tübingen 1998. S. 29–53, hier S. 37. 12 Hippokrates: Über die Umwelt. Hrsg. v. Hans Diller, Carl Werner Müller. Oldenburg: Oldenbourg Akademieverlag 1999, hier zit. n. Ueding a. a. O. S. 38

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an Herodots politische Argumentation, um diesen Antagonismus noch tiefer zu begründen. Diese Hinweise dienen dem Ziel zu erklären, wie es zur entscheidenden Rolle Griechenlands kam, welche Bedeutung die Wechselwirkung mit dem als das Andere titulierte hatte und wieso dies in Zusammenhang steht mit der Entwicklung der rhetorischen Theorie. Dabei hat er die Darstellung der antiken Welt auf einer Landkarte im Blick und sagt: „Wenn wir uns die Weltkarte des Claudius Ptolemäus ansehen, die aus dem 2. Jahrhundert nach Christus stammt und das geographische Wissen der Antike zusammenfaßt, so erblicken wir die europäischen Verhältnisse schon sehr wirklichkeitsgetreu, nur an den Rändern wird die Karte ungenau. Europa liegt dabei in der Mitte zwischen Afrika (wovon Nordafrika gemeint und bekannt war) und Asien als einer anschließenden riesigen Landmasse. Ein geographischer Zwerg zwischen zwei Riesen, und man kann die Wirksamkeit dieser Vorstellung für die sinnbildlich denkenden Griechen gar nicht hoch genug einschätzen. Sie provozierte gewaltige Energien und ein Selbstbewußtsein, das die eigene schmale Wohnstätte am europäischen Rande zum Kern und Zentrum der Welt, zum eigentlichen orbis terrarum sich auswachsen ließ.“13

Unter persischer Bedrohung wird dieses Selbstbewusstsein zur Grundlage eines hellenischen Europabewusstseins, das sein Potential eben nicht aus der geographischen Verbundenheit, sondern aus seiner Kultur schöpft, eine in der die Rhetorik als eine bestimmte Form des Wissens und der ihr gemäßen Praxis angesehen wird, was immer heißt, dass sie sich an den praktischen Erfordernissen der Polis orientiert und so einen Lehrplan entwickelt, der Bildung mit dem Europagedanken verknüpft. „Der Lehrplan Europas ist griechischen Ursprungs, er ist einerseits einem ganzheitlichem Ideal universalen Wissens mit kulturtechnischen, musischen und naturwie gesellschaftswissenschaftlichen Inhalten verpflichtet und verbindet sie andererseits mit den praktischen Erfordernissen der Polis, mit einer politiké téchne. Die hinter diesem Lehrplan stehenden Bildungsmächte sind die Philosophie für die ‚polymathía‘, das universale Wissen, und die Rhetorik für seine praktische Vermittlung und für politische Kunst.“14

Dass es dabei um den Rhetor geht, ist allein griechische Tradition und so finden wir schon in der Ilias sowohl den Begriff – hier für den Antragssteller vor Gericht – als auch die Deutung, dass die Kunst der Persuasion ein spezifisches Merkmal der Herrschenden sei. Der erste – aufgrund seines sprachlichen Listenreichtums durchaus auch kritisch gesehene und zugleich bewunderte Redner – ist Odysseus, er kann sich sogar mit der ebenfalls redebegabten Göttin Athene 13 Ebd. S. 39. 14 Ebd. S. 43.

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messen. Das sollte nicht missverstanden werden, nicht umsonst entwickelt sich die theoretische Reflexion rhetorischer Wirksamkeit erst mit den Demokratien des 5. Jh. v. Chr. Hier hat Rhetorik eine konstitutive Funktion innerhalb der Polis, da sowohl politische als auch juristische Entscheidungen der Mehrheit bedurften und der Logos zum zentralen öffentlichen Medium avanciert war. Die Öffentlichkeit war etwas, das sich überhaupt erst durch die Rede konstituierte. Öffentlich Reden zu halten, wurde damit Grundlage politischer und juristischer Tätigkeit. Die rhetorische Erziehung diente der Kultivierung der Polis, es ging um die Bildung des Bürgers zum politischen Handelnden, der mit den durch die Rhetorik entfalteten Fähigkeiten zu dem Wohl der Polis beiträgt.15 Deshalb sei an dieser Stelle wiederholt, dass die Rhetorik als Disziplin erst an Bedeutung gewann, als im 5. Jh. v. Chr. in Athen die Tyrannenherrschaft beseitigt worden war und die, die das Recht hatten, Bürger zu sein, durch Institutionen an der Macht beteiligt wurden, also zur Zeit der selbstständigen Stadtstaaten. Gerne wird der Hinweis auf die Notwendigkeit, Bürger zu sein, genutzt, um an die Grenzen dieser Demokratie zu erinnern. Daher möchte ich schon an dieser Stelle auf Aristoteles verweisen, der betont hat, dass die Polis vom Zusammenleben der verschiedenen Gruppen lebt und ein guter Mensch zu sein unabhängig ist vom Bürger sein. Aber es wurde nicht in Frage gestellt, dass mit dem politische Handelnden der Bürger gemeint war, Bildung also auf seine Bildung zielte, damit er zum Wohle aller handeln kann, da ja das Erreichen von Glück nur in einer funktionierenden Polis möglich sein kann. Und wer da betont, dass Demokratie in der Aristotelischen Rhetorik als schlechte Verfassung gekennzeichnet wird, dem sei mit Hellmut Flashar entgegnet, dass Aristoteles‘ Politie wohl eher unserem Verständnis von Demokratie entspricht als das mit dem Begriff von ihm selbst Bezeichnete.16 Aber zurück zu den Anfängen: Die Entwicklung der Polis als Ort, an dem der Redegewandte zu dem wird, der das politische Leben prägen sollte, war nur möglich durch von der Öffentlichkeit kontrollierte Einrichtungen. Erst wenn Entscheidungen über Krieg oder Frieden, Steuern, Recht, Ordnung, Sicherheit etc. im öffentlichen Raum verhandelt werden, wird der zum Politiker, der reden kann. Erst das Handeln in diesen Räumen ist auf Orientierung und daher auf den Austausch von Meinungen angewiesen. Ganz selbstverständlich gehen die ersten Lehren der Rhetorik davon aus, dass der Disput über Meinungen zur Handlungsorientierung beiträgt, wobei freilich immer darauf vertraut wird, dass die Überzeugungskraft von Meinung an Autorität 15 Vgl. Franz Hubert Robling: Der horizontal strukturierte Typus von Demokratie und Repu-

blik, in: Ders.: Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals. Hamburg: Meiner, 2007. S. 60–63. 16 Hellmut Flashar: 4. Politik – Der Mensch im Raum der Polis, in: Ders.: Aristoteles. Lehrer des Abendlandes. München: Beck 2013. S. 107–137, vor allem S. 124.

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gebunden bleibt.17 Dass jedoch ein Umgang mit Meinungen stets auch ethische Konsequenzen nach sich zieht und die Hervorhebung der Meinung als Weg zur Orientierung auch zu ihrer Instrumentalisierung und damit zur Reduktion der Rhetorik zum Mittel führen kann, führt gleich zu Beginn der Entstehung der Disziplin zu nachhaltig wirkenden Vorwürfen gegen sie. Deutlich wird die Problematik schon an der Karriere der ersten Theoretiker der Rhetorik, der Sizilianer Korax und Teisias. Korax hat seine theoretischen Schlussfolgerungen aus der eigenen Praxis abgeleitet. Der Rhetor Korax begann seinen politischen Weg aber keineswegs erst nach dem Sturz der Tyrannen in Sizilien, sondern hatte einflussreiche Ämter bereits am Hof von Syrakus. Er wollte als Redner diesen Einfluss auch nach dem Sturz des Tyrannen Thrasybulos behalten und übte sich deshalb weiter in der Kunst der Rede. Auch sein Interesse an der Ausbildung der forensischen Redekunst blieb politisch motiviert. Sich nach der Tyrannenherrschaft ergebene offene Grundstücksfragen wurden vor Gericht verhandelt, was immer zur Folge hatte, dass auch auf juristischer Ebene Fragen von Macht und Einfluss entschieden wurden, weshalb die forensische Rede noch an Bedeutung gewann. Korax und Teisias gelten als die Ahnherren der Rhetorik und als Zeugen für den Hinweis sowohl von Aristoteles als auch von Cicero, dass das Erwachen der Rhetorik im Zusammenhang steht mit dem Aufkommen demokratischer Strukturen.18 Dass damit auch die Grundlage der modernen Psychologie gelegt ist, zeigt uns Gorgias in seiner Helena-Rede,19 hier führt uns der Ahnherr der epideiktischen Rede vor, dass Rhetorik immer Seelenführung ist. Nur in solchem Zusammenhang lässt sich Isokrates spätere Lobrede auf die Polis verstehen, in der er die Redekunst als athenische Besonderheit feiert. Er sagt: „Athen hat erkannt: Wissende und unwissende Menschen unterscheiden sich am meisten durch ihre Reden; Menschen, die von Anfang an eine edle Erziehung genossen haben, sind nicht etwa an Tapferkeit, Reichtum oder anderen derartigen Vorzügen auszumachen, sondern am ehesten an ihren Reden. Dies aber ist das zuverlässigste Indiz für die Bildung eines jeden von uns, und Menschen, die sprachlich sehr gewandt sind, haben nicht nur in ihren eigenen Poleis großen Einfluß, sondern finden auch bei anderen große Anerkennung.“20 17 Vgl. zur Bedeutung des Meinungswissen Peter Ptassek u. a.: Macht und Meinung: Die rhe-

torische Konstitution der politischen Welt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992, insbesondere die S. 26–28 und 37–74. 18 Vgl. Gert Ueding: Klassische Rhetorik. München: Beck 1995. S. 16f. Ueding bezieht sich vor allem auf die Dissertation von Klaus Schöpsdau: Antike Vorstellungen von der Geschichte der Griechischen Rhetorik. Saarbrücken 1969. 19 Gorgias von Leontinoi: Lobrede auf Helena Frg. 11,13, in: Reden, Fragmente und Testimonien, griech.-dt., hrsg. und übers. von Thomas Buchheim. Hamburg: Meiner 2012. 20 Isokrates: Panegyrikos 49, übersetzt von Christine Ley-Hutton: Isokrates. Sämtliche Werke Bd. 1: Reden I–VIII. Stuttgart: Hiersemann 1993.

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Isokrates21 sah sich als Lehrer der Philosophie und war doch Gründer einer der wirkmächtigsten Rhetorenschulen, die, gegen die Sophisten gerichtet, die Forderung nach Bildung durch politische Rede aufstellte. Geführt werden sollte die Seele und zwar eurythmisch, melodisch und musisch, da die sprachliche Formung als Beitrag zur Erziehung des ethisch richtig politisch Handelnden gesehen wurde. Seit Isokrates also können wir mit Robling die Beredsamkeit als Stifterin der Kultur ansehen und als etwas, das dem Menschen erst seine besondere sittliche Würde verleiht. Mit ihm beginnt die Professionalisierung der Rednerausbildung, ein sowohl gegen Sophisten als auch gegen Sokrates gerichtetes Konzept, das Isokrates Philosophie nennt: Erkenntnis begründet auf lebenspraktischer Erfahrung, die sich im Reden und damit im politischen Handeln bewährt. Er liefert damit aber auch die Grundlage für das sich dann im Hellenismus durchsetzende Konzept, Rhetorik als Allgemeinbildung zu verstehen. Es gehört zur Durchsetzung dieses Konzeptes, dass sich über die ganze Mittelmeerwelt zumindest der mündliche und schriftliche Gebrauch der griechischen Sprache verbreitete.22 „Den Rahmen zur Erziehung der angehenden Redner“ so Robling „stellt im Hellenismus das Bildungssystem der ‚Enkyklios paideia‘ bereit. Der Unterricht in der Grammatik mit der Schulung des Sprachempfindens und der Lektüre wichtiger Schriftsteller hat dabei vorbereitenden Charakter, wogegen die Ausbildung zum Rhetor oder auch Philosophen die höchste Stufe darstellt. Bildung und Erziehung werden jetzt nicht mehr nur von Wanderlehrern, wie es die Sophisten meist waren, sondern auch von Schulen vermittelt. Es gibt berühmte Rednerschulen, z.b. in Athen, Alexandria, Rhodos und in Kleinasien.“23

Neu an diesen Schulen ist die Betonung der Nachahmung, die immer mehr als schöpferische Nachahmung gelehrt wird, nachgerade mit dem Ziel, das Vorbild zu übertreffen. Das wird den griechischen, den römischen und den byzantinischen Schulbetrieb beeinflussen. Und wenn wir heute so sehr betonen, welche Bedeutung Streit und Konkurrenz haben, so gilt es auch hier an die Anfänge dieser Vorstellung zu erinnern. Sie basiert ineins auf Vorstellungen von Gleichheit wie von Elite, die sich herausbildet durch Streitkultur: Agonistik.24 Deshalb gab es schon im antiken Griechen21 Zur Bedeutung von Isokrates für die Rhetorik vgl. Franz-Hubert Robling: Isokrates: Le-

benspraxis und soziokulturelle Bildung, in: Ders.: Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffsund Ideengeschichte des Rednerideals. Hamburg: Meiner, 2007. S. 104–109 sowie Ders.: Die Professionalisierung der Rednerausbildung im Hellenismus. a. Isokrates: Rednererziehung als Bildungs- und Kulturprogramm, in: Ders.: Redner, Rednerideal, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. VII (2005) Sp. 862–1031, hier Sp. 883–896. 22 Vgl. ebd. Sp. 889. 23 Franz-Hubert Robling: b. Rednererziehung, Nachahmungspostulat, Kanonbildung, in: ebd. Sp. 892. 24 Vgl. Uwe Neumann: Agonistik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Bd. 1 (1992), Sp. 262–284.

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land Rede- und Dramenwettkämpfe, Schönheitswettbewerbe, Konkurrenzgedanken, öffentliche Gerichtsverhandlungen, olympische Spiele, so dass Hermann Straßburger sagen kann: „Der agonale Gedanke durchdringt das ganze griechische Leben als eine ungeheure Kraftquelle, und die verantwortungsbewußten Denker haben nie einen Versuch gemacht, ihn zu verbannen, sondern lediglich ihn zu veredeln und in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.“25

Mit all dem wollte man sich immer auch abgrenzen von einer anderen Kultur, der, die auf Tyrannis und Krieg setzte, was massiven Einfluss auf die Bildungskonzepte hatte. Im sophistischen Lehrplan zeigt sich dies im Dreischnitt von Elementarunterricht, artes liberales, Berufsausbildung. Der Dreischritt prägt bis in die Moderne jegliche Bildungspläne, man denke nur an die dialektische Grundstruktur von Lehre, Beispiel und Nachahmung. Der Vorrang der rhetorischen Bildung gegenüber der praktischen Tätigkeit des Rhetors ist freilich auch Produkt der politischen Veränderungen, denn erst als nach dem Sieg Philipps von Makedonien die Stadtstaaten ihre Unabhängigkeit verloren hatten, der Aktionsraum des Redners demnach eingeschränkt war, entwickelt sich die Konzentration auf die Bildungsaufgabe der Rhetorik. Dies ist nun ein geeigneter Moment auf die Rhetorik des Aristoteles einzugehen, da doch die Verbreitung seiner Lehren weit über den Mittelmeerraum hinaus erst voll erkennen lässt, welches kulturelle Muster seitdem zum Tragen kam. Für Aristoteles stellt Rhetorik die praktische Philosophie für eine Welt dar, die auf das Handeln ihrer Bürger angewiesen ist. Franz-Hubert Robling hat darauf hingewiesen, dass schon in der Nikomachischen Ethik deutlich wird, dass Aristoteles „die Verrichtung des Menschen in vernünftiger oder der Vernunft nicht entbehrender Tätigkeit der Seele“26 verortet. Sein Techniker ist daher weise, er ist philosophisch geschult, um etwas hervorzubringen und zwar einen Text, der das an jeder Sache Wahrscheinliche, damit auch Überzeugende aufzuzeigen vermag, um zum Wohl der Polis zu handeln. Was einen Redner demnach vor allem auszeichnen muss, ist die subjektive Fähigkeit, das Überzeugende in einer Sache zu erkennen. Schauen wir uns mit Hellmut Flashar das Ideal eines Staates bei Aristoteles an, dann wird uns auch hier die prägende Kraft dieses kulturellen Musters vor Augen geführt.27 Aristoteles‘ idealer Staat liegt trotz der damit verbundenen Gefahren am Meer, er hält ein vom Staat finanziertes Erziehungsprogramm bereit, akzeptiert Schwangerschaftsverhütung und geißelt das Aussetzen unerwünschter 25 Hermann Strasburger: Der Einzelne und die Gemeinschaft im Denken der Griechen, in:

F. Gschnitzer (Hrsg.): Zur griechischen Staatskunde 1969, hier S. 110, zit. n. Neumann 1992. Sp: 262. 26 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von E. Rolfes hrsg. von G. Bien. Hamburg: Meiner, 1985, 1098 a 15ff. Vgl. Robling 2007. S. 39f. 27 Hellmut Flashar: Die beste Verfassung – Der Wunschstaat (Politik VII–VIII ), in: Ders.: Aristoteles. Lehrer des Abendlandes. München: Beck 2013. S. 128–134.

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Kinder, plädiert aber schon für eine Fristenlösung und betont immer wieder die Bedeutung der Erziehung: Richtige Ernährung, Gewöhnung des Körpers an die Umwelt, bis zum fünften Jahr Spielen, dabei kein Verbot von Geschrei und Geheule, fördern diese doch das Wachstum, altersgemäße Geschichten, Achten auf die Sprache – ganz ausgebaut werden wir dies alles wiederfinden in den zwölf Büchern zur Erziehung des Redners vom römischen Rednerlehrer Quintilian, dann freilich ergänzt um das von Cicero entwickelte römische Konzept der humanitas. Und bis ins 19. Jh. wird es eine durch Rhetorik geprägte Erziehung geben, die darauf zielt, den Menschen die Möglichkeiten, mittels Sprache zu handeln, zu erschließen. Womit für einen kleinen Bereich schon angedeutet ist, welche Wirkung vor allem Aristoteles entfalten wird und zwar auch auf die islamisch-arabische Welt.28 Wir wissen, dass seine Schule erst durch Theophrast gebildet werden konnte, seine Schriften zum großen Teil verloren gegangen sind, viele von Sulla selbst nach Rom geschafft wurden, der nach Belagerung und Zerstörung von Kulturstätten die Bibliothek des Aristoteles neben anderen Kulturgütern nach Rom brachte. „Jetzt wurden die Lehrschriften allgemein bekannt und für eine wirkliche Auseinandersetzung zugänglich, während die Dialoge und die übrigen exoterischen Schriften in den Hintergrund traten, aber bis ins 5. Jahrhundert noch gelesen und zur Erklärung der Pragmatien ergänzend herangezogen wurden.“29

Es gibt eine griechische, eine römische und eine lateinische Tradition, in die immer auch entscheidend das Jüdische und Christliche mitgedacht werden muss. Die griechische Tradition besteht vom 2. bis 7. nachchristlichen Jahrhundert vor allem im Kommentieren aristotelischer Schriften, vorzugsweise der Physik und der Metaphysik. Im Horizont eines wieder erstarkten Platonismus sucht man nach Harmonisierungsmöglichkeiten. Diese Kommentatorentätigkeit wird sich nach Schließung der Akademie durch Kaiser Iustinian (529) in neue Zentren wie Konstantinopel, Alexandria, Antiochia, Bagdad verlagern. Im Nahen Osten – einem griechisch geprägten Kulturraum – werden die Schriften ins Syrische, Hebräische, Armenische und Arabische übersetzt, denn „Aristoteles bot einen Rahmen, in dem auch die philosophischen Dispute der eigenen Zeit eingefügt werden konnten“,30 und „als die Araber um die Mitte des 7. Jahrhunderts Ägypten und Syrien eroberten, haben sie die griechische Kultur, die sie dort antrafen, nicht beseitigt, sondern sich durch Übersetzungen anverwandelt.“31 In besonderer Weise wirkte die Rezeption des persischen Arztes Ibn Sina (980–1037, lat. 28 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Hellmut Flashar: Stationen der Rezeption, in: Ders. a. a. O.

S. 351–368, die folgenden Hinweise orientieren sich an dieser Darstellung.

29 Ebd. S. 353. 30 Ebd. S. 357. 31 Ebd. S. 357.

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Avicenna), seine Interpretation beeinflusste im entscheidenden Maße die Diskussionen im Mittelalter und Neuzeit. Kommentare und Schriften des Aristoteles-Kenners Averoës werden wiederum ins Lateinische übersetzt, auch wenn sie einen starken Widerstand der Kirche auslösen. Über Spanien kommt so Aristoteles zurück nach Europa, Averoës Einfluss darf nicht unterschätzt werden. Die lateinische Rezeptionsgeschichte ist dann auch eher zögerlich, hier herrscht die platonische Richtung vor, und erst mit Thomas von Aquin und dessen partieller Trennung von Wissenschaft und Glaube wird es möglich, Aristoteles mit Umdeutungen wieder zu etablieren. Da sich die mittelalterliche Beschäftigung mit Aristoteles nicht auf Klosterschulen beschränkte, sondern in den Universitäten zum Lehrprogramm gehörte, prägte er auch die Formen der Ausbildung. Im Trivium der septem artes liberales, welches aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik bestand, war Aristoteles selbstverständlich präsent.32 Der ‚scholastische Aristotelismus‘ erstarrte laut Flashar bis in die Zeit der Renaissance. Hier erst ermöglichten Buchdruckerkunst und eine Orientierung an griechischen Originalen ein neues Interesse an antiken Texten, wobei ein Erstarken des Interesses an Platon trotz der Schule von Salamanca zu einer Vernachlässigung von Aristoteles in der Neuzeit führte. Das ist eine lange Geschichte in sehr wenigen Worten in Erinnerung gerufen, um noch einmal auf den Anfang zurückzukommen. Die Rhetorik ist seit der Antike Teil der Kultur, das ist seit der Antike deutlich durch ihre Rolle in der Erziehung, deren Konzept sich im Hellenismus über die gesamte Mittelmeerwelt verbreitete. Erziehung als Form, die Erfahrung zu begreifen, nicht statisches Wissen zu lehren, sondern eines, mit dem der Mensch seine Aufgaben als zoon politikon erfüllen kann, z. B. indem Wissen an ethische Grundlagen gebunden wird, ist die Grundlage eines sich im Mittelmeerraum verbreitenden Ideals. Sieht man das ‚Meer zwischen den Küsten‘ demnach als einen Mittler zwischen den Kulturen, lässt sich erkennen, wie das Wissen der griechischen Antike über die islamische Welt33 wieder in alle Mittelmeerländer und angrenzenden europäischen Länder kam und welche Bedeutung die rhetorische Bildung hierbei spielte. Über diese Verbreitung ließe sich sowohl im Hinblick auf die historische Entwicklung als auch auf die geographische Ausbreitung noch sehr lange reden. Ich möchte jedoch hier mit einer Erkenntnis schließen, die meines Erachtens gerade eine Lehre aus der Geschichte der Rhetorik sein kann: Einfluss auf die Anderen nehmen zu wollen, heißt Bindungen schaffen wollen, was die Grundlage für ein gesellschaftliches Miteinander darstellt. Rhetorische Kompetenz ist daher eine, die das intervenierende Handeln in den Mittelpunkt stellt. Rhetorisch kompe32 Vgl. ebd. S. 362. 33 Zur Bedeutung der islamischen Welt für die europäische Kulturgeschichte vgl. John Freely:

Platon in Bagdad. Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam. Stuttgart: Cotta 2012.

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tent zu sein, heißt demnach in Hinblick auf die Hörer und damit auf das gesetzte Ziel, die der Situation angemessenen Mittel klug, einfühlend und antizipatorisch anwenden zu können – diese im antiken Mittelmeerraum weit verbreitete Erkenntnis sollte in unserer Bildungsidee neu verankert werden.

Römisch-imperiale Synkrasien

Burkhard Fehr Antinous als politische Gottheit Oder: Wie halte ich das Römische Reich zusammen? Als immer wieder aufgegriffene politische Idee ist das Imperium Romanum bis heute lebendig geblieben, wie etwa die seinerzeit von Nicolas Sarkozy auf den Weg gebrachte ‚Union pour la Méditerranée’ zeigt. Als antike Realität konfrontiert es die Forschung mit den beiden klassischen Fragen nach der Ursache seiner Größe und seines Unterganges. Man kann eine dritte, weniger oft erörterte Frage hinzufügen: Warum hatte dieses Reich so lange Bestand? Diesem Problemkomplex lassen sich die hier zur Diskussion gestellten Überlegungen zuordnen. Im römischen Kaiserreich, das den gesamten mediterranen Raum umfasste, gab es gewisse Einrichtungen wie etwa Armee und Flotte, die Münzprägung, das Fernstraßennetz und den Kaiserkult, deren zentrale Lenkung oder zumindest Kontrolle von Rom aus für die Aufrechterhaltung des monarchischen Herrschaftssystems unabdingbar war. Ein Charakteristikum dieses Reiches war aber auch seine auf pragmatischen Erwägungen beruhende Toleranz. Es war ein Staatswesen mit vielen kulturellen Gesichtern, das, Loyalität gegenüber der politischen Führung vorausgesetzt, regionale und lokale Besonderheiten und Traditionen, welcher Art auch immer, respektierte und nach Möglichkeit zu integrieren suchte. Dieser Praxis standen jedoch, neben anderen Faktoren, zwei Schwierigkeiten im Wege. Zum einen traten während der mittleren Kaiserzeit die von hellenistischer Tradition geprägten Provinzen der östlichen Reichshälfte in kultureller Hinsicht mehr und mehr in den Vordergrund. Diese Entwicklung ging im gesamten Reich mit einem ausgeprägten sozialen Statusgewinn griechischer Bildung einher. Mit dem Regierungsantritt des Philhellenen Hadrian, bald nach dem Beginn der als ‚Zweite Sophistik’ etikettierten geistesgeschichtlichen Phase,1 hatte das ‚Griechentum‘ scheinbar endgültig ‚gesiegt’. Auf der anderen Seite wurden jedoch die kultischen, mythischen und ethischen Traditionen des ‚Römertums’ unter Hadrian und auch nach ihm aus Gründen der Staatsraison hochgehalten.2 Wie ließ sich dies unter einen Hut bringen? 1 s. Bowersock 1969; Bowie 1970; Zanker 1995, 190–267; Schmidt / Fleury 2001; Borg 2004;

Vout 2006; Cordovana / Galli 2007; Vout 2010.

2 Zu Hadrian: Zoepffel 1978; Schröder 1995; Fehr 2004, 93–96; Haley 2005. Nachhadriani-

sche Zeit: Motschmann 2002. 43–44 (zu Antoninus Pius). 49—53 (Einbindung Mark Au-

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Der zweite Schwachpunkt war das Fehlen eines auf alter Tradition beruhenden Kultes einer obersten Gottheit, die überall im Imperium als solche anerkannt wurde. Der das gesamte Reich umfassende Kaiserkult3 konnte dieses Defizit nicht völlig ausgleichen, auch wenn der Kaiser in die Nähe bedeutender, überall verehrter Götter wie Apollon oder Zeus/Jupiter gerückt wurde und der Kaiserkult meist mit wichtigen provinziellen Kulten eng verbunden war. Im Folgenden diskutiere ich am Beispiel der kultischen Verehrung des Antinous sowie der Konzeption und Rezeption seiner statuarischen Bildnisse einen Versuch Hadrians, mit diesen Problemen zurechtzukommen. Durch die vom Kaiser veranlasste Deifikation wurde der junge Mann in ein ‚Konstrukt‘ verwandelt, das auf religiöser Ebene zur Legitimation einer integrativen politischen Gesamtstrategie4 beitragen sollte.

I. Antinous in der schriftlichen und archäologischen Überlieferung Beginnen wir mit einer stichwortartigen Zusammenstellung der wichtigsten Fakten.5 Aus der schriftlichen Überlieferung erfahren wir genau genommen über Antinous lediglich, dass er in Bithynion-Claudiopolis in der römischen Provinz Bithynien geboren wurde, als sehr schön galt und bereits im jugendlichen Alter zur Entourage Hadrians gehörte; dass er an Hadrians Reise nach Ägypten im Jahre 130 u. Z. teilnahm und Ende August dieses Jahres im Nil ertrank; dass Hadrian, als römischer Kaiser zugleich Pharao, ihn unmittelbar darauf zum ägyptischen Hochgott sowie zum Kultgenossen aller ägyptischen Götter erheben ließ und an der Stätte seines Todes die Stadt Antinoopolis mit Antinous als Stadtgott gründete; dass Antinous außerdem an mehreren Orten außerhalb Ägyptens kultische Verehrung nach griechisch-römischem Ritus genoss; dass diese Verehrung eng mit den vielfältigen öffentlichen und halböffentlichen Formen der Bezeugung von Loyalität gegenüber dem Monarchen zusammenhing; dass der Kult des Antinous außerhalb Ägyptens an einigen Orten bis mindestens zur Mitte des 3. Jh. rels in traditionelle römische Sakralinstitutionen unter Hadrian und Antoninus Pius). 272 („Synthese zwischen traditioneller römischer Religionsausübung und seinem philosophischen Gottesglauben“ bestimmte Marc Aurels Religionspolitik). Vgl. auch Zanker 1995, 240. 264 (Bekenntnis zu altrömischer Gesinnung und den mores maiorum auf Sepulkraldenkmälern in antoninischer Zeit und noch in der 2. Hälfte des 3. Jhs. u. Z.). 3 Claus 1999; Gradel 2002; Herz 2011. 4 Birley 2013. Vgl. Kuhlmann 2002; Fehr 2004. 5 Überblickhaft zusammengestellt (vorrangig archäologisches Material) z. B. bei Clairmont 1966; Meyer 1991; Vout 2005; Backe 2005; Curtis – Vout 2006. Die literarische Überlieferung diskutiert Kuhlmann 2002, 197–239. Zu Antinoos in Ägypten: Zahrnt 1988; Meyer 1991, 119123. 189-194; Meyer – Grimm – Kessler 1994; Kuhlmann 2002, 212–220; Grenier 2008; Graefe 2012.

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u. Z., im ägyptischen Antinoopolis sogar bis in die 2. Hälfte des 4. Jh. betrieben wurde.6 Alle anderen antiken und modernen Aussagen über Antinous’ Leben und Sterben beruhen auf mehr oder weniger gut begründeten Mutmaßungen. Wir kennen weder sein Geburtsjahr noch seinen sozialen und rechtlichen Status.7 Menschlich stand er dem Kaiser zweifellos sehr nahe, ob es aber, wie in antiken und modernen Zeiten immer wieder behauptet, wirklich eine wie immer geartete Liebesbeziehung zwischen den beiden gab,8 werden wir niemals wissen; ebenso wenig, ob sein Tod im Nil ein Unfall, eine auf magischen Vorstellungen beruhende Selbstaufopferung zugunsten Hadrians oder gar eine, möglicherweise rituelle, Tötung durch fremde Hand war.9 Gleichfalls offen bleibt die Frage, ob die Deifikation des Antinous in irgendeiner Form durch den römischen Senat gebilligt wurde; in den Quellen findet sich hierzu kein Hinweis. In einem auffälligen Kontrast zur Kargheit der literarisch-epigraphischen Überlieferung steht die Reichhaltigkeit der archäologischen Quellen. Lässt man beiseite, dass die auf uns gekommenen Bildnisse Antinous posthum, d. h. als Gott oder Heros, nicht aber als zeitgenössischen Sterblichen wiedergeben und somit nur bedingt als Porträts gelten können, so wird die Anzahl der als Darstellungen des Antinous identifizierten Statuen, Büsten und Reliefs10 – die meisten davon sind wohl in der Regierungszeit Hadrians entstanden11 – nur von derjenigen der Augustus- und Hadriansporträts übertroffen.12 Antinous’ Standbilder konnte man noch im 3. Jh. u. Z. überall im Reich sehen.13 Die kaiserliche Münze in Alexandria sowie zahlreiche lokale Prägestätten im Osten des Reiches emittierten zu Hadrians Zeit Prägungen mit Darstellungen des Antinous.14 Hinzu kommt eine beachtliche Anzahl von Bildnissen in verschiedenen Gattungen der Kleinkunst, insbesondere auf Gemmen und Kameen, deren Authentizität allerdings in vielen Fällen nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Die integrative Funktion des gottgewordenen Antinous im römischen Imperium, der ich mich nun zuwende, spielte sich auf zwei Ebenen ab: einer auf bestimmten religiösen Vorstellungen beruhenden kultischen Praxis einerseits, den Dekodierungen der Antinousbildnisse durch Betrachter mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund andererseits. 6 Meyer 1991, 243–244. 7 Die Behauptung, er sei ein Sklave gewesen, trifft wohl nicht zu, s. Kuhlmann 2002, 197. 8 Lambert 1984. Vout 2007, 52–135. 9 Kuhlmann 2002, 76–77.136–137.199. 10 Zusammengestellt bei Meyer 1991, 13–133. s. auch Vout 2005. 11 Anders Vout 2005. Vgl. aber Fittschen 2011, 242–246. 12 Vout 2005, 82. 13 C. D. 69, 11, 4. 14 Meyer 1991, 135–144. s. auch v. Mosch 2001; Nollé 2004. Gute Abbildungen einer Reihe von

Münzbildnissen des Antinous bei Mambella 2008, 98–103.

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II. Religionspolitische Aspekte der Deifikation und kultischen Verehrung des Antinous Im Westen des Imperium Romanum lässt sich nur eine einzige öffentliche Kultstätte des Antinous – das Kollegium der Diana und des Antinous in Lanuvium15 – sicher nachweisen, während sich im Osten zahlreiche Zeugnisse für die kultische Verehrung des deifizierten oder heroisierten Antinous finden. Erstaunlicherweise stammen jedoch die meisten Antinousstatuen und -büsten aus dem Westen. Viele davon mögen eine Funktion im Bereich der uns kaum bekannten privaten Kultpraxis gehabt haben. Manche Antinousbildnisse wurden in Villen gefunden, wo sie jedoch vermutlich nicht als Kultobjekte fungierten,16 sondern lediglich die Loyalität der Eigentümer gegenüber dem Kaiser versinnbildlichen sollten. Nach ägyptischem Glauben wurden Menschen, die im Nil ertrunken waren, zu Osiris. So auch der auf dieselbe Weise ums Leben gekommene und anschließend auf Initiative Hadrians zum ägyptischen Hochgott Antinous-Osiris ‚gemachte’ Antinous. Wie Osiris selbst stand er damit für die Überwindung des Todes und das Wohlergehen im Jenseits. In seinem ägyptischen Kult wurden seine Anhänger, ebenso wie im traditionellen Kult des Osiris, durch Mysterien auf diese höhere Daseinsform vorbereitet.17 Außerhalb Ägyptens wurde der deifizierte Antinous häufig mit dem in der Kaiserzeit überall populären Dionysos gleichgesetzt,18 der wiederum vonseiten der Griechen schon früh mit Osiris identifiziert worden war. Ebenso wie Osiris war Dionysos ein Mysteriengott, der ein glückliches Leben nach dem Tode verhieß.19 Auch für Antinous wurden Mysterienkulte des griechisch-römischen Typus eingerichtet.20 Der von Hadrian deifizierte Antinous war damit, als eine Art gemeinsamer Nenner des ägyptischen Osiris und des griechisch-römischen Dionysos, eine Gottheit für alle geworden, ein für politische Zwecke nutzbarer kultischer Repräsentant einer Gottesvorstellung, die, in zahlreichen Variationen, der Bevölkerung des gesamten mediterranen Raums vertraut und in ihrem Glauben verankert war. Darüber hinaus finden sich im ganzen Reich Beispiele für kultische oder literarische Angleichungen des neuen Gottes Antinous an vielerlei seit langem etablierte Gottheiten und Heroen, etwa an Hermes bzw. Thot, an den nordafrikanischen Deus Frugiferus, den altrömischen Gott Silvanus, Adonis, Aristaios u. a. m. Allen diesen übermenschlichen Wesen war gemeinsam, dass sie dem 15 Meyer 1991, 207-208; Ebel 2004, 12–75. 16 s. jedoch den als Antinoeion gedeuteten Befund in Hadrians Villa in Tivoli (Mari – Sgalam-

bro 2007).

17 Clem. Alex. protr. 4, 49, 1; Orig. c. Cels. 3, 36. 18 Meyer 1991, 231–232; Kuhlmann 2002, 220–225. 19 Merkelbach 1988. 20 Kuhlmann 2002, 201.

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Menschen wichtige Wohltaten erwiesen, indem sie seine Existenz durch agrarische Fruchtbarkeit und zivilisatorische Errungenschaften sicherten und Gefahren von ihm abwendeten.21 Grundsätzlich kam anscheinend fast jedes Mitglied der jungen männlichen Generation in der antiken Mythen- und Götterwelt für eine Identifikation mit Antinous in Frage, sofern es jene euergetisch-soteriologischen Kriterien erfüllte. Man hat deshalb, m. E. überzeugend, die Erhebung des Antinous zum Kultgott mit henotheistischem Ideengut in Verbindung gebracht, das im 2. Jh. u. Z. anscheinend weit verbreitet war:22 zahlreiche traditionelle göttliche Individuen wurden auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, indem man sie als Aspekte einer einzigen großen Gottheit auffasste. So ließ sich das göttliche ‚Konstrukt’ Antinous einerseits in einem umfassenden überzeitlichüberörtlichen Sinne verstehen; andererseits genoss der neue Gott auch in synkretistischer Verbindung mit regionalen und/oder ortsgebundenen göttlichen Persönlichkeiten oder Heroen im ganzen Reich kultische Verehrung in den unterschiedlichsten Formen. Der zugleich universale und lokalen Traditionen Rechnung tragende Antinouskult konnte somit die kultische Verehrung des Kaisers im ganzen Reich ergänzen und eines der beiden oben beschriebenen Probleme der Integration des römischen ‚patchwork’-Imperiums – das Fehlen einer alten, durch Tradition legitimierten und vom europäischen Westen bis zum Nahen Osten anerkannten obersten Kultgottheit – zwar nicht lösen, aber zumindest zeitweise mildern. Doch worin genau bestand die den Kaiserkult ergänzende Funktion der zahlreichen neugeschaffenen Antinouskulte? Es scheint, dass in der ausgeprägten Emotionalität der Antinousverehrung ein Angebot enthalten war, zu dem der sehr formalistische Kaiserkult nicht in der Lage war.23 Darüber hinaus erwartete man wohl, dass die mit dem vergöttlichten Antinous verbundenen Glücksverheißungen auf religiöser Ebene die bekannte, mit Schlagwörtern wie felicitas temporum oder saeculum aureum bezeichnete politische Programmatik Hadrians24 unterstützen würden, die ihrerseits auf ein unter Augustus begründetes und von seinen Nachfolgern mehrfach aufgegriffenes religionspolitisches Konzept zurückging.25 Den Bringer dieses neuen glücklichen Zeitalters stellte man sich oft als göttergleichen Jüngling vor, ein Gedanke, den sich die kaiserliche Propaganda seit Octavian mehrfach zunutze gemacht hat. Anders als der von Cicero als divinus adolescens gefeierte Octavian26 oder der jugendliche Nero27 konnte freilich Ha21 Kuhlmann 2002, 210–236. 22 Kuhlmann 2002, 209–210. 247. 23 Kuhlmann 2002, 208. 24 Bellen 1996. 25 Zanker 1997, 171–196. Vgl. Schreiber 2009. 26 Cic. Phil. 5, 16, 42. 27 s. die bei Bergmann 1998, 136–137 zusammengestellten Zitate aus den Gedichten des Calpur-

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drian als reifer Mann diese Rolle nicht selbst übernehmen. Möglicherweise sollte der vergöttlichte Antinous, in Zuordnung zu dem mit der Vatergott Zeus in Parallele gesetzten Hadrian,28 als eine solche jugendlich schöne Erlösergestalt diese Lücke füllen. Es ist im übrigen bemerkenswert, dass auch der Erlöser Jesus, wie Antinous gestorben und wiederauferstanden, zwar nicht im Neuen Testament und in der älteren patristischen Literatur, wohl aber in der christlichen Volksliteratur als schöner Jüngling geschildert wird.29 Ob die christlichen Intellektuellen, die häufig gegen Antinous polemisierten, in ihm, zumindest auf der Ebene des populären Glaubens, einen Konkurrenten zu dem ihm nicht ganz unähnlichen Jesus sahen?30 Es erscheint weiterhin überlegenswert, ob Antinous vielleicht nicht erst nach seiner Vergöttlichung, sondern sogar schon zu Lebzeiten der Öffentlichkeit als ein erscheinungshaftes, über der alltäglichen Menschenwelt stehendes Wesen präsentiert wurde. Ein episches Gedicht des Alexandriners Pankrates31 schildert einen Jagdausflug Hadrians in Libyen, bei dem Antinous durch das Eingreifen des Kaisers vor einem angreifenden Löwen gerettet wird; aus dem Blut der Bestie soll eine Lotosblume aufgeblüht sein, die auch in anderen Quellen erwähnt wird.32 Jene libysche Jagd wird in den Versen des Pankrates zu einem quasi-mythischen Geschehen verklärt, in dem die beiden heldenhaften Protagonisten einer übermenschlichen Sphäre angehören. In der Realität war diese Jagd gewiß kein improvisierter Zeitvertreib des Monarchen und seines jugendlichen Begleiters gewesen, sondern ein sorgfältig inszenierter Vorgang mit komplexem symbolischem Gehalt.33 So betrachtet, könnte bereits der lebende Antinous in zeremoniellen Handlungen des Kaisers eine Funktion als öffentlich sichtbare, ästhetisch ansprechende Verkörperung von grundlegenden, für das gesamte Reich verbindlichen Werten und Ideen, die seiner Altersstufe zugeordnet waren, gehabt haben. Vermutlich wussten die wenigsten Betrachter der libyschen Jagd und ähnlicher Veranstaltungen über Antinous’ Eltern, seinen sozialen Status usw. mehr als die antiken und modernen Geschichtsschreiber, wahrscheinlich deshalb, weil es jener symbolischen Funktion nicht dienlich war, solche ernüchternden SteckbriefDaten an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Derart von einer geheimnisvollen Aura umgeben, mag Antinous in solchen vorher wohlüberlegt konzipierten Sinius Siculus.

28 Kuhlmann 2002, 81–87 und passim. Vgl. Willers 1990, 100–101. 29 Kollwitz 1957, 1–2. 30 Zur christlichen Sicht des Antinoos s. Hermann 1964; Guyot 1981; Nadig 2000; Kuhlmann

2002, 179–181; Pudill 2009 (mir derzeit nicht zugänglich). Vgl. Grenier 2008, 67–73 (der zum Gott gemachte Antinous von den Alexandrinern in Kooperation mit dem Kaiser als Konkurrent des Gottes der Juden und Christen instrumentalisiert?). 31 Athenaios 15,677–678; P. Oxy. 7, 1085 (übers. bei Kuhlmann 2002, 254–256). 32 Kuhlmann 2002, 207; Mazza 2009. 33 Zu Hadrian als Jäger s. Gutsfeld 2000; Kasulke 2000.

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tuationen auf den Durchschnittsbetrachter ähnlich wie jugendliche Personifikationen von Wertbegriffen wie Honos oder Bonus Eventus, die auf römischen historischen Reliefs häufig als Begleiter des Kaisers dargestellt wurden,34 gewirkt haben – gewissermaßen als eine Art lebendes Bild. Unter solchen Umständen könnte die Vergöttlichung des Antinous nach seinem Tod von vielen Zeitgenossen weniger als Überschreitung einer scharfen Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, denn als gleitender Übergang empfunden worden sein, der sich dem normalen menschlichen Begriffsvermögen entzog. Diese Perspektive legt eine Frage nahe: Verdankte Antinous seinen Aufstieg in die Götterwelt tatsächlich, wie immer noch häufig geglaubt, in erster Linie einem spontanen Einfall des trauernden Monarchen, der dem jungen Mann auf diese Weise ein ewiges Angedenken sichern wollte? Oder war dieser Aufstieg nicht eher eine konsequente Fortschreibung und Erweiterung einer Rolle, die Antinous schon vorher gespielt hatte. Das eine schließt wohl das andere nicht aus. Hadrians Zuneigung zu Antinous wird man nicht bezweifeln wollen – vielleicht war dieser für ihn eine Art Ersatz für den ihm nicht vergönnten Sohn; ebenso wenig dürfte aber sein langfristig ausgerichtetes realpolitisches Denken, insbesondere auf dem Gebiet der staatlichen Religion, aufgrund des Todes des jungen Mannes plötzlich ausgesetzt haben. Es ginge allerdings zu weit, hinter dem religionspolitischen ‚Konstrukt‘ Antinous so etwas wie ein kaiserliches ‚Religionsministerium‘ zu vermuten, das die Etablierung der Antinouskulte im gesamten Imperium Romanum in jedem einzelnen Fall zentral veranlasste, plante und bis ins Detail überwachte. Hierfür gibt es keine Anhaltspunkte. Es scheint eher die Regel gewesen zu sein, dass sehr bald nach der Deifikation des Antinous von verschiedenen an der Gunst des Kaisers interessierten Seiten, wie z. B. der Stadt Thessalonike,35 Anfragen beim kaiserlichen Hof eingingen, ob die Einrichtung eines Antinous-Kultes mit den und den durch lokale Verhältnisse und Traditionen bedingten Besonderheiten genehm sei. Auf solche von außen kommenden Initiativen konnte der Kaiser dann in jeweils passend erscheinender Weise gemäß seiner langfristigen, schon vor Antinous’ Tod konzipierten integrativen Gesamtstrategie reagieren.

III. Wahrnehmungen der Statuen des Antinous Welche Rolle fiel in dieser Strategie den bildlichen Darstellungen des Antinous zu? Angesichts der Allgegenwart der bildlichen Kommunikation in den Gesellschaftssystemen der griechisch-römischen Antike war die Politik der römischen Kaiser stets darauf angewiesen, diese Medien für legitimatorische und systemstabilisierende Zwecke zu nutzen Ich versuche im Folgenden zu begründen, dass 34 Vgl. u. 285f. 35 Meyer 1991, 205.

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den statuarischen Darstellungen dieses neuen Gottes eine erhebliche Bedeutung im Rahmen staatlicher Bemühungen zukam, eine im gesamten Imperium anerkannte, integrativen Zwecken dienende visuelle Symbolik zu etablieren, die von den wichtigsten sozio-kulturellen Gruppen und religiösen Glaubensrichtungen als Ausdruck ihrer jeweils eigenen traditionellen Vorstellungen und Werte akzeptiert werden konnte.

Ein Denkmodell: Visuelle ‚Bilinguen’. Zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen zu meiner Betrachtungsweise. Seit der augusteischen Zeit setzte sich das Vokabular der Bildsprache römischer Staatsmonumente im wesentlichen aus ausgewählten Formen, Typen und Motiven der griechischen Kunsttradition zusammen. Diesen griechischen ‚Vokabeln‘ wurden jedoch neue Bedeutungen im Sinne der direkt oder indirekt auf den Princeps und stadtrömisch-italische Traditionen bezogenen Staatsideologie zugewiesen.36 Hier stellt sich jedoch eine bisher wenig beachtete Frage: Wie ist die keineswegs selbstverständliche Tatsache zu erklären, dass die griechische Kunst sich für diese Funktion eignete? Diese Erklärung ist, wie mir scheint, in einer von Anfang an zu beobachtenden Grundtendenz der griechischen Kunstentwicklung zu suchen.37 Es ist allgemein bekannt, dass es in ‚barbarischen’ Kulturen (z. B. Etrusker, Skythen, kleinasiatische Ethnien, Perser) bereits in archaischer Zeit eine Nachfrage nach Arbeiten griechischer Künstler und Kunsthandwerker gab, sei es dass diese in Griechenland ansässig waren, sei es dass sie sich, aus welchen Gründen auch immer, zeitweise oder dauerhaft in der Fremde niedergelassen hatten und somit in unmittelbarem Kontakt mit ihren nichtgriechischen Abnehmern standen.38 Es bleibt ungewiss, ob und in welchem Ausmaß die in der griechischen Bildsprache formulierten Aussagen solcher Artefakte von jenen Abnehmern ‚richtig‘, d. h. ebenso wie von einem Griechen der gleichen Epoche, verstanden wurden (wobei man die Absicht voraussetzt, die griechische Lesung korrekt nachzuvollziehen). Es wird auf Seiten nichtgriechischer Auftraggeber nicht selten auch die Erwartung gegeben haben, dass sich die bei griechischen Künstlern bestellten Werke auch auf der Grundlage traditioneller einheimischer Vorstellungen und Glaubenswelten sinnvoll interpretieren ließen. Inwieweit und in welcher Weise sich solche Erwartungen auf Thematik, typologisch-motivisches Inventar und formale Gestaltung dieser griechischen Kunstprodukte ausgewirkt haben, ist eine Frage, die in der Forschung je nach kultureller Zugehörigkeit jener Auftraggeber unterschiedlich beantwortet wird. 36 Hölscher 1987; Zanker 1997. 37 Umfangreiches Material hierzu bei Boardman 1994. 38 Überblick bei Boardman 1999.

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Abb. 1: Sog. Klagefrauensarkophag (Detail). Istanbul, Archäologische Museen inv. 368. – Nach Fleischer 1983, Taf. 6.

In nacharchaischer Zeit sind in diesem Zusammenhang die bekannten großen Grabdenkmäler, die von griechischen Künstlern im Auftrag lykischer, karischer oder phönizischer (Abb.1) Machthaber im 5. und 4. Jh. v. u. Z. geschaffen wurden,39 von besonderem Interesse. Die bildliche Verzierung dieser Monumente 39 Zu den lykischen Grabdenkmälern Stewart 1990, 73–74. Zum Maussoleion von Halikarnas-

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beruht stilistisch und ikonographisch überwiegend auf griechischer Tradition. Gleichwohl finden sich dort immer wieder Einzelzüge, die den Gedanken nahe legen, dass die monarchischen Auftraggeber zwar über genügend ‚Bildung’ für eine lectio Graeca verfügten und speziell gegenüber griechischen und sonstigen auswärtigen Besuchern mit dieser Fähigkeit renommieren wollten, andererseits aber von den Künstlern eine Konzeption der Werke verlangten, die die Aufmerksamkeit zumindest der einheimischen Elite auch auf die Möglichkeit einer alternativen Lesung im Sinne von deren eigener kultureller Identität lenkte, insbesondere im Hinblick auf überkommene religiöse Vorstellungen und monarchische Ideologien.40 Hiervon ausgehend wäre zu überlegen, ob die herkömmliche Betrachtungsweise, nach der die jahrhundertelange vorhellenistische Entwicklung der griechischen Kunst einseitig teleologisch, als Ausdruck einer autonomen ‚inneren Logik’, zu betrachten ist, möglicherweise zu kurz greift. Es erscheint vorstellbar, dass die thematischen, typologischen, ikonographischen und stilistischen Konventionen, die für griechische Kunstwerke am Ende der spätklassischen Phase maßgebend sind, auch das Ergebnis eines sich über einen langen Zeitraum erstreckenden Auswahlprozesses aus einer ursprünglich weit größeren Anzahl von Gestaltungsmöglichkeiten sind. Einer Auswahl, die von den tonangebenden griechischen Künstlern, bewusst oder unbewusst, nach dem Kriterium vorgenommen wurde, welche dieser Gestaltungsmöglichkeiten nicht nur griechischen, sondern in zunehmendem Maße auch nichtgriechischen Auftraggebern unterschiedlicher Provenienz eine Lesung gemäß der jeweils eigenen kulturellen Identität gestatteten (und damit Aussichten auf erweiterte ‚Absatzmöglichkeiten’ eröffneten41). Die monumentale hellenistische Bildkunst würde sich in die Hypothese eines solchen Entwicklungsprozesses gut einfügen.42 Die Auftraggeber sind nun nicht mehr nichtgriechische, sondern griechische (oder besser: sich mit griechischer Tradition identifizierende makedonische) Monarchen mit einer unübersehbar großen Zahl ‚barbarischer’ Untertanen unterschiedlichen sozialen Ranges. Ebenso wie einige andere Kollegen habe ich seinerzeit wahrscheinlich zu machen versucht, dass sich bereits zur Zeit der unmittelbaren Nachfolger Alexanders ein Verfahren der Bildgestaltung herausgebildet hatte, das auf Kombinationen ausgewählter traditioneller Motive und Formelemente der griechischen Kunst beruhte, gleichwohl aber in den neu gegründeten hellenistischen Großreichen im Nahen Osten nicht nur Griechen, sondern auch größeren Bevölkerungsgruppen sos ebenda 180–182. Zu den Reliefsarkophagen der Königsgruft von Sidon s. die Literaturangaben bei Boardman 1994, 326 Anm. 16. Zum Wiener Amazonensarkophag Fleischer 1998. 40 Vgl. Fleischer 1985. 41 Auf die sog. Mischstile, in denen Elemente des formalen, motivischen und typologischen Repertoires der Kunstproduktion verschiedener Kulturen miteinander verknüpft sind, jedoch ohne weiteres voneinander unterschieden werden können, gehe ich hier nicht ein. 42 s. zum Folgenden Kyrieleis 1973; Neumer-Pfau 1983; Fehr 1988, 1990, 1997.

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mit nichtgriechischer kultureller und religiöser Prägung eine zustimmungsfähige ‚Lesung’ öffentlicher Monumente gemäß ihren jeweiligen herkömmlichen Ideen, Werten und Glaubensinhalten ermöglichte. Diese Monumente können also in gewisser Weise als visuelle ‚Bilinguen’ oder sogar ‚Multilinguen’ angesprochen werden. Bereits im Verlauf des 3. Jh. v. u. Z. hatte dieser Prozess im wesentlichen seinen Abschluss gefunden. Entgegen dem landläufigen Etikett ‚Hellenisierung’, handelt es sich dabei keineswegs um eine Erscheinungsform einer angeblichen kulturellen ‚Eroberung’ des Vorderen Orients und Ägyptens durch das ‚Griechentum’.43 Wir haben es vielmehr mit einem Instrument der politischen Absicherung der gerade erst begründeten hellenistischen Monarchien zu tun: dem auch auf anderen Gebieten zu beobachtenden Versuch, vorgefundene traditionelle Vorstellungswelten und kulturelle Identitäten – und mit ihnen auch die durch sie legitimierten einheimischen Eliten – in das neue Herrschaftssystem einzubinden, indem man ihnen deutlich und doch diskret Respekt bekundete. Kehren wir damit zurück zu der offiziellen Bildsprache der frühen römischen Kaiserzeit. Sie hatte sich die jahrhundertealte Erfahrung und Flexibilität griechischer Künstler im Umgang mit ‚barbarischen’ Auftraggebern zunutze gemacht. Im Gegensatz zu der eben skizzierten hellenistischen Praxis bot sie jedoch neben der lectio Romana der spolienhaft verwendeten griechischen Einzelformen, -typen und -motive im Sinne der Prinzipatsideologie keine Möglichkeit einer zusammenhängenden und gleichrangigen lectio Graeca dieser Versatzstücke an. Verantwortlich für diese einseitige Botschaft war in erster Linie die Tatsache, dass innerhalb jener Ideologie Rom und Italien eine zentrale Position zukam. Die Basis für diesen Überbau wurde jedoch mehr und mehr dadurch geschwächt, dass Italien im Verlauf des 1/2. Jh. u. Z. einen wesentlichen Teil seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung an die Provinzen abgeben musste.44 Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser veränderten Rahmenbedingungen etablierte sich, ausgehend von der griechisch sprechenden und in griechischer Tradition erzogenen Oberschicht der östlichen Reichshälfte, eine auch in den Westen ausstrahlende, in viele gesellschaftliche Bereiche und Aktivitäten hineinwirkende ‚Erinnerungskultur‘, die auf der Vorstellung beruhte, die große Zeit des Griechentums sei keineswegs ferne Vergangenheit, sondern lebendige Gegenwart.45 Dieser Entwicklung suchte Hadrian, Philhellene und doch zugleich ein entschiedener Vertreter des ‚alten Römertums’,46 in vielfältiger Weise Rechnung zu tragen. Ein Indiz hierfür sind bekanntlich seine zahlreichen Aufenthalte im Osten des Imperiums und seine dort getroffenen, auf regionale/lokale Verhält43 Vgl. Fleischer 1985, 538–539. 44 Symptomatisch war etwa das allmähliche Vordringen der Provinzialen in die Führungsspitze

des Reiches, s. Alföldy 2011, 133–134.

45 Literaturhinweise o. Anm. 1. 46 Fehr 2004, 93–96.

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nisse zugeschnittenen Maßnahmen.47 Die hierbei gewonnenen Eindrücke dürften ihn zu der Einsicht geführt haben, dass die bisherige, hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes griechische, auf der Bedeutungsebene aber in erster Linie von römisch-italischer Tradition und Identität geprägte offizielle Bildsprache der von ihm konsequent betriebenen Integrationspolitik nicht gerecht werden konnte. Sie bedurfte der Ergänzung der bislang dominierenden lectio Romana durch das Angebot einer dem neuen Selbstbewusstsein des Ostens entsprechenden lectio Graeca, wobei jedoch, anders als im Hellenismus, die beiden Lesarten so ausbalanciert sein mussten, dass beide mit dem kaiserlichen Inhaber der politischen Macht gleich eng verbunden waren. So entstand eine neue, auf den kaiserlichen Amtsträger und seine politische Programmatik bezogene Bild- und Architektursprache, deren Botschaften gleichermaßen römische Traditionalisten wie die sich ihres ‚Griechentums‘ bewussten Bewohner der östlichen Reichshälfte und deren Sympathisanten im Westen ansprechen sollten.48 In diesen Kontext gehören auch die statuarischen Darstellungen49 des zum Gott erhobenen Antinous. Ich beginne mit einer Analyse zweier den Rezipienten angebotener Dekodierungen dieser Standbilder: einerseits im Sinne der griechischen ‚Erinnerungskultur‘, andererseits innerhalb des durch das traditionelle ‚Römertum‘ vorgegebenen Bezugsrahmens.50 Danach geht es um die populäre Rezeption, die sich auf den mimetischen Aspekt der Antinousstatuen konzentrierte. Abschließend werden denkbare Argumente derjenigen antiken Betrachter diskutiert, die zwar der intendierten politischen Botschaft der Antinousstatuen zustimmten oder zumindest nichts dagegen einzuwenden hatten, wohl aber die diesen Standbildern zugrunde liegende Auffassung des menschlichen Körpers als ungeeignet zu der Vermittlung einer solchen Botschaft ansahen.

Die Dekodierungen der Antinousstatuen durch die neuen ‚alten Griechen’ und durch römische Traditionalisten. Die meisten dieser Standbilder (Abb. 2.3) enthalten ein auffälliges visuelles Substrat, das aus einer ‚harten‘ und einer ‚weichen‘ Komponente besteht: einem kräftig gebauten Körper in standfester Haltung und einer subtilen, oft etwas füllig wirkenden, in der Forschung nicht selten als ‚feminin’ wahrgenommenen Modellierung der Körperoberfläche, ein gefühlsmäßiger Eindruck, der durch das üppig 47 Syme 1988; Birley 2013; Boatwright 2000. 48 Fehr 2004. Vgl. jetzt auch Karanastasi 2012/13. 49 Zanker 1974, 10-11.97–99; Meyer 1991, 18-20. Die Porträtköpfe sind für meine Fragestellung

nicht relevant und bleiben deshalb unberücksichtigt, ebenso wie die zahlreichen noch einer umfassenden Neubearbeitung harrenden Bildnisse auf Münzen und in anderen Medien der Kleinkunst. 50 Im Folgenden modifiziere und erweitere ich meine früheren Überlegungen (Fehr 2004, 107–116).

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Abb. 2: Antinous. Marmorstatue in Delphi, Museum inv. 1718. – Nach Meyer 1991, Taf. 13.

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Abb. 3: Antinous. Marmorstatue in Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptothek inv. 548. – Nach Meyer 1991, Taf. 25.

herabwallende Haar noch verstärkt wird.51 Durch Anreicherung mit bestimmten, z. T. auch nichtgriechischen bzw. nichtrömischen Attributen sowie durch leichte formale und typologische Modifikationen ließ sich dieses Substrat ohne grundsätzliche Veränderung in sehr flexibler Weise den Vorgaben lokaler Kulte und Mythen anpassen. Wie sollte dieses ambivalente Körperbild ‚gelesen‘ werden? Ich befasse mich zunächst mit einer zahlenmäßig nicht sonderlich umfangreichen, aber im 2. Jh. u. Z. durchaus einflussreichen Zielgruppe: literarisch-philosophisch gebildeten, d. h. vermögenden, über Freizeit verfügenden und der sozialen Elite zugehörigen 51 So der Grundtenor der stilanalytischen Studien, s. etwa Zanker 1974, 97–99. Zum langen

Haar vgl. Fehr 1979, 125 Anm. 517; Zanker 1995, 234–236.

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Abb. 4: Apollon. Römische Marmorkopie einer frühklassischen griechischen Statue in Cherchel, Musée Archéologique. Nach Zanker 1974, Taf. 74 Nr. 2.

Betrachtern mit guten Geschichts- und Kunstkenntnissen. Sie lassen sich aufteilen in solche, deren Traditions- und Identitätsbewusstsein primär in der klassischen griechischen Kultur des 5./4. Jh. v. u. Z. verwurzelt war, und solche, die sich in erster Linie als Römer empfanden und an den mores maiorum der alten Zeit orientierten (der Einfachheit halber etikettiere ich diese beiden Untergruppen im Folgenden als ‚griechische/römische Betrachter‘).52 Griechische Betrachter konnten, ähnlich wie der heutige Kunst-Archäologe, die ‚harte’ Komponente der meisten Antinousstatuen als einen bewussten Rückgriff auf frühklassische Formphänomene53 wahrnehmen: sie mögen sich an den 52 In manchen Fällen mag es auch so etwas wie eine doppelte kulturelle Identität mit Rollen-

wechseln entsprechend der jeweils aktuellen sozio-kulturellen Umgebung gegeben haben. Hadrian selbst führte dies seiner Entourage vor (Zanker 1995, 208–209), indem er bei passender Gelegenheit anstelle der römischen Toga griechische Gewandung trug – sicher als ein zur Nachahmung empfohlenes Vorbild). 53 Zanker 1974, 97–99; Meyer 1991, 19. Die Orientierung am Strengen/frühklassischen Stil

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Körperbau und die Proportionen von Statuen des Strengen Stils (Abb. 4) erinnert gefühlt haben, die man zur Zeit der großen griechischen Siege über die Perser in bedeutenden panhellenischen Kultstätten wie Delphi und Olympia aufgestellt hatte. In diesen griechischen Standbildern hatte die für ihre Entstehungszeit charakteristische Hochschätzung extremer körperlicher Anstrengungsbereitschaft um des Ruhmes willen anschaulichen Ausdruck gefunden. Eine statuarische Darstellung des Antinous54 zitiert hinsichtlich der Haltung und der Gliederung des Körpers ein weiteres Musterbild des athletischen jungen Mannes: Polyklets Speerträger. Dieses Zitat erinnerte den griechischen Betrachter an die Zeit, in der seine Kultur ihren Gipfel erreicht hatte. In diesem Umfeld konnten die polykletischen Schöpfungen einen Ehrenplatz beanspruchen, da sie ein Idealsystem körperlicher symmetriai sichtbar machten,55 dessen Entdeckung durch den Künstler als eine erstrangige intellektuelle Leistung der griechischen Kultur gelten konnte. Die ‚weiche’, hochdifferenzierte Körpermodellierung56 der Antinousstatuen ließ sich, ebenso wie die lange Haartracht des jungen Mannes, mit Darstellungen des griechischen Glücks- und Freudengottes Dionysos in der kaiserzeitlichen Idealplastik parallelisieren,57 ein Gedanke, der dem Betrachter auch durch die kultische Identifikation des Gottes Antinous mit Dionysos nahegelegt wurde. So konnte man eine Verbindung zwischen der ‚weichen’ Komponente der Standbilder des Antinous und der bequemen, genießerischen und luxuriösen Lebensführung der wohlhabenden Schichten herstellen, die im öffentlichen Bewusstsein seit hellenistischer Zeit vor allem im Zeichen des Dionysos, des Schirmherrn ausgelassener Feste, stand.58 kommt in den Idealskulpturen der hadrianisch-antoninischen Zeit auch sonst häufig vor, s. Zanker 1974, 117. Die Konnotationen, die die damaligen Betrachter solcher Werke mit diesem Formzitat verbanden, wären – jeweils in Abhängigkeit von pragmatischen Kontext, Thematik und den Wahrnehmungsstrukturen unterschiedlicher Betrachtergruppen – noch genauer zu untersuchen und mit der hier beschriebenen Rezeption der Antinoosstatuen im Einzelnen zu vergleichen. 54 Antinoos Farnese: Zanker 1974, 10 Nr. 9. Meyer 1991, 57–59 Nr. 38. 55 s. Beck – Bol – Bückling 1990 (besonders die Beiträge von Philipp, v. Steuben, Berger). 56 Im Altgriechischen bot sich das Wort hapalos als passende Bezeichnung an (so Kallistratos in stat. descr. 8). Zu diesem Formphänomen als einem allgemeinen Charakteristikum der hadrianischen Idealplastik s. Zanker 1974, 99. Für die noch zu leistende Analyse der von damaligen Betrachtern mit solchen Werken verbundenen Konnotationen gilt mutatis mutandis das o. Anm. 52 zur Rezeption des Strengen Stils in der hadrianischen Zeit Gesagte. 57 Schröder 1989; ders. 2004, 242–243. – Die sensible plastische Gestaltung der Körperoberfläche dieser Dionysosbilder wie auch der Statuen des Antinous steht in einer von dem berühmten spätklassischen Bildhauer Praxiteles begründeten Tradition (s. Hölscher 1987, 56 zur kaiserzeitlichen Rezeption praxitelischer Formen in der schriftlichen und bildlichen Überlieferung). Griechische Kunstkenner konnten deshalb auch in der ‚weichen‘ Komponente der Antinousstatuen den Widerschein einer großen Kulturleistung ihrer Heimat erkennen. 58 Zanker 1998. Heinen 1983, 116–128.

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Abb. 5: Kolossaler Kouros von Samos. Frühes 6. Jh. v. u. Z. Samos, Museum. - Nach Kyrieleis 1996, Taf. 16.

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Abb. 6: Herakles als Zecher auf der Kline. Schwarzfigurige Halsamphora des späten 6. Jh. v. u. Z. Privatbesitz. - Nach Wolf 1993, Abb. 19.

Seit der archaischen Zeit hatten griechische Dichter und hedonistisch orientierte Intellektuelle Lebensgenuss und Luxus verherrlicht, während die Moralphilosophie nicht müde wurde, das Für und (vor allem) Wider dieses Themas ausführlich zu erörtern.59 In diesem Zusammenhang scheint mir eine von dem Reiseschriftsteller Pausanias (2. Jh. u. Z.) überlieferte Anekdote aufschlussreich:60 Als Theseus – langhaarig, kunstvoll frisiert und mit einem prächtigen 59 s. Baltrusch 2010, 711–724. Vgl. Kistler 2006, 108–110. 60 Paus. 1, 19, 1.

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langen Chiton bekleidet – an einem gerade im Bau befindlichen Tempel des Apollon Delphinios in Attika vorüberging, sollen ihn die Bauarbeiter höhnisch als junges Mädchen bezeichnet haben; Theseus ergriff daraufhin schweigend einen Opferstier und schleuderte ihn hoch in die Luft. Der luxuriöse Habitus des jungen Heroen scheint zunächst auf einen üppigen Lebensstil und eine daraus angeblich resultierende unmännliche Schlaffheit an Körper und Seele zu deuten; den Kritikern wird jedoch durch den Beweis übermenschlicher Stärke sofort der Wind aus den Segeln genommen. Ein ähnlicher Gedanke findet sich etwa zu derselben Zeit in Lukians Traktat über die Pantomimen:61 Der Autor sucht dort den Vorwurf eines kynischen Philosophen, die Pantomimen seien weichlich und effeminiert, durch das Argument zu entkräften, dass diese Künstler in der Lage seien, das Herkulische ebenso wie das Aphrodisische wiederzugeben. Dass dies eine auf ältere Traditionen zurückgehende griechische Perspektive ist, lässt eine (freilich im Widerspruch zu den historischen Tatsachen stehende) Äußerung des Herakleides Pontikos vermuten: Danach sollen die griechischen Kämpfer von Marathon ungeachtet (oder gerade wegen?) ihrer Hinwendung zu einer üppigen Lebensweise den Sieg über die Perser errungen haben.62 Letzten Endes dürfte diese Vorstellung eines zwischen ‚weich’ und ‚hart’ ausbalancierten Männlichkeitsideals auf die archaische Zeit zurückgehen, wie nicht zuletzt weich modellierte, aber dennoch kräftig gebaute Kouroi (Abb. 5) des griechischen Ionien63 oder der auf einer Kline unter seinen aufgehängten Waffen zechende Herakles64 (Abb. 6) zeigen. Vermutlich ist es diese herkömmliche, das ‚Weiche’ durch das ‚Harte’ rechtfertigende griechische Sehweise, an die die beiden gegensätzlichen Komponenten im Erscheinungsbild der Antinousstatuen appellieren sollten. Vielleicht sollte bereits der lebende Antinous unter diesem Blickwinkel gesehen werden, da er der Öffentlichkeit nicht nur als schöner Jüngling, sondern, wie sich aus dem bereits erwähnten Gedicht über die Löwenjagd in Libyen ergibt,65 auch als mutiger Jäger präsentiert wurde. So betrachtet war auch Antinous, ob als Statue oder als ‚lebendes Bild’ inszeniert, eine von zahlreichen Formen jener bereits erwähnten ‚Erinnerungskultur‘, durch die das ‚Griechentum’ der klassischen Epoche zur Gegenwart verklärt wurde. Auch gebildete Römer konnten in der ‚harten’ Komponente der Antinousstatuen das Vorbild frühklassischer griechischer Werke wiedererkennen, von denen 61 Lucian. de salt. 73. 62 Athenaios 512a–c. Kistler 2006, 109. 63 s. Himmelmann 1990, 40. Die von ihm genannten Beispiele sind allerdings Extremfälle ei-

ner Tendenz, die jedoch in gemilderter Form auch anderwärts zu beobachten ist, s. FreyerSchauenburg 1974, 105. 64 Fehr 2000, 125–126. 65 s. o. 272

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ja nicht wenige in Rom der Öffentlichkeit vor Augen standen.66 Standbilder aus dieser Epoche, etwa solche des Kallon und des Hegesias, wurden von der griechischen Kunsttheorie als eine noch mit Mängeln behaftete Vorstufe auf dem Weg zum Höhepunkt der griechischen Kunstentwicklung beurteilt.67 Das muss aber keineswegs bedeuten, dass sie in den Augen römischer Betrachter keine Beachtung verdienten. Gerade die formale Unvollkommenheit frühklassischer Statuen war anscheinend dafür verantwortlich, dass intellektuelle römische Traditionalisten eine Ähnlichkeit zwischen diesen und altertümlicher statuarischer Plastik aus der etruskisch-frührömischen Periode zu erkennen glaubten.68 Solche in der großen Zeit der maiores entstandenen Werke waren in den Heiligtümern Roms in nicht geringer Anzahl vorhanden und galten als besonders verehrungswürdig oder gar ‚heilig’.69 Der Respekt der Römer vor ihnen mag auch den mit ihnen vergleichbaren griechischen Standbildern zu einer ähnlichen Wertschätzung verholfen haben. Weiterhin konnte ein retrospektiv eingestellter römischer Betrachter auch eine polykletisierende Gestaltungsweise von Antinous‘ Körper mit römischen Wertvorstellungen in Verbindung bringen. In seinem Werk über die Ausbildung des Redners beklagt Quintilianus,70 dass seine Zeitgenossen sich schon seit langem von der echten, von ihm als „Kampf auf dem Forum“ (pugna forensis) und als männlich-robust charakterisierten Redekunst zugunsten eines unmännlichen, gewissermaßen eunuchenhaften Redestils entfernt hätten. Der von ihm geschulte römische Jungredner werde stattdessen wieder ein tapferer Kämpfer auf dem Forum werden (initurusque frequenter forensium certaminum pugnam); als anschauliches Sinnbild für das in der rhetorischen Kultur wiederherzustellende kämpferische Männlichkeitsideal, an dem sich seine Schüler orientieren sollen, wählt Quintilian den Doryphoros (des Polyklet),71 welcher für den Kriegsdienst oder die Ringschule tauglich sei (aptum vel militiae vel palaestrae). Römische Betrachter konnten demnach, ähnlich wie die griechischen, den ‚harten’ Aspekt der Formgebung des Antinous mit glanzvollen Epochen ihres Staates, seinen bedeutenden alten Kulten sowie rühmenswerten, zum Kernbestand ihrer eigenen Kultur gezählten Fähigkeiten korrelieren. Demgegenüber mag die Hypothese einer möglichen Lesung der ‚weichen’ Komponente der Antinousstatuen, also ihres füllig-zarten Inkarnats, als Ausdruck traditionellen rö66 Pape 1975. 67 Quint. or. 12, 10, 7.(Statuen des Kallon und Hegesias als duriora charakterisiert, dann in 12,

10, 10 mit dem Stil berühmter Redner der mittleren und späten Republik verglichen).

68 Quint. or. 12, 10, 7 69 Plin. nat. hist. 35, 154.157–158. Vgl. Zanker 1997, 244; Simon 1984, 370 Nr. 24: Apollonstatue

im Kourosschema aus der Juturnaquelle (nach Simon möglicherweise eine Kopie, die ein beschädigtes Original des frühen 5. Jh. ersetzen sollte). 70 Quint. or. 5, 12, 16–22. 71 Quint. Or. 5, 12, 21.

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Abb. 7: Ara Pacis Augustae (Details der Ostseite). Errichtet 13 – 9 v. u. Z. Rom. – Nach Moretti 1948, Taf. 17.

mischen Gedankenguts zunächst nur schwer nachvollziehbar erscheinen. Dennoch gibt es einen geeigneten Ansatzpunkt: die sich um die Wurzel fe- gruppierende lateinische Wortfamilie (z. B. fecundus, fetus, femina), der die Vorstellung einer aller lebendigen Natur innewohnenden Kraft zugrunde liegt, durch welche ständig neues Leben in reicher Fülle hervorgebracht wird. Die offizielle Bildkunst der augusteischen Zeit, so vor allem der reiche Reliefschmuck der Ara Pacis (Abb. 7), greift bekanntlich dieses althergebrachte Konzept auf und bringt es in vielfältiger Form zur Anschauung. Der Nachwuchs der Menschen und der zahmen wie der wilden Tiere, das üppige Wachstum der Feldfrüchte, wucherndes Rankengeschlinge als Heimat zahlreicher Kleinlebewesen – alle diese Motive dienen als visuelle Metaphern des sich unter der glückbringenden Herrschaft des neuen Princeps überall ausbreitenden allgemeinen Wohlstandes und Überflusses, der neuen aurea aetas bzw. des saeculum aureum.72 Überquellende Füllhörner, Ähren, Weinranken oder Früchte, die in der römischen Staatskunst göttlichmythischen Wesen sowie vielen Personifikationen beigegeben werden, verbreiten dieselbe Botschaft. So finden sich diese Attribute z. B. auch bei Honos und Bonus Eventus (Abb. 8) sowie dem Genius Populi Romani (Abb. 9), die in ähnlicher Weise wie Antinous als schöne Jünglingsgestalten wiedergegeben werden, und schließlich auch bei Antinous selbst.73 Sie alle werden dadurch als Wesen gekenn72 Zanker 1997, 171–196. Vgl. Schreiber 2009. 73 s. Arias 1986; Canciani 1994; Lochin 1990. Ferner Kunckel 1974 und Milhous 1992.

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Abb. 8: Marmorstatue des Bonus Eventus. 2. Jh. u. Z. Rom, Musei Capitolini, Palazzo dei Conservatori inv. 938. – Nach Hübner – Stähler 2004, 113 Abb. 10. Abb. 9: Genius Populi Romani (Detail eines Marmorfrieses). 80ger Jahre des 1. Jh. u. Z. Rom, Vatikan inv. 13389–13391. – Nach Magi 1945, Taf. 3.

zeichnet, durch deren Tätigkeit den Menschen vielerlei Gaben der Natur zuteil werden. Es ist denkbar, dass der römische Betrachter auch das jugendlich ‚blühende’ Inkarnat dieser Gestalten und ihre lockige Haarfülle in diesem Sinne deuten sollte, d.h. als exemplarische Veranschaulichung jener überall in der Natur wirkenden segenspendenden Wachstumskraft.74 Menschliche Körper und pflanzliche Elemente konnten nämlich in der Bildkunst als Erscheinungsformen ein und derselben gewachsenen und weiter wachsenden Grundsubstanz aufgefasst werden: dies zeigen in der ersten Hälfte des 2. Jh. u. Z. Darstellungen von Figuren des dionysischen Kreises,75 aus deren Haaren, Wangen oder Brustwarzen Weintrauben sprießen (Abb. 10), ferner das besonders für die römische Kunst charakteristische Motiv vegetabilischer Gebilde, aus denen Menschen oder Tieren hervorwachsen.76 Ein römischer Betrachter konnte somit auf politisch-ideologischer Ebene eine Verbindung zwischen der ‚weichen’ Komponente der Antinousstatuen und der felicitas temporum herstellen, die Hadrian seinen Zeitgenossen verhieß. Diese Vorstellung und der mit dem ‚harten‘ Aspekt der Antinousstatuen assoziierte 74 Die Altersstufe zwischen Ephebe und ausgewachsenem jungem Mann ist in der statuari-

schen Plastik der hadrianischen Zeit besonders beliebt, s. Zanker 1974, 117. Sollte hierdurch auf den Wachstumsvorgang des jugendlichen menschlichen Körpers hingewiesen werden? 75 s. Zanker 1974, 117. 76 Umfangreiches Material bei Jucker 1961.

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Abb. 10: Metamorphose des Ampelos in Anwesenheit des Dionysos (Detail einer statuarischen Gruppe aus Marmor). 2. Jh. u. Z. London, British Museum 1636. Nach Zanker 1974, Taf. 83.

Ideenkomplex hingen eng miteinander zusammen, denn die felicitas temporum bzw. das saeculum aureum ließ sich als eine unmittelbare Folge der bis in den Gegenwart in Ehren gehaltenen Werte und Fähigkeiten der alten Zeiten verstehen. Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich, dass gebildete Betrachter, ob sie sich nun mit griechischen oder mit römischen Traditionen identifizierten, die Antinousstatuen in erster Linie als Vermittler bestimmter Konnotationen, d. h. als Zeichenträger, wahrnahmen. Sie lenkten die Aufmerksamkeit auf traditionelle Vorstellungen von Glück und Wohlergehen und riefen zugleich, als Garanten dieses schönen Lebens, die Tugend und Leistungsfähigkeit ruhmreicher historischer Frühzeiten in Erinnerung. Dieser umfassende gemeinsame Nenner fungierte demnach für die soziale Elite im Westen und im Osten als verbindliche und allgemein akzeptable ideologische Grundformel.

Die populäre Sicht: Der Appell der Antinousstatuen an die Sinnlichkeit. Wie haben wir uns nun die von den Konzipienten angestrebte Wahrnehmung der Antinousstatuen durch die nicht zu jener Elite gehörende Reichsbevölkerung vorzustellen? Bereits die beträchtliche Anzahl der Antinousdarstellungen in visuellen Medien der Kleinkunst deutet darauf hin, dass durch die statuarischen

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Abb. 11: Fragmente einer Marmorkore (sog. Euthydikos-Kore). Anfang 5. Jh. v. u. Z. Athen, Akropolismuseum inv. 686. – Nach Schrader 1939, Taf. 45/46.

Darstellungen des Antinous auch breitere Kreise angesprochen werden konnten und sollten. Hier musste insbesondere die Perspektive derjenigen Betrachter berücksichtigt werden, welche die Standbilder des Antinous nicht in erster Linie als Zeichen für eine zu vermittelnde Bedeutung, sondern in naiv-sinnenhafter Weise als perfekte, bis zur Täuschung und Verwechslung gehende mimesis77 lebendiger Körper wahrnahmen.78 Durch diese im Bewusstsein stattfindende Verschleifung der Unterschiede zwischen lebendigem Körper und Statue konnte (und oft wohl auch: sollte) letztere auch die Sinnlichkeit und die erotischen Empfindungen des Betrachter stimulieren. Das ist bereits an archaischen Kouroi und Koren79 (Abb. 5, 11) und 77 Zum Begriff der mimesis s. Pollitt 1974, 37–41; Stewart 1990, 171–172. 78 s. z. B. Pollitt 1974, 63–64. Die zeichenhafte Wahrnehmung dieser Statuen in gebildeten Krei-

sen schloss natürlich eine gleichzeitige Faszination durch die gelungene mimesis nicht aus.

79 Zur charis der Kouros- und Korenstatuen s. Fehr 2000, 131–135. Vgl. Schneider 1975, 27–29

(zum archaischen Lächeln).

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auch an klassischer und hellenistischer Rundplastik80 deutlich erkennbar. Im Extremfall konnten männliche und weibliche Statuen sogar zum Ziel von Zärtlichkeiten und sexuellen Attacken werden.81 Ein Appell an den ‚Pygmalionismus‘ ist auch in Bezug auf die Antinousstatuen anzunehmen. So hat Zanker vermutet,82 dass durch deren Inkarnat der Tastsinn des Betrachters angesprochen werden sollte, eine Annahme, die auch durch erotische Gedichte unterstützt wird.83 Demnach wurde von den Konzipienten der Antinousstatuen auf dieser Ebene – zu der wohl auch der Gebildete manchmal ‚herabsteigen’ konnte – eine gefühlsmäßige Identifikation breiter Betrachterkreise mit dem als Gottheit dargestellten jungen Mann angestrebt. Diese Reaktion fügte sich in den emotionalen Gesamtcharakter des Antinouskultes ein84 und trug damit indirekt zur Akzeptanz der mit letzterem eng verbundenen ideologisch-politischen Programmatik bei.85

Ein neues Körperverständnis als möglicher Ansatzpunkt einer antiken Kritik an den Antinoustatuen Es ist nicht auszuschließen, dass der Kult des deifizierten jungen Mannes zumindest in gebildeten Kreisen des öfteren auf mehr oder weniger starke Vorbehalte stieß,86 möglicherweise sogar schon zu Hadrians Lebzeiten. Schon bald nach Hadrians Tod behauptete der Christ Justinus,87 man habe Antinous (nur) aus 80 Höcker – Schneider 1993; Stewart 1997. 81 Zur agalmatophilia s. Stewart 2003, 44. 265–266. 82 Zanker 1974, 99. 83 In den kaiserzeitlichen Gedichten Anthologia Graeca 12 Nr. 93, 95, 96 wird die körperliche

Schönheit von Knaben gepriesen, wobei in Nr. 93 besonders auf das schwellende Fleisch (piona sarkos akmen), in Nr. 95/96 auf die reizvolle Brustpartie hingewiesen wird (vgl. Zanker 1974, 98–99 zur „üppig ausladenden Brust mit den ‚geschwollenen‘ Brustwarzen“ der Antinousstatuen). In derselben Weise gilt das Interesse der Dichter den Brüsten junger Mädchen, s. Licht 1926, 16–19. – Die Körperoberfläche der Antinousstatuen sowie deren lange Haartracht gemahnen an den im antiken gesellschaftlichen Leben häufig anzutreffenden Typus des effeminatus (s. Herter 1959), der von heidnischen und christlichen Autoren detailliert beschrieben und als weichlich und verzärtelt getadelt wird. Solche Kritiker mögen auch an den bildlichen Darstellungen des Antinous Anstoß genommen haben. Ihr Einfluss dürfte jedoch eher gering gewesen sein: Indirekt geht gerade aus dem polemischen Charakter ihrer Äußerungen hervor, dass Aussehen und Habitus der effeminati von der Umwelt nicht selten als attraktiv empfunden wurden. 84 s. o. 271. 85 Lohnend wäre eine umfassende Untersuchung der in der antiken öffentlichen Kunst häufig anzutreffenden Verbindung erotischer Merkmale mit politisch motivierten Glücksversprechen (vgl. moderne Werbestrategien). 86 So die in der Forschung vorherrschende Auffassung. Anders Kuhlmann 2002, 180–181. 238–239. 87 Just. apolog. 1,29. s. auch Ebel 2004, 60.

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Furcht (vor Hadrian) als Gott verehrt, wo doch jeder gewusst habe, wer er war und woher er kam. Auch wenn Antinous’ Kult unter Hadrians Nachfolgern keineswegs erlosch,88 könnte dennoch an dieser Nachricht etwas Wahres sein. Um 175 u. Z. kritisierte, als erster Heide unter den sich mit Antinous auseinandersetzenden Autoren, der Platoniker Kelsos im Rahmen einer Streitschrift gegen das Christentum die Apotheose des Antinous, wobei er offenbar damit rechnete, dass auch seine nichtchristlichen Leser den neuen Kult ablehnten.89 Ähnlich skeptisch äußerte sich später der Historiker Dio Cassius.90 Christliche Autoren brandmarkten vom 2. Jh. u. Z. bis in die späte Antike Antinous immer wieder als einen verwerflicherweise zum Gott ‚gemachten‘ Lustknaben.91 Was die erhaltenen Antinoustatuen und -büsten betrifft, so fällt auf, dass nur bei verhältnismäßig wenigen unter ihnen eine nachhadrianische Entstehung diskutabel erscheint.92 Es erscheint nicht abwegig, dies darauf zurückzuführen, dass zu Lebzeiten Hadrians in vielen Fällen der ausschlaggebende Faktor für die öffentliche oder private Aufstellung solcher Bildnisse weniger eine von echtem religiösem Empfinden getragene Begeisterung für den schönen jungen Gott war als die opportunistische Absicht, sich das Wohlwollen des regierenden Kaisers zu sichern, ein Motiv, das nach dessen Tod natürlich wegfiel.93 Demnach besteht Anlass zu untersuchen, ob der integrativen Funktion der Antinousstatuen möglicherweise andere, der Intention der Konzipienten zuwiderlaufende Wahrnehmungen dieser Standbilder im Wege standen. Hier könnte ein Phänomen eine wesentliche Rolle gespielt haben, das in der altertumswissenschaftlichen Fachliteratur bisher wenig Beachtung gefunden hat: die Ausbreitung eines neuen Körperverständnisses in der gesellschaftlich-politischen Elite des kaiserzeitlichen Imperium Romanum94 Hintergrund dieser Entwicklung ist die von Philosophen, vor allem stoisch geprägten, von jeher geforderte „Sorge um sich selbst“, also Selbstverantwortung anstelle einer externen Kontrolle des Einzelnen durch staatliche Gesetze und sozialen Druck. Ein wesentlicher Teil dieser Theorien war, besonders seit der mittleren Kaiserzeit, die von medizinisch bewanderten Philosophen und philosophisch gebildeten Ärzten dringlich empfohlene ‚Körpersorge’95 – sowohl im Sinne von ‚Fürsorge für den eigenen Körper‘ als auch von ‚Ständiger Beunruhigung über den persönli88 s. o. 268f. 89 Orig. c. Cels. 3, 36–38; 5,-63; 8,-9. s. Kuhlmann 2002, 179–181. 90 D. C. 69, 11, 2–4. 91 s. o. Anm. 30 und u. Anm. 115. 92 s. o. Anm. 11. 93 Vgl. etwa Steimle 2008, 152–156 zum Ende des Antinouskults in Thessalonike im Jahr nach

Hadrians Tod.

94 Grundlegend Foucault 1984. Vgl. Neudecker 1994; Horst 2013, 50–55. 95 Foucault 1984, 121–169. Die große Antoninische Pest (165–180 u. Z.) hat möglicherweise die-

sen Sinneswandel beschleunigt.

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chen Gesundheitszustand‘: Es sind die Schwächen des Körpers, verstanden als Abweichungen von seiner durch die Vernunft der Natur vorgegebenen Struktur und Bestimmung,96 die auf die Seele eine schädigende Wirkung haben können;97 umgekehrt können Verirrungen und Leidenschaften der Seele gravierende physische Gebrechen zur Folge haben,98 welche die von jener natürlichen Vernunft vorgesehenen zentralen Funktionen des Körpers in Frage stellen. Mehr und mehr Angehörige der Oberschicht ließen sich durch ihren‚Hausphilosophen‘ und/oder einen befreundeten Arzt (oft ein und dieselbe Person: der iatrophilosophos) in allen Einzelheiten ihrer allgemeinen Lebensführung (diaita) hinsichtlich der „Körpersorge“ und der eng damit zusammenhängenden ‚Arbeit der Seele’ (Foucault) beraten: der als instabil und ständig gefährdet betrachtete Körper sowie seine Wechselbeziehung zur Seele bedurften einer unablässigen, stets auf das ‚rechte Maß’ bedachten Überwachung und Selbstkontrolle, sei es durch eine medizinisch-philosophisch begründete Diät und Therapie, sei es durch ein gesund erhaltendes Training.99 Zu dem hohen gesellschaftlichen Ansehen der prominenten Philosophenärzte und Arztphilosophen trug der seit dem Beginn der Zweiten Sophistik ständig zunehmende Statuswert griechischer Bildung zweifellos entscheidend bei.100 Das auffällige Bedürfnis von Angehörigen der besseren Kreise nach ständiger Belehrung und medizinischer Behandlung durch die iatrophilosophoi lässt sich jedoch nicht allein als eine Folge von Bildungsdrang, gepaart mit einer vor allem im senatorischen Adel ‚modischen‘ Hypochondrie erklären.101 Es gibt noch einen anderen, möglicherweise entscheidenden Faktor, der jenen ‚Lebenshelfern’ Zulauf beschert haben dürfte. Über die Aufnahme in den ordo senatorius, den obersten Stand, entschied allein der Kaiser, ebenso wie über die Vergabe hoher Ämtern an Angehörige der Senatsaristokratie (sowie einer Spitzengruppe des Ritterstandes). Hierbei war sehr oft die Empfehlung durch mächtige und bei Hofe wohlgelittene Gönner, Freunde und Bekannte von ausschlaggebender Bedeutung.102 Wer eine hohe Position anstrebte, tat gut daran, sich ihrer Fürsprache versichern. Um die notwendigen Kontakte mit ihnen aufrechtzuerhalten, musste er zusammen mit ihnen regelmäßig an traditionellen Aktivitäten der sozialen Elite teilnehmen, von denen manche – wie etwa exzessive Trinkgelage und üppige Mahlzei96 Besonders der Fortpflanzung s. u. Anm. 108. 97 Von einer Verlockung der Seele durch übermächtige körperliche Triebe ist hingegen nicht

die Rede.

98 Foucault 1984, 72–73. 99 Foucault 1984, 122–126; Neudecker 1994, 31–35 und passim; Horst 2013, 51–52. In denselben

Zusammenhang gehören natürlich auch die zahlreichen in dieser Zeit erbauten oder erneuerten Gymnasia und Thermen. Zu den Prachtlatrinen Neudecker 1994 passim. 100 s. o. 1; 277f. 101 Bowersock 1969, 71-75. Kritisch Horst 2013, 51–52. 102 Saller 1982; Alföldy 2011, 156. 161.

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ten – der Gesundheit wenig zuträglich waren. Männer mit gesundheitlichen Beschwerden scheinen dessen ungeachtet solchen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgekommen zu sein, aus Scham, wie es in der schriftlichen Überlieferung ausgedrückt wird,103 tatsächlich jedoch wohl aus Furcht vor einem Scheitern der Hoffnungen auf eine erfolgreiche Karriere: Wer zugeben musste, dass er den physischen Belastungen solcher ‚Geselligkeit’ aus Krankheitsgründen nicht mehr gewachsen war, verlor an Gesicht und Einfluss, gefährdete seine Kommunikation mit ihm wohlgesinnten Standesgenossen und schied im Extremfall aus dem politischen Spiel aus. Es lag nahe, dieser Gefahr durch regelmäßige Konsultation befreundeter (und deshalb diskreter) Ärzte frühzeitig vorzubeugen. Hauptziel der Sorge um den Körper war demnach weniger die physische Gesundheit als solche: Der Leib wurde zwar als unverzichtbares Substrat der Seele angesehen, doch wurde ihm kein von dieser Funktion unabhängiger Eigenwert zugestanden.104 Es ging vielmehr um die Wahrung der Intaktheit des Körpers als notwendige (wenn auch keineswegs hinreichende) Voraussetzung für erfolgreiches Handeln in Politik und Gesellschaft.105 Der Einfluss von Anhängern jener Auffassung vom menschlichen Körper reichte spätestens um die Mitte des 2. Jh. u. Z. bis in maßgebende politische Kreise, ja bis in das Kaiserhaus – mit Mark Aurel (geb. 121 u. Z.) als prominentestem Vertreter – hinein, mit Konsequenzen für deren Handeln in Gesellschaft und Staat.106 Mit dieser reflektierten, ausgeprägt defensiven und letztlich pessimistischen Sicht der menschlichen Physis, deren grundsätzliche Anfälligkeit leicht zu einer Schädigung der Seele oder gar zur Isolation innerhalb des sozialen Umfeldes führen konnte, ließ sich die unbekümmerte, vor aller Augen stattfindende Verherrlichung von athletischer Kraft, Schönheit, Glücksgenuss und Sinnlichkeit durch die Standbilder des Antinous schwerlich in Einklang bringen. Wer von der Notwendigkeit der umfassenden ‚Sorge um sich selbst’ überzeugt war, konnte die Körperästhetik dieser Statuen, bei milder Beurteilung, bestenfalls als oberflächlich oder unvernünftig einstufen. Als seriöse und glaubwürdige Vermittler grundlegender Prinzipien des ‚richtigen’ sozialen und politischen Lebens konnte er diese Bildwerke kaum akzeptieren. Ein weiterer Punkt kam hinzu. Auch das sexuelle Verhalten des Körpers hatte sich nach Meinung der iatrophilosophoi an der von der Vernunft der Natur vorgegebenen Richtschnur zu orientieren. Um dies zu gewährleisten, wurde immer wieder dringend empfohlen, innere visuelle Vorstellungen und externe Bil103 Plut. de tuenda sanitate praecepta 123e–124c sowie 127d–128c erörtert dieses Problem. Vgl.

Neudecker 1994, 34.

104 Skepsis gegenüber einer Überbewertung des Körpers z. B. bei Epict. Fr. 23 (= Stob. 4, 53, 29). 105 Horst 2013, 52–54 diskutiert den Zusammenhang zwischen Körpersorge und gesellschaftli-

cher Integration am Beispiel des Aelius Aristides.

106 Horst 2013, 50–55.

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der (insbesondere Tanz und Theater) zu unterdrücken und zu meiden,107 welche sich in der Seele festsetzen und, von dieser ausgehend, im Körper ein Begehren nach exzessiven geschlechtlichen Betätigungen von einer Art wecken konnten, die seinen von der Natur vorgesehenen Funktionen – insbesondere der Sicherung einer kontinuierlichen Generationenfolge durch optimale Fortpflanzung108 – nicht gemäß war. Diese Forderung könnte im Hinblick auf die antike Bewertung der Antinousstatuen von erheblicher Bedeutung gewesen sein. Manche Philosophen-Mediziner mögen vor deren Betrachtung gewarnt haben. Sie könnten die Besorgnis gehegt haben, dass die Einwirkung der sinnlichen Modellierung dieser und ähnlicher Standbilder auf die Seele des naiven Betrachters dessen Körper zu sexuellen Verirrungen verleiten könne, d. h. zu einem Verhalten, das aus der Sicht der iatrophilosophoi der Ordnung der Natur widersprach.109 Wenn aber solche aufreizenden Darstellungen den Körper sich selbst zu entfremden drohten, dann waren sie für als Medium der Verbreitung einer staatsbürgerlichen paideia, wie sie innerhalb der politischen Elite insbesondere von Mark Aurel, seinen Mentoren und seinen Freunden entworfen und gelebt wurde,110 erst recht nicht geeignet.

Schlussbemerkung Die Frage nach der Persönlichkeit des Antinous bleibt ohne Antwort. Sein realer Lebenslauf ist nicht überliefert. Und da er, wie jeder wusste, als Mensch unter Menschen gelebt hatte, konnte man ihm nach seiner Deifikation auch keine glaubwürdige und respektable mythische Biographie verschaffen, wie sie alle mit ihm gleichgesetzten Götter und Heroen besaßen. Ferner gab es kein theologisches Konzept, das exklusiv mit dem Gott Antinous verbunden war. Die umfassenden religiösen Vorstellungen, die allen seinen Kulten zugrunde gelegt wurden, waren traditionelles Allgemeingut antiken Denkens; die spezifischen Merkmale seiner unterschiedlichen Erscheinungsformen waren jeweils von einem für eine bestimmte Lokalität oder Region zuständigen göttlich/heroischen Individuum ‚geborgt‘. Als ‚Konstrukt‘ war der vergöttlichte Antinous somit weder einzigartig noch innovativ. Es war wohl in erster Linie die Autorität des regierenden Kaisers, 107 Foucault 1984, 160–163. 108 Foucault 1984, 127–128. 109 Von hier aus wird verständlich, warum der Arzt-Philosoph Galenos gerade den Kanon des

Polyklet als das Ideal betrachtet, an das der Körper eines wohlerzogenen und charakterfesten jungen Mannes gemahne (Gal., de opt. corp. const., c. 4/745 Kühn, s. Neudecker 1994, 25–26). Polyklets Proportionssystem des menschlichen Körpers ahmt nach seiner Auffassung die (vernünftige) Natur nach, s. Gal. De usu part. corp., c. 1/352 Kühn; Statuen, die die Sinnlichkeit stimulierten, hätte er demnach kaum als naturgemäß gelten lassen. 110 Zur staatsbürgerlichen paideia der Zeit Mark Aurels allgemein Horst 2013.

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die dem Kult des Antinous einen zentralen Platz in der öffentlichen Aufmerksamkeit sicherte.111 Die kultische Verehrung des Antinous, seine statuarischen Darstellungen – und möglicherweise auch seine öffentliche Präsentation als eine Art ‚lebendes Bild‘ – waren in die integrative Kultur- und Religionspolitik Hadrians eingebettet. Innerhalb der gebildeten sozialen Elite der hadrianischen Epoche dürften die ‚bilingualen’ Aussagen der Antinousstatuen sowohl bei römischen Traditionalisten als auch bei den neuen ‚Alten Griechen‘ des 2. Jh. u. Z. auf Interesse und Akzeptanz gestoßen sein. Andererseits war die unreflektierte, öffentliche Bewunderung erheischende Zurschaustellung von athletischer Kraft und Körperschönheit ebenso wie der Appell an die Sinnlichkeit des Betrachters ein für alle sichtbares Charakteristikum dieser Standbilder. Mit den philosophisch-medizinisch begründeten Theorien, die von sozial hochrangigen und politisch einflussreichen Persönlichkeiten im 2. Jh. u. Z. vertreten wurden, war das kaum in Einklang zu bringen: im Rahmen der umfassenden ‚Sorge um sich selbst‘ hatte man als Anhänger dieser Theorien auch den Körper, notwendiges und zugleich schwaches, stets gefährdetes Substrat aller ‚Arbeit der Seele‘, den Regeln einer an der Vernunft der Natur orientierten maßvollen Lebensführung und einer ständigen Gesundheitskontrolle zu unterwerfen. Ob die Antinousstatuen und ähnliche Bildwerke in diesen Kreisen als geeignete Vermittler von wichtigen Normen und Werten des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens angesehen wurden, ist deshalb mehr als fraglich. Der religionspolitischen Funktion des Gottes Antinous war nach Hadrians Tod die Grundlage entzogen.112 Was davon aber unberührt blieb, war die weit über Hadrians Lebenszeit hinausreichende und in der späteren Geschichtsschreibung als bemerkenswert registrierte visuelle Allgegenwärtigkeit der Antinousstatuen im römischen Reich.113 Von diesen Bildwerken scheint auf der Ebene der naiven Wahrnehmung eine lang anhaltende Faszination ausgegangen zu sein. Es muß vor allem diese fortwirkende ‚Macht der Bilder‘,114 weniger der Rest kultischer Praxis, gewesen sein, die das Andenken an Antinous in der Bevölkerung des Reiches wach hielt – so wach, dass christliche Autoren bis in die Spätantike gegen den längst Verstorbenen polemisieren zu müssen glaubten.115 111 Bezeichnend etwa die unmittelbar nach Hadrians Tod erfolgte Ersetzung des Antinouskul-

tes in Thessalonike durch den des Fulvus (wahrscheinlich ein Sohn des Antoninus Pius, verstorben vor dessen Thronbesteigung) s. Steimle 2008, 153–155. 112 Dass die Antinouskulte gleichwohl zum Teil weitergeführt wurden, lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass sie einen Rahmen für die Ehrung von Honoratioren boten und die sie beherbergenden Städte durch die Veranstaltung attraktiver musischer und sportlicher Agone aufwerten konnten, s. Kuhlmann 2002, 238–239. 113 D. C. 69, 11, 4. 114 Ein wichtiges Indiz hierfür sind die in der Spätantike entstandenen Kontorniaten mit Bildnissen des Antinoos, s. Alföldi-Rosenbaum 1991. 115 Quellen: s. besonders Iust. Mart., Apol. 1, 29. – Clem. Alex., Protr. 4, 49. – Tert., ad nationes

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Kehren wir am Schluss noch einmal zu Sarkozys Projekt „Union für das Mittelmeer“ zurück. Es soll den Warenaustausch in der mediterranen Großregion fördern, nicht zuletzt mit dem Ziel, unter französisch-deutscher Führung den Wohlstand ‚Kerneuropas‘ und den Zugang zu den hierfür notwendigen Ressourcen zu sichern. Eine vergleichbare Strategie verfolgten schon vor fast dreitausend Jahren die Herrscher phönizischer Stadtstaaten der Levante, die ihre Schiffe bis in den äußersten Westen des Mittelmeers schickten, um von dort vor allem seltene und wertvolle Metalle zu holen. Sie dürften die ersten gewesen sein, deren Bewusstsein mit aller Klarheit den mediterranen Raum als eine Gesamtheit, als ein Netzwerk von Begegnungen zwischen zahlreichen verschiedenartigen Völkern, Sprachen, Kulturen und Religionen erfasste. Sie strebten aber keine umfassende politische und militärische Kontrolle über diesen Raum an. Statt dessen beschränkten sie sich darauf, zu allerlei lokalen und regionalen Machthabern gute diplomatische Beziehungen aufzubauen, um daraus wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen. Erst die Römer fassten alle Anrainer des Mittelmeers in einem einheitlich verwalteten Reich zusammen. Die Legitimation dieses politischen Systems durch die vor allem in Vergils Aeneis formulierte Rom-Troja-Ideologie wurde jedoch vor allem im Osten des Imperiums mehr und mehr als unzureichend empfunden. Hadrian war der erste römische Herrscher, der statt dessen auf eine religiöse Idee – den Gott Antinoos – setzte, die als ‚geistiges Band‘ (Goethe) alle mediterranen Traditionen, Mentalitäten und Identitäten umschließen sollte. Es war wohl die offenkundige und durch nichts zu verschleiernde Tatsache, dass Antinoos ein mit viel intellektuellem Aufwand erdachtes neugeschaffenes Konstrukt war, die das Experiment letztendlich scheitern ließ. Konstantin der Große und seine Nachfolger haben anscheinend aus Hadrians Misserfolg gelernt: Christus, der unter ihrer Herrschaft zur Zentralgestalt der Staatsreligion aufstieg, war kein künstliches Produkt angestrengten theologischen Denkens, sondern eine Gottheit, deren Lebenskraft angesichts einer über drei Jahrhunderte hin ständig gewachsenen und über das ganze Imperium verbreiteten Anhängerschaft nicht zu bezweifeln war.

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Götz König Iranisches im römischen Mithraskult: Iranische Wörter It is a major question for the understanding of western Mithraism to determine whether it represents a real offshoot of eastern religion; or whether it is to be seen as essentially a western innovation, tricked out with some veneer of oriental mystery, and enhanced by the adoption of an Iranian name, much astrological lore, and several Indo-Iranian technical terms.1

I Mithra oder Mithras Die Geschichte der Erforschung des Mithras-Kultes, die Zusammenstellung seiner Hinterlassenschaften wie deren deutende religionshistorische Einordnung ist ohne die großen Arbeiten Franz Cumonts (spätes 19. und frühes 20. Jh.) und Maarten Vermaserens nicht denkbar. Der eigentliche Pionier der Mithrasstudien jedoch war nicht Cumont, sondern der heute nur noch selten konsultierte Archäologe Felix Lajard (*1783 Lyon), dessen „Introduction“ 1847 und „Recherches“ zum „culte public et les Mystères de Mithra en Orient et en Occident“ 1867 posthum veröffentlicht wurden.2 Bereits Lajards Zusammenstellung der Materialien zeigt sich nach Gesamtplan des Werkes und dessen ausgeführten Teilen von dem Gedanken geleitet, dass die Denkmäler des Mithras, wie wir sie aus Italien, von Donau, Rhein oder Britannien kennen,3 nicht von der orientalischen bzw. iranischen Gottheit Mithra abzutrennen sind; diesem Gedanken sind dann Cumont und ihm wiederum viele Forscher des 20. Jh. gefolgt. Die Position einer Westtransmission des iranischen Miϑra hat jedoch seit einigen Jahrzehnten an Boden verloren. Man mag den Wandel, der sich im 20. Jh. in der Lehrmeinung zum Mithras-Kult vollzog, in einer Winzigkeit erkennen. 1 Bivar 1979, S. 741. 2 Bereits 1829 gewann Lajard den Preis der frz. Akademie mit seinem Beitrag zum Thema „Ori-

gine et histoire du culte de Mithra“.

3 Zur Bedeutung von Häfen für den Kult s. Turcan 1981, S. 29.

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Sprachen Lajard wie nach ihm Cumont und schließlich noch Turcan (1981)4 von den „mystères de M i t h r a“,5 so trat in der 2. Hälfte des vergangenen Jh. ein zunächst unscheinbares –s hinzu: M i t h r a s. Mithras. Geschichte eines Kultes heißt die Monographie, in der Vermaseren 1965 eine Deutung des umfangreichen Materials vorlegte, das er in den 40er und 50er Jahren katalogisiert hatte.6 Dieses –s ist stehengeblieben bei den dann so unterschiedlichen Werken von Merkelbach (1984), Ulansey (1989), Clauss (1990) oder Beck (2006). Während der Wandel von Mithra zu Mithras bei Vermaseren nur ein leichtes Abrücken von Cumont andeutete, war er bei Wikander 1950 (Études sur les mystères de Mithras) und dann bei den Späteren programmatisch gemeint, als Signum ihrer Kritik an Cumont.7 Diese lässt sich in einem Satz zusammenfassen. Es ist die Dekonstruktion der These von den iranischen bzw. zoroastrischen Wurzeln des Mithraskultes des 2.–4. Jh.,8 bzw. die nun strikte Auftrennung der Mithra(s)-Materialien in einen Bereich der iranisch-antiken „Mithra-Verehrung“ und in einen Bereich des als „Mysterien“ auftretenden „Mithras-Kultes“9 – eine These, die noch 1962 von Frye10 und 1981 von Turcan als „paradoxale et insoutenable“ verworfen werden konnte.11 Auch wenn Cumont nicht Lajards Konstruktion einer ungebrochenen Kontinuitätslinie in den archäologischen Mithras-Zeugnissen wiederholte, so war doch 4 Turcan formulierte als (vorerst) letzter eine historische Linie, die vom ind.-ir. *Mitra nach

dem Westen führt, freilich allein dadurch, dass die Gottheit „s’intégrant à une système de croyances et moyennant une organisation liturgique qui répondaient à certaines exigences des hommes dans le contexte historique du monde européen et méditeranéen des trois premiers siècles de notre ère“ (1981, S. 3). Turcan kritisiert an Cumont weniger dessen Interpretation des Mithras-Kultes auf der dualistischen Grundlage, als vielmehr dessen ChaldäerThese (1981, S. 16), aber auch – und dies vollkommen zurecht – die vorschnelle Identifizierung des Iranischen mit dem Orthodox-Zoroastrischen (s. S. 21). 5 Siehe Cumont 1896–1898, 1900 (1923). 6 Vermaseren 1956–1960; Zaehner 1965 sprach von „Mithra-Mithras“. 7 Wikanders Position (s. schon Wikander 1946, S. 218 gegen Kleinasien als Übergangsland) ist in Hinsicht auf die Kultausbreitung positiv bei Breskow 1978 rezipiert, der die Bedeutung der Donau-Region hervorhebt (1978, S. 7). Eine generelle, immanente Kritik Cumonts leistete dann Gordon 1975. Ihr sind alle Nachfolgenden ex- oder implizit verpflichtet. Zur Darstellung der Entwicklung der astronomischen Deutung des Kultes s. Ulansey 1989, S. 15–24. Zur jüngsten Forschung s. Beck 2004, S. 3–30. 8 Colpe 2003c, S. 307 macht 3 Verdichtungsphasen aus: 140–253, 284–313, 357–364, die er mit der Bedeutung der Antoninen und Soldatenkaiser, sodann mit restaurativen Tendenzen in Zusammenhang bringt. 9 Siehe Colpe 1975 (Versuch einer Bestimmung des Begriffs „Mysterien“, dessen Anwendbarkeit auf den Mithras-Kult und die Untersuchung der – fehlenden – Bedingung in Iran zur Entstehung von Mysterien); Burkert 1990. Eliade 1993 II, S. 278, 280 hat auf das bemerkenswerte Faktum aufmerksam gemacht, dass einzig der Mithraskult unter den antiken Mysterienkulten den Tod der Gottheit nicht kennt. 10 Frye 1962, S. 158 „the western Mithras, of course, was an Iranian God by origin“. 11 Turcan 1981, S. 12.

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sein Deutungsaxiom des (gemäß der schon antiken Designation)12 als „Mysterien” beschriebenen Kultes auf Iran bezogen, oder genauer, auf jenen Iran, dessen religiöses und geistiges Leben vom Zoroastrismus (bei Cumont und anderen gern auch „Mazdaismus“ genannt) bestimmt war. Mit diesem Deutungshorizont konnte denn auch die Iranistik zufrieden sein. Sie übernahm schlicht die Lehrmeinung Cumonts und behielt diese i. d. R. bei:13 „Es ist ja bekannt“, so Bartholomae 1918 (1924),14 noch weitgehend unvertraut mit zahlreichen mir. Materialien, „daß der Kult dieses Gotts [Mithra, GK] späterhin vom Iranischen Reich aus nach Europa überführt wurde und bis an die Westgrenzen des Römischen Reiches drang“.15 Tatsächlich hat sich die iranistische Forschungslage im 20. Jh. stark verändert. Ebenso wenig, wie es im Grunde angeht, von ‚dem‘ Zoroastrismus (oder gar „der Religion der Perser“) zu reden – denn der Zoroastrismus ist ein zeitlich, räumlich und soziologisch sehr vielgestaltiges religiöses Gebilde –, ebenso wenig kennen wir in Iran nur einen Gott „Mithra“. Um nur die wesentlichen zu nennen: Neben dem jav. Miϑra müssen wir den Mihr/Mehr der Pahlavi-Schriften und späteren np. und Gujarāti-Literatur, sodann einen zumindest in Spuren erkennbaren volkstümlichen Mehr16 und den (wiederum in sich uneinheitlichen) Mihryazd der iranischen Gnosis sorgfältig auseinanderhalten. Forschungsgeschichtlich be12 Siehe z. B. (polemisch) Justin, Apologie 66: τοῖς τοῦ Μίϑρα μυστηρίοις. 13 Zum Beispiel Colpe 2003a, S. 369: „Doch dürfte an seiner iranischen Herkunft nicht zu zwei-

feln sein.“ Detailliert in ders. 2003b, S. 464f.

14 Bartholomae 1970 (1924), S. 5. 15 Bartholomaes Position ist freilich aus seiner eigenen Forschungsbiographie wie auch aus dem

iranistischen Forschungsstand heraus verständlich. Bartholomae hatte in der Zeit bis 1905 (Bartholomae, Chr. 1904: Altiranisches Wörterbuch. Straßburg; 1905: Die Gathas des Awesta. Zarathushtras Verspredigten übersetzt. Straßburg) im wesentlichen die air. Materialien behandelt (vor allem das Avesta) und wandte sich danach dem Pahlavi, hier jedoch wesentlich den juristischen Texten, zu. Die Manichaica waren noch nahezu unbearbeitet, ebenso alles Zoroastrische des 2. Jt. n. Chr. 16 Siehe vor allem den armenischen Mher (zu diesem Boyle 1978; Merkelbach 1984, S. 46–49, 258-259). Insbesondere das Motiv der Felshöhle, die Mher offenbar durch Pfeilschuss öffnet (vgl. das Wasserwunder), und in der er von zwei Lichtern flankiert (vgl. Cautēs / Cautopatē/is) sitzt, überwölbt von einem Caxri Felek (= Zodiak), haben sich erhalten. Von einer Stiertötung ist zwar nicht die Rede; doch dass das Pferd, das mit Mher in der Höhle ist, den Stier vertritt (so Boyle 1978, S. 73), ist eine recht überzeugende Überlegung (man mag allerdings in diesem Zusammenhang auch auf die eigentümlichen Darstellungen eines reitenden Mithras hinweisen, so auf die Statuette eines reitenden Mithra, Paul Getty Museum [Abb. in Duchesne-Guillemin, Études Mithriaques 1978, Acta Iranica, Pl. XIII, Fig. 1]; V 1247 [Dieburg], V 1137 [Rückingen]; evtl. V 902 [Colonia Iulia Vienna Allobrogum]), und Boyles Vorsicht, all diese Übereinstimmungen als „fortuitous“ zu beurteilen, kann ich nicht teilen, auch wenn Mher, der den Berg einmal im Jahr verlässt, jedoch erst am Zeitenende wiederaufstehen muss, zu dem idg. Typ des (heldenhaften oder auch bösen [Dahāka; Fraŋrasiian [s. Y 11.7; Yt 5.41–43]]) Berggefangenen zu zählen ist, den Iran gut kennt.

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dauerlich ist es darum, dass bis heute keine Monographie zu den Mithra genannten Gottesgestalten Irans und Armeniens geschrieben worden ist. Denn bis heute scheint wiederum bei denjenigen, die zum kleinasiatisch-römischen Mithras arbeiten, bezüglich des iranischen Gottes selten ein differenzierteres Bewusstsein zu herrschen als bei Cumont, den sie doch befehden. Wenn Mithrasforscher wie Clauss und Ulansey das Band, das von Cumont zwischen ‚dem‘ iranischen Miϑra und dem kleinasiatisch-römischen Mithra(s) geknüpft bzw. bewahrt wurde, recht schnell zerschneiden, dann könnte dies vor allem daran liegen, daß ihnen ‚die iranische Religion‘ eben noch und nur dieselbe ist, wie sie sie Cumont war. Die Forschungsgeschichte zum Mithraskult scheint darum weniger zu beschreiben zu sein als eine Beweisführung gegen die iranische Herkunft des Kultes,17 als vielmehr eine gegen deren Darstellung bei Cumont, – nur dass die Kritiker leider beides miteinander identifizierten. Die Frage, ob der Mithraskult als iranisch oder kleinasiatisch oder römisch zu bezeichnen sei, scheint darum unter diesen Voraussetzungen unsinnig zu sein. Existiert schon das „Iranische“ in Iran nicht als eine Entität, dann umso weniger dort, wo dessen Reinheit grundsätzlich unwahrscheinlich ist.18 Dennoch gibt es wohl ein Kriterium, welches, sollte es negativ entschieden werden, zumindest einen iranischen „Kern“ des Mithras-Kultes ausschließen lässt. Dieses Kriterium besteht, Ulansey hat das klar erkannt und darauf sein gesamtes Buch aufgebaut, im Motiv der Stiertötung bzw. in der Frage, ob das Stiertötungsmotiv aus iranischem (oder gar indo-iranischem) Material herzuleiten ist oder nicht.19 Tatsächlich ist der Nachweis einer solchen Deszendenz bis heute nicht überzeugend gelungen.20 Weder die Tötung des Urrindes durch Ahreman noch die Pressung / Tötung des Soma bieten hier eine befriedigende Erklärung.21 Zwar berichtet Claudian in de laudibus Stilichonis (I, 58–63) von Stieropfern der „Ma17 Der einzige der Mithras-Monographen, der in jüngerer Vergangenheit die iranischen Mate-

rialien zumindest teilweise angesehen hat, ist Merkelbach 1984, und er gelangt bezeichnenderweise zu einer eher vermittelnden Position. 18 Grundsätzliches zum Synkretismus bei Colpe 2003, S. 365–373 (dort S. 368, 369 der Mithraskult als Spezialfall des semitisch-iranischen Kulturkontaktes). 19 Die ältesten (mithrischen) Tauroktonien scheinen fünf Terrakotten zu sein, die in Crimea gefunden wurden (s. V 11–12, Fig. 2 u. 3) und einige Eigentümlichkeiten aufweisen. 20 Gleiches gilt für die begleitenden Tiere, die beiden Fackelträger, die Höhle (s. Breskow 1978, S. 8). 21 Cumont hatte in Mithra eine Ersetzung des Ahreman gesehen, der (im Bd.) den Tod des Urrindes verursacht (vgl. dazu Turcan 1981, S. 106f.). Diese Erklärung ist aus mehreren Gründen unplausibel, vor allem religionshistorisch (Miϑra ist wesentlich älter als Aŋra Mainiiu). Zur Soma-These s. Colpe 1975, S. 391 mit Fn. 60 (Lit.); ders. 2003b, S. 463. Merkelbachs aszendente Beweisführung (1984, S. 18) zugunsten einer alten Verbindung von Miϑra und der Stiertötung im Sinne einer philologischen Rekonstruktion überzeugt nicht, weil a) Begriffe nicht wie Wörter funktionieren, und b) problematische Aussagen in Merkelbachs Stemma einfließen.

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gi“ am sasanidischen Hof (spätes 4. Jh.), bei denen „Mithra“ angerufen werde,22 was die Opferpraxis, die schon Herodot (1.131-132) beschreibt, fortsetzt, und die noch bis in die Gegenwart am Mihrgān-Fest Spuren hinterlassen hat,23 ja es überhaupt auffällt, dass sich das tierische Opfer im Zoroastrismus am längsten im Zusammenhang mit Miϑra gehalten hat; gleichwohl ist es niemals Miϑra selbst, der als Stiertöter vorgestellt wird. Ulansey ist in diesem negativen Bescheid am unnachgiebigsten und konsequentesten geblieben.24 Doch die Schärfe des Kriteriums wird von Ulansey mit einer Unschärfe in Bezug auf nahezu alles, was nicht dem Stiertötungsmotiv unmittelbar zugehört, erkauft. Schon die Tatsache, dass das Stierrelief in den Grotten (spelaeum, spelunca, specus, antrum, crypta, bothros (?)25) bzw. in deren Nachbildungen zwar immer im Zentrum steht, gleichwohl aber häufig, wenn nicht stets in eine narrative Folge anderer, archaisch anmutender Motive eingebunden ist (Auffinden des Stiers, Jagd, Einfangen und Fortschleppen, anhängend dann das Mahl?),26 der sich andere beigesellen (z. B. 22 Vermaseren 1965, S. 16 zitiert eine gr./aram. Bilingue aus einer Grotte bei Farasha oder Rho-

dandos Kappadokien (= V 19): „Sagarios, Sohn von Magapharnes (bzw. Maipharnes), Heerführer Ariaramneias, wurde Magier des Mithras (bzw. ‚zelebrierte einen Gottesdienst für Mithras’)“. Die Datierung der Inschrift ist sehr unsicher (zwischen 3. Jh. v. Chr. bis Zeitenwende bzw. 1. Jh. n. Chr.). Das Textverständnis „zelebrierte einen Gottesdienst für Mithras“ sei, so Vermaseren, eine „genauere Interpretation“. Colpe 2003c, S. 307f. Fn. 79, der es nicht für unwahrscheinlich ansieht, dass es sich bei der Grotte um ein Mithräum handelt, übersetzt die Worte ἐμάγευσε Мίϑρῃ mit „er diente dem Mithra nach Art der Magier“. Man scheint also gewisse magische (= zoroastrische) liturgische Praktiken übernommen zu haben. Von Mag(i)ern redet wohl (? s. dazu Breskow 1979, S. 496) auch die Inschrift aus Dura-Europos V 68 (μάγοις) wie auch von dem πυρωτὸν ἆσϑμα (im Dura-Heiligtum finden sich Feueraltäre). Zum Verhältnis von Mag(i)ern und Miϑra s. Cumont 1896–1898, I, S. 36ff., Bidez / Cumont 1938 I, S. 91f., II, S. 147ff. 23 Boyce 1975. 24 Ulansey 1989, S. 8. Ein ähnlich wichtiges Kriterium scheint das Fehlen der Mithräen in Iran zu sein. Hier müsste man einstweilen annehmen, dass Iran als Bergland keine künstlichen Grotten benötigte. Doch ist bis heute auch kein Stiertötungsrelief in einer iranischen Naturhöhle aufgefunden worden. Ebenso verwundert es, dass offenbar im gesamten iranischen Textmaterial des 1. Jt. keine Rückwirkungen des Mithras auf den ir. Miϑra/Mihr erkennbar sind. 25 Siehe Brashear 1992, S. 25–27, 49. 26 Die Erzählmomente wirken teilweise eigenartig für eine seßhafte, staatlich gebundene Gesellschaft der Antike/Spätantike (zur Charakterisierung der iranischen Gesellschaft der Antike als eine von persönlichen Bindungen s. Merkelbach 1984, S. 23ff.). Tatsächlich weist der Mithras-Kult eine Reihe von Archaismen auf, neben der Naturhöhle – die Tertullian, De corona militis 15 als „castris vere tenebrarum“, sah – vor allem den ins Zentrum gerückten Komplex Jagd und Tieropfer (s. dazu Merkelbach 1984, S. 3ff., 111f.) und den damit verbundene Übertragungszauber bei Formen blutiger Initiation. Eliade 1993 II, S. 248 zufolge seien Archaismen für die antiken Myterienkulte bezeichnend und als Rückfälle in ältere Entwicklungsstufen zu werten. Die Gottheit selbst entringt sich in ihrer Felsgeburt erst dem Natürlichen und bleibt diesem als „Sonne(ngott)“ stets verhaftet, und in der Gesamtkonzeption

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die Felsgeburt, das Wasserwunder), die Tatsache, dass sich die Reliefs und Statuen zunächst27 im Kontext jener symbolisch überhöhten Naturhöhlen befinden, für deren Ursprung man eher an ein Bergland – schon Porphyrios, De antro nympharum 6, schrieb ihre Gründung dem „Zoroaster“ „in den Bergen Persiens“ zu28 – und vielleicht weniger an Rom oder gar Ostia, wohin Clauss die Herkunft des Kultes dekretiert,29 denken mag,30 oder die Tatsache schließlich, dass der Kult bestimmte soziologische und geschlechtsspezifische Auffälligkeiten besaß31 – all das wird von Ulansey weitgehend nur insofern reflektiert, als es seine Interpretation der Stiertötung, auf deren bislang nicht gelungener Herleitung aus dem iranischen Kult die Ursprünglichkeit des römischen Mithras wesentlich beruht, zu stützen vermag.32 Nun müssen freilich auch die härtesten Kritiker Cumonts, Ulansey wie Clauss (dessen Buch gegenüber Ulansey der Vorzug der ausgeglichenen Betrachtung zukommt), zugestehen, dass zumindest eine Reihe von Details, sprachlichen wie bildlichen, nicht aus kleinasiatischem und erst recht nicht römischem Kontext zu erklären sind. Auffällig sind ja allein schon die nicht-römische Tracht der Dargestellten oder die griechischen Bezeichnungen der Weihegrade. Für beide Auscheint – soweit wir die Ähren, die sich am Schwanz des getöteten Stieres zeigen, als eine Folge des Opfers interpretieren dürfen – der Mithraskult zumindest teilweise noch an zyklischer Weltkonzeption festzuhalten. 27 Lavagne 1978, S. 272f. hat darauf aufmerksam gemacht, dass a) die Kategorie spelaeum (antrum) in Rom ca. zweimal so häufig vertreten ist wie im Reich, dort aber die Kategorie templum ca. sieben Mal so häufig wie in Rom, b) sich chronologisch eine Zunahme der zweiten, eine Abnahme der ersten Kategorie feststellen lässt. 28 Von dieser Passage nimmt Becks Monographie 2006 ihren Ausgang und kehrt mehrfach zu ihr zurück. Zur Bedeutung der Grotte im Rahmen der parthischen Inthronisation (Birūnī, India [Übers. Sachau], II, S. 10) s. Eliade 1993 II, S. 276 und Fn. 44 mit Referenzen. 29 Clauss 1990, S. 18 („Der Mithras-Kult ist in Rom oder Ostia entstanden.“) 30 Auch Mithräen sind bis heute nicht in Iran gefunden worden. Zwei Mutmaßungen bei Gropp 1969 und 1971; vgl. a. Imam-Jomeh 1978, jedoch ohne eigentlichen Beleg. 1975, S. 326 Fn. 38 ist von Gropp auch seine Vermutung bezüglich des Taxt-e Soleymān zurückgenommen worden, ohne dass er die Suche in Iran eingestellt hätte. So weist er auf eine Höhle beim Zendān-e Soleymān, und er glaubt (ebd.), pahl. glsty ZY ŠDYʾn (KKZ 10) „Höhlen (d. h. Tempel) der Dämonen“ (Gropp), das eine Entsprechung in V 3.7 drujō haca gərəδāδa „aus der Höhle der Druz“ → druz az gilistag (vgl. zu air. *gṛda- ved. gṛhá-) hat, und das in Kirdīrs Inschrift(en) in unmittelbarer Verbindung zu den ʾwzdysy „Götterbildern“ steht, weise auf Mithräen. Abgelehnt wurde die These eines Mithräums auf dem Taxt von Naumann / Huff 1972, S. 4. Auch sind Identifizierungen über Dura-Europos (zum dortigen Mithräum s. Cumont 1975) hinaus in Mesopotamien zweifelhaft (s. Colpe 1975 [= Colpe 2003, S. 304 Fn. 68]). 31 Differenziert Clauss 1990, S. 42–50; zu den Frauen s. Vermaseren 1965, S. 133–136. 32 Demgegenüber liegt bei Merkelbach der Fokus der Interpretation auf dem Motiv der (allerdings an nur drei Zeugnissen nachgewiesenen) siebenstufigen Initiationsleiter. Siehe dazu Merkelbach 1984, S. 77–132 in Nachfolge seiner Arbeit „Weihegrade und Seelenlehre der Mithrasmysterien“ von 1982.

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toren handelt es sich dabei freilich nur um „eine exotische Kolorierung“,33 eine ‚Anreicherung‘, die „selbstverständlich“ ist: „Selbstverständlich“, so Clauss, „verbindet der Mithras-Kult Neues mit Altem; er ist mit hellenistisch-orientalischen Mysterienelementen angereichert worden, in ihn flossen 〈orientalische, GK〉 astrologische Erkenntnisse ein“ – also offenbar das, was Merkelbach kurz zuvor noch als den nicht-iranischen Wesensgehalt des Mithraskultes bestimmt hatte! – „sowie schließlich einige persische Namen und technische Begriffe, wie nama = Heil! Zum Heil des …“.34 Was mich im folgenden beschäftigen soll, ist diese sog. exotische Anreicherung des Mithraskultes. Dazu möchte ich das sprachliche iranische Material betrachten, das solches Kolorit besitzen soll, und es daraufhin untersuchen, ob es Rückschlüsse auf die Zeit und den Weg seiner Entlehnung ermöglicht. Die untersuchten Wörter/Namen sind inschriftlich belegt. Es handelt sich um das Grußwort nama, die Wörter sebesio und nabarze und die Gottesnamen Arimanius, Cautēs/Cautopatēs/°is, Atar, Ōromazdēs und Miϑra. Das interessante Wort amara, das sich in der sog. Mithrasliturgie bzw. in deren von Dieterich35 abgetrennten Zauberpassagen findet, bedürfe indes einer gesonderten Behandlung. Einige dieser Wörter/Namen sind im 20. Jh. verschiedentlich untersucht worden, in der jüngeren Zeit insbesondere von Schwartz und Schmeja (beide 1975). Letzterer vertritt die These, dass die ursprüngliche Sprache des Kultes auch im Westen das Griechische gewesen sei. In der Tat wäre es bei Annahme eines rein westlichen Ursprungs des Mithras schwer zu erklären, warum die Weihegrade, die doch das Herzstück der ‚Kultgesellschaft’ bilden und zudem den Gedanken eines sukzessiven ‚Aufstiegs’ (auch und besonders der Seele) höchst eindrücklich ausbilden, griechische Terminologie verwenden.36 Andererseits ist Schmeja zugleich der Meinung, dass die Weihegrade wiederum kaum auf Iranischem beruhen können: Die Bezeichnung der fünften Weihestufe als Persa oder Persēs weise zwar „letztlich wohl auf iranischen Ursprung“ hin, „aber auch darauf, daß diese Mysterien im Iran selbst nicht gefeiert wurden, da es doch absurd wäre, einen Perser in Persien zum ‚Perser’ zu weihen“.37 Schmejas Betonung der Be33 „an exotic colouring“ (Ulansey 1989, S. 11). Die Formulierung stammt von Hinnells (1975 I,

S. xiii), wird jedoch von Ulansey zustimmend zitiert

34 Clauss, S. 18. Nach Breskow 1978, S. 8 hatten die Mithraisten keine Kenntnis der

„Zoroastrian tradition. Words like Nama and Nabarze, Cautes and Cautopates only confirm the scarcity of Iranian reminiscenses and cannot be taken as evidence for a further acquaintance with Persian in one form or another.“ 35 Dieterich 1923, S. 20 Fn. 14. 36 Siehe Schmeja 1975, S. 15f. 37 Schmeja 1975, S. 16. Auch wenn das Argument vergisst, dass „Pārsa“ nie die Eigenbezeichnung eines vorislamischen iranischen Reiches war und überhaupt nur einen Bruchteil der Iraner fasst, so ist es doch darum nicht ganz hinfällig als Argument für eine im Westen kreiierte Bezeichnung, da die Iraner im Westen stets als „Meder“ bzw. „Perser“ bezeichnet wurden.

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deutung des Griechischen für den Mithras-Kult wird denn auch bei seiner Besprechung der vermuteten iranischen Lehnwörter (insbesondere bei Sebesio und Cautēs/Cautopatēs) von einigem Gewicht sein (s. u.).

II Iranische Wörter in den mithrischen Inschriften Der römische Mithraskult blühte in Rom und Ostia, vor allem aber an den Grenzen des Imperiums an Donau und Rhein bis zum Hadrianswall südlich des britannischen Hochlandes, in einer verhältnismäßig kurzen Epoche. Seine datierbaren Relikte stecken einen Zeitraum zwischen 140 und dem frühen 4. Jh. ab, an den sich noch einige Jahrzehnte antichristlichen Widerstands anschlossen.38 Nach seinem Verbot im Jahr 39139 finden sich im 5. Jh. keine Spuren des Kultes mehr. Anders als im Westen und Norden gibt es im griechisch-kleinasiatischägyptischen Raum keine oder nur wenige Funde. Allerdings sind von besonderem Wert die Überreste aus Dura-Europos (Euphrat) sowie die liturgischen Reste aus Ägypten.40 Sehen wir von Plutarchs berühmtem Zeugnis (Pompeius 24, 7) über die „fremdartigen Opfer“ (ξένας ϑυσίας) und „geheimen Weihen“ (τελετάς τινας ἀπορρήτους) der kilikischen ‚Seeräuber‘ ab, zu denen auch der Mithraskult (ἡ τοῦ Μίϑρου) gehörte, so wird der Kult erstmalig bei Statius (Epos „Thebais“ I 717) 90 n. Chr. erwähnt.41 Phoebus Apollo, angeredet als roseum Titana „rosenfarbener Titan“ (d. h. [morgendlicher] Helios42) gentis Achaemeniae ritu „nach dem Ritus des Achaemenidenhauses“, sei niemand anders als Osiris oder aber Mithras, „der unter den Felsen der persischen Grotte bändigt die unfolgsamen Hörner 〈des Stieres〉“.43 Dieser kleine Text ist in vielfacher Hinsicht aufschlussreich: 1. Er berichtet von dem Komplex Mithras-Stier-Grotte, der im Mithraskult zentral, in Iran aber bestenfalls nur schwach nachweisbar ist;44 2. Statius versetzt die Kultheimat nach Iran (persei … antri); 3. Osiris-Mithras-Apollo45 wird als die morgendliche „Sonne“ beschrieben; 38 Zur Chronologie s. Merkelbach 1984, S. 146–153; Clauss 1990, S. 31–41. 39 Siehe Vermaseren 1965, S. 157, Turcan 1981, S. 118. Das Ende des Kultes ist also nur ca. ein

Jahrzehnt jünger als der Beginn der Völkerwanderung und die faktische Reichsteilung.

40 Brashear 1992; umstritten ist indes die sog. Mithrasliturgie (Dieterich 1903/1910/1023). 41 In Pompei finden sich noch keine Hinweise auf den Mithras-Kult. 42 Breysig 1830, S. 843. 43 Persei sub rupibus antri indignata sequi torquentem cornua Mithram. Zum Kommentar des

Lactantius Placidus zu dieser Stelle s. Merkelbach 1984, S. 203.

44 Siehe Yt 10. 85–86. 45 Zu Mithras-Apollo siehe man die 4. Götterfigur auf dem Nemrud Dagh.

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4. Diese Identität von Sonne und Mithras kenne bereits „der Ritus der Achaimeniden“. Noch ungefähr 250 Jahre nach Statius’ Thebais, in einer Zeit also, da der Mithraskult schon im Verlöschen begriffen war, fragte der zum Christentum konvertierte Senator Firmicus Maternus in Bezug auf den Mithraskult:46 Si hoc Romano nomine dignum putatis, ut Persarum sacris, ut Persarum legibus serviatis („Haltet ihr dies für der römischen Nation würdig, den Kulten und Gesetzen der Perser zu dienen?“47). Offenbar glaubte man also während der gesamten Zeit, in der der sog. „römische“ Mithraskult bestand, dass es sich bei ihm um einen „persischen“ (d. h. iranischen) Kult handelte.48 Wie lässt sich das verstehen? Iran war zumindest in der (allgemein angenommenen) Zeit der Entstehung des Kultes des Mithras von den Parthern dominiert. Ein Blick auf die Königsnamen zeigt, in welch hohem Ansehen Miϑra (parth. Mihr) bei den Parthern stand; auch die beiden bedeutendsten parthischen Herrscher, Mithradatēs I und II, tragen einen auf ihn weisenden Namen. Der Name Mithradatēs war daneben höchst beliebt bei allen iranisch geprägten Kleinreichen Anatoliens der mittleren Partherzeit. Höchst auffällig ist es indes, dass sich keiner der ‚persischen‘ Herrscher nach 224 n. Chr. aus dem Sasanidenhaus nach Miϑra nannte. Dieses Faktum korreliert gut mit dem Verblassen des Miϑra in den ‚orthodoxen‘ mp. Schriften des Zoroastrismus,49 der im 3. Jh. zur „Staatsreligion“ aufstieg,50 und man möchte fast meinen, dass sich der seit dem 3. Jh. in Iran etwas missachtete iranische Gott eine neue Heimat im Westen gesucht habe. Ziehen wir schließlich noch einen weiteren onomastischen Befund hinzu. Bekanntlich weisen die Achämeniden erst in der späteren Zeit, seit Artaxerxēs II, in ihren Inschriften auf Miϑra hin, den sie nur in med./av. Lehnform kennen (ap. wäre hingegen Miça). Andererseits ist die Namensgebung, die die NÜ gibt, 46 De errore profanarum religionum 5. 47 Übersetzung Merkelbach 1984, S. 184. 48 Selbst bei einem so vehementen Kritiker der Cumontschen Perspektive auf den Mithras-

Kult wie Ulansey lebt der Iranbezug fort. Zu Ulanseys zentralen Thesen gehört die Identifizierung des Mithras mit der Perseus-Konstellation. Auch wenn zwischen „Perseus“ und „Pārsa“ kein etymologischer Bezug bestehen dürfte, so wurde Perseus in der Antike gleichwohl als persischer Stammvater angesehen, s. Her. 7.61 (weiteres s. Lincoln 2012, S. 310–316). 49 Allerdings bleibt zu beachten, daß Mihr im Rahmen von Investiturszenerien auf Reliefs (Taq-e Bostān) bzw. auch auf Münzen der Sasaniden erscheint (s. Göbl 1968, S. 20), und er neben Ohrmazd und Anāhit anscheinend noch immer, wie schon in spätachämenidischer Zeit, die wichtigste Gottheit war. Seine Popularität wird besonders durch die mp. Onomastik bezeugt. Es lässt sich daraus schließen, dass die Pahlavi-Literatur, die Mihr stets nur im eschatologischen, richtenden Kontext kennt, nur eine theologische Konzeption der Sasanidenbzw. frühislamischen Zeit widerspiegelt, nur einen Ausschnitt der religiösen Wirklichkeit wiedergibt. 50 Mosig-Walburg 1982.

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und die schon im 5. Jh. (PFT) voll von Miϑra-/Miça-Namen ist.51 Dies bezeugt eine Beliebtheit des Gottes jenseits des offiziellen Kultes der früheren Achämeniden. Eine Rekonstruktion der ir. Religionsgeschichte wird darum in die Irre gehen, wo sie allein nach den Daten der ap. Inschriften oder später der PahlawiLiteratur – als dem Spiegel der sasanidischen Lehre – rekonstruiert würde. Wir müssen sagen, dass wir für die gesamte Zeit des 1. Jt. v. Chr. bis zur Zeit der Sasaniden für Westiran so gut wie keine konkrete Kenntnis der Miϑra-Verehrung haben. Das einzige, was wir zumindest seit parthischer Zeit aus der Onomastik herauslesen können, ist, dass Mithra von größter Bedeutung war und vielleicht in Konkurrenzsituation zu Ohrmazd stand (kein Partherkönig benannte sich nach Ohrmazd).

Nama/νᾶμα Häufig wird in den lateinischen wie griechischen Inschriftenformeln (Dura-Europos) des Mithraskultes das Wort nama (νᾶμα) verwendet.52 Es wird generell als ein ir. LW eingestuft.53 Seine Bedeutung ist offenbar „Verehrung“. Nama steht oft Initiationsgraden voran,54 z. B. nama patribus ab oriente ad occidentem tutelā Saturni (V 480,1; Santa Prisca/ Aventin, Rom) Verehrung den Patres, vom Orient zum Okzident, unter Saturns Schutz. [Νά]μα λέουσιν / [ἁβπ]οĩς καì Περσές/[ιν ..] ελεμνοις (V 58 Dura Europos55) nama leonibus novis et multis annis (V 484; Santa Prisca/Aventin, Rom56) „Verehrung/Heil den Löwen für viele neue Jahre!“57 51 Siehe besonders Tavernier 2007 Nr. 4.2.1087–98, 4.2.1103–29. 52 Auch in Pannonien wurde das Wort nama gefunden, s. Tóth 1974–1975. 53 Siehe Gershevitch 1959, S. 68; Duchesne-Guillemin 1962, S. 255 Fn. 5; Schmeja 1975, S. 18;

Belardi 1979, S. 110 Fn. 1. Unerklärt ist das Wort noch bei Cumont 1923, S. 137. Die Nichtiranisten reden gern vom „Persischen“ (nama komme „aus dem Persischen“ [Vermaseren 1965, S. 147]), was in diesem Falle nicht auszuschließen ist. 54 Siehe Merkelbach 1984, S. 106 Fn. 24. Bei Stifternamen wird hingegen nachgestelltes feliciter verwendet (s. V 136 u. 138F Decentius feliciter “Decentius zum Heil”; s. Merkelbach 1984, S. 139 und Fn. 23) bzw. die Formel pro salute + Stifternamen (Gen.), s. V 2029, 747, 2011 u. a. m. 55 Lesung Merkelbach: νᾶμα - - - Πέρσες Πέρσαις [σὺν β]ελέμνοις „Verehrung den Persern mit ihren Pfeilen“. Merkelbach 1984, S. 111, mit Verweis auf die Dieburger Statuette des Persers mit Pfeil und Bogen (V 1249; Merkelbach 1984, Abb. 121). Die Insignien des Grades des „Persers“ sind, nach den Reliefs in Ostia, Akinakēs (Kurzdolch), Mond und Stern (vgl. die Beizeichen der späteren Sasanidenmünzen), Sense (s. Clauss 1990, S. 143f.; Merkelbach 1984, S. 195). 56 Zum Heiligtum Vermaseren 1965, S. 33–40; zu den Inschriften S. 141–148. 57 Belege nama + EN + leoni gelistet in Merkelbach 1984, S. 106.

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Auch der Gott selbst wird mit nama begrüßt: Νάμα ϑεῷ Мιϑρᾳ (V 54; Dura Europos)

Nur vereinzelt ist nama nachgestellt: leoni[b]us nama (V 1745; Aquincum)58

Grammatikalisch folgt auf nama i. d. R. der Dativ. Etymologisch wird nama zu air. *namah- „Verehrung“ (zu idg. *nem- „zuteilen“ oder *nem- „beugen“) gestellt59 und dürfte als ein air. N. Sg. *namah aufzufassen sein. Wie das mithrische nama steht nəmah- im Avestischen zumeist vor dem Bezugswort und ist selten postponiert. Ihm folgt i. d. R. der Name des Gehuldigten (meist ein Gott), meist im Dativ, bisweilen im Gen. oder Vok. (dann nach Pron. 2. Pers. im Gen./Dat.):60 Yt 10.91 nəmō. miϑrāi. (Dat.)61 Y 68.22 nəmō. gə̄uš. (Gen.) Ny 1.1 nəmasə.tē ahura. mazda. (Vok.)62

In sprachhistorischer Hinsicht ist nama die Reflexion eines air., nicht aber mir. Wortes (pahl./parth. nmʾc,63 pāz. namāž, np. namāz, sogd. nmʾcyw < *namācyam64).

Sebesio Während das Wort nama im 20. Jh. Klärung erfuhr, blieb das Wort (der Name?) sebesio bis heute, wie Cumont einst sagte, bloß ‚dunkle Anrufung‘.65 Gleichwohl glaubt man darin ein iranisches Wort zu erkennen. Belegt ist es offenbar nur in V 416 (Rom) Nama Sebesio, das auf ein Stiertötungsrelief „next to the wound“ geschrieben ist.66 Gemäß der Syntax von nama ist ein latinisierter N. Sg. *sebesius anzusetzen; sollte indes der gesamte Wortausgang entlehnt sein (wie bei nama), 58 Im Lateinischen lautet eine semantische Entsprechung offenbar leo vivas „der Leo soll leben“

(s. dazu Merkelbach 1984, S. 106 Fn. 24 mit Referenzen).

59 Av. nəmah- n. mit N. Sg. aav. nəmə̄ ; jav. nəmō; vgl. ai. námas- n. „Huldigung“; jedoch gr.

νέμος, lat. nemus „heiliger Hain“.

60 Belege AiW 1069f. 61 In der Nebenüberlieferung begegnet ein Name aram. Mtr〈〈tr〉〉nm = med. *Miϑranamā

„den Miϑra verehrend“, s. Tavernier 2007, S. 250 mit Lit.

62 Man beachte den Sandhi (vgl. RV 3.33.8 námas te). 63 Jedoch FP 19 Cod. S2 XVII, 7 nmʾš mit np. Glosse namāǧ. 64 Schwartz 1975, S. 419. 65 Cumont 1923, S. 137: „die dunkelen Anrufungen Nama, Nama Sebesio, die auf unseren Bas-

reliefs graviert und noch nicht erklärt sind“.

66 Vermaseren 1956–60 I, S. 177. Vermaseren notiert nach Cumont (Rev. Phil. 1892, S. 96): „The

graffiti on the thigh are modern.”

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so könnte dieser keinen Dativ darstellen, der im Iranischen auf –(ay)āi ausgeht. Ein Wortausgang auf –io ließe dann vielmehr an den Vok. Sg. eines *-nt-Adjektivs denken.67 Tatsächlich hat man das Wort auch in dieser Weise gedeutet. Es war der interessante Vorschlag Zaehners,68 in mithrisch sebesio av. saušiiaṇt- „Gedeihbringer; Heiland“ (Vok. *saušiiō) wiederzufinden, eine Deutung, die auch Vermaserens Zustimmung fand, der die Formel nama sebesio mit „gegrüßt sei der Saushyant“ übersetzte.69 Das Wort saušiiaṇt-, das seit den Gāϑās (eine meist pluralische) Verwendung findet,70 begegnet seit jungavestischer Zeit im Singular als Name einer (letzten) endzeitlichen Heilsfigur,71 und als solcher ist das Wort ins Pahlavi entlehnt worden (Swšʾns/Sōš(y)ans < N. Sg.; pāz. Saošyōš ). Da Sebesio sich in der römischen Inschrift auf Mithra beziehen könnte, wäre dieser also in einer eschatologischen Funktion, als „Heiland“ (so die traditionelle Übersetzung von av. saušiiaṇt-) bestimmt und angerufen. Eine eschatologische Deutung ließe sich sowohl durch Parallelen im Mithraskult selbst stützen,72 wie auch durch MithrasParallelen in der manichäischen und mittel- bzw. neupersisch-zoroastrischen Literatur;73 ihre Spuren führen bis in die antike Namensgebung zurück (Mihrbōzēd „Miϑra erlöst“, vgl. Мιϑροβουζάνης74 / *Miϑrabaujana-,75 parth. Mtrbwzn). Die Etymologie Zaehners ist jedoch formal problematisch. Gegen dessen Meinung, sebesio sei „easily explained as“ *savišyō (Vok.?) und dieses eben av. saošiiā˘ „Heiland; Priester“, hat Gershevitch76 darauf hingewiesen, dass saušiiaṇt- keineswegs auf eine Lautform *sau̯išyant- führen könne. Anfügen ließe sich dem Ein67 Theoretisch ist noch der Gen. Sg. eines ī-Stammes denkbar. 68 Zaehner 1955, S. 240. 69 Vermaseren 1965, S. 19. 70 Zur Interpretation des Wortes s. die kontroversen Deutungen bei Kellens 1974 und Hintze

1994, S. 151–157, Hintze 1995.

71 Siehe bes. Y 26.10, 59.28; Yt 13.129, 19.89ff. 72 Siehe z. B. Mithras Bezeichnung als „Befreier“ in Groß-Krotzenburg: D(eo) i(nvicto)

M(ithrae) Liberari „dem unbesiegten Gott Mithras, dem Befreier“ (Merkelbach 1984, S. 138). Im ägyptischen „Katechismus“ könnte Mithras als „Erlöser“ bezeichnet sein (P. Berol. 21196↓7): σω[τῆρος], s. dazu Brashear 1992, S. 37 mit Verweis auf den Ausdruck „liberator“ in Ps.-Aug., Quaest. 113, 11 sowie auf das Graffito in S. Prisca et nos serva[s]ti … sanguine fuso. Zur mithrischen Soteriologie und Eschatologie s. Turcan 1981, S. 109–114. 73 Siehe besonders MX 2.117–120 (Individualgericht) und ZWY 3.31–35 (Weltendgericht [Shaked 1980, S. 15f.]). In parth.-man. Texten ist Mihryazd die Erlösergestalt des tertius legatus (parth. Narisafyazd, hridīg frēštag → sogd. myšyy βγyy = əštīk frēšte), s. Boyce 1962, sowie Sundermann 1978 mit Diskussion einer Abhängigkeit von der zoroastrischen Konzeption. Zu Miϑra als Seelenrichter im Np. s. z. B. MU I 71.14–18. 74 Justi 1895, S. 209. 75 Justi 1895, S. 209 „Erlösung durch Mithra habend“; nach Tavernier 2007, S. 249 jedoch „to whom Mithra bestows benefit“ 76 Gershevitch 1959, S. 273 Fn., 68 Fn.

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wand sodann, dass im Iranischen eine Wendung mit dativischem Enklitikum zu erwarten wäre (*nəmasə.tē. saošiiā̊.* 77). Auch andere Etymologien scheinen vor unüberwindlichen Problemen zu stehen.78 Fraglich ist daher, ob Sebesio überhaupt als ein iranisches Wort anzusehen ist. Auf einem Marmorstein in Ostia findet sich eine Inschrift, die die Integration der Gottheit Sabazios in den MithrasKult belegt (L. Aemiliu[s …] / Eusc(hemus?) ex imperio I o v i s S a b a z i votum fecit [V 303]).79 Möglicherweise ist Sebesius nur eine inkorrekte Schreibung (z > s, vgl. unten ΩΡΟΜASDΗC) des asiatischen, nach dem Westen gewanderten Gottes Σαβάζιος, der nach Turcan in der Darstellung gewisse Ähnlichkeiten mit Miϑras besitze.80 Wikander 1946, S. 21281 zufolge ist Mithras unter dem Namen Sabazios in Lydien einer der πάρεδροι der Muttergöttin.

nabarze Ein weiteres, einige wenige Male, jedoch über ganz Europa hin gebrauchtes Epitheton Mithras ist das Wort nabarze. Schon früh glaubte man, das Wort – dessen Ausgang seiner Syntax zufolge ein Dativ sein sollte und formal auch als ein solcher angesehen werden kann82 – nicht nur als iranisch (fälschlich „persisch“), sondern auch dessen Bedeutung identifizieren zu können. Dieses „Beiwort“ des Mithras habe,83 so Cumont, die Bedeutung „siegreich“ und „kommt vom persischen nabarza ‚mutig, siegreich‘ her“.84 Cumonts Erklärung scheint zunächst einleuchtend. Während in einigen Belegen Nabarze offenbar Mithras vertritt:85 Deo invicto N(abarze) (V 915) (Altar in Lucey/Gallien) D(eo) S(oli) invicto N(abarze) … (V 872) (Camboglauna/Britannien)86 Invicto N(abarze) ad ritus … (V 380) (Rom) Invicto d(eo) Navarze … (V 501) (Rom) 77 Einfacher wäre unter dieser Voraussetzung sogar die (noch immer komplizierte) Annahme

eines *nəmasə.tē bišiiō.* „Verehrung Dir, O Heilender“.

78 Vor demselben Problem des falschen Kasus bzw. des fehlenden Enklitikums stünde z. B. der

Versuch, sebesio aus einem av. Partizip spasiiaṇt- „spähend“, einer wesentlichen Eigenschaft des Miϑra, abzuleiten. Zudem fände der stimmhafte Labial in Sebesio keine Erklärung. 79 Auf die Inschrift weist auch Schmeja 1975, S. 9, hin, der weitgehend zu demselben Ergebnis gelangte (daneben Erwägung eines gr. *σεβήσιος „verehrungswürdig“). 80 Turcan 1981, S. 44. 81 Vgl. Cumont 1896–1898, S. 212, 235f., 333. 82 Nach Schmeja 1975, S. 16 ist –e als Dativausgang anzusehen. 83 Vgl. Vermaseren 1965, S. 50 „seinen Gott mit dem persischen Namen Nabarze anruft“. 84 Cumont 1923, S. 137 Fn. 3 u. 4 (mit Belegangaben). 85 Man hat darum auch an Fehlschreibung N für M gedacht, s. unter V 915. 86 Es ist strittig, ob N für N[abarze] steht (s. Breskow 1978, S. 10 Fn. 8); speziell in V 872 wird dies abgelehnt (s. Harris 1965, S. 39 Fn. 2).

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steht nabarze andernorts mit dem zentralen mithrischen Beiwort invictus87 zusammen,88 ebenso wie dessen griechische Entsprechung ἀνίκητος.89 Es scheint also deren iranisches Äquivalent zu sein: Invicto / Mythrae / Nabarze / … (V 1790) (Pannonien) soli invicto Mitrae aniceto (V 2146) (Altar in Caransebes, südlich von Sarmizegetusa/Rum.)90 Nabarze / Deo / …91 (V 2029) (Dacia) S(oli) i(nvicto) N(abarze) M(ithrae) / … (V 2153) (Tibiscum/Dacia)

Darüber hinaus existiert tatsächlich ein np. Wort nabard(e), das in spirantisierter Aussprache nabarδ(ah)/nabarz(ah) gelautet haben könnte. Das Problem der Cumontschen Herleitung besteht darin, dass nabarδ(ah) eine np. Lautform darstellt, also einer Sprache angehört, die sich erst Jahrhunderte nach dem Ende des Mithraskultes herausbildete. Auch in etymologischer Hinsicht sind die Schwierigkeiten nicht zu überwinden. Mp. nibard(ag) „geübt, erfahren“92 (nplt’/nibard „Kampf“) dürfte auf air. *ni-parta(ka)-93 zurückgehen. Eine NW-Lautung –rz-, wie sie ja von nabarze reflektiert würde, stellt jedoch nur die dialektale Variante zu ap. –rd-, nicht aber zu air. –rt- dar. Cumonts Etymologie ist, wie schon lange bemerkt wurde, unhaltbar.94 Gibt es Alternativen? Erstmals von Marquart95 vorgeschlagen, von Zaehner96 wiederholt und auch von Schwartz 1975, S. 422f. bevorzugt, ist eine Etymologie, die in nabarze zwei ursprünglich getrennte Wörter sieht: nabarze < av. *nā. bərəzō.* (bzw. *nā. bərəzah*) „großer/hoher Mann“.97 Sie wären, man vgl. den Namen *Nāspanta98 (vgl. Y 51.21 nā. spəṇtō.), zu einem Kompositum verwachsen, das den Reflex einer 87 Zu einem invictus-Akrostichon, das den Mithras verfemt, s. Vermaseren 1965, S. 64. 88 Invictus ist, anbei bemerkt, Titulaturwort der römischen Kaiser zwischen Commodus

(180–192) und Konstantin I (306–337), und im 4. Jh. nur noch von Julian Apostata (360–363) aufgegriffen, also genau in der Blütezeit des Mithraskultes. 89 Verwandt scheinen auch die Formulierungen V 315 die iubenis inconrupti Solis invicti Mithrae und V 311 indeprehensibilis „unergreifbar“ zu sein. 90 Vermaseren 1965, S. 51 („Hermadio, der Spender, ist offensichtlich ein Grieche oder Orientale, weil er sowohl das Wort invictus wie anicetus gebraucht, die beide unüberwindlich bedeuten“). 91 Merkelbach 1984, S. 168 Fn. 41. 92 Vielleicht „abgekämpft“ > „durchtrainiert“ > „geübt“. 93 AiW 868f. parət- „(sich be-)kämpfen“ (PPP parəta-), vgl. ai. pṛ́t- „Kampf“ < *pṛ́t- „kämpfen“; AiW 891 +pərət- „Kampf“; AiW 896f. pəšana-, pəšanā- „Kampf“ (ai. pṛ́tanā-). 94 Siehe schon Gray 1915; Zaehner 1955, S. 240 Fn. 5; Schmeja 1975, S. 17; Colpe 2003 (= 1975), S. 306 Fn. 63. 95 Marquart 1930, S. 12. 96 Zaehner 1955, S. 240. 97 Ein Kompositum av. nərəbərəz- „mannshoch“ geht von der Wurzel (nar-) aus. 98 Tavernier 2007, Nr. 4.2.1178.

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formelhaften Wendung darstellt. Tatsächlich lässt sich diese Etymologie stützen (s. u.). Formal bereitet sie keine Schwierigkeiten. Von Gershevitch99 ist sie denn auch nur aus inhaltlichen Gründen abgelehnt worden. Zwar hat Gershevitch darin recht, dass nar- im Iranischen allein den sterblichen Mann, nicht aber den Gott bezeichne.100 Doch weist Schwartz (1975, S. 423) m. E. zurecht daraufhin, dass im RV nṛ- zur Bezeichnung von Kriegsgöttern gewöhnlich ist (man vgl. z. B. Indras Bezeichnung als náre nṛ́tāya náre nṛ́tamāya „mannhafter, männlichster Mann der Männer“ RV 4.25.4), und dass Miϑra auch im Avesta zumindest einmal als aršan- „Mann; Held“ bezeichnet wird (Yt 10.86), übrigens an einer Stelle, die von der Rinderbefreiung (= mithrischer Rinderraub?) durch Miϑra berichtet. Anfügen ließe sich dem, daß Miϑra überhaupt im Avesta verschiedentlich weniger als Gott, denn als großer Held und Heerführer erscheint (s. Yt 19.35; Yt 10.145, Ny 1.7101), und Turcans Beobachtung ist zuzustimmen, dass der aw. Miϑra dazu tendiere, im Awesta den Platz des vedischen Indra einzunehmen.102 Die Verbindung von Miϑra mit dem „Hohen“ kennt schon das Avesta (Ny 2.12 m i ϑ r a. ahura. b ə r ə z a ṇ t a.; Yt 10.25 m i ϑ r ə m. ahurəm. b ə r ə z a ṇ t ə m.).103 Die elam. NÜ überliefert den EN (med.) *Miϑra-bṛzana- (elam. Mi-ut-ra-barza-na [PF 1954:21]; vgl. gr. Μιϑροβαρζάνης).104 Später finden wir die Verbindung möglicherweise im Namen des Standesfeuers „Burzēn-Mihr“105 und im Namen Burz-Mihr bzw. in einem gleichlautenden „appellatif divin“ auf einem sasanidischen Siegel.106 Soweit die Marquartsche Etymologie also das Richtige treffen sollte, ließe sich nabarze nicht länger als ir. Äquivalent von lat. invictus, gr. ἀνίκητος ansehen. Die Morphologie der Verbindung (des Kompositums) würde eine air. (med./av.) Herkunft nahe legen. Gibt es etymologische Alternativen? Die gr. NÜ bezeugt einen Namen Ναβαρζάνης,107 der auf ein *nabā-bṛzā˘na- bzw. nāfa-bṛzā˘na- „der die Sippe hoch99 Gershevitch 1959, S. 68 Fn. 100 Man beachte aber die Gotteserscheinung als narš. kəhrpa. … bərəzatō. „in Gestalt eines hohen

Mannes“ (Yt 8.13 von Tištriia, Yt 14.17 von Vərəϑraγna).

101 miϑrəm. vīspanąm. dax́ iiunąm. daiŋ́ hu.paitīm. yazamaide. „Wir verehren den Mithra, den

Landesherren aller Länder“.

102 Turcan 1981, S. 10. 103 Dazu Schwartz 1975, S. 423. Der Tempel (nmāna-) des Miϑra (und nur dieser) wird in Yt

10.28, 30 als bərəzi-mita- „hochgemessen“ bezeichnet.

104 Tavernier 2007 Nr. 4.2.1106. Bivar 1979, S. 746f. weist noch auf die Münzlegenden der sasa-

nidischen Kūšānšāhs hin, bwldʾyndy yzty und bwrzʾyndy yzdty, gegen deren Beziehung auf Miiro sich jedoch Widerspruch erhoben hat (Humbach in Bivar 1979, S. 751). 105 Wenn nicht zu aw. bərəjiia- ? (Yazata) (AiW 958) zu stellen ist. 106 Siehe dazu Gignoux 1982, S. 18. 107 Justi NB, S. 218. Vgl. Na-pa-par-tan-na /Schmeja 1975, S. 16 mit Lit.). Vgl. die Namen *Ṛtabṛzana- (Tavernier 2007, Nr. 4.2.1456), *Arya-bṛdana- (Tavernier 2007, Nr. 4.2.98).

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bringt“ zurückgeführt wird.108 Zwar führt von diesem Namen lautlich wohl kein direkter Weg zu mithrisch nabarze, doch ließe sich ein älteres *nabā-barəz- annehmen.109 Meines Erachtens besteht das Problem dieser Etymologie jedoch darin, dass, vorausgesetzt eine Bildung wie *nabā-bṛzā˘na- besaß überhaupt eine theologisch relevante Bedeutung, diese durch die Haplologie sehr wahrscheinlich unverständlich wurde. Wie das Wort in den Inschriften den Namen des Mithras dann aber hätte ersetzen können, ist auf dieser Grundlage schwer zu erklären. Formal möglich und inhaltlich plausibler wäre eine Etymologie nabarzē < *nā̆warzē 110 < air. (med./av.) *nava-vṛzya- „das Neue wirkend“ (vgl. av. haiϑiiā. vərəziia- „wahrmachend“) bzw. *nava-varza-.111 Die Entwicklung könnte haplologisch gewesen sein oder aber über ein *nawwarz° geführt haben, das dem Erhalt der Bedeutung sicherlich günstiger gewesen sein dürfte.

Arimanius Zu den meistdiskutierten Gegenständen des Mithraskultes gehören die löwenköpfigen Statuen und Reliefabbildungen. Die Identität dieses monstrum portentum (Hieronymus) ist umstritten.112 Das ist insofern wenig verwunderlich, als die Gestaltung dieser Figur – die uns auch mit menschlichem Antlitz begegnet113 – offenbar ‚synkretistisch‘ ist. Von iranistischer Seite wurde bisweilen ihre Deutung als Ahreman – der Antipode des Ohrmazd im Zoroastrismus – vertreten.114 108 Hinz 1975, S. 170; s. a. Schmeja 1975, S. 17 nach einem Vorschlag R. Schmitts („die Sippe meh-

rend“). Nach Marquart 1930, S. 12 ist Ναβαρζάνης = „med. *nā-brzans (Nom.)“ und dem mithrische „Nabarzes und Narbarzis“ gleich. 109 So Schmeja 1975, S. 17. 110 Vgl. die Bezeichnung des 1. Priestergrades nāwar < *nauua-bara-. 111 Erstmals von Gray 1915, S. 191f. vorgeschlagen (*nau ̯ au̯arz „making new“), positiv aufgenommen bei Schmeja 1975, S. 17. 112 Neben einer Reihe von Spezialaufsätzen zum Thema beachte man unter den Monographien, die sämtlich das Thema abhandeln, Merkelbach 1984, S. 103f., 129, 224–226 und besonders Ulansey 1989, S. 30–35, 116–124 mit dem interessanten Verweis auf Gorgon und deren bemerkenswerte ikonographische Parallelen, aber auch auf die Ähnlichkeiten zu den orphischen Gottheiten Chronos und Phanes. Entgangen ist m. W. der Forschung die Ähnlichkeit zu den umwundenen, aufrechten Löwenfiguren, die die Beine des gātu des Darius auf dem Relief Naqš-e Rostam bilden und im Feueraltar der Ardašēr-Münzen wiederkehren. 113 Der Löwenkopf scheint also eine Maske darzustellen. Das lässt daran denken, dass gerade in Bezug auf den Initiationsgrad des leo vom Tragen einer Löwenmaske berichtet wird (s. Merkelbach 1984, S. 101f., 240f., vgl. Turcan 1981, S. 81f.) und sich auch Reliefs finden, die die zum Löwen Geweihten abbilden (auch andere Grade, s. z. B. die Rabenmaske), s. V 1896 rev., vielleicht auch die ägyptische Statue V 94); zum Löwengebrüll s. Clauss 1990, S. 117. In V 1773 ist die Figur von dem Libella leo gestiftet worden; V 369 jedoch von einem pater patrum. 114 Zaehner 1955, S. 237ff.; Zaehner 1965, S. 87 et passim, der seine Theorie durch einen immensen luristanischen Text bestätigt fand, in dem ein Schöpfergott eine wesentliche Rolle spielt, der

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Diese Deutung kann sich nicht nur darauf berufen, dass die Ikonographie der Figur dem kulturübergreifenden Darstellungsprinzip des Dämonischen mittels der monströsen Zusammenfügung des Unzusammengehörigen folgt („Mischwesen“), wie sie noch der sasanidische Iran gut kennt;115 ihr wichtigster Ansatzpunkt ist vielmehr die Bezeugung des Namens ARIMANIUS an eben solchen Statuen. Arimanius scheint jedoch nicht immer der Name der Statuenwesen zu sein, sondern auch derjenige, dem diese geweiht sind. Dabei wird er mehrfach als „Gott“ bezeichnet („Deo Arimanio“): (Statue = Arimanius; ohne deus) … signum Arimanium do[no] de[dit] (V 222; Ostia) … d[ono] Arimaniu(m) (d[edit]) (V 833/4; Eboracum)116 (Statue an den „Gott Arimanius“) Deo Arimanio (V 1775; Aquincum) Deo Arimanio Libella leo fratribus voto dicavit (V 1773; Aquincum) D[eo] Arimanio (V 369; Rom)

Weniger soll hier die Frage der Identität der Figur als vielmehr der Name ARIMANIUS interessieren. Merkelbach 1984, S. 104 hat gegen die gewöhnliche Gleichsetzung von Arimanius mit Ahreman in Arimanius den Namen der iir. Gottheit Aryaman gesehen, die im Veda enge Beziehungen zu Mitra unterhält.117 Diese Deutung scheint den Vorteil zu besitzen, die befremdliche Bezeichnung eines Arimanius-Ahreman als „Gott“ vermeiden zu können. Sie steht aber vor Problemen. Zunächst ist im Zoroastrismus bzw. im Iran überhaupt die (magische Heilungs-)Gottheit (jav.) Airiiaman (vgl. aav. airiiə̄man-) von nur geringer Prominenz.118 Wichtiger aber ist, dass sich av. Airiiaman- (mmp. LW ʾryʾmʾn, pahl. ʾylmʾn/Ērmān) in sprachlicher Hinsicht wesentlich schlechter auf Arimanius beziehen lässt als jav. Aŋra- Mainiiu-, ist doch a) in der Form Arimanius vermutlich noch der alte u-Stamm wiederzufinden (zum Ausgang lat. –ius, gr. -ios vergleiche der „Lionish-God“ genannt wird; Duchesne-Guillemin (1958–)1960; Gershevitch 1959, S. 63; Schwartz 1975, S. 416 Fn. 38. 115 Siehe Mode 1973; zum sasanidischen Iran s. z. B. Gyselen 1995. Zu den verschiedenen ikonographischen Bezügen s. Vermaseren 1975, S. 452, der auf die besondere Rolle Ägyptens hinweist (S. 456). 116 Siehe dazu Bianchi 1975, S. 457–462. 117 Zum indischen Mitra und Aryaman s. Thieme 1957. Bei Merkelbach 1984, S. 104 Fn. 16 sind alle Arimanius-Belege aufgelistet. 118 Das Wort airiiaman- kennen wir im Avestischen aus 3 Kontexten, 1. im Aav. als Bezeichnung einer sozialen Organisationsform; 2. im Jav. als das Gebet Y 54.1 („Her komme der liebe Airiiaman“); und 3. als Gottheit, bezeugt im wesentlichen nur im Zaubertext V 22 (V 22.7, 9, 13, 19, 20), da diese zu den Unterredungen Zaraϑuštras mit dem kranken Ahura Mazdā mit verschiedenen Zauberutensilien kommt.

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man lat. Darius, gr. Δαρεĩος, ap. Dāraya-vauš ), und b) die Verwandtschaft zu der von Plutarch, De Iside 46/7, gegebenen Form Areimanios (vgl. Aristoteles nach Diogenes Laertius, Vit. Philos. Prooem. 8) allzu evident:119 Aŋrō Ma(i)niiuš (Nom.) / Aŋrahe Ma(i)niiə̄uš (jav.) Areimanios (1. Jh. n. Chr.) Arimanius (2./3. Jh. n. Chr.) Ahrēman/Ahreman120 (mp. [3. Jh. nn. Chr.– ]); Arimanēs (Agathias, Hist. 2.24ff. [spätes 6. Jh. n. Chr.])

Der mithrischen Designation als deus entnahm Ugo Bianchi, dass es sich um keinen schwarzen Verehrungskult handeln könne.121 Nach Plutarchs Zeugnis (de Iside 46) ist die Bezeichnung „Gott“ für den Aŋra Mainiiu in der (mittelmeerischen) Antike tatsächlich nicht ganz ungewöhnlich,122 auch wenn Plutarch die iranischen ‚Götter’ sodann in ϑεόν / δαίμονα differenziert, offenbar eine Anlehnung an ir. ahura / daēuua.123 Im Gegenzug fungiert andernorts124 δαίμων als genereller Ausdruck für die einander opponierenden transzendenten Wesen (ἀγαϑὸν δαίμονα / κακὸν δαίμονα). Bei Eudoxos (Diog.Laert., Vit. Philos. Prooem. 6, 8) lauten deren Namen Ōromazdēs und Areimanios; Plutarchs Ōromazēs könnte Ergebnis einer (schon iranischen?) Assimilation sein.

Atar Firmicus Maternus (de err. prof. rel. 5) hatte die schlangenumwundene Gottheit der Mithräen als eine (weibliche125) Feuergottheit verstanden, die bei den Persern Verehrung genoss.126 Tatsächlich waren die Löwenköpfe in einer Weise konstruiert, dass aus ihnen Feuerschein herausflackern konnte, zumindest aber ihr Ra119 Arei-manios, Ari-manius und mp. Ahrē̆-man reflektieren im Vorderglied vermutlich einen

Genitiv (Aŋrahe > *Anrē).

120 Mmp. ʾhrmyn; pahl. LW ʾhlymn‘; arm. LW arhmn. 121 Bianchi 1975, S. 458. 122 Plutarch, de Iside 46: καὶ δοκεῖ τοῦτο τοῖς πλείστοις καὶ σοφωτάτοις. νομίζουσι γὰρ οἱ μὲν θ ε ο ὺ ς

εἶναι δύο καθάπερ ἀντιτέχνους, τὸν μὲν ἀγαθῶν, τὸν δὲ φαύλων δημιουργόν. οἱ δὲ τὸν μὲν ἀμείνονα θ ε ό ν, τὸν δὲ ἕτερον δ α ί μ ο ν α καλοῦσιν: ὥσπερ Ζωροάστρης ὁ μάγος, ὃν πεντακισχιλίοις ἔτεσι τῶν Τρωικῶν γεγονέναι πρεσβύτερον ἱστοροῦσιν. οὗτος οὖν ἐκάλει τὸν μὲν Ὡ ρ ο μ ά ζ η ν, τὸν δ᾽ Ἀ ρ ε ι μ ά ν ι ο ν καὶ προσαπεφαίνετο τὸν μὲν ἐοικέναι φωτὶ μάλιστα τῶν αἰσθητῶν, τὸν δ᾽ ἔμπαλιν σκότῳ καὶ ἀγνοίᾳ, μέσον δ᾽ ἀμφοῖν τὸν Μίθρην εἶναι: διὸ καὶ Μίθρην Πέρσαι τὸν μεσίτην ὀνομάζουσιν. 123 Dass in Asmodaeus des Tobitbuches eine Entlehnung von jav. aēšma- daēuua- vorliegt, ist wahrscheinlich (s. Clemen 1920, S. 218; Hutter 1999). 124 Aristoteles nach Diogenes Laertius, Vit. Philos., Prooem. 8. 125 Hier mag noch immer Her. 1.131 nachwirken. Die Figuren geben tatsächlich ihr Geschlecht nicht preis (s. Vermaseren 1965, S. 96). 126 Clemen 1920, S. 104.

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chen rot ausgemalt erschien,127 so dass unter der allgemeinen antiken iranischen Interpretation des Mithraskultes der dem Firmicus verhasste Kult als Schreckbild der persischen Feuerverehrung dargestellt werden konnte. Der Name des iranischen Feuergottes (der mit dem Wort für „Feuer“, air. *ātr-, identisch ist), der sich Cumont zufolge auch hinter Vulcanus auf mithrischen Dokumenten verbergen soll,128 erscheint in einem Graffiti auf einem römischen (St. Prisca) Gefäß (V 495), das angeblich für das Verbrennen von Kohle genutzt wurde.129 Dort werden drei Gottheiten, so zumindest nach dem ersten Leseversuch der schwer entzifferbaren Inschrift von Vollgraff 1955, angerufen: Te cauterio i Saturne i Ata[r i] Opi.130 Leider ist der schließende Konsonant von Atar ganz unleserlich und musste von Vollgraff ergänzt werden; seine Konjektur ist nicht unwesentlich von der Annahme einer mit dem Feuer in Beziehung stehenden Gefäßnutzung wie auch der Lesung „cauterio“ beeinflusst. Vollgraffs Lesung der Inschrift (wie auch seine Gefäßdeutung) wurde bereits 1958 von Egger stark in Zweifel gezogen, fand jedoch letztlich Vermaserens Zustimmung, der die Aufforderung wie folgt kommentiert: „Saturn und die Göttin Ops bilden das Götterpaar des goldenen Zeitalters; Atar ist der iranische Feuergott, der angerufen wird, wenn die Brandmarkung der Mysten vollzogen wird.131 In sprachlicher Hinsicht sind zwei Deutungen einer Lesung Atar möglich. Atar (= Ātar) könnte den Vok. Sg. von air. *ātṛ- (ātar-) darstellen (aw. ātarə); oder es liegt das nicht aus dem Nominativ stammende mir. Wort (bzw. Gottesname) ātur vor. Bei letzterer Alternative132 ist der Erhalt der Tenuis zu beachten.

Cautēs und Cautopatēs (°patis?) Die Namen der beiden in Iran unbekannten, als deus bezeichneten Fackelträger133 auf den mithrischen Reliefs haben seit langem Rätsel aufgegeben. Zwar weisen Laut- und Wortstruktur deutlich nach Iran, doch ist die Etymologie der Namen problematisch. Aus den Reliefdarstellungen wird ersichtlich, dass Cautēs und Cautopatēs, 1. zueinander in einem symmetrischen Verhältnis stehen (Cautēs mit aufgerichteter Fackel, Cautopatēs mit gesenkter Fackel), 2. Mithra in Klei127 Vermaseren 1965, S. 96f. 128 Siehe dazu Wikander 1946, S. 216. 129 Diese These ist vermutlich falsch (s. Breskow 1979, S. 495), gleichwohl forttradiert worden

(s. Breskow 1979, S. 496f.).

130 Die Übersetzung in Vernaseren 1965, S. 32, lautete: „Ich gebe Dir dieses Brandmal – komm

Saturn, komm Atar, komm Ops!“

131 Vermaseren 1965, S. 32, vgl. S. 91. Zum Problem und Vermaserens zeitweiligem Schwanken

in der Frage s. a. Breskow 1979, S. 495, der die Brandmarkung in den Mysterien überhaupt für einen „scholarly myth“ (S. 487) hält. 132 Siehe dazu Breskow 1979, S. 494 Fn. 10. 133 Cautae … / Deo Caut[ae]opathi auf den Altarinschriften in Rom, S. Stefano Rotondo (Panciera 1979, S. 87–96 und Fig. 2, Fig. 4; Merkelbach 1984, S. 178 Fn. 88.

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Tab. 1: Cautēs, Cautopatēs und Mithras in ihren systematischen Zusammenhängen.

dung und jugendlicher Gestaltung stark ähneln, 3. mit dem stiertötenden Mithra, der stets zwischen ihnen steht, eine fixe Gruppe und einen Erzählinhalt ausbilden. Da wir ihre lateinischen bzw. griechischen Namen kennen: Hesperus/Hesperos (< Ἑωσφόρος „Bringer der Morgendämmerung“) = Cautēs und Lucifer/Φώσφορος „Lichtträger“ = Cautopatēs, sie also offenbar Abend- und Morgenstern repräsentieren,134 bietet sich die Deutung des Miϑras als die mittägliche Sonne an und ist denn auch oft vertreten,135 ja selbst in der Antike schon so gegeben worden.136 Diese Anordnung des „dreifachen Mithra“ (tou triplasíou mithrou)137 ist zugleich eine Anordnung der höchsten Weihegrade (Perses / Heliodromus / Pater) und verbindet damit die Himmelssphären (Mond-SonneSterne) (Tab. 1).   Eine Etymologie, die nicht nur sprachlich unproblematisch, sondern auch kontextuell abgestützt zu sein beanspruchte, müsste diese grundsätzlichen Beziehungen zumindest teilweise reflektieren. Die etymologischen Versuche des 19. und früheren 20. Jh. waren diesbezüglich oft nachlässig und basierten teilweise auf konjezierten hypothetischen Wurzeln.138 134 Lucifer reitet der Aurora voraus (Breysig 1830, S. 69). Man vergleiche, dass in Yt 10.70

Vərəϑraγna dem erdumkreisenden Miϑra vorausfliegt (miϑrəm. … yazamaide. … ∥ yeŋ́ he. pauruua.naēmāṯ. vazaite. ∥ vərəϑraγnō. ahuraδātō.) 135 „In diesem Zusammenhang ist Cautes der Repräsentant des Sonnenstandes am Morgen (oriens); Mithras der Mittagssonne (mesítēs) und Cautopates des untergehenden Gestirns (occidens).“ (Vermaseren 1965, S. 58f.; vgl. Turcan 1981, S. 40). Freilich sind auch zahlreiche andere Deutungen vorgebracht worden (s. Turcan 1981, 45, Ulansey 1989, S. 62–66, 112–116; Beck 2004). 136 Pseudo-Dionysos Areopagita, Epistula 7, (6. Jh. n. Chr.): μάγοι τὰ μνημοσύνα τοῦ τριπλασίου Mίϑρου τελοῦσιν (zit. nach Vermaseren 1965, S. 58; vgl. Clauss 1990, S. 104). 137 Man beachte auch den dreiköpfigen (mit phrygische Mützen versehenen) Baum (V 1247; s. a. V 1137 [wo Mithras dem Baum aber nicht zugehört]). 138 Die Versuche sind zusammengestellt und besprochen in Schwartz 1975, S. 406–413; Schmeja 1975, S. 20f. Nach Gershevitch 1959, S. 68 und 151f. sind die Namen Cautēs und Cautopat̄s „nothing but variants of the Avestan Mithra’s most common epithet vouru.gaoyaoiti-“ „hav-

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Am leichtesten scheint es nun zu sein, das in der Literatur stets als „pates“ angegebene Kompositionshinterglied zu verstehen. Doch hat Schwartz richtig aus den überlieferten Formen erkannt,139 dass dessen Nominativform nicht notwendig °patēs, sondern möglicherweise °patis lautete.140 So ergeben sich eine Reihe von Deutungsmöglichkeiten: mithrisch °patēs/°patis

ir. °pātā̆ („geschützt“141 oder „Schützer“ [°pātar-]142) ir. pāta-143 (Kausativ von pat- „fallen“144) ir. °pati- „Herr“ ir. pa(i)ti, patiš „gegen“ (vgl. ai. prati) ir. paϑi „Weg“145 (Caut[ae]opathi in S. Stefano Rotondo)

Für den Namen Kauta ist von Schwartz die einfachste, jedoch bis dahin nie vertretene iranische Etymologie vorgeschlagen worden, air. *kauta- „klein“. Das Wort ist zwar im Air. nicht bezeugt, sehr wohl aber im Mir. und Nir.146 Das Pahlawi kennt kōdag (< *kautaka-) „klein, gering, niedrig“, und im Np. meint z. B. kūdagīh „Kindheit“. Schwartz hat diese Bedeutung auf den Aspekt der Jugendlichkeit bezogen,147 der ja bei Mithras bzw. der gesamten Dreiergruppe hervorsticht. Das Unschöne an einer Etymologie Kauta „Kleiner“ + „Herr“148 oder „Schützer“ etc. ist, dass zwischen den symmetrisch konstruierten Figuren Cautēs und Cautopatē/is eine unverständliche Asymmetrie im Namen einzöge.149 Man hätte ein Verhältnis wie z. B. zwischen ai. prajā́- „Nachkomme“ und prajā́-patiing, or providing, wide cattle-pastures“ (Cautes < *Gautes < *gauyti- < *gauyauti-; Cautopates < *gauyauti-pati- „grassland chief“, „synonymous with *varu-gauyauti-“). Die Etymologie scheitert an der Annahme des Wandels g > k, s. Schwartz 1975, S. 408f. 139 Schwartz 1975, S. 406 Fn. 1. 140 Zu den jenseits der Dative der Inschriften überlieferten Genitiv-Formen bei Porphyrios, De antro 24ff., Kαύτου / 〈Kαυτουπάτου〉, siehe Beck 2004b, S. 134f. mit Lit. 141 Vgl. den Namen μασαβάτης „von Grossen [Fürsten] geschützt“ (so Justi NB, S. 198) < med. *masa-pāta- ([aram. mspt]? Hinz 1975, S. 161) 142 Eine Wurzel *pat- „niederschlagen, töten“ ist von Brandenstein in Anschlag gebracht worden, s. Schmeja 1975, S. 21. 143 -pāta- findet sich u. a. auch in ir. Miϑra-Namen, s. elam. Mi-ut-ra-ba-da, gr. Μιτροβάτης, aram. Mtrpt. 144 Siehe dazu Schwartz 1975, S. 412. 145 Diese Etymologie ist m. W. noch nie vertreten worden. 146 *kauta- „klein“ nach mp. *kōd (arm. LW kotak) wurde bereits von Hübschmann 1895, S. 89 Nr. 871 rekonstruiert 147 Schwartz 1975, S. 413–419. 148 Man vgl. GrBd 33.15 *kōdag xwadāyān, womit die geringgeschätzen Parther bezeichnet werden. 149 Unklar bliebe i. d. R. auch die Relation der Kompositionsglieder. Man beachte EN wie *Haϑē-vīra (elam. NÜ?) < med. *haϑya-vīra- (ap. hašiya°) „a real man“ (Gershevitch 1969, S. 185; akzeptiert von Tavernier 2007, S. 197).

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GÖTZ KÖNIG

„Herr der Nachkommen“, welches im mithrischen System keinen Sinn ergäbe. Eine ingeniöse Annahme Schwartzens ist es daher, dass es sich bei dem Hinterglied – das dann als patis (nicht patēs) zu nehmen wäre – um die Prä- bzw. Postposition pati „gegen“ handele.150 Cautēs und Cautopatis wären folglich der „Kleine“ und der „dem Kleinen entgegen[steht]“. Sprachlich ist, soweit man der Etymologie von Schwartz folgen mag, von besonderem Interesse schließlich, dass die Formen a) noch nicht den für das sasanidische Mittelpersische charakteristischen Wandel der Tenues zu den Mediae zeigen, vor allem aber b) den Erhalt des Diphtongs –au-,151 der sich ja bereits schon in der Achämenidenepoche zu wandeln begann (gr. Δαρεĩος – ap. Dārayavauš ), jedoch noch vereinzelt in der gr. NÜ zu finden ist152 (ap. kapautaka-, gr. καπαῦτα [Strabo]; jedoch Capotes [Plinius]). In demselben Jahr, da Schwartzens Artikel publiziert wurde, veröffentlichte auch Schmeja einen Beitrag zu den griechischen und iranischen Wörtern im Mithraskult. Schmeja ist, anders als Schwartz, keineswegs von dem iranischen Charakter der Namen der beiden Fackelträger überzeugt. Für Schmeja liegt die Deutung aus dem Griechischen „klar … auf der Hand“. Dabei folgt er ganz wie Schwartz dem Prinzip, in den Namen der beiden Fackelträger Widerspiegelungen bestimmter Züge zu entdecken, die auch die Reliefs formulieren. Schmeja zufolge handelt es sich bei καύτης um regelrechtes Nomen agentis zu καίω (also „Anzünder, Brenner“), bei cauto-patēs um καυτόν „das Entzündete“, „das Brennbare“ und um regelgerecht gebildetes Nomen agentis πα(τη)τής „der etwas mit Füßen tritt“;153 cauto-patēs sei folglich einer, der die Fackel mit Füßen tritt. Beide Deutungen, sowohl jene aus dem Iranischen von Schwartz wie die aus dem Griechischen von Schmeja, haben etwas Unbefriedigendes. Schwartzens Etymologie bereitet Unbehagen zum einen ob des seltenen postponierten pati, zum anderen wegen des auffälligen Diphtongs. Schmejas Deutung überzeugt inhaltlich nicht: Nirgends auf den Reliefs tritt Cautopatēs seine Fackel mit den Füßen aus (er senkt sie vielmehr; die Beine zeigen gerade eine auffällige, von der Fackel fortweisende Kreuzstellung). In Cautēs/Cauto° scheint ein Bezug zu gr. καίω kaum abzuweisen zu sein (man siehe auch das oben zitierte, allerdings zweifelhafte, cauterio).154 Ebenso drängt sich indes im Hinterglied der Gedanke an das Iranische auf, in welchem Wörter und Namen auf °pāta- oder °pati- Legion sind. Sollte es unmöglich sein, dass in Cautopatēs eine Hybridbildung vorliegt? Yt 10.116 stellt eine Liste von Bündnis150 Siehe dazu Schwartz 1975, S. 421. Dieselbe Etymologie in Hinz 1975 NÜ, S. 152 (unabhängig

von Schwartz?). Nachgestelltes pati in ap. uzmayāpatiy.

151 Darauf weist schon Schwartz 1975, S. 419, s. a. S. 422. 152 Gewöhnlicher scheint au → ō zu sein (s. ap. Vaumisa → Ὠμίσης). 153 Schmeja 1975, S. 22 154 Auch Schwartz 1975, S. 421 weist darauf hin, dass im gr. Milieu ein Einfluss der Worte des

„Brennens“ (καυτήρ „Brenner“, καυτόν „gebrannt“) im Vorderglied vorliegen könnte.

IRANISCHES IM RÖMISCHEN MITHRASKULT: IRANISCHE WÖRTER

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sen (miϑra) zwischen einander verbundenen Personen(gruppen) vor; u. a. bindet solcher miϑra: antarə. aēϑriia. aēϑra.paiti. „zwischen dem (theologischen) Lehrling und Lehrherrn“. Wikander hat 1946 den (freilich fehlgeschlagenen) Versuch unternommen, in av. aēϑra.paiti- einen Priester „Feuer-/Brand-Herr“ zu entdecken. Es gehört indes zu den auffälligen Erscheinungen des Avesta, dass dessen Texte offenbar weder ewig brennende Feuer kennen, noch Feuertempel und auch nicht unter den allgemeinen Priestertermini einen, der dem Worte nach „Feuer-Priester“ bedeutet.155 Andererseits ist auf zweierlei aufmerksam zu machen: Zum einen ist die Bedeutung von Hērbed wie Mōbed nach Aufblühen des Feuerkultes, d. h. spätestens in der Sasanidenzeit, zumindest für Nichtiraner wohl immer die des „Feuerpriesters“ gewesen; zum anderen dürfte np. hēr „Feuer“ formal aus aēϑra- (> ēhr > hēr) stammen156 und seine Bedeutung erhalten haben, nachdem die aēϑrapaitis / hērbeds als Feuerpriester fungierten. Wohl nach Wandlung aller zoroastrischen Priester zu ‘Feuerpriestern’ wurde hēr aus dem nun als „Feuer-Herr“ verstandenen hēr-bed abgelöst und damit ein weiteres Wort für „Feuer“ geschaffen. Unter solcher Wandlung mag nun Miϑra nicht länger zwischen „Lehrling und Lehrherrn“ gewirkt haben, sondern zwischen „Feuer(schüler) und Feuer-Herrn“. Es ist freilich in chronologischer Hinsicht schwer abzuschätzen, wann sich das religiöse Gesicht Irans für Griechen und Römer zu dem dann in der Spätantike dominierenden und für Griechen und Römer so bemerkenswerten Feuerkultes zu verändern begann; den antiken Quellen zufolge ist für Kleinasien diesbezüglich wohl spätestens das 1. Jh. v. Chr. anzusetzen (Strabo, Buch XV, 3). Die in der veränderten iranischen Tradition auf das Feuer bezogenen Termini mögen dann in der griechischen Einflusssphäre (im Vorderglied) mittels semantischer griechischer Entsprechungen in den Mithras-Kult eingegangen sein.

Ōromasdēs In Verulamium (NW von London) wurde ein umgearbeiteter Denar des Augustus (RIC I 299) gefunden. Die Umarbeitung der Silbermünze fand wohl in der 2. Hälfte des 2. Jh. statt (V I, S. 287). Die abgegriffene Rückseite, bei der die Münzlegende entfernt wurde, zeigt Tarpeia mit den Sabinischen Schilden. Diese Szene wurde in die Felsgeburt des Mithras umgedeutet. Die Vorderseite des Denars, die eigentlich das Bildnis des Augustus trug, wurde vollständig umgearbeitet und „in place of the obverse a fresh inscription … incised” (ebd.); sie lautet: 155 Wir finden lediglich den Unterpriester im Opfer ātrə.vaxš- (der allerdings wohl namensge-

bend für arm. atrušan < parth. *ātarōšan „Feuertempel“ geworden ist).

156 Siehe Darmesteter 1892–1893 II, S. 472 Fn. 195; Wikander 1946, S. 20. Die pers. Lexikogra-

phen erklären hērkade mit ātaškade (Wikander 1946, S. 19). Zum Vers Muʿizzīs s. Wikander 1946, S. 20, Fn. 4.

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ΜΙΘRΑC ΩΡΟΜASDΗC (V 827)

Es handelt sich dabei um das Dvandva „Miϑra-Ahura Mazdā“, das wir ähnlich im Avesta finden:157 Ny 2.12 m i ϑ r a . a h u r a . bərəzaṇta. aiϑiiajaŋha. aṣ̌auuuana. „die beiden hohen, dem gefährlichen (Dasein) nicht zugehörigen, mit Aṣ̌a versehenen Miϑra und Ahura 〈Mazdā〉“158

Das Kompositum wird auch von Plutarch in Μεσορομάσδης159 (< ap. *MiçaAuramazdā; vgl. den mp. EN Mihr-Ohrmazd) bezeugt, das ein Äquivalent „dans l’Iran mazdéen mais non proprement zoroastrien“160 zu ai. mitrāváruṇa (RV 8.26.8) sein dürfte. Die enge Beziehung/Konkurrenzsituation beider Götter im Jungavesta wird auch daran deutlich, daß Miϑra in Yt 10.1 als dem Mazdā in der Verehrung als gleichwertig gilt. Die Form ΩΡΟΜASDΗC hat ihre nächsten Verwandten in Aristoteles’ Ὠρομάσδης (nach Diogenes Laertius, Vit. Philos. Prooem. 8), Plutarchs °ορομάσδης (woneben [De Iside] Ὠρομάζης161) und im Ὠρομάσδου vom Nemrud-Dagh (V 32, 33). Alle drei Formen stehen dem Altpersischen (ahuramazdā) näher als dem Mittelpersischen oder Parthischen (ʾwhrmzd, hwrmzd; ʾḥwrmzd),162 zeigen jedoch bereits die spät-ap. Monophtongisierung (au > ō). Einen Reflex des Mp. finden wir hingegen bei Agathias (Hist. 2.24ff.) Ὀρμισδάτης (< *Ohrmizd-dād < *Ahuramazdā dāta?) in spätsasanidischer Zeit. 157 Zusammenstellungen der beiden Gottheiten finden sich im Iranischen an verschiedenen Or-

ten/Zeiten: Ōromozd-odo-Miro auf der arab.-baktr. Inschrift von Tochi (Waziristan) (dazu Humbach 1975, S. 140; vgl. Humbach 1966–67 II, plate 26); der mp. EN Mihrohrmazd (s. Justi 1895, S. 216); auf der Inschrift A3Pa §4 des Artaxerxes III werden nur Ahuramazdā und Miϑra genannt (zum Vergleich mit dem Obigen s. Turcan 1981, S. 14). Zu Miϑra u. Ahura s. Gershevitch 1959, S. 44–58; vgl. auch miϑrō.rašnu(ca) Yt 13.3 (dazu Gershevitch 1959, S. 37). Eine lange Diskussion hat sich darüber entsponnen, wer der iranische Baga ist (s. bes. Boyce 1981), der sich insbesondere auch in Zusammenstellung mit Miϑra findet (z. B. EN *Bagamiϑra; Mug. Nov. 4, R 10f. ZKn βγy ZY ZKn myδrʾ nβʾnty „bei Baga und bei Mithra“ [vgl. dazu Kljaštornyj/Livšic, 1972, S. 79, Fn. 8]; vgl. Dietz 1978). 158 Vgl. Y 1.11, 2.11 ahuraēibiia. miϑraēbiia. bərəzaṇbiia. aiϑiiajaŋhaēbiia. aṣ̌auuanaēbiia. und Yt 10.25, 145. 159 Siehe dazu Wikander 1952. 160 Wikander 1952, S. 66. Wikander glaubt, Plutarch „reproduise un usage populaire“, der in den Inschriften ohne Parallele bleibt (S. 68). 161 z- < *-zz- < *-zd- oder –z < -zz < -zd? Vgl. das Toponym Hormuz. 162 Zur Schreibung mit stimmlosem s vgl. ŠKZ gr. Ὡρμισδ (EN) für Hōrmizd.

IRANISCHES IM RÖMISCHEN MITHRASKULT: IRANISCHE WÖRTER

Westen

325 Osten

aav. Miϑra „Vertrag“

(mit.) Mi-it-ra-aš-ši-il

1500 v. Chr. 1000 v. Chr.

med. *Miϑra

ai. Mitrá „Vertrag; EN“

jav. Miϑra „Vertrag; EN“

ap. LW mi-ϑ-r, mi-t-r; *Miça „EN“(a)

500 v. Chr.

ars. mp. parth. myhr mṯr‘/Miϑr „Sonne“ Kappadokien: ϑεῷ δικαίῳ Μιθρᾳ(b) Kilikien: (μιϑρa) Pontos: (EN Mithradatēs) 0

lat. Mithras(c) „EN“ ≈ Sol

Kommagene: ApollonMίϑρου / Helios arm. meh(ean) „Tempel“; Mher (ein Riese)

sas. mp. mṯr‘/Mihr „Vertrag; Freundschaft; Sonne;(d) EN“

mmp. myhr/ Mihr (e)

sogd. myš-/(ʾ)myδr„Vertrag“(?);(f) „judge of creation“(g)

baktr. μιιρο, μι υρο „Sonne“(h)

500 n. Chr. np. mehr „Liebe; Sonne“

1000 n. Chr.

pašto myēr, mīr „Sonne“

(a) Zur appellativen Bedeutung vgl. ap. hamiçiya- „aufständisch“ (wörtl. coniuratus, s. Branden-

stein / Mayrhofer 1964, S. 124 mit zahlreicher Lit.). (b) V 18. „Der gerechte Gott“ ist dann auch der Beiname des Antiochos von Kommagene (ca.

70–35 v. Chr.), s. dazu Merkelbach 1984, S. 59 Fn. 29. (c) Siehe auch Mithraica „Miϑrasmysterien“. (d) Siehe bes. GrBd 5, 5A. (e) Mihryazd ist im Mparth. der tertius legatus (parth. Narisafyazd, hridīg frēštag → sogd.

myšyy βγyy = əštīk frēšte), im Mmp. aber der spiritus vivens, der allerdings in dem mp. Hymnenfragment M 867 u. M 3845 (Sundermann 1978, S. 487ff.) einer Gestalt hndy(š)yšn tʾ(ryg) „Dark ἐνϑύμησις“ im eschatologischen Geschehen gegenübersteht und nicht nur kosmogonischen Charakter hat. Diese Gestalt versucht Sundermann mit der Āz zu identifizieren. Die „dunkle Reflektion“ erinnert aber auch an den „dunklen Mihr (Sonne)“ (mihr ī tomīg) aus GrBd 5, 5A. (f) Siehe Sundermann in Humbach 1979, S. 723; anders Dietz 1978. (g) dʾmʾyγtyh VJ 1205; Gershevitch 1954, S. 35; Humbach 1979, S. 721 Fn. 15. (h) Siehe MacDowall 1975, S. 142–150, und vor allem Humbach 1975. Humbach weist darauf hin, dass a) der HΛΙΟC der griechischen Münzserien als ΜΙOΡΟ (< Miϑra-) der baktrischen wiederkehrt (ikonographisch durch Schwert, Nimbus und Handgeste gekennzeichnet), und b) Mioro dem Mao (Mond) entgegengestellt wird, eine im Avesta unbekannte Opposition. Im Skr. finden sich als LW für „Sonne“ „heli“ und „mihira“ (s. Scheftelowitz 1933; Humbach 1969, S. 46f.).

Tab. 2: Der Name des Mithra(s) und seine Bedeutungen.

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GÖTZ KÖNIG

Mithras/Mithrēs Ich hatte eingangs gesagt, dass sich der grundsätzliche Wandel der Mithrasforschung im 20. Jh. daran ablesen lasse, dass man dem ir. Mithra ein nominativisches –s angefügt hat (gr. Mithrēs). Zu erkennen ist aber auch, dass der Name mit Flexionsvokal entlehnt worden ist, wäre anders eine männliche Gottheit doch kaum der a-Deklination eingefügt worden.163 Sodann ist zu bemerken, dass ein weiteres iranisches Element im Gottesnamen nicht getilgt und von der Forschung offenbar auch nicht registriert wurde, das aspirierte th im Wortinneren. In den allermeisten Fällen wird der Name des Gottes in den lat. Inschriften mit th geschrieben, Wiedergabe eines gr. ϑ.164 Dieses gr. ϑ seinerseits kann wohl nichts anderes sein als die Wiedergabe des ir. ϑ in der Form Miϑra, die dem Avestischen, dem über Namensformen rekonstruierbaren Medischen165 bzw. Entlehnungen aus diesen Sprachen ins Altpersischen (gegen echt.-ap. miça-) entspricht. Tatsächlich sehen wir, das die Lautung -ϑr- mit dem Wandel zu –hr- den gesamten Iran beherrscht und in Kleinasien dann offenbar als gelehrte (?)166 Form übernommen wurde (Tab. 2). Im Iranischen selbst hat sich die Gruppe ϑr wohl bereits in vorchristlicher Zeit zu hr gewandelt (s. parth. mihr);167 einzig das konservative Schriftbild des Pahlavi mtr‘ und sogd. myδr- belegen eine ältere Lautung *miϑr. Die air. Lautung hat auf asiatischem Gebiet wohl am längsten in den anatolischen Namen wie Mithradatēs überlebt, und die Griechen halten an ihr fest (s. Strabo 15.3.13 „Sonnengott, welchen sie Mithrēs nennen“).168 163 Herodots Unkenntnis der iranischen Sprachverhältnisse (s. bes. Her. 1.139, 149) ließ ihn dar-

um Miϑra (Her. „Mitra“) für eine weibliche Gottheit halten (Her. 1.131).

164 Es ist darum eher irreführend, wenn Clauss 1990, S. 13 unter der Überschrift „Mitra und Mi-

thras“ schreibt „Mitra, so nenne ich den persisch-hellenistischen Gott zur Unterscheidung vom Gott des römischen Mysterienkultes“. „Mitra“ ist allein die indische Namensform, erscheint jedoch vereinzelt in der NÜ, so bei Herodot (s. Her. 1.131). Breskow 1978, S. 18 glaubt, die gr. Namensform sei aus dem Lateinischen transkribiert. Wie aber ist sie ins Lateinische gelangt? 165 Schmitt 2003. Siehe die Namen in Tavernier Nr. 4.2.1103ff. Dass der medische *Miϑra in der NÜ vor dem Einsetzen air. Texte belegt sei, ist von Mayrhofer 1978, S. 323 bestritten worden. 166 Herodot gibt sowohl als medische wie persische Lautung „Mitra“ (s. in Her. 1.110 den Medernamen Μιτραδάτης), in Her. 1.131 den Gottesnamen (bzw. bei ihm Göttinnenname) der „Perser“ Μίτραν. Hingegen hat z. B. Ktesias (ca. 390 v. Chr.) ap. Athen. X, 45, Мίϑρῃ (s. Vermaseren 1965, S. 16; Cumont 1923, S. 9); auch Strabo 10.14.9 gibt ϑr (ein armenischer Statthalter sendet jährlich 10000 Füllen an die Perser zum Fest des Miϑra). Demgegenüber ist der Spirant im Namen des Zaraϑuštra in der NÜ verlorengegangen, s. z. B. Plutarch, De Iside 46, Ζωροάστρης (Vit. Num. c. 4: ζωρόαστρις). 167 Vgl. Cantera 1998, S. 366 168 Zur Frage der Bedeutungen des Gottesnamens und der Gottesfunktionen s. bes. Schmidt 1978.

IRANISCHES IM RÖMISCHEN MITHRASKULT: IRANISCHE WÖRTER

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Zusammenfassung Die acht untersuchten Wörter und Namen, die im inschriftlichen mithrischen Material erscheinen, und für die iranische Herkunft vorgeschlagen wurde, sind in wenigstens drei Fällen problematisch. Sebesio scheint kein ir. LW zu sein, sondern ein nicht-iranischer Gottesname. Die Götternamen Cautēs/Cautopatēs/°is könnten m. E. Hybridbildungen darstellen, wobei °patēs/°is aus iranisch pati- „Herr“ entlehnt sein mag. Das Adjektiv nabarze dürfte zwar iranisch sein (und zwar nicht-persisch [-rz-]), seine Etymologie aber bleibt, trotz der zu vermutenden Parallelität zu invictus, unsicher. Sprachhistorisch ist darum diesen Wörtern kaum mehr zu entnehmen, als dass sie vor dem Wandel der Tenuis entlehnt wurden. Aufschlussreich ist das Grußwort nama, das im Lateinischen / Griechischen dieselbe Syntax wie im Iranischen zeigt und noch nicht die für das Mitteliranische typische Erweiterung (mp. namāz) aufweist. Soweit die sehr problematische Inschrift V 495 den Gottesnamen Ātar überhaupt führt, würde auch dieser den Erhalt der Tenuis zeigen. Die Namen Ōromasdēs und Arimanius haben ein Gepräge, das noch Spuren der air. Bildungen aufweist. Es handelt sich um Latinisierungen jener iranischen Namensentlehnungen ins Griechische, die dort seit dem 4. Jh. v. Chr. nachzuweisen sind. Im Namen des Mithras schließlich können wir ebenfalls die Zugehörigkeit zur air. Sprachschicht feststellen, sowohl im Erhalt des Deklinationsvokals wie der Spirans, Phänomene, die auch die kleinasiatische Namensgebung des 1. Jh. v. Chr. noch bewahrt. Die Wege, auf denen die iranischen Lehnwörter in den Mithras-Kult gelangten, dürften unterschiedliche sein. Die Gottesnamen waren, von Ātar abgesehen, der antiken Literatur, die sich mit Iran beschäftigte, gut bekannt. Das Gruß- und Verehrungswort nama wird an Kontaktzonen Irans mit dem Westen gewandert sein; es erscheint auffällig oft in Dura Europos. Die Caut°-Wörter könnten Calques und eine Referenz an den iranischen Feuerkult und seine Priester sein. Ōromazdēs, Arimanius und Ātar sind (neben Miϑra) sämtlich Namen von führenden transzendenten Wesenheiten im Zoroastrismus. Ihr (vereinzeltes) Erscheinen im Miϑras-Kult weist darauf hin, dass dieser sich nicht strikt gegen die iranische Religion abgrenzte, die ihm jedoch teilweise über deren griechische Darstellung vermittelt wurde. Inwieweit die Namen Cautēs/Cautopatēs/°is dem Zoroastrismus verpflichtet sind, hängt nicht unwesentlich von der etymologischen Namensausdeutung ab. Das Wort nama ist der air. Kultsprache entliehen,169 während nabarze möglicherweise eine spezielle Prägung aus dem iranischen Miϑra-Kult darstellen könnte. 169 Das Überleben iranischer Sprache im Kult des 2. Jh. n. Chr. wird von dem Kommagener

Lukian von Samosata bezeugt (Schwartz 1975, S. 422 Fn. 56; Cumont 1896–1898 II, S. 22).

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IRANISCHES IM RÖMISCHEN MITHRASKULT: IRANISCHE WÖRTER

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Jörg Rüpke Das Imperium Romanum als religionsgeschichtlicher Raum Eine Skizze

1. Einführung: Die Fragestellung Die Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit ist von grundlegender Bedeutung für die Religionsgeschichte Europas wie von paradigmatischem Wert für Religionsgeschichte überhaupt. Es ist die Epoche der Entstehung eines auch West-, Nordwest-, Mittel- und Südosteuropa ebenso wie den Nahen Osten und Nordafrika umfassenden Kulturraums, eines administrativ und ökonomisch eng vernetzten Raumes, der die schnelle Diffusion von Ideen und Medien ermöglichte. Dieser Raum und diese Epoche sehen die Ausbreitung des Christentums wie die, eines ästhetisierten Paganismus, der für die Renaissance die Voraussetzungen schuf. Die bisherigen Darstellungen der Religionsgeschichte dieses Raumes beschränken sich auf additive Beschreibungen einzelner Kulte und Religionen; selbst in jüngsten Kirchengeschichten wird die Geschichte des Christentums allenfalls (und auch das nur punktuell) vor einer jüdischen Folie gesehen, ansonsten geschieht sie in einem fast luftleeren Raum.1 Für die Geschichte „römischer Religion“ in diesem Zeitraum liegt der Akzent fast ausschließlich auf dem Kaiserkult, der als einigendes Band des Römischen Reiches betrachtet wird. Die Frage nach „Reichsreligion“ und „Provinzialreligion“,2 nach Globalisierungs- und Regionalisierungsprozessen in der antiken Religionsgeschichte, hat diese Perspekti1 Siehe Jörg Rüpke, Early Christianity in, and out of, context, Journal of Roman Studies 99,

2010, 182–193.

2 Das Binom verdanke ich Hubert Cancik; im DFG-Schwerpunktprogrammes 1080 „Römi-

sche Reichs- und Provinzialreligion: Globalisierungs- und Regionalisierungsprozesse in der antiken Religionsgeschichte“ (2000–2008) diente es als Leitbegriff. Einen Überblick über die beteiligten Projekte und Publikationen gibt Jörg Rüpke (Hrsg.), Antike Religionsgeschichte in räumlicher Perspektive. Abschlußbericht des Schwerpunktprogramms 1080 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Römische Reichsreligion und Provinzialreligion“. Tübingen 2007. Wichtige Erträge sind gesammelt in: Hubert Cancik / Jörg Rüpke, Die Religion des Imperium Romanum. Koine und Konfrontationen. Tübingen 2009.

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ve verändert – und das möchte dieser Beitrag zeigen.3 Er kann keine vollständige Religionsgeschichte des Imperium Romanum bieten, aber er führt zu der These, dass die entscheidende Veränderung der römischen Kaiserzeit nicht der Wechsel oder die Zunahme der Zahl von Religionen waren, sondern eine Veränderung des Phänomens und gesellschaftlichen Stellenwertes von „Religion“ überhaupt erfolgte: Aus einem Medium der individuellen Thematisierung menschlicher Kontingenzen (Krankheit, Unsicherheit, Tod) und öffentlicher politischer Identitätsbildung ist sie zu einem umfassenden Zusammenhang menschlicher Lebensführung, Formulierung von Gruppenidentitäten und politischer Legitimation geworden. Der Blick richtet sich auf die Medien, in denen Religion realisiert und verbreitet wurde (Institutionen, Texte, Recht), und vor allem auf die Fragen, wie sich Religion in Diffusions- und Immigrationsprozessen veränderte, in welcher Geschwindigkeit Praktiken und Institutionsformen übernommen oder verändert wurden. So wird deutlich, dass nicht „Religionen“ oder „Kulte“ miteinander in Wettbewerb treten, sondern in einem kulturellen Großraum Symbole immer wieder neu verknüpft werden und Professionelle mit großem Aufwand Gruppengrenzen errichten und zu sichern versuchen. Der Titel eines im Jahr 2009 erschienen Bandes hält das mit seinem Singular „Die Religion des Imperium Romanum“ in provozierender Weise fest.4 Am Anfang muss die Klärung dessen stehen, was überhaupt mit der Frage nach einer „Reichsreligion“ gemeint ist: die religiösen Korrelate der Ausbildung des politischen Großraums „Imperium Romanum“ – und genau das ist das Thema des folgenden Abschnitts. Im Unterschied zu älteren Ansätzen geht es aber nicht mehr darum, festzustellen, ob Iuppiter-, Mithras- oder Christus-Kult „Reichsreligion“ geworden seien. Es geht vielmehr darum, von einer Perspektive, die nach „Kulten“ und „Religionen“ fragte und sich in einer langen Forschungstradition und der beeindruckenden Reihe von „Études préliminaires aux religions orientales dans l’empire romain“ niedergeschlagen hat, umzustellen auf eine Perspektive, die Räume thematisiert. Das lenkt den Blick auf die Veränderung „römischer Religion“ im Zentrum wie im Export aus diesem Zentrum in die Peripherie der Provinzen. Begleitet wird das von der These, dass unter dem Eindruck einer solchen Diffusion auch in der Peripherie wie in den anderen kulturellen Zentren dieses Raumes, Alexandria, Athen, Jerusalem, Baalbek, Veränderungsprozesse erfolgt sein müssten. Das zeigt sich etwa am Kult der ägyptischen, aber schon in hellenistischer Zeit weit verbreiteten Götter Isis und Sarapis. Ihr Erscheinen in den Grenzräumen des Imperium ist ein fast sichereres Zeichen rö3 Das Folgende beruht auf Jörg Rüpke, Reichsreligion? Überlegungen zur Religionsgeschichte

des antiken Mittelmeerraums in römischer Zeit, Historische Zeitschrift 292, 2011, 297–322.

4 Cancik/Rüpke, Religion (wie Anm. 2).

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mischen Einflusses als der in vielfältigen Gleichungen benutzte Name Iuppiter.5 Die Rede von „orientalischen Kulten“ verdeckt diesen Sachverhalt völlig.6 Hier dient der Begriff der „Provinzialreligion“ als heuristisches Instrument, nach der Interaktion von lokalen und regionalen administrativen und politischen Veränderungen mit kulturellen, genauer: religiösen Entwicklungen zu fragen. Insofern verbindet sich die transfergeschichtliche Fragestellung mit einem komparativen Zugriff auf einen Raum, der von ganz unterschiedlichen politischen und kulturellen Formationen geprägt war, von der griechisch geprägten Städtelandschaft des Ostens bis zu den schwach urbanisierten Gebieten des lateinischen Südens (Nordafrika), Nordwestens und Nordostens (Nordwesteuropa, Balkanraum). Die beiden globalisierungstheoretisch inspirierten Begriffe „Globalisierung“ und „Regionalisierung“7 erweisen sich hier als heuristisch überaus fruchtbar – und zugleich unbrauchbar als deskriptive und substantialistische Begriffe. Das lenkt den Blick auf die Konzeptualisierung der identifizierten Prozesse durch die Zeitgenossen selbst – und die wechselseitigen Folgen der Veränderungen von Konzepten und sozialen Dynamiken antiker Religion: eine vielschichtige „entangled history“.

2. Ausgangspunkt: „Römische Religion“ Was ist überhaupt die “römische Religion”, von der ich meinen Ausgangspunkt nehme? Der Begriff ist zunächst eine Abbreviatur für religiöse Zeichen, Praktiken und Vorstellungen in der Stadt Rom, ist also lokal konnotiert. Natürlich konnten sich auf den unterschiedlichen sozialen Ebenen sehr unterschiedliche und unterschiedlich dichte Komplexe von „Zeichen, Praktiken und Vorstellungen“ ausbilden, aber der Austausch dieser Zeichen ist erstaunlich. Der wohl im vierten Jahrhundert schreibende Autor einer Biographie des Alexander Severus konnte sich problemlos vorstellen, der Kaiser habe in seinem Lararium Statuetten unterschiedlichster Gestalten gehabt, die wir heute auf “Paganismus”, “Judentum” und “Christentum” aufteilen würden.8 Die Terminologie des Opferwesens war weit verbreitet, wörtlich praktiziert wie metaphorisch umgedeu5 Exemplarisch dazu die Befunde in Thessaloniki: Christopher Steimle, Religion im römischen

Thessaloniki, in: Jörg Rüpke (Hrsg.), Antike Religionsgeschichte in räumlicher Perspektive. Tübingen 2007, 66–72. 6 Zur Kritik des Konzeptes der „orientalischen Religionen“ siehe Corinne Bonnet / Jörg Rüpke / Paolo Scarpi, Religions orientales – culti misterici. Neue Perspektiven – nouvelle perspectives – prospettive nuove. (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge, Bd. 16.) Stuttgart 2006 und Corinne Bonnet / Jörg Rüpke, Introduction, in: Trivium 4, 2009, 1–10. 7 Noch immer grundlegend: Roland Robertson, Globalization. Social Theory and Global Culture. London 1992; Roland Robertson / Kathleen E. White (Hrsg.), Globalization. Critical Concepts in Sociology. London 2003. Mihaela Holban (Erfurt) bereitet dazu eine Arbeit vor. 8 Hist. Aug. Alex. Sev. 29, 2.

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tet. Flöten und Orgeln, Versschemata und literarische Muster (Epos, Biographie, Brief) waren lingua franca für alle. Rom steht aber auch für das Imperium Romanum mit seinen vielleicht fünfzig Millionen Einwohnern. Militärisch mühsam verteidigt, administrativ nur schwach durchdrungen, vielsprachig und wirtschaftlich durch den Primat der jeweils eigenen Region geprägt, war diese Struktur doch erstaunlich präsent, sprach Todesurteile, prägte mit dem Edikt des Provinzgouverneurs als Revisionsinstanz schon das lokale und lokalsprachliche Recht der ersten Instanzen,9 verbreitete das Bild des Kaisers auf Münzen und in Statuenform in überraschender Geschwindigkeit.10 Wie kein anderer Gott11 plausibilisierte der jeweilige Augustus, und zwar vor seinem Tode und der offiziellen Divinisierung zum Divus Augustus (Tiberius, Claudius …), die überregionale Identität und Präsenz der sonst primär lokal12 vorgestellten und verehrten Götter. Die Verehrung dieses omnipräsenten und doch individualisierbaren Gottes war ebenso wie der Kult der Dea Roma oder des Genius senatus Teil der Repräsentation römischer Herrschaft wie Feld lokaler Distinktion – und voller Konsequenzen für die stadtrömische Wahrnehmung der eigenen Institutionen. Diese römische Religion der späten Republik und Kaiserzeit hatte eine lange Geschichte, war in stetem kulturellen Austausch13 mit mittelitalisch-etruskischen wie griechisch-hellenistischen Staaten und Kulturen entstanden. Dieser Austausch ist keineswegs als friedlich vorzustellen. Rom war Teil einer Staatenwelt, die Arthur Eckstein jüngst als „interstate anarchy“14 charakterisiert hat; permanenter Waren- und Bevölkerungsaustausch, Kriegsbeute und Sklavenerwerb, Allianzenbildung wie Wettbewerb und Abgrenzung prägen die Entwicklung. Religion hat unter diesen Bedingungen ein eigenes Gesicht. Sie ist, gemessen an neuzeitlich-europäischen Religionsvorstellungen, erstaunlich heterogen, lokal, individuell – und diese Seite ist in der Forschung viel zu wenig beleuchtet worden.15 Aber sie ist zugleich ein Instrument politischer und sozialer Kohäsi9 Das ist besonders deutlich an Vertragstexten aus Palästina (das Babatha-Archiv): Hannah

M. Cotton, The Guardianship of Jesus Son of Babatha. Roman and Local Law in the Province of Arabia, in: JRS 83, 1993, 94-108. 10 Bezeichnend für die Möglichkeiten ist das Statuenprogramm aus Chiragan (Haut-Garonne), das zum Teil Kinder- und Jugendbildnisse von Kaisern im Abstand weniger Jahre Altersdifferenz aufweist. 11 Clifford Ando, Imperial Ideology and Provincial Loyalty in the Roman Empire. Berkeley 2000, an verschiedenen Stellen und Clifford Ando, The Matter of the Gods. Religion and the Roman Empire. Berkeley 2008, 119. 12 Ando, Gods (wie Anm. 11), 56f. 13 Zum Konzept Peter Burke, Kultureller Austausch. Frankfurt am Main 2000. 14 Arthur M. Eckstein, Mediterranean Anarchy, Interstate War, and the Rise of Rome. Berkeley 2006. 15 Das ist nun Gegenstand der Kollegforschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ (DFG, FOR 1013) an der Universität Erfurt.

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on, zumal in der Führungsschicht, legt Wert auf Kontrolle, Zentralisierung und Anwesenheit. „Öffentliche“ Rituale (sacra publica) werden von den Magistraten geleitet, Priesterschaften werden durch die Mitglieder der senatorischen Elite besetzt, militärische und ökonomische Erfolge werden in Ritualen und Sakralarchitektur auf Dauer gestellt. Und zugleich entziehen sich die Götter, die durch die Stiftung von Statuen und Tempeln ins Leben gerufen werden, der Kontrolle, künden durch Vorzeichen ihr Missfallen an, zerstören mit Blitzen die eigenen Tempel, rücken nicht von der Stelle, wenn man einen Tempelneubau plant. Priester werden gewählt, aber nur von einer ausgelosten Minderheit des Volkes, politische Konflikte werden durch einander widersprechende Zeichenbeobachtungen verschärft. Gerade weil sie nicht völlig der politischen Kontrolle unterliegt, bietet Religion eine wichtige Legitimationsquelle für Herrschaft, bleibt eine „dritte Autorität“ (Georg Simmel). So ist eine solche Religion weder durch den öffentlich finanzierten Kult, eben die sacra publica, noch durch ihr „Pantheon“ – die Summe individueller, nur teilweise kontrollierter Import- und Innovationsentscheidungen – zu charakterisieren. Ebenfalls fehlen Kodifikationen religiöser Traditionen. Die Idee, Religion als Wissen zu kodifizieren, tritt in Rom erst in der späten Republik auf, wird erst in Schriften, die gemäß Harriet Flowers Periodisierung16 nach Ende der Republik entstanden sind, umgesetzt: Ciceros zweites Buch „Über die Gesetze“ am Ende der fünfziger Jahre v. Chr., Varros „Altertümer der menschlichen und göttlichen Dinge“ wenige Jahre später. Beide blieben weitgehend wirkungslos. Erst der Versuch, religiöse Gruppenbildungen, die nicht mit politischen oder alten kulturellen Grenzen zusammenfallen, auf Dauer zu stellen, führte zu erfolgreichen Kanonisierungsprozessen auf der Basis alter Texttraditionen: So versuchten sich „Judentum“ und „Christentum“ selbst zu erfinden und voneinander zu unterscheiden.17 Vor dem skizzierten Hintergrund bietet es sich an, „Religion“ weder primär als Organisation zu fassen noch primär von ihren – sicherlich zentralen – Zeichen her zu untersuchen, sondern als eine Form von kommunikativem Handeln: Menschen versuchen mit „Göttern“ in Kontakt zu treten, kommunizieren mit ihnen und wiederum untereinander über jene die Götter betreffende Kommunikation. Eine solche Definition ist weder im engen Sinne substanzialistisch, noch funktionalistisch; sie fragt nach Handeln, das die Annahme der sozialen Präsenz übermenschlicher Adressaten voraussetzt, fragt nicht nach den wechselnden kulturellen Formen, die die Chiffrierung von Kontingenz oder die Legitimation von Herrschaft übernehmen: Nur so lässt sich die Veränderung im Funktionsspektrum von „Religion“, die mir für die Kaiserzeit charakteristisch zu sein scheint, erfassen. 16 Harriet I. Flower, Roman Republics. Princeton 2010. 17 Guy G. Stroumsa, Le fin de sacrifice. Paris 2005.

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3. Inhalte und Medien überregionaler Kommunikation Wenn von symbolischer Kommunikation gesprochen wird, ist damit impliziert, dass Kommunikationsinhalte insbesondere in den Medien zum Ausdruck kommen. Das gilt vor allem angesichts einer Quellenlage, in den Dedikationsinschriften, die im wesentlichen die göttlichen Adressaten und die Stifter nennen, einen Großteil der Zeugnisse ausmachen. Dennoch möchte ich analytisch Inhalt und Medium zu trennen versuchen, also einen kommunikations-, nicht einen medientheoretischen Zugang wählen. Anlass des Rituals, der Weihung konnten sowohl unmittelbar private oder lokale wie überregionale Intentionen sein. Ein Beispiel für letzteres liefern die Weihungen an Victoriae in Africa.18 Dass die Verehrung einer Siegesgöttin gehäuft in Grenzregionen und strategischen Orten nachzuweisen ist, erscheint nicht weiter verwunderlich. Dedikationen an Victoria Parthica oder Armeniaca im selben Gebiet zeigen allerdings, wie Dedikanten ihre Situation im Rahmen des Gesamtreichs interpretieren.19 Eine vergleichbare Rückbindung lokalen Handelns an die Reichsebene, vermittelt durch die Person des Kaisers, besteht in den stereotypen Dedikationen pro salute imperatoris, die mit den unterschiedlichsten Adressaten und eigenen Anliegen verbunden werden können. Dieser „Inhalt“ lässt sich im gesamten römischen Reich nachweisen. Viele Entwicklungen bleiben aber regionaler Natur. Das weitgehende Fehlen von Städten und entsprechenden Priesterstrukturen zugunsten tempelbezogener und zentralisierter Priesterschaften charakterisiert Ägypten.20 Der Kult des Senats blüht in Asien, ablesbar etwa an jugendlichen Genius-senatus-Darstellungen auf Münzen.21 Nicht einmal für die überregionalen Kaiserkultstätten ganzer Provinzen oder Räume, die ara trium Augustorum (Lugdunum), die ara Ubiorum (Köln), die griechischen koina (Provinzorganisationen), lässt sich ein flächendeckendes Organisationsprogramm nachweisen, auch wenn die Diffusion durch die faktische Praxis von Mitgliedern der Provinzialadministration nicht unterschätzt werden darf.22 Selbst auf dieser Ebene fehlt indes ein Interesse an einer institutionellen Isormorphie der religiösen Dimensi18 Elisabeth Smadja, La Victoire et la religion impériale dans les cités d’Afrique du nord sous

l’empire romain, in : Les grandes figures religieuses. Fonctionnement pratique et symboliques dans l’antiquité. Paris 1986, 503–519. 19 Siehe ebd., 509–514. 20 David Frankfurter, Religion in Roman Egypt. Assimilation and Resistance. Princeton 1998, 242. 21 Diesen Hinweis verdanke ich einem Vortrag Günther Schörners. 22 Dazu Rudolf Haensch, Capita provinciarum. Statthaltersitze und Provinzialverwaltung in der römischen Kaiserzeit. (Kölner Forschungen Bd. 7.) Mainz 1997; s. a. Rudolf Haensch, ˝Religion˝ und Kulte im juristischen Schrifttum und in rechtsverbindlichen Verlautbarungen der Hohen Kaiserzeit, in: Dorothee Elm von der Osten / Jörg Rüpke / Katharina Waldner (Hrsg.), Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich. (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge Bd. 14.) Stuttgart 2006, 233–247.

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on der Provinzverwaltung. Der Kult der domus divina blüht in der Germania superior.23 Dieser Befund ist nicht wirklich überraschend. Die zirkummediterrane Geographie ist durch eine kleinräumige Gestaltung ausgezeichnet; das Meer ermöglicht zwar schnelle Verbindungen, die sich vereinzelt schon im zweiten vorchristlichen Jahrtausend greifen lassen und im Gefolge Alexander des Großen intensiviert wurden; die Kleinräumigkeit führt aber gerade unter der Kontaktmöglichkeit zu regionalen Differenzierungen.24 Wenn man dennoch nach einer religiösen Koine fragt, findet man sie leicht auf medialer Ebene. Die Überlieferung römerzeitlicher religiöser Praktiken wird durch Weih- und Grabinschriften dominiert: ein mediengeschichtlich spannender Befund, der leicht hinter Statistiken von Götternamen und dem Versuch von Sozialstatistiken der Dedikanten verloren geht. Die Errichtung von dauerhaften Monumenten als Schriftträger oder mit Schriftträgern – die in den nicht griechisch geprägten Kulturräumen im ersten nachchristlichen Jahrhundert beginnt und erst in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht, bevor sie in nachseverischer Zeit, also seit der Mitte des dritten Jahrhunderts dramatisch einbricht –, diese Praxis ist nicht nur Indikator von Romanisierung und Alphabetisierung, sondern selbst eine Veränderung religiöser Praxis mit weitreichenden Folgen.25 Religiöses Handeln gewinnt dadurch eine neue kommunikative Dimension, die über die am Bitt- oder Dankritual Beteiligten weit hinausgeht. Religiöses Handeln wird in hohem Maße individualisiert26 und dauerhaft dokumentiert. Auch dort, wo göttliche Adressaten nicht durch Kultbilder oder klare Ortszuweisungen präsent sind, können sie über ihre schriftliche Nennung differenziert markiert und dauerhaft präsent gemacht werden. Jenseits der oft beschränkten kultischen Infrastruktur gibt es damit Raum für Traditionsbildungen wie hochindividuelle Ausdrucksformen kultischer Kompetenz. Üblicherweise verweist das permanente Medium der Weihinschrift auf ein ebenso verbreitetes Ritual zurück, das Gelübde (votum). In Notsituationen, in gesundheitlichen oder wirtschaftlichen, aber auch politischen und militärischen Krisen eröffnet dieses Ritual eine intensivierte Form der Kommunikation mit Gottheiten und unter Umständen den Einsatz von situationsspezifisch ungeeigneten oder gar noch nicht vorhandenen Mitteln: Für Gesundung etwa wird ein 23 Peter Herz, Neue Forschungen zum Festkalender der römischen Kaiserzeit, in: Hubert Can-

cik / Konrad Hitzl (Hrsg.), Die Praxis der Herrscherverehrung in Rom und seinen Provinzen. Tübingen 2003, 47–67. 24 Peregrine Horden / Nicolas Purcell, The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History. Oxford 2000. 25 Siehe Rudolf Haensch, Inscriptions as Sources of Knowledge for Religion and Cults in the Roman World of Imperial Times, in: Jörg Rüpke (Hrsg.), The Blackwell Companion to Roman Religion. Oxford 2007, 176–187. 26 Mary Beard, Writing and Religion. Ancient Literacy and the Function of the Written Word in Roman Religion, in: Dies. u. a. (Hrsg.), Literacy in the Roman World. (JRA Suppl. 3.) Ann Arbor 1991, 35–58.

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Weihgeschenk versprochen. Diese einseitige Kommunikation wird im Erfolgsfall häufig monumentalisiert, die versprochene Statue wird nach der Genesung mit einer Basis und einer Inschrift versehen, die selten medizinische Details, wohl aber die Kommunikationspartner und den Kommunikationstyp – das Gelübde – benennt: votum solvit lubens merito, „das Gelübde hat der Stifter gerne weil verdientermaßen eingelöst“. Das ist ein so geläufiges Formular, dass es regelmäßig als VSLM abgekürzt wurde. Auch andere Rituale, die weit mehr Infrastruktur verlangen, wurden Teil dieser Koine. Wettkämpfe und Inszenierungen (ludi circenses und scaenici), die den improvisierten, vielfach aber monumentalisierten Bau von Theatern und Amphitheatern notwendig machten,27 gewannen wohl die meiste Popularität – weit über die zeitlichen Grenzen der Antike hinaus! Von Africa bis Britannien lässt sich an der Existenz solcher Bauwerke das Vorhandensein römischer Kultur ablesen,28 es waren wenige Städte, etwa im syrischen Raum, die sich dieser Form von Religion verschlossen.29 Weitere architektonische Zeichen wie der Tempelbau und anthropomorphe Statuen breiten sich – auf eine schon verbreitete ostmediterrane Tradition zurückgreifend – noch intensiver aus, als es bereits seit der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. – bis in die keltische Welt hinein – vereinzelt der Fall gewesen ist. Das bleibt nicht ohne Bedeutung für die Formierung polytheistischer Religion überhaupt, die so über die Sprache und die Wahl von „natürlichen“ Orten hinaus eine Möglichkeit gewinnen, Differenzierungen zwischen göttlichen Gestalten auf Dauer zu stellen. Die Attraktivität dieser religiösen Techniken hat im Imperium Romanum zahllose Mischformen hervorgebracht, unterschiedliche Attribute für dieselbe Gottheit und unterschiedliche Namen für das gleiche ikonographische Zeichen sind dabei die geläufigsten. Auch in alten und komplexen religiösen Traditionen können die neuen „Moden“ aufgenommen werden, erscheinen syrische Tempel auf den ersten Blick als klassisch griechisch-römische Bauten, die erst bei näherem Hinsehen andersartige Rituale und vielleicht auch theologische Konzepte vermuten lassen: Wo das Dach des griechisch-römischen Tempels ein Regenschutz und Unterbau für Statuen ist, wird es hier wie in ägyptischen Bauten zu einem wichtigen Raum kultischer Aktivitäten. Interessant ist ein Blick auf Kalender in ihrer medialen Form wie ihrer sozialen Praxis. Sie sind ein gutes Beispiel für das Zusammenspiel eines kleinen Kerns in hoher Frequenz auftretender Zeichen – zu denken ist neben dem Herrscherkult 27 Siehe Frank Bernstein, Complex Rituals. Games and Processions in Republican Rome, in:

Jörg Rüpke (Hrsg.), Companion (wie Anm. 26), 222–234.

28 Für Gallien s. Thomas Lobüscher, Tempel- und Theaterbau in den tres Galliae und den ger-

manischen Provinzen: Ausgewählte Aspekte. (Kölner Studien zur Archäologie der römischen Provinzen Bd. 6.) Rahden 2002. 29 Dazu Maurice Sartre, The Middle East Under Roman Rule. Cambridge, MA, 2005, 299–318.

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an die große Zahl und die weite Verbreitung von Dedikationen an Iuppiter Optimus Maximus und (schon mit Abstand) Weihungen an die übrigen Mitglieder der kapitolinischen Trias, Juno und Minerva - und einer großen und wachsenden Zahl lokal präsenter, aber häufig importierter Zeichen (Götter). Als Medium religiöser Erinnerung gewann er mit seinen Feiertagen (feriae) und Tempelstiftungsfesten (dies natales templorum) schon seit dem Beginn des zweiten Jahrhunderts v. Chr. in Latium an Verbreitung. Aber erst die Kalenderreform Caesars (46 v. Chr.) verschaffte der graphischen Form des Jahreskalender, den fasti, eine Popularität, die zu den teilweise gewaltigen italischen Marmorkalendern der Augusteischen und Tiberianischen Zeit führte.30 Diese registrieren zwar zunächst die traditionelle stadtrömische Religion in großer Breite, insbesondere die neuen Stiftungsfeste der zahlreichen Restaurierungen von Tempeln.31 Die wachsende Zahl der Kaiserfeste mit ihren ausführlichen historischen Notizen („weil an diesem Tag der Angehörige des Kaiserhauses X die Tat Z beging“) dominierte aber schnell den Kalender, wie die Fasti Amiterni tiberianischer Zeit zeigen. Das hatte mediale Konsequenzen: Marmor ist nicht das geeignete Material, um das schnelle Wachstum der Kaiserfeste, aber auch die Bereinigung beim Thronwechsel unmittelbar nachzuvollziehen. Inhaltlich zeigen die späteren Texte,32 dass die Schichten von Festen der großen Dynastien – Augustus, Vespasian, die Adoptivkaiser, die zeitgenössischen Herrscher – den Kalender dominieren, darüber hinaus aber außerhalb Roms nur einzelne Elemente stadtrömischen Kultes enthalten. Hier werden die Festlisten lokal gestaltet. Aber nach den Flavischen leges municipales werden Tage „wegen der Verehrung des Kaiserhauses“ als Ausschlusstage für Gerichtssachen definiert.33 Als Tage für lokale öffentliche oder private Rituale genießen sie einen hohen Rang.34 In einer Welt zahlreicher lokaler Kalender ist die Bedeutung gemeinsamer, korrekt übersetzter Festdaten sowohl als Bestätigung alter persönlicher Zeitraster des „Migranten“ wie als Zeichen der translokalen Konstanz dieser religiösen Kom30 Jörg Rüpke, L’histoire des fasti romains. aspects médiatiques et politiques, in: Revue his-

torique de droit français et etranger 81, 2003, 125–139; vgl. Denis Feeney, Caesar’s Calendar. Ancient Time and the Beginnings of History. Berkeley 2007. 31 Zum Datumswechsel bei Restaurierungen Karl Galinsky, Continuity and Change. Religion in the Augustan Semi-century, in: Jörg Rüpke (Hrsg.), Companion (wie Anm. 26), 73f. 32 So insbesondere der monumentale Wandkalender der stadtrömischen Fasti porticus (Jörg Rüpke, Kalender und Öffentlichkeit. Die Geschichte der Repräsentation und religiösen Qualifikation von Zeit in Rom. (RGVV Bd. 40.) Berlin 1995, 86–90) wie das Feriale Duranum, die ebenfalls severische Liste von Militärfesten, aus dem mesopotamischen Garnisonsort (P. Dura 54 = Robert O. Fink, Roman Military Records on Papyrus. (Philological Monographs of the American Philological Association Bd. 26.) Cleveland 1971 / RMR, nr. 117). 33 C. 92 = Lex Irnit. 10 B 25–51; s. Rüpke, Kalender 1995, 540–546. 34 Peter Herz, Untersuchungen zum Festkalender der römischen Kaiserzeit nach datierten Weih- und Ehreninschriften. Diss. Mainz 1975.

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munikationsform nicht zu unterschätzen. Die auf das Herrscherhaus wie verstorbene Kaiser bezogenen Kultdaten prägen schon im ersten Jahrhundert n. Chr. den Kalender nicht nur in Mittelitalien. Kalenderreformen unter Caesar und Augustus orientieren sich vielfach in ihren Fixpunkten wie Monatsnamen am Kaiserhaus. Die Kalenderreform in der Provinz Asia mit ihrem Jahresanfang am Geburtstag des Augustus liefert hier ein gutes Beispiel.35 Die Reichweite des Kaiserkultes ist aber größer. Die Bitte um die Einrichtung eines solchen Kultes seitens einer Stadt, etwa im griechischsprachigen Osten, ist Element einer intensiven Kommunikation dieses Teils der Peripherie mit der Zentrale, mit Rom, aber auch Teil einer Kommunikation innerhalb der Peripherie, zwischen Städten im Wettbewerb um die größere regionale Bedeutung, um die prachtvollste urbanistische Gestaltung. Der Titel eines Neokoros, eines „Hüters des Kaiserkultes“, markiert eine Auszeichnung in diesem zwischenstädtischen Prestigewettbewerb. Aber es sind nicht nur juristische Personen wie Städte, die hier kommunizieren. Innerhalb der Städte sind es wenige oder einzelne, die über die Mittel zu solchen Projekten und die notwendigen Kontakte zu Provinzverwaltung, römischen Patronen oder stadtrömischen Ansprechpartnern verfügen. Simon Price hat ausführlich dargestellt, wie lokale Eliten den Kaiserkult als Handlungsraum zu gestalten verstehen, der Kompetenz und Großzügigkeit, städtische Solidarität und gesellschaftliche Überlegenheit – und bei all dem auch: Loyalität zur politischen Führungsmacht – darstellen lässt.36

4. Konzeptionen „unserer“ und „anderer“ Religion und Religionen Wie wurden die Entwicklungen reflektiert? Welche Begriffe standen zur Verfügung? Und was ließ sich mit diesen Begriffen machen? Ein Ausgangspunkt für diese Frage ist wiederum bei den Texten der 50er und 40er Jahre des ersten Jahrhunderts v. Chr. zu gewinnen. Zunächst ist festzustellen: Für Cicero ist das “Wir” problematisch geworden. An der Oberfläche des Textes der „Gesetze“, im rhetorischen Gestus betreibt Cicero Universalisierung. Diese Universalisierung erfolgt auf einer naturrechtlichen Basis, die Cicero im ersten und zweiten Buch ausführlich darlegt.37 Das betrifft in besonderer Weise das Religiöse. Die Welt bildet eine Einheit von Göttern und Menschen (1, 23). So lässt sich auch die religiöse Praxis naturrechtlich gewinnen (1,60). Entsprechend gelten die leges de religione (2, 17) „nicht allein 35 Umberto Laffi, Le iscrizioni relative all’introduzione nel 9 a. C. del nuovo calendario della

provincia d’Asia, in: Studi Classici e Orientali 16, 1967, 5–98.

36 Simon R. F. Price, Rituals and Power. The Roman Imperial Cult in Asia Minor. Oxford

1984.

37 Dazu ausführlich Klaus Martin Girardet, Die Ordnung der Welt. Ein Beitrag zur philoso-

phischen und politischen Interpretation von Ciceros Schrift de legibus. Wiesbaden 1983.

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dem römischen Volk, sondern allen guten und starken Völkern“ („non enim populo Romano sed omnibus bonis firmisque populis leges damus“ (2, 35)). Und doch betreibt Cicero zur gleichen Zeit Abschließung. Als „gute und starke Völker“ nennt Cicero neben dem römischen Volk faktisch allein die Griechen. Die Formulierung der Regelungen soll sicherstellen, dass auch ihre legitimen Traditionen zum Erlaubten zählen, wie der Kommentar immer wieder deutlich macht.38 Hier tritt neben ein „Wir“ ein (an Atticus gerichtetes) „Ihr“, das aber beide verbindet. Das aber macht nur noch deutlicher, wie sehr unter dem Vorzeichen der Universalisierung faktisch Ausgrenzung betrieben wird. Gegen den ersten Anschein ist Ciceros Verbot aber auch Indikator eines Erfolges. Cicero verfasst seine Gesetze nicht nur aus der Perspektive der institutionalisierten öffentlichen Kontrolle durch die ausführlich beschriebenen Priesterschaften. Die Formulierung erfolgt vor dem Hintergrund einer Moral, die durch adlige Tugenden geprägt ist. Diese werden im ersten Buch unmissverständlich aufgelistet: „liberalitas, patriae caritas, pietas, bene merendi de altero … uoluntas, referendae gratiae uoluntas“ – Generosität, Vaterlandsliebe, Frömmigkeit, Fürsorge, Dankbarkeit (1, 43). Die constitutio religionum aber richtet sich an alle Bürger, setzt eine Generalisierung der oberschichtlichen Normenwelt voraus. Das wird deutlich, wenn wir uns klar machen, dass erst durch die lex Ogulnia von 300 v. Chr. die wichtigen Priesterschaften für Plebejer geöffnet wurden. Die Frage, ob möglicherweise nur Patrizier originär das Recht zur Auspikation haben, wurde bis in die augusteische Zeit hinein diskutiert. Dieser Demokratisierungsprozess hat eine höhere Disziplinierung zur Folge,39 wie sich auch in anderen hellenistischen Städten (Rom schließe ich in diese Gruppe ein) ablesen lässt: Theophrasts Charakterzeichnung des deisidaimon („Gottesfürchtigen“ beziehungsweise bei Theophrast schon „Abergläubischen“) geht Ciceros Gesetzen deutlich voraus. Die Wahl der Gattung „Recht“ und „Gesetze“ macht das politische Interesse, das Interesse an einem Reformprogramm klar.40 Dass Cicero auf die Publikation verzichtet, unterstreicht das nur: Die politische Basis einer „Promulgation“ geht ihm mit der Entwicklung des Bürgerkrieges gerade verloren. Die juristische Systematisierung normiert so präzise, dass sie die Möglichkeiten von Sanktionen eröffnet, auch wenn diese nur in wenigen Fällen in „De legibus“ expliziert werden. Die Strafwürdigkeit religiösen Fehlverhaltens wird denkbar. Wie stellen sich vor diesem Hintergrund die Grenzen des Systems und die Möglichkeit ihrer Ausweitung dar? Es ist bemerkenswert, dass sich Cicero bereits 38 Z. B. 2, 26. 28. 29. 35–41. 45. 56. 59. 62–67. 69. Selbstverständlich fallen darunter auch Bei-

spiele von griechischer Religion in Kleinasien.

39 Vgl. für erwartetes Verhalten der Bürger in anderen Feldern für das demokratische Athen

Matthew R. Christ, The Bad Citizen in Classical Athens. Cambridge 2006.

40 So Elizabeth Rawson, The Interpretation of Cicero’s De legibus, in: Aufstieg und Niedergang

der römischen Welt I.1, 1973, 334–356.

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im zweiten Absatz seiner Religionsgesetze mit dem Problem des religiösen Separatismus („separatim nemo habessit deos neve novos neve advenas …“ – „niemand sollte eigene neue oder fremde Kulte haben“) befasst. Aber er „löst“ das Problem, indem er es in eine – offensichtlich brüchige – Dichotomie von Privat und Öffentlich, und eben zugleich: der öffentlichen, priesterlichen Kontrolle des Privaten verschiebt. Außengrenzen werden damit nicht reflektiert. So wie die Römer ihre öffentliche religio (im Singular) hatten, so hatten Andere ihre eigenen: „Jedes Gemeinwesen hat seine Religion und wir die unsere, Laelius“ („sua cuique civitati religio, Laeli, est, nostra nobis“) formuliert er in der Rede für Flaccus.41 Das schafft weder Wahl- noch Kooperationsmöglichkeiten – und vor allem reflektiert es nicht die komplexe Zusammensetzung der römischen Bevölkerung,42 die ja genau das Ausgangsproblem, die Wahl neuer und importierter Götter, schafft. Diesen Lösungen entspricht auch jene Konzeptualisierung von Religionsrecht, die die erstmals in der Lex Ursonensis (ILS 6087) greifbaren Regelungen für römische Kolonien und Munizipien bieten. Religion wird nur in einem kleinen Bereich geregelt, der die Gefahr der Interferenz mit administrativen Strukturen mit sich bringt. Für diesen Bereich gibt es einen entsprechenden (und kleinen) Apparat an sacerdotes publici und Verfahren zur Definition eines Festkalenders. Regeln über Kulte beschränken sich im Falle Ursos auf die kapitolinische Trias und den von dem Gründer der Kolonie favorisierten Venus-Kult, in den Flavischen Munizipalgesetzen, wie schon gezeigt, vor allem auf den Kult der kaiserlichen Familie. Gellius beklagt im zweiten Jahrhundert sogar das Fehlen klarer Regeln, die die Romähnlichkeit der Kolonien sicherstellen.43 Ein weiter Bereich von Religion bleibt so nicht geregelt, weder privilegiert noch verboten. Damit wird deutlich, dass es auch im zweiten Jahrhundert, auf dem Höhepunkt der geographischen Ausdehnung des römischen Reiches keinen bewussten „Export“ von Religion gibt. Wenn etwas exportiert wird, ist es ein implizites Konzept von Religion, von Religion im öffentlichen Raum: Dieses lässt sich – der Einfachheit, nicht des Systemszwanges halber – mit einigen wenigen religiösen Zeichen – domus divina, divus Augustus, Iuppiter, kapitolinische Trias – füllen. Das Fehlen eines bewussten Kultexports rückt im übrigen die faktische Rolle des Heeres in ein klareres Licht. Als Transporteur von Religion (zentralen Kulten zunächst) kann das Heer kaum überschätzt werden. Das hängt mit seiner Mobilität zusammen, aber auch der Selbstverständlichkeit einer differenzierten religiösen Praxis, die um so eher weiterer Differenzierung zugänglich war. Die bevorzugte ökonomische Position von Legionären, das Prestige dieser Position und damit die Stärke des Wunsches, Zugehörigkeit zu dieser Organisation zu de41 Cic. Pro Flacco 69. 42 Siehe David Noy, Foreigners at Rome. Citizens and Strangers. London 2000. 43 Gell. 16,13,9, dazu Clifford Ando, ‘Exporting religion: Colonies and municipal laws.’ In: A

Companion to Roman Religion, hrsg. v. Jörg Rüpke. Malden 2009, 429–445, hier 431.

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monstrieren, sowie schließlich die Kommunikationssituation in weiter räumlicher Trennung von allen „natürlichen“ Bezugsgruppen hatten darüber hinaus die mediengeschichtlich entscheidende Konsequenz, Schriftlichkeit zu prämieren. Wenn Verwandte nicht greifbar waren, allenfalls Vereinsgenossen aus einer militärischen Einheit, die immer eine Verlegung zu gewärtigen hatte, schien Schrift die Chancen eines individuellen Totengedächtnisses zu erhöhen. Dass auch die Wirkung einer Grabinschrift nur von begrenzter Dauer war, zeigen dichte Folgen von Bestattungen an gleicher Stelle, die auf die Lage älterer Gräber keine Rücksicht mehr nehmen.44 Römische und antik-mediterrane Inschriftenkultur fanden somit gerade über soldatische Grabsteine und Weihungen Eingang in provinziale religiöse Praktiken. Die auf deren Leserschaft und die Autoren beschränkte Verbreitung römisch-griechischer Kultpraktiken lässt sich gerade an der Frühphase der Romanisierung der nordwesteuropäischen Provinzen ablesen.45 Ansätze zu einer weitergehenden Reflexion finden sich aber. Sie nehmen zunächst ihren Ausgangspunkt von Einzelbeobachtungen. Aufgeschreckt durch einen berühmten Fall von Betrug aus sexuellen Motiven, beriet der Senat im Jahr 19 n. Chr. über die Entfernung von sacra Aegytia Iudaicaque, von „ägyptischen und jüdischen Kulten“.46 Auch wenn die Maßnahmen ethnische und politische Implikationen nahelegen, muss die religiöse Dimension eine wichtige Rolle gespielt haben: Anhänger des Kults wurden ungeachtet ihrer ethnischen Identität verbannt. Religion ist auch Teil der von einem gewissen C. Cassius vor dem Senat gehaltenen Rede, die Tacitus ihm in seiner Schilderung der Diskussion über die kollektive Tötung von Sklaven nach der Ermordung des Stadtpräfekten Pedanius Secundus durch einen Sklaven in den Mund gelegt hat.47 Die außergewöhnliche Mobilität, ermöglicht durch die Strukturen, Bedürfnisse und Möglichkeiten des römischen Reichs, führte zu einer Modifizierung der religiösen Landschaft. Ein Beobachter wie Minucius Felix, der Erfahrungen in Rom und Nordafrika gesammelt hatte, erkannte dies deutlich und verweist auf die Zeit, „bevor die Erde offen für den Handel war und die Völker ihre Riten und Verhaltensweisen vermischten“.48

44 Für diesen Hinweis danke ich John Scheid. 45 Siehe Georgia L. Irby-Massie, Military Religion in Roman Britain. Romanization and Po-

litization of Religion, in: Mnemosyne 4, 52, 1999, 158–181, hier 160; Greg Woolf, Becoming Roman. The Origins of Provincial Civilization in Gaul. Cambridge 1998. 46 Tac. ann. 2, 85, 5. 47 Tac. ann. 14, 4, 3. 48 Minucius Felix 20, 6.

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5. Konzeptualisierungsprobleme Das Verhältnis von „wir“ und „anderem“ blieb in all diesen Vorstellungen problematisch. Cicero hatte seine Problemanzeige auf die Götter fokussiert, aber er wusste, dass das keine angemessene Beschreibung des Problems ist. Im Fortgang des Textes wendet er sich den Ritualen zu und formuliert seine Eingangsregel um: „Ex patriis ritibus optuma colunto“ – „aus den traditionellen Riten ist das Beste auszuwählen zur Anwendung im Kult“ (2, 22).49 Es folgt das Festhalten einer Ausnahmeregel für den Kybele-Kult – eine begriffliche Fassung für das Fremde bietet Cicero auch hier nicht. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. war die Systematisierung von Kulten weiter vorangeschritten. Der Lexikograph Festus bietet zwar keine schärfere Differenzierung von öffentlichem und privatem Kult, führt aber weitere Unterkategorien an: „Publica sacra, quae publico sumptu pro populo fiunt, quaeque pro montibus, pagis, curis, sacellis: at privata, quae pro singulis hominibus, familiis, gentibus fiunt.” „Die öffentlichen Kulte sind jene, die auf öffentliche Kosten gefeiert werden, für das (römische) Volk, und jene, die zu Ehren des Septimontium, der pagi (der Dörfer im Umfeld), der curiae (der 30 alten Stimmbezirke) und der „Heiligtümer“ (vielleicht der 27 Argeer-Schreine innerhalb der Servianischen Stadtmauer) gefeiert werden. Private Kulte sind dagegen diejenigen, die für Individuen, Familien und die gentes (die namensgleichen Sippen) gefeiert werden“ (Festus 284, 18–21 L).

Die Klassifikation könnte auf Festus’ wichtigste Quelle, den spätaugusteischen Antiquar Verrius Flaccus zurückgehen, da wir dieselbe Klassifizierung bei dem augusteischen Historiker Dionysios von Halikarnassos finden (Ant. Rom. 2, 65, 2). Vermutlich im Rückgriff auf dieselben Quellen berichtet der spätantike Autor Macrobius von „individuellen Feiertagen“ (feriae … singulorum), zu denen er Geburtstage, Rituale, die auf Blitze reagieren, Bestattungen und Entsühnungen zählt (Sat. 1, 16, 8). Offensichtlich entspricht die so konstruierte Typologie der sozialen Formen von Religion nicht den sozialen Gruppen, die tatsächlich agieren. Der ganze Bereich der Kollegien fehlt. Die Terminologie zeichnet das Bild einer harmonischen Gesellschaft, die mit dem Haushalt beginnt, sich in den gentes fortsetzt und schließlich, in Details wie im allgemeinen, bei der Öffentlichkeit ankommt. Das hat mit der Realität divergierender Interessen, sozialen Barrieren, physischer Mobilität und individueller Abgrenzung nichts zu tun.50 Eine Kategorie wie „elective cults“ fehlt. 49 Der Kommentar legt die Zirkularität der Argumentation in erstaunlicher Offenheit dar. Da

sich auch die Traditionen verändern, muss das Beste als am ältesten und den Göttern am nächsten gelten (2, 40). 50 Rüpke 2007a, 24.

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Gleichermaßen fehlt auch der Blick auf die Folgen von Mobilität. Die wenigen Begriffe, die Festus – wohlgemerkt an anderen Stellen – liefert, und die ebenfalls auf Verrius zurückgehen dürften,51 legen die Grenzen der Konzeptualisierung offen. „Peregrina sacra appellantur, quae aut euocatis dis in oppugnandis urbibus Romam sunt +conata+, aut quae ob quasdam religiones per pacem sunt petita, ut ex Phrygia Matris Magnae, ex Graecia Cereris, Epidauro Aesculapi. Quae coluntur eorum more, a quibus sunt accepta.” „Fremde Kulte werden jene genannt, die für Götter vollzogen werden, die entweder aus belagerten Städten nach Rom ’herausgerufen’ wurden oder in Friedenszeiten aufgrund bestimmter religiöser Bedenken eingeholt worden sind, wie die Mater Magna aus Phrygia oder Ceres aus Griechenland oder Äskulap aus Epidaurus. Sie werden nach dem Brauch jener verehrt, von denen man sie empfangen hat” (Festus 268, 27–33 L).

Die Definition zeigt, dass hier die von Cicero mit publice acceptos beschriebenen Kulte – bereichert um die evozierten Götter52 – zusammengefasst werden. Auch für diese Götter gilt, dass sie in den traditionellen Ritualen zu verehren sind. So bleiben sie phänomenologisch „fremd“ (aber nicht feindlich); die von Beginn an einsetzende Assimilation wird nicht reflektiert. Genau diese Regeln zeigen sich in einem weiteren Begriff desselben Typs: „Municipalia sacra uocantur, quae ab initio habuerunt ante ciuitatem Romanam acceptam; quae obseruare eos uoluerunt pontifices, et eo more facere, quo adsuessent antiquitus.” „ ‘Landstädtisch’ werden jene Kulte genannt, die diese von Anfang an hatten, noch bevor sie das römische Bürgerrecht empfingen, und von denen die Pontifices wollten, dass jene (Städte) sie weiter pflegten und auf jene Weise durchführten, wie sie es von alters her gewohnt waren“ (Festus 146, 9–12 L).

Wie Ciceros Rede von der Religion jedes Bürgerverbandes schon früher gezeigt hatte (Flacc. 69), war es einfach, sich “Religion” eines anderen politischen Verbandes vorzustellen. Demgegenüber wurde die Bildung oder Stabilisierung von sozialen Gruppen oder Netzwerken durch Religion nicht reflektiert. Es war auch nicht der Begriff „Religion“ (im Singular oder Plural), der dafür in der Folgezeit zur Anwendung kam. Relevant wurden zwei Begriffe, die aus einem anderen Feld stammten.53 Secta, Übersetzung des griechischen hairesis, diente seit hellenistischer Zeit zur Unterscheidung philosophischer Schulen. Entsprechend 51 So auch Ando, Gods (wie Anm. 11), 134. 52 Dazu Giorgio Ferri, Iuno e evocatio, Stuttgart 2010. 53 Siehe Jörg Rüpke, Religiöser Pluralismus und das römische Reich, in: Cancik / Rüpke

(Hrsg.), Religion (wie Anm. 2), 340f.

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konnten andere untereinander vergleichbare Wahlmöglichkeiten in der Sprache philosophischer Richtungen ausgedrückt werden. Impliziert war damit ebenso ein gruppenspezifisches Wissen wie eine besondere Lebensführung. Auf beides zielte auch der Begriff disciplina. Schon in der späten Republik konnte er auf besondere Arten religiöser Wissensträger angewandt werden, Magier, haruspices, sogar Auguren. Auf Religionen wurde er umfangreicher aber – für uns erkennbar – erst in den christlichen apologetischen Texten seit dem ausgehenden zweiten Jahrhundert übertragen. In offiziellen Texten erscheint er nicht vor dem vierten Jahrhundert. Die terminologische Entwicklung verlief parallel zur religiösen, nämlich der Entwicklung von Lehrbeständen und Ethiken, religiösem Wissen also, und dem Interesse, Grenzen zu ziehen, Gruppen zu konstituieren. Zu diesen lang laufenden Prozessen traten kontingente Ereignisse hinzu. Wie Guy Stroumsa plausibel gemacht hat, bildete mit ihrem Einfluss auf die Entwicklung des Judentums und die Ausbildung eines eigenständigen Christentums die Zerstörung des Jerusalemer Tempels eine Wasserscheide.54

6. Versuch einer Entwicklungsskizze für die Kaiserzeit Wie lässt sich vor dem gewonnenen Hintergrund die Entwicklung der Kaiserzeit beschreiben? Eine einzelne oder kohärente Lösung kennt auch das Prinzipat nicht. Eine bewusste Religionspolitik in einem umfassenden Sinne gab es nicht. Die Forschungen des letzten Jahrzehnts haben deutlich gemacht, dass weder von einer politisch entworfenen Reichsreligion noch auch nur einem zentral gesteuerten und flächendeckend realisierten Kaiserkult die Rede sein kann.55 Die Konzeptualisierung des „Imperium“ selbst blieb in zentralen rechtlichen Bereichen – etwa für das Bodenrecht mit seinen religionsrechtlichen Konsequenzen – unzureichend; es war daher je lokale Aufgabe provinzialer Rechtssetzung und Rechtspraxis die Analogie mit den stadtrömischen Kategorien herzustellen.56 Dennoch zeugen die beschriebenen Reflexionen und Praktiken von einer wachsenden Komplexität und Bedeutung von Religion. Kult war mehr als die 54 Stroumsa 2005. 55 Siehe bes. Cancik / Rüpke, Reichsreligion und Provinzialreligion (wie Anm. 3); dies., Religi-

on (wie Anm. 2); Cancik / Hitzl, Herrscherverehrung (wie Anm. 24); Ando, Ideology (wie Anm. 11); Jörg Rüpke, Roman Religion – Religions of Rome, in: Ders. (Hrsg.), Companion (wie Anm. 26), 1–9. 56 Vgl. Gaius, Inst. 2, 7a: „Quod in provinciis non ex auctoritate populi Romani consecratum est, proprie sacrum non est, tamen pro sacro habetur“, mit Plin. epist. 10.50 (Trajan). Das Babatha Archiv aus der Provinz Arabia hat gezeigt, das römisches Bodenrecht durch das Edikt des Provinzverwalters schnell Verbreitung fand (ich bin Richard Gordon dankbar für den Hinweis). Zum Archiv s. Cotton, Guardianship (wie Anm. 10), und Benjamin H. Isaac, The Near East Under Roman Rule. Selected Papers. Leiden 1998, 159–181.

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natürliche Folge aus einer religiösen Neigung gegenüber einer kontingenten Gottheit. Er unterlag einer rationalen Erklärung. Er wurde universalen Maßstäben von Menschlichkeit unterworfen. Er war ein notwendiger Teil der Lebensweise einer Person, auf den die Trennung zwischen öffentlich und privat nicht angewandt werden konnte. Er war ein wirtschaftlicher und politischer Faktor. Er war Medium eines nichtreligiösen Diskurses. Diese Elemente waren weder neu noch beständig. Sie fügten sich zusammen mit Veränderungen in der Terminologie, mit der Kontrolle von religio durch ratio und fides.57 Die genannten Elemente fielen aber auch zusammen mit einem Beharren auf vera religio, „wahrer Religion“, mit disciplina, Lebensweise, und Moral58 sowie secta, einer Gruppierung, die weder öffentlich noch privat war. Christen deckten die Ursprünge der Spiele auf und behaupteten, sie seien religiöse Ereignisse.59 In den westlichen Provinzen wurde Religion durch ihre Nutzung von Inschriften und Architektur eines der wichtigsten Medien öffentlicher Kommunikation. Hinzu kam ein weiterer Faktor: Die Mobilität von stärker organisierten „Anhängern“ – über die allerdings bei weitem nicht bei jede Gottheit, religio und cultus verfügte – warf das Problem der translokalen Erkennbarkeit auf. Eine Stabilisierung wurde mit verschiedenen Mitteln erreicht. Das recht standardisierte Kultbild des Mithras, ungewöhnliche Rituale und ägyptische Dekoration im Fall von Isis,60 der Austausch von Briefen und Erzählungen durch die Christen kann man aus dieser Sicht als Äquivalente auffassen. Sie hatten jedoch sehr unterschiedliche Folgen für die Phänomenologie der jeweiligen Gesamtsysteme und deren Erfolg. Anders als Bilder konnten Erzählungen viel leichter verbreitet, angepasst und umformuliert werden,61 wie die Ausbreitung von Judentum und Christentum deutlich zeigte. Komplementär zu dem beschriebenen Prozess der Konzentration von Verbindlichkeit auf wenige Bereiche religiöser Praxis mit politischen Funktionen hatte sich nämlich ein wachsender Bereich nichtpolitischer Religion geöffnet, wie ihn die klassischen griechischen Poleis für die Oberschicht vor allem im Dionysoskult und in der eng damit verknüpften Orphik kannten.62 Die wachsende Ent57 Isidor, De differentiis 2, 139. 58 Siehe Paul Veyne, L’Empire Gréco-Romain. Paris 2005, 454–455. 59 Tert. Spect.; Lactanz, Epitome 58. 60 Allgemein dazu Robert Turcan, The Cults of the Roman Empire. Oxford 1992, 24–28. 61 Siehe Jas Elsner, Imperial Rome and Christian Triumph. The Art of the Roman Empire

AD 100-450. Oxford 1998, 235; Allan Cameron, Christiantity and the Rhetoric of Empire. The Development of Christian Discourse. (Sather Classical Lectures Bd. 55.) Berkeley 1991, 19. 38–43. 62 Nur knapp behandelt bei Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stuttgart 1977 (2. Aufl. 2010); Jan N. Bremmer, The Rise and Fall of the Afterlife. London 2002; Fritz Graf / Sarah Iles Johnston, Ritual Texts for the Afterlife. Orpheus and the Bacchic Gold Tablets. London 2007.

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politisierung des öffentlichen Raumes, die sich vor allem in den jüngeren Städten des Imperium Romanum feststellen lässt,63 trägt dazu noch einmal bei, fördert eine „Privatisierung“ von Religion. Wie bereits festgestellt, erfasst das Begriffspaar von „öffentlich“ und „privat“ den so entstehenden Raum aber nicht. In genehmigten oder faktischen Vereinsgründungen, in der Stabilisierung von Immigranten-Netzwerken durch Kultstiftungen, in der Quasi-Divinisierung von Angehörigen der ökonomischen Elite in Form hoch individualisierter Götterbeinamen, in der Wiederbelebung oder im Transfer von Heilkult- und Orakelstätten, in der Selbstverwurzelung durch Beteiligung an lokalen Kulten oder deren Modifikation durch die reichsweit agierenden Militär- und Verwaltungseliten oder Händler, schließlich in der Pflege überregionaler literarischer Kommunikation durch Intellektuelle: durch all das entsteht ein religiöses „Feld“ wachsender Stärke, das große Sichtbarkeit besitzt, ohne im administrativen Sinne „öffentlich“ zu sein. Unter den zuvor beschriebenen Bedingungen einer popularisierten aristokratischen Moral und einer universalisierten Bürgerlichkeit – seit der Constitutio Antoniniana des Jahres 212 n. Chr., die allen freien Bewohnern des Imperium Romanum das Bürgerrecht verlieh, auch im technischen Sinne64 – erfolgt die Selbststeuerung dieses Bereiches in verschiedenen, nicht rechtlichen Formen: Sie erfolgt durch philosophische Kritik und Auseinandersetzung65 – der wir die apologetischen Schriften der sich schließlich auch selbst als „Christianer“ bezeichnenden Juden und anderer Jesus-Anhänger und die Attacken eines Celsus verdanken. Sie erfolgt durch gesellschaftskritische Beobachtungen, die sich in satirischer Form niederschlagen – von Juvenals „Saturae“ bis Lucians „Pseudoprophetes Alexandros“. Sie erfolgt im philosophisch motivierten superstitio-Diskurs eines Seneca und Plutarch, der ebenfalls vor der Kritik der eigenen öffentlichen religiösen Traditionen nicht haltmacht66 - zumindest in eben diesem Diskurs.67 Und sie erfolgt schließlich in einem Ausgrenzungsdiskurs, der universalistisch 63 Siehe Andreas Bendlin, Peripheral Centres – Central Peripheries. Religious Communica-

tion in the Roman Empire, in: Cancik / Rüpke (Hrsg.), Reichsreligion (wie Anm. 5), 35–68.

64 P. Giess.ß 40 = FIRA 1, 88. 65 Siehe Harold W. Attridge, The Philosophical Critique of Religion under the Early Empire,

in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II.16, 1, 1978, 45–78.

66 Marion Lausberg, Untersuchungen zu Senecas Fragmenten. Berlin 1970, 225f. hat wahr-

scheinlich gemacht, dass Min. Fel. 24, 11 auf Senecas „De superstitione“ zurückgehen; dann würden hier die senatorischen und ritterlichen Priesterschaften der Salii und Luperci lächerlich gemacht. Sie stellt zurecht fest, dass Seneca in seiner Kritik an öffentlichem Kult besonders weit geht (Dies., Senecae operum fragmenta. Überblick und Forschungsbericht, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II.36, 1989, 1879–1961, hier 1896). 67 Siehe für Seneca Aldo Setaioli, Seneca and the Divine. Stoic tradition and personal developments, in: International Journal of the Classical Tradition 13, 2007, 333–368, hier 357. Für Plutarch herausgestellt durch Hugh Bowden, Before Superstition and After. Theophrastus and Plutarch on Deisidaimonia, in: Past & Present 199, 2008, 56–71, hier 64.

DAS IMPERIUM ROMANUM ALS RELIGIONSGESCHICHTLICHER RAUM

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argumentiert: Menschenopfer sind Barbarei, Gruppen, die Brandstiftung, Unzucht und Anthropophagie betreiben, werden vom „odium humani generis“, vom „Hass auf das Menschengeschlecht“ getrieben.68 Erst hier schlägt die „bürgerliche“ Kritik in Kriminalisierung um, kommt das Strafrecht ins Spiel. Das hat natürlich auch dort überall seinen Platz, wo es um Schädigung an Besitz, Leib oder Leben (maleficium) geht, oder dort, wo Wissen gesammelt wird, das politischen Umsturz vorbereiten könnte (divinatio, curiositas). Die Benutzung religiöser Formen für diese Untaten liefert keine Entschuldigungsgründe, zählt nicht als mildernde Umstände. Hier gibt es nun eine Religion, die die des Reiches ist und dennoch Außengrenzen kennt: eine secta catholica. Das vorstehend Gesagte bleibt angesichts der Komplexität der Prozesse eine Skizze. Sie steht vor dem Hintergrund von Untersuchungen zu den Medien, in denen Religion realisiert und verbreitet wurde (Instititutionen, Texte, Recht) und Untersuchungen repräsentativer Beispiele, wie sich Religion in Diffusionsund Immigrationsprozessen veränderte, in welcher Geschwindigkeit Praktiken und Institutionsformen übernommen oder verändert wurden.69 Immer wieder wird darin deutlich, dass nicht „Religionen“ oder „Kulte“ miteinander in Wettbewerb treten, sondern Symbole in einem kulturellen Großraum immer wieder neu verknüpft werden und professionelle Religionsvertreter mit großem Aufwand Gruppengrenzen errichten und zu sichern versuchen. Ich hoffe so Anstöße zu einer überfälligen Revision der Religionsgeschichtsschreibung der römischen Kaiserzeit zu liefern, die nicht mehr antiken und neuzeitlichen historiographischen Mustern folgt, sondern religiöse Daten konsequent historisiert und kontextualisiert.

68 Tac. ann. 15, 44, 4 (dazu Paul Keresztes, The Imperial Roman Government and the Christian

Church I. From Nero to the Severans, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II.23, 1, 1979, 247–315, hier 253–5, dem ich aber in der Konjektur nicht folge); vgl. Plin. epist. 10, 49. 69 Siehe Jörg Rüpke, Von Jupiter zu Christus: Religionsgeschichte in römischer Zeit, Darmstadt 2012.

Antikes Judentum zwischen Akkommodation und Selbstbehauptung

Maren R. Niehoff Wie wird man ein Mediterraner Denker? Der Fall Philon von Alexandria

Die Frage “wie wird man ein mediterraner Denker?“ setzt voraus, dass es sich bei dem Mediterranen um ein Konstrukt oder Bewusstseinszustand handelt, nicht um eine genetische oder geographische Gegebenheit, die man entweder von Geburt an besitzt oder nicht. Damit gehe ich von Braudels Modell der Méditerranée aus, wobei ich die individuell-literarische Komponente betone. Braudel plädierte für eine mediterrane Einheit zunächst aus klimatischen Gründen, dann aber auch aufgrund einer übergreifenden, urbanen Infrastruktur, die Kommunikation und regen Handel nicht nur ermöglicht, sondern geradezu voraussetzt und damit zu einem charakteristischen Merkmal dieser Region macht. Nach Braudel ist es von ausschlaggebender Bedeutung, dass die Länder um das Mittelmeer gesamtheitlich von dem Zyklus zweier entgegengesetzer Jahreszeiten geprägt sind, nämlich dem vom Ozean her einfallenden Winter und dem von der Sahara her glühenden Sommer. Dieser länderübergreifende Zyklus schafft einen gemeinsamen Erfahrungshorizont mit ähnlichen Interessen und Sorgen für die Bewohner des Mittelmeerraums. Leben, Landwirtschaft, Handel und Reisen sind nach diesen Jahreszeiten ausgerichtet. Der Verkehr zwischen verschiedenen Regionen und Städten ist erleichtert durch schnelle Schiffsverbindungen sowie das Gefühl der Familiarität, das aufgrund von ähnlichem landwirtschaftlichem Anbau und ähnlicher Ernährung entsteht. So entwickelte sich nach Braudel im Mittelmeerraum ein besonders dichtes Netz von Städten, Routen und wechselseitiger Kommunikation.1 Braudels Modell wurde von verschiedenen Seiten kritisiert. Einigen Forschern erschien der Mittelmeerraum als eine zu willkürliche Begrenzung und daher einer geographischen Erweiterung besonders nach Osten bedürftig. Anderen schien Braudel einen materiellen Determinismus zu implizieren, der allen Menschen des Mittelmeerraums eine einheitliche Kultur zuschreibt, die aber vor Ort gar nicht existiert oder zumindest nur bis zu einem gewissen Grad erkennbar ist.2 1 F. Braudel, The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II (Lon-

don 1972, engl. Übersetzung).

2 Siehe Zusammenfassung und Diskussion der Kritik an Braudel bei W. V. Harris, The Medi-

terranean and Ancient History, in: idem (Hrsg), Rethinking the Mediterranean (Oxford

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Während Braudel meines Erachtens keinen ökonomischen Determinismus propagierte, soll meine zugespitzte Fragestellung hervorheben, dass es mir um die Beziehung zwischen der Wahrnehmung von geographischen Gegebenheiten und der Konstruktion kultureller Identität geht. Es ist nicht mein Ziel festzustellen, ob es in der Antike wirklich eine kulturelle Einheit um den Mittelmeerraum gegeben hat. Ich frage stattdessen, welche Rolle das Mittelmeer für das Selbstbewusstsein eines einzelnen Autoren spielte. Wie wurde es literarisch fruchtbar? Welche geo-politischen Faktoren kamen dabei zum tragen? Philon von Alexandria spielt in diesem Zusammenhang eine besonders interessante Rolle. In einer der wichtigsten Hafenstädte des Mittelmeers aufgewachsen, erhielt er eine der urbanen Elite angemessene Erziehung in der klassischen griechischen Literatur.3 Als Jude kannte er die Bibel in ihrer griechischen Übersetzung sehr gut und begann seine schriftstellerische Karriere als systematischer Kommentator der Bücher Genesis und Exodus.4 Außerdem nahm er aktiv am politischen Geschehen teil und reiste Ende 38 u. Z. als Vorsteher der jüdischen Gesandtschaft nach Rom, um dort mit Gaius über die Zivilrechte der alexandrinischen Juden nach dem Pogrom in ihrer Stadt zu verhandeln.5 Er verbrachte mehrere Jahre in Rom, da sich die Audienzen bei Gaius hinauszögerten und die Gesandtschaft wahrscheinlich die Verhandlungen mit seinem Nachfolger Claudius aufnahm, als dieser nach dem Attentat auf Gaius 41 u. Z. die Regierung übernahm.6 Mit diesen biographischen Daten gehört Philon zu den Autoren des griechischen Ostens, die mit der Macht und Kultur Roms unmittelbar in Kontakt kamen. Obwohl er gewöhnlicherweise nicht zu der sogenannten Second Sophistic gerechnet wird, nimmt Philon viele Fragestellungen und literarische Ansätze vor2005) 1–42; siehe auch den Beitrag von Klaus Geus in diesem Band.

3 Details bei M. P. Fraser, Alexandria (Oxford 1972) 132–88; M. Clauss, Alexandria. Eine an-

tike Weltstadt (Stuttgart 2003) 78–85; M. Böbler, Zur Archeologie Alexandrias, in: T. Georges, F. Albrecht, R. Feldmeier (Hrsg.), Alexandria (Tübingen 2013) 3–27; H.-G. Nesselrath, Das Museion und die Grosse Bibliothek von Alexandria, ibid, 65–88; A. Mendelson, Secular Education in Philo of Alexandria (Cincinnati 1982); M. Hadas-Lebel, Philo of Alexandria. A Thinker in the Jewish Diaspora (Leiden 2012, engl. Übersetzung) 1–25, 53–68. 4 Details bei M. R. Niehoff, Jewish Bible Exegesis and Homeric Scholarship in Alexandria (Cambridge 2011); vergl. Y. Amir, Authority and Interpretation of Scripture in the Writings of Philo, in: M. J. Mulder (Hrsg.), Mikra (Assen, Philadelphia 1988) 421–53; J. R. Royse, The Works of Philo, in: A. Kamesar (Hrsg.), The Cambridge Companion to Philo (Cambridge 2009) 32–64; A. Kamesar, Biblical Interpretation in Philo, ibid. 65–91; T. Rajak, Translation and Survival. The Greek Bible in the Ancient Diaspora (Oxford 2009). 5 Details bei E. M. Smallwood, Philonis Alexandrini Legatio ad Gaium (Leiden 1961); P. W. van der Horst, Philo’s Flaccus. The First Pogrom (Leiden 2003); Clauss, Alexandria, 155–160. 6 Zu den Daten der jüdischen und ägyptischen Gesandtschaften, siehe A. Harker, Loyalty and Disloyalty in Roman Egypt. The Case of the Acta Alexandrinorum (Cambridge 2008) 9–47.

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weg, die man später bei Plutarch, Lukian und anderen wiedererkennen kann.7 Gemeinsam ist diesen Autoren eine geographische und intellektuelle Mobilität, die sie in den Stand versetzten, aus ihren jeweiligen Traditionen heraus neue und auffallend kreative Impulse zu geben, wobei sie zugleich ihre Herkunftskultur in den aktuellen römischen Kontext setzen.8 Wie positioniert Philon sich in dem vielfältigen Geflecht von Diskursen und politischen Interessen, die den Mittelmeerraum unter römischer Herrschaft charakterisiert? Dieser Frage nachzugehen und Philons Erfahrung des Mittelmeerraums zu rekonstruieren bedeutet, ihn aus dem herkömmlichen theologischen Rahmen herauszunehmen und zu untersuchen, inwieweit er sich einer übergreifenden geographischen und kulturellen Einheit zugehörig fühlt. Welche Rolle spielt das Mittelmeer in den verschiedenen Entwürfen seinen Identität? Inwieweit stellt er das Judentum in einen mediterranen Kontext? Bei der Untersuchung dieser Fragen müssen wir die verschiedenen Werke Philons berücksichtigen. Er schrieb nicht nur unter unterschiedlichen Umständen, sondern wandte sich auch an jeweils ganz bestimmte Leser. Philon begann seine Karriere in der jüdischen Gemeinde Alexandriens als Interpret der Bibel und verfasste systematische Kommentare zu den Büchern Genesis und Exodus, wobei er methodologische Anregungen der alexandrinischen Homerforschung aufnahm und textkritische Fragen zu biblischen Versen mit allegorischer Interpretation beantwortete.9 In diesen Traktaten des Allegorischen Kommentars gilt seine Aufmerksamkeit den Details des Textes und seinen jüdischen Kollegen, die zu ganz anderen Schlussfolgerungen gelangt waren und so erst einmal mit guten Argumenten überzeugt werden mussten. Im Rahmen der Gesandtschaft zu Gaius schlug Philon völlig neue Töne an. Er wechselte das literarische Genre und schrieb fortan keine Kommentare mehr, sondern allgemeine Trakate über jüdische Geschichte und Bräuche sowie Biographien der biblischen Erzväter, die dem biographischen Werk Plutarchs in mancher Hinsicht erstaunlich ähneln.10 Sein Publikum ist nun nicht mehr inner-jüdisch, sondern allgemein römischhellenistisch. Dabei konnte Philon auf die griechische Sprache rechnen, die die römischen Intellektuellen natürlich vorzüglich beherrschten. Sogar Claudius, 7 Details bei M. Niehoff, Philo of Alexandria. An Intellectual Biography (New Haven, im

Druck); zur Second Sophistic, siehe bes. S. Swain, Hellenism and Empire (Oxford 1996); T. Whitmarsh, Greek Literature and the Roman Empire. The Politics of Imitation (Oxford 2001); T. Whitmarsh, Beyond the Second Sophistic. Adventures in Greek Postclassicism (Berkeley 2013). 8 Zur Mobilität in römischer Zeit siehe J. M. André und M. F. Baslez, Voyager dans l’Antiquité (Paris 1993) 224–9; L. Casson, Travel in the Ancient World (2nd ed., Baltimore, London 1974) 149–62; C. Hezser, Jewish Travel in Antiquity (Tübingen 2011) 161–70. 9 Details bei Niehoff, Alexandrian Exegesis, 133–51. 10 Details bei M. R. Niehoff, The Roman Context of Philo’s Exposition, Studia Philonica Annual 23 (2011) 1–21; M. R. Niehoff, Philo and Plutarch as Biographers: Parallel Reactions to Roman Stoicism, Greek, Roman and Byzantine Studies 52 (2012) 361–92.

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unter dem Philon seine späteren Schriften verfasste, schrieb einige Geschichtswerke auf Griechisch und hinterlegte sie in der weltberühmten Bibliothek Alexandriens, mit der Auflage, dass sie dort regelmäßig öffentlich gelesen werden sollten.11 So machte Philon als Autor eine deutliche Entwicklung durch und zwar von einem alexandrischem zu einem allgemein römisch-hellenistischem Schriftsteller. Sein Publikum, sein Stil und seine allgemeine Ausrichtung änderten sich mit seiner zunehmenden Hinwendung auf das kulturelle Klima in Rom. Was bedeutet diese Entwicklung für seine Wahrnehmung des Mittelmeerraums?

Eindrücke der Mittelmeerlandschaft in Philons frühen Werken In Alexandrien fing man schon früh an, geographische Erforschungen des Mittelmeerraums vorzunehmen. Der wichtigste Name in diesem Zusammenhang ist Eratosthenes, der schon im 3. vorchristlichen Jahrhundert begann, Landkarten des Mittelmeerraums herzustellen, die noch für Strabon wichtig waren.12 Frappanterweise erwähnt Philon diese geographischen Leistungen der ptolemäischen Zeit mit keinem Wort, obwohl er über eine Gesamtanschauung der damalig bekannten Welt verfügt (Her. 147). Überhaupt scheint ihm der wissenschaftliche Zugang zu seiner unmittelbaren Umgebung sehr fremd gewesen zu sein. Stattdessen ist er in allegorische Bibelexegese vertieft und beschäftigt sich mit dem Aufstieg der individuellen Seele in höhere geistige Gefilde. Die Konturen seiner Heimatstadt finden keine Abbildung in Philons frühen Werken, ganz zu schweigen von einem übergreifenden Bewusstsein des Mittelmeerraums und seiner geo-kulturellen Netzwerke. Das Hauptindiz für Philons mediterranen Sitz im Leben ist seine selbstverständliche Annahme von landwirtschaftlichen und klimatischen Gegebenheiten, die nebenbei in seine Bibelinterpretation einfliessen. Wenn er zum Beispiel Gen. 2.8 kommentiert, so füllt er den allgemeinen Begriff “Paradies“ automatisch mit Mittelmeerfauna. Er wehrt sich gegen die Vorstellung, dass Gott sich wie ein gewöhnlicher Bauer mit der Zucht von „Weinstöcken, Öl-, Apfel- und Granatbäumen“ beschäftigt habe (Plant. 32). Etwas später interpretiert Philon das biblische Gebot, nach Einwanderung ins Gelobte Land jeden Fruchtbaum drei Jahre unbenutzt ruhen zu lassen (Lev. 19. 23), mit Hinweis auf landwirtschaftliche Erfahrung. Dabei betont er, dass sich das Gebot bezüglich des Baumes selbst „auf die Wahrheit stützt“, während seine Anwendung auf die Frucht dagegen „nicht durch Augenschein gerechtfertigt wird, denn Feigen oder Trauben oder überhaupt irgendeine Frucht reinigt kein Landwirt durch Umschneidung“ (Plant. 112). Wieder nimmt Philon selbstverständlich 11 Suet., Claud. 41.1 – 42.2; Seneca, Apoc. 5.4, machte sich posthum über Claudius’ literarische

Tätigkeit lustig.

12 Fraser, Alexandria, 520–53; D. Engster, Wissenschaftliche Forschung und technologischer

Fortschritt in Alexandria, in: Georges, Albrecht, Feldmeier, Alexandria, 39–45.

WIE WIRD MAN EIN MEDITERRANER DENKER?

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an, dass es sich bei der in der Schrift allgemein bezeichneten „Frucht“ um spezifisch mediterrane Früchte handelt. Zudem benutzt er seine landwirtschaftlichen Kenntnisse, die übrigens bei weitem nicht so detailliert gewesen zu sein scheinen wie die auf dem Gebiet des gymnasialen Sports, um Textkritik zu treiben. Der Versteil, den er für unrealistisch hält, wird allegorisch interpretiert. Philon ist auch mit den therapeutischen Vorzügen der Olive vertraut. Interessanterweise erwähnt er diese in einer Diatribe gegen Überfluss im Anschluss an das „goldene Halsband“, das Joseph zum Ausdruck seiner Autorität von Pharaoh angelegt bekommt (Gen. 41.41–2). Er warnt seine Leser vor luxuriöser Bekleidung und kulinarischen Finessen sowie teuren Importen von architektonischen Besonderheiten. Ein Suchen nach schönen Säulen „in Libyen, ganz Europa und auf den Inseln“ hält Philon für einen Ausdruck von „eitlem Wahn“ (Somn. 2.55). Auch Salbmittel soll man seiner Meinung nach nicht in fernen Ländern suchen. Statt nach Importen aus Syrien, Babylon, Indien und Skythien zu heischen, sollte man besser die eigenen Früchte schätzen: Was brauchte man zum Salben nach mehr zu suchen als nach der ausgepressten Frucht des Ölbaums? Denn sie glättet und löst die Schlaffheit des Körpers und macht sein Fleisch schön und wenn er überhaupt etwas schlaff geworden sein sollte, zieht sie ihn fest zusammen und verleiht ihm nicht weniger als sonst etwas anderes Stärke und Spannkraft.13

Hier spricht sich Philon explizit gegen eine zu weite internationale Vernetzung seiner Region aus und betont bodenständige mediterrane Produkte, die nicht nur preiswerter, sondern seiner Meinung nach auch besser sind als importierte Kräuter aus dem Fernen Osten. Gleichzeitig erwähnt er die indischen Gymnosophisten sehr positiv als Philosophen, die auf der Erde ihr Bett einrichten und keinerlei Luxus bedürfen. Philon hat also seinen Blick auch auf die Ferne gerichtet, aber sehr selektiv und mit Betonung auf das Eigene. Die östlichen Philosophen können leicht als ein spirituelles Exempel integriert werden, ohne dass sich Philon näher mit ihren Wurzeln und eigentlichen Theorien auseinandersetzen müsste, während die Olive als örtliche Frucht vor Importen geschützt wird. Damit positioniert sich Philon im Mittelmeerraum als ein Bibelexeget, der die landwirtschaftlichen Gegebenheiten seiner Region zu schätzen weiss und sie bewusst von den Produkten anderer Gegenden abgrenzt. Gleichzeitig zeigt er sich offen für Menschen mit ähnlicher philosophischer Ausrichtung in Indien, die seine eigene Identität und intellektuelle Arbeit aber nicht in Frage stellen, sondern nur akzentuieren. Das Fremde wird zum Spiegel des Eigenen und ist damit in der Heimat domestiziert. 13 Somn. 2.58; meine Übersetzungen basieren auf der sehr guten deutschen Fassung in: Die

Werke Philos von Alexandria, hrsg. v. Leopold Cohn und I. Heinemann, sind aber manchmal abgeändert.

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Die für den Mittelmeerraum typische Weinrebe wird von Philon geradezu idyllisch beschrieben. Er kommt auf etwas überraschende Weise auf dieses Thema zu sprechen, nämlich im Zusammenhang mit Abrahams Lachen über Gottes Versprechen, dass er und Sarah trotz ihres hohen Alters noch Eltern eines Sohnes würden (Gen. 17.7). Diesen Vers nimmt Philon zum Anlass, über Vorfreude und Vorzeichen guter Entwicklungen nachzudenken, wobei die Weinrebe ihm ein besonders schönes Beispiel ist: Sieh den zahmen Rebstock, wie er von der Natur zum Wunder geschaffen ist mit den Ranken, Ringeln, den Sprossen, den Blättern, dem Weinlaub, als ob sie die Stimme erhöben und des Baumes Freude über die zukünftige Frucht meldeten (Mut. 162)

Das einzige Pflanzenbeispiel, welches Philon hier erwähnt, ist die Weinrebe, die ihm als typische Mittelmeerfrucht ganz natürlich in den Sinn kommt. Keines der anderen Beispiele aus dem zoologischen und psychologischen Bereich ist gleichermaßen enthusiastisch als ein „Wunderwerk“ der Natur beschrieben (θαυματουργέω). Hier beruft sich Philon erneut auf die landwirtschaftlichen Gegebenheiten des Mittelmeerraums, ohne besonders darüber zu reflektieren. Er nimmt sie als selbstverständliche Erfahrungen in seine Exegese auf und erwartet von seinen Lesern, dass sie seine positive Einschätzung teilen. In anderen Zusammenhängen kann er allerdings auch vor den Gefahren der Trunkenheit warnen und die Rebe als „Erzeugerin des Unverstands“ kritisieren (Somn. 2.195). Bezeichnend ist hier, dass er bei solchen Ausführungen sehr allgemein und schablonenhaft spricht. Er scheint philosophische Topoi weiterzugeben. Die landwirtschaftlichen Details dagegen kommen ihm in den Sinn, wenn er aus persönlicher Erfahrung von der Rebe schwärmt. Ein letzter Eindruck des Mittelmeerraums in Philons Frühwerken muss noch festgehalten werden: das Phänomen der Sonnenwenden, das er recht ausführlich beschreibt. Auch diese Diskussion entwickelt sich in einem exegetischen Kontext, nämlich der Interpretation von Gen. 15.10, wo Abrahams Teilen der Opfertiere erwähnt wird. Mit feinem literarischem Gespür weist Philon darauf hin, dass der biblische Vers das Teilen in der Mitte besonders hervorhebt. Er nimmt dies zum Anlass, die von Gott geschaffene Symmetrie der Natur zu preisen. Bei seinen freien Assoziationen kommt er dann auch auf die Sonnenwende zu sprechen: … von der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings bis zur Sonnenwende erhält der Tag eine Vermehrung und die Nacht eine Verminderung, bis der längste Tag und die kürzeste Nacht ihr Endziel erreicht haben; von der Sommersonnenwende an geht die Sonne umbiegend denselben Weg, weder schneller noch langsamer, sondern in demselben Zeitraum mit der gleichen Geschwindigkeit bis zur herbstlichen Tag- und Nachtgleiche, und nach Vollendung des der Nacht gleichen Tages

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beginnt sie die Nacht zu verlängern und den Tag zu verkürzen bis zur Wintersonnenwende; und sobald sie die längste Nacht und den kürzesten Tag vollendet hat, biegt sie wieder um und gelangt in demselben Zeitraum zu der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings. (Her. 149–50)

Diese relativ ausführliche Beschreibung der Sonnenwende steht völlig im Dienst der Bibelinterpretation und wird als eines unter vielen Beispielen von Symmetrie in der Natur aufgeführt. Es ist deutlich, dass Philon seinen Blick nicht zum gesamten Mittelmeerraum anhebt und etwa die Implikationen der Sonnenwende auf das allgemeine Leben im Mittelmeerraum, besonders die Schiffahrt, in Erwägung zieht, wie Braudel es z. B. macht.14 In seinen frühen Werken ist Philon deutlich auf die Interpretation der Schrift ausgerichtet. Die Gegebenheiten seiner Umgebung fließen zwar öfter in seine Exegese ein, aber eben nur unter dem Gesichtspunkt einer inner-biblischen Erklärung. Besonders auffallend ist die agrarische Ausrichtung Philons in seinen Frühwerken. Urbane Strukturen, die ja gerade Alexandria in großer Pracht besaß, kommen kaum in den Blick.15 Es sind überwiegend landschaftliche Eindrücke, die den frühen Philon als einen Einwohner des Mittelmeerraums ausweisen.

Mediterrane Netzwerke in Philons späteren Schriften Durch politische Aufgaben aus seinen Bibelstudien herausgerissen, beginnt Philon in der späteren Phase seiner Karriere, den Blick auf Rom und römische Leser zu richten. Er schreibt jetzt in einladender Form für ein breiteres Publikum, dem er die Geschichte der Juden und ihre besonderen Bräuche erklärt. In diesem Zusammenhang wird auch das Mittelmeer mit ganz neuer Bedeutung investiert. Philon positioniert sich jetzt in Alexandria, wobei er von „unserer“ Stadt spricht und besonders stolz auf die prächtige Architektur der Hafenanlage mit ihrem Tempel zu Ehren Augustus ist (Legat. 150). Er beschreibt in erstaunlich detaillierter Form die paganen Anlagen: Denn es gibt kein solches Heiligtum wie das sogenannte „Augusteum“, ein Tempel des Cäsar Epibaterios, des Schutzherrn der Matrosen, errichtet auf der höchsten Erhebung, von großer Ausdehnung und weithin sichtbar gegenüber den Buchten mit vorzüglichen Landeplätzen. Er ist wie nirgendwo sonst angefüllt mit Weihgaben, rundherum überladen mit Gemälden, Standbildern und Gegenständen in Silber und Gold. Der heilige Bezirk umfaßt ausgedehnte Hallen, Bibliotheken, Klubräume, Parks, Tempeltore und Tempelvorbauten, Höfe, freie Plätze, mit allen Dingen ausgestattet, die kostbarster Schmuck zu seiner Verschönerung darbietet, ein Hort der Hoffnung auf Schutz den Seefahrern aus- und einlaufender Schiffe. (Legat. 151) 14 Braudel, The Mediterranean, 246–56. 15 Siehe die exzeptionelle Beschreibung großstädtischer Architektur in Post. 49–50.

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Philons Selbstdefinierung im Hafen von Alexandria ist in vieler Hinsicht auffallend. Zunächst bezieht er sich nur auf jüngere Architektur, die in römischer Zeit entstand und bedeutenden symbolischen Wert im Imperium besaß. Die Höhepunkte der ptolemäischen Stadt, wie etwa die Bibliothek und das Museum, werden mit keinem Wort erwähnt, als ob Alexandria erst unter römischer Herrschaft aufgeblüht sei. Philo wählt stattdessen den Hafen und den Augustustempel als signifikante Orte. Dabei konzipiert er Alexandria nicht als eine Kulturhauptstadt, sondern als Zentrum der Schiffahrt und spiegelt ihr römisches Image als Weizenlieferantin für Rom wider. Claudius nahm dieses Motiv in der Hafenrenovierung von Ostia auf, dessen Hafen er nach seinem alexandrinischen Vorbild ausstatten ließ. (Suet., Claud. 19.3). Philon stellt sich so als Alexandriner aus römischer Sicht dar. Sein Selbstverständnis ist durch den Blick von außen geprägt und gerade dadurch nicht lokal, sondern durchaus mediterran. Weiterhin ist auffallend, wie positiv Philo von einem paganen Tempel spricht, der dem Kult des römischen Kaisers gewidmet war.16 Während die Einstellung zur paganen Religion im lukanischen Geschichtswerk von Hubert Cancik in diesem Band als „gemäßigte Intoleranz“ beschrieben wird, kann man bei Philo nur von einer für einen Monotheisten erstaunlichen Toleranz sprechen. Ebenso wie seine griechischen Nachbarn ist er enthusiastisch gegenüber dem Augustustempel seiner Stadt, der Alexandria auf der Karte des Römischen Imperiums auszeichnet. Als alexandrinischer Jude integriert er sich in den zeitgenössischen Diskurs und nimmt auch euergetische Argumente für die Götterverehrung auf, die an Varros leider nur fragmentarisch erhaltene Ausführungen anklingen.17 Es ist deutlich, dass er die Konfrontation zwischen Monotheismus und Polytheismus auf die Krisenzeit unter Gaius beschränkt, der in seiner krankhaften Megalomanie alle Menschen mit gesundem Verstand gegen sich aufhetzte. Claudius dagegen, der jeglichen persönlichen Kult in seinem berühmten Brief an die Alexandriner ablehnte, provozierte keine Probleme dieser Art und damit offensichtlich auch keine Identitätskonflikte für Philon.18 Philon betont in seinen historischen Werken die schnellen Schiffsverbindungen zwischen Alexandria und Rom. Er kennt zwei Routen, nämlich die direkte Route über das offene Meer, die von den Transportschiffen benutzt wurde und von günstigen Winden abhänging war, und die längere Küstenroute, die Pausen 16 Siehe Details bei Smallwood, Legatio, 231–2. 17 Legat. 98–110; H. Cancick, Historisierung von Religion – Religionsgeschichtsschreibung in

der Antike (Varro – Tacitus – Walahfried Strabo), in: G. W. Most (Hrsg.), Historicization – Historisierung (Göttingen 2001) 1–13; P. van Nuffelen, Varro’s Divine Antiquities: Roman Religion as an Image of Truth, Classical Philology, 105 (2010), 162–88; J. Rüpke, Die Religion der Römer. Eine Einführung (München 2001) 59–66. 18 Siehe Details bei V. A. Tcherikover und A. Fuks (Hrsg.), Corpus Papyrorum Judaicarum (Cambridge MA 1960) 2.36–54 (doc. 153).

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und Provianteinkauf ermöglichte (Legat. 250–1). Nach Philon riet Gaius König Agrippa I. von der Küstenroute ab: Als Agrippa dorthin reisen wollte, redete ihm Gaius die lange und ermüdende Seereise von Brundisium nach Syrien aus und riet ihm, die Passatwinde abzuwarten und den kurzen Weg über Alexandria zu nehmen; er sagte, die Handelsschiffe von dort würden schnelle Fahrt machen, die Steuerleute seien sehr erfahren: wie Wagenkämpfer ihre Pferde, so lenkten sie (ihre Schiffe) und verbürgten eine direkte Fahrt auf geradem Weg. Agrippa gehorchte dem Gaius als seinem Herrn, der aber auch gleichzeitig riet, was nützlich zu sein schien. (Flac. 26).

Obwohl diese Notiz historisch wenig Wert hat, ist sie wichtig als ein Hinweis auf Philons Bewusstsein mediterraner Klimaverhältnisse und seine implizierte Leserschaft, die offensichtlich mit den Bedingungen der Schiffahrt auf dem Mittelmeer vertraut war. So ist es auch interessant von Philon zu hören, Agrippa habe im Hafen von Puteoli professionelle alexandrinische Schiffe vorgefunden, die ihn schnell an sein Ziel brachten, indem sie sich nach dem berühmten Leuchttum auf Pharos ausrichteten. Der römische Zenturion Bassus soll ebenso schnell von Rom nach Alexandria gereist und „in wenigen Tagen“ dort angekommen sein (Flac. 110). Philons geographischer Horizont ist damit von der Achse RomAlexandria geprägt. Die Hauptstadt des Imperiums ist problemlos erreichbar und damit nahe. Sie spielt eine zentrale Rolle auf seiner imaginären Karte. Wenn wir diesen Befund mit Paulus vergleichen, fällt auf, dass der historische Paulus sich in seinen Reisen auf das ägäische Meer konzentrierte, aber von seinem Interpreten in der Apostelgeschichte durchaus in den größeren Kontext des römischen Reiches gestellt wurde.19 Für den späteren Philon ist die mediterrane Vernetzung nicht nur ein verkehrstechnisches Datum, sondern auch eine wichtige geo-politische und damit menschliche Komponente seiner Welt. Philon entstammte einer wohlhabenden alexandrinischen Familie mit weitreichenden Beziehungen im Mittelmeerraum. Sein Bruder Alexander war Alabarch oder Steuerbeamter an der Ostgrenze Ägyptens und einer der reichsten Geschäftsmänner seiner Zeit, der goldene Tore für den Jerusalemer Tempel spenden und aristokratischen Freunden großzügigen Geldkredit geben konnte (J. A. 18.257-9). Unter den letzteren befand sich u. a. der junge Agrippa, der als Prinz dauernd in Geldschwierigkeiten geriet. Alexander wurde darüber hinaus von Claudius als ein “alter Freund” bezeichnet, weil er früher den Besitz der Kaisermutter Antonia in Ägypten verwaltet hatte.20 Alexanders Sohn Tiberius machte bekanntlich eine außergewöhnliche Karriere in der römischen Armee, wo er unter anderem bei der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 u. Z. mitwirkte. 19 Details bei Cancick in diesem Band; siehe auch A. Harrill, Paul the Apostle (Cambridge 2012). 20 Jos., J. A. 20.100, 18.160, 19.276; s. a. V. Burr, Tiberius Iulius Alexander (Bonn 1955) 11–14.

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Während der politischen Krise in Alexandrien wurde das mediterrane Kommunikationsnetz besonders wichtig für Philon. Die Spannungen zwischen den jüdischen und ägyptischen Bewohnern der Stadt spitzten sich im Jahre 38 u. Z. zu und noch bevor es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, zeichneten sich starke Spannungen zwischen dem römischen Statthalter Flaccus und den alexandrinischen Juden ab. Flaccus hatte sich der Unterstützung des römischen Kaisers Tiberius erfreut, seit aber Gaius den Thron bestiegen hatte, war er seiner Stellung nicht mehr sicher. In dieser schwierigen Lage entschied er sich, die anti-jüdische Partei in Alexandrien zu unterstützen. Dem wiederum versuchten Philon und einige anonyme Leiter der jüdischen Gemeinde, die zweifelsohne auch seinen Bruder einschloss, entgegenzuwirken. Dies geschah auf dem Wege der Diplomatie, und zwar durch König Agrippa, der gerade in Alexandrien vorbeikam: Wir beschlossen nämlich, dem Gaius eine Denkschrift zu überreichen, die summarisch unsere Leiden und unsere Ansprüche enthalten sollte. Diese war eine Art von Zusammenfassung einer längeren Bittschrift, die wir vor kurzem durch den König Agrippa überreicht hatten. Zufällig nämlich weilte der in Alexandria auf der Reise nach Syrien zur Übernahme seines ihm verliehenen Königreichs. (Legat. 179)

Philon reflektiert hier im Rahmen der Gesandtschaft zu Gaius über eine frühere Petition an den Kaiser, die die Leiden und Ansprüche der alexandrinischen Juden darstellte. Dieses frühere Dokument hatte Philon wahrscheinlich zusammen mit seinem Bruder Alexander in Agrippas Hände gegeben und zwar während dessen Besuchs in der Stadt. Hier wird erneut die Bedeutung der Kommunikation im Mittelmeerraum deutlich. Philon kann an Agrippa appellieren und eine politische Intervention von ihm erwarten, weil die Schiffsverbindungen den Kontakt relativ leicht machen. Agrippa ist ein leichtfüßiger Diplomat, als Jude den alexandrinischen Juden verbunden und als Prinz in Rom erzogen und mit Gaius befreundet. Während desselben Aufenthaltes in Alexandrien übernahm Agrippa eine weitere Vermittlerrolle. Es hatte sich herausgestellt, dass Flaccus es unterlassen hatte, die Gratulation der Juden an Gaius direkt nach dessen Thronbesteigung weiterzuleiten (Flac. 97–101). Wieder wendet sich Philon, vielleicht auch dieses Mal zusammen mit seinem Bruder Alexander, an Agrippa: Als nämlich König Agrippa im Lande war und wir ihm erzählten, wie Flaccus uns verfolgte, da brachte er die Sache wieder ins Lot, versprach, die Urkunde zu befördern, und nahm sie an sich. Wie wir hörten, sandte er sie (dem Kaiser) und entschuldigte auch die Verzögerung: die Ehrfurcht vor dem gnädigen Kaiserhaus hätten wir nicht erst so spät gelernt, sondern von Anfang an reichlich besessen. Sie gleich zu zeigen, habe uns jedoch die Bosheit des Statthalters gehindert. (Flac. 103)

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Auch in diesem Fall scheint die Diplomatie im Mittelmeerraum funktioniert zu haben. Obwohl Philon es darauf anlegt, Gaius als einen unverbesserlichen Tyrannen darzustellen, kann man doch zwischen den Zeilen seines Textes erahnen, dass Agrippas Fürsprache und Freundschaft mit Gaius wohl ein wichtiger Grund für die Rückberufung und Verurteilung des römischen Präfekten war. Kurz nachdem Agrippa intervenierte, wurde dieser abgerufen und zu einer harten Exilstrafe verurteilt. Im Rahmen von Philons zunehmender Hinwendung nach Rom erscheint ihm auch das Judentum in einem anderen Licht. Philon entwirft es nun als eine ausgesprochen urbane und dynamische Religion, die nicht auf eine bestimmte Gemeinde begrenzt ist, sondern in der Natur wurzelt. Philon betont jetzt die geographische Ausbreitung der Juden “in Europa und Asia”, die sich damit über das gesamte Römische Imperium verstreuen, ähnlich wie es der Autor der Apostelgeschichte für die frühen christlichen Gemeinden im Auge hatte. Philon hat außerdem urbane Modelle vor sich, wenn er jüdische Migration als eine Kolonisation von der Heiligen Stadt ausgehen lässt. Jerusalem ist die “Metropole”, während die Städte jüdischer Residenz als Vaterländer dienen (Flac. 46). Die Juden erscheinen in diesem Schema als ein zahlreiches und tatenlustiges Volk, welches unerschöpflich neue Kolonien gründet. Ihr urbaner Charakter und ihre Unternehmenslust, die sich auf weitreichende Netzwerke im Mittelmeerraum stützen kann, gleichen den Römern und den von Lukas konzipierten Christen. Philons urbane Ausrichtung in seinen Spätwerken unterscheidet sich deutlich von seiner exegetisch-landwirtschaftlichen Fokussierung in den Frühwerken. Ebenso hat er sich von der individuellen Seele zum Volke Israel gewandt. Bezeichnend für diese Entwicklung ist sein neuer Zugang zur Sonnenwende. Wie wir im vorherigen Abschnitt gesehen haben, wies er im Allegorischen Kommentar recht ausführlich auf sie hin, um den biblischen Begriff der Mitte und Symmetrie zu verdeutlichen. In der Exposition, einem seiner späteren Werke, das er im Zusammenhang mit seinem Rombesuch verfasste,21 dient sie ihm, um das Judentum fest im Klima des Mittelmeerraums zu verankern und damit für ein römisches Publikum verständlich zu machen: Auch die Sonne, die große Beherrscherin des Tages, gibt dadurch, dass sie zweimal in jedem Jahr, im Frühling und im Herbst, eine Tag- und Nachtgleiche herbeiführt… einen deutlichen Beweis von der göttlichen Würde der siebenten Zahl, denn jede dieser Tag- und Nachtgleichen tritt im siebenten Monat ein, und während derselben werden, wie im Gesetz verordnet ist, die größten Feste unter Teilnahme des ganzen Volkes gefeiert, da um diese Zeit alle Früchte reifen, im Frühjahr die Brotfrucht und die anderen Saatfrüchte, im Herbst die Frucht des Weinstocks und der meisten Obstbäume. (Opif. 116) 21 Details bei M. R. Niehoff, Context, 1–21.

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An anderen Stellen der Exposition betont Philon die Verwurzelung der jüdischen Feiertage in dem Zyklus der Sonnenwenden. In der Forschung ist schon darauf hingewiesen worden, dass Philon auf diese Weise die ganz spezifischen Gesetze und Bräuche des Judentums in dem universalen Begriff der Natur verankert und damit auch den Ansatz des Buches Exodus (nicht Deuteronomium) fortführt.22 Im Zusammenhang mit Braudels Konzept des Mittelmeerraums sticht eine weitere Implikation ins Auge. Indem Philon die jüdischen Feiertage mithilfe der Sonnenwenden erklärt, appelliert er an einen gemeinsamen Erfahrungshorizont seiner Leser, die vom Mittelmeerraum geprägt sind. Da die Sonnenwenden den Jahresrhythmus im Mittelmeerraum bestimmten und eine große kulturelle Bedeutung besaßen, konnte Philon damit rechnen, dass die jüdischen Feiertage einem römischen Publikum verständlicher und natürlicher erscheinen würden, wenn sie in eben diesem, ihm bekannten Rhythmus verankert sind.

Epilog Wir haben gesehen, dass sich Philon im Laufe seiner Karriere zunehmend des Mittelmeerraums bewusst wurde. In seinen frühen Schriften erwähnt er nur beiläufig einige charakteristische Züge dieser Gegend, besonders landwirtschaftlicher Natur, wie z. B. Oliven and Weinanbau, während seine späteren Schriften seine eigenen Reiseerfahrungen und politische Involvierung widerspiegeln. Philons neues Bewusstsein zeigt sich darin, dass er sich der Achse Alexandria-Rom sowohl verkehrstechnisch als auch politisch sehr bewusst ist und ein dichtes Kommunikationsnetz voraussetzt, das sich von Alexandria über König Agrippa zum römischen Hof spannt. Philo interpretiert nun die verschiedenen Bräuche des Judentums im Blick auf das Mittelmeerklima, um sie Lesern in Rom verständlicher zu machen. Er selbst positioniert sich in Alexandria, indem er sich ihr römisches Image als zentrale Hafenstadt zu eigen macht. Wenn wir einmal ganz salopp fragen, wie man zur Kaiserzeit ein mediterraner Denker wird, bieten sich folgende Antworten für den Fall Philon von Alexandria an. Eine wichtige Ingredienz ist gute Abstammung und Aufwachsen in einer Hafenmetropole. Ohne die Bildung, die Philon von Kindesalter an genoss, und ohne das private Vermögen, über das er verfügte, hätte er sicher nicht als Leiter der jüdischen Gesandtschaft fungieren können. Seine Heimatstadt bot geradezu ideale Möglichkeiten für einen solchen Aufstieg. Dank seiner politischen Aktivität hat Philon lokale Kreise und inner-jüdische Fragestellungen transzendiert und wurde zu einem mediterranen Schriftsteller mit Blick für spezifisch römische Perspektiven. Ironischerweise machte ihn gerade diese kulturelle Hybridität 22 Details bei J Leonhardt, Jewish Worship in Philo of Alexandria (Tübingen 2001); vgl. a.

S. J. K. Pearce, The Words of Moses. Studies in the Reception of Deuteronomy in the Second Temple Period (Tübingen 2013) 92–120, 176–85, 289–306.

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zu einem typisch mediterranen Denker, der wie viele seiner Kollegen in der Second Sophistic mehrere Kulturen und Identitäten zu jonglieren wusste.

Ernst Baltrusch Flavius und Josephus – zwei Seelen in einer Brust? Judäa wurde zwar erst 63 v. Chr. Teil des Imperium Romanum und damit auch politisch in den römisch dominierten mediterranen Raum integriert, aber bereits lange zuvor, seit 332, war das Judentum durch die Politik Alexanders des Großen und seiner Nachfolger „mediterranisiert“ (geläufiger ist der Begriff „hellenisiert“), d. h. Juden gelangten nach Kleinasien, Griechenland und Italien, dessen Hauptstadt Rom bereits im 2. Jh. v. Chr. eine jüdische Gemeinde besaß. Wie fügte sich das Judentum in die „mediterrane“ Gesellschaft und ihre Strukturprinzipien ein? Dieser Frage ist in den letzten Jahren insbesondere der amerikanische Judaist Seth Schwartz nachgegangen, und er hat dazu 2010 ein Buch geschrieben, das genau dieser Frage nachgeht: „Were the Jews a Mediterranean Society? Reciprocity and Solidarity in Ancient Judaism”. Schwartz benutzt den Begriff des Mediterranen explizit im Anschluss an das Vorbild von Fernand Braudel1 und teilt mit diesem Begriff den Völkern des Mittelmeerraumes ungeachtet aller ethnischen, geographischen, sprachlichen und religiösen Verschiedenheit ein verbindendes, gemeinsames Band zu. Mediterrane Städte und Völker unterhielten eine gleichsam „virtual connectivity“,2 ein Bündel von allen gemeinsamen Vorstellungen über soziale, kulturelle und politische Verhaltensweisen. Schwartz hat damit eine Diskussion über die Frage der Zugehörigkeit des Judentums zu einer in diesem Sinne „mediterranen Kultur“ mit Elementen wie Patronage, Reziprozität, formalisierter Freundschaft, Euergetismus angestoßen. Im Grunde geht es ihm aber schlicht um eine Untersuchung der jüdischen Integrationsmöglichkeit in die hellenistische und römische Ordnung, und das bedeutet auch, dass das Buch mit veränderter Begrifflichkeit die alte Frage des Kulturkonflikts Hellenismus-Judentum wieder aufnimmt. Darauf hat jüngst Steven Weitzman in seiner gründlichen Auseinandersetzung mit dem Buch aufmerksam gemacht.3 1 La Méditerranée et le monde méditeranéen à l’epoque de Philippe II, Paris 1949 (Habilita-

tionsschrift 1947); ebenso J. G. Peristiany (Hrsg.), Honor and Shame: The Values of Mediterranean Society, Chicago 1966. 2 Vgl. dazu Alain Bresson, Ecology and Beyond: The Mediterranean Paradigm, in: William V. Harris (Hrsg.), Rethinking the Mediterranean, Oxford 2005, S. 94–114, bes. 106–8. 3 Vgl. Steven Weitzman, Mediterranean Exchanges: A Response to Seth Schwartz’s Were the Jews a Mediterranean Society? In: Jewish Quarterly Review 102 (2012),S. 491–512, hier be-

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Seth Schwartz geht von einem Antagonismus zwischen mediterranen und pentateuchischen Ordnungvorstellungen aus: Grundsätzlich stünden sich mediterrane kompetitive Reziprozität und Euergetismus der pentateuchischen GruppenSolidarität und Liebe gegenüber. Es gebe Mischformen, aber ein Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Prinzipien durchziehe die jüdische Geschichte in der Antike. Schwartz verfolgt nun diese Prinzipien an drei jüdischen Schriftgruppen – Ben Sira (ca. 180 v. Chr.), Flavius Josephus (1. Jh. n. Chr.) und Jerusalemer Talmud (ca. 400 n. Chr.). Das Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass Juden mehr als bisher angenommen von mediterranen Vorstellungen geprägt waren. Aber auf der anderen Seite habe es Grenzen gegeben, die eine völlige Integration in die mediterrane Welt verhinderten, nicht nur bei den Essenern, die sich gänzlich zurückzogen, sondern in breiten jüdischen Kreisen, und das habe an der Gegensätzlichkeit von Torah und griechisch-römischen Prinzipien gelegen. Damit ist nicht mehr und nicht weniger als ein hermeneutisches Modell angelegt, das die Diskussion über das schwierige römisch-jüdische Verhältnis befruchtet, und Schwartz ist sich im Übrigen der Problematik solcher Modelle bewusst: „And for this reason many of the anthropological queries about mediterraneanism … for my purposes matter much less than its heuristic utility: what does it matter if Mediterranean culture in real life was found only in southwestern China, as long as it helps us understand our own topics better by offering fuel for structural comparison?”4 Es soll nun aber im Folgenden nicht um die Vorzüge oder kritischen Punkte dieses im Ganzen anregenden, teilweise auch zu stark pauschalierendes Buches gehen.5 Vielmehr geht es um einen wichtigen Teilaspekt. Ich möchte mich Flavius Josephus zuwenden, der ebenfalls von Schwartz behandelt wurde. Denn dieser jüdische Historiker steht an der Schnittstelle jener beiden von Schwartz gesonders S. 510: „An unintended consequence of Schwartz’s approach to the material is its revival of a binary opposition that recent scholars have been working hard to complicate and qualify, the opposition between Judaism and what is usually known as Hellenism, the shared culture of Greeks and Romans“. Vgl. auch den bereits wenige Jahre zuvor erschienenen Aufsatz von Seth Schwartz, A God of Reciprocity: Torah and Social Relations in an Ancient Mediterranean Society, in: Jean-Jacques Aubert / Zsuzsanna Várhelyi (Hrsg.), A Tall Order. Writing the Social History of the Ancient World. Essays in honor of William V. Harris, München/Leipzig 2005, S. 3–35, der anhand des biblischen Ben Sira-Buches die Spannung zwischen der dominierenden mediterranen und der pentateuchischen Gesellschaft im Judentum der hellenistischen Zeit untersucht. 4 Schwartz 2010 (wie S. 369), S. 25. 5 Kritisch hat sich vor allem Steven Weitzman (wie Anm. 3) geäußert, und diese Kritik ist nicht unberechtigt, etwa an der Willkür, die dem Begriff des Schwartzschen Mediterranismus anheftet, auch an der Auslassung von Philo (den Schwartz als Diaspora-Autor nicht berücksichtigt hat), der aber für das Mediterrane einiges beizutragen hat. Wie oft bei Historikern der jüdischen Geschichte in der römischen Zeit, kommt der synchrone Vergleich mit anderen Regionen zu kurz und ist die Deutung des Imperium Romanum zu holzschnitzartig, vgl. S. 33–5.

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genübergestellten Prinzipien, und seine Werke lassen sich besser verstehen, wenn man sie in diesem Kontext verortet. Sein Name ist Programm: Flavius hieß er mit neuem Gentilnamen, weil er von Vespasian, dem Flavier, freigelassen wurde, und sein Cognomen Josephus war sein jüdischer Geburtsname (übrigens korrekt nur in der Verbindung Flavius Josephus, nicht Josephus Flavius). Er soll im folgenden stärker als ein strategisch arbeitender denn als „mediterraner“ Autor diskutiert werden. Seine jüdische Sozialisation und seine gleichzeitige Einbettung in die römisch-griechische Kultur sind dabei unstrittig, sollen aber, anders als Schwartz es tut, zusammengeführt werden. Um einen Zugriff auf diese vielschichtige Persönlichkeit zu erhalten, stelle ich einige Überlegungen voran. Im 1. Jh. n. Chr. war der Mittelmeerraum komplett römisch dominiert. Der „Kulturraum“ Mittelmeer war zu einem politischen Raum zusammengewachsen. Die kulturelle Diversivität war gleichwohl erhalten geblieben, auch wenn die Jahrhunderte währende römische imperiale Herrschaft vereinheitlichend wirkte. Im östlichen Mittelmeer schloss sich die „Romanisierung“ direkt und auf vergleichbaren Pfaden der vorgängigen „Hellenisierung“ an, während der Westen insbesondere im „Hinterland“ dem Kulturareal Mittelmeerraum erst gewonnen werden musste. Diesem Kosmos gehörten zahlreiche Städte und Regionen an, die sozial, politisch und kulturell divers, aber politisch unter dem Dach eines imperialen Rom geeint waren. Es ist die genuine Aufgabe des Historikers herauszufinden, wie sich die einzelnen Städte, Ethnien und Religionen konkret unter diesem römischen Dach individuell und konkret positionierten, welche Strategien sie für ihre Persistenz, Autonomie oder Integration wählten und wie sich das Verhältnis zwischen Zentrale und Peripherie entwickelte. Das gilt umso mehr in Regionen, in denen die politische Geschichte durch prägnante Zäsuren „zerschnitten“ wurde, wie es Judäa durch die Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr. passiert ist. Der Schriftsteller, der diese Zäsur überliefert hat, ist Flavius Josephus, der bereits in seinem Namen seine römisch-jüdische Doppel-Sozialisation trägt. Unabdingbare Voraussetzung für solche Untersuchungen ist ein „close reading“ literarischer Texte ebenso wie ein vergleichend arbeitender methodischer Zugriff, wie sie die moderne Geschichts- und Politikwissenschaft zumeist zur Untersuchung neuzeitlicher Phänomene nutzt. Globalgeschichte, Verflechtungsgeschichte, „post-colonial-studies“ – neue Methoden haben liebgewonnene, vermeintliche Sicherheiten in Frage gestellt und eröffnen neue Blickwinkel. Sie können dazu beitragen, einen Autor wie Flavius Josephus, der selbstbewusst die gleichberechtigte Integration des Judentums in die dominierende Gesellschaft anstrebte, neu zu lesen. Der jüdische Historiker Flavius Josephus (37 – ca. 100 n. Chr.) war bekanntlich eine Art „Doppelnatur“: Seit seiner Gefangennahme im Jüdischen Krieg und der Verleihung des römischen Bürgerrechts an ihn war er nicht nur ein „Jude“

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durch Religion und Herkunft, sondern auch ein „Römer“ durch Verleihung. Diese doppelte Zugehörigkeit beeinflusste zweifellos auch seine Schriften, in denen er sich umfangreich und gründlich über den „Jüdischen Krieg“ von 66–70 (bzw. 74), über die „Jüdischen Altertümer“ und über die Judenfeindschaft in der damaligen Welt („Gegen Apion“) ausließ. Die moderne Forschung hat oft das „Römersein“, aber auch die Hybridität seiner Persönlichkeit6 für das spezifisch josephische Geschichtsbewusstsein verantwortlich gemacht. Da Josephus ein Zögling des flavischen Kaiserhauses war, dem er sich verpflichtet fühlte und in dessen Auftrag, zumindest aber zu dessen Ruhme er wohl auch seine Werke verfasst haben mochte, so lag es in der Tat nahe, zu schlussfolgern, dass er den jüdisch-römischen Konflikt „römisch“ interpretiert und die römische Perspektive in den Mittelpunkt gestellt habe, salopp formuliert: getreu der alten Formel „Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing“. Die Tempelzerstörung habe Josephus deshalb nicht Titus anlasten wollen, weil er um das Image des Kaisersohnes besorgt war; vielmehr sei es die Hartnäckigkeit der jüdischen Aufständischen gewesen, die die beharrlich vorgebrachten römischen Angebote einfach ignoriert oder zurückgewiesen hätte und für das Unglück verantwortlich gewesen sei, vor dessen Eintreten Josephus selbst und Titus immer wieder gewarnt hatten. Die Schuld dafür, so Josephus, sei jedenfalls nicht bei Titus zu suchen. Ob er damit Recht hat oder nicht, kann nicht entschieden werden. Aber eine neue Lesung des „Jüdischen Krieges“, inspiriert von Ideen, die im Zusammenhang mit globalgeschichtlichen Ansätzen und den „post-colonial-studies“ eingebracht wurden, eröffnet auch neue Perspektiven auf die Absichten, die Josephus mit seinen Schriften gehegt haben könnte. Welche Wirkung hatte eigentlich die Zäsur des Jahres 70 n. Chr. – die Tempelzerstörung von Jerusalem – auf das Leben und das Denken dieses jüdischen Schriftstellers, der dafür unsere Hauptquelle darstellt? Diese Frage wurde erstaunlicherweise so konkret bisher kaum gestellt, und das obwohl alle josephischen Werke danach verfasst wurden. Die Welt des Josephus ist charakterisiert von ganz verschiedenen kulturellen und sozialen Einflüssen, die sich aus der Interaktion zwischen seinem Judentum und der Einbindung in einer von vielfältigen globalen und regionalen Faktoren geprägten mediterranen Umwelt ergeben. Josephus hat diese prägenden Einflüsse durch seine Herkunft und Erziehung einerseits, andererseits durch seinen spezifischen Lebensweg als Priester, Politiker, jüdischer Widerstandskämpfer, als Gefangener auf Reisen, als Berater des römischen Feldherrn, als Angehöriger der römischen Weltmacht im Mittelmeerraum erfahren. Um diese „Pluriversität“ als Ergebnis eines ereignisreichen Lebens, wie sie sich in den Schriften wiederfindet, darum soll es im folgenden gehen. 6 So etwa zuletzt J. Edmonson, S. Mason, J. Rives (Hrsg.), Flavius Josephus and Flavian Rome,

Oxford 2005.

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Flavius Josephus in seinem jüdisch-griechisch-römischen „Pluriversum“ Flavius Josephus zählt zu den meistgelesenen, am weitesten verbreiteten und vielfach übersetzten Autoren der Antike – allerdings waren es vor allem die Christen, die ihn wirklich rezipierten.7 Die zeitgenössische, dazu noch kritische Rezeption seiner Werke unter Griechen, Römern und Juden bestätigt jedoch nur Josephus selbst, die erste nachweisbare Lektüre mit namentlicher Nennung finden wir bei Porphyrius im 3. Jh.8 Das mag seiner wenig schmeichelhaften Biographie als „Verräter“ geschuldet sein, aber vielleicht war er auch nur seiner Zeit voraus geeilt, und man verstand ihn erst später, oder: Es gab zwar eine Rezeption, die für uns aber nicht mehr mit dem Namen des Josephus in Verbindung zu bringen ist – denn es war durchaus neu, wenn nicht gar revolutionär, wie Josephus in seinen vier überlieferten Werken das Judentum historisch und literarisch aufgearbeitet hatte; anders wäre seine Verbreitung in der christlichen Literatur, wie sie etwa bei Eusebius zu erkennen ist, kaum zu erklären.9 Um diese Neuartigkeit des josephischen Konzepts geht es in meinem Beitrag, und der Titel lässt die (tatsächliche oder vermeintliche) Doppelgesichtigkeit des jüdischen Geschichtsschreibers im Gefolge der Flavier in den Vordergrund treten. Die kaum zu überblickende moderne Forschung hat Flavius Josephus ganz unterschiedlich interpretiert: Sie sieht ihn als „Auftragsautor“ der Flavier, der für ein römisches Publikum schrieb,10 dann auch als Apologeten, der sein eigenes Handeln im Jüdischen Krieg rechtfertigen musste,11 oder als jemand, der die 7 Seinen Platz unter den griechischen Historikern der Antike muss sich Josephus auch heute

noch erkämpfen; oft hat er kein eigenes Kapitel, wenn es um griechische und römische Historiographie geht (etwa bei J. Marincola (Hrsg.), Greek and Roman Historiography. Oxford 2011). 8 De abstinentia IV 11–14 bei Menahem Stern (Hrsg.), Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, Volumes I–III, Jerusalem 1974–1984, hier: II Nr. 455. Sueton (Vesp. 5) und Cassius Dio (66, 1) kannten die josephische Prophezeiung an Vespasian, dass er Kaiser würde. Tacitus erwähnt ihn nicht, obwohl er ihn vielleicht benutzt hat. Die christliche Rezeption ist dagegen umfassender: Minucius Felix Octavius 33, 4; v. a. bei Eusebius in seiner Kirchengeschichte. Dazu und zur Außenseiterrolle des Josephus vgl. Jonathan Price, The Provincial Historian in Rome, in: J. Sievers / G. Lembi (Hrsgg.), Josephus and Jewish History in Flavian Rome and Beyond, Leiden / Boston 2005, S. 101–118. 9 Gregory E. Sterling, The Jewish Appropriation of Hellenistic Historiography, in: J. Marincola (Hrsg.), A Companion to Greek and Roman Historiography. Blackwell Companions to the Ancient World, Malden 2007, Bd. 1, S. 231–243; ders., Philosophy as the handmaid of wisdom: philosophy in the exegetical traditions of Alexandrian Jews, in: Religiöse Philosophie und philosophische Religion der frühen Kaiserzeit: literaturgeschichtliche Perspektiven, hrsg. v. Rainer Hirsch-Luipold, Herwig Görgemanns und Michael Albrecht, Tübingen 2009, S. 67–98, verbindet zu Recht jüdisch-hellenistische Geschichtsschreibung, aber Josephus geht m. E. weit darüber hinaus. 10 Susan Sorek, The Jews against Rome, London 2008. 11 René Bloch, in: DNP Suppl. I , Vol. 5 „Reception of Classical Literature“ s. v. Iosephus Fla-

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jüdische Ordnung und Religion einem gehobenen römischen und griechischen Publikum verständlich machen wollte,12 ein weiteres Mal als jemanden, der insbesondere den griechischen Antisemiten eine deutliche Abfuhr zu erteilen gedachte.13 Das jüdische Element und das römische Element bestimmten also den schriftstellerischen Impetus des Flavius Josephus. Aber handelte es sich wirklich um eine „Brust mit zwei Seelen“, eben einer jüdischen und einer römischen, die miteinander rangen? Wenden wir uns also dieser in ihren Intentionen noch immer so unverständlichen, unverstandenen Persönlichkeit und ihrem Werk genauer zu. Im folgenden möchte ich zunächst die Biographie des Josephus vor der Zäsur behandeln, um einen Eindruck von seinen Vorprägungen zu erhalten. Bevor ich sodann auf die Zäsur des Jahres 70 n. Chr. zu sprechen komme, möchte ich anhand des Prooemiums des „Jüdischen Krieges“ die dadurch veränderte und erweiterte josephische Perspektive herausstellen: Möglicherweise orientierte sich Josephus jetzt neu, nämlich im Hinblick sei es auf ein (wie es Honora Chapman ausdrückte)14 „cross-cultural-reading“, sei es auf ein für ihn nun „pluriverses“ (d. i. den ganzen Mittelmeerraum umfassendes; ein Wort, das 1927 von Carl Schmitt zur Kennzeichnung einer Staatenvielfalt im Gegensatz zum universalen „Weltstaat“ gebraucht wurde15) „Universum“, sei es auf eine unilaterale, nämlich römisch diktierte Ordnung, um dann diese Perspektive mit einem genaueren Blick auf die Zäsur selbst, auf das vielleicht als „Stunde Null“ des Judentums zu bezeichnende Jahr 70 zu verbinden: Und am Ende soll dann das tatsächliche Konzept des Josephus kurz präsentiert werden, das möglicherweise seine Werke, vor allem aber die beiden großen, den „Jüdischen Krieg“ und die „Jüdischen Altertümer“ durchzieht.

vius.

12 Steve Mason, Of Audience and Meaning: Reading Josephus’ Bellum Iudaicum in the Con-

text of a Flavian Audience, in: Sievers / Lembi 2005 (wie Anm. 8), S. 71–100, und Ryan S. Olson, Tragedy, Authority, and Trickery: The Poetics of Embedded Letters in Josephus, Washington DC 2010, S. 40–44 (vgl. dazu auch die Debatte in Bryn Mawr Classical Review 2011 zwischen Linda Zollschan und Steve Mason). 13 Tessa Rajak, The Jewish Dialogue with Greece and Rome. Studies in Cultural and Social Interaction, Leiden / Boston / Köln 2001, hier v. a. Teil II: Josephus, S. 137–255. 14 Honora Chapman, By the Waters of Babylon, in: Sievers / Lembi 2005 (wie Anm. 8), S. 121–146. 15 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932; Neuausgabe Berlin 1963, S. 54: „Aus dem Begriffsmerkmal des Politischen folgt der Pluralismus der Staatenwelt … es gibt deshalb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden Weltstaat geben. Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum“.

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Biographisches: Leben vor 70 und seine literarische Darstellung Das über 60jährige Leben des Josephus ist klar strukturiert in eine jüdische Phase (37–70) und eine römische Phase (70 – ca. 100). Sein eigenes „Leben“ schrieb er in der römischen Phase, und es ist bemerkenswert, wie er auf seine „ferne“ jüdische Vergangenheit zurückblickt, um sie seiner auch nichtjüdischen Leserschaft verständlich zu machen. Unsere Textgrundlage ist seine „Autobiographie“, die er in den 90er Jahren des 1. Jh. n. Chr. in apologetischer Absicht verfasst hat. Diesem Selbstzeugnis über die Herkunft ist bereits wesentliches auch für die Grundlagen der josephischen Weltsicht zu entnehmen. Seine jetzt verwendete Sprache ist nicht seine Muttersprache, sondern diejenige seiner Leser, d. h. griechisch. Einem nichtjüdischen Lesepublikum sollte in seinen Begriffen ein dezidiert jüdisches Leben verständlich gemacht werden: ein Leben, das vor 70 (oder 67, als er von Vespasian in Jotapata in Galiläa gefangen genommen wurde) offensichtlich zwar von der Voraussetzung eines polyzentrischen Kulturraumes, eines „Pluriversums“ geprägt, trotzdem aber (oder gerade deshalb) eindimensional auf die regionale jüdische, vermeintlich selbstbestimmte Ordnung ausgerichtet war. Josephus war, so tat er seinen Lesern bewusst kund, ausschließlich jüdisch-priesterlich sozialisiert und ein erklärter Gegner des römischen Machtanspruchs in Palästina; daher musste er notwendigerweise kriegswillig sein.16 Josephus hält gerade mit dem letzten Punkt in seiner Autobiographie aus den 90er Jahren gar nicht hinterm Berg, im Gegenteil; aber er konstruiert die Jugend trotz ihrer dezidiert jüdischen Ausrichtung sprachlich als eine universalgültige, bei allen Völkern der Welt normale Paideia: Seine Herkunft sei οὐκ ἄσημον („nicht unbedeutend“), er selbst in einem universal mediterranen Sinne von beiden Eltern her „adlig“ (der von ihm verwendete Begriff „Eugeneia“ ist einem griechisch lesenden Publikum wohl vertraut), nämlich durch die hohe priesterliche Abkunft väterlicherseits und die gar „königliche“ (hasmonäische) mütterlicherseits in der „größten Polis“, nämlich Jerusalem, das mit dem Begriff der Polis in den griechischrömischen Stadtraum integriert wird. Des Weiteren erfährt der Leser, dass Josephus in der Torah erzogen wurde und bereits als 14-jähriger eine Perfektion in diesem Fach erreicht hat, dass sein Rat selbst in den höchsten jüdischen Priesterzirkeln erbeten wurde. Mit 16 dann machte er sich mit den großen jüdischen Philosophenschulen vertraut und suchte anschließend für drei Jahre die Einsamkeit in der Wüste. Schließlich schloss er sich den Pharisäern an, einer Richtung im Judentum, die Josephus ausdrücklich mit der hellenistischen Philosophie der Stoa in eine enge Beziehung setzt. Eine 16 Noch einmal Carl Schmitt (wie Anm. 15) S. 37: „Jeder religiöse, moralische, ökonomische,

ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren … Das Politische liegt nicht im Kampf selbst … sondern … in einem von dieser realen Möglichkeit bestimmten Verhalten“.

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derartige Jugend und Ausbildung ist als dezidiert jüdisch zu bezeichnen, und so schloss sich daran eine ebenso dezidierte jüdische Karriere an, die ihn zum Schluss auch in eine scharfe Gegnerschaft zum römischen Einfluss in Judäa führte. Als 30jähriger schließlich wurde er von den Aufständischen in Jerusalem zum Strategen für Galiläa eingesetzt. Josephus präsentierte diesen Lebensweg als „normal“ für einen Jungen aus angesehener jüdischer Familie. Diese autobiographische Darstellung17 der Jugend ist ein Musterbeispiel zielgerichteter sprachlicher Gestaltung – Josephus verschweigt nicht, ja rechtfertigt nicht einmal seine frühere Anti-Rom-Haltung, auch nicht seine dezidierte Neigung zu den radikalen Frommen, aber er formuliert das in der Sprache und mit dem Habitus der römisch-griechischen Elite,18 macht sich damit auf eine gewisse Weise seinem Leser „gleich“, aber er formuliert diese Gleichheit selbstbewusst und gleichsam „in Übersetzung“, passt sich gerade nicht der herrschenden Kultur schmeichlerisch an, verändert also nicht nachträglich seine Identität, sondern übersetzt sie nur in den griechisch-römischen Diskurs. Damit hebt er seine eigenen Prägungen in der jüdischen Gesellschaft buchstäblich von einer regionalen, „barbarischen“ Stufe auf die Ebene der Reichselite empor – ein diskursives Verfahren, um unter dem dominanten griechisch-römischem Dach eine eigene, gleichberechtigte Rolle einnehmen zu können. Dieser Diskurs, der formal innerhalb der griechisch-römischen Regeln gestaltet war und doch geeignet schien, außerhalb zu bleiben und die regionale Identität zu wahren, sollte beides erreichen: den Eliten verständlich sein und gleichzeitig das Jüdische stärken helfen, ein Verfahren, das Josephus offenbar bewusst gewählt hatte, um als Jude nach der Katastrophe zu überleben. Indem Josephus den „kolonialen Diskurs“ selbstbewusst adaptiert und sich innerhalb dieses Diskurses auf seine spezifische Weise positioniert, kann er seine strategischen Ziele der griechisch-römischen Elite verständlich machen. Wer aber war eigentlich der Adressat, an den Josephus seine Autobiographie und überhaupt seine Schriften richtete? Was waren konkret seine Ziele? Wollte er sich für sein eigenes Handeln nach der Gefangennahme durch die Römer rechtfertigen? Dann wäre an Juden als sein Publikum zu denken. Oder wollte er auf diese Weise seinen Werdegang einem mit dem Judentum nicht vertrauten Publikum verständlich machen? Dann wäre der Adressat der Schriften zweifelsfrei nicht-jüdisch. Oder gingen seine Ziele weiter: Wollte er also festgefügte elitäre Denkstrukturen erodieren und aufbrechen, Grenzziehungen zwischen Völkern und Religionen verwischen, ohne dabei die eigene Identität herabwürdigen zu müssen, und auf diese Weise zum selbstbewussten Vorbild werden, vielleicht 17 Vita 1–29. 18 Vgl. zu dieser Strategie im kolonialen Diskurs besonders Homi Bhabha, Of Mimicry and

Man: The Ambivalence of Colonial Discourse, in: Frederick Cooper / Ann Laura Stoler (Hrsg.), Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley, CA 1997, S. 152–162.

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sogar die sonst so Sicheren und Überheblichen (sc. Griechen) verunsichern?19 Dann wäre sicherlich eine allumfassende, in gleicher Weise jüdische und nichtjüdische Leserschaft im ost-, vielleicht auch westmediterranen Raum angestrebt, wie es ja schon aufgrund der griechischen Sprache seine Wahrscheinlichkeit hat. Die literarische Konzeption des Josephus wäre dann viel weiter zu fassen, als bloß sich verständlich zu machen oder sich zu rechtfertigen; vielmehr wäre es als eine literarische Überlebensstrategie eines einzelnen jüdischen Priesters zu werten, als eine jener Strategien, die in einer für Juden immer bedrohlichen, ja feindlichen Umwelt die „cultural persistence“ sichern halfen. Unter diesem Titel hat vor wenigen Jahren der amerikanische Religionswissenschaftler Steven Weitzman ein brilliantes Buch zu den vielfältigen Formen jüdischen Selbstschutzes publiziert, ohne Josephus in dieser Hinsicht zu deuten.20 Darauf werde ich zurückkommen.

Die Ebenen des Proömiums Zunächst möchte ich mich dem Proömium des ersten Werkes, des „Jüdischen Krieges“ zuwenden. Josephus scheint hier gleichsam eine neue „Verflechtung“ (Symploke, um ein von Polybios herrührendes Konzept des Zusammenwachsens des Mittelmeerraumes zu einer Einheit zu gebrauchen) herauszustellen. Dieses Proömium enthält zwei unterschiedliche, miteinander verschränkte „Ebenen“ (um mit Braudel zu sprechen). Die erste Ebene ist natürlich der Inhalt des Werkes, der Jüdische Krieg selbst. Auf dieser Ebene ist auch die Kompetenz des Autors angesiedelt, der als Augenzeuge und führend Beteiligter besser als jeder andere gerade diesen Krieg analysieren kann. Darin eingeschlossen ist auch eine Kritik an den früheren Historiographen des Krieges, die keinen Zugang zur „Wahrheit“ als dem höchsten Anspruch von Historikern gefunden hätten. Doch Josephus entwickelt eine zweite Ebene, auf der das Gebäude seiner Historiographie fest steht. Diese Ebene muss sich der Leser fast selbst erschließen, doch das Proömium legt die Kategorien frei, mit denen Josephus seine historiographische Analyse des Jüdischen Krieges vorzunehmen gedenkt. Es sind dieses drei Kategorien: die universalhistorische Einordnung (1), der „Methodenmix“ des historiographischen Konzeptes (2) und die Multiperspektivität (3). 1. Die erste Kategorie besteht in der universalhistorischen Einordnung: So heißt es: Der jüdische Krieg sei „der größte Krieg aller Zeiten“, es stehen sich gegenüber „Poleis gegen Poleis“, „Ethnien gegen Ethnien“. Es ist also 19 Nach Josephus contra Apion 1, 2f. ist es auch die Aufgabe jüdischer Autoren, gegen die hoch-

mütige Missachtung seitens der gerühmten griechischen Schriftsteller, die alle Autorität auf sich vereinen, anzuschreiben; vgl. dazu John M. G. Barclay, Judean Historiography in Rome: Josephus and History in Contra Apionem Book 1, in: Sievers / Lembi 2005 (wie Anm. 8), S. 29–43. 20 Dazu Steven Weitzman, Surviving Sacrilege. Cultural Persistence in Jewish Antiquity, Cambridge / London 2005.

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nicht etwa von einem „Aufstand“ eines unzufriedenen oder besonders rebellischen Ethnos innerhalb des Imperium Romanum die Rede. Josephus ordnet diesen Krieg vielmehr einem ganz anderen, globalen Diskurs zu, den seine Leser (die um ihre historiographischen Traditionen Bescheid wissen) sofort mit Thukydides verbinden können, der mit ähnlichen Formulierungen „seinen“, den Peloponnesischen Krieg als ersten „Weltkrieg“ charakterisiert hat.21 Wenn Josephus das gleiche mit dem „Jüdischen Krieg“ unternimmt, so befördert er zum einen den Ruhm der Flavier, die diesen Krieg erfolgreich beendet haben; zum anderen aber begibt er sich auf die Diskursebene seiner griechisch-römischen Leserschaft, vergleicht sich mit der historiographischen Tradition der griechisch-römischen Elite, um die Bedeutung der Juden als einer starken Minderheit hervorzuheben und auf diese Weise auch das Interesse aller Nichtjuden an einer Integration „auf Augenhöhe“ zu wecken. 2. Die zweite Kategorie ist das zugrundeliegende historiographische Konzept22 des Josephus, nach dem er arbeiten will: Es ist zunächst und allem Anschein nach ein griechisches Konzept. Es arbeitet mit der Begrifflichkeit und der methodischen Gestaltung, wie sie der griechisch-römische Leser kennt. Das aber bedeutet zwangsläufig, dass sich Josephus als jüdischer Autor von den üblichen jüdischen historiographischen Konzeptionen (wie man sie z. B. aus den Königsbüchern der Bibel oder den Makkabäerbüchern erschließen kann) behutsam löst (erkennbar etwa daran, dass Jahwe eine geringere Rolle spielt23). Josephus greift vielmehr dezidiert griechische Konzeptionen auf, ja mehr noch: er verinnerlicht sie, indem er alle bisherigen Versuche der Darstellung generell und pauschal („die einen“, „die anderen“) als verfehlt abkanzelt (das wird dann später noch explizit ausgeführt). Er vereinnahmt darüber hinaus den Begriff der „Historia“ (seit Herodot24 bedeutet der Begriff „Forschung“, und zwar über ein Thema aus der Vergangenheit) ganz in der griechischen Tradition stehend für sich, während die methodische Anlage wiederum nach Thukydides klingt. Bemerkenswert ist dabei, wie Josephus sich geradezu selbstverständlich in die 21 Thukydides 1,1: In der Erwartung habe er die Erforschung des Peloponnesischen Krieges be-

gonnen, „er werde bedeutend sein und denkwürdiger als alle vorangegangenen”. Vassiliki Pothou (Kiel) arbeitet zur Zeit an einem größer angelegten Vergleich von Flavius Josephus und Thukydides. 22 Zur jüdischen Geschichtsschreibung in hellenistischer Zeit vgl. G. E. Sterling 2007 (wie Anm. 9). 23 Anders Sterling 2007 (wie Anm. 9). 24 Hdt. Prooem. ἱστωρία ἀπόδεχις, was wörtlich „Darlegung seiner Forschung“ heißt. Der Begriff taucht dann wieder bei Aristoteles in der Poetik 9,3 definitorisch auf: διὸ καὶ φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον ποίησις ἱστορίας ἐστίν· ἡ μὲν γὰρ ποίησις μᾶλλον τὰ καθόλου, ἡ δ’ ἱστορία τὰ καθ’ ἕκαστον λέγει („Deswegen ist die Poesie auch philosophischer und ernsthafter als die Geschichte. Denn die Poesie stellt mehr das Allgemeine, die Geschichte das Einzelne dar“).

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herrschende historiographische Tradition einbringt, d. h. er wählt nicht etwa aus alternativen Formen eine für sich heraus, sondern er schreibt, als ob nur so Historiographie möglich ist. Damit transformiert er aber die griechisch-römische Historiographie allein durch ihre Nutzung durch ihn selbst und für die jüdische Geschichtsschreibung in einer Weise, dass er der zeitgenössischen Historiographie die Deutungshoheit streitig machen kann. Im Grunde geht es ihm offenbar darum, ein Konzept zu entwickeln, die griechische kulturelle Tradition durch seine Adaption von den zeitgenössischen (eher judenfeindlichen) Griechen gewissermaßen abzuspalten.25 Dieses Vorgehen ist sehr subtil auf eine Gleichstellung der Juden hin ausgerichtet und kann natürlich so auch für andere Ethnien in der mediterranenen Gesellschaft Vorbildcharakter erhalten.26 Aber damit ist das Konzept noch nicht ausreichend beschrieben. Vielmehr kommt, recht unvermittelt, eine Wende, denn: Meine Darstellung, so schreibt Josephus, kann natürlich nicht frei von Gefühlen sein! Was sich auf den ersten Blick wie ein Schlag für jeden Thukydidisten ausnimmt, ist ein geschickter Schachzug: Josephus gelingt es mit diesem urplötzlichen Dreh – nämlich von einem nur am ἀκριβές, an der „historischen“ (also im Wortsinne „erforschten“) Wahrheit orientierten Historiker zum parteilichen, weil gefühlsmäßig betroffenen Schriftsteller eines Ereignisses, das seinem Volk so viel Leid beschert hat –, Sympathie, Mitleid, ja Verständnis für die Besiegten, damit auch für die Aufrührer und nicht zuletzt sich selbst zu gewinnen. Mit einer derartigen captatio benevolentiae wollte er versuchen, die Stimmung beider Lesergruppen, der elitären griechisch-römischen wie der „kolonisierten“, untertänigen, jüdischen, günstig zu beeinflussen. Diese Mischung zweier eigentlich nicht kompatibler Methoden, einer akribisch genauen und einer dramatisch-poetischen, macht die Darstellung nicht nur „lesbarer“ (im Vergleich etwa zum Vorbildhistoriker Thukydides, der darauf keinen Wert legte), sondern auch umfassender, weil sie die aristotelische Scheidung zwischen Dichtung und Historie aufhebt und die Darstellung um die Perspektive des persönlich Betroffenen erweitert.27 3. Als dritte Kategorie tritt die Multiperspektivität des Konzeptes hinzu: Es geht Josephus ja um die Allgemeingültigkeit, nicht um Apologie (der Juden) oder Huldigung (der Sieger). Er schreibt im Proömium: „Aus diesem Grunde habe ich, Josephus, Sohn des Matthias, aus Jerusalem, ein Priester, der ich anfänglich die Römer bekämpft und an den späteren Ereignissen 25 Ähnlich auch Tessa Rajak, Ethnic Identities in Josephus, in: dies., The Jewish Dialogue with

Greece and Rome. Studies in Cultural and Social Interaction, Leiden / Boston / Köln 2001.

26 Einige dieser Aspekte hat auch J. Barclay in einem sehr gedankenreichen Aufsatz vor wenigen

Jahren (wie Anm. 19) herausgearbeitet.

27 Vgl. auch Fausto Parente, The Impotence of Titus, or Flavius Josephus’s Bellum Iudaicum as

an Example of “Pathetic” Historiography, in: Sievers / Lembi 2005 (wie Anm. 8), S. 45–69.

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notgedrungen teilgenommen habe, mir vorgenommen, denen, die unter römischer Herrschaft leben, in griechischer Übersetzung das darzulegen, was ich schon früher für die innerasiatischen Nichtgriechen in der Muttersprache zusammengestellt und übersandt habe“.28 Dieser eine Satz verrät eine fein ausdifferenzierte, höchst komplexe Semantik, sich zusammenfügend aus einer mediterranen Mischung regionaler und globaler Elemente. Mit ihr gelingt es Josephus, einen gescheiterten jüdischen Aufstand (der ja kein Krieg gegen einen äußeren Feind war) umzuinterpretieren und ihn zu einem das ganze Imperium interessierenden Ereignis zu machen. Er wertet damit die sich in der Sache nicht von Aufständischen unterscheidenden Gruppe der Juden auf, und dies ganz unabhängig davon, welche die Anlässe und Ursachen des Krieges eigentlich waren. Hilfreich war für die Verwirklichung und Durchführung des josephischen Konzepts – das ist nicht zu bestreiten –, dass er mit einer derartigen Deutung dem Kaiserhaus der Flavier entgegenkam. Angesichts eines eklatanten Mangels an außenpolitischen Erfolgen musste die flavische Dynastie diesen Krieg gegen die Juden zu einer auswärtigen Glanzleistung umdeuten. Josephus half ihnen dabei, denn er machte den Krieg ja zu dem größten aller Kriege. Aber die Strategie des Josephus ging noch weit darüber hinaus: In dem oben zitierten Satz liegt, wie ich meine, die Gesamtkonstruktion des Werkes vor uns: „Ich habe mir vorgenommen“, etwas mitzuteilen: Die ersten drei Punkte (nach dem griechischen Original betrachtet) benennen dann ein universelles Publikum als Adressat in absteigender Richtung (Römer, Griechen, Barbaren: dem Universum in seiner Vielfalt, aber auch in seiner Gliederung, heißt das), die letzten drei Punkte (wieder nach dem griechischen Original) konkretisieren den „hybriden“, vielfältig verwickelten und verflochtenen Autor (jüdischer Priester, Gegner Roms, Kenner Roms); auch diese Linie enthält eine Gewichtung und Gliederung seines Lebens. Dementsprechend ist das Werk nicht einseitig, es gibt weder einen Rom-Zentrismus, noch einen Jerusalem-Zentrismus, sondern eine global ausgerichtete Geschichtsschreibung mit regionaler Orientierung, die nach Osten hin (gewiss in ganz anderer Form) schon kommuniziert wurde und jetzt, ins Griechische übertragen (mit diskursiven Veränderungen, so wird man die Partizipialkonstruktion μεταβαλών sinngemäß auffassen müssen), auch für den westlichen Mittelmeerraum ihre umfassende Gültigkeit behält. Eine solche Konstruktion mit einer weitgespannten Leserschaft und der Herausstellung der eigenen Kompetenz schafft Glaubwürdigkeit. Wichtig war natürlich, dass 28 Übersetzt von O. Michel und O. Bauernfeind. Das griechische Original, das noch eindrück-

licher die Intention des Autors zum Ausdruck bringt, lautet: προυθέμην ἐγὼ τοῖς κατὰ τὴν Ῥωμαίων ἡγεμονίαν Ἑλλάδι γλώσσῃ μεταβαλὼν ἃ τοῖς ἄνω βαρβάροις τῇ πατρίῳ συντάξας ἀνέπεμψα πρότερον ἀφηγήσασθαι Ἰώσηπος Ματθίου παῖς ἐξ Ἱεροσολύμων ἱερεύς, αὐτός τε Ῥωμαίους πολεμήσας τὰ πρῶτα καὶ τοῖς ὕστερον παρατυχὼν ἐξ ἀνάγκης.

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Josephus damit vordergründig dem Kaiserhaus der Flavier sehr entgegenkam, aber mit seiner eigenen Schwerpunktsetzung auch nicht hinterm Berg hielt.

Die Zäsur 70 Aber warum schrieb Josephus so, wie er schrieb? Was wollte er erreichen? Seine Vorgehensweise ist gewiss ungewöhnlich, aber sie war nicht ganz neu. Auch die griechischen „Untertanen“ hatten nach einer ähnlich dramatischen Zäsur (168 v. Chr.: die Niederlage des makedonischen Königs Perseus gegen die Römer in der Schlacht bei Pydna) unter anderem mit literarischen Strategien29 an ihrer neuen, ungewohnten Rolle in einem Imperium Romanum gearbeitet. Am Anfang stand Polybios,30 der Geschichtsschreiber aus Megalopolis auf der Peloponnes (ca. 200–120 v. Chr.): Er schrieb eine Römische Geschichte als Weltgeschichte aus der Perspektive eines Untertanen; es handelte sich dabei um eine Geschichte der römischen Expansion des „langen Jahrhunderts“ vom Ersten Punischen Krieg bis zur Zerstörung Korinths und Karthagos (264–146 v. Chr.), und ihm folgten andere. Sie taten das vermutlich auch aus keinem anderen Grunde, als um ihre kulturelle Identität in einem römisch gewordenen Universum zu wahren. Und das blieb nicht ganz ohne Erfolg: Die Griechen wurden in ihrer Besonderheit bekanntlich von Rom und seiner Elite akzeptiert. Den griechischen Autoren war es im wesentlichen darum gegangen, die Grenzziehungen zwischen den römischen Herren und ihren griechischen Untertanen aufzuheben, wie am deutlichsten bei Plutarch und seinen Parallelbiographien zu ersehen ist – in diesem Werk werden historische griechische Persönlichkeiten unverblümt auf eine gleiche Ebene wie die herrschenden Römer gestellt: Demosthenes und Cicero, Agesilaos und Pompeius oder Alexander der Große und Caesar – so lauteten nur die bekanntesten der von Plutarch zusammengefügten Paarungen. Diese Strategie hatte letzten Endes – und das ist ein Ausweis ihres Erfolges – eine bemerkenswerte Rückwirkung auf die römische Zentrale, wie man an hellenophilen Kaisern wie Nero oder Hadrian deutlich erkennen kann. Dass Josephus ebenfalls das Ziel hatte, das „System“ Imperium Romanum so zu verändern, dass es auch „seinen“ Juden einen darin gesicherten und akzeptierten Platz geben könnte, gewinnt vielleicht gerade durch den oft in seinem Werk durchscheinenden kom29 Vielleicht wird dieser Aspekt zu gering von Fergus Millar, Polybius between Greece and

Rome, in: ders., The Greek World, the Jews, and the East, Chapel Hill 2006, 91–105, eingeschätzt, der Polybios dezidiert als Gegner Roms beurteilt; das war er vor der Zäsur 168/7 ganz sicher, unter dem Zwang der Verhältnisse wurde er jedoch universalistischer. 30 Einen interessanten Vergleich zwischen Josephus und Polybios, die sehr ähnliche Ausgangslagen hatten, zieht Erich S. Gruen, Polybius and Josephus on Rome, in: Bruce Gibson / Thomas Harrison (Hrsg.), Polybius and his world. Essays in memory of F. W. Walbank, Oxford 2013, S. 255–265.

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petitiven, bisweilen sogar „anti-griechischen“ Charakter an Wahrscheinlichkeit. Bisweilen scheint uns Josephus sagen zu wollen: „Die Griechen sind doch auch nicht besser als wir: Warum stehen die so gut im römisch beherrschten Mediterraneum?“ Josephus scheint sich geradezu vorgenommen zu haben, es dahin zu bringen, dass „seine“ Juden es mit den Griechen aufnehmen könnten, um eine ähnliche Akzeptanz bei den Römern erreichen zu können. Hieraus erklärt sich die Spannung zwischen seinem bisweilen antigriechischen Wettbewerbskonzept und seiner gleichzeitigen Hochschätzung griechischer Kultur. Alte Geschichte ist Zeitgeschichte. Ebensowenig wie ihre modernen Kollegen konnten Polybios und Josephus weder als Zeitgenossen noch als Historiker den Brüchen ihrer eigenen Zeit entgehen; diese wirkten vielmehr unmittelbar auf ihre Deutung der vergangenen Epochen zurück. Welche Auswirkungen hatte z. B. die viel zitierte „Stunde Null“ 1945 auf die deutsche Geschichtswissenschaft, unmittelbar und im Laufe der folgenden Jahrzehnte? Und es ist ebenso noch gut in Erinnerung, wie die Umwälzung des Jahres 1989 zur Etablierung einer neuen Globalgeschichte geführt hat, die sich aus der Auflösung der drei „alten“ Welten (Westen, Osten, Blockfreie) gebildet hat. Der Begriff „Globalgeschichte“ wurde fortan zu einem „Kürzel für Ansätze, die sich für Verflechtung und eine relationale Geschichte der Moderne interessieren, nicht eurozentristisch argumentieren und nationalgeschichtliche Perspektiven überwinden wollen“.31 Diese beiden Beispiele zeigen, wie Zäsuren und Brüche auf historisches Deuten eingewirkt haben, wie eine neue Gegenwart den Blick auf die Vergangenheit verändert und sicher Geglaubtes ins Wanken bringt. Dieser Zusammenhang zwischen „Bruch“ und „Geschichtsdeutung“ ist zentral, und er ist m. E. auch im Fall des Jüdischen Krieges von größerer Relevanz, als der gar nicht zu bestreitende Rechtfertigungsdruck, der sich für Josephus aus dem Überlaufen zu den Römern aufgebaut hatte, oder seine Bindung an die Flavier, von denen er zweifellos ausgehalten und versorgt wurde.32 Es ist bemerkenswert – worauf Jonathan Price zu Recht hingewiesen hat –, dass es nie dahin kam, dass Josephus das Imperium Romanum gepriesen hätte oder sich ungebührlich angebiedert hätte; er rühmt vielmehr ausschließlich und immer wieder die traditionelle jüdische Politeia.33 Aber man interpretiert Josephus einseitig, wenn man, wie Seth Schwartz, ihn „as starkly countercultural, radically resistant to Roman or Greco-Roman norms“ beurteilt34 – resistent waren seine Werke überhaupt nicht, auch seine späteren nicht. Vielmehr 31 Sebastian Conrad / Andreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen:

Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: dies. und Ulrike Freitag (Hrsg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a. M. 2007, S. 7. 32 So etwa Uriel Rappaport, Josephus’ Personality and the Credibility of his Narrative, in: Z. Rodgers (Hrsg.), Making History. Josephus and Historical Method, Leiden / Boston 2007, S. 68–81. 33 Jonathan Price 2005 (wie Anm. 8). 34 Seth Schwartz 2010 (wie S. 369), S. 80.

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hebt er die jüdische Politeia heraus aus der griechisch-römischen, macht sie zur besseren, aber nicht zu einer gegenläufigen. Dies kann nur erklärt werden, wenn man die Werke in der Zeit verortet. Das (für Josephus) „lange Jahr 70“ (denn es begann ja für ihn 67) war eine Katastrophe für alle Juden in der Welt, eine Stunde Null von existentieller Dimension. Diese Feststellung scheint banal zu sein, sie ist aber notwendig, weil man geneigt sein könnte, die tatsächliche Fortexistenz der jüdischen Religion nach 70 gleich in das Ereignis der Tempelzerstörung hineinzuinterpretieren, mit der dann vielleicht naheliegenden Konsequenz, dass der Tempel von Beginn an gar nicht so existenziell für die jüdische Religion gewesen sei.35 Es muss dramatisch gewesen sein. Der jüdische Krieg hatte für die Juden katastrophale Folgen: Zunächst hatte er einer gewaltigen, nach Josephus in die Millionen gehenden Zahl von Juden das Leben oder die Freiheit genommen, das Land gehörte fortan nicht mehr der Bevölkerung, Jerusalem und viele andere Städte lagen in Schutt und Asche. Und dann die Aussichten für die Zukunft: Die Religion, das Fundament jüdischen Selbstverständnisses und der politischen Autonomie bis dahin,36 war ihres wichtigsten Symbols und Identifikationszentrums, des Tempels, amputiert, mit noch gar nicht abzusehenden Konsequenzen gerade für die priesterliche Elite, zu der Josephus ja gehörte. Denn wie konnte man sich jetzt religiös und politisch neu formieren? War nicht genau das, die Beseitigung der Religion durch die Zerstörung des Tempels, das Ziel der römischen Besatzungsmacht? Und auch 20 Jahre später, in den 90er Jahren, war immer noch nicht erkennbar, welche dauerhaften Folgen dieses Ereignis haben würde. Wie sollte, wie konnte es überhaupt weitergehen? Wir wissen zwar heute, dass es gelang, aber das war in den ersten Jahrzehnten alles andere als gewiss. Das Jahr 70 musste also für die jüdischen Zeitgenossen der „Super-Gau“ gewesen sein, die größtmögliche Tragödie für jeden Juden, für jeden jüdischen Priester37 – militärisch, politisch, wirtschaftlich, religiös: Der Krieg hatte mit einer Katastrophe geendet. Anders können die Zeitgenossen kaum empfunden haben. War das das Ende einer respektierten Stellung in der Welt? Dieser Respekt im gesamten Mittelmeerraum, im Imperium Romanum, überall da, wo Juden lebten, hing ja spä35 Gewiss ist die Diskussion über die Frage, wie die Tempelzerstörung als Zäsur einzuschätzen

ist, in vollem Gange. Aber sicher ist, dass die weitere Entwicklung im Judentum, die rabbinische Literatur und die Synagogenkultur ohne dieses Ereignis nicht denkbar sind: Vgl. Shai Cherry, Thorah through Time. Understanding Bible Commentary from the Rabbinic Period to Modern Times, Philadelphia 2007, S. 15: „The most important event in Jewish history for understanding Rabbinic literature is the destruction of the second Temple by the Romans in 70 CE“. Zu den Reaktionen Johannes Hahn (Hrsg.), Zerstörungen des Jerusalemer Tempels. Geschehen – Wahrnehmung – Bewältigung, Tübingen 2002. 36 Dazu Ernst Baltrusch, Die Juden und das Römische Reich. Geschichte einer konfliktreichen Beziehung, Darmstadt 2011 (zum ersten Mal 2002). 37 Zu Recht betont von Fausto Parente 2005 (wie Anm. 27).

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testens seit den Privilegien, die Caesar und Augustus Juden erteilt hatten und die eine besondere Form von Gleichberechtigung mit sich brachten, an der Religion und an ihrem Zentrum, dem Tempel. Hatten die im jüdischen Krieg siegreichen Römer den Tempel vielleicht sogar darum zerstört, um das Judentum als γένος, wenn schon nicht als ἔθνος (wie es einst griechische Berater dem seleukidischen König Antiochos VII.38 oder wie es Haman dem persischen König Achaschwerosch geraten hatten39) auszurotten? Wer nun sollte und konnte sich zu diesen existenziellen Fragen eher und kompetenter äußern als ein jüdischer Priester, der gute Beziehungen zur imperialen Macht unterhielt? Aus der priesterlichen Gruppe mussten der Judenheit im ganzen Reich Auswege aufgezeigt, Perspektiven für das Weiterleben eröffnet werden. Josephus versuchte Antworten mit einer Literaturgattung, die ein neues Fundament auf den Trümmern des alten Gebäudes legen sollte. Er zeigte auf, wie es weitergehen konnte, wie (mit oder ohne Tempel, aber auf der Basis des Tempels) ein kulturelles Überleben erreicht werden konnte. Vor einem ähnlich existentiellen Problem waren Juden in ihrer Geschichte schon einmal gestanden: Gegen das Religionsverbot eines Antiochos IV. im Jahre 167 v. Chr. hatte ein bewaffneter Aufstand (der MakkabäerAufstand, über den die beiden ersten Makkabäerbücher handeln) geholfen, aber diese Lösung fiel natürlich gegen Rom aus. Der amerikanische Religionswissenschaftler Steven Weitzman hat in seinem oben erwähnten Buch von 2005 „Surviving Sacrilege“ für die Zeit der Fremdbestimmung zwischen 586 v. Chr. bis 70 n. Chr. verschiedene jüdische Überlebensstrategien zur Erhaltung der Identität in fremder Umgebung herausgearbeitet, pragmatische Strategien wie Anpassung, Täuschung oder Guerilla-Kriegführung, aber auch solche, die er im Anschluss an den Soziologen Michel de Certeaux40 die „arts of the weak“ nennt (wie z. B. die sprachliche Überhöhung des jüdischen Tempels, um ihn zu einem ästhetischen Meisterwerk werden zu lassen; sogar pure Imagination; oder die Beschwörung von nicht vorhandener Macht wie in der „Kriegsrolle“, welche in Qumran gefunden wurde).41 Das kulturelle Weiterleben des Judentums war nach dem desaströsen Krieg mehr als in Gefahr, das wusste niemand besser als Flavius Josephus. Sicherlich: Josephus wurde es persönlich leichter als anderen gemacht; wegen einer zutreffenden Weissagung über das Kaisertum Vespasians und wegen seiner jüdisch-priesterlichen Kompetenz wurde er von Rom noch im Verlaufe des Krie38 Der sizilische Autor Diodor 34/35, 1, 1 berichtet darüber; dezidiert gibt er als Rat der Berater

des Königs wieder, er solle die Juden μάλιστα μὲν ἄρδην ἀνελεῖν, εἰ δὲ μή, καταλῦσαι τὰ νόμιμα καὶ συναναγκάσαι τὰς ἀγωγὰς μεταθέσθαι (die Juden möglichst komplett vernichten, oder, wenn das nicht möglich ist, ihre Gesetze verbieten und sie zwingen, ihre Lebensweise zu ändern“). 39 So im jüdischen Buch Esther 3, 9. 40 Die Kunst des Handelns, franz. Or. 1980; dt. 1988. 41 Steven Weitzman 2005 (wie Anm. 20).

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ges vereinnahmt, dann zum römischen Bürger gemacht und versorgt. Aber zum glühenden Bewunderer Roms mutierte er dennoch nicht. Kommen wir genauer zum Konzept des Josephus.

Das strategische Konzept Unter der Prämisse dieser Zäsur, wird der Weg, den Josephus in seinen vier erhaltenen Werken, alle nach 70 und in einem Zeitraum von etwas mehr als 20 Jahren (70er – 90er Jahre) entstanden, gewählt hat, verständlich: Er präsentiert in ihnen die jüdische Politeia in einer mit der „westlichen“, der mediterranen Sicht kompatiblen Sprache, er macht sie „gleich“, indem er sie an den herrschenden Diskurs anbindet, und integriert sie auf diese Weise. Josephus schreibt so in voller Absicht, um Jüdisches mit Römischem zu verbinden; die Differenzen verleugnet er dabei keineswegs, aber sie machen das Judentum nicht zum Gegenpol der griechisch-römischen Welt, sondern zu einem an gemeinsamen Wertvorstellungen orientierten anderen Weg, der aber politisch und kulturell mindestens ebenso erfolgreich ist. Wenn diese Deutung richtig ist, dann kam jedem einzelnen der Werke des Flavius Josephus eine besondere Aufgabe zu: 1. Für die neue, erheblich schwieriger gewordene Situation der Juden war der Krieg gegen die Römer verantwortlich: Deshalb musste an erster Stelle eine Kriegsanalyse aus jüdischer Sicht stehen, die gleichzeitig auch die Voraussetzungen schaffen musste, die Kriegsparteien miteinander zu versöhnen. Dieses Ziel konnte nur dann erreicht werden, wenn keine der beiden kriegführenden Parteien umfassend Schuld auf sich geladen hatte, weder die Römer noch die Juden. Die Grundvoraussetzung, um die Integration des Judentums in das Universum des Mittelmeerraumes zu erreichen, war zunächst die Unschuld des Judentums als Volk und Religion an dem großen Krieg (davon hing alles ab): In diesem Sinne rückt Josephus zur Erklärung der gewaltigsten Katastrophe der jüdischen Geschichte drei Elemente in den Vordergrund, die sein ganzes Werk über den „Jüdischen Krieg“ durchziehen: (a) das Ethnos der Juden und seine Führung war nicht auf Krieg aus, im Gegenteil; (b) Rom und seine Führung ist kein tyrannisches System, das einen solchen Aufstand erzwungen hätte; daraus folgt zwangsläufig, dass (c) Terroristen und subalterne römische Beamte (wie die Statthalter Albinus, Cumanus, Florus) die alleinige Kriegsschuld tragen. Gemäß der Zielsetzung ist die Abstufung gleichsam spiegelbildlich, nämlich in der Reihe A – B – B – A: Juden (A) und ihre Religion werden ge-

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priesen, Römer (B) und ihr System werden respektiert, die subalternen Beamten der Römer werden wegen ihrer unsensiblen Handlungen kritisiert, jüdische Terroristen („Räuber“) werden verflucht: Juden stehen ganz oben, aber auch ganz unten, sie haben die am höchsten stehende Ordnung, aber auch die verworfensten Terroristen; Römer stehen in jeder Beziehung in der Mitte, ein an sich zu respektierendes Imperium setzt zuweilen unfähige Beamten ein. Dieser Erklärungsansatz sucht selbstkritisch die Hauptschuld bei Juden, aber nicht beim Volk im ganzen und den Repräsentanten des Gemeinwesens, Römer tragen eine Teilschuld, aber an der imperialen Ordnung ist nichts auszusetzen und vor allem nichts zu ändern. Dadurch erhält der Krieg den Charakter eines „Betriebsunfalls“, einer einmaligen Entgleisung, gegen deren Wiederholung man sichernde Mechanismen einrichten kann, und insbesondere: Die Integrität und die Integrationsfähigkeit des Judentums wird von dem Krieg nicht berührt, während trotzdem der Krieg selbst im Interesse der nach mühevollen Kämpfen schließlich siegreichen Flavier als gewaltig dastehen kann. Damit setzt Josephus eine perfekte Analysestrategie ein:42 Der Historiker in ihm ist nicht nur „rückwärtsgewandeter Prophet“ (Friedrich Schlegel), sondern schafft, wie einst Thukydides, einen „Besitz für immer“ (κτῆμα ἐς ἀεί): Denn dieser erhoffte sich, dass seine Leser Lehren aus seiner Analyse ziehen sollten: „Wer … klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten.“43 Die Leser des Flavius Josephus konnten solche Bezüge zu dem Urahn der Historiographie ohne weiteres herstellen, und sie lasen sie bei einem jüdischen Historiker, der auf diese Weise seine Akzeptanz vergrößerte. 2. Bei seiner aktuellen Kriegsanalyse konnte es aber, so wusste Josephus, nicht bleiben: Strategisch musste ein zweiter Schritt folgen: Die jüdische Politeia war umfassend in die mediterrane-römische Wertordnung einzufügen. So schrieb Josephus etwa 20 Jahre später eine ἀρχαιολογία, eine „Altertumskunde“, eine „Geschichte“ der Juden in 20 Büchern.44 Darin entwarf er eine Politeia, die sich historisch nahtlos teilen lässt: 10 Bücher auf der hebräischen Bibel allein gegründet, 10 Bücher auch aus hellenistischen Quellen geschöpft. Das ganze Werk ist formal wie die Entwicklung des Judentums in der Welt gestaltet; die Zäsur liegt in der Mitte. Auch diese „Geschich42 Jos. bell. 1, 7f.: Viele Historiker „wollen nämlich die Römer in ihrer Größe darstellen, setzen

aber dabei die Sache der Juden herab und verkleinern sie. Ich sehe aber nicht ein, wie die groß erscheinen können, die Kleine besiegt haben“. 43 Thuk. 1, 22, 4. 44 So erklärt sich die unterschiedliche Gewichtung der josephischen Werke (hier der „Jüdische Krieg“, dort die „Altertümer“ und „Gegen Apion“, die Seth Schwartz 2010 (wie S. 369), 83f., erkennt, aber kaum erklärt.

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te der Juden“ trägt schon im Titel den Rekurs auf die weithin anerkannte griechisch-römische Geschichtsschreibung, denn der Name und das Konzept der „Archäologie“ waren historiographisch gebräuchlich45 und erinnert ebenfalls und besonders an die Vorgehensweise des Thukydides, der gleich zu Beginn seines Werkes die Frühgeschichte der griechischen Welt so analysiert, dass sie in die Ursachenforschung für den Peloponnesischen Krieg integriert werden kann. So kann man die Archäologie des Josephus also auch lesen – als eine Hinführung zum Jüdischen Krieg. Dazu wird, was eine Leistung sui generis darstellt, die Bibel in einer eigenen griechischen Übersetzung mit der griechisch-römischen Welt, dem Mediterraneum, kompatibel gemacht: Moses ist in dieser Politeia der Bibel zwangsläufig ein Nomothet griechischer Prägung, nur viel älter und viel besser; und sein Werk, die mosaische Ordnung, wird in die Verfassungsmodelle der Griechen transponiert, sie fügt sich bestens ein, nur ist sie stabiler und geordneter.46 Die jüdische Politeia wird von Josephus bemerkenswerterweise in ihrer perfekten, unverminderten Form präsentiert, um sie kompatibel zu machen. Das bedeutet: Das Fehlen des Tempels wird in diesem Werk schlicht ignoriert, Josephus behandelt die jüdische Politeia ganz so, als ob der Tempel noch steht. Mehr als zwei Jahrzehnte nach seiner Zerstörung diese einfach zu ignorieren: Ist darin eine implizite Aufforderung zu sehen, das integrative Zentrum des Judentums wieder aufbauen zu lassen – implizit deshalb, weil die Rücksicht auf die flavischen Befindlichkeiten es verboten, explizit den Wiederaufbau zu fordern? 3. Wenn dieses Konzept, die Integration des Judentums als Politeia in eine griechisch-römische Kulturgeschichte, Erfolg haben sollte, dann konnte Josephus hier nicht halt machen. Es musste noch ein dritter Schritt erfolgen, nämlich die Auseinandersetzung mit den Feinden der Juden, die sie in den Poleis und in Palästina unter den griechischen Intellektuellen hatten. Diese Auseinandersetzung musste in der Abarbeitung und Verwerfung des griechischen judenfeindlichen Diskurses bestehen, mit all seinen „Argumenten“, selbst den abstrusesten. Josephus geht dabei so vor, dass er den Diskurs geradezu „umdreht“, indem er die jüdische Politeia „hellenisiert“ und damit wegführt von dem Vorwurf der „Menschenfeindlichkeit“. Er schreibt in seinem Werk „gegen Apion“: οἶμαι γὰρ ἔσεσθαι φανερόν, ὅτι καὶ πρὸς εὐσέβειαν καὶ πρὸς κοινωνίαν τὴν μετ᾽ ἀλλήλων καὶ πρὸς τὴν καθόλου φιλανθρωπίαν ἔτι δὲ πρὸς δικαιοσύνην καὶ τὴν ἐν 45 Vgl. auch Tessa Rajak 2001. 46 Dazu besonders Paul Spilsbury, Reading the Bible in Rome: Josephus and the Constraints

of Empire, in: Sievers / Lembi 2005 (wie Anm. 8), S. 209–227, der betont, dass Josephus in diesen ersten Büchern eine Politeia konstruiere, die von Eretz Israel abgelöst ist.

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τοῖς πόνοις καρτερίαν καὶ θανάτου περιφρόνησιν ἄριστα κειμένους ἔχομεν τοὺς νόμους. „Ich glaube, es wird sich erweisen, dass wir in Bezug auf Religion, auf Gemeinschaft unter uns selbst und auf allgemeine Menschenfreundlichkeit, schließlich auch in Bezug auf Gerechtigkeit, Standhaftigkeit in Beschwernissen und Todesverachtung bestens verfasste Gesetze haben.“47

Es kann kaum klarer und eindeutiger ausgedrückt werden, worauf es Josephus ankam: Der Wertekanon, der im Imperium Romanum bei allen Intellektuellen verinnerlicht war und den wohl jede der Philosophenschulen unterschrieben hätte: Philanthropie, Eusebie, Gerechtigkeit, Tapferkeit – alle diese Tugenden sind nicht nur „mediterrane“, sondern auch jüdische Tugenden. Die Argumentation, mit der Josephus im Einzelnen den antijüdischen Diskurs zu widerlegen trachtet, kann hier nur in Umrissen nachgezeichnet werden, aber einige zentrale Punkte, die ebenfalls der Integration in die römische dominierte Umwelt dienten, sollen angesprochen werden. Ein wichtiges Argument für Josephus war das hohe Alter der Juden, das er umfänglich im ersten Buch der Schrift gegen Apion nachweist. Alter war in der griechisch-römischen Antike ein Wert an sich und darüber hinaus ein zentraler Bestandteil des antiken Diskurses über Ordnungen.48 Josephus setzt sich mit den Feinden des Judentums offensiv auseinander und verkündet selbstbewusst, dass das Judentum und die mosaischen Gesetze älter als alle griechisch-römischen Ordnungen seien. Ein weiteres Argument sind sodann die Gemeinsamkeiten mit den in der mediterranen Welt gerühmten griechischen Ordnungen und Utopien (gemeint sind insbesondere die platonische Politeia sowie die spartanische Ordnung Lykurgs und die athenische Ordnung, die Solon geschaffen habe). Josephus macht diese Gemeinsamkeiten explizit, und er stellt sie mittels seiner sprachlich-literarischen Gestaltung heraus. Sein überraschendes Fazit ist: Wenn nun das Judentum älter als die griechischen Ordnungen ist, dann können ja diese Gemeinsamkeiten nicht durch jüdische Nachahmung erklärt werden,49 sondern im Gegenteil, nur durch die jüdische Weitergabe an die Griechen; mithin erweisen die Gemeinsamkeiten gleichzeitig die Überlegenheit des Judentums. Schließlich argumentiert Josephus mit der Stabilität der jüdischen Politeia, die an sich ja niemand bestreitet: Jedermann könne sehen, wie stabil und fest gegründet die jüdische Politeia ist. Dadurch aber habe sie nicht nur ihre Überlegenheit erwiesen, sondern sie halte auch eine Antwort auf 47 Jos. c. Ap. 2, 146 (Übersetzung von F. Siegert). 48 Jos. c. Ap. 1, 2. 49 Jos. c. Ap. 2, 152 formuliert er das ausdrücklich.

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die vielstimmige Suche der griechischen Philosophen nach stabilen Ordnungen bereit. Diese perfekte jüdische Ordnung bildet demnach in der Schrift „gegen Apion“ das Schlussglied einer Beweisführung, die die antijüdischen Vorwürfe eines Apion und anderer Griechen (eigentlich) ins Nichts auflösen musste.50 4. Man könnte abschließend noch ein viertes Element in der auf Integration zielenden josephischen Gesamtkonzeption benennen, das aber eher eine Voraussetzung für seine Glaubwürdigkeit darstellt; als Anhang dürfte es wohl auch von Josephus gesehen worden sein. Dieses Element ist seine eigene persönliche Integrität, die er in seiner nicht zu Unrecht als apologetisch beurteilten Autobiographie belegen möchte. Die Tatsache seines Engagements in Religion und Krieg als Priester und Stratege war nicht zu bestreiten, aber er konstruiert ganz offensiv sein Leben in der Sprache, die man im Imperium verstand: hervorragende Herkunft, sehr gute Erziehung, politische Tätigkeit im Einsatz für sein Volk, militärische Fähigkeit, die sich in Erfolgen (nicht gegen Rom, aber gegen die Volksverderber im Innern Galiläas) und in Gunstbeweisen der Tyche zeigten, und anderes mehr. Kurzum, die Autobiographie erweist, so konstruiert Josephus sie, seine auctoritas, folglich auch seine Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit, auf deren Basis er seine Konzeption der jüdischen Gesellschaft im Imperium Romanum glaubwürdig entwerfen kann.

Fazit Um zusammenzufassen: Josephus hatte, um zu dem Titel des Aufsatzes zurückzukehren, keine zwei Seelen in einer Brust, sondern immer nur die eine, die jüdische. Aber Josephus hatte durch die Zäsur des Jahres 70 (oder 67) gelernt und sich die griechische (durch Rom oft privilegierte, s. gerade Nero) Begrifflichkeit selektiv angeeignet, um das Jüdische in diese regelrecht zu übertragen, zu übersetzen. Dadurch konnte er neue Handlungsmöglichkeiten, sowohl für Juden als auch für Römer, erschließen und damit auch Antworten auf die alles beherrschende Frage, wie jetzt jüdisches Leben im römischen Imperium überhaupt vorstellbar sei, geben. Die frühere politische Vielfalt des Mittelmeerraumes war definitiv, das wusste Josephus nach 70, zu einem Universum geworden, aber zu einem Universum, das plurivers blieb, und in diesem Universum sollten alle verschiedenen Teile gleich sein, daher auch die jüdischen Gemeinden nicht schlechter gestellt 50 Jos. c. Ap. 2, 145–296 behandelt die Qualität, Stabilität und Verbreitung der jüdischen Poli-

teia, die er als Theokratie bezeichnet und als den Höhepunkt mediterraner Ordnungsvorstellungen preist. Vgl. auch Hubert Cancik, Theokratie und Priesterherrschaft. Die mosaische Verfassung bei Flavius Josephus, c. Apionem 2, 157–198, in: Jacob Taubes (Hrsg.), Religionstheorie und politische Theologie: Theokratie: Bd. 3, München u. a. 1987, S. 65–77.

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sein als die anderen. Möglicherweise hatte Josephus von den Griechen und ihren Erfahrungen bei dem erzwungenen Eintritt in das Imperium Romanum seit 168 v. Chr. gelernt: Die griechischen Autoren wie Polybios, Dionysios von Halikarnass oder später Plutarch hatten selbstbewusst mit ihrer „höheren Kultur“, mit dem Alter ihrer Politeia und mit dem Einbringen ihrer Kompetenz argumentiert, und diesem Konzept war ein Erfolg beschieden, ein so großer Erfolg, dass selbst römische Kaiser zu Anhängern des Philhellenismus wurden. Vielleicht erstrebte Josephus etwas Vergleichbares. Dass die jüdische Religion und Kultur anders war, bestreitet Josephus nicht, aber sie war nicht völlig wesensfremd, schon gar nicht menschenfeindlich. Im Gegenteil, er versuchte die Kompatibilität zwischen der mediterranen und der jüdischen Politeia zu vermitteln. Damit hatte Josephus eine Strategie entwickelt, die, wie die folgenden Jahrzehnte zeigten, die Parameter der Realität – denn die Herrschaft der Römer auch über die Juden war ja eine Realität – teilweise aushebelte und dadurch nicht ganz erfolglos war; bekanntlich lebte ja das Judentum trotz Tempelzerstörung weiter, so sehr sich spätere Eiferer wie der Kirchenvater Johannes Chrysostomos auch mühten, gerade dieses Datum, die Tempelzerstörung, zum Endpunkt der „alten“, der jüdischen Religion zu machen.

Lennart Lehmhaus „Wie der Fisch aus dem Großen Meer“ Judentum, Diaspora und rabbinische Bewegung im mediterranen Kontext

Jüdische (Kultur)Geschichte und der New Mediterraneanism Im Gegensatz zur allgemeinen historischen Forschung hat im Bereich der Judaistik oder der jüdischen Historiographie der Begriff des Mediterranen eine eher kurze Geschichte aufzuweisen.1 Dies gilt insbesondere für Arbeiten zum antiken und spätantiken Judentum, jener Periode also, die im Fokus des hier vorliegenden Sammelbands steht. Dies beruht insbesondere auf forschungsgeschichtlichen Konventionen, bei denen nicht das „Mediterrane“, sondern primär der „Hellenismus“ im Fokus der Aufmerksamkeit stand – ein Sammelbegriff, der ebenfalls mit zahlreichen Problemen der Definition und Eingrenzung behaftet ist und zudem noch einen graeco-zentrischen Fokus aufweist.2 Eine erste Aufmerksamkeit für den Mittelmeerraum begann mit dem prägnanten Titel der ungeheuer detaillierten und gelehrten Studie von Shlomo Goitein „A Mediterranean Society“.3 Allerdings schrieb Goitein keinesfalls eine um1 Stellvertretend für viele kleinere Arbeiten soll hier nur auf die monumentalen Studien von

Emil Ludwig, Am Mittelmeer (Rowohlt, 1923) und von Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990) verwiesen werden. 2 Vgl. Jonathan R. Prag und Josephine Crawley Quinn (Hrsg.), The Hellenistic West. Rethinking the Ancient Mediterranean (Cambridge: Cambridge University Press, 2013). Die Beiträge dieses Bandes erklären die häufig übliche Trennung zwischen griechischem Osten und römischem Westen als eine moderne, anachronistische Perspektive, die kaum der zeitgenössischen Wahrnehmung der hellenistischen Periode entspricht. Vielmehr sei der hellenistische Mittelmeerraum weder das eine noch das andere gewesen, da Rom, eine aufstrebende Macht unter anderen, mit diesen in engem ökonomischen, kulturellen und militärischem Kontakt gestanden habe. Dies hinterfragt klare Schubladen-Konzepte, die bestimmte Ereignisse und Phänomene als „griechisch“, „römisch“ oder „hellenistisch“ kategorisieren. Zur sogenannten Hellenisierung im jüdischen Bereich vgl. Carol Bakhos (Hrsg.), Ancient Judaism in its Hellenistic Context (Leiden: Brill, 2005). 3 Shlomo D. Goitein, A Mediterranean Society: The Jewish Communities of the Arab World as Portrayed in the Documents of the Cairo Geniza. 5 Volumes (Berkeley: University of California Press, 1967–1988).

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fassende Kulturgeschichte des Judentums rund um das Mittelmeer, sondern konzentrierte sich eher auf sozio-historische Mikroanalysen der Alltagskultur, die auf Grundlage der Dokumente aus der Kairoer Geniza (Ehedokumente, Geschäftspapiere, Briefe, Gerichtsunterlagen etc.) erarbeitet wurden, jedoch häufig als Grundlage für verallgemeinernde Thesen über das sogenannte „Geniza-Judentum“ im Mittelmeerraum dienten.4 Auch unter dem Einfluss einer sich neu formierenden Forschungsrichtung (New Mediterraneanism) in den letzten Jahrzehnten wurde das Schlagwort der „Mediterranean Society“ in jüngster Zeit von Seth Schwartz in seiner umfassenden Studie zur jüdischen Geschichte in Antike und Spätantike aufgegriffen, ohne dass dieser Goiteins Studie überhaupt erwähnt. Im Sinne des sozio-historischen und kulturgeschichtlichen Ansatzes bei den richtungsweisenden Vertretern dieser Richtung5 kehrt Schwartz Goiteins Charakterisierung in eine Kernfrage um: „Where the Jews a Mediterranean Society?“6 Er bezieht dabei den in seinem Buch als quasi Weberianischer Idealtyp und heuristisches Modell konstruierten „Mediterraneanism“ auf konkurrierende und interagierende kulturelle Wertesysteme mit dem Fokus auf institutionalisierte Reziprozität / Euergetismus (Ehrerbietung und Dankbarkeit für öffentliche Wohltätigkeit) und Solidarität. Die von ihm als allgemein mediterran herausgearbeitete Kultur der Reziprozität, also die Erschaffung und Erhaltung eines Systems von sozialen Abhängigkeiten und Hierarchien (Patronage, Vasallentum, Klientelschaft, Mäzenatentum und Wohltätigkeit), kontrastiert Schwartz mit den ethisch-sozialen Ideen der Tora – nämlich unbedingte korporative Solidarität aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und religiös-moralischer Verantwortung – als ideales jüdisches Gegenkonzept.7 Diese abweichende kulturelle Ausrichtung sei demnach eine der Ursachen, warum der 4 Zur komplexen Beziehung zwischen dem Leben und Wirken von Braudel und Goitein sie-

he Fred Astren, „Goitein, Medieval Jews, and the ‘New Mediterranean Studies´“, The Jewish Quarterly Review 102,4 (2012): 513–531. Eine kritische Beleuchtung von Goiteins Ansatz bei gleichzeitiger Würdigung seines Zeitgenossen Eliyahu Ashtor bietet Elliott Horowitz, „Scholars oft the Mediterranean and the Mediterranean of Scholars,“ The Jewish Quarterly Review 102,4 (2012): 477–490. 5 Insbesondere seien hier zu nennen Peregrine Horden und Nicholas Purcell, The Corrupting Sea (Oxford: Oxford University Press, 2000); sowie David Abulafia, The Great Sea: A Human History of the Mediterranean (Oxford: Oxford University Press, 2011) [= Das Mittelmeer: Eine Biographie (Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2013)] 6 Seth Schwartz, Where the Jews a Mediterranean Society? Reciprocity and Solidarity in Ancient Judaism (Princeton / Oxford: Princeton University Press, 2010). 7 Erich S. Gruen, „On Seth Schwartz, Were the Jews a Mediterranean Society? Reciprocity and Solidarity in Ancient Judaism,“ AJS Review 34, 2 (2010): 410–413. Albert I. Baumgarten, „On Seth Schwartz, Were the Jews a Mediterranean Society? Reciprocity and Solidarity in Ancient Judaism,“ Scripta Classica Israelica XXX (2011): 160–163. Eine deutsche Rezension bietet Benedikt Eckhardt, „Seth Schwartz, Were the Jews a Mediterranean Society? Reciprocity and Solidarity in Ancient Judaism,“ Bryn Mawr Classical Review 2010.03.36; http://bmcr.brynmawr.edu/2010/2010-03-36.html, abgerufen am 10.06.2014.

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Konflikt mit der so genannten „Hellenisierung“ und die Integration der Juden in das römische Imperium so komplex und schwierig waren. Denn diese Systeme basierten auf bzw. nutzten vorhandene mediterrane Formen und Strategien institutionalisierter Reziprozität, die so im jüdischen Milieu kaum zu finden und überdies sozio-religiös sanktioniert oder zumindest diskreditiert waren. Anhand von drei Textstudien aus Ben Sira (Jesus Sirach), Josephus und dem palästinischen Talmud (Yerushalmi) ergründet Schwartz, welche Strategien der Adaption, Ablehnung oder Integration auf jüdischer Seite gewählt wurden, ohne dass diese als repräsentativ für alle soziale Schichten gelten können. Auf diese Weise zeigt sich, dass es deutliche Unterschiede zwischen den sozio-religiösen Idealen und Normen (Tora-Solidarität) und der Lebenswirklichkeit im griechischrömisch geprägten Palästina gab, zwischen denen die genannten Autoren zu vermitteln suchten. Allerdings konzentriert sich Schwartz in seinen Fallstudien eher auf die theoretische Opposition zwischen beiden Wertesysteme und deren praktische Integration, als dass der Frage nach deren spezifisch mediterranem Charakter nachgegangen würde. Dies rührt insbesondere daher, dass „Mediterraneanism“ als Konzept und Praxis hier im Spannungsfeld zwischen Sozial- und Ideengeschichte behandelt wird. Dabei wird von einem idealtypischen Dualismus zwischen einer Tora-basierten Kultur und der mediterranen Kultur der Abhängigkeit und des Tauschs ausgegangen. Zum einen ist es aber fraglich, ob ein solch scharfer Kontrast tatsächlich von den in der Tora-Kultur lebenden Menschen so wahrgenommen wurde. Denn zum anderen geht es ja nicht um die Intentionen der Verfasser der biblischen Traditionen, sondern um deren Aktualisierung und Verständnis unter den Juden zwischen dem 2. Jh. vor und dem 4. Jh. nach Beginn der Zeitrechnung, wie in den Kapiteln des Buches eindrücklich gezeigt wird.8 Schwartz konzentriert sich in seinem Befund zur grundsätzlich anti-mediterranen Ideologie der Tora, mit der spätere jüdische Autoren zu kämpfen haben, sehr stark auf Texte und archäologische Funde aus Palästina, insbesondere aus dem judäischen Kernland um Jerusalem. Für eine Studie mit der Frage nach dem mediterranen Charakter der Juden wäre es sicher auch fruchtbringend gewesen, auf weitere Quellen aus der bereits existenten Diaspora rund um das Mittelmeer Bezug zu nehmen. Sicherlich muss auch hier das differenzierte, sozio-historische Bild, das sich anhand von literarischen und materiellen Zeugnissen zeichnen lässt, unschärfer bleiben, als es unsere groben Kenntnisse über jüdisches Leben im Nahen Osten und im Mittelmeerraum bis zur Zeitenwende vermuten lassen. Immerhin lässt sich sagen, dass für die stärker griechisch (später auch römisch) orientierten jüdischen Gemeinschaften – vor allem in Ägypten, aber auch in Klein8 Sogar die überschwänglich positive Kritik von Michael J. Cook, Studies in Jewish-Christian

Relations 5 (2010): 1–3, weist auf die chronologische Distanz hin, die zwischen den von Schwartz untersuchten Autoren und der Abfassung der Tora bzw. der Hebräischen Bibel liegt.

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asien und Italien – der Befund zur anti-mediterranen Ausformung einer ToraIdeologie neue Facetten hinzugewönne und die Analyse der palästinischen Texte in einem anderen Licht eines erweiterten Kontextes erscheinen ließe. Dies zeigt sich insbesondere bei Josephus (Rom), Philo (Alexandrien) und auch bei einer umsichtigen Auswertung frühchristlicher Schriften aus Kleinasien.9 Eng verbunden hiermit ist die von Schwartz selbst in einer früheren Publikation aufgeworfene Frage, wo sich eine exakte Grenze zwischen „jüdischen“ und „griechischrömischen“ Praktiken und Ansichten überhaupt ziehen lässt.10 Daran schließt sich die wichtige, aber ebenfalls schwierige Frage, nach der religiös-kulturellen Identität vieler Juden in Antike und Spätantike an, deren Erforschung im Folgenden für die Frühphase der rabbinischen Bewegung nachgegangen werden soll.

Mediterranes Bewusstsein und das „Große Meer“ Im Gegensatz zu anderen Kulturen rund um das Mittelmeer finden sich in den jüdischen Traditionen der Antike und Spätantike nur wenige Informationen und sicherlich keine „mediterrane Ideologie“ oder Prägung in Literatur oder Musik, wie sie insbesondere in den großen Hafenstädten und Seefahrervölkern vorkamen. Bis ins Mittelalter sprechen jüdische Quellen eigentlich durchweg einfach nur von „dem Meer“ (ha-jam) oder von dem „großen Meer“ (ha-jam hagadol),11 wenn sie das Mittelmeer meinen. Allerdings sind die Belegstellen, die mit der zweiten Terminologie operieren, weitaus weniger, als man es vor allem bei in Palästina entstandenen Texten annehmen könnte. Inhaltlich unterstreichen jedoch viele Passagen den besonderen Stellenwert dieses Meeres gegenüber anderen Gewässern. Ihm ist nach Mischna Berakhot (Segenssprüche) 9:2 ein eigener Segen gewidmet, der sich von den Benediktionen für andere Naturphänomene abhebt (vgl. auch im Talmud Yerushalmi zu Berakhot 9, 2 [13c–d]). Andere Stellen (Mischna Para 8:8 / Mischna Mikwaot 5:4) betonen explizit, dass 9 Eine profunde und konstruktive Kritik findet sich bei Steven Weitzman, „Mediterranean

Exchanges: A Response to Seth Schwartz’s Were the Jews a Mediterranean Society?,“ The Jewish Quarterly Review 102,4 (2012): 491-512, hier 510: „If Judaism and Mediterraneanism are not the opposed social systems that Schwartz understands them to be, it follows that Jews may not have had to resolve the tensions that he detects in sources like Ben Sira and Josephus because those tensions may not really be there to begin with.“ 10 Seth Schwartz, Imperialism and Jewish Society, 200 BCE – 640 CE (Princeton: Princeton University Press, 2001); Idem, „Palestinian Society and Jewish Identity in the High Roman Empire“, in S. Goldhill (Hrsg.), Being Greek under Rome: Cultural Identity, the Second Sophistic and the Development of Empire (Cambridge: Cambridge University Press, 2001), 335–361. 11 Insgesamt finden sich 58 Nennungen, von denen nur ca. 13 auf die frühe Literatur (Mischna / Tosefta / halakhische Midraschim) entfallen. Der Großteil findet sich im palästinischen Talmud (12) und den aggadischen Midraschwerken (26), während die babylonischen Traditionen nur wenige Erwähnungen (8) beinhalten.

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das Mittelmeer als Ritualbad zulässig sei (ha jam ha-gadol ke-mikweh), während andere Gewässer verboten sind. Ähnliche Lehren finden sich bezüglich einer medizinische Nutzung des Mittelmeeres für Bäder, sogar am Shabbat (vgl. Talmud Yerushalmi Shabbat 14, 3 [14c]). Eine große Wertschätzung lässt sich auch in einer Passage in Avot de-Rabbi Nathan (ARN) Version A, Kapitel 40 erkennen, in der die Gelehrsamkeit des Studenten mit Fischen aus verschiedenen Gewässern verglichen wird. Dabei ist der Fisch aus dem großen Meer abschließend jener, der nicht nur das gesamte curriculum studiert hat, sondern auch den Geist und die Fähigkeit besitzt, passende Antworten zu geben.12 Trotz einer gewissen Abneigung gegen den Beruf des Seefahrers und seefahrenden Händlers weist die rabbinische Literatur relativ viele halakhische Regeln über die Seefahrt auf und erwähnt einige Gelehrte, die als Seefahrer oder Überseehändler tätig waren. Insgesamt zeigt sich hier, dass die Rabbinen und sicherlich mehr noch andere jüdische Gesellschaftsschichten mit den maritimen Gepflogenheiten und dem Seehandel im Mittelmeer gut vertraut gewesen sind.13 Eine zentrale Rolle spielt das Meer außerdem auch als Platz des Imaginären (imaginative space), insbesondere in vielen rabbinischen Legenden und Reiseerzählungen, in der sich Politisches (Reise von Rabbinen nach Rom) mit waghalsigen Passagen und Phantastischem (Seemonster etc. in den Erzählungen des R. Bar bar Chana) mischt.14 Die wenigen Beispiele zeigen, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Mittelmeer als geographisch-ökologischer Entität, aber auch die mediterrane Prägung sozio-ökologischer und kultureller Faktoren auf mehr Ebenen vollzieht als nur auf jener des ideologischen Ideals eines „Mediterranismus der Reziprozität“. Für diese Zusammenhänge sind auch die in den letzten zwanzig Jahren erschienenen Studien zu Fragen der kulturell-religiösen Identität sowie der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Rabbinen von immenser Bedeutung. Dabei haben sich erfreulicherweise den Studien über externer Sichtweisen auf und Konstruktionen „des Judentums“ oder „der Juden“15 weitere Arbeiten hinzugesellt, die auf 12 Bis heute zieht sich dieser Topoi durch die Wahrnehmungs- und Darstellungsgeschichte Is-

raels, so dass die Studie von Alexandra Nocke, The Place of the Mediterranean in Modern Israeli Identity (Leiden: Brill, 2009), ihr methodologisches Kapitel mit „Toward the Sea“ überschreibt. 13 Siehe dazu die grundlegende Studie von Daniel Sperber, Nautica Talmudica (Ramt GanLeiden: Bar Ilan University Press und Brill, 1986); und nun die aktuelle Diskussion in Catherine Hezser, Jewish Travel in Antiquity (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011), S. 160–196; vgl. auch Nadav Kashtan (Hrsg.), Seafaring and the Jews (London: Routledge, 2001). 14 Siehe dazu insbesondere Reuven Kipperwasser, „Rabba bar Bar Channa’s Voyages (hebr.),“ Jerusalem Studies in Hebrew Literature, 22 (2007–2008): 215–242; Tziona Grossmark, Travel Narratives in Rabbinic Literature: Voyages to Imaginary Realms (New York: Mellen Press, 2010); und auch Hezser, Jewish Travel, 262–272. 15 Vgl. Peter Schäfer, Judeophobia, Attitudes toward the Jews in the Ancient World (Boston: Harvard University Press, 1998). Miriam S. Taylor, Anti-Judaism and Early Christian Iden-

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die aktive jüdische Partizipation an Identitätsdiskursen und diesbezügliche rabbinische Strategien eingehen.16 Der chronologische Ansatzpunkt für solch eine Studie liegt im, von früheren Historikern wie Graetz17 sicher überzeichneten, historischen Bruch und der Zeitenwende durch die Eroberung Jerusalems und der Vernichtung des Tempels im Jahre 70 sowie dem darauf folgenden Jahrhundert, in dem Palästina von sozioökonomischer Instabilität und lokalen Aufständen, mit der bekannten Niederlage der sogenannten Bar-Kohva-Revolte, geprägt wurde.18 Im Zuge oder als Folge dieser politisch-militärischen Entwicklungen kam es zur Konstellation eines regionalen Diasporajudentums in Palästina selbst. Dies wurde in älteren Studien gerne als Verlust eigener Nationalstaatlichkeit beschrieben, obwohl dies sicher kaum den historischen Gegebenheiten bereits bestehender Abhängigkeit von Rom entsprach. Allgemein ist eine solche Situation zwar nicht einzigartig in der jüdischen Geschichte gewesen, wie das erste biblisch-babylonische Exil unschwer erkennen lässt, stellte jedoch für die jüdische Bevölkerung und ihre Eliten eine neue und nachhaltig prägende Erfahrung dar.19 Die rabbinische Literatur ist reich an Passagen, die sich auf jene Ereignisse der Aufstände, der römischen Feldzüge und die römische Herrschaft allgemein beziehen. Wie wir noch sehen werden, handelt es sich dabei zwar sicher nicht um historiografische Aufzeichnungen im modernen Sinne. Vielmehr spiegeln zahlreiche Anekdoten, Lehren tity: A Critique of the Scholarly Consensus, Leiden: Brill, 1995, betont die eigentlich primär identitätsstiftende und nach innen gerichtete Motivation im antijüdischen „othering“ christlicher Autoren. Dazu siehe auch Karen L. King, What is Gnosticism?, Cambridge, MA: Harvard University Press, 2005, 24: „ ‘Orthodoxxy´and ‘Heresy´ are terms of evaluation that aim to articulate the meaning of self while simultaneously silencinf and excluding other within the group. […] The power relation implied in the discourse of orthodoxy and heresy are firmly embedded in struggles over who gets to say what truth is: […]. The power relation implied in the discourse of orthodoxy and heresy are firmly embedded in struggles over who gets to say what truth is: […]. This discourse not only determines the self but constructs the other as well.“ 16 E. Iricinschi and Holger M. Zellentin, Hrsg., Heresy and Identity in Late Antiquity, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008. Weitere Forschungen zum Thema bieten Judith M. Lieu, Christian Identity in the Jewish and Greco-Roman World, Oxford: Oxford University Press, 2004; Tessa Rajak [u. a.], Hrsg., The Jews Among Pagans and Christians, London: Routledge, 1992; Jörg Frey [u. a.], Hrsg., Jewish Identity in the Greco-Roman World (Leiden: Brill, 2007); Peter Brown, Power and Persuasion in Late Antiquity: Towards a Christian Empire, Madison: University of Wisconsin Press, 1992. 17 Vgl. Heinrich Graetz, Die Geschichte der Juden. 4 Bände (Leipzig: Oskar Leiner, 1897). 18 Zur veränderten Sicht auf die historischen Umstände der Bar-Kohva-Revolte und ihre sozioreligiösen Implikationen vgl. Peter Schäfer (Hrsg.), The Bar Kokhba War Reconsidered. New Perspectives on the Second Jewish Revolt against Rome (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003). 19 Vgl. Daniel Schwartz und Zeev Weiss (Hrsg.), Was 70 CE a Watershed in Jewish History?: On Jews and Judaism before and after the Destruction of the Second Temple (Leiden: Brill, 2011).

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und erwähnte realia die rabbinische Auseinandersetzung mit historischen Begebenheiten in einem komplexen kulturellen Kontext wieder.

Rabbi Jochanan Ben Zakkai als Gründungsvater der Rabbinen in der Diaspora? Eine zentrale Anekdote innerhalb dieses reichen Tableaus bilden die Narrative über die Flucht des rabbinischen Gelehrten Jochanan ben Zakkai aus dem von den Römern unter Vespasian belagerten Jerusalem mit Hilfe einer List, deren plot hier kurz zusammengefasst werden soll. Wie in anderen Erzählungen zum Fall Jerusalems stehen auch hier theologisch-normative Erklärungsansätze im Mittelpunkt.20 Es ist nicht die militärische Überlegenheit der Römer, die zur Katastrophe führt, sondern es sind moralische Verfehlungen und innerer Zwist unter den Juden. So berichten rabbinische Geschichten, dass Jerusalem so reich und gut versorgt gewesen wäre, um die Belagerung mehrere Jahrzehnte auszuhalten. Die radikale Minderheit (biryona / baryonei = Rebellen / Zeloten?), unter der Führung von R. Jochanan ben Zakkais Neffen, sucht jedoch den offenen Kampf und vernichtet diese Vorräte, um die Situation eskalieren zu lassen. Im Angesicht der drohenden Vernichtung wendet R. Jochanan dann eine List seines Neffen an und flieht, indem er sich zuerst krank stellt und dann als tot von seinen besten Schülern aus der Stadt gebracht wird. Als er das Lager der Römer erreicht, erwacht er zu neuem Leben und begrüßt den Feldherr Vespasian als neuen Kaiser. Dieser ist zunächst erzürnt, doch kann ihm der Gelehrte mittels zweier Auslegungen von Bibelversen plausibel machen, dass er zum neuen Herrscher bestimmt sei. Als sich diese Ankündigung bestätigt, gewährt Vespasian dem Rabbinen einige Wünsche. R. Jochanan bittet daraufhin, an die Familienlinie des als Patriarchen bezeichneten Rabban Gamaliel anschließen zu dürfen und sich in Jabne (gr. Iamia) mit seinen Schülern und den Weisen niederzulassen. So ansprechend und stringent diese Erzählung auch erscheint, so wenig lässt sie sich als historischer Tatsachenbericht lesen. Nicht einmal ein von vorsichtigeren Forschern postulierter „historischer Kern“ will sich hier als plausibel konstruierbar zeigen.21 Denn zu allererst lässt sich diese Episode nur in späten Traditionen wie dem babylonischen Talmud, dem späten Midrasch LamR zu den 20 Vgl. etwa Menahem Kister, “Legends of the Destruction of the Second Temple in Avot de-

Rabbi Nathan (hebr.),” Tarbiz 67 (1998): 483–529; und Galit Hasan-Rokem, Web of Life: Folklore and Midrash in Rabbinic Literature (Stanford: Stanford University Press, 2000), 16–38. 21 Abraham Schalit, “The Prophecies of Josephus and of R. Yohanan ben Zakkai on the Ascent of Vespasian to the Throne,” in Bd. 3 des Salo Wittmeyer Baron Jubilee Volume, ed. Saul Liberman (Jerusalem: American Academy for Jewish Research, 1975), pp. 413, 431–432. Gedalyah Alon, Jews, Judaism and the Classical World: Studies in Jewish History in the Times of the Second Temple and Talmud (Jerusalem: Magnes Press, 1977), pp. 269–313; Idem, “How Yabneh Became R’ Johanan ben Zakkai’s Residence (hebr.),“ Zion 3, 3 (1938): 183–214.

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Klageliedern (Jeremia) und den Versionen des ethischen Werks Avot-de-RabbiNathan belegen.22 In der frühen (tannaitischen) Literatur ab dem Jahr 200 dagegen (Mischna, Tosefta und dem palästinischen Talmud Yerushalmi) fehlt eine solche Erzählung oder auch Hinweise auf diese Ereignisse völlig. Alle neueren Untersuchungen zu diesen Narrativen betonen deren primär literarisch-didaktischen Charakter, der alle Versuche einer akkuraten historischen Rekonstruktion ad absurdum führen muss. Es wird vermutet, dass diese Erzählung verschiedene Funktionen innerhalb des rabbinischen Corpus und für das rabbinische Selbstverständnis erfüllen. Alle Versionen der Geschichte versuchen innerjüdische Verfehlungen und Konflikte zwischen verschiedenen Gruppierungen (sozialen Schichten und religiös-politischen Aktivisten) als historische Erklärungsansätze aufzuzeigen. Die von jüdischen Zeitgenossen durchaus als unheroisch und verräterisch wahrgenommene Flucht R. Jochanans wird durch das Narrativ nachträglich legitimiert.23 Zudem füllt diese Erzählung über die Geburtsstunde des rabbinischen Judentums eine Lücke zwischen der glorreichen Zeit des Tempels und der rabbinischen Tradition zur Zeit der Mischna.24 Es ist nicht verwunderlich, wenn spätere Gelehrte mit R. Jochanan einen Rabbinen zum Gründungsvater überhöhten, der in der Tradition ohnehin als Universalgenie, Krone der Weisheit, unübertroffener Halakha-Experte und Mystiker galt. Zudem wird R. Jochanan in der rabbinischen Tradition sowohl mit Nähe zu den Pharisäern als auch einer priesterlichen Abstammung assoziiert. Überdies bot sich R. Jochanan als Gründungsfigur und religiöser Führer in der Über22 In ARN ist die Bitte ganz persönlich gehalten und ohne die Patriarchenlinie. Vgl. Avot de-

Rabbi Nathan A, Kap. 4 (ed. Schechter, pp. 22–-24); Avot de-Rabbi Nathan B, Kap. 6 (ed. Schechter, p. 19); Klagelieder Rabbah 1, 31 zu Kgl 1, 5 (ed. S. Buber, [Vilna, 1893], pp. 65–-69); Babylonischer Talmud Gittin 56a–-b; Midrasch Proverbia 15 (ed. Burton L. Visotzky [New York: Jewish Theological Seminary, 1990], pp. 125–-126). 23 Die babylonische Version ist von allen die kritischste, da sie R. Jochanans Bitten an den Herrscher als selbstgerecht und einfältig schildert, da er nur sein eigenes bzw. das Wohl der Gelehrten, nicht jedoch das Überleben des ganzen Volkes im Blick oder Sinn gehabt habe. Jedoch wird am Ende die gute Absicht und vor allem das lohnende Ergebnis gewürdigt. Vgl. auch Daniel Boyarin, “Masada or Yavneh? Gender and the Arts of Jewish Resistance,” in: Jews and Other Differences: The New Jewish Cultural Studies, eds. Jonathan Boyarin and Daniel Boyarin (Minneapolis and London: University of Minneapolis Press, 1997), pp. 306–-329; und jüngst Amram Tropper, „Yohanan ben Zakkai, Amicus Caesaris: A Jewish hero in rabbinic eyes,“ JSIJ 4 (2005): 133–149. 24 Jeffrey Rubenstein, Talmudic Stories: Narrative Art, Composition, and Culture (Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1999), 139–175; Anthony J. Saldarini, „Johanan ben Zakkai’s Escape from Jerusalem. Origin and Development of a Rabbinic Story,“ Journal for the Study of Judaism 6 (1975): 189–204. Peter Schäfer, „Die Flucht Johanan b. Zakkais aus Jerusalem und die Gründung des ’Lehrhauses’ in Jabne,“ ANRW, Bd. 19, 2 (1979): 43–101; Peter Klaiber, „Immer wieder Yavne: Die Legende von der Flucht Rabban Yohanan ben Zakkais,“ Frankfurter Judaistische Beiträge 34 (2007/2008): 29–51. Eine kommentierte Auflistung aller Literatur findet sich in Hasan-Rokem, Web of Life, 242–245.

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gangszeit an, da viele seiner Lehren als Aktualisierungen oder Reformen (sogenannte „Taqannot“) biblische Vorschriften an die Situation nach dem Verlust des Tempels anpassten. Die frühen rabbinischen Texte kennen demnach Traditionen über R. Jochanan als großen Gelehrten in Jerusalem und später in Jabne, so dass die Fluchtnarration hier ätiologisch als „missing link“ eingefügt erscheint.25 Amram Tropper vermutet gar, dass R. Jochanan aufgrund seiner mahnenden Einstellung und der wundersamen Rettung als Refiguration des Propheten Jeremia vor der Zerstörung des Ersten Tempels entworfen wurde.

Rabbinische Identität und Probleme talmudischer Geschichtsschreibung Diese Erzählung über Rabbi Jochanan ben Zakkai soll uns hier als Ausgangspunkt dienen, da die in ihr vermittelten Inhalte die Historiografie über die Ursprünge und Entwicklungen des sogenannten rabbinischen Judentums lange Zeit geprägt haben. Denn sowohl die frühen Historiker der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert als auch späteren Forscher betrachteten die rabbinischen Narrative, mit einigen Einschränkungen, als wichtige Zeugnisse der jüdischen Geschichtsschreibung, ohne deren religiös-didaktischen und literarischen Aspekte zu berücksichtigen. Diese Sichtweise begründete eine einflussreiche Forschungsrichtung, die bis heute rabbinische Texte als verlässliche, quasi-historische Dokumente ansieht und als eine Art von Tatsachenbericht interpretiert bzw. auch aus erzählerischen Stoffen einen „historischen Kern“ zu extrahieren versucht. So ergab sich anhand von Episoden und Legenden, wie der eben erwähnten, das im Vorhergehenden diskutierte traditionelle und einflussreiche Bild einer rabbinischen Bewegung, die sich nach der Zerstörung Jerusalems im Handumdrehen als neuer mainstream etablierte. Als Alternative zum Tempeljudentum und dem Opferkult habe diese politische, religiöse und kulturelle Elite von nun an das Gesicht und Alltagsleben der jüdischen Nation geprägt. Diese neue Führungselite sei dabei aus der älteren Bewegung der Pharisäer hervorgegangen, habe zunächst an der Küste (Jabneh) und später in Galiläa neue Zentren des Ler25 Laut vieler Traditionen (vgl. Talmud Yerushalmi Ned. 5:6 [39b]; Babylonischer Talmud

Sukka 28a, Baba Batra 134a; Avot-de-Rabbi-Nathan Version A, Kap. 14 und ARN Version B, Kap. 28) war er der letzte und beste Schüler des legendären Hillels, der ihn als „Vater der Weisheit und Vater der Generationen [künftiger Gelehrter]“ pries. Trotz verschiedener Texte über Interaktionen mit pharisäischen Juden ist die früher vertretene Meinung, dass R. Jochanan der Führer der Pharisäer war, der mit den Sadduzäern im Konflikt stand, nicht haltbar. Betrachtet man frühe rabbinische Texte, so sehen diese R. Jochnanan nur bedingt in Jabneh, sondern auch in anderen Orten wirken – im Gegensatz zum „Patriarchen“ R. Gamaliel, der direkter mit Jabneh assoziiert wird. Zur Figur des R. Jochanan siehe die immer noch zur Orientierung sehr brauchbare Studie von Jacob Neusner, Development of a Legend: Studies on the Traditions Concerning Yohanan Ben Zakkai (Leiden: Brill, 1970). Vgl. auch jüngst Stephen Wald, „Johanan ben Zakkai,“ in: Encyclopaedia Judaica. Second Edition. Volume 11 (2007), 373–377.

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nens (rabbinische Akademien), der Gerichtsbarkeit (Sanhedrin) und der Administration (Patriarchat) errichtet, die eine Eigenständigkeit, wenn auch nicht Eigenstaatlichkeit, trotz römischer Fremdherrschaft gewährleisteten.26 Insbesondere Jabneh wurde hier immer, gestützt auf rabbinische Narrative, eine Schlüsselstellung in der Geschichtsschreibung beigemessen. Zum einen sei hier eine rabbinische Akademie gegründet worden, deren halakhische Neuerungen sollen den Grundstein für das religiöse Gesetz, und wie es später in der Mischna kanonisiert worden sei, gebildet haben. Darüber hinaus habe eine Art rabbinische Synode, einberufen durch den „Patriarchen“, sowohl die wichtigsten liturgischen Elemente des späteren Judentums (z. B. das Achtzehngebet der Amida) festgeschrieben, kalendarische Berechnungsmodalitäten erörtert und sogar den biblischen Kanon endgültig bestimmt. In dieser Lesart wurde die Zusammenkunft in Jabne alsdann zu einem Konzil, auf dem eine rabbinische Orthodoxie ihren Kanon, ihre Regeln und ihre Grenzen festlegte. Dies sei einhergegangen mit einer radikalen Ausgrenzung nicht-rabinischer Positionen, insbesondere der sogenannten „Judenchristen“ – unzutreffend meist mit der hebräischen Bezeichnung ‘Minim’ (Andersartige / Nicht-Rabbinen) gleichgesetzt, die oft fälschlich als „Häretiker“ übersetzt wird. Eine Analyse der rabbinischen Traditionen, auf die sich diese Beschreibung stützt, zeigt jedoch, dass deren Historizität kaum zu belegen ist und die damit verbundenen Prozesse (liturgische und biblische Kanonbildung / Formung der Halakha / Ausschluss der ‘Häretiker’) sehr viel spätere und komplexer Entwicklungen darstellen.27 Vielmehr scheinen frühere Historiker hier der historisieren26 Man kann sicherlich Gedalyahu Alon als Gründungsvater dieser (v. a. israelischen) Histo-

rikerschule bezeichnen, der mit seiner Arbeit The Jews in Their Land in the Talmudic Age (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1989) den Rahmen der rabbinischen oder talmudischen Geschichte absteckte. Ihm folgten Shmuel Safrai, The Economy of Roman Palestine (London: Routledge, 1994); und Ze’ev Safrai, The Jewish Community in the Talmudic Period [Hebr.] (Jerusalem: Merkaz Zalman Shazar, 1995). Auch unter anderen zeitgenössischen Historikern habe manche Alons grand narrative oder zumindest einige wichtige methodologische Konzepte übernommen. Vgl. etwa Daniel Sperber, The City in Roman Palestine (Oxford: Oxford University Press, 1998); Ben Zion Rosenfeld, Torah centers and Rabbinic activity in Palestine 70-400 CE : history and geographic distribution (Leiden-Boston: Brill, 2010); J. Schwartz, Jewish Settlements in Southern Judea from the Bar Kokhba Revolt to the Muslim Conquest (Jerusalem: Magnes Press, 1986). 27 In seinem wichtigen Aufsatz zeigt Shaye D. Cohen, „The Significance of Yavneh: Pharisees, Rabbis, and the End of Jewish Sectarianism,“ Hebrew Union College Annual 55 (1984): 27–53, dass es in Jabne weniger um die Konsolidierung einer Orthodoxie und die Exkommunikation der Nicht-Juden ging, als um eine interne Einigung der verschiedenen Strömungen, Schulen oder ‘Sekten’, was den heterogenen und prinzipiell zum Dissens neigenden Charakter rabbinischer Traditionen nachhaltig prägte. Siehe dazu ebenfalls Peter Schäfer, „Die sogenannte Synode von Jabne: Zur Trennung von Juden und Christen im ersten / zweiten Jahrhundert n. Chr.,“ Judaica 31 (1975): 54–64 u. 116–124; und Günter Stemberger, „Die sogenannte ‘Synode von Jabne´ und das frühe Christentum,“ Kairos 19 (1977): 14–21.

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den, innerrabbinischen Legendenbildung unkritisch gefolgt zu sein. Eingehende textkritische Untersuchungen legen nahe, dass die Autoren späterer Traditionen (Talmud und Midrasch) Praktiken sowie Organisations- und Institutionalisierungsprozesse (Gründung rabbinischer Akademien und Gerichte etc.) in idealisierter Form in eine frühere Epoche, eine Art „Goldenes Zeitalter“ rückprojiziert haben.28 Die Forschung spricht hier sogar von einem ‘Jabne-Mythos´, der zu Zwecken der Autoritätssteigerung und Selbstlegitimation von den späteren, amoräischen Gelehrten kreiert worden sei.29 Auch die Existenz eines Patriarchen und einer Institution des Patriarchats oder eines Sanhedriyon (Gerichtshof) lassen sich weder für die Zeit des Zweiten Tempels noch für die ersten zwei Jahrhunderte unserer Zeitrechnung belegen. Sie stellen, wie Lapin zeigt, eher eine typische Entwicklung provinzieller oder lokaler politisch-religiöse Elitenherrschaft in einem geschwächten römischen Imperium vom 3. bis ins frühe 5. Jahrhundert dar.30 Zu den halakhischen Neuerungen siehe Jacob Neusner, „Studies on the Taqqanot of Yavneh,“ Harvard Theological Review 63, 2 (1970): 183–198. Zur Kanonisierung vgl. Giuseppe Veltri, „Zur traditionsgeschichtlichen Entwicklung des Bewusstseins von einem Kanon: die Yavneh-Frage,“ Journal for the Study of Judaism in the Persian, Hellenistic and Roman Period 21, 2 (1990): 210–226. Und zur Jabne-Liturgie vgl. Asher Finkel, „Yavneh’s liturgy and early Christianity,“ Journal of Ecumencial Studies 18, 2 (1981): 231–250; Reuven Kimelman,“Birkat Ha-Minim and the Lack of Evidence for an Anti-Christian Prayer,“ in Albert I. Baumgarten et. al. (eds.), Jewish and Christian Self-Definition (Philadelphia: Fortress Press, 1981), 226–244; zuletzt auch Yaacov Teppler, Birkat HaMinim: Jews and Christians in Conflict in the Ancient World (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007). 28 Die Idealisierung wird vor allem in den vermehrten Bezügen im Babylonischen Talmud auf „unsere Weisen in Jabne“ deutlich (vgl. Berakhot 17a; Ketubbot 50a; Qiddushin 49b; Nidda 15a), deren Akademie im „Weinberg zu Jabne“ (ha-kerem shel / be-Yabne), also in paradiesischen Gefilden, tagte und wegweisende Lehren hervorbrachte. 29 Daniel Boyarin, „Anecdotal evidence: the Yavneh conundrum, „birkat hamminim“, and the problem of talmudic historiography,“ in: Alan Avery-Peck und Jacob Neusner (Hrsg.), The Mishnah in Contemporary Perspective, Vol. II (Leiden: Brill, 2006), 1–35; idem, „The Yavnehcycle of the Stammaim and the invention of the Rabbis,“ in Jeffrey L. Rubenstein et. al. (Hrsg.), Creation and Composition: The Contribution of the Bavli Redactors (Stammaim) to the Aggada (Tübingen: Mohr Siebeck, 2005), 237–289; idem, „The diadoche of the rabbis: or, Judah the Patriarch at Yavneh,“ in Seth Schwartz und Richard Kalmin (Hrsg.), Jewish Culture and Society under the Christian Roman Empire (Löwen: Peetres, 2003), 285–318; idem, „A tale of two synods : Nicaea, Yavneh, and rabbinic ecclesiology,“ Exemplaria 12, 1 (2000): 21-62; 30 Vgl. Hayim Lapin, Rabbis as Romans. The Rabbinic Movement in Palestine 100–400 CE (Oxford: Oxford University Press, 2012). Siehe auch Alan Appelbaum, The Dynasty of the Jewish Patriarchs (Tübingen: Mohr Siebeck, 2013); D. Goodblatt, The Monarchic Principle: Studies in Jewish Self-Goverbment in Antiquity (Tübingen: Mohr Siebeck, 1994); Martin Jacobs, Die Institution des jüdischen Patriarchen (Tübingen: Mohr Siebeck, 1995); Seth Schwartz, „Big-Men or Chiefs? Against an Institutional History of the Palestinian Patriarchate,“ in J. Wertheimer (Hrsg.), Jewish Religious Leadership: Image and Reality, volume

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Parallel zu einer eher nationalistisch-rabbinisch fokussierenden Forschung gab es früh einen gegenläufigen Trend, der zwar auch ähnlich positivistische Ansätze in der Verwendung der rabbinischen Texte aufwies, jedoch insbesondere die kulturelle Einbettung und enge Verflechtung der Juden mit der griechisch-römischen Umwelt betonte (Goodenough / Liebermann), in der die Rabbinen nur eine, wenn auch aufstrebende, Minderheit darstellten.31 Vor allem Jacob Neusner stellte dann seit den 1970er Jahren mit seinem strikt literarischen Ansatz dem Konsens eines ‘common / normative Judaism’ seine These von einem kaleidoskopartigen Mit- und Gegeneinander von jüdischen Gruppierungen oder Sekten (multiple Judaisms) entgegen, das auch für spätere Konflikte und die Konkurrenz zwischen verschiedenen, rabbinischen Schulen grundlegend gewesen sei.32 In Anlehnung an Liebermann und in Abgrenzung zu den Extrempositionen eines normativen Judentums und vieler „Judaisms“ haben sich in der Forschung der letzten 25 Jahre zahlreiche Zwischenpositionen zur Herausbildung und Autorität der rabbinischen Bewegung etabliert. Diese zeichnen sich durch eine neue Methodik und ein geschärftes theoretisches Bewusstsein für die komplizierte Quellenlage aus. In dem von der jüngeren Forschung entworfenen Szenario bildeten die Rabbinen eher eine heterogene Gruppe oder ein Gelehrtennetzwerk, das nicht zwingend repräsentativ für weitere jüdische Kreise waren. Obwohl sie sich selbst als kulturell-religiöse Elite verstanden, hatten sie sicher kaum weitreichende politische Macht. Ihr gradueller Aufstieg zu einer kulturell bestimmenden Größe sowie die volle Konsolidierung einer „talmudischen Kultur“ fällt wohl eher in die 1, (New York: JTS Press, 2004), 155–173.

31 Vgl. insbesondere die Arbeiten von Erwin R. Goodenough, Jewish Symbols in the

Greco-Roman Period (Princeton: Princeton University Press, 1953–1967); Morton Smith, „Goodenough’s Jewish Symbols in Retrospect,“ JBL 86 (1967): 53–68; Saul Lieberman, Hellenism in Jewish Palestine (New York: Jewish Theological Seminary of America, 1950); Idem, Greek in Jewish Palestine (New York: Jewish Theological Seminary of America, 1994). 32 Vgl. J. Neusner, Judaism: The Evidence of the Mishnah (Chicago: University of Chicago Press, 1981); Idem, The Systemic Analysis of Judaism (Atlanta: Scholars Press, 1988). Neusner verwirft in seinen Publikationen nahezu jede Möglichkeit einer historiografischen Forschung für die rabbinische Periode und steht selbst einer Literaturgeschichte der rabbinischen Texte aufgrund ihrer späten Redaktion kritisch gegenüber. Stattdessen hat er einen „Dokumentenansatz“ als Methodologie entworfen, der, ohne jede Quellen- oder Redaktionskritik, auf der Basis der uns vorliegenden Texte versucht, das ideologisch-religiöse Programm der einzelnen Texttraditionen (Dokumente) herauszuarbeiten, um diese miteinander zu vergleichen. Neusner vermutet hinter nahezu jeder Tradition (Mischna, Tosefta, Midrasch Sifra und Sifre, Yerushalmi etc.) eine Agenda der jeweiligen Autoren / Redaktoren, die verschiedenen rabbinischen Strömungen oder Schulen angehörten. Vgl. dazu Seth Schwartz, “The Political Geography of Rabbinic Texts,“ in: Charlotte Fonrobert and Martin Jaffe, (Hrsg.), Cambridge Companion to the Talmud and Rabbinic Literature (Cambridge: Cambridge University Press, 2007, 75-96)

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frühislamische, gaonäische Zeit – und damit in eine Periode, die in diesem Band (noch) nicht behandelt wird.33 Gerade die Ursprünge der rabbinischen Gruppierungen liegen, wie oben gezeigt, weitgehend im Dunklen und sind nur in frührabbinischen Traditionen ansatzweise belegt, die frühestens ein- bis zweihundert Jahre nach den Ereignissen verfasst worden sind. Seth Schwartz hält die absoluten Anfänge der Bewegung für nicht rekonstruierbar und folgert: „To the extent that they began to coalesce into an organization within a few decades of 70, it was more likely from a sense of shared need for mutual support than in the pursuit of some grand, and under the circumstances grandly implausible, scheme to preserve Judaism in the absence of a Temple – an intention often anachronistically ascribed to them by modern scholars.“34

Wichtige Erkenntnisse über die Frühphase der rabbinischen Bewegung finden sich in den Arbeiten von Catherine Hezser, die auf Basis der greifbaren materiellen Artefakte und Textüberlieferungen sozialgeschichtliche und literarische Analysen miteinander verschränkt. Insbesondere die Studie The Social Structure of the Rabbinic Movement in Roman Palestine hat entscheidend dazu beigetragen, viele sicher geglaubte Erkenntnisse der früheren Forschung über die ersten Jahrhunderte dieser Bewegung zu hinterfragen.35 Hezser hat gezeigt, dass es keine klar abgesteckten Grenzen einer rabbinischen Gruppe gab. Weder diente die ehrerbietende Bezeichnungen „Rabbi“ als offizieller Titel, noch formte eine wie immer geartete „Ordination“ ein offizielles Amt. Im Fokus von Hezsers Untersuchung steht jedoch die Sozialstruktur der Rabbinen, die eine zahlenmäßig kleine, aber dafür hochgebildete, stark urbanisierte und gut vernetzte Gruppe innerhalb der heterogenen jüdischen Bevölkerung bildeten. Ihr stabiles und gut ausgebautes dezentrales Netzwerk formten sie durch direkte persönliche Allianzen (S. 493/495: „personal alliance system“), in Gelehrtenzirkeln und in punktueller Interaktion mit der lokalen Bevölkerung und nicht-jüdischen Eliten. Diese Erkenntnisse widersprechen vor allem jener These einiger Historiker, die von einer sofortigen Institutionalisierung und Zentralisierung (etwa am Sitz des 33 Solche Prozesse der Identitätsformation und Grenzziehung scheinen gerade für die Spät-

antike (als eine zweite „Achsenzeit“) und das Judentum im Kontext der Christianisierung und des aufstrebenden Islam prägend (gewesen zu sein). Daher sind für viele rabbinische Texte die Ausprägung seines Identitätsdiskurses und die Einstellung gegenüber den nichtrabinischen anderen von besonderem Interesse. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf potentiell marginalisierte Stimmen und die Popularisierung rabbinischer Lehren für ein breiteres innerjüdisches Publikum. 34 Schwartz, Imperialism, 68. 35 Catherine Hezser, The social structure of the rabbinic movement in Roman Palestine, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997). Zur Situation der Lese- und Schreibfähigkeit und dem Bildungssystemen der Juden in Palästina bis ins 4. Jahrhundert vgl. Aedem, Jewish Literacy in Roman Palestine (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001).

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Patriarchen) der rabbinischen Bewegung und ihrem weitreichenden politischen Einfluss ausgehen. Hezser zeigt, dass es Ansätze zur Konsolidierung bestimmter Strukturen gab (Bate Midrasch – Lehrhäuser bzw. singuläre Übernahme richterlicher Funktionen in lokalen Kontexten), jedoch weder rabbinische Akademien noch autoritative judikative oder politisch-administrative Systeme (Sanhedrin als rabbinischer Gerichtshof / Patriarchat als „Regierung“) zu finden waren. Die an Hezser anschließende Studie von Stuart S. Miller über „Sages and Commoners“36 nimmt bewusst eine vermittelnde Position zwischen einem von der klassischen, meist israelischen, Historikerschule postulierten normativen „common Judaism“ und den sehr vorsichtigen Bewertungen der jüngeren Forschung ein. Miller versucht in seinen größtenteils textbasierten Studien von amoräischen Traditionen (ab dem 3. Jahrhundert), insbesondere des Talmud Yerushalmi, die Reichweite rabbinischen Einflusses und das Verhältnis zu anderen, nicht-rabinischen Juden herauszuarbeiten.37 Ähnlich wie Hezser beschreibt er die Rabbinen als zahlenmäßig eher kleine, dafür hochgebildete Elitezirkel. Diese konnten sich auf einen größeren Kreis von Sympathisanten verlassen, die ihnen materielle und ideelle Unterstützung boten. Im Gegenzug fungierten die Rabbinen hier als religiöse und moralische Ratgeber oder als Vermittler und Streitschlichter mit richterähnlichen Befugnissen, die jedoch nicht politisch institutionalisiert gewesen seien. Gleichzeitig habe es jedoch auch immer viele Reibungspunkte und Spannungen mit einem Großteil der jüdische Bevölkerung Palästinas gegeben (die sogenannten Ame ha-aretz / ‘Landbevölkerung´, auch: ‘ungebildet´), mit denen es vor allem zu eher ungeregelter und punktueller Interaktion gekommen sei. Auch die Studie von Alexander Sivertsev, die den Netzwerkansatz bei Hezser ausbaut, kommt zu ähnlichen Ergebnissen.38 Er argumentiert, dass die Familie und ihrer Erweiterung als Haushalt sowohl im Judentum des Zweiten Tempels (Priester, Pharisäer, Sadduzäer, Essener etc.) als auch in der rabbinischen Bewegung von entscheidender Bedeutung für die Entstehung und Weitergabe religiöser Traditionen gewesen sei. Insbesondere bei den Rabbinen analysiert er ein gleichzeitiges Spannungs- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen den zwei Traditions- und Sukzessionsmodellen des Judentums – die Familie bzw. der 36 Stuart Miller, Sages and Commoners in Late Antique ’Erez Israel. A Philological Inquiry

into Local Traditions in Talmud Yerushalmi (Tübingen: Mohr Siebeck, 2006). Sein Modell eines „complex common Judaism“ folgt in vielen Bereichen E. P. Sanders. 37 In anderen Studien bemüht sich Miller, seine Thesen auch mit einer Vielzahl archäologischer Funde und anderen materiellen Artefakten zu untermauern. Vgl. dazu Stuart Millar, „Stepped Pools, Stone Vessels, and other Identity Markers of ‘Complex Common Judaism,’“ Journal for the Study of Judaism in the Persian, Hellenistic, and Roman Period, 41 (2010): 214–-43. 38 Alexei M. Sivertsev, Households, Sects, and the origins of Rabbinic Judaism (Leiden-Boston: Brill, 2005). Vgl. dazu die Rezensionen von Catherine Heszer, Theologische Literaturzeitung 131, 12 (2006): 1260; und Charlotte E. Fonrobert, Journal for the Study of Judaism 38, 1 (2007): 151–154.

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Haushalt und der Schüler- bzw. Gelehrtenzirkel („die Schule“, aber auch „das Haus“). Während sich die gerade vorgestellten Arbeiten eher mit der inneren Entwicklung der rabbinischen Bewegung befassten, versuchten andere Studien in verstärktem Maße diese Prozesse in ihrem sozio-historischen Kontext der griechischrömischen Kultur und des aufstrebenden Christentums zu verorten. Um letzteres geht es in dem nun schon als moderner Klassiker zu bezeichnenden, bahnbrechenden Buch Border Lines von Daniel Boyarin.39 Die Studie versucht, die vormals oft als monolithische Entitäten verstandenen Strömungen des frühen Christentums und rabbinischen Judentums von innen her aufzubrechen und ihre Fragilität und Konstruiertheit zu beleuchten. Boyarin analysiert im Kontext einer griechisch-römischen Umwelt hier komplexe Prozesse der Identitätsformation und Grenzziehung, die jedoch lange viel mehr Raum für Fluktuation boten, als angenommen. Erst mit der Definition des Christentums als universale, pan-mediterrane „Religion“ hätten die Rabbinen in Analogie aus einer primär ethnischen Kultur eine rabbinische Religion geformt. Auch Seth Schwartz hat für hitzige Debatten gesorgt mit seiner Hypothese einer späten Re-Judaisierung bzw. ‘Rabbinisierung´ der jüdischen Gemeinschaft in Palästina ab dem 4. Jh., nach einer Entjudaisierung nach dem Jahre 70. In seiner viel diskutierten Arbeit untersuchte er die Geschichte der Juden im imperialen Kontext der griechischen, persischen und später römischen Herrschaft. Dabei kommt er insbesondere zu dem Schluss, dass die Rabbinen eine zunächst elitäre Bewegung innerhalb einer größeren, heterogenen jüdischen Bevölkerung gewesen seien, die andere gesellschaftliche Rollen und Identitäten bevorzugte: “the rabbis did have a few followers and probably slightly larger numbers of occasional supporters. This loose periphery of supporters is likely to have consisted of people who in most respects lived normatively Greco-Roman lives and whose Jewishness was strictly compartementalized.”40 Hayim Lapin41 baut auf diesen Argumenten auf und versteht das rabbinische Judentum dezidiert als eine römische Provinzbewegung lokaler und regionaler (Bildungs)Eliten. Seine Analyse widerspricht dem Bild einer jüdischen Sonderrolle oder eines besonderen römischen Interesses an Palästina und den Juden. Lapin beschreibt eine rabbinische Bewegung, die selbst alles andere als homogen und monolithisch war. Diese formte sich in den ersten Jahrhunderten aus einer 39 Daniel Boyarin, Border Lines: The Partition of Judaeo-Christianity (Philadelphia: Univer-

sity of Pennsylvania Press, 2004).

40 Schwartz, Imperialism and Jewish Society, 103–176, hier: 175. 41 Neben der Studie Lapin, Rabbis as Romans, sei hier noch genannt Hayim Lapin, “Hege-

mony and Its Discontents: Rabbis as a Late Antique Provincial Population,” in Richard Kalmin und Seth Schwartz (Hrsg.), Jewish Culture and Society Under the Christian Roman Empire (Leiden: Peeters, 2003), 319–348.

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wahrscheinlich zunächst marginalen, tendenziell eher „urbanen“, religiösen und intellektuellen Elite zu einem Gelehrtennetzwerk mit kultureller Strahlkraft, jedoch ohne weitreichende politische Macht. Lapin argumentiert nachvollziehbar, dass die Rabbinen zwar teils anti-römische Positionen vertraten oder betonten, gleichzeitig jedoch sowohl ihrer Rhetorik, ihren kulturellen Praktiken und ihrem Selbstverständnis nach zutiefst römisch geprägt gewesen seien. Aufbauend auf seinen Ergebnissen würde Lapin die Frage von Schwartz (Were the Jews a Mediterranean Society?) voll bejahen, da es seiner Meinung nach für sie gar keinen Ausweg aus der mediterranen Kultur, sondern nur unterschiedliche, komplexe Strategien der kulturellen Vermittlung, Adaption und Subversion geben konnte. Darüber hinaus zeigt er jedoch auch deutlich, dass dieses Verhältnis nie einer kulturellen Einbahnstraße gleichkommt, da die griechisch-römische Kultur (oder der ‘Hellenismus´) ebenso von allen vermeintlichen Minderheiten geprägt wurde, die an ihr partizipierten. Diese Erkenntnis ist für die Untersuchungen zur Identität der Rabbinen und der gesellschaftlichen Relevanz rabbinischer Kultur und Religion im weiteren Kontext fundamental.

Fazit Die vorhergehende vergleichende Diskussion älterer und neuerer Forschungsansätze zur rabbinischen Bewegung und der jüdischen Geschichte in Antike und Spätantike hat gezeigt, dass sich die Frage(n) nach rabbinischen Identität oder gar ihrer mediterranen Prägung oder ihren Komponenten angesichts einer großen Pluralität des jüdischen Lebens nur schwer beantworten lassen und kaum eindeutige Antworten hervorbringen. Eine besondere Schwierigkeit, der in der jüngeren Forschung mit gesteigertem Bewusstsein und einigem methodologisch-theoretischen Aufwand begegnet wird, betrifft die Art der verfügbaren Quellen. Rabbinische Texte stellen aufgrund ihrer speziellen Natur und ihrer komplexen Produktions- und Überlieferungsgeschichte sicher keine „Rohstoffe“ dar, die unreflektiert als historisch verlässliche Quellen genutzt werden können. Auch können sie nicht stillschweigend als repräsentativ für das Alltagsleben und die Weltanschauungen der gesamten jüdischen Bevölkerung Palästinas und andernorts gelten.42 Vielmehr werden sie selbst zu literarischen Artefakten, in denen sich vornehmlich religiöse, politische und kulturelle Ideen ihrer Verfasser und Tradenten wi42 Die Erkenntnisse und Ansätze neuerer Studien haben selbst den eher klassisch orientierten

Historiker Isaiah Gafni in seinem Aufsatz “Rethinking Talmudic History: the challenge of literary and redaction criticism,” Jewish History 25 (2011): 355–375, hier: 356, zu der Infragestellung eigener Standpunkte inspiriert: “to prove that these texts […] reflect the actual thoughts and attitudes of the critical mass of Jews who lived in the rabbinic period and not a few score isolated sages talking amongst themselves.“

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derspiegeln. Somit lässt sich eine Historiographie der rabbinischen Zeit nur durch die Kombination von literaturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Methoden verwirklichen. Unabdingbar ist überdies der Abgleich mit nicht-rabinischen Quellen, soweit verfügbar, und mit Ergebnissen der archäologischen Forschung (Epigraphie, Mosaike, Architektur von Synagogen, Ritualbädern etc.), um ansatzweise die Konturen jüdischen Lebens in Antike und Spätantike nachzeichnen zu können.43 In einem bekannten und oft zitierten Bonmot des Dichters Heinrich Heine heißt es, dass die Tora oder die hebräische Bibel den Juden seit dem Verlust ihrer Heimstatt in Palästina als „portatives Vaterland“ gedient habe.44 Mit Blick auf die im Vorhergehenden präsentierten, neuen Thesen muss dieses geflügelte Wort des Dichters sicherlich für die Entwicklung des rabbinisches Judentums und seiner mündlichen Tradition, mit seiner prägenden Kraft für die jüdische, allen voran talmudischen Kultur vom Mittelalter bis in die Gegenwart, neu interpretiert werden. Schlagen wir nun den Bogen zurück zum Beginn unser Diskussion über die anti-mediterrane Ideologie der Tora bei Schwartz und die Fluchtepisode R. Jochanans, so lassen sich interessante Schlüsse im Hinblick auf das Diktum Heines ziehen. Seth Schwartz hat in seiner vorangegangenen Studie aufgezeigt, dass das religiöse Leben der Juden in Palästina vor dem Jahre 70 durch zwei Faktoren geprägt wurde, die untrennbar zusammenhingen. Er argumentiert, dass das religiös-kulturelle Leben der Juden in Palästina, neben hellenistischen Elementen, ein Amalgam aus Tempelkult und Tora prägte, das mit Unterstützung der jeweiligen Imperien in Jerusalem zentral institutionalisiert gewesen sei.45 Daher ist es besonders verblüffend und interessant, dass die Schüler, im Angesicht der Katastrophe der völligen Zerstörung des Heiligtums, einschließlich der Menora und der heiligen Torarollen, sich dazu entschließen, ihren Lehrer, und damit einen der größten Gelehrten seiner Generation, aus der belagerten Stadt zu schmuggeln. Es 43 Steven Fine, Art and Judaism in the Greco-Roman World: Toward a New Jewish Archae-

ology (Cambridge-New York: Cambridge University Press, 2005); Idem, Art, History and the Historiography of Judaism in Roman Antiquity (Leiden-Boston: Brill, 2013). 44 Vgl. Manfred Winfuhr (Hrsg.), Heinrich Heine, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 15 (Hamburg: Hoffmann & Campe, 1982), darin: Geständnisse, 1854, S. 9–57, hier: 43–44: „[…]denn die Juden, die dasselbe aus dem großen Brande des zweiten Tempels gerettet, und es im Exile gleichsam wie ein p o r t a t i v e s V a t e r l a n d mit sich herumschleppten, das ganze Mittelalter hindurch, sie hielten diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem Ghetto, wo die deutschen Gelehrten, Vorgänger und Beginner der Reformation, hinschlichen um Hebräisch zu lernen, um den Schlüssel zu der Truhe zu gewinnen, welche den Schatz barg. […] Ja, den Juden, denen die Welt ihren Gott verdankt, verdankt sie auch dessen Wort, die Bibel; sie haben sie gerettet aus dem Bankerott des römischen Reichs, und in der tollen Raufzeit der Völkerwanderung bewahrten sie das theure Buch, bis es der Protestantismus bei ihnen aufsuchte und das gefundene Buch in die Landessprachen übersetzte.“ 45 Schwartz, Imperialism, 49–99.

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sind keine materiellen Artefakte wie religiöse Kultobjekte oder liturgische oder andere wichtige Textsammlungen, ja nicht einmal die religiöse Elite der Tempelpriester, die hier als rettungswürdig dargestellt werden. Es ist gerade nicht die Tora, weder als physisches Buch bzw. die Schriftrolle noch als autoritativer Kanon der biblischen Gebote und Traditionen – ein Verständnis, das so oft zur Fehlinterpretation des Judentums als „Gesetzesreligion“ beitrug – die hier im Vordergrund stehen. Vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit in der rabbinischen Literatur auf die rabbinischen Gelehrten als „beseelte Träger“, Interpreten und Erneuerer dieser Traditionen, insbesondere natürlich im Sinne der „mündlichen Tora“. In der Fluchterzählung R. Jochanan ben Zakkais, laut rabbinischer Historiographie ja der Gründervater der eigenen Bewegung, wird so der Gelehrtenkörper zum „portativen Vaterland“ im wahrsten Sinne des Wortes stilisiert. Nicht die schriftliche Tora der Gesetzestafeln, sondern die mündliche Tora, die sich später charakteristisch als rabbinische Tradition des Disputs und Dissents entfaltet, ist es, die so gerettet wird. Denn die rabbinische Bewegung verkörperte die Fortführung und gleichzeitig den Beginn eines neuen, jüdisch kulturell-religiösen Lebens in der mediterranen Diaspora, unabhängig vom lokalen Bezug zum Tempel. Die Ubiquität der rabbinischen Lehren, ohne sich im rein Esoterischen zu verlieren, und ihr doch geerdeter und realitätsbezogener Blick ermöglichten dann den langsamen Wandel einer “transformation of rabbinism from a scholastic movement into an orthodoxy backed by a learned textual tradition”.46 Dieser Aufstieg zu einer kulturell bestimmenden und dann ab dem Mittelalter dominierenden Größe unter den Juden rund ums Mittelmeer und darüber hinaus war länger und steiniger als es die klassische judaistische Historiographie glauben machen wollte. Doch diese interessanten Entwicklungen hin zu einem pan-mediterranen Judentum fallen bereits in einer Epoche, die an anderer Stelle noch eingehender untersucht werden soll. Für die Kulturgeschichte des (spät)antiken Judentums bietet das erneuerte Paradigma der Mediterranean Studies eine Chance fach- und epochenspezifische Hindernisse zu überwinden. Viele der im Vorhergehenden vorgestellten Studien haben gezeigt, dass es weder eine Sonderrolle des Judentums in der Antike noch eine binäre Opposition zwischen einer mediterranen und einer jüdischen Kultur gab.47 Vielmehr lassen sich inner-jüdische wie auch jüdisch-römische Konfliktzo46 Hayim Lapin,”Aspects of the Rabbinic Movement in Palestine 500–800 C.E.,“ in: Shaping

the Middle East. Jews, Christians, and Muslims in an Age of Transition 400–800 C. E. (hrsg. v. K. G. Holum und H. Lapin; Bethesda: University Press of Maryland, 2011), 181–194, hier: 181. 47 Hier lässt sich bezüglich der These bei Seth Schwartz von einem missglückten Paradigma sprechen, was aufgebaut wird, um in der sozialgeschichtlichen und literarischen Analyse

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nen und Spannungen als innere Prozesse, innerhalb des größeren Rahmens einer mediterranen Kultur verstehen, die alle Akteure nachhaltig prägten und von der sie geprägt wurden.48 Der Dialog mit den Methoden und Thesen der neuen sozio-kulturellen Mittelmeerstudien für die Antike und Spätantike bietet viele Chancen.49 Zum einen ließe sich durch die Verschiebung des Fokus auf das Mediterrane die eher national bzw. politisch lokal orientierte Geschichtsschreibung („Die Geschichte der Juden in …“) überwinden, zugunsten einer vergleichenden, diachronen wie auch synchronen Historiographie jüdischen Lebens in trans-nationalen und trans-regionalen Kontexten.50 Horden und Porcell sowie Abulafia und Harris haben gezeigt, dass das Mittelmeer und seine Geschichte mehr sind als die Summe einer geografischen Einheit und politisch-ökonomischer Netzwerke. Durch die Interdependenz und Konnektivität von vielen Einzelregionen wird daraus auch ein sozio-kulturelles „construct with something of a natural basis“.51 Jedoch birgt dieses Verständnis auch die Gefahr der Universalisierung, wie sie oft kritisiert wurde. So mündeten bei Goitein die Detailstudien, trotz eines sozialgeschichtlichen Mikro-Ansatzes, noch häufig in verallgemeinernden und romantisierenden Schlüssen über ein einheitliches, gleichförmiges „mediterranes Judentum“. Doch eigentlich lassen sich gerade durch umsichtige Untersuchungen spezifischer jüdischer Gesellschafts- und Diskursformationen, nicht nur bei den Rabbinen, Diversität und Pluralität bei gleichzeitiger Ähnlichkeit und Verbundenheit herausarbeiten, die als charakteristische Merkmale der mediterranen Kultur seit der Antike gelten können. wieder dekonstruiert zu werden, obwohl ein solcher Dualismus von Tora und Mediterraneanism nicht zwingend so in der Antike vorlag. 48 Vgl. die Ansätze dieses Paradigmenwechsels in Martin Goodman (Hrsg.), Jews in a GraecoRoman World (Oxford: Oxford University Press, 1998); P. Schäfer (Hrsg.), The Talmud Yerushalmi and Greco-Roman Culture, 3 Volumes (Tübingen: Mohr Siebeck, 1998-2002). 49 Neben den oben genannten Studien sei auch verwiesen auf die kritische Reflektion des New Mediterraneanism in William V. Harris (Hrsg.), Rethinking the Mediterranean (Oxford: Oxford University Press, 2005); Irad Malkin (Hrsg.), Mediterranean Paradigms and Classical Antiquity (London: Routledge, 2013); Peregrine Horden und Sharon Kinoshita (Hrsg.), A Companion to Mediterranean History (Oxford: Wiley & Blackwell, 2014). 50 Astren, „Goitein, Medieval Jews,“ 525. Solche Ansätze bieten etwa die Arbeiten von Talya Fishman, Becoming the People of the Talmud: Oral Torah as Written Tradition in Medieval Jewish Cultures (Philadephia: University of Pennsylvania Press, 2011) und Uriel Simonsohn, A Common Justice The Legal Allegiances of Christians and Jews Under Early Islam (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2011); Marina Rustow, Heresy and the Politics of Community: The Jews of the Fatimid Caliphate (Ithaca / London: Cornell University Press, 2008). 51 Fred Astren, „Islamic contexts of medieval Karaism,“ in: Meira Polliack (Hrsg.), Karaite Judaism; a Guide to Its History and Literary Sources (Leiden: Brill, 2003), 145–177; Marina Rustow, Heresy and the Politics of Community: The Jews of the Fatimid Caliphate (Ithaca / London: Cornell University Press, 2008); Harris, Rethinking the Mediterranean, 4.

Jüdisch-christliche Bikulturalität und ihre Imperialisierung

Wolfgang Stegemann und Ekkehard W. Stegemann „Implizite Hybridität“ der Jesusbewegungen und mediterraner „Bikulturalismus“ des Paulus Einleitung Die Jesusbewegungen1 im ersten und zu Beginn des zweiten Jahrhunderts repräsentierten, wie die kanonischen Schriften des Neuen Testaments dokumentieren, allein schon insofern einen Typ mediterraner „Hybridität“, als ihr Juden und Nichtjuden – Juden, Hellenen und Barbaren, um mit Paulus zu sprechen (vgl. nur Röm 1, 14.16) – angehörten, die in vielen urbanen Zentren des Mittelmeerraums Gemeinden gegründet haben und zu deren Verkehrssprache auch das Griechisch der (alltagssprachlichen) Koine gehörte. Dass der historische Jesus selbst Teil dieser mediterranen Kultur war, ist in jedem Fall zu bejahen, weil es kein Jenseits von ihr gab, da das Land und das Volk, in dem er auftrat und wirkte, schon seit langem durch die hellenistisch-römischen Imperien, deren Institutionen oder auch deren Verwaltungssprache geprägt und in deren Räumen auch religiöse und kulturelle Symbole von Griechen und Römern präsent waren. Hybridität in dem eben allgemein umrissenen Sinn galt nicht nur vom Judentum der Diaspora, sondern mit Sicherheit auch vom Land Israel, von der römischen Provinz Judäa bis hin zum herodianischen Klientelfürstentum in Galiläa, also jenen Bereichen, in denen Jesus aufgewachsen war und die er dann mit seiner Anhängerschaft in wandercharismatischer Weise durchzog. Ob dies einschließt, dass der historische Jesus auch etwa der koine-griechischen Alltagsprache mächtig und sein Wandercharismatismus gar, wie Crossan2 meint, nicht nur eine Analogie zum hellenistischen Kynismus, sondern dessen Fortsetzung unter den Bedingungen hellenistischer Kultur im jüdischen Land – etwa eines galiläischen Sepphoris – war, kann angesichts der Quellenlage historisch nicht belastbar entschieden werden. Doch ist nicht auszuschließen, dass Jesus und seine galiläische Anhängerschaft auch gewisse Griechischkenntnisse besaßen. Allein das epigraphische Material in jenen Gegenden des damaligen Israel, in denen Jesus und seine 1 Zum Begriff „Jesusbewegungen“ s. E. W. Stegemann / W. Stegemann, Urchristliche Sozi-

algeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 2. Aufl. 1997, 168f. 2 Vgl. J. D. Crossan, Der historische Jesus, München 1994.

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Schar von Anhängern und Anhängerinnen gewandert sind und sich aufgehalten haben, deutet darauf hin. Es zeigt auch, dass hinsichtlich der Präsenz der griechischen Sprache und hellenistischen Kultur kein eigentliches Stadt-Land- oder Unterschicht-Oberschicht-Gefälle herrschte, sondern nur ein solches zwischen einfachem und gewandten Griechisch.3 Zu diesem Zusammenhang formuliert Guido Baltes zusammenfassend: „Eine Durchsicht des numismatischen, epigraphischen und papyrologischen Materials zeigt also, dass Hebräisch, Aramäisch und Griechisch im Land Israel bis ins frühe zweite Jahrhundert nahezu gleichmäßig nebeneinander Verwendung fanden, und das nicht nur im literarischen, sondern auch im dokumentarischen und alltäglichen Gebrauch… Insgesamt lassen sich die verschiedenen Sprachen jedoch weder einem geographischen Muster noch einer klaren zeitlichen Abfolge zuordnen. Vielmehr spricht der Befund für eine trilinguale Realität in allen Teilen des Landes und während der gesamten Zeit des zweiten Tempels. Die Verwendung der Sprachen scheint dabei wesentlich mehr durch soziolinguistische, situative, biographische und individuelle Faktoren bedingt zu sein als durch einheitliche Umgangs-, Volks- oder Amtssprachen.“4

In der linguistischen Forschung wird u. a. unterschieden zwischen der individuellen Sprachkompetenz, für die Begriffe wie „bilingual“ stehen können, und der Situation einer Gesellschaft, in der „mehrere Sprachen nebeneinander existieren“, wofür manchmal der von Charles A. Ferguson eingeführte Begriff der „Diglossie“ verwendet wird.5 Aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Quellen über Jesus, also den vier Evangelien,6 ist ein sicheres Urteil über die individuelle Sprachkompetenz Jesu – ob er Aramäisch sprach, oder ob er Aramäisch und Hebräisch beherrschte, also bilingue war, oder gar trilingue, d. h. auch eine griechische Sprachkompetenz besaß – nur unter Vorbehalt zu fällen. Deshalb sprechen wir hier auch von Jesusbewegungen, und zwar mit Absicht im Plural. Denn die uns vorliegenden Dokumente deuten darauf, dass es vom Beginn der literarischen Zeugnisse an unterschiedliche Gruppen gegeben hat, die sich auf Jesus bezogen haben. Sie lebten nicht nur in unterschiedlichen geographischen Regionen wie Judäa, Kleinasien, Griechenland oder Rom, sondern sie wiesen bei allen Gemeinsamkeiten auch durchaus unterschiedliche Profile auf. Aber entscheidend ist, dass die ältesten literarischen Zeugnisse der Jesusbewegungen in 3 Vgl. dazu S.-I. Lee, Jesus and Gospel Traditions in Bilingual Context. A Study in the Interdir-

ectionality of Language, Berlin 2012, 106–108. Siehe auch G. Baltes, Hebräisches Evangelium und synoptische Überlieferung. Untersuchungen zum hebräischen Hintergrund der Evangelien, Tübingen 2011, 70–85. 4 Baltes, a. a. O., 109. 5 Baltes, a. a. O., 76. Ch. A. Ferguson, “Diglossia”, in: Word 15 (1959), 325–340. 6 Zur Diskussion über die Quellenlage vgl. W. Stegemann, Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010, 124–152.

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g r i e c h i s c h e r Sprache tradiert wurden. Auf historisch weitaus tragfähigerem Boden befinden wir uns freilich mit dem Apostel Paulus, von dem wir einerseits Selbstzeugnisse besitzen, nämlich mehrere auf Griechisch verfasste Briefe (es besteht ein umfassender Konsens darüber, dass mindestens sieben mit dem Namen des Paulus verbundenen Briefe des Neuen Testaments auf dessen Autorschaft zurückgehen). Andererseits deuten seine Verwurzelung im Judentum der Diaspora und seine Aktivitäten in mediterranen Zentren wie Ephesus, Korinth oder Thessaloniki auch grundsätzlich auf eine soziolinguistische Situation hin, in der der Grad hellenistischer Sprach- und Kulturkompetenz naturgemäß sehr viel größer gewesen sein dürfte als bei Bewohnern des ländlichen Galiläa. Ebendiese städtische und aus jüdischer Sicht zudem diasporische Lokalisierung von Paulus bringt es mit sich, dass er ein kompetenter Koine-Sprecher und auch, wie seine Briefe zeigen, offenbar in der Rhetorik, zumindest der der Epistolographie, gebildet war. Doch umstritten ist, ob Paulus umgekehrt auch des Aramäischen oder gar Hebräischen mächtig war. Darauf hinweisen könnte allerdings, dass Paulus laut Apostelgeschichte 21, 37–22, 2 im Tempel zwischen Hebräisch (vermutlich ist Aramäisch gemeint) und Griechisch wechseln konnte, wie überhaupt bei Diasporajuden Mehrsprachigkeit keine Ausnahme darstellte.7

I. Hellenisierung, Hybridität oder Bi-Lingualität und -Kulturalität? Mit Johann Gustav Droysens Geschichte des Hellenismus (1836–1843) wurde nicht nur der Begriff für eine Epoche, sondern auch ein Deutungskonzept eingeführt, nach dem, beginnend mit dem Siegeszug von Alexander dem Großen im Osten, so etwas wie eine „Fusion“ oder „Verschmelzung“ orientalischer mit okzidentaler Kultur stattgefunden habe. In dieser langen Periode, zu der in gewisser Weise auch die römische Herrschaft über den Osten mit ihrer „Romanisierung“ gehört, ist mit der „Hellenisierung“ eigentlich erst eine kulturelle Einigung des gesamten Raums um das Mittelmeer herum gelungen. Gestützt durch Institutionen griechischer und römischer Imperien, trug dies zu einer Akkulturation des Ostens an den Westen bei. Von Anfang an hatte in der althistorischen und theologischen Rezeption das Stichwort „Hellenisierung“ allerdings auch den Unterton von „Zivilisierung“. An dieser kulturellen Fusion hat danach vor allem die Ausbreitung der griechischen Sprache Anteil, sofern sie als Koine zur mediterranen lingua franca aufstieg, welche auch im Zeitalter des römischen Imperiums vorherrschte. Das Deutungskonzept der Hellenisierung wird zumal an Römern und Juden entwickelt, doch schließt es den Einfluss griechischer Kultur etwa auf Kelten und Iraner ein. Droysen dürfte für seine „Hellenismus“-These den europäischen Kolonialismus als Erklärungsmodell vor Augen gehabt haben, welcher in der Tat den Herrschafts- mit dem Zivilisierungsanspruch, aber zugleich damit 7 Vgl. S.-I. Lee, a. a. O., 175–212. Baltes, a. a. O., 134f, deutet die genannte Szene der Apostelge-

schichte sogar als Hinweis auf Dreisprachigkeit des Paulus (aramäisch, hebräisch, griechisch).

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auch die Vorstellung eines „Synkretismus“ oder gar der „Bastardisierung“ verbunden hat. Dieser Zusammenhang wird jedenfalls deutlich hergestellt, wenn im Anschluss an Droysen die Begriffe „Kreolisierung“ und „métissage“ oder neuerdings der durch postkoloniale Studien angeregte Begriff „Hybridität“ zur Deutung der Hellenisierung angewendet werden.8 Kritik an diesen unterschiedlichen – aber hinsichtlich der Vorstellung vom Prozess der Hellenisierung als einer Art von kultureller „Verschmelzung“ weithin übereinstimmenden – Konzeptionen wurde schon im neueren Diskurs über das Verhältnis des Judentums zum Hellenismus geübt.9 Doch hat erst Andrew Wallace-Hadrill ein grundlegend anderes Interpretationsmodell vorgeschlagen. Er rechnet damit, dass – auch unter den Bedingungen von Kolonialismus – andere Möglichkeiten als nur die der Fusion oder Hybridisierung bestehen. Ohne die „Fusionsmodelle“ prinzipiell auszuschließen, hebt er darauf ab, dass es starke Indizien dafür gibt, wonach wir eher oder jedenfalls mehr mit einer „Koexistenz“ unterschiedlicher kultureller Elemente und mit einem Dialog oder einer Interaktion zwischen ihnen als mit einer „Verschmelzung“ zu rechnen haben.10 Gerade im Blick auf das linguistische Paradigma stellt er heraus, dass das griechische Verb hellenizein, also „hellenisieren“, hauptsächlich intransitiv gebraucht wird, mithin so etwas meint wie „was Griechen tun, wenn sie Griechisch sprechen“.11 Das Verbum hellenizein würde also nicht die aktive, unter Umständen gar gewaltsame „Gräzisierung“ von Nichtgriechen bezeichnen, sondern die (mehr oder minder freiwillige) Übernahme oder Assimilation an die griechische Sprache/Kultur durch Nichtgriechen. Dabei ist natürlich auch die griechische Sprache selbst, die literarische und die alltagssprachliche Koine, die wir im Zeitalter des Hellenismus wahrnehmen können, gewissermaßen Produkt der „Hellenisierung“. Entgegen einem Begriff von „Hellenisierung“, der linguistisch z. B. mit dem Stichwort „Kreolisierung“ verbunden ist, zieht Wallace-Hadrill es vor, ein anderes linguistisches Paradigma einzuführen, nämlich das des Bilingualismus. So wie es nicht nur – wie bei Kreolsprachen – zur Mischung von zwei unabhängig existierenden Sprachen und damit zur Entstehung einer neuen Sprache kommen muss, so ist auch für die Antike der hellenistisch-römischen Imperien festzustel8 Vgl. zu den verschiedenen Deutungsmodellen der „Hellenisierung“ die Diskussionen bei

K. Ehrensperger, Paul at the Crossroad of Cultures. Theologizing in the Space Between, London 2013, 7–104; A. Wallace-Hadrill, Rome’s Cultural Revolution, Cambridge 2008, 9–28; ferner L. Canfora, Ellenismo, Rom/Bari 1987 bzw. 1995; H. K. Bhabha, The Location of Culture, London/New York 1994. 9 Vgl. dazu vor allem Ehrensperger, a. a. O., 18–20; ferner P. Alexander, Hellenism and Hellenization as Problematic Historiographical Categories in: T. Engberg-Pedersen (Hrsg.): Paul Beyond the Judaism/Hellenism Divide, Louisville (KY) 2001, 63–80. 10 Vgl. Wallace-Hadrill, a. a. O., 13. 11 Ebd. 21. „Hellenisierung” mit einem Unterton der zwangsweisen Anpassung, bedarf eines Wortes, das dies ausdrückt.

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len, dass Sprecher auch eine bilinguale oder gar mehr als zweisprachige Kompetenz entwickeln. Wallace-Hadrill kann sich dafür auch auf neuere linguistische Forschung zum Bilingualismus stützen,12 welche, angewandt auf das Phänomen der Bilingualität im Römischen Reich,13 zu dem Schluss gekommen ist: „(T)he Roman world produces no evidence of Creole languages, but abundant evidence of bilingualism and code-switching, and at all social levels“.14 Das schließt nicht aus, dass das Griechisch mehrsprachiger Diasporajuden ein eigenes Profil entwickelte, zumal wenn sie – wie im Fall der Septuaginta offensichtlich – den Charakter des hebräischen Prätextes in der Übersetzung bewahren möchten. Doch von einem „Judengriechisch“, vergleichbar dem Jiddischen, kann nicht gesprochen werden, vielmehr von einer – eher der alltagssprachlichen als der literarischen Koine sich anpassenden, in mancher (zumal syntaktischer und lexikalischer) Hinsicht – k r e a t i v e n Verwendung dieser Sprache.15 Freilich zeigt sich nicht nur auf der Sprachebene, sondern auch in der kulturellen Dimension im weiteren Sinn eine Koexistenz bzw. dialogische Interaktion. Dies schließt auch die Möglichkeit der Behauptung eigener k u l t u r e l l e r Identität ein – trotz des „code-switching“. Das hat zwar mit der Tatsache zu tun, dass kulturelle Identität sich immer auch im Kontext ethnischer Identität ausdrückt. Nur ist zu beachten, dass – wie Wallace-Hadrill im Anschluss an neuere Ethnizitäts-Forschung hervorgehoben hat – bestimmte Ethnizität nicht essentialistisch ein für alle Mal gegeben ist, sondern eine Identität meint, die selbst im Diskurs und somit auch in Interaktion – und zwar nach Innen wie nach Außen – konstruiert wird. Dies geschieht durch „Entlehnung“ und „Austausch“,16 man könnte auch sagen: durch „Anpassung“ und „Abgrenzung“. Gerade in der jüdischen Geschichte, sei es im fremdbeherrschten Land selbst, sei es in der Diaspora, ist diese „Identitätsstrategie“ feststellbar.17 Solche Strategien können in höchst unterschiedlicher Weise die Abgrenzung von hellenistischer Kultur oder die Anpassung an sie unterstützen. Ehrensperger erwähnt denn auch mit Recht, dass etwa jemand wie Philo von Alexandrien, obgleich er höchst kompetent nicht nur 12 Ausführlich ist dieser Diskurs von Ehrensperger dargestellt worden; vgl. Ehrensperger,

a. a. O., 39–62.

13 J. N. Adams; M. Janse; S. Swain (Hrsg.), Bilingualism in Ancient Society. Language Contact

and the Written Text, Oxford 2002.

14 Wallace-Hadrill, ebd. 15 Vgl. K. Usener, Die Septuaginta im Horizont des Hellenismus. Ihre Entwicklung, ihr Cha-

rakter und ihre sprachlich-kulturelle Position, in: S. Kreuzer u. J. P. Lerch (Hrsg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel, Bd. 2, Stuttgart 2004, 78–118. 16 Vgl. Wallace-Hadrill, a. a. O., 39–40; vor allem stützt er sich dabei auf J. M. Hall, Ethnic Identity in Greek Antiquity, Cambridge 1997. 17 Vgl. E. Stegemann, Anpassung und Widerstand. Anmerkungen zu einer neuen imperiumskritischen Lektüre des Paulus, in: Kirche und Israel 29 (2014), 4–17.

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die griechische Sprache und Kultur anwenden konnte, keineswegs seine jüdische Identität und Kultur als mindere Form ansah und lebte.18 Dass es aber tatsächlich um I n t e r aktionen geht, zeigt sich etwa daran, dass nicht nur von (diaspora)jüdischer Seite hellenistische Kulturelemente mehr oder weniger kompetent rezipiert werden konnten, sondern auch umgekehrt jüdische Symbol- und Wertesysteme Einfluss auf nichtjüdische Diskurse hatten. Zu nennen ist hier etwa das Phänomen der Proselyten und der sogenannten Gottesfürchtigen. Bemerkenswert ist aber auch der Einfluss prägnanter jüdischer Konzepte auf den literarischen Diskurs der römischen Elite zumal der augusteischen Epoche. Nicht nur gibt es nämlich gute Gründe, mit einer Rezeption prophetischer Eschatologie und womöglich sogar frühjüdischer Apolalyptik bei Vergil zu rechnen; vielmehr gibt es manche Hinweise darauf, dass griechische Autoren und nicht zuletzt Ovid etwa das Buch Genesis kannten.19 Guido Baltes hat – in vergleichbarer Weise – darauf hingewiesen, dass „das herrschende Ideal einer Einheit von Sprache, Geist und Nation“ (man könnte auch sagen [nationaler] Kultur), wie es etwa noch Wilhelm von Humboldt formuliert hat, inzwischen längst überholt ist. Er zitiert aus dem Vorwort des Linguisten André Martinet zu dem klassischen Werk von Uriel Weinreich zum Phänomen des „Sprachkontakts“: „Es gab eine Zeit, in der es für den Fortschritt der Forschung erforderlich war, jede Gemeinschaft als sprachlich in sich abgeschlossen und homogen anzusehen… Im Augenblick werden wir jedoch die Tatsache zu betonen haben, dass eine sprachliche Gemeinschaft nie homogen und kaum je für sich abgeschlossen ist.“20

Es ist aber auch zu beachten, dass die postkolonialen Studien zur Hybridität von Homi K. Bhabha in der Tat sehr wichtige Ansätze enthalten, die sich mit dem Bilingualitätsmodell überschneiden. Bhabha hat Hybridität nicht so sehr als ein Attribut für Personen, sondern als Charakteristik eines Ortes oder Raums (space) verstanden,21 den er „third space“ nennt, innerhalb dessen eben die Interaktionen von Kolonisierten und Kolonisierern stattfinden. Das Moment des Dialogischen, an das das Konzept des Bilingualismus anknüpft, ist also durchaus in diesem Konzept von Hybridität vorhanden. 18 Ehrensperger, a. a. O., 59. 19 Vgl. nur A. Wallace-Hadrill, The Golden Age and Sin in Augustan Ideology, in: Past & Pre-

sent, 95 (Mai 1982), 19–36; J. N. Bremmer, Virgil and Jewish Literature, in: Vergilius 59 (2013), 157–164. 20 Baltes, a. a. O., 70. Das Zitat aus U. Weinreich, Sprachen in Kontakt. Ergebnisse und Probleme der Zweisprachigkeitsforschung, München 1976, 10. 21 Bhabha, a.a.O, 7; vgl. Ehrensperger, a. a. O., 31.

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II. Jesus Wie erwähnt war auch das Land Israel – wie kürzlich Sang-Il Lee mit seinen Untersuchungen bestätigt hat – so bilingue wie die übrigen Gebiete der hellenistisch-römischen Reiche. Aramäisch war zwar für viele die Hauptverkehrssprache, aber es gab zur gleichen Zeit auch nicht wenige Sprecher, für die das Griechische die Matrixsprache war. Deshalb ist nach Lee davon auszugehen, dass es zahlreiche mehr oder weniger kompetente Sprecher gab, die sowohl Aramäisch wie Griechisch anwenden konnten, und zwar in Galiläa ebenso wie in Judäa. Da Lee zudem annimmt, dass sich dieser Bilingualismus durchaus auch unter Diasporajuden erhalten hat, ja, dass mit nicht wenigen zu rechnen sei, die auch in der Diaspora Aramäisch als Matrixsprache gebrauchten, kommt er zu einer kühnen und jedenfalls überraschenden These bezüglich der Jesusüberlieferung: Sie ist „interdirektional“ tradiert worden, also nicht allein nur in einer Richtung übersetzt worden, vom Aramäischen ins Griechische, sondern auch umgekehrt. Dasselbe gilt für ihn im Blick auf die Richtung von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit; es konnte demnach auch umgekehrt laufen.22 Es ist in unserem Zusammenhang nicht nötig, die Plausibilität der Indirektionalitäts-These, der wir eher skeptisch gegenüber stehen, kritisch zu diskutieren. Denn hier reicht es aus anzunehmen, dass Jesus und seine frühe Anhängerschaft in einem Raum agierten, der schon durch Bikulturalität geprägt war. Wenn daher die sogenannte Third Quest in der Geschichte der historischen Jesusforschung Einmütigkeit darüber erreicht hat, dass der historische Jesus eine Jude und nichts anderes als ein Jude war, spricht dies nicht dagegen. Die Frage ist angesichts der Richtungsvielfalt nur, welcher Strömung im damaligen Judentum Jesus und seine erste Anhängerschaft zugerechnet werden können.23 Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Noch jenseits der Fragen der individuellen und kollektiven Sprachkompetenzen gab es eine Vielzahl und ein zum Teil hohes Maß kultureller und sozialer Ähnlichkeiten zwischen vielen Völkern der mediterranen Welt, welche sozusagen die Vorstellung von einer Art „impliziten Hybridität“ des gesamten mediterranen Kulturraums nahegelegt. Schon in unserer „Urchristlichen Sozialgeschichte“ sind wir davon ausgegangen, dass die mediterranen Gesellschaften „in kultureller Hinsicht … durch vielerlei Gemeinsamkeiten verbunden waren. Vergleichbares gilt aber auch für die politischen und sozio-ökonomischen Verhältnisse… Insgesamt haben offenkundig ähnliche Faktoren die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen in den städtischen und ländlichen Gebieten geprägt. Für unsere Zwecke können wir davon ausgehen, daß – bei allen Besonderheiten – 22 S.-I. Lee, Jesus and Gospel Traditions in Bilingual Context. A Study in the Interdirectional-

ity of Language, Berlin 2012.

23 Vgl. dazu nur W. Stegemann, a. a. O., 73–112.

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in den Städten bzw. den ländlichen Gebieten der griechisch-römischen Welt und auch des Landes Israel die ökonomischen und sozialen Lebensumstände rings ums Mittelmeer strukturell ähnlich waren.“24

Wir setzen auch hier voraus, dass die meisten Ethnien rund um das Mittelmeer schon seit Jahrhunderten vor der Entstehung christlicher Gemeinschaften in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht erstaunliche Gemeinsamkeiten aufwiesen. Auf die theoretische Debatte kann hier nicht eingegangen werden, wie es auch nicht möglich ist, diese strukturellen Gemeinsamkeiten auch nur annähernd abschließend aufzuführen. Wir werden vielmehr versuchen, an einem Beispiel diese Interpretationsperspektive plausibel zu machen. Das Beispiel ist die von den Evangelien nach Lukas und Matthäus Jesus zugeschriebene Interpretation des sog. Nächstenliebegebotes der Hebräischen Bibel (Mt 5, 43–46; Lk 6, 27–35). Der Ausgangstext, auf den Jesus in den genannten Textstellen rekurriert, ist Levitikus 19, 17f. Eine nähere vergleichende (auch linguistische) Untersuchung zwischen diesem alttestamentlichen und den beiden neutestamentlichen sowie außerbiblischen griechischen/lateinischen Texten (wir gehen hier auf Hesiod, Werke und Tage, 342ff. und Aristoteles, Nikomachische Ethik V, 8 ein, ebenso auf einen Text aus De Benificiis von Seneca) könnte zeigen, dass die s p r a c h l i c h e n Repräsentationen der gemeinten sozialen Praxis selbst auf der Ebene desselben (griechischen) Sprachgebrauchs interessante Unterschiede aufweist. Doch die soziale Praxis, die mit dem sog. Nächstenliebegebot benannt wird, scheint im Grundsatz vergleichbar zu sein. Wir haben an anderer Stelle diese soziale Praxis mit dem Begriff Reziprozität benannt.25 Er soll eine Sozialbeziehung bezeichnen, die u. a. unter ökonomischen und ethischen Bewertungen diskutiert werden kann. Es sei aber gleich zugegeben, dass sich nicht nur die jeweilige ethische Reflexion dieser Praxis unterscheiden kann, sondern dass ihre Bewertung und Performanz auch von der jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Situation abhängt. So scheint der biblische Ursprungstext Levitikus 19, 17f ein Prinzip der „rächenden Wiedervergeltung“ innerhalb der eigenen Gruppe (Familie, Clan oder Ethnie) zu untersagen: Levitikus 19, 17–18 17 Du sollst deinen Bruder in deinem Herzen nicht hassen. Du sollst deinen Nächs-

ten ernstlich zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld trägst. 18 Du sollst dich nicht rächen und den Kindern deines Volkes nichts nachtragen und sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR.

Rache als Form des gerechten Ausgleichs wird hier i n n e r h a l b derselben ethnischen Gruppe („Kinder deines Volkes“) ausgeschlossen. Umgekehrt wird 24 E. Stegemann / W. Stegemann, a. a. O., 14. 25 E. Stegemann / W. Stegemann, a. a. O., 41f.

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zur sog. Nächstenliebe aufgefordert, die hier – vom Kontext her geurteilt – ebenfalls den Angehörigen derselben ethnischen Gemeinschaft gilt. Diese häufig als bloß jüdisch, aber deswegen a n t i - j ü d i s c h gedeutete Einschränkung des Gerechtigkeitsprinzips der Rache/Vergeltung ist allerdings, wie das von Raymond Verdier herausgegebene vierbändige Werk ausführlich gezeigt hat, ein Kennzeichen „traditionaler Gesellschaften“, in denen innerhalb der Familien, der Clans und der ethnischen Gruppen das ansonsten für gerecht gehaltene Vergelten des Bösen mit Bösem ausgeschlossen wird.26 Allerdings wird in der Hebräischen Bibel wenig später (Lev 19, 34) dasselbe positive Verhalten („Nächstenliebe“), das für die Angehörigen des eigenen Volkes gefordert wird, auch für die „Fremden“ verlangt. Dass darüber hinaus auch der Racheverzicht impliziert ist, geht u. E. aus der Formulierung hervor, dass der Fremde w i e e i n E i n h e i m i s c h e r angesehen werden soll. Es würde mithin nicht nur die Verpflichtung zur nachbarschaftlichen Solidarität innerhalb der eigenen Abstammungsgruppe, sondern auch der Racheverzicht auf nicht-autochthone Nachbarn ausgedehnt. Der bereits erwähnte Text Hesiods weist einige interessante Unterschiede zur biblischen Nächstenliebe auf: Hesiod (Werke und Tage 342ff.) Wer dein Freund, den lade zum Mahl, unterlass es beim Feinde. Den aber lade vor allem, der nahe dem deinen sein Haus hat; Sollte sich nämlich bei dir auf dem Hof etwas Schlimmes ereignen, kommen die Nachbarn im Hemd, beim Anziehen säumen die Vettern. Schlechter Nachbar ein Kreuz, so sehr wie ein guter ein Segen. Dem ward Geltung zuteil, dem ein wackerer Nachbar zuteil war. Und kein Rind kommt abhanden, wenn nicht dein Nachbar ein Schelm ist. Gutes Maß lass dir geben vom Nachbarn, gutes gib wieder, und mit demselben Gemäß, auch reichlicher, kannst du es irgend, dass du, wenn du’s brauchst, ihn später gefällig noch findest. Such keinen krummen Gewinn; ein krummer Gewinn ist wie Schaden. Zeig dich dem Freund als Freund, und dem, der dir beisteht, steh auch du bei. Gib, wenn einer dir gab, gib nicht, wenn einer dir nicht gab. Gern gibt jeder dem Geber, dem Nichtgeber gab noch keiner. Gabe ist gut, Errafftes ist schlecht, gibt Tod und Verderben. Denn so ist’s: gibt willig ein Mensch – und ist es auch Großes –, Freut ihn die eigene Gabe, und froh ist er innen im Herzen.27

Man kann dies eine utilitaristische Ethik der Wiedervergeltung nennen. Sie fordert zur großzügigen Solidarität unter Nachbarn bzw. Freunden auf, und auch 26 R. Verdier (Hrsg.), La Vengeance. 4 Bände, Paris 1980–1986. Siehe die kurzen Zusammen-

fassungen bei M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009, 330–336. 27 Hier zitiert nach Hesiod, Vergil, Ovid, übersetzt von W. Marg, J. und M. Götte u. N. Holzberg, Zürich/München 1992.

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hier werden – wie im Nächstenliebegebot (liebe deinen Nächsten w i e d i c h s e l b s t) – durchaus eigennützige Motive des Gebens benannt, doch werden sowohl „Feinde“ als auch jene Nachbarn von der Solidaritätspraxis ausgenommen, die ihrerseits Gaben nicht erwidert haben. Aristoteles betont dann in der Nikomachischen Ethik den überindividuellen Vorteil einer gerechten Relation von Gabe und Gegengabe, denn sie gewährleiste den Zusammenhalt des Gemeinwesens: „Aber in den geschäftlichen Beziehungen (allaktikai) der Menschen, da zeigt diese Form des Rechts eine zusammenhaltende Kraft – die Wiedervergeltung (to antipeponthos) nämlich – , die aber im Sinne der Proportion (analogia) verstanden, nicht in dem der mechanischen Gleichheit (isoteta). Denn proportionale Vergeltung (antipoiein) ist es, die Zusammenhalt des Gemeinwesens (symmenei he polis) gewährleistet. Die Bürger suchen nämlich Böses mit Bösem zu vergelten und wenn sie es nicht können, so erscheint ihnen ihr Gemeinwesen als Sklavengemeinschaft, oder sie suchen Gutes mit Gutem zu vergelten und wenn sie es nicht können, so kommt keine Gegenseitigkeit (metadosis) zustande. Auf Gegenseitigkeit (metadosis) beruht ihr Zusammenhalt. Aus diesem Grund errichten sie denn auch ein Heiligtum der Chariten (der ‚Gabenspenderinnen‘) recht in die Augen fallend, daß man an die Gegengabe (antapodosis) denke; denn das ist Dankbarkeit (charis), dem, der uns gefällig war, einen Gegendienst leisten und ihm das nächstemal mit einer Gefälligkeit zuvorkommen.“28

Hier geht es also nicht mehr um die einfache Gegenseitigkeit, die dem anderen tut, was er einem selbst getan hat, so wie es – im zitierten Aristoteles-Text vorher – von den Pythagoreern behauptet wird. Vielmehr, darauf macht Marcel Hénaff aufmerksam, wird in Aristoteles‘ Gerechtigkeitskonzept die „Veränderung“ berücksichtigt, „die sich in der griechischen Gesellschaft seit dem Auftauchen der Polis vollzogen hat. An die Stelle der Beziehungen zwischen Clans (gene) ist eine Ordnung getreten, die die Verwandtschaftsbeziehungen und die ethnischen Zugehörigkeiten relativiert, um eine auf der Staatsbürgerschaft und dem Gesetz beruhende Organisation durchzusetzen.“29 Kommen wir jetzt zur Version der Interpretation der Nächstenliebe der jüdischen Bibel durch den l u k a n i s c h e n Jesus: Lukas 6, 27–35 (u. Ü.) 27 Aber euch sage ich, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde! Tut Gutes denen, die euch

hassen! 28 Segnet, die euch fluchen! Betet für die, die euch verunglimpfen! 29 Wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete auch die andere dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch das Untergewand nicht. 30 Gib immer wieder 28 Die Übersetzung übernehmen wir von F. Dirlmeier, Nikomachische Ethik, Stuttgart 1969. 29 Hénaff, a. a. O., 488.

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jedem, der dich bittet; und wenn einer das Deine nimmt, fordere es nicht zurück. 31 Und wie ihr wollt, dass die Leute euch tun, tut ihnen genauso. 32 Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was für eine Gunst (charis) erwerbt ihr? Auch die Sünder (hamartoloi) lieben ja die, die sie lieben. 33 Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, was für eine Gunst (charis) erwerbt ihr? Dasselbe tun auch die Sünder. 34 Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr zurück zu erhalten hofft, was für eine Gunst (charis) erwerbt ihr? Auch Sünder leihen Sündern, um dasselbe zurück zu erhalten. 35 Vielmehr: Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne zurück zu erhoffen. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.

Der Begriff „lieben“, so wird deutlich, meint auch hier eine soziale Praxis gegenseitiger Solidarität im Kontext der sozialen Gruppen Familie, Dorf, Clan oder Ethnie. Die mit dem Begriff „Feind“ (echthros) bezeichneten Adressaten sind offenkundig s o z i a l e Feinde. Im Unterschied zu der im Hesiod-Text repräsentierten Praxis fordert die Feindesliebe des lukanischen Jesus zwei Änderungen des gewohnten Verhaltens: E i n e r s e i t s dehnt sie die ReziprozitätsBeziehung auch auf s o z i a l e F e i n d e aus, d. h. auf Menschen, die sich dem angesprochenen Personenkreis gegenüber feindlich verhalten haben bzw. in einer negativen sozialen Beziehung zu ihm stehen (in Vers 27 heißen die Stichwörter: „hassen/verfluchen/beleidigen“; in Vers 35 bezeichnet der Begriff poneroi/Böse diese Gruppe). Der kommunikative Sinn dieser Forderung ist offenbar der, die G e m e i n s c h a f t a u f r e c h t z u e r h a l t e n t r o t z F e i n d s c h a f t. A n d e r e r s e i t s wird verlangt zu geben, ohne Hoffnung auf Rückerstattung (V. 3:. „ohne etwas zurück zu erhoffen“: meden apelpizontes). Hier könnte gemeint sein, dass auch dem wirtschaftlich schwächeren Partner gegeben werden soll (der aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage nicht zurückgeben, also das Empfangene nicht vergelten k a n n). Allerdings ist es im näheren Kontext des Verses – „denn er (Gott) ist gütig gegen die U n d a n k b a r e n und Bösen“ (V. 35) – vermutlich sinnvoller, die folgende Deutung zu erwägen: Auch mit jenen Nachbarn sollen die Reziprozitäts-Beziehungen aufrecht erhalten werden, die sich selbst als u n d a n k b a r (acharistos) erwiesen haben, d. h. die die empfangenen Gaben und Leistungen n i c h t v e r g o l t e n h a b e n. Gerade auch diese letzte Begründung der lukanischen Feindesliebe erinnert an Senecas Abhandlung über die Wohltaten (De beneficiis). Wir zitieren dazu einen kurzen Abschnitt aus deren Deutung durch Hénaff. In dieser Schrift ist für ihn die „Praxis der Gaben oder Wohltaten (beneficia) … ein Sachverhalt, der die menschliche Gesellschaft am meisten zusammenhält‘ (De Beneficiis, I, VI, 2). ‚Was also ist eine Wohltat? Eine wohlwollende Handlung, die Freude schenkt und empfängt, dadurch, dass sie schenkt, zu dem, was sie tut, geneigt und aus eigenem Antrieb

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bereit macht‘ (I,VI,1). Senecas wesentliche Thesen lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Geben ist an sich schön; 2. Ohne Hoffnung auf Erwiderung geben ist das Wesen der Gabe; 3. Geben definiert das Wesentliche unserer Beziehungen zu anderen und bildet das Herz der moralischen Beziehung.“30

Auch zum spezifischen gesellschaftlichen Kontext dieser veränderten Auffassung der Gabe auf Gegenseitigkeit scheint uns Hénaffs Interpretation äußerst aufschlussreich – gerade auch im Blick auf das Verständnis der Feindesliebe des lukanischen Jesus: „Senecas Text ist … der Indikator einer entscheidenden Veränderung. Er entwickelt nicht nur eine neue, aus der stoischen Strömung hervorgegangene moralische Sicht, er verrät eine tiefe Veränderung im gesamten System der sozialen Beziehungen. De Beneficiis zeugt von einer Krise in Bezug auf das gemeinschaftliche Band und versucht, darauf zu antworten. Insofern gehört der Text einer neuen Denkrichtung an, die darauf abzielt, die Beziehung zu anderen gemäß einer neuen – universalistischen – Forderung zu überdenken.“31

Deutlich ist, dass in Senecas Beitrag zum Diskurs über die Gabe die (proportionale) W i e d e r v e r g e l t u n g , d. h. die sog. Gegenseitigkeit, kaum noch eine Rolle spielt. Geben wird hier zu einer einseitigen Wohltat (beneficium), die offensichtlich in einer Krise, in der die gegenseitige Gabe geraten ist, die „reine Gabe“ als Heilmittel versteht.32 Hénaff vermutet, dass Seneca „die Gabe retten will“, da er genau wisse, dass „es außerhalb der Gabenbeziehung kein soziales Band gibt“.33 Doch Senecas Rettungsvorschlag beruhe darauf, dass er der traditionellen Gabe, die auf Gegenseitigkeit angelegt ist, ihre Bedeutung für den Zusammenhalt der Gemeinschaft entziehe. Trifft diese Kritik – jedenfalls mutatis mutandis – auch auf den Beitrag zum Gabendiskurs in Lukas 6 zu? Wir meinen: nein. Der lukanische Text scheint sich doch eher auf eine Situation der sozialen Feindschaft oder Ausgrenzung zu beziehen, mit der sich die Angesprochenen des Textes identifizieren können. Sie erfahren soziale Ausgrenzung (Hass, Verfluchung), körperliche Gewalt (Backe) und wirtschaftliche Bemächtigung (Pfändung des Untergewands). Sie verstehen sich offenkundig als Außenseiter in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sie selbst (nicht nur im moralischen, sondern auch im soteriologischen Sinne) für „Sünder“ halten. Doch sie werden im zitierten Text dazu aufgefordert, das, was ihnen angetan wird, was sie von ihren sozialen Feinden erleiden müssen, nicht mit Gleichem, sondern positiv zu vergelten: Fluch mit Segen, d. h. grundsätzlich: trotz 30 Hénaff, a. a. O., 394. 31 Ebd. 32 J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, 22–24. 33 Hénaff, a. a. O., 397.

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Ausgrenzung aus der Gemeinschaft sollen sie das Gemeinschaftsband aufrechterhalten. Auch in der Gabenbeziehung, in der Beziehung des geschäftlichen oder wirtschaftlichen Austauschs, sollen sie sich ähnlich verhalten, wie dies Seneca in seiner Schrift über die Wohltaten einer kriselnden Gesellschaft empfiehlt („Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne zurück zu erhoffen“). Das alles ist freilich nicht – wie bei Seneca – umsonst oder gratis. Während dieser die großzügigen, keine Wiedervergeltung erwartenden Wohltaten offenbar als ein Remedium gegen die Krise seiner Gesellschaft empfiehlt, scheint der lukanische Jesus nicht nur aus diesem Grunde das im Text angesprochene Verhalten zu favorisieren. Er verspricht vielmehr auch einen gerechten Ausgleich, eine faire Vergeltung, einen „Lohn“ für die erwarteten Leistungen. Diesen Lohn (misthos) werden sie allerdings von einem Dritten erhalten, nämlich von Gott. So bliebe dann am Ende doch jene Gerechtigkeit der proportionalen Gegenseitigkeit gewahrt; denn das erwartete und empfohlene Erleiden von Unrecht (sogar in Gestalt körperlicher Gewalt) wie auch die Gabe ohne Hoffnung auf Wiedergabe werden (über-)proportional vergolten: denn die, die diese negativen sozialen Erfahrungen erleiden müssen (also die Nachfolgegemeinschaft Jesu), die werden „Söhne des Höchsten“ sein. Sie verhalten sich damit nämlich wie Gott, der „gütig ist gegen die Undankbaren und Bösen“. Wir können diesen kurzen Vergleichen der Texte aus der jüdischen Bibel, dem Neuen Testament, von Hesiod, Aristoteles und Seneca, leicht entnehmen, dass sie bemerkenswerte s t r u k t u r e l l e G e m e i n s a m k e i t e n enthalten, da sie eine vergleichbare, differenzierte soziale Praxis voraussetzen, über die alle Beteiligten – Hesiod, Aristoteles, der/die Verfasser von Levitikus 19, Seneca und der (lukanische) Jesus – einen (natürlich auch unterschiedlich akzentuierten) gemeinsamen Diskurs führen.

III. Reziprozität bei Paulus: Die Kollekte für Jerusalem Die Prägung des Paulus durch die hellenistische Sprache, die Koine, und nicht zuletzt durch die (epistolographische) Rhetorik ist in der Forschung seit den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts ausführlich analysiert worden.34 Daneben wird neuerdings wieder verstärkt gefragt,35 inwieweit Paulus über die Rhetorik hinaus von der antiken Philosophie und zumal von Traditionen der Stoa geprägt wurde. Gab es lediglich oberflächliche Berührungen36 oder doch deutliche Bezugnah34 Vgl. T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus, Berlin

2006; H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Paderborn/München 1998. 35 Zur älteren Forschung vgl. M. Pohlenz, Paulus und die Stoa, in: ZNW 42 (1949), 69–104. 36 So A. J. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989.

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men, wie etwa Stowers,37 Wassermann38 und zumal Engberg-Pedersen39 annehmen? In jedem Fall ist es nicht ratsam, solche wohl vorhandenen Kenntnisse der stoischen Kosmologie und Ethik gegen den jüdisch-apokalyptischen Charakter der Theologie des Paulus auszuspielen.40 Das Bikulturalitätsparadigma lässt vielmehr mit dem Vorkommen von Elementen aus beiden Traditionen rechnen.41 Doch heißt das natürlich nicht, dass sich Paulus nicht auch von stoischen Annahmen über die Welt und den Menschen deutlich unterscheidet. Denn gerade wenn es um die Ethik in kosmologisch-anthropologischer Perspektive geht, kann man feststellen, dass Paulus das, was die Stoa für gegeben hält, wohl voraussetzt, aber nicht übernimmt.42 Doch lässt sich auch umgekehrt zeigen, dass im Kern der Soteriologie bei Paulus etwa eine Vorstellung von „Deifikation“ zu finden ist, die (auch) in vergleichbaren griechisch-römischen Konzepten Wurzeln hat.43 Ja, gerade in der paulinischen Christologie, und zwar insbesondere hinsichtlich der doppelten Abstammung des messianischen Herrschers Jesus Christus (vgl. nur Röm 1, 3f.), begegnen bei Paulus deutliche Parallelen nicht zuletzt zum römischen Diskurs über den Herrscher seit Caesar und Augustus.44 Bikulturalität ist nun allerdings nicht nur auf der Seite des Autors der paulinischen Briefe, sondern auch auf der ihrer Adressaten in den mediterranen urbanen Zentren vorauszusetzen. Auch wenn Paulus gelegentlich deutlich seine „ethnische“ Unterschiedenheit als Jude/Judäer von den Christusgläubigen aus den Völkern in den Gemeinden betonen kann, setzt er doch bei ihnen eine Kompetenz hinsichtlich der symbolischen Welt des Judentums und nicht zuletzt ihrer heiligen Schriften voraus. Ja, es darf vermutet werden, dass unter denen, die er als Apostel/Missionar der Völker (vgl. Röm 11, 13) für seine Gemeindegründungen gewinnen konnte, nicht zuletzt sogenannte „Gottesfürchtige“ gehörten, die schon zuvor als Sympathisanten den Synagogen assoziiert waren und mithin eine gewisse Bikulturalität erworben hatten.45 Schließlich spricht er ihnen auch eine Identität als Abrahamskinder zu (vgl. vor allem Röm 4). Nach der Meinung 37 S. K. Stowers, A Rereading of Romans. Justice, Jews and Gentiles, New Haven 1994. 38 E. Wassermann, The Death of the Soul in Romans 7. Sin, Death, and the Law in Light of

Hellenistic Moral Psychology, Tübingen 2008.

39 T. Engberg-Petersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000. 40 Vgl. J. L. Martyn, De-apocalypticising Paul. An Essay Focused on „Paul and the Stoics“ by

Troels Engberg-Pedersen, in: JSNT 86 (2002), 61–102.

41 Vgl. T. Engberg-Pedersen, The Material Spirit. Cosmology and Ethics in Paul, in: NTS 55

(2009), 179–197; jetzt redigiert in: ders., Cosmology & Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Oxford 2010, 39–74. 42 Vgl. E. W. Stegemann, Paulus, die antike Philosophie und Immanuel Kant, in: Chr. Strecker / P. Valentin (Hrsg.), Paulus unter den Philosophen, Stuttgart 2014, 28-44. 43 Vgl. M. D. Litwa, We Are Being Transformed. Deification in Paul’s Soteriology, Berlin/Boston 2012. 44 Vgl. E. Stegemann, Anpassung, 8ff. 45 Vgl. E. Stegemann / W. Stegemann, a. a. O., 223f.

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von Johnson Hodge entwirft Paulus diese Abrahamskindschaft für die Glaubenden aus den Völkern nicht etwa metaphorisch oder „religiös“, sondern gerade auch genealogisch oder „patrilinear“, indem er gewissermaßen eine dynamische „hybride“ Identität der Glaubenden aus den Völkern konstruiert.46 Sie liest das nicht zuletzt auch dem sogenannten Ölbaumgleichnis ab (Röm 11), nach dem die Christusgläubigen aus den Völkern als „wilde“ Zweige „eingepfropft“ worden sind in den edlen Ölbaum, dessen Wurzel Abraham ist. Deshalb gibt es zwar „eine aggregative“, nämlich genealogisch durch Abraham als „Urvater“ hergestellte Beziehung, aber diese ist zugleich auch „hierarchisch“ und „distinkt“: die Ioudaioi und die Glaubenden aus den Heidenvölkern sind Abrahams Nachkommen, aber „distinkte Völker (peoples) des Gottes Israels“.47 Die Christusgläubigen aus den Völkern werden ethnisch keine Juden. Aber wie Gott einer ist, nämlich der Gott der Völker und der der Juden und beide als Glaubende rechtfertigt (Röm 3, 21ff.), so ist der „gläubige Abraham“ auch der (Ur-)Vater aller Glaubenden und das himmlische Jerusalem ihrer aller Heimat (vgl. Phil 3; Gal 4). Bemerkenswert ist, dass Paulus die Glaubenden aus den Völkern in den mediterranen Gemeinden auch zum irdischen Jerusalem in eine Beziehung setzt. So konstatiert er etwa in Römer 15, 19, dass seine missionarische Sendung zu den Völkern in den urbanen Zentren des östlichen Mittelmeerraums von Jerusalem ausgegangen ist. Darüber hinaus deutet er an, dass er zum Zeitpunkt der Abfassung des Römerbriefs die Missionsarbeit dort beendet hat und wieder auf dem Weg nach Jerusalem ist, um von dort aus in den westlichen Mittelmeerraum nach Rom aufzubrechen und dann weiter nach Spanien mit einer Missionsdelegation weiter-reisen will (Röm 15, 22ff.). Der Grund für die neuerliche Reise nach Jerusalem ist die Kollektenüberbringung aus Griechenland. Es lohnt sich, dieses Kollektenprojekt noch etwas näher zu besprechen.

1. Eine Problemskizze Die Kollekte für die Heiligen oder die Armen der Heiligen, die in Jerusalem sind, ist ein Thema, das Paulus in seinen Brief erstaunlich oft und teils ausführlich anspricht.48 Es handelt sich hierbei um eine Geldsammlung für Jerusalem, die 46 C. Johnson Hodge, If Sons, Then Heirs. A Study of Kinship and Ethnicity in the Letters of

Paul, Oxford 2007.

47 Johnson Hodge, a. a. O., 143. 48 Grundlegend immer noch: D. Georgi, Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusa-

lem, Hamburg 1965; ferner: K. Berger, Almosen für Israel. Zum historischen Kontext der paulinischen Kollekte, in: New Testament Studies 23 (1977), 180–204; neuerdings: M. Bachmann, „… an sie und an alle“ (II Kor 9,13). Zum Adressatenkreis der sog. Jerusalemkollekte paulinischer Gemeinden, in: Erlesenes Jerusalem. Festschrift für Ekkehard W. Stegemann anlässlich seiner Emeritierung am 31. Januar 2014, hrsg. von C. Tuor-Kurth und L. Kundert (ThZ Jg. 69), Basel 2013, 435–445; K. Ehrensperger, The Ministry to Jerusalem (Rom 15.31). Paul’s Hopes and Fears, in: ebd., 338–352.

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in den von ihm gegründeten kleinasiatischen und griechischen Gemeinden, namentlich in Galatien und in Makedonien und in der Achaia, stattfand. Erwähnt wird die Kollekte im Galaterbrief (2, 10), im 1. Korintherbrief (16, 1–4), sehr ausführlich im 2Korintherbrief (Kap. 8 und 9) und im Römerbrief (15, 25–31). Schließlich kommt ein Bezug auf eine Kollekte auch in der Apostelgeschichte vor (11, 27–30; 12, 25). Nach Apostelgeschichte 24, 17 nennt Paulus als Grund seines Kommens nach Jerusalem ausdrücklich die Almosentätigkeit. Umstritten ist jedoch, um welche Art von Sammlung es sich sozialgeschichtlich bei der Kollekte für Jerusalem handelt. Geht es um eine Steuer oder um eine Spende? Geht es um die Erledigung einer Schuld bzw. Pflicht oder um einen freiwilligen Liebesdienst bzw. um Almosen? Ferner bringt man sehr unterschiedliche Deutungen hinsichtlich der theologischen Symbolik vor, das heißt hinsichtlich der Einordnung in die symbolische Welt der ersten Jesusbewegung bzw. der Christusgemeinden. Geht es darum, dass die Einheit der Kirche aus Juden- und Heidengemeinden unterstrichen werden soll? Handelt es sich also um eine ökumenische Demonstration? Oder ist die Kollekte für Paulus eine Demonstration der eschatologischen Dramatik, die für ihn die Gegenwart bestimmt? Unterstreicht sie also, dass die prophetische Erwartung einer Völkerwallfahrt zum Zion in der Endzeit, wie sie sich bei Jesaja (Jes 60, 1–7; 61, 6; 66, 18–20) und Zephanja (Zeph 3, 10) findet, jetzt in Erfüllung geht? Schließlich wird seit einiger Zeit dem sozialgeschichtlichen Deutungsansatz eine neue Dimension gegeben, indem nach der Rolle der Kollekte im Rahmen antiker Konzepte oder kultureller Wertsysteme gefragt wird. Erörtert wird hier vor allem der sogenannte „Euergetismus“ in aristokratisch und timokratisch oder meritokratisch strukturierten Gesellschaften. Dabei werden insbesondere Thesen zum Thema von Reziprozität in den ungleichen sozialen Beziehungen der Antike und im Zusammenhang des „Honourand-Shame“-Konzepts aufgestellt. Wir werden einige dieser Problemfelder im Folgenden kurz besprechen. Voraus schicken wir sozusagen eine kleine Wortkunde. Denn sie vermag schon darauf hinzuweisen, warum sich manche kontroverse Diskussion entwickeln konnte.

2. Ein kleines Vokabularium Unser Wort „Kollekte“ ist ein Fremdwort, das aus dem Lateinischen stammt. Im Lateinischen meint collēcta (fem.) als part. pf. von colligo (= zusammenlesen, sammeln, aufhäufen) das Ergebnis oder den Vorgang des Sammelns von Geld, zum Beispiel für das, was man beisteuert zu einem gemeinsamen Essen. Der lateinische Ausdruck findet sich nur selten in der Vulgata, aber eben ausgerechnet auch in 1Korinther 16, 1 und 2, wo Paulus Anordnungen bezüglich der Sammlung für Jerusalem trifft. Das lateinische collecta ist dort die Übersetzung für das griechische Wort logeia. Über die Vulgata ist sie in unseren Sprachgebrauch gekommen. Das griechische Wort findet sich in der Bibel jedoch nur bei Paulus und nur im

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1Korintherbrief, und zwar im Zusammenhang seiner Schlussmahnungen an die Adressaten in Korinth: 1Korinther 16, 1–4 1 Was aber die Sammlung (logeia) für die Heiligen betrifft, sollt auch ihr es so ma-

chen, wie ich es für die Gemeinden von Galatien angeordnet habe. 2 An jedem ersten Wochentag soll ein jeder von euch bei sich (etwas) zurücklegen und anhäufen, was ihm gelingt, damit nicht [erst] dann, wenn ich komme, die Sammlungen geschehen. 3 Wenn ich aber angekommen bin, werde ich solche, die ihr für bewährt / geeignet haltet, mit Briefen entsenden, damit sie eure Dankesgabe (charis) nach Jerusalem bringen. 4 Wenn es aber angemessen ist, dass auch ich hinreise, so sollen sie mit mir reisen.

Das griechische Wort für „Sammlung“ in 1Korinther 16, 1–2 weist in einen kulturellen und sozialgeschichtlich wichtigen Kontext. Es findet sich, wie schon Adolf Deissmann aufgedeckt hat, sonst nur in Inschriften, Papyri und Ostraka und wird „meist von sakralen Geldsammlungen für eine Gottheit, einen Tempel usw.“49 gebraucht. Es geht dabei um Sammlungen, die auch „Einhebung von Gefällen“ darstellen können, wie das Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden in etwas altertümlicher Begrifflichkeit sagt.50 Es sind Beiträge oder Abgaben, also etwas, was zu bestimmten Zeiten oder unter bestimmten Umständen „fällig“ wird wie Steuern oder Gebühren. Belegt ist der Sprachgebrauch etwa für den Isis-Tempel, für Mumienpfleger, Hafengebühren und ähnlichem. Wenn ein Isis-Priester in Theben etwa zu der Zeit, als Paulus an die Gemeinden in Rom schreibt, einem Arbeiter namens Pibouchis auf einer Scherbe schriftlich bestätigt, vier Drachmen und einen Obolos für die „Kollekte (logeia) der Isis bezüglich der öffentlichen Angelegenheiten“ erhalten zu haben, so handelt es sich dabei wohl um Beiträge für den Isis-Tempel und dessen Kasse für öffentliche oder kommunale Aufgaben. Da wir weitere solcher Quittungen kennen von Beiträgen sogar ein und desselben Arbeiters, etwa für eine „Gottessammlung“, kann man wohl annehmen, dass der Pibouchis ziemlich regelmäßig Beiträge an den Tempel abgeführt hat. Doch da er nicht einfach „Arbeiter“ heißt, sondern ausdrücklich homologos genannt wird, also als Arbeiter gekennzeichnet wird, der „aufgrund einer gegenseitigen freien Vereinbarung“51 angestellt ist, kann man sich fragen, ob diese quittierten Abgaben zwar Spenden für den Isis-Tempel sind, aber doch zugleich Bestandteil eines mit seiner Anstellung zusammenhängenden Vertrags. Man könnte spekulieren, dass sein Vertrag gar war, solche Beiträge für Tempel 49 A. Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der

hellenistischrömischen Welt, Tübingen 4. Aufl. 1923, 83f.

50 Vgl. F. Preisigke / E. Kießling, Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden, 2. Band, Ber-

lin 1927, Sp. 26.

51 Ebd. Sp. 169.

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wie Gebühren einzuziehen. Oder war er so etwas wie ein vertraglich angestellter Fundraiser für Tempel? Deissmann jedenfalls schließt aus den kleinen Summen, die quittiert wurden, dass diese Dokumente einen interessanten Einblick in „die finanzielle Inanspruchnahme der kleinen Leute zu religiösen Zwecken“52 gewähren. Fragen kann man, ob diese „religiösen Zwecke“ nicht besser „soziale“ oder „öffentliche“ Zwecke genannt werden sollten. An anderen Stellen wird wie in 1Korinther 16, 4 vor allem das griechische Wort charis gebraucht, das wir hier mit „Dankesgabe“ übersetzt haben und das im Deutschen sonst oft mit „Gnade“ wiedergeben wird. So steht das Wort etwa in 2Korinther 8, 6. Paulus erwähnt hier, dass er seinen Mitarbeiter Titus, der schon anfänglich für die Kollekte in Korinth zuständig war, ermahnt hat, nun „auch diese Dankesgabe (charis) bei Euch (den Korinthern) zu Ende zu bringen“. Etwas später, nämlich in 2Korinther 8, 19, geht er darauf ein, dass sein Mitarbeiter Titus von den Gemeinden in Makedonien bestimmt wurde, ihn auf der Reise, die der Überbringung der Kollekte dient, zu begleiten: Titus 2Korinther 8, 4 4

wurde auch von den Gemeinden bestimmt als unser Reisebegleiter, wenn diese Dankesgabe (charis) von uns überbracht wird zur Ehre des Herrn und unseres guten Willens.

Charis könnte durchaus auch so etwas wie „Schenkung“, „Zuwendung“ oder gar „Stiftung“ bedeuten. Den Aspekt der Spende oder Schenkung führt Paulus insbesondere in 2Korinther 9 weiter. Dort nimmt er auch das klassische Stichwort für schlichte Güte (haplotes) auf. Doch weist uns insbesondere das Wort charis in den Kontext griechisch-römischer Kultur des Tuns des Guten, der Wohltätigkeit, und der Dankbarkeit.53 Dabei bezieht sich charis sowohl auf die Hilfe für Bedürftige wie auf Spenden für die öffentliche Aufgaben. Wichtig ist, wie wir noch ausführen werden, der Aspekt der Kompensation oder Vergeltung. Das Wort, das das Überbringen bezeichnet, nämlich gr. diakoneo, kommt sehr oft im Zusammenhang der Kollekte vor, und zwar entweder als Verb oder als Substantiv (gr. diakonia). Doch wenn auch alle es hier als Begriff auffassen, der sich auf die vermittelnde Funktion des Paulus bzw. seiner Mitarbeiter bzw. Reisebegleiter hinsichtlich der Überbringung der Kollekte von Griechenland nach Jerusalem bezieht, wird es von ihnen an anderen Stellen als Bezeichnung für die Kollekte als „Liebesdienst“ aufgefasst. So etwa in 2Korinther 8, 4. Paulus führt in diesem Zusammenhang aus, dass die Makedonier den Korinthern ein Vorbild sein könnten, denn sie haben geradezu über ihr Vermögen hinaus freudig und freiwillig gegeben: 52 Deissmann, a. a. O., 84 Anm. 8. 53 Vgl. D. Zeller, Charis bei Philon und Paulus, Stuttgart 1990, 18ff.

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„Dabei baten sie (die Makedonier) uns mit inständigem Zureden um die Gefälligkeit (charis), das heißt um die Teilnahme (koinonia) an der Diakonie für die Heiligen“.

Doch das, was man immer im Deutschen als äquivalentes Übersetzungswort für Diakonie angesehen hat, nämlich „Dienst“ oder „Liebesdienst“, ist neuerdings mit Recht kritisiert worden.54 Es ist nicht eine Bezeichnung für die Kollekte, sondern kennzeichnet deren Organisation, nämlich den Botengang und die Überbringung der Sammlung. Wenn Paulus also etwa in 2Korinther 8, 4 von den makedonischen Gemeinden sagt, dass sie ihn „mit inständigem Ersuchen um die Gunst/Gefälligkeit (charis) und die Gemeinschaft/Partnerschaft (koinōnia) der Diakonie für die Heiligen baten“, dann geht es, wie Anni Hentschel plausibel gemacht hat, um die Gemeinschaft oder Anteilhabe am B o t e n g a n g,55 an der Überbringung der Kollekte , also „um den organisatorischen Aspekt“.56 Das griechische Wort diakonia ist mithin keine Metapher für die Kollekte, meint nicht „Liebesdienst“, sondern bezeichnet die Funktion, die Paulus auf Bitte der Gemeinden bei deren Überbringung spielen wird. Er soll ein Vermittler, ein Mittelsmann, zwischen den Makedoniern und den Jerusalemern sein. Dementsprechend versteht Henschel auch die Bemerkung in Römer 15, 25, wo Paulus über seine Reise nach Jerusalem spricht, so dass Paulus „als Bote (oder Vermittler) im Auftrag der Heiligen“, nämlich der in Makedonien und Achaia, fungiert.57 Das Verb diakonein, das er hier benutzt, meint danach, dass er zwischen den Heiligen (in Griechenland) und den Armen der Heiligen in Jerusalem vermittelt. Er ist der, der die Kollekte überbringt und so allerdings auch gewissermaßen mit einem Gütesiegel versieht. Anders gesagt: Es geht nun doch nicht nur um das rein Organisatorische. Über seine Beauftragung mit der Kollektenüberbringung nach Jerusalem sagt er: Römer 15,28 28 Wenn ich das also vollendet und ihnen diese Frucht versiegelt haben werde, dann

will ich mich nach Spanien aufmachen und unterwegs bei euch Station machen.

Der Satz ist etwas dunkel. Sicher bedeutet das griechische Verb sphragizo: etwas „versiegeln“. Nicht zuletzt bei Testamenten oder Urkunden, Briefen usw. wird es gebraucht. Aber auch Kornsäcke oder Mandeltüten oder Wollballen, die transportiert werden, werden versiegelt, damit festgestellt werden kann, ob etwa unterwegs jemand etwas herausgenommen hat. Doch dürfte hier ja doch kaum gemeint sein, dass Paulus den Makedoniern und Achaiern mit Brief und Siegel die 54 Cf. J. N. Collins, Diakonia. Re-interpreting the Ancient Sources, New York/Oxford 1990,

228; A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, Tübingen 2007. 55 Vgl. Hentschel, a. a. O., 149. 56 Hentschel, a. a. O., 151. 57 Hentschel, a. a. O., 154.

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ordnungsgemäße, das ist: vollständige Summe der Kollekte, bestätigt. Denn das Personalpronomen „ihnen“ bezieht sich (wie das kurz vorher stehende in V. 27) eindeutig auf die Jerusalemer. Ihnen wird er die Frucht versiegeln. Das dürfte dann aber bildlich gemeint sein. Theodor Zahn hat deshalb so ausgelegt: „Er selbst gedenkt … diese Kollekte zum Abschluss zu bringen und für die Jerusalemer auf diese sinnenfällige Frucht des von ihnen in die Heidenwelt ausgestreuten geistlichen Samens sein Siegel als ein aus Israel hervorgegangener Apostel der Heiden aufzudrücken“.58

Ja, Paulus schrieb ja wenige Verse zuvor in Römer 15, 19, dass er „v o n J e r u s a l e m a u s das Evangelium … erfüllt hat“. Er selbst ist zwar kein Apostel Jerusalems, sondern von Gott unmittelbar berufen durch eine Erscheinung des Herrn Jesus Christus. Von ihm hat er sein Evangelium empfangen. Doch seit der Konferenz in Jerusalem, von der er in Galater 2 berichtet, haben die Jerusalemer durch Handschlag seine Rolle als Völkerapostel und sein Evangelium anerkannt. Bemerkenswert ist noch ein weiteres Stichwort im Zusammenhang der Kollekte, nämlich leitourgia in 2. Korinther 9, 12 oder das entsprechende Verb in Römer 15, 27. Das Wort kann durchaus sakral-kultische Bedeutung haben, also Priesterdienst meinen, aber auch einen öffentlichen Dienst, den private Bürger leisten, nicht nur freiwillige Spenden (für Theater, Schiffe usw.), sondern auch Zwangsleistungen (wie Frondienst). Wir lernen also, dass wir bisher dem Dilemma der Interpretation durch sprachliche Hinweise nicht entgehen. Es bleibt offen, ob es sich um eine pflichtgemäße oder um eine freiwillige Aktion bei der Kollekte handelt.

3. Schuldige Pflicht oder freie Liebestat, Steuer oder Spende? Im Wesentlichen sind, wie erwähnt, zwei sozialgeschichtliche Interpretationen vorgetragen worden. Die erste ist die, die die Kollekte als eine Art Steuer deutet – ähnlich der Tempelsteuer, die auch die Diasporajuden sammelten, oder anderen Abgaben für Kulte. Hier kann man sich einerseits auf eben vergleichbare Sammlungen berufen, nicht zuletzt aber auch auf das griechische Wort logeia, das Paulus in 1Korinther 16, 1–2, aber auch nur dort, für die Kollekte gebraucht. Luther hat es übrigens bemerkenswerter Weise mit „Steuer“ übersetzt, was jedoch seit der Revision der Lutherbibel von 1984 ersetzt wurde durch „Sammlung“. In der modernen historisch-kritischen Auslegung war es vor allem der berühmte Aufsatz von Karl Holl über den „Kirchenbegriff des Paulus“ von 1921, der diese Deutung unterstützte.59 Holl argumentierte jedoch nicht von dem genannten 58 Th. Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer, 1. und 2. Auflage, Leipzig 1910, 602. 59 K. Holl, Der Kirchenbegriff des Paulus in seinem Verhältnis zu dem der Urgemeinde, in:

ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. II. Der Osten, Darmstadt 1964, 44–67.

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Begriff her. Vielmehr steht seine Interpretation der Kollekte als Kirchensteuer für Jerusalem im Zusammenhang seiner Vorstellung, dass die Urgemeinde in Jerusalem eine besondere hierarchische Stellung gegenüber den Missionsgebieten in Kleinasien und Europa, nicht nur in religiöser, sondern auch in rechtlicher Hinsicht beanspruchte. Die Gemeinden der Diaspora wären als „Ableger“ oder Filialen der Gemeinde in Jerusalem angesehen worden. Diesen Rechtsanspruch hätte Paulus jedenfalls in Sachen der Kollekte anerkannt. In Römer 15 schreibt Paulus in der Tat, dass Mazedonien und Achaia den Beschluss gefasst haben, „eine gewisse Gemeinschaft herzustellen bezüglich der Armen der(jenigen) Heiligen, die in Jerusalem wohnen“,60 und dass sie dies in Ansehung dessen getan haben, dass sie auch „ihre S c h u l d n e r sind“: „Denn wenn die Völker Anteil/Gemeinschaft an ihren geistlichen Gütern bekommen haben, schulden sie auch, mit den fleischlichen Gütern ihnen (pflichtgemäß) zu dienen“ (Röm 15, 27). Deutlich ist also, dass hier von Paulus durchaus das Verhältnis der Völkergemeinden in einer Partnerschaft gesehen wird, die die Jerusalemer mit ihnen durch Anteilsgewährung an ihren geistlichen Gütern eingegangen sind, weswegen sie eine gewisse reziproke Gegenleistung zu geben die Pflicht haben. Aber deutlich ist auch, dass es in der Wechselseitigkeit keine Gleichheit gibt. Die einen, die Jerusalemer, gewähren an Geistlichem – und das heißt an dem das Materielle und Vergängliche Transzendierenden – Anteil, die anderen zahlen zurück mit Fleischlichem, Materiellem, eben mit Geld.

4. Das Ethos der Reziprozität Die schon erwähnten kulturanthropologischen Studien zum Konzept der antiken Reziprozität können deutlich machen, dass die Alternative „Almosen versus Steuer“ bzw. „Liebestat versus Pflicht“ in der Interpretation der Kollektenthematik die Bikulturalität von Paulus und seinen Gemeinden nicht in Rechnung stellt. Einerseits gilt nämlich im Zusammenhang des Patron-Klienten-Verhältnisses und des sogenannten Euergetismus, dass reiche Wohltäter in der Antike Güter und Dienste mit ihren Klienten austauschen, freilich in asymmetrischer Weise und im Unterschied zum kommerziellen Austausch oder zur Wechselseitigkeit zwischen Freunden. Vorausgesetzt wird also eine soziale und wirtschaftliche Ungleichheit. Es wird im Patron-Klienten-Verhältnis durchaus auf politische Unterstützung, auch auf öffentliche Ehrung der Wohltäter durch die Empfänger reflektiert. Diese geschieht nicht zuletzt in ehrenden Inschriften oder in Ehrenplätzen im Theater, aber auch durch eine goldene Ehrenkrone usw. Ausgedrückt wird das denn auch oft so, dass die Polis „nicht vergisst“, was der Wohltäter ihnen ge60 M. Bachmann hat kürzlich argumentiert, dass entgegen der weithin verbreiteten Annah-

me, es seien Mitglieder der Christusgemeinde in Jerusalem (oder die Armen unter ihnen) gemeint, plausibler sei, alle in Jerusalem als Empfänger anzunehmen (vgl. oben Anm. 48).

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WOLFGANG STEGEMANN UND EKKEHARD W. STEGEMANN

stiftet hat.61 Bemerkenswert ist, dass das, was der Wohltäter tut, oft mit charis bezeichnet wird, aber ebenso auch das, was die Empfänger der Wohltat in Kompensation tun, also indem sie ihn ehren. Die Gefälligkeiten oder Erkenntlichkeiten sind unterschiedlich, aber die Reziprozität ist gewährleistet. Der Punkt ist – und hier können wir eine Brücke zur Kollekte für Jerusalem schlagen –, dass charis nicht nur die Gabe des Schenkers, sondern auch die Gegenleistung der Empfänger bezeichnet: Sie zeigen sich erkenntlich für die Wohltat oder Gefälligkeit, wenn auch auf einer anderen Ebene: Charis für Charis, Gefälligkeit für Gefälligkeit, aber konkret: Geld für Ehre. Dass der Schenker durchaus eine Gegengabe erwarten konnte, eben etwa in Form der öffentlichen Ehrung, ist dabei Teil dieser Donatorenkultur. Deshalb bezeichnete man ihn als einen, der „Liebe zur Ehrung“ hat (philotimia), oder als die, „die nach Ehre eifrig streben (unter den Mitgliedern), darum wissend, dass sie Dank zurückerhalten werden“.62 Entsprechend wird nicht nur „die Spontaneität und Uneigennützigkeit der charis eigens festgestellt“,63 sondern ganz im Gegenteil auch der Eigennutz des Donators. Der Charis-Begriff wird also durchaus kritisiert: Der Wohltäter hält seine Gabe als Schuld wach und der Empfänger weiß, dass er eigentlich nicht selbst eine charis zurückgibt, sondern eine Schuld begleicht. Wenn Paulus etwa im Römerbrief davon spricht, dass die Makedonier und Achaier sich als „Schuldner“ der Jerusalemer verstehen, weil sie verpflichtet sind, ihnen mit materiellen Gütern wegen des Empfangs von geistlichen Gütern zu dienen, dann zeigt sich dieses vorausgesetzte Reziprozitätssystem. Auf diesem kulturellen Hintergrund besteht mithin kein Unterschied zwischen Gnade/charis/Gefälligkeit auf Seiten der Empfänger und zugleich in der Schuld zu sein. Dementsprechend können die Jerusalemer nach Galater 2, 10 von Paulus erwarten, dass er der Armen „gedenken“ solle. Es ist nun allerdings von Bedeutung, dass dieses griechisch-römische Reziprozitätssystem nicht zuletzt von Philo von Alexandrien kritisiert wird: „Bei genauerer Erwägung wirst du nämlich finden, dass alle, von denen man sagt, dass sie gerne schenken (charizesthai), mehr verkaufen als schenken, und dass die, von denen wir meinen, dass sie Geschenke empfangen (lambanein charitas), in Wahrheit kaufen. Denn die Geber, die als Entgelt Lob oder Ehre gewinnen wollen, also für ihre Spende (charis) eine Gegengabe (antidosis) verlangen, betreiben unter dem schön klingenden Namen „Geschenk“ eigentlich einen Verkauf, da doch die Verkäufer für das, was sie bieten, etwas zu empfangen pflegen; und die Empfänger 61 Vgl. E. D. MacGillivray, Re-Evaluating Patronage and Reciprocity in Antiquity and New

Testament Studies, in: JGRChJ 6 (2009), 37-81.

62 Ebd., 48. 63 Zeller, a. a. O., 20.

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von Geschenken, die sie zurückzuerstatten bemüht sind und bei Gelegenheit wirklich zurückerstatten, handeln wie Käufer, die ja wissen, dass sie ebenso zu zahlen haben, wie sie empfangen.“

Demgegenüber steht nun für Philo Gott: Er ist der einzige, der geschenkweise gibt, ohne Rückerstattung zu erwarten oder gar ihrer zu bedürfen: „Gott aber ist kein Verkäufer, der seinen Besitz feilbietet, sondern verschenkt alles, er lässt seine nie versiegenden Gnadenquellen (chariton pegai) fließen und verlangt keinen Entgelt; denn er selbst ist bedürfnislos, und von den Geschöpfen ist keins imstande, sein Gnadengeschenk zu erwidern“ (Cher. 122–123).64

Philo hebt zwar an anderer Stelle Augustus als unübertroffenen „Wohltäter“ (euergetes) hervor. Aber zugleich auch, dass die Juden jedenfalls keine ehrenvollen Standbilder für ihn in ihren Synagogen errichtet haben – entsprechend den jüdischen Traditionen. Philo stellt Augustus’ Fürsorge für „die Erhaltung der alten Sitten“ heraus, aber auch, dass ihm „jegliche Überheblichkeit und Eitelkeit angesichts übertriebener Ehrungen abging“. Denn er lehnte es auch ab, „sich jemals als Gott ansprechen zu lassen“ und pflichte so den Juden bei, deren Enthaltsamkeit von solchen Verhaltensweisen er kannte (vgl. Lg. Gai. 148ff.). Der Punkt bei Philo ist also: Der Euergetismus, sofern er reziprok Ehrung des Donators erwartet, ist ein kommerzieller Austausch, obwohl er vorgibt, es nicht zu sein. Als Grundlage der Ablehnung einer solchen Art von Reziprozität zitiert er die jüdische Kultur, in der allein Gott als Geber guter Gaben, als „Wohltäter“ gelten kann, sofern eben seine Gnadengeschenke an die Geschöpfe Gaben im eigentlichen Sinne sind und sofern er nichts als „Entgelt“ zurückerwartet und ja ohnehin – und hier nimmt Philo auch stoische Theologie auf – bedürfnislos ist. Es ist deshalb der Juden Sitte, Wohltäter selbst von der Statur eines Augustus nicht durch öffentliche Monumente in den Synagogen zu ehren, da dieses die Grenze zur Vergöttlichung eines Menschen überschreitet. Es ist auffällig, dass Philo gleichwohl behauptet, dass die Juden sich „ehrfürchtig und fromm“ zum Kaiserhaus verhalten, soweit „ihre Gesetze es erlauben“. Auch sie sind „philokaisares“, Freunde des Kaisers oder Caesartreue. Ihre Gebete, Weihegeschenke und Opfer (im Tempel von Jerusalem) zeugen davon. Aber nicht mit dem Mund und der Zunge erweisen sie ihre Ergebung, vielmehr mit „Wünschen verborgen in den Tiefen des Herzens“ (Lg. Gai. 280). Auch Josephus kritisiert zumal am Verhalten von König Herodes die Ehrsucht der Wohltäter, die Sucht nach mnemeia, Monumenten (Ant 16, 153ff.). Er erklärt, dass das freilich immer auf Kosten anderer ging, da er ihnen wegnehmen musste, was er als Wohltäter ausgab. 64 Übersetzung in enger Anlehnung an I. Heinemann, Philo von Alexandria. Die Werke in

deutscher Übersetzung, Bd. III, Berlin 1962, S. 202. Es ist dies nun freilich eine auch bei den Stoikern bekannte Denkweise; vgl. Zeller, a. a. O., 25.

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WOLFGANG STEGEMANN UND EKKEHARD W. STEGEMANN

Was lernen wir nun daraus für die Kollekte für Jerusalem? Es ist deutlich, dass Paulus ein Verhältnis der Reziprozität zwischen den Gemeinden Griechenlands und in Jerusalem sieht. Das Stichwort charis für die Gegengabe spricht dafür, aber auch die Semantik, die das Pflichtgemäße bzw. das Schuldigsein dieser Dankesgabe bezeichnet. Gleichwohl unterscheidet sich nun die Kollekte vom Euergetismus darin, dass sie eben nicht finanzielle Wohltaten mit Ehrenbezeugungen vergilt. Hier hält Paulus ganz offensichtlich die jüdische Kultur bzw. die jüdischen Sitten ein. Es gibt ein quid-pro-quo, aber nun bezeichnenderweise derart, dass das Materielle, das Finanzielle die Rückerstattung ist für die Anteilgabe an den geistlichen Gütern. Die Überbringung der Kollekte, sagt Paulus in 2Korinther 9, 12 und 13, 14 „schafft nicht nur dem Mangel der Heiligen Abhilfe, sondern erweist sich auch als weit mehr durch deren Dankgebete zu Gott, wobei sie für die Bewährung im Hinblick auf die Überbringung Gott preisen wegen der Unterordnung, mit welcher ihr euch zum Evangelium Christi bekennt und wegen der lauteren Güte eure Gemeinschaft in Hinsicht auf sie ihnen und allen gegenüber“. Gott wird gepriesen, und ihm allein gilt der „Dank für seine unaussprechliche Gabe.“

5. Reziprozität bei Paulus Wir bleiben nach unserer Untersuchung des kulturellen Umfelds der Kollekte bei einer eigentümlichen Zwiespältigkeit. Einerseits kann Paulus die Freiwilligkeit oder den Spenden- bzw. Almosencharakter betonen, andererseits aber auch das Pflichtgemäße oder das Schuldigsein. Wir sehen nicht, wie man das anscheinend so Widersprüchliche auflösen kann, es sei denn, dass wir einräumen, dass Paulus unterschiedliche kulturelle Enzyklopädien bei seinen Adressaten aufruft bzw. dass für ihn diese Enzyklopädien gar nicht so streng voneinander getrennt sind. Immerhin kann Paulus durchaus eine deutliche Unterscheidung zwischen dem machen, was kata charin, geschenkweise oder aus Wohlwollen (Gottes) geschieht, und dem, was kat’opheilema, also aus schuldiger Pflicht geschieht (Röm 4, 4–6). Wenn Paulus offenbar den technischen Begriff logeia, „Kollekte“ oder „Sammlung“, in 1Korinther 16 anwendet, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass dieser durchaus in der kulturellen Enzyklopädie die Bedeutung von einem „Gefälle“ oder einer „Steuer“ hat. Wie erwähnt, hat Luther denn auch in 1Korinther 16 den Begriff „Steuer“ benutzt und der Kirchenhistoriker Karl Holl hat die Kollekte als eine der Kirchensteuer ähnliche Abgabe bezeichnet. Entscheidend für die Kritik war jedoch, dass Paulus in 1Korinther 16, 4 von charis redet. So hat zuletzt etwa Wolfgang Schrage in seinem Kommentar gesagt, dass man den „Spendencharakter“ der Kollekte betonen müsse und dafür auf das Stichwort charis in 1Korinther 16, 4 verwiesen,

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was er mit „Gabe“ übersetzt.65 Schaut man jedoch in das kulturelle Feld des Euergetismus, so ist charis durchaus auch bei dem vorhanden, der dem Wohltäter sich erkenntlich zeigt. Das Eigentümlich bei Paulus ist nun jedoch – und damit steht er in einer Tradition der Kritik des Euergetismus –, dass die pflichtgemäß zurückerstattete Dankes- oder Gegengabe nicht in der Ehrung des Wohltäters besteht, im Gedenken durch Inschriften oder mnemeia, durch Denkmäler, Standbilder usw., oder durch Ehrenplätze. Vielmehr besteht es im „Gedenken (mnemoneuein) der Armen“, wie Galater 2, 10 sagt, in einer finanziellen Wohltat, die Anklänge an die Armenfürsorge oder Almosengabe zeigt. Die Empfänger der geistlichen Güter, die ihnen fehlten, werden so selbst zu Wohltätern an Bedürftigen im Materiellen. So kommt es zum billigen Ausgleich, wie Paulus in 2Korinther 8, 13.14 sagt. Aber die Ehre gilt nur Gott. Das Beispiel der Kollekte kann zeigen, dass Paulus und seine Gemeinden sowohl in griechisch-römischer wie in der jüdischen Kultur bewegen und jeweils deren Diskurse kennen und somit das „codeswitching“ beherrschen. Darin spiegelt sich auch das wider, was wir als „implizite Hybridität“ mediterraner Gesellschaften bezeichnen.

65 Vgl. W. Schrage, Der Erste Brief an die Korinther (EKK VII/4), Düsseldorf/Neukirchen-

Vluyn 2001, 425.

Richard Faber Christianisierung des Imperium Romanum? Imperialisierung des Christentums!

„Nach dem Zuge der Natur sind wir getrieben und gehalten, Jesi …, unsres Ursprungs erlauchten Anbeginn, wo unsre göttliche Mutter uns zum Lichte gebracht …, mit innerster Liebe zu umfangen: auf dass aus unsrem Gedächtnis nicht entschwinde seine Stätte, und unser Bethlehem, des Cäsars Land und Ursprung, in unsrer Brust zutiefst verwurzelt bleibe. So bist du, Bethlehem …, nicht die kleinste unter unsres Geschlechtes Fürsten: denn aus dir ist der Herzog kommen, des Römischen Reiches Fürst …“1

So schrieb der staufische Kaiser Friedrich II. im Jahre 1239 seiner Geburtstadt Jesi, die er, auch in diesem Punkt den Christus oppositionell imitierend, sein „Bethlehem“ nannte: er, der neue und deshalb a n t i christliche Gottkaiser. – Friedrich nahm einen Kreisschluss vor, zurück hinter den bereits konstantinisch, also römisch-imperial überformten Christus. Der Hohenstaufe kehrte auf der ‚Höhe’ der mit ihm einsetzenden Neuzeit zurück zum sonnengöttlichen Kaisertum Aurelians und seiner unmittelbaren Nachfolger, an die Konstantin parachristlich angeknüpft hatte, das Christentum imperialisierend bzw. ‚paganisierend’. Die christliche Apologetik der konstantinischen Hoftheologen bildete sich freilich ein – selbst im Unterschied zu Origenes, der die Geburtsfeste der Götter und Kaiser noch verspottet hatte –, gerade durch die Feier des „Christi natalis“ (in carne) und ihre Verlegung (vom 6. Januar, der seinerseits der Sonnengeburtstag des alten Kalenders gewesen war) auf den „solis invicti natalis“ am 25. Dezember gegen den ‚heidnischen’ Gott Helios-Sol (invictus) p r o t e s t i e r e n zu können.2 Dieser war einige Jahrzehnte zuvor zum einzigen, universalen Reichsgott aufgestiegen, initiiert durch die Augusteer, die Helios-Apollo zum Hausgott ihres Kaisers gemacht hatten, und unmittelbar vorbereitet durch die seit Beginn des 1 E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1928, S. 467; sekundär: R. Faber, Der

kaiserlich-päpstliche Dualismus im Hochmittelalter. Zur Entstehung des neuzeitlichen Staates, in: B. Gladigow (Hrsg.), Staat und Religion, Düsseldorf 1981, S. 75–97. 2 Vgl. H. Usener, Das Weihnachtsfest, Bonn 1969 (3. Aufl.) S. 13 u. 9/10; ausführlicher: F. J. Dölger, Sol salutis. Gebet und Gesang im christlichen Altertum. Mit besonderer Rücksicht auf die Ostung in Gebet und Liturgie, 1925 (2. Aufl.).

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RICHARD FABER

dritten nachchristlichen Jahrhunderts nach Rom exportierten Baals-Kulte Syriens, die Religion des Mithras, die Romanliteratur – mit Heliodors überragenden „Aithiopika“ - und vor allem die panentheistische Philosophie des Neuplatonismus. All dies kann hier nicht ausgebreitet werden;3 worauf es ankommt, ist der eben religions p o l i t i s c h e Zugriff des Kaisers Aurelian (270–75), der als erster das Integrationspotential eines aus den genannten Quellen gespeisten Solarhenotheismus begriff und aktualisierte. Sinngemäß lautete Aurelians Programm: ’Eine Sonne, ein Reich, ein Kaiser’ - der auf das Geheiß jenes „sol invictus“ den Thron einnahm und seine Taten vollbrachte: „Quod in caelis sol, hoc in terris Caesar est“.4 Aurelians Münzen zeigen, wie die Treue der Truppen kraft göttlicher Voraussicht sich dem Sonnengott als ihrem Führer zuwendet. Man erblickt die Büste des Sonnengottes über dem Kaiser und „Concordia“: Der Gott gewährleistet jene Eintracht, die zum Segen des Reiches und seines Regenten sich auswirkt.5 Vor diesem e i n e n Wichtigen hatte alles andere als sekundär und, weil zwischen den einzelnen Bestandteilen der Synkrasie verschieden, als unter Umständen gefährlich zurückzutreten. Größte Einfachheit war verlangt, die gerade so eine autoritäre Herrschaftshierarchie garantierte. Rational schlüssig ließ sich von oben nach unten deduzieren - nachdem einmal ein archimedischer Punkt gewonnen war, mehr als das, ein theistischer. Endlich galt auch im römischen Weltreich in voller, ‚platonischer’ Ausdrücklichkeit: „theós métron hapánton“.6 Die göttliche Verehrung des lebenden Kaisers, die unter Augustus nur in den Provinzen ein Mittel zur Festigung des Reichszusammenhalts sein konnte, von Vergil z. B. aber auch schon in Rom propagiert und in verschlüsselter Form tatsächlich geübt worden war, hatte Allgemeingültigkeit gewonnen. Die vielfältige Bedrohung des Reiches hatte das gefordert, und die soziale, politische und geistige Entwicklung hatte es ermöglicht. Zusammen mit der (religions-)politischen Vorarbeit Aurelians sollte sie auch eine Christianisierung des Reiches – als Reich – ermöglichen, damit aber andererseits eine Imperialisierung des Christentums. Dass für Konstantin, im Gegensatz zu seinen ‚heidnischen’ Anfängen, Gott und Sonne nicht, wie noch für Aurelian, wesensgleich waren, und er dies auch öffentlich äußerte, z. B. durch seinen Hoftheologen Eusebius von Cäsarea, aber auch selbst, war keine ‚christliche’ Revolution, sondern nur eine Favorisierung und Monopolisierung von dem, was am an sich ‚heidnischen’ Neuplatonismus 3 Vgl. aber R. Faber, Die Verkündigung Vergils: Reich – Kirche – Staat. Zur Kritik der „Poli-

tischen Theologie“, Hildesheim/New York 1975, Kap. I, 2.

4 Inschrift des „Triumphzugs“ Kaiser Maximilians I. (+ 1519) 5 Vgl. F. Altheim, Der unbesiegte Gott. Heidentum und Christentum, Reinbek 1957, S. 97. 6 Vgl. W. Weber, Der Prophet und sein Gott. Eine Studie zur 4. Ekloge Vergils. Beihefte zum

alten Orient, H. 3 (1925), S. 86.

CHRISTIANISIERUNG DES IMPERIUM ROMANUM?

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das Spezifische war: sein g e i s t i g e r Theismus, nach dem die Sonne Bild und Gleichnis Gottes ist, aber nicht mehr, u n t e r t a n seinem Gebot. Nicht nur vor seiner Wendung zum Christentum, vor der er wie Aurelian den sol invictus verehrte, begegnen die Sonne und ihre Symbole überall im Umkreis von Konstantin. Bis in seine letzten Jahre haben die Vorstellungen des Lichtes der Sonne und des von dieser erhellten Erdkreises einzigartige Bedeutung für den Kaiser besessen:7 „Wie Helios seine Strahlen über die Erde sendet, so der Kaiser die Lichtstrahlen seines edlen Wesens. In Dunkel und finsterer Nacht hat Gott ein großes Licht aufleuchten lassen in seinem Diener Konstantin“, heißt es wieder bei Eusebius und: „Vor den versammelten Vätern des Konzils von Nicäa trat er auf, gleich einem himmlischen Boten Gottes, im strahlenden Umhang des Purpurmantels, er leuchtete wie Lichtesglanz, von feurigen Strahlen umgeben, mit dem Funkeln des Goldes und kostbarer Steine geschmückt.“8 Auf dem Haupte trug er die Strahlenkrone des Sonnenherrschers, und wie dieser ein Weltherrscher war, so wurde auch Konstantin als solcher aufgefasst. Desgleichen seine Nachfolger, wenn ihr Haupt jetzt auch der „Nimbus“ umglänzte, statt der Strahlenkrone, die nach Konstantins Bekehrung diskreditiert war. Aber die christlichen Kaiser wurden mit dem Nimbus abgebildet wie der Erlöser selbst.9 Und auch diese Gloriole stammt aus dem Sonnenkult. Von den objektiven und subjektiven Identitäten abgesehen, war es – in der Übergangszeit der Konstantin’schen Herrschaft – nicht zuletzt der religionspolitischen Taktik wegen sehr günstig, mit der Sonnensymbolik arbeiten zu können: „Christus ist ein neuer Sonnengott, die Sonne des neuen Bundes“ war die wichtigste Vorstellung, von der man geleitet wurde, wenn man sich und den ‚Heiden’ den Begriff des Gottessohnes näher bringen wollte.10 In diesem Zusammenhang wurde dann auch sein Geburtstag auf den „dies solis natalis“ am 25. Dezember gelegt und an diesem Tag gefeiert. Eine Hymne der Zeit drückt aus, was diese Akkomodation leisten sollte: „Lux crescit11 – decrescunt tenebrae, ∥ crescit dies – decrescit nox, ∥ errorem veritas subdit.“12 Das physische Geschehen wird in diesen Versen zur Metapher eines spirituellen; bereits im Johannesprolog war der Logos Christus „das wahre Licht“ genannt worden, „das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt.“ (1, 9) 7 Vgl. F. Altheim, a. a. O., S. 104. 8 Ebd., S. 105 9 Vgl. A. Alföldi, Die Ausgestaltung des monarchischen Zeremoniells am römischen Kaiser-

hof, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung 49/50 (1934/5), S. 144/5. 10 Vgl. H. Usener, a. a. O., S. 9. 11 Das ist die einfache Übersetzung des Rufs „Das Licht wächst“, mit dem beim alexandrinischen Heliosfest die Geburt der Sonne verkündet wurde: „Die Jungfrau hat geboren“. (Vgl. E. Norden, Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee, Leipzig 1924, S. 25.) 12 Zit. nach E. Norden, a. a. O., S. 112

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Clemens von Alexandrien pries Christus dann, nur als erster von vielen, „Sonne der Gerechtigkeit“, womit er das Wort des Propheten Malachias (3, 2) von Adonai auf Christus übertrug. „Hodie nobis Sol iustitiae nascitur“,13 heißt es schließlich in der christlichen Weihnacht. – Christus ist „sol salutis“: „Erlösungs- und Gnadensonne“, Sonne der Auferstehung. Am Gewölbe einer christlichen Grabkammer unter St. Peter erscheint er als Sonnengott, wie er, das Haupt mit dem Stahlenkranz geschmückt, auf dem Viergespann auffährt, als Lichtbringer, der auch die Toten zum ewigen Leben führt.14 Ob es sich um den „Konstantinsbogen“ handelte15 oder um den „dies solis“, der statt des Saturntages wöchentlicher Feiertag wurde – bereits die christliche Urgemeinde hatte zum Gedächtnis der Auferstehung diese Verschiebung im jüdischen Bereich vorgenommen –, jedes Mal war, für Christen wie ‚Heiden’, eine Übertragung ihrer Theologie möglich. Im Zeichen der Sonnensymbole konnte, jetzt von oben bewusst dirigiert, ein gegenseitiger Austausch stattfinden und in ihm eine noch stärkere Angleichung beider, jedenfalls auf der für die breiten Massen und ihren Staat entscheidenden Ebene des Festes und Kultes. Für den Kaiser selbst war die Kirche vor allem die Gemeinschaft, welche Gott mit dem richtigen Kult verehrt – was nur die Fortsetzung einer altrömischen Tradition bedeutete.16 Konstantin setzte an die Stelle des Sonnengottes den Glauben an Christus, wie Aurelian in der Absicht, damit für die Völker des Reichs ein einigendes Band zu knüpfen.17 Ja, das schon zwei Generationen vor Konstantin integrierte Christentum der B i s c h o f skirche war mehr als nur Ersatz. Als ein wirklicher Staat – im Staate – bot diese Kirche bereits vor Aurelian ein seinem Staat völlig analoges Bild, wobei – zu ‚Gunsten’ der Kirche – noch der wichtige Unterschied bestand, dass ihr Integralismus nicht nur theologischer Natur war: „Ein Gott ist und ein Christus, eine K i r c h e und ein Glauben und ein V o l k, das durch den Kitt des Glaubens zur festen Einheit eines K ö r p e r s verbunden ist.“18 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. J. Vogt, Der Niedergang Roms. Metamorphose der antiken Kultur, München 1964,

S. 558/9 (Abb. 464).

15 Der Senat ließ auf den Bogen schreiben, dass Konstantin den Maxentius überwunden habe

„instinctu divinitatis“. (Vgl. H. P. L’Orange, Der spätantike Bildschmuck des Konstantinsbogens, Berlin 1939, S. 174 und 179) 16 „Der hohe soziale Wert der antiken römischen Religion resultierte … daraus, daß sie fast ausschließlich aus Kulthandlungen konstituiert wurde“, in denen sich die Gefühle „der Disziplin, der Unterwerfung, der Herrschaftshierarchie“ äußerten, wie V. Pareto ausführt. Im gleichen Zusammenhang schreibt er: „Unter den christlichen Sekten überragt der Wert des Katholizismus für die Aufrechterhaltung der Disziplin beträchtlich den der anderen christlichen Konfessionen.“ (Vilfredo Paretos System der allgemeinen Soziologie, Stuttgart 1962, § 1854/5) 17 Vgl. F. Altheim, a. a. O., S. 106. 18 Zit nach E. Salin, Civitas Dei, Tübingen 1926, S. 147

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Die Worte des karthagischen Bischofs Cyprian († 257) sind zwar pathetisch, doch nicht unzutreffend; die Kirche disziplinierte und erzog die Massen tatsächlich und gewann d a d u r c h die Gestalt, in der sie eine mächtige Stütze des Staates sein konnte:19 die Gestalt eines Heeres. Schon um das Jahr 96 betrachtete der Römer Clemens nicht nur alle Christen als Krieger Gottes, sondern er blickte auch mit Wohlgefallen und Stolz auf das römische Militär und wertete den Gehorsam und die abgestuften Rangordnungen des Heeres als Vorbilder für die christliche Gemeinde.20 Clemens pries den m i l i t ä r i s c h e n Gehorsam den Christen als das richtige Verhalten nicht nur Gott gegenüber an, sondern auch gegenüber den kirchlichen Oberen und setzte die Unterscheidung von Befehlenden und Gehorchenden in der Kirche als ebenso wesentlich voraus wie im Heere. Clemens wollte die Selbständigkeit und Freiheit der Einzelnen den kirchlichen Amtsträgern gegenüber e i n s c h r ä n k e n. Eben deshalb stellte er die militärische Organisation als vorbildlich für die Christen hin, in der zwischen den Offizieren und den Soldaten eine feste Grenze gezogen ist: Jene befehlen und diese gehorchen. Die militärische Analogie kam also dem Klerus zugute: Alle Christen sind Soldaten, aber eben deshalb haben sie ihren Anführern, den Presbytern, zu gehorchen21 – seit der Mitte des dritten Jahrhunderts vor andern den Bischöfen der inzwischen z e n t r a l i s i e r t e n Kirche. Diese Kirche betrachtete Konstantin als geeignet, überhaupt „volkserzieherische Autorität“ zu sein, d. h. ö f f e n t l i c h - s t a a t l i c h e Weltanschauung,22 was zur notwendigen Folge hatte, dass das Christentum die Gleichberechtigung und später den Vorrang vor den anderen Religionen „von oben her“ gewann, durch persönliche Wahl des Herrschers,23 so wie schon die Erhebung des – henotheistischen – sol invictus zum Reichsgott dem eigensten Wollen Kaiser Aurelians entsprungen war. – Bisher war die christliche Bewegung von unten nach oben gegangen, nun erfolgte unter Konstantin die Umwälzung von der Spitze her, und sie musste es wohl, da sich vorher bestenfalls ein Fünftel, wenn nicht gar nur ein Zehntel der Bevölkerung zu der lang und heftig verfolgten Religionsgemeinschaft bekannte24 – falls man das Ziel einer „christlichen“ Theokratie25 19 Vgl. A. Harnack, Dogmengeschichte, Tübingen 1914 (5. Aufl.), S. 99. 20 Vgl. A. Harnack, Militia Christi. Die christliche Religion und der Soldatenstand in den ersten

drei Jahrhunderten, Tübingen 1905, S. 18/9.

21 Vgl. ebd. 22 Vgl. A. Dempf, Sacrum Imperium, Darmstadt 1954 (2. Aufl.), S. 107. 23 Vgl. F. Altheim, a. a. O., S. 111. 24 Vgl. A. Dempf, a. a. O. 25 Bereits viel früher, zu Beginn der großen Krise der römischen Republik vertrat der Pontifex

Maximus Q. Mutius Scaevola die Auffassung, dass es Aufgabe des Staates sei, aus dem Material, das die Philosophie, die Mythologie und die Tradition darbieten, diejenigen Gottheiten

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hatte. Darauf liefen aber tatsächlich alle Anstrengungen Konstantins und seiner Hoftheologie hinaus. Der Kaiser Konstantin ist „Diener, ja Knecht Gottes“. Vor andern ihn hat Gott als Werkzeug ausgewählt: Er ist „Gottes lauttönender Herold“. – „Meinen Dienst hat Gott als geeignet für die Erfüllung seines Willens auserlesen, und so bin ich, vom britannischen Ozean ausgehend, … zu den Gefilden des Ostens vorgedrungen“.26 So schreibt Konstantin nach Licinius’ Besiegung selbst und fährt dann fort: „Dass ich meine ganze Seele, meinen Odem, meine innersten Gedanken dem großen Gott schulde, ist mein unerschütterlicher Glaube.“ Eusebius fügt hinzu, „Gott habe Konstantin zum Kaiser berufen und ihm die Zeit seiner Herrschaft auf drei Jahrzehnte und mehr festgesetzt.“27 In seiner Rede zum Tricennium preist er Konstantin, weil er in seiner imperialen Monarchie dem Vorbild der göttlichen gefolgt sei: „der eine ‚basileus’ auf Erden repräsentierte den einen Gott, den einen König im Himmel, den einen Nomos und Logos.“28 Konstantin führt auch den Titel „praesentissimus Deus“, und sein Palast bildet den Himmel ab.29 Das heißt: „Die maiestas des Kaisers ist die reale Vertretung der maiestas des Himmelskaisers auf Erden“.30 Und das religiös-politische Verhältnis zwischen der kaiserlichen Majestät und den „fideles“, den Untertanen des Reiches, gleicht nicht nur dem Verhältnis zwischen der Majestät Gottes und ihren „fideles“, sondern ist dasselbe.31 Geschichtstheologisch ausgedrückt: Die Entwicklung der Menschheit ist zum Abschluss gekommen, und die Endzeit hat begonnen. Konstantin bringt diese Heilszeit und hat darum messianische Bedeutung. Er verwirklicht den göttlichen Sieg, der prinzipiell mit dem Kommen Christi gegeben ist.32 Nur konsequent, dass die Kirche, in Rezeption der Theorien des Eusebius’ und anderer, den ‚heidnischen’ Kaiserkult in verchristlichter Form übernimmt,33 für einen prophetiauszuwählen, die „für den öffentlichen Kultus am besten geeignet sind“, und dass er sich bei dieser Auswahl „durch sein politisches Interesse“ leiten lassen soll. (Vgl. R. Hernegger, Macht ohne Auftrag. Die Entstehung der Staats- und Volkskirche, Olten und Freiburg 1963, S. 132/3.) 26 Zit. nach Eusebius, Vier Bücher vom Leben des Kaisers Konstantin, Kempten 1880, S. 86 (II, 29) 27 F. Altheim, a. a. O., S. 108 28 E. Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959, S. 149; bereits Ignatius von Antiochien stellte den einen Bischof in Analogie zu dem einen Gott. Nur konsequent nennt Eusebius Konstantin gleichfalls „Universalbischof“ (Vier Bücher vom Leben des Kaisers Konstantin, I, 44, 1). 29 H. Lützeler, Weltgeschichte der Kunst, Gütersloh 1959, S. 484. 30 Fr. Heer, Die Tragödie des Heiligen Reiches, Stuttgart 1952, S. 163. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. H. Berkhof, Kirche und Kaiser. Eine Untersuchung der Entstehung der byzantinischen und der theokratischen Staatsauffassung im 4. Jahrhundert, Zollikon-Zürich 1947, S. 101. 33 Vgl. ebd., S. 102.

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schen und kritischen Standpunkt gegenüber dem Kaiser aber keinen Platz mehr lässt; er müsste als Gotteslästerung erscheinen. Und wozu sollte die Prophetie auch nötig sein, ist „das Reich“ doch schon da34 und Konstantin eine Art Paraklet, wenn nicht „successor“, dann doch „vicarius Christi“.35 Innerkirchlich m u s s t e solche Eschatologie dem Cäsaropapismus Tür und Tor öffnen. Kein Bischof hat in Nicäa dagegen ein Wort des Widerspruchs gewagt, dass ein universales Credo lediglich durch die Autorität des Kaisers zustande kam, der als Katechumen nicht das mindeste Recht hatte, über die höchsten Geheimnisse des Glaubens mitzureden.36 - Zwar war die Kirche von Anfang an gewillt, dem Staat zu geben, was dem Staat als dem Ausdruck des „göttlichen Schöpfungswillen“37 zu gebühren schien, ja bereits mit Tertullian hatte sie den Kaiser – gegen den selbstverständlich kein aktiver Widerstand erlaubt war38 – für sich selbst reklamiert, weil er von i h r e m Gott eingesetzt wäre,39 aber genau so hatte sie sich doch daran gestoßen, dass der Kaiser nicht nur weltlicher Herrscher sein sollte, sondern auch Priester: H o h e r-Priester. Nun aber, nachdem sie sich in der Rolle gefiel, tatsächlich die stärkste staatserhaltende Macht zu sein,40 war dies alles vergessen. Mit F r e u d e ließ sie sich von Konstantin als volkserzieherische Autorität und als öffentliche Weltanschauung missbrauchen: „Niemals (zuvor, R. F.) hat ein Kaiser über die Kirche so triumphiert wie Konstantin.“41 Dieser Triumph setzte sich im Osten, wohin Konstantin seine Residenz verlegte, fort. Eine „sakrale Despotie“, die nur gläubige Massen schaffen konnte, geistige Freiheit und Initiative aber zugleich mit der Freiheit der Kirche brechen musste, wurde dort feste Tradition.42 In Byzanz erhielt sich, wie Hugo Rahner affirmiert, „das v e r g i l i s c h e Ideal eines Imperiums des christlichen Friedens“.43 – Der Weg Westroms war ein anderer, doch nicht nur in den vereinzelten Byzantinismen, etwa Karls des Großen oder Ottos III., dem östlichen mehr als verwandt. Das immer stärker werdende Papsttum, ja der Episkopat allgemein, hatte nur allzu viel vom römischen Kaisertum ‚gelernt’. Am meisten in der Zeit zwischen Gregor VII. und Bonifaz VIII., der sich wie Konstantin „deus 34 Vgl. Eusebius von Cäsarea, Kirchengeschichte, München 1967, S. 411–13. 35 Vgl. A. v. Harnack, Christus praesens – Vicarius Christi. Eine kirchengeschichtliche Skizze,

in: Sitzungsberichte der Preuß. Akademie der Wiss. XXXIV (1927), S. 431 und 436.

36 Vgl. E. Schwarz, Kaiser Constantin und die christliche Kirche. Fünf Vorträge, Leipzig/Berlin

1913, S. 141.

37 Vgl. H. Rahner, Kirche und Staat im frühen Christentum, München 1961 (2. Aufl.), S. 17. 38 Vgl. A. v. Harnack, a. a. O., S. 436. 39 Vgl. H. Rahner, a. a. O., S. 51. 40 Vgl. ebd., S. 34. 41 E. Schwarz, a. a. O., S. 149. 42 Vgl. A. Dempf, a. a. O., S. 108. 43 H. Rahner, Abendland. Reden und Aufsätze, Freiburg 1966, S. 257; über das byzantinische

Erbe Bulgariens, Serbiens und vor allem Russlands vgl. H. Schaeder, Moskau das dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt, Darmstadt 1957.

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praesentissimus“ nannte, und dem nach seiner Bulle „Unam sanctam“ die unteilbare kaiserlich-päpstliche Macht zukam. Nicht zufällig stützte sich alle päpstliche Macht – ein Ergebnis der Völkerwanderung – auf die Ideologie der „Konstantin’schen Schenkung“.44 Diese sollte eine translatio imperii ad ecclesiam begründen, eines Reiches, das weiterhin „sine fine“ sein sollte:45 „… und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.“ (Math. 16, 18) In dieser Weise wurden die Parallelen zwischen dem römischen Staatsmythos, der Vergil’schen „Äneis“, und dem Neuen Testament gezogen. „So wie Augustus der princeps Roms gewesen war, und die Nachfolger von seiner Autorität die ihre abgeleitet hatten, so war Petrus princeps apostolorum gewesen, und seine Nachfolger waren die Bischöfe von Rom.“46 Man vergleiche die Darstellung der „Traditio legis“ an Petrus auf einem siebennischigen Säulensarkophag aus den Jahren 350–60: Hier steht Christus auf dem Himmelsgewölbe, das Coelus, der Himmelsgott, unter seinen Füßen ausspannt. Nicht der historische Jesus ist vergegenwärtigt, sondern der verklärte Herr und Gebieter des Weltalls,47 der seinen Fuß auf dem aufgebauschten Gewand des Coelus ruhen lässt wie der Kaiser Diokletianus-Jupiter am Bogen von Saloniki.48 Von diesem Christus empfängt Petrus die Rolle der wahren Lehre. Das hat seinen ekklesiologischen Sinn: „Das Gesetz, das der entrückte Kyrios dem hinfälligen Menschen gibt, ist der Lebenskern der Kirche. An die Stelle des göttlichen Lehrers der Völker tritt nun der aktive Christ, den der Auftrag des Verklärten zum Apostel machte. An der Spitze der Apostel aber steht Petrus, der Fels, auf dem die Kirche gegründet wurde.“49 Die Darstellung dieser Gesetzesübergabe ist selber schon und von vornherein „imperial“; denn die siegreiche Kirche übertrug die Liturgie des Kaiserkults auf Christus. Zum vergöttlichten Imperator gehören aber: der Gemmenthron mit dem Purpurkissen, Nimbus und Purpurmantel, das Darbringen goldener Kränze als Ehrengeschenke, die Heilrufe der Apostel als Zeichen der Ergebenheit, die Geste der verhüllten Hände, da das vom Kaiser Berührte „sacrum“, tabu ist und von profanen Händen nicht angefasst werden darf, endlich die Proskynese als Anbetung des „deus praesentissimus“.50 Damit wandelte sich das Lehrbild zum Majestasbild, der Kreis der Schüler zum Hofstaat, die Lebensgemeinschaft mit 44 Treffend nennt sie J. B. Sängmüller das „Dokument, welches die Identität der Kirche mit

dem Imperium Romanum auf die denkbar schärfste Weise zum Ausdruck brachte.“ (Die Idee von der Kirche als Imperium Romanum, in: Theol. Quartalschrift 80, S. 77) 45 „So sagen Ambrosius, Damasus, Hieronymus, Augustinus.“ (K. H. Schelkle, Jerusalem und Rom im Neuen Testament, in: ders., Wort und Schrift, Düsseldorf 1966, S. 144) 46 Th. Eschenburg, Über Autorität, Frankfurt a. M. 1965, S. 58 47 Vgl. H. Lützeler, a. a. O., S. 184. 48 Vgl. A. Alföldi, a. a. O., S. 104/5. 49 H. Lützeler, a. a. O., S. 481/2 50 Vgl. beispielsweise den Jairus-Sarkophag in Arles.

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dem Meister zu Abstand und Huldigung, zum feierlichen Umstehen des Herrschers.51 Irdisch-politisch dokumentierte sich das bereits auf dem Konzil von Nicäa, als Konstantin die Bischöfe an seine Tafel lud und so eine Gemeinschaft schuf, die nach dem Zeugnis des Eusebius’ „nahezu wie die Darstellung des Reiches Christi empfunden wurde.“52 Ernst Topitsch spricht treffend von einer „Selbstapotheose des Hofes und der herrschenden Schicht“.53 Andererseits, oder wenn man erkennt, dass Eusebius’ Vision des Reiches Christi in Wirklichkeit seine (verwechselnde) Identifikation mit dem absoluten Kaisertum ist, dementsprechend schlossen sich die Insignien der Bischöfe, deren Amt für Papst Damasus I. ein „imperium“ ist,54 an die Abzeichen der hohen Staatsbeamten an: Pallium, Stola und Pontifikalschuhe. Der Manipel entwickelte sich aus der „mappula“ der Großwürdenträger, der Bischofsstab aus dem goldenen Stab der Hofmarschälle.55 Und die Mitra ist die übernommene Mütze der römischen Senatoren. Der Thron des Bischofs schließlich stand erhöht wie der Thron der weltlichen Herrscher.56 Eine nicht ungefährliche innerkirchliche Konkurrenz für den Altar, der auch „Thron“ genannt wurde und ebenfalls in Analogie zum kaiserlichen, über dem, wie jetzt über’m Altar, das Ziborium aufgerichtet war. Wie der Altar vertritt auch der Episkopat auf seinem Sitz den thronenden Christus. „Die Kirche (insgesamt, R. F.) … repräsentierte den r e g i e r e n d e n , h e r r s c h e n d e n , s i e g r e i c h e n Christus“,57 wie Carl Schmitt formulieren wird. (Die Kirche konnte selbst als „imperium“ verstanden werden.58) Das Bild des Christus Pantokrator-Imperator ist, nachdem der irdische Träger dieser Titel zuvor jenem Bilde Modell gestanden hat, bestimmendes Vorbild der staatskirchlichen und kirchenstaatlichen Einrichtungen wie Unternehmungen, Sonne des „Sacrum Imperium“. Rückwirkend kann sich wiederum dies ergeben: Wenn Karl im Aachener Münster seinen Stuhl bestieg, so war das große Kuppelmosaik des triumphierenden Christus für ihn durch einen Bogen des Oktogons verdeckt: Der triumphierende Christus war in seinem Stellvertreter – dem (Bischof-)Kaiser – präsent geworden.59 Radikaler Berninis „Kathedra“ in Neu51 Vgl. H. Lützeler, a. a. O., S. 482. – „Petrus erhält aus der Hand Christi das Gesetz in der

gleichen Weise, in der ein Beamter aus der Hand des Kaisers seine Ernennungsurkunde zu einem hohen Reichsamt empfing.“ (Ebd.) 52 J. Vogt, Orbis. Ausgewählte Schriften zur Geschichte des Altertums, Freiburg 1960, S. 254 53 E. Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien 1958, S. 77 54 Vgl. A. Harnack, Militia Christi, S. 41 Fn. 2. 55 Vgl. H. Lützeler, a. a. O., S. 485. 56 Vgl. ebd. 57 C. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, München 1925 (2. Aufl.), S. 65 58 Vgl. A. Harnack, a. a. O. 59 Vgl. A. Mirgeler, Geschichte Europas, Freiburg 1954 (2. Aufl.), S. 36; neueren Forschungen

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Sankt-Peter, die hoch in der Apsis befestigt ist, gleichsam als Baldachin für den Thron des jeweiligen Papstes, der so, als sein Nachfolger, unter der Kathedra Petri thront.60 Schon nach dem Brief des Pseudoclemens an den Apostel Jakobus (Anfang oder Mitte des 3. Jahrhunderts) sitzt der Papst „auf der Cathedra des Petrus, und das ist die Cathedra Christi.“61 Von daher, weil der Papst auf dem Stuhl des heiligen Petrus voll und ganz der Stellvertreter Christi ist, konnte beim Neubau St. Peters – im Unterschied zur Aachener Pfalzkapelle – „auf eine gesonderte bildliche Erscheinung Jesu Christi … verzichtet werden“62 (wie Friedrich Heer sarkastisch formuliert hat). Das Apsismosaik der erzbischöflichen Kapelle von Ravenna (ca. 540) gibt Christus Panzer und Mantel eines römischen Offiziers. Er trägt die Kreuzeslanze und das Evangelienbuch zur Abwehr der höllischen Mächte, auf die er seine Füße setzt – ein geistlicher Sieger in der Uniform eines militärischen Siegers der Zeit:63 geistlicher Sieger aufgrund eines kaiserlich-militärischen Erfolges. Prudentius (frühes 5. Jahrhundert) wünscht denn auch „den Kaiser und Christus z u s a m m e n auf dem Triumphwagen“ zu sehen.64 – „In hoc signo (crucis) vinces“, rief Christus nach der Überlieferung der Konstantin’schen Hoftheologie dem Cäsar vor der Entscheidungsschlacht an der Milvischen Brücke zu.65 Bis dahin hatte bei den Christen das e i n f a c h e Kreuz nichts anderes bedeutet als den Hinweis auf das eschatologische Geschehen am Ende der Welt. Nunmehr aber hat ein Feldherr dieses Zeichen für seinen Kreuzzug umgebildet, er hat das Bild der Erlösung zu einem Symbol des Sieges und der Macht umgeformt – ein wahrhaft konterrevolutionäres Unternehmen.66 Mit der Zeit wird dieses Symbol die Siegesgöttin vom Reichsapfel verdrängen, und die Worte der Krönungslaudes: „Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat“ werden keinen ‚würdigeren’ Platz finden als auf dem Reichsschwert, das der römisch-deutsche Kaiser – etwa auf dem berühmten Bild Albrecht Dürers – zusammen mit der Weltkugel in Händen zu halten pflegt. Das ist der Preis dafür, dass „Roma … das Kaiserdiadem“ ablegte, „um sich in den Staub zu werfen vor zufolge soll der thronende Christus der Pfalzkapelle vielleicht erst dem 12. Jahrhundert entstammen und statt seiner ursprünglich ein Lamm die Mitte der Kuppel geschmückt haben. An obiger Interpretation Mirgelers ändert sich dadurch – schon für die karolingische Zeit – nichts. 60 In Wirklichkeit handelt es sich um einen Thron des K a i s e r s Karl des Kahlen, den dieser wahrscheinlich dem Papste Johannes VIII. zum Geschenk machte. (Vgl. Fr. Heer, Jugend zwischen Haß und Hoffnung, München 1971, S. 76.) 61 H. Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 480 62 Fr. Heer, Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, München/ Eßlingen 1968, S. 595/6. 63 Vgl. H. Lützeler, a. a. O., S. 483. 64 J. Vogt, Der Niedergang Roms, S. 376. 65 Vgl. z. B. „Des Eusebius Pamphili 4 Bücher Vom Leben des Kaisers Konstantin“, S. 37. 66 Vgl. J. Vogt, Konstantin der Große und das Christentum, Männedorf 1960, S. 5.

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der Verkündigung des Kreuzes“, wie Basilius von Seleukia die weltgeschichtliche Wende nur allzu einseitig umschrieb.67 Schließlich bekommt Rom auch etwas dafür; es darf das Kreuz jetzt an seinem Kaiserdiadem tragen, ob es sich um die mittelalterliche Reichskrone oder die Tiara handelt. Diese Konterrevolution hat Folgen bis in den innersten ‚geistlichen’ Bereich: Passionsszenen, z. B. auf einem Säulensarkophag um 340, zeigen nicht die physische Not „des Herrn“, geschweige denn seine Entehrung am Kreuze, dem Marterholz der Sklaven und Aufrührer.68 Christus bleibt auch in der tiefsten Erniedrigung frei von Elend und Entstellung. Die Dornenkrone verwandelt sich in einen Lorbeerkranz, und der Legionär, der ihn abführt, bekränzt ihn in der gleichen Weise, wie man den Feldherrn nach gewonnener Schlacht auszeichnete. So wird Christi Todesgang zu einem Siegeszug.69 Als solchen besingt ihn der große eucharistische Festhymnus des 5. Jh., das „Pange lingua“: „Singe Zunge, des erhabenen Gotteskampfes Waffengang,∥ Um des Kreuzes Siegeszeichen sing den edelsten Triumph,∥ Wie des Weltenrunds Erlöser hingeopfert Sieger blieb.“70 (Nur konsequent, dass in Byzanz dem Triumphzug das Kreuz vorausgeht und Lobgesänge Gott als den Urheber des Sieges preisen.71) Friedrich Delekat wendet dagegen ein, daß die „politische Theologie“, d. h. die imperiale, Herrschaft s a n k t i o n i e r e n d e, „am Kreuz Christi … mitgekreuzigt“ wurde, „in der Überschrift, die über dem Haupte des Gekreuzigten zu lesen war.“72 Solche Darstellungen wie die oben geschilderten bezeugen aber genau das Gegenteil. Auch wenn sie zunächst eine Polemik des „wahren“ Kaisertums Christi gegenüber dem der irdischen Imperatoren implizieren, so setzt sich doch notwendigerweise schnell die Identität in der Entgegensetzung durch. Das Reich Christi, auch dies jetzt s e i n Reich, ist, zum Beispiel auf dem Apsisbild von S. Pudenziana (399), der an den Himmel versetzte römische Kaiserpalast, in dem Christus Hof hält: wie der Kaiser im irdischen Rom, so der Christus Imperator im himmlischen. Schon in der Verfolgungszeit hat Clemens Alexandrinus „Uranopolis“ beschrieben, die Stadt des Himmels, der der Christ angehört, und deren König Christus ist. Auch sie hat bereits ein irdisches Gegenstück, das nach ihrem – himmlischen – Vorbild aufgebaut ist, die Kirche. Seit Konstantin ist zusätzlich noch das „irdische Imperium, das transitorium regnum, … das große Ebenbild des 67 Zit. nach H. Rahner, Symbole der Kirche, S. 483 68 Vgl. E. Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, Frank-

furt a. M. 1968, S. 173.

69 H. Lützeler, a. a. O., S. 47; vgl. auch A. v. Harnack, Militia Christi, S. 92. 70 Ubersetzt von Fr. Wolters. 71 Vgl. O. Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfi-

schen Zeremoniell, Jena 1938, S. 130/31.

72 F. Delekat, Begriff und Problem des politischen Atheismus bei Karl Marx, in: Festschrift für

Hans Lilje, Berlin 1959, S. 187

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regnum aeternum, des imperium im Himmel“.73 Unbeschadet des kruden Platonismus ist die Kontinuität unverkennbar, gerade auch mit der paganen RomReligion; schon die ‚Heiden’ nannten Rom „Uranopolis“.74 Die Urgemeinde, Erbin der jüdischen Apokalyptik mit ihrer Antinomie Jerusalem – Babylon, hatte Rom mit der „großen Hure“ identifiziert und so verteufelt (z. B. 1. Petr. 5, 13). Tertullian vertrat dann maßgeblich die Ansicht, dass, wie verfallen Rom auch immer sei, es doch die Endzeit der Schrecken und das Kommen des Antichrist hinausschöbe. Im Anschluss an die Paulus-Stellen über die „Obrigkeit“ war damit Rom und sein Reich als die „temporale Ordnung“75 verstanden. Noch war für die Christen Rom nicht die „Heilige Stadt“, aber doch schon eine, der als „caput mundi“ temporalis Respekt gebührte. Und auch ihre Sakralisierung schien bereits im Neuen Testament angelegt zu sein, im späten Lukas der Weihnachtsgeschichte, wo die Ankunft des Weltheilandes zusammen mit dem Census des Weltkaisers erzählt wird.76 Der „Augustus-Theologe“ Eusebius hat zur Zeit Konstantins die extremsten Schlüsse aus diesem „Synchronismus Christus-Augustus“77 gezogen. Bei ihm stellt sich die „Pax Augusta“ als Vorbereitung für die „Pax Christiana“ dar, und nicht nur in dem Sinne, dass so die Ausbreitung der Lehre leichter war, sondern als wesenhaft verwandte Vorstufe:78 „Der Logos … hat durch die Jahrtausende allmählich einen Zustand der menschlichen Dinge bereitet, der seiner würdig und zu seiner Aufnahme geeignet wäre. Erreicht worden ist dies mit der ‚Pax Augusta’. Mit ihr zugleich ist der Logos in die Welt eingetreten, die Theophanie erfüllt und die ‚Pax Christiana’ begründet, und beide Ordnungen ergänzen und stützen einander.“79 Bis sie schließlich im Reich des „apostelgleichen“ Konstantin identisch werden.80 Er persönlich hat die vierte Ekloge Vergils als Prophetie auf Christus interpretiert: „Iam nova progenies caelo demittitur alto“.81 Noch für den Ghibellinen Dante Aligheri ist Vergil nicht nur deshalb ein Führer, weil in seinem Gedicht die politische Ordnung, die Dante als die vorbildliche ansieht, der allgemeine Frieden unter dem römischen Kaisertum in der Unterweltfahrt des gerechten Äneas prophezeiht und verherrlicht wird; weil darin die 73 Fr. Heer, Die Tragödie des Heiligen Reiches, S. 159 74 Vgl. A. A. T. Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustinus II, Tübingen

1959–69, S. 243/44.

75 E. Voegelin, a. a. O., S. 156 76 Vgl. Fr. Klingner, Römische Geisteswelt, München 1965 (5. Aufl.), S. 656. 77 Ebd., S. 658 78 Vgl. ebd., S. 656. 79 Ebd., S. 658 80 Die Intitulatio eines der Diplome Kaiser Otto III. beginnt mit: „Servus Jesu Christi (et Ro-

manorum imperator)“. Der Sache nach nannte also auch er sich noch „isapostolos“, so wie der ständige Beiname Konstantins gelautet hatte. 81 Vergil, Bucolica IV, 6; vgl. A. Kurfess (Hrsg.), Sibyllinische Weissagungen, 1961, S. 208ff.

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Gründung Roms, des vorbestimmten Sitzes von weltlicher und geistlicher Gewalt, im Hinblick auf seine zukünftige Mission besungen wird,82 sondern weil Vergil über seine zeitliche Prophezeiung hinaus auch die ewige überzeitliche Ordnung, das Erscheinen Christi, das mit der Erneuerung der zeitlichen Welt zusammenfiel, in der vierten Ekloge verkündet hat:83 Als einziger „Heide“ verband er mit der Einsicht in die rechte irdische Ordnung die Vorausahnung der Wiedergeburt durch Christi Erscheinen. D a r u m repräsentiert er für Dante, besser und vollkommener als irgendwer sonst, die ewige Weisheit Gottes, wie sie sich im Gange der Weltgeschichte dokumentiert.84 Der Lukas der Weihnachtsgeschichte erkannte die providentielle Bedeutung R o m s, was in seinem Fall das erstaunliche ist: „Christus … wollte unter dem Gebot der römischen Machtfülle geboren werden auf daß bei jener einzigartigen Schätzung des Menschengeschlechts der Sohn Gottes, Mensch geworden, als Mensch geschätzt würde: das hieß dem Gebot nachkommen“.85 Noch der zitierte Dante bestätigt also, dass die entscheidende biblische Basis der „politischen Imperium- und Augustus-Theologie“ die Weihnachtsgeschichte des LukasEvangeliums ist.86 Sie ist – bereits vor Dante – die biblische Basis der Imperiumund Augustus- L i t u r g i e: Bei der Christmette hat der mittelalterliche Kaiser das Amt des Diakons inne und singt in dieser Eigenschaft, gekleidet in den Krönungsornat und mit gezogenem Schwert, eben dieses Evangelium: „Es erging der Befehl vom Kaiser Augustus …“. Für das Auge sichtbar dargestellt, tritt der Kaiser auf als Nachfolger des altrömischen Kaisers, des vorzüglichen Werkzeugs der Heilsordnung.87 An solche, noch christlich-kirchliche Kaiserliturgie konnte Friedrich II. anknüpfen und knüpfte er an, als er, Konstantin und wohl sogar Aurelian überbietend, nicht unbedingt aber ‚seinen’ Vergil, 1239 der Geburtsstadt Jesi schrieb: „Nach dem Zuge der Natur sind wir getrieben und gehalten, Jesi …, unsres Ur82 Vgl. E. Auerbach, Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, Bern/München 1967,

S. 87.

83 Vgl. ebd., S. 121. 84 Vgl. ebd. 85 Dante, Die Monarchie, Breslau 1926, S. 74 86 Vgl. E. Peterson, Kaiser Augustus im Urteil des antiken Christentums. Ein Beitrag zur Ge-

schichte der politischen Theologie, in: Hochland 30 (1933), S. 289ff; neuerdings vgl. auch M. Leutzsch, Die Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums, in: R. Faber und E. Gajek (Hrsg.), Politische Weihnacht in Antike und Moderne. Zur ideologischen Durchdringung des Fests der Feste, Würzburg 1997, S. 41–57 und, gegenstrebig zu Leutzsch, L. Kundert, Jerusalem herrscht über Rom. Das Weihnachtsevangelium als Siegesbotschaft, in: Theologische Zeitschrift 69 (2013), S. 478–95. 87 Vgl. Karl Fürst Schwarzenberg, Adler und Drache – Der Weltherrschaftsgedanke, Wien – München 1958, S. 203. – Für Benzo von Alba gleicht Kaiser Heinrichs IV. Krönung in Rom unmittelbar der Geburt des ersten Heilandes Jesus Christus. (Vgl. Fr. Heer, Die Tragödie des Heiligen Reiches, S. 187.).

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sprungs erlauchten Anbeginn, wo unsre göttliche Mutter uns zum Lichte gebracht …, mit innerster Liebe zu umfangen: auf dass aus unsrem Gedächtnis nicht entschwinde seine Stätte, und unser Bethlehem, des Cäsars Land und Ursprung, in unsrer Brust zutiefst verwurzelt bleibe. So bist du, Bethlehem …, nicht die kleinste unter unsres Geschlechtes Fürsten: denn aus dir ist der Herzog kommen, des Römischen Reiches Fürst“: ICH, FRIEDRICH II. (um Philipps II. von Spanien übliche Unterschrift schon dem Hohenstaufen zu vindizieren).∗



Nachdrücklich hinzuweisen ist auf H. Cancik, Die Romanisierung des antiken Christentums. Zur Entstehung des römischen Katholizismus, in: R. Faber (Hrsg.), Katholizismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2005, S. 35–50. – Mein eigener Aufsatz ist weithin identisch mit: R. F., Konstantinische Weihnacht, in: R. Faber und E. Gajek (Hrsg.), a. a. O., S. 23–35.

Jürgen Ebach Weltreiche und (k)ein Ende Daniel – das Buch und seine Folgen

I. Zu Beginn in Umkehrung der Abfolge antiker Tragödienzyklen das Satyrspiel. Als am Ende des 19. Jh. die Stephanskathedrale in Metz im damals deutschen Lothringen neugotisch restauriert wurde, brachte man an den Portalen Statuen der großen Propheten an (Abb. 1). Es war nicht unüblich, solchen Figuren das Aussehen späterer Persönlichkeiten zu geben. So sind am Turmportal von St. Lamberti in Münster in den Evangelisten Lukas und Johannes unverkennbar Goethe und Schiller zu erkennen. In wessen Gestalt erscheint der Prophet Daniel am 1903 eingeweihten Westtor der Kathedrale von Metz? – Daniel ist Wilhelm II.! Welch treffliche Inszenierung des Daniel der imperialen Rezeption – was für ein Hohn auf den biblischen Daniel! Später beseitigte man den typischen „Es ist erreicht“-Schnurrbart. So ist in Metz – bis heute – ein bartloser Wilhelm II. zu sehen.1 Das biblische Buch, das wie nur noch die es beerbende Johannesoffenbarung im Neuen Testament das Ende der Imperien kündete, geriet wie kein anderes zur biblischen Beglaubigungsschrift ihrer Fortdauer. Was bewirkte die Umkehrung vom Abbruch zur Kontinuität? Darum wird es im Folgenden gehen, aber bleiben wir zunächst bei Wilhelm II. Sich gerade in Daniels Gestalt zu sehen, mochte ihn erfreut haben. Das von ihm selbst verfasste und 1938 (in Berlin bei de Gruyter) erschienene und durchaus kenntnisreiche kleine Buch „Das Königtum im alten Mesopotamien“ nennt die Abfolge der Reiche von den Sumerern bis zu Karl dem Großen und mündet in den Ruhm der Hohenzollern als den in der Sache wahren Erben jenes Königtums. „Amtmann Gottes“ zu sein verbindet die sumerischen Könige für Wilhelm mit den Hohenzollern, namentlich mit dem ersten Brandenburgischen Hohenzollernkurfürsten Friedrich I. und mit König 1 Vgl. Niels Wilcken, Architektur im Grenzraum. Das öffentliche Bauwesen in Elsaß-Lothrin-

gen (1871–1918), Saarbrücken 2000, bes. 311ff.; Ders., Metz et Guillaume II. L’architecture publique à Metz au temps de l’empire allemand (1871–1918), Metz 2007, bes. 97–115; MarieAntoinette Kuhn-Mutter, La cathédrale de Metz, Metz 1994, hier bes. 87f.

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Abb. 1: Wilhelm II. an der Kathedrale von Metz in der Gestalt des Propheten Daniel (aus: Ernst Hauviller, Kaiser Wilhelm II. als Schloßherr auf elsässischem und auf lothringischem Boden, Gebweiler 1913, 2).

Friedrich Wilhelm I.2 In diesem dem habsburgischen entgegen gestellten3 preu2 Hammurabi ist nach Wilhelm ein „babylonischer Vorgänger König Friedrich Wilhelms I.,

des Baumeisters des Preußischen Staates“ [S. 27]. Die Aussage über die Sumerer: „Jeder König ist ein ‚Amtmann Gottes’“ [14] erfährt ihre Pointe, wenn der Autor später [42] die Selbstbezeichnung des ersten Hohenzollern als Kurfürst von Brandenburg aufnimmt. Friedrich I. (1371–1440) bezeichnet sich in einer Urkunde von 1420) als „schlichten Amtmann Gottes an Seinem Werk“. Auch Friedrich Wilhelm I. sei „Amtmann Gottes“ [ebd. 42]. Gerühmt wird Reinhold Schneider „in seinem wundervollen Buch über die Hohenzollern“ (Leipzig 1933) [43]; Schneider feiert Friedrich Wilhelm I. ebenso als „Amtmann Gottes“ wie Wilhelm II. selbst, dazu auch Wilhelm Kreutz, Reinhold Schneiders und Jochen Kleppers Rekurs auf Preußen, in: Richard Faber / Uwe Puschner (Hrsg.), Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2011, 191–207, bes. 195–201. Eine große Gemeinsamkeit zwischen den mesopotamischen Königen und den Hohenzollern liegt nach Wilhelm Darstellung in der sozialen Fürsorge (bes. bei Urukagina und Hammurabi), allerdings habe sie bei den Hohenzollern-Fürsten gerade auch den Ärmsten und Schwachen gegolten [44]. Doch eins ist für den Autor bereits bei den Sumerern entschieden: „Nicht alle Menschen – wie der moderne Kommunismus träumt – sondern nur ein kleiner begrenzter Kreis gehört zu den Nutznießern, die den Ehrennamen ‚Mensch‘ für sich beanspruchen. Nicht alle Menschen sind somit gleich!“ [14] – Zu Wilhelms Buch auch Eva Cancik-Kirschbaum, Mittelalter – Alter Orient. Eine Perspektive Friedrich Heers, in: Richard Faber / Sigurd Paul Schleichl (Hrsg.), Die geistige Welt des Friedrich Heer, Wien u. a. 2008, 87–105, hier 99–103. 3 Zur habsburgischen Kontinuitätslinie Karl Schwarzenberg, Adler und Drache. Der Welt-

WELTREICHE UND (K)EIN ENDE

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ßischen Kontinuitätsbewusstsein begeisterte sich der Kaiser für die Ausgrabungen in Mesopotamien und für die entsprechenden Museen als imperiale Aneignung gerade der altorientalischen und antiken Geschichte.4

II. Nach diesem knappen Hinweis auf eine späte Station seiner Wirkungsgeschichte soll es nun um das Danielbuch selbst gehen und dabei vor allem um die in Kapitel 2 und 7 ins Bild gesetzte Abfolge der Reiche. Dabei muss es angesichts der Komplexität des Danielbuches, seiner vermutlich mehrstufigen Entstehungsgeschichte und der zahlreichen exegetischen Einzelfragen bei einigen grundlegenden Beobachtungen und Überlegungen im Blick auf „pluriverse“ kulturelle und literarische Querverbindungen bleiben.5 herrschaftsgedanke, Wien / München 1958. Die Familien- bzw. Dynastiegeschichte der Schwarzenbergs mit ihren zahlreichen k. u. k-Amtsträgern bis hin zu dem (mit dem Autor gleichnamigen) Karl Schwarzenberg, der 2007–2009 und 2010–2013 tschechischer Außenminister und 2013 Präsidentschaftskandidat war, bildet einen Subtext der gegenwärtigen Lektüre dieses Buches. 4 Dazu Johannes Renger, Altorientalistik und Vorderasiatische Archäologie in Berlin von 1875 bis 1945, in: Willmuth Arenhövel / Christa Schreiber (Hrsg.), Berlin und die Antike. Aufsätze. Ergänzungsband zum Katalog der Ausstellung „Berlin und die Antike“ Schloss Charlottenburg, 22.4.–22.7.1979), Berlin 1979, 151–192, bes. 160f.; Nikolaus Bernau / Nadine Riedl, Für Kaiser und Reich. Die Antikenabteilung im Pergamonmuseum, in: Alexis Joachimides u. a. (Hrsg.), Museumsinszenierungen. Zur Geschichte der Institution des Kunstmuseums. Die Berliner Museumslandschaft 1830–1990, Dresden / Basel 1995, 171–190; Nicola Crüsemann, Vom Zweistromland zum Kupfergraben. Vorgeschichte und Entstehungsjahre (1899–1918) der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen vor fach- und kulturpolitischen Hintergründen (Jahrbuch der Berliner Museen N.F. 42, 2000, Beiheft), Berlin 2001, hier u. a. 109ff. 181. – Zum Babel-Bibel-Streit und dabei auch zu Wilhelms Rolle Klaus Johanning, Der Bibel-Babel-Streit. Eine forschungsgeschichtliche Studie (EHS Theologie 343), Frankfurt am Main u. a. 1988; Reinhard G. Lehmann, Friedrich Delitzsch und der BabelBibel-Streit, Freiburg-Schweiz / Göttingen 1994. 5 Einige thematisch gegliederte Literaturhinweise: Zur Rezeptionsgeschichte Werner Goez, „Translatio Imperii“. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958; Klaus Koch, Das Buch Daniel (EdF 144), Darmstadt 1980; Ders., Europa, Rom und der Kaiser vor dem Hintergrund von zwei Jahrtausenden Rezeption des Buches Daniel (Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg, 15 [1997] Heft 1), Hamburg 1997. Auf Kochs profunde Studien greift dieser Beitrag vielfach zurück, ohne dass es in allen einzelnen Fällen eigens ausgewiesen ist. Zu nennen sind weiter die materialreichen Sammelbände John J. Collins / Peter W. Flint (Hrsg.), The Book of Daniel. Composition and Reception, 2 Bde (VTS 83,1.2) Leiden u. a. 2001; Mariano Delgado u. a. (Hrsg.), Europa, tausendjähriges Reich und neue Welt. Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 1), Freiburg, Schweiz / Stuttgart 2003; Katharina Bracht / David S. du Toit (Hrsg.), Die Geschichte der Daniel-Auslegung in Judentum, Christentum und Islam. Studien zur Kom-

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Zunächst sei an einem Vers die Ambivalenz demonstriert, welche die divergierenden Lektüren ermöglichte. In Dan 2,21 heißt es in einer ersten von vier partizipialen Wendungen über Gott: Und er ist es, der Epochen und Zeitabschnitte verändert (w´hu m´haschne iddanajja w´simnajja6).

Klaus Koch betont die doppelte Lesbarkeit dieser Formulierung. Entweder wendet sie sich gegen die Determiniertheit der Zeit, d. h. gegen den „astrologischen Fatalismus, der sich in achaimenidischer und mehr noch in hellenistischer Zeit in der gesamten Ökumene ausbreitet“,7 oder hier wird „die Determiniertheit der Zeit bejaht, aber auf den weitgespannten Willen des Schöpfers und nicht auf eine Vielzahl miteinander konkurrierender Astralgötter zurückgeführt.“8 Eine entsprechende Ambivalenz begegnet auch in der Schöpfungsgeschichte in Gen 1. Sie nimmt den Gestirnen jeden göttlichen Charakter und lässt sie lediglich funkmentierung des Danielbuches in Literatur und Kunst (BZAW 371), Berlin u. a. 2007. – Überblicke zu Dan finden sich in: Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 82012, 610–621 (Herbert Niehr), ferner in den großen theologischen Wörterbüchern: TRE 8, 325–349 (Jürgen-Christian Lebram), RGG4 II, 556–560 (John J. Collins / Klaus Koch); eine gut lesbare Gesamtdarstellung bei Matthias Albani, Daniel. Traumdeuter und Endzeitprophet (BG 21), Leipzig 2010. – An Kommentaren seien genannt: Jürgen-Christian Lebram, Das Buch Daniel (ZBK.AT 23), Zürich 1984; John J. Collins, Daniel (Hermeneia), Minneapolis 1989 (mit einem instruktiven Exkurs “The Four Kingdoms“, 166–170); Klaus Koch, Daniel 1–4 (BK XXII/1) Neukirchen-Vluyn 2005 (die Fortsetzung des Kommentars hat Martin Rösel übernommen). – Weitere Literatur: Reinhard G. Kratz, Translatio imperii. Untersuchungen zu den aramäischen Danielerzählungen und ihrem theologiegeschichtlichen Umfeld (WMANT 63), Neukirchen-Vluyn 1991; Ders., Die Visionen des Daniel, in: Ders. (Hrsg.) Schriftauslegung in der Schrift. FS Odil H. Steck (BZAW 300), Berlin / New York 2000, 219–236; Louis H. Feldman, Josephus’ portrait of Daniel, Henoch 14 (1992) 37–96; Klaus Koch, Die Reiche der Welt und der kommende Menschensohn. Studien zum Danielbuch, Gesammelte Aufsätze Bd. 2, hrsg. v. Martin Rösel, Neukirchen-Vluyn 1995;. Ders., Der „Menschensohn“ in Daniel, ZAW 119 (2007) 369–385; Othmar Keel / Urs Staub, Hellenismus und Judentum. Vier Studien zu Daniel 7 und zur Religionsnot unter Antiochus IV. (OBO 178), Freiburg-Schweiz / Göttingen 2000; Paul Niskanen, The human and the divine in history. Herodotus and the Book of Daniel (JSOT.Suppl 396), London u. a. 2004; Paul L. Reddit, The community behind the book of Daniel, PRSt 36 (2009) 321–339; Michael Segal, From Joseph to Daniel, VT 59 (2009) 123–149; Jürg Eggler, Influences and Traditions Underlying the Vision of Daniel 7: 2–14. The Research History from the End of the 19th Century to the Present (OBO 177), Freiburg-Schweiz / Göttingen 2000; Anathea E. PortierYoung, Apocalypse against empire. Theologies of resistance in early Judaism, Grand Rapids, MI 2011; Karl P. Kirchmayr, Mene-tekel-uparsin, VT 60 (2012) 483–486. 6 Hebräische, aramäische und griechische Wörter sind in diesem Beitrag in stark vereinfachter Umschrift wiedergegeben. 7 Koch, Daniel 1–4 (BK), 172. 8 Ebd.

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tional als „Laternen“ ins Bild kommen; sie spricht ihnen aber zugleich das Herrschen (mämschälät) über die Zeiten zu.9 Auf die für diesen Beitrag zentralen Gegenpole „Abbruch“ und „Kontinuität“ lässt sich die in Dan 2,21 folgende Wendung beziehen: (und er ist es,) der Könige absetzt und Könige einsetzt (m´ha´de malkin um´hakkem malkin).

Der Wechsel der Zeiten verbindet sich mit dem der Herrscher und Dynastien. Da kann der Akzent auf den Brüchen und Abbrüchen liegen – es geht n i c h t immer so weiter – oder aber auf der Kontinuität im Wechsel – es geht immer so weiter. Bemerkenswert ist hier die Wiedergabe in der Vulgata. Hier lautet es in Dan 2,21: et ipse mutat tempora et aetates transfert regna atque constituit. Das „transfert“ nimmt den Terminus der translatio aus der kaiserzeitlichen Geschichtsschreibung auf. In den in Dan 2,21 folgenden Wendungen ist Gott der, welcher den Weisen (nicht nur den Weisen Israels) Weisheit verleiht, nämlich die Einsicht in Gottes destablisierendes oder / und stabilisierendes Handeln. Bereits im Danielbuch selbst scheint mithin jene die Wirkungsgeschichte kennzeichnende doppelte Lektüremöglichkeit auf.

III. Das Stichwort „doppelt“ ist auf das Danielbuch mehrfach beziehbar, zuerst auf seinen doppelten Ort im biblischen Kanon. Im TaNaCH, im jüdischen Kanon, zählt es zu den Ketuvim (den „Schriften“), in der griechischen und lateinischen Bibel zu den Prophetenbüchern.10 Die oft ganz eigene Fassung der Septuaginta nimmt auch die sogenannten „Zusätze zum Danielbuch“ auf, die wiederum in den Lutherbibeln zu den Apokryphen gehören. Das Danielbuch des jüdischen Kanons ist – ein weiteres „doppelt“ – in zwei Sprachen abgefasst, nämlich in Kap. 9 Eine bemerkenswerte Parallele zwischen dem Danielbuch und der Schöpfungsgeschichte in

Gen 1 zieht der Altmeister der atl. Exegese Julius Wellhausen. In seinem Buch Israelitische und Jüdische Geschichte, Berlin 1894 (Reprint der 6. Aufl. Berlin 1907, Paderborn 2011), hier 299, notiert er zu Daniel: „Wir finden hier zuerst die religiöse Betrachtung der Weltgeschichte als eines Ganzen, die zu der christlichen Universalhistorie den Grund gelegt hat, das Buch Daniel hat die selbe Bedeutung für die Geschichtswissenschaft wie das erste Kapitel der Genesis für die Naturwissenschaft.“ – Wie soll man das lesen? Wie liest es sich heute? In der Tat bestimmten Daniellektüren über viele Jahrhunderte das Bild der Universalgeschichte und Gen 1 galt ebenso lange als die „Wahrheit“ über die Weltentstehung, an der naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien gemessen (und meist abgeurteilt) wurden. Freilich wären die Naturwissenschaften schlecht beraten, würden sie Gen 1 als Grundlage ihrer Fächer beibehalten – für die Geschichtswissenschaft und das Danielbuch gilt das Entsprechende. 10 Dazu Jordan Scheetz, Daniel’s position in the Tanach, the LXX-Vulgate, and the Protestant Canon, Old Testament Essays 23 (2010) 178–193.

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1 sowie 8–12 hebräisch, in 2–7 aramäisch. Die genannten Zusätze sind dagegen nur griechisch und in weiteren Übersetzungen überliefert. So ist das Danielbuch selbst – in dieser Weise als einziges der Bibel – konstitutiv mehrsprachig. Auch wenn die Visionen über die Abfolge der Reiche die größte Nachwirkung hatten, nimmt ein anderes Thema im Danielbuch selbst mindestens ebenso viel Raum ein, die Frage nämlich, unter welchen Umständen jüdische Menschen in fremden Ländern leben können. Darin steht Daniel der Josefsgeschichte und dem Esterbuch nahe.11 Juden dürfen danach durchaus nichtjüdischen Herrschern dienen, wenn diese ihre jüdische Lebensweise respektieren. Daniels Karriere beginnt am Hof Nebukadnezars. Hält man sich Nebukadnezar als den vor Augen, der Jerusalem erobert, den Tempel zerstört, die Kultgeräte nach Babylonien verbracht und einen großen Teil des Volkes dorthin deportiert hatte, so ist diese Konstellation nicht ohne Dramatik. Dass die erzählte Zeit nicht die Erzählzeit ist, teilt das Danielbuch mit vielen anderen der Bibel, doch nur selten lässt sich die Erzählzeit der Endgestalt eines alttestamentlichen Buches so präzise bestimmen wie hier. Obwohl Daniel in der Erzählung vom 6. Jh. aus visionär die Zukunft in den Blick nimmt, zeigt die Fokussierung mehrerer Prophezeiungen auf Ereignisse des 2. vorchr. Jh. deren Erzählzeit. Das erkannte bereits der Christentumskritiker Porphyrios im 3. Jh. n. Chr. Sein Werk „Kata Christianōn“ fiel unter christliche Zensur, die Handschriften wurden vernichtet; erhalten sind immerhin Fragmente.12 Namentlich Hieronymus nimmt manches in seinem Kommentar13 auf, um es als Irrlehre zu widerlegen. Hätte nämlich Porphyrios Recht, so wäre das von Daniel als das vierte und letzte Reich gekündete das Alexanders und der Diadochen, dessen nahes Ende das Ende all dieser Imperien wäre. Dass es keineswegs so war, sondern mit dem Imperium Romanum ein weiteres kam, erwiese diesen „Fahrplan der Weltgeschichte“ als falsch – die Bibel würde lügen. Für Hieronymus (und nicht nur für ihn) konnte das nicht sein, weil es nicht sein durfte. Das von Hieronymus Widerlegte ist weithin plausibler als die Widerlegung. Für die literarische Situierung Daniels ins 2. vorchr. Jh. bemerkt Porphyrios, dass Daniel genaue Kenntnisse dieser Zeit hat, während sich in den Schilderungen der neubabylonischen Zeit und der zunächst folgenden Epochen manche Fehler finden. Übrigens referiert Hieronymus das durchaus, ohne sich davon beeindrucken zu lassen. Im Kern entspricht die Sicht des Porpyhrios dem Urteil der ge11 Zu diesen Verbindungslinien Stefan Beyerle, Joseph und Daniel – Zwei „Väter“ am Hofe

eines fremden Königs, in: Verbindungslinien. FS Werner H. Schmidt, Neukirchen-Vluyn 2000, 1–18; Harald M. Wahl, Das Motiv des „Aufstiegs“ in der Hofgeschichte, ZAW 112 (2000) 59–74; Michael Segal, From Joseph to Daniel, VT 59 (2009) 123–149. 12 Die Porphyrios-Fragmente in: FGrH 260; ferner Andrew Smith (Hrsg.), Porphyrii Philosophi Fragmenta, Stuttgart u. a. 1993. 13 Den Kommentar verfasste Hieronymus im Jahr 407; Ausgaben: MPL 25, 497–584; CCSL 75A, Turnhout 1964; dazu Régis Cortray, Der Danielkommentar des Hieronymus, in: Bracht / du Toit, Geschichte, 123–150.

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genwärtigen historisch-kritischen Exegese zur Abfassungszeit des Danielbuches. Es ist die Zeit der Diadochenherrschaft und dabei besonders des Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes14 und seiner in den Jahren 167–164 kulminierenden Religionspolitik, die zum Widerstand der Makkabäer führte. In ihm manifestiert sich das in Dan 7 ins Bild gesetzte elfte Horn des vierten Tieres.15 Dan 11 blickt auf Konflikte zwischen Ptolemäern und Seleukiden und sagt schließlich den Tod des Herrschers im Israelland (zwischen dem Mittelmeer und Jerusalem) an. Antiochus IV. starb im Jahr 164 – allerdings in Elymais im Südwestiran. Dass die Vorhersage nicht korrigiert ist, lässt auf deren kurz zuvor erfolgte Formulierung schließen. Das spricht für 167 oder 166 als Abfassungszeit des Buches in seiner Endgestalt, um die es hier gehen soll. Mehrere Teile dürften älter sein, es gibt da Erzählbrüche und -spannungen und auch die Danielfigur selbst erscheint in unterschiedlichen Rollen. Dennoch verweisen viele Einzelheiten in Dan 7–12 auf die Zeit des Makkabäeraufstands gegen den Seleukidenherrscher, der u. a. die Sabbatfeier untersagte und den Jerusalemer Tempel zum Verehrungsort des Zeus Olympios weihen ließ. Wollte er Israels Gott abschaffen oder ging es um eine universalisierend-integrierende Sprachform, wie sie sich schon in persischer Zeit in der Rede vom „Himmelsgott“ (älohe haschschamajim) zeigt und wie sie nun der weithin erfolgten Hellenisierung des Lebens in Judäa entspricht? Dass selbst Hohepriester dieser Zeit die nicht gerade israelitischen Namen Jason und Menelaos trugen, zeigt diese Tendenz, gegen die sich der 167 beginnende Aufstand der Makkabäer richtet.

IV. Mochten auch ältere Teile des Danielbuches, womöglich zunächst für sich, von Daniel als einem Weisen in Babylonien handeln, so wird das für die Endgestalt des Buches zur literarischen Verkleidung einer politischen Inszenierung. Das von Daniel am Hof Nebukadnezars und seiner Nachfolger als Zukunft Gesehene ist die Gegenwart, in der das Buch in seiner Gesamtform abgefasst wurde und auf die es zielt. Für die so Angeredeten folgt daraus: Wenn sich Daniels prophetische Vorhersagen in ihrer Zeit so genau erfüllten, wird das, was er über diese Zeit hinaus sagt, ebenso zutreffen. Die Ära der bestialischen Imperien kommt an ihr Ende und ein menschliches Reich bricht an, das auf ewig dauern wird. Die literarische Verkleidung zeigt: Daniel ist kein prophetisches Buch, sondern ein apokalypti14 Zu ihm Peter Franz Mittag, Antiochos IV. Epiphanes. Eine politische Biographie, Berlin

2006.

15 Hörnerkronen kennzeichnen im alten Orient Gottheiten; im AT steht das Horn für Stär-

ke (Num 23,22; Sach 2,4; Ps 132,17), es dürfte an dieser Stelle aber auch emblematisch mit den Seleukiden verbunden sein; so ist etwa Seleukos I. auf einer Münze mit einem Horn dargestellt. Ausführlich zur Forschungslage (sowie zu vielen weiteren Bezügen in der „Ikonographie“ von Dan 7) Eggler, Influences, hier bes. 48–54.

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sches – das einzige im TaNaCH; ihm korrespondiert die Johannesapokalypse im Neuen Testament.16 Die historisch-politische Situation, in die das Buch spricht, lässt sich recht genau erkennen, zugleich ist es plurivers, indem es Stoffe und Motive aus vielen Kulturen aufnimmt und wie in einem Brennglas entzündlich bündelt. Pinchas Lapide nennt die Apokalyptik eine „Messianitis, eine endemische Erkrankung, oder besser gesagt, eine akute Entzündung der jüdischen Hoffnungsorgane.“17 Zu den pluriversen Stoffen, die sich da entzünden, nur wenige Hinweise: Eine Figur namens Daniel (dani´el bzw. danijjel – je nach Ableitung „Gott richtet“ oder „Gott ist mächtig“) erscheint bereits in Ez 14,14.20, hier gemeinsam mit Noah und Hiob. Gibt es da und dann womöglich auch im Danielbuch Bezüge zum ugaritischen Epos von „Dan’el und Aqhat“ aus dem 2. Jt.?18 Mag das nicht zwingend sein, so zeigen sich in den Visionen über die Abfolge der Reiche mannigfache Verbindungen mit Motiven und Überlieferungen aus den Bereichen, die man als „Umwelt Israels“ bezeichnet. Die Rede von der „Umwelt Israels“ ist nicht unproblematisch, denn sie zeichnet – bewusst oder unbewusst – ein Bild der altorientalischen und mittelmeerischen Kulturen und Religionen, das sie um ein als Zentrum erscheinendes Israel herum gruppiert. Das verschiebt die Dimensionen der Größe und der historischen Kräfte entschieden und es macht zudem undeutlich, dass Israel ein Teil jener Welt war und sich zunächst keineswegs kategorial von den Nachbarkulturen und -religionen unterschied. Vor allem die neuere Archäologie zeigt das für die Religionsgeschichte. Im vorexilischen Israel gab es Götter und Gottesbilder und von der Exilszeit an bis 1948 war Israel mit Ausnahme der kurzen Hasmonäerzeit Teil größerer Reiche – des babylonischen und persischen, der hellenistischen und des römischen, der muslimischen bis zum osmanischen und dann zum britischen. In all diesen Zeiten gab es einen wechselweisen Kulturtransfer – oft gerade 16 Zu diesen beiden kanonischen Apokalypsen kommen entsprechende Passagen in weiteren

Schriften, etwa in Teilen des Sacharjabuches oder in Markus 13, sowie eine ganze Reihe von Apokalypsen in der außerkanonischen zwischentestamentlichen Literatur. Zur Apokalyptik insgesamt Klaus Koch/ Johann Michael Schmidt (Hrsg.), Apokalyptik (WdF 345), Darmstadt 1982; Peter Lampe, Die Apokalyptiker – ihre Situation und ihr Handeln, in: Eschatologie und Friedenshandeln (SBS 101), Stuttgart 1981, 59–114; Daniel Hellholm (Hrsg.), Apocalypticism in the Mediterranean World and the Near East, Tübingen 1983. – Zur Johannesoffenbarung Klaus Wengst, „Wie lange noch?“ Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010; zur frühen Rezeptionsgeschichte Georg Kretschmar, Die Offenbarung des Johannes. Die Geschichte ihrer Auslegung im 1. Jahrtausend (CThM 9), Stuttgart 1985. – Die unmittelbaren Bezüge der Johannesoffenbarung auf das Danielbuch sind aufgelistet bei Albani, Daniel, 291 Anm. 211. 17 Ders., Apokalypse als Hoffnungstheologie, in: Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung? Katalog zur Ausstellung zum 100. Geburtstag von Ernst Bloch, Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen, Heidelberg 1985, 10–14, hier 12. 18 Dazu Moshe Greenberg, Ezechiel 1–20 (HThKAT), Freiburg u. a. 2001, 300f., sowie Niehr in Zengers Einleitung, hier 615.

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da, wo das je Eigene ausgeprägt wurde. Man denke an die rabbinische Lehre vom ‚vielfachen Schriftsinn’, die sich der spätantiken Homerauslegung verdankt, oder an die logischen Schlussverfahren im römischen Recht als einer Grundlage rabbinischer Hermeneutik.19 Auch für den umgekehrten Weg nur e i n Beispiel: Vergils 4. Ekloge gleicht nicht nur motivisch dem „Tierfrieden“ in Jes 11, sondern geht durch die Vermittlung der jüdischen Sibyllen auch literaturgeschichtlich auf die hebräische Bibel zurück.20 Mit den Sibyllen sind wir Daniels Weltreichskonzeptionen wieder nahe. Auch in den Sibyllinischen Büchern, die in der jüdischen Diaspora gleichsam alttestamentlich überarbeitet wurden, erscheint das Sukzessionsmodell, und zwar in europakritischer Tendenz.21 In dieser Linie wurden sie den Propheten gleichgeordnet und sie kamen auch in späterer prorömischer Option mit den Propheten zusammen ins Bild – prominent in Michelangelos Deckenfresken der Sixtina mit ihren sieben Propheten und fünf Sibyllen und dabei Daniel neben der cumäischen Sibylle.22

V. Dan 2 handelt von einem Traum Nebukadnezars, den Daniel ihm deutet wie einst Josef Pharaos Doppeltraum. Die Sache wird hier erschwert – anders als Josef muss Daniel zuerst den Herrschertraum selbst erraten. In der Übersetzung, die Martin Leutzsch für die Bibel in gerechter Sprache erstellt hat, lautet Dan 2,31–45: 19 Zur Bedeutung der Homerauslegung Saul Lieberman, Greek in Jewish Palestine. Studies in

the life and manners of Jewish Palestine in the II–IV centuries C. E., New York 1942. ²1965; Ders., Hellenism in Jewish Palestine. Studies in the literary transmission beliefs and manners of Palestine in the I century B. C. E. – IV century C. E, New York 1950. ²1962, sowie Günter Stemberger, Griechisch-römische und rabbinische Hermeneutik, in: Ders., Judaica Minora I (Texts and Studies in Ancient Judaism 133), Tübingen 2010, 118–219 – zur Homerexegese bes. 125–127 und zum Recht („Römisches Recht und die Entwicklung der Halakha“) ebd. 119–121. 20 Gerhard Binder, Lied der Parzen zur Geburt Octavians (Vergils 4. Ekloge), Gymn 90 (1983) 101–122; Ders., Goldene Zeiten: Immer wieder wird ein Messias geboren … Beispiele neuzeitlicher Aneignung der 4. Ekloge Vergils, in: Thorsten Burkard u. a. (Hrsg.), Vestigia Vergiliana, Berlin / New York 2010, 51–71, sowie J. Ebach, Ende des Feindes oder Ende der Feindschaft? Der Tierfrieden bei Jesaja und Vergil, in: Ders., Ursprung und Ziel, NeukirchenVluyn 1986, 75–89. 21 Dazu Koch, Europa, bes. 33–36. 22 Die in Michelangelos Anordnung unmittelbare Nachbarschaft Daniels (er ist übrigens als einziger der Propheten s c h r e i b e n d dargestellt) und der cumäischen Sibylle ist noch einmal sprechend. In biblisch-vergilischer Verbindung wurden der in diesem Sinne sibyllinisch gelesene Daniel und die christlich-christologisch gelesene Weissagung der Sibylle von Cumae gemeinsam zum „Grundbuch“ des christlichen Rom und seiner Erben (dazu auch u. Anm. 55)

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„Du, König, hattest eine Vision: Da! da war eine große Statue. Die Statue war gewaltig und von ungewöhnlichem Glanz. Sie stand vor dir. Ihr Anblick war Furcht erregend. Ihr Haupt war aus edlem Gold, ihre Brüste und Arme aus Silber, ihr Rumpf und ihre Hüften aus Bronze, ihre Schenkel aus Eisen und ihre Füße halb aus Eisen und halb aus Ton. Du hast dich satt gesehen, bis ein Stein sich ohne Zutun löste und der Statue auf ihre eisernen und tönernen Füße schlug und sie zerstörte. So wurden auf einen Schlag Eisen, Ton, Bronze, Silber und Gold zerstört. Sie wurden wie Spreu auf den Tennen im Sommer. Wind erfasste sie, und keine Spur davon blieb übrig. Der Stein, der die Statue zerstörte, wurde zu einem mächtigen Berg und füllte die ganze Erde. Das ist der Traum. Wir wollen vor dem König seine Deutung zur Sprache bringen: Du, König, König über Könige und Königinnen, dem die Gottheit des Himmels Königsherrschaft, Macht, Stärke und Ehre gegeben hat! Überall, wo Menschen, Feldtiere, Vögel des Himmels leben, hat sie sie in deine Hand gegeben und dich über sie alle zum Herrscher eingesetzt. Du bist das Haupt aus Gold. Nach dir wird eine andere Königsherrschaft aufkommen, geringer als deine, und dann eine dritte Königsherrschaft, aus Bronze, die über die ganze Erde herrschen wird. Die vierte Königsherrschaft wird stark wie Eisen sein. Wie Eisen alles zerstört und zertrümmert und wie Eisen, das zermalmt, wird sie alle zerstören und zertrümmern. Die Füße und Zehen, die du gesehen hast, halb aus Ton zum Töpfern, halb aus Eisen, sind eine geteilte Königsherrschaft. Etwas Eisenhartes wird in ihr sein, so wie du Eisen mit lehmigem Ton vermischt sahst. Fußzehen halb aus Eisen und halb aus Ton: Teils wird es eine starke Königsherrschaft sein, teils eine brüchige. Dass du Eisen mit lehmigem Ton vermischt sahst: Sie werden sich in Heiraten miteinander verbinden, aber nicht in festen Bündnissen, so wie Eisen sich nicht mit Ton verbindet. In den Tagen dieser Könige und Königinnen wird die Gottheit des Himmels eine Königsherrschaft aufkommen lassen, die auf ewig nicht zerstört werden wird, und die Königsherrschaft wird keinem anderen Volk hinterlassen werden. Sie wird alle diese Königsherrschaften zerstören und beendigen. Sie wird auf ewig bestehen, so wie du einen Stein gesehen hast, der sich ohne Zutun löste und Eisen, Bronze, Ton, Silber und Gold zerstörte. Eine mächtige Gottheit hat den König wissen lassen, was später sein wird! Dieser Traum ist fundiert, seine Deutung zuverlässig.“

Unschwer erkennt man das Motiv der vier Weltalter in ihrer metallischen Figuration. Die aus mehreren Metallen zusammengesetzte Statue knüpft an reale Götter- und Königsstatuen des alten Orients an. So gab es hethitische Kultbilder, die aus Gold, Silber, Bronze und Eisen verfertigt waren, und Ähnliches ist sowohl für Ägypten als auch für Ugarit belegt.23 Der Ton als weiteres Material mag ein danielspezifisches Motiv sein. Nahe bei Dan 2 steht die zoroastrische 23 Dazu Koch, Daniel 1–4 (BK), bes. 185.

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Überlieferung von einem Vier-Metalle-Baum24 und am bekanntesten wurde das Motiv der in Metallen figurierten Zeitalter bei Hesiod (erg 109–201) und dann bei Ovid (met I,89–150), aber auch Vergil (ecl 4) und Horaz (ep 16).25 In Dan 2 sind diese Motive verschlüsselt-offenkundig auf Konstellationen der Diadochenzeit bezogen.

VI. Ähnlich knapp soll es um die in der Tendenz entsprechende, im Bild jedoch anders gestaltete Vision nun Daniels selbst in Kap 7 gehen. Auch da sind Motive des alten Orients und der Mittelmeerkulturen auf die konkrete Abfassungszeit des Textes hin gestaltet. Wie erwähnt, sind große Epochen der ins Bild gesetzten Zeiten- und Reichefolge gerafft geschildert, doch eine bestimmte Phase einer aus der literarisch-fiktiven Perspektive eines am babylonischen Hof wirkenden Propheten Jahrhunderte späteren Zeit ist sehr genau geschildert, nämlich die des elften Horns am vierten Tier, die Zeit Antiochus IV.: Daniel fing an zu reden und sagte: „Schauend sah ich in meiner Vision in der Nacht: Da! die vier Winde des Himmels brachen auf das große Meer herein. Vier große Tiere kamen aus dem Meer herauf, eins anders als das andere. Das erste glich einer Löwin mit Adlerflügeln. Ich sah, wie seine Flügel ausgerissen wurden. Es wurde von der Erde aufgehoben, auf zwei Füße gestellt wie ein Mensch und erhielt ein Menschenherz. Da! Ein anderes, zweites Tier, einem Bären gleich, an einer Seite aufgerichtet, drei Rippen in seinem Maul zwischen den Zähnen. Man sagte ihm: Friss viel Fleisch! Dann schaute ich: Da! Ein weiteres, einem Panther gleich, mit vier Vogelflügeln an seinen Seiten. Vier Köpfe hatte das Tier, und es erhielt Macht. Dann schaute ich in nächtlichen Visionen: Da! Ein viertes Tier, Furcht einflößend, Schrecken erregend, außergewöhnlich stark, große Zähne aus Eisen. Es fraß und zermalmte. Was übrig blieb, zerstampfte es mit seinen Füßen. Es unterschied sich von allen vorherigen Tieren und hatte zehn Hörner. Ich betrachtete die Hörner genau: Da! Ein anderes, kleines Horn wuchs dazwischen herauf. Drei der früheren Hörner wurden vor ihm ausgerissen. Da! Augen wie menschliche Augen waren an diesem Horn, und ein Mund redete Gewaltiges. Ich schaute, wie Throne aufgestellt wurden. Eine hoch betagte Gestalt nahm Platz. Ihre Kleidung war weiß wie Schnee, ihr Haupthaar wie reine Schafwolle, ihr Thron wie Feuerflammen mit Rädern aus brennendem Feuer. Ein feuriger Fluss strömte und floss vor ihr her, tausendmal Tausende bedienten sie, zehntausendmal Zehntausende standen vor ihr. Eine Gerichtssitzung begann. Akten wurden geöffnet. Da schaute ich, vom Erklingen der gewaltigen Worte, die das Horn redete, bis das Tier getötet und sein Leib vernichtet und dem brennenden Feuer übergeben 24 Vgl. Koch, Daniel (EdF), 196; Ders., Die Reiche der Welt und der kommenden Menschen-

sohn, in. Ders., Studien, hier 56f.

25 Dazu Bodo Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen (Spudasmata

XVI), Hildesheim 1967.

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wurde. Auch den übrigen Tieren wurde ihre Macht genommen. Für ihre Lebensdauer wurde ihnen Zeit und Frist gegeben. Ich schaute in nächtlichen Visionen: Da! mit Himmelswolken kam etwas wie ein Mensch, näherte sich der hoch betagten Gestalt und wurde zu ihr gebracht. Ihm wurde Macht, Ehre und Königsherrschaft verliehen. Alle Völker, Stämme und Sprachgemeinschaften dienten ihm. Seine Macht ist ewige Macht, die nicht vergeht. Seine Königsherrschaft wird nicht zerstört. Ich, Daniel – mein Geist krümmte sich in seiner Hülle, und die Visionen, die mein Kopf empfing, machten mir Angst. Ich trat an eine der dabeistehenden Gestalten heran und bat sie um Zuverlässiges über all das. Sie antwortete mir und erklärte mir die Bedeutung: Diese vier großen Tiere: Vier Könige werden sich von der Erde erheben. Die Heiligen der höchsten Macht werden die Königsherrschaft erhalten und die Königsherrschaft innehaben – ewig, ewig und ewige Zeit! Dann bat ich, über das vierte Tier aufgeklärt zu werden, das sich von allen unterschied – gewaltige Furcht einflößend, seine Zähne aus Eisen und seine Klauen aus Bronze, es fraß und zermalmte, und was übrig blieb, zerstampfte es mit seinen Füßen –, und über die zehn Hörner auf seinem Kopf, und das andere, das herauf wuchs, während drei vor ihm heraus fielen – jenes Horn und die Augen an ihm, der Mund, der Gewaltiges redete, und seine Erscheinung, die größer war als die seiner Genossen. Ich schaute: Dieses Horn führte Krieg gegen die Heiligen und wurde ihnen überlegen, bis die hoch betagte Gestalt kam, den Heiligen der höchsten Macht Gerichtsgewalt übertragen wurde und die Zeit kam, als die Heiligen die Königsherrschaft erhielten. Sie sagte: Das vierte Tier: Eine vierte Königsherrschaft wird auf der Erde sein, unterschieden von allen Königsherrschaften. Sie wird sich die ganze Erde einverleiben, zerstampfen und zermalmen. Die zehn Hörner: Aus dieser Königsherrschaft werden zehn Könige aufstehen. Nach ihnen wird ein weiterer aufstehen, der sich von den früheren unterscheidet. Drei Könige wird er zu Fall bringen. Er wird Worte gegen die höchste Macht richten und den Heiligen der höchsten Macht hart zusetzen. Er wird die Hoffnung hegen, Kalender und Weisung zu ändern, und sie werden für dreieinhalb Zeitabschnitte in seine Hand gegeben werden. Dann wird Gerichtsverhandlung gehalten, seine Macht wird ihm entzogen, um endgültig vernichtet und zerstört zu werden. Königsherrschaft und Macht und die Großartigkeit der Königsherrschaften unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen der höchsten Macht übertragen werden. Ihre Königsherrschaft ist ewige Königsherrschaft. Alle Mächte werden ihr dienen und auf sie hören. (Dan 7,2–27 in Leutzschs Verdeutschung)

Unter allen Danieltexten zeitigte dieser die mächtigste Wirkungsgeschichte. Darauf soll nun das Gewicht liegen, deshalb nur wenige Hinweise zu dieser Vision und ihren Motiven: Die Tiere26 kommen aus dem Meer, d. h. biblisch aus der 26 Während die ersten drei Tiere zugleich mit ihren mythischen Elementen auch zoologisch

(als Löwe, Panther und Bär) bestimmt sind, fehlt eine solche Angabe beim vierten Tier. Urs Staub, Das Tier mit den Hörnern. Ein Beitrag zu Dan 7,7f., in: Keel / Ders., Hellenismus,

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Chaosflut.27 Dass Völker mit Tieren verglichen sind, ist nicht unüblich. Entsprechendes begegnet im äthiopischen Henochbuch, aber auch im etwa gleichzeitig mit Dan 7 verfassten dramatischen Monolog „Alexandra“, als dessen Autor Lykophron galt.28 Das Motiv der Abfolge von Reichen erscheint u. a. bei Herodot und Ktesias im Dreierschema (Assyrer, Meder, Perser) und dann bei Polybios (mit der Viererreihe: Perser, Spartaner, Makedonen, Römer). Der erste römische Historiker, bei dem sich eine solche Abfolge findet, ist wohl Aemilius Sura, der (zwischen 190 und 170 v. Chr.29) die Viererreihe Assyrer, Meder, Perser, Makedonen auf Rom als einem fünften Imperium zulaufen lässt. Er ist danach der erste Römer, der das Konzept der – unter diesem Begriff seit dem Mittelalter firmierenden – translatio imperii vertritt. Diese Abfolge bieten dann mehrere römische Geschichtsschreiber, u. a. Siculus Diodor und Tacitus. Die größte Aufmerksamkeit gilt in Dan 7 dem vierten Tier und dann seiner im Gericht erfolgenden Ablösung durch das „Volk der Heiligen des Höchsten“ (am kaddische äljonin). Die Figur des „Hochbetagten“ (attik jomin), der das Gericht vollzieht, ist auf Gott transparent.30 Rätselhafter ist jene Gestalt, die „wie ein Mensch“ (k´bar änasch) war und der die Herrschaft übergeben wurde. Die Wendung bar änasch wird oft als „Menschensohn“ wiedergegeben; christliche Lektüren verbinden es mit dem neutestamentlichen hyios tou anthrōpou als Bezeichnung Jesu. Das aramäische bar änasch meint allerdings wie das entsprechende hebräische bän-adam schlicht einen Menschen. Die Wendung „wie ein Mensch“ lässt neben einer messianischen Deutung auch eine Engelgestalt als möglich erscheinen. Dahinter steht dann die Auffassung, jedes Volk werde von einem be37–86 (zuerst in: FZPhTh 25 (1978) 351–397), entwickelt die gut begründete These, hinter der Schilderung stünden Erfahrungen mit (gerade auch von den Seleukiden eingesetzten) Kriegselefanten. Keel nimmt diese These in seinem Beitrag: Die Tiere und der Mensch in Daniel 7, ebd. 1–35, bes. 16f., auf. Der Verzicht auf eine „zoologische“ Identifikation des 4. Tieres als Merkmal der Schilderung soll dann womöglich die Unvergleichlichkeit jenes Monstrums umso deutlicher aufscheinen lassen. 27 Eine Fokussierung der Mediterrané-Thematik auf das Meer selbst geriete für einen alttestamentlichen Beitrag zu einer Art „Fehlanzeige“. Anders als die Phöniker waren die alten Israeliten kein Seefahrervolk; das Meer kommt im AT v. a. als bedrohliche, chaotische Größe in den Blick (so u. a. im Jonabuch), als Ort des Leviathan (Ps 104,26), als von Gott immerhin begrenzte einstige Urflut (Gen 1). Dass und wie sich das in nachatl. Zeit ändert, zeigen die Beiträge von Maren Niehoff und Hubert Cancik in diesem Band. 28 Zur Verfasserfrage Konrat Ziegler, Lykophron, der Tragiker, und die Alexandrafrage, RE XIII/2, 2316–2381. 29 Zur Datierungsfrage Werner Suerbaum, in: HLL I (2002) 427f. [§ 166.1], zu Suras Herrschaftsabfolge Koch, Europa 39f. 30 Die geläufige Vorstellung, in der Bibel sei Gott ein alter Mann mit einem Bart, lässt sich allenfalls auf diese eine Stelle beziehen, obwohl auch da nicht explizit von einem Bart die Rede ist. Hier zeigt sich abermals, wie sehr die Rezeption biblischer Texte das – in diesem Fall ganz wörtlich zu verstehen – Bild bestimmt, das man sich von den Texten selbst macht.

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stimmten Engel geleitet. Hier ginge es um einen Engel, der die ganze Völkerwelt heilvoll regiert.31

VII Bleibt hier im Einzelnen manches dunkel, so ist die Struktur der Vision deutlich: Vier Reiche folgen aufeinander, der Abbruch des vierten wird zugleich zum Anbruch eines neuen, ganz anderen und nun ewigen Reichs der Heiligen des Höchsten. Um welche vier Reiche geht es? Der Beginn mit dem babylonischen ergibt sich hier aus der Situierung Daniels am Hofe Belsazars.32 Dass der nicht König war, gehört zu den Ungenauigkeiten im Danielbuch für jene frühen Zeiten. Das vierte Reich – die Gegenwart der Verfasser und Adressaten – ist das der Diadochen und in Sonderheit des Seleukiden Antiochus IV. Das erlaubt die Zuweisung der beiden mittleren Reiche auf die der Meder und der Perser. Die Periodisierung der Zeiten und Epochen erfolgt in der Fokussierung auf das bald erwartete Ende all dieser Reiche. In apokalyptischer Perspektive wird die Gegenwart als letzte Schreckenszeit offenbar; der Trost ist, dass der Höhepunkt des Schreckens zugleich sein Ende ist. Auch darin gleicht Daniel der Johannesapokalypse. In der Tat war es mit jenem vierten Reich bald zu Ende, aber danach kam nicht das Reich Gottes, sondern das der Römer. Hat „Daniel“ geirrt?33 In der Perspektive historisch-kritischer Exegese lautet die Antwort „ja“, doch die „Schrift“-Lektüre der Rabbinen34 wie der Kirchenväter ließ den Irrtum eines wahren Propheten nicht zu. Also musste man das Setting der vier Reiche ändern. Dazu gab es zwei Möglichkeiten: Entweder verstand man das Imperium Romanum als Fortsetzung der mit Alexanders Sieg über die Perser beginnenden Herrschaft oder man schaffte Platz für ein viertes, nun römisches Reich, indem man das der Meder und Perser als eines verstand. Letzteres bot sich an, denn ein eigenständiges Mederreich ist historisch weniger verbürgt als die bedeuten31 Dazu Klaus Koch, Der „Menschensohn“ in Daniel, ZAW 119 (2007) 369–385. 32 Zu ihm Karin Schöpflin, Belsazar – die literarische Karriere eines biblischen Bösewichts,

BThZ 25 (2008) 324–357.

33 Dass Rom bei Daniel noch nicht als kommendes Reich erscheint, ist nicht selbstverständ-

lich. Es hätte nach der Schlacht von Magnesia (190 oder 189) durchaus im Blick sein können. Die Niederlage der Seleukiden gegen die Römer war der Anfang des Niedergangs ihrer Herrschaft. Antiochus III. wurden von den Römern massive Reparationszahlungen auferlegt; 188 ging ihm im Frieden von Apameia das kleinasiatische Herrschaftsgebiet verloren. Der Bericht über das Bündnis des Judas Makkabäus mit Rom ist in 1Makk 8 gezielt mit den Erfahrungen Roms als (neuer) Großmacht eingeleitet. 34 Die Rabbinen waren indes zurückhaltend gegenüber einer Danielauslegung, die zum Widerstand gegen Rom führen könnte. Dahinter steht die Furcht, nach zwei eschatologischmessianisch motivierten Aufständen gegen Rom (66–73 und 132–135 n. Chr.) werde auch ein weiterer scheitern.

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de Rolle von Medern im Perserreich.35 Somit waren die Rollen der vier Reiche fest besetzt als (1.) das der Babylonier, (2.) das der Meder und Perser, (3.) das der Griechen und (4.) das römische. Für ein weiteres ließ Daniel keinen Raum. Die Johannesoffenbarung beerbt Dan 7 so, dass sie all die Tiere zu einem großen Drachen als dem römischen vereint.36 Auch hier ist das römische Imperium das letzte vor dem Anbruch des Gottesreiches. Das römische Reich als das vierte der Danielvisionen steht fortan in jüdischer und christlicher Bibellektüre weithin fest. Dazu zwei sehr unterschiedliche Beispiele. Im Sachsenspiegel von Eike von Repgow, entstanden zwischen 1220 und 1230, setzt die Abfolge der Reiche in Babylon ein („Zu babylonie irhup sich das riche“), um dann über Medien / Persien und Alexander an Rom zu gelangen, wo es jetzt noch sei. Die großen Dimensionen gehen dann in kleinräumigere über, in denen Preußen, Thüringen und die Insel Rügen ihren Platz haben. Die Vorfahren der Sachsen hätten siegreich in Alexanders Heer gekämpft – auch darin zeigt der betreffende Abschnitt durch die Brüche hindurch vor allem die beanspruchte Kontinuität: Zu Babylon entstand das Weltreich, das über alle Länder herrschte; das zerstörte Cyrus und brachte die Weltherrschaft nach Persien; dort verblieb sie bis auf Darius den Letzten. Diesen besiegte Alexander und brachte das Reich an die Griechen. Dort bestand es so lange bis Rom sich seiner bemächtigte und Julius Kaiser wurde. Noch hat Rom davon das weltliche Schwert behalten und wegen des heiligen Petrus das geistliche, deswegen heißt es „Haupt der ganzen Welt“ Unsere Vorfahren, die hierher kamen und die Thüringer vertrieben, die sind in Alexanders Heer gewesen. Mit ihrer Hilfe hatte er ganz Asien unterworfen. Als Alexander starb, da wagten sie es wegen des Hasses des Landes nicht, sich in dem Land auszubreiten und stachen mit dreihundert Schiffen in See. Die sanken alle bis auf vierundfünfzig, von diesen kamen achtzehn nach Preußen und nahmen es in Besitz, zwölf nahmen Rügen in Besitz, vierundzwanzig kamen hierher in das Land.37

Der 5. (unterste) Bildstreifen auf fol. 47 recto (Ldr. III 44§1) neben dem entsprechenden Text der Wolfenbütteler Handschrift stellt die Abfolge der vier Weltreiche im Bild von fünf Königen dar (Abb. 2). 35 Dazu Henry Harold Rowley; Darius the Mede and the Four World Empires in the Book of

Daniel, Cardiff 1959; William H. Shea, Darius The Mede: An Update, Andrews University Seminary Studies 20 (1982) 229–247. 36 Zu den Danielbezügen und weiteren kanonischen und außerkanonischen biblischen Konnotationen Wengst, „Wie lange noch?“, bes. 130–133. 37 Eike von Repgow. Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Handschrift Cod. Guelf. 3.1 Aug. 2°. Textband, hrsg. von Ruth Schmidt-Wiegand, Berlin 1993, 243–245 (die zitierte neuhochdeutsche Übertragung, 243–245).

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Abb. 2: Bildausschnitt zur Abfolge der vier Weltreiche im „Sachsenspiegel“ (aus: Eike von Repgow, Sachsenspiegel. Die Wolfenbütteler Handschrift Cod. Guelf., Berlin 1993, fol. 47 recto).

Dem in einer Art (babylonischem?) Turm links Dargestellten wird mit im Dolch repräsentierter Gewalt die Krone vom Kopf gerissen, die beiden folgenden durchbohren je ihren Vorgänger mit dem Schwert. Die Szene symbolisiert die Entmachtung Babylons durch Kyros und die folgenden „Ablösungen“. Die vier gekrönten Figuren dürften Kyros und Dareios für das medisch-persische Reich, Alexander für das griechische und Julius Caesar für das römische sein. Als ein weiteres Beispiel eine Passage aus Martin Luthers ausführlicher Vorrede zu Daniel: Der Traum aber und das Bild ist im Text durch Daniel selbst klar gedeutet auf die vier Königreiche: das erste der Assyrier und Babylonier, das andere der Meder und Perser, das dritte des großen Alexander und der Griechen, das vierte der Römer. In

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dieser Deutung und Meinung ist alle Welt einträchtig, und das Werk und die Historien beweisen’s auch gewaltig. Aber vom römischen Reich redet er am meisten und längsten; darum müssen wir auch fleißig zuhören.38

Luther verbindet diese ‚einträchtige Meinung aller Welt’ mit heftigen Invektiven gegen „Rom“, d. h. gegen das Papsttum. Mit der Rollenbesetzung des vierten Tieres durch Rom stellt sich die Frage nach seiner Bewertung. Auf das Bild in Dan 7 bezogen: Steht das Eisen für eine Depravation gegenüber den wertvolleren Metallen oder dokumentiert es positiv unbiegsame Stärke? Beides scheint in Rezeptionen von Dan 7 auf. Bei all dem stellt sich eine exegetisch-methodische Frage. Eine an der Rekonstruktion der intentio auctoris interessierte Exegese wird all das, was mit „Rom“ verbunden ist, als Verfälschung des wahren Textsinns rubrizieren. Rom konnte nicht gemeint sein, denn dieses Rom gab es aus der Perspektive des Danielbuches noch nicht. Auf dieser Ebene hatte Porphyrios gegen die christliche Daniellektüre schlechterdings Recht. Die Ideologiekritik verdient allemal größten Respekt. Doch es griffe zu kurz, all die Lektüren des Danielbuches als bloßes Missverständnis abzubuchen, die in seinen Worten je ihre eigene Zeit erkannten. Das betrifft Berufungen auf das Danielbuch in sehr unterschiedlichen Situationen und Interessen. In den Kreuzzügen spielte es eine Rolle,39 Thomas Müntzers „Fürstenpredigt“ vom Juli 152440 ist eine mit einer großen Zahl weiterer Bibelstellen aufgefüllte Auslegung von Dan 2, Oliver Cromwell eröffnete 1653 das Parlament mit einer Rede, in der er diesem die Aufgabe zuwies, die auf Daniel fußende letzte Stufe der Weltgeschichte zu verwirklichen.41 Angesichts dieser leicht vermehrbaren Beispiele für eine Auslegung des Danielbuches (und der Bibel überhaupt) in je gegenwärtigem Interesse stellt sich die Frage nach der Legitimität aktualisierender Bibellektüre überhaupt. „Die Heilige Schrift (…) wächst in gewisser Weise mit den Lesenden“, notiert Gregor der Große im 6. Jh. in den „Moralia in Job”.42 Das lässt sich als Plädoy38 Luthers Vorreden zur Bibel, hrsg. v. Heinrich Bornkamm, (Hamburg 1867), Insel-Tb 1983,

112, dazu Stefan Strohm, Luthers Vorrede zum Propheten Daniel in seiner deutschen Bibel, in. Bracht / du Toit (Hrsg.), Geschichte, 219–243. 39 Nikolas Jaspert verdanke ich den Hinweis auf Ingrid H. Ringel, Ipse transfert regna et mutat tempora. Beobachtungen zur Herkunft von Dan. 2, 21 bei Urban II., in: Ernst-Dieter Hehl u. a. (Hrsg.), Deus qui mutat tempora. Menschen und Institutionen im Wandel des Mittelalters. FS Alfons Becker, Sigmaringen 1987, 137–157. 40 Th. Müntzer, Schriften und Briefe, hrsg. v. Gerhard Wehr, Frankfurt a. M. 1973, 82–98, zur Abfolge und Zählung der Reiche bes. 93. Zur Interpretation Werner Röcke, Die Danielprophetie als Reflexionsmodus revolutionärer Phantasien im Spätmittelalter, in: Bracht / du Toit (Hrsg.), Geschichte, 245–267, hier bes. 250–258. 41 Vgl. Koch, Europa, 112f. 42 „scriptura sacra […] quod aliquo modo cum legentibus crescit“ (Moralia in Job, 20,1 [Corpus Christianorum Latinorum, Bd. 143A, 1003]), entsprechend schreibt Gregor in den Homilien

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er für den Primat kirchlicher Lehre und Tradition über die „Schrift“ lesen, aber auch als eine frühe Form der Rezeptionsästhetik. Sie lässt den Sinngehalt eines Textes nicht in der intentio auctoris aufgehen und gibt den intentiones lectorum, den Interpretationen der jeweils Lesenden ihr Recht. Immer wieder und immer neu erfolgende Lektüren biblischer Texte lassen je neue Facetten und Perspektiven aufleuchten und dabei auch solche, die den Autoren jener Texte noch gar nicht vor Augen stehen konnten. Wer jeden Anachronismus für methodisch verfehlt ansieht, wird hier ein klares Urteil haben. Aber lebt nicht die Beziehung der „Schrift“ (und manch anderer Literatur) auf je gegenwärtige Fragen von solchen Anachronismen? Als es mir in den Debatten um die „Nachrüstung“ um 1983 und der Zeit danach um die Erinnerung biblischer Apokalyptik ging, brachte mich die Tatsache, dass die Bibel keine Atombomben kannte, nicht davon ab, in ihren Texten das zu lesen, was mir „heute“ wichtig war.43 Darf ich dann Hieronymus, Luther, Müntzer und vielen anderen vorwerfen, sie hätten die biblischen Texte unzulässig vergegenwärtigt?44 Für die Exegese als eine der theologischen Disziplinen folgt daraus, dass sie sich nicht mit der Rekonstruktion des ursprünglich Gemeinten begnügen darf, dass vielmehr die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte als eine den biblischen Texten selbst zugewachsene Dimension ebenso zu ihren Gegenstänzu Ezechiel (I, VII,8 [Sources Chrétiennes, Bd. 327, 244], hier zu Ez 1,19: „quia diuina eloquia cum legente crescunt“. 43 Nicht zuletzt in aktuellen Kontexten stehen meine Ausführungen zu Apokalyptik und Messianismus: Verf., Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung, in: Einwürfe 2, München 1985, 5–61; Apokalypse und Apokalyptik, in: Heinrich Schmidinger (Hrsg.), Zeichen der Zeit. Erkennen und Handeln, Innsbruck 1998, 213–273; Messianismus und Utopie, KuI 15 (2000) 68–85; Ders., Zeit als Frist. Zur Lektüre der Apokalypse-Abschnitte in der Abendländischen Eschatologie, in: Richard Faber u. a. (Hrsg.), Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, Würzburg 2001, 75–91. 44 Die Vielfalt der Lektüre- und Verstehensmöglichkeiten ist keine Beliebigkeit, sie entspricht vielmehr dem biblischen Kanon selbst und seiner verbindlichen Vielfalt, dazu vom Verf., Verbindliche Vielfalt – über die „Schrift“ als Kanon, KuI 20 (2005) 109–119; Ders., „Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte“, Publik-Forum 19/2013, 30–32. Gleichwohl stellt sich die Frage nach der Grenze der möglichen Interpretationen. Der Rabbiner und Philosoph MarcAlain Ouaknin sieht eine – und nur eine – Grenze. Er sieht sie – wie könnte es anders sein? – in einer Schriftstelle. Es geht um das in Ex 20,25 verfügte Verbot, einen Altar mit behauenen Steinen zu machen. Ouaknin führt das in den Schluss-Sätzen seines Aufsatzes: Eine Reise ins Paradies. Über das wägende Lesen des Talmud, in: Geduld. Die Kunst des Wartens, hrsg. v. Ruthard Stäblein, Bühl-Moos 1994, 67–84, so weiter: „Keine behauenen Steine, keine behauenen Wörter, „’denn wenn du mit deinem Eisen darüber kommst, so wirst du ihn entweihen’. Das ist die äußerste Unterweisung: der Gebrauch des Eisens, der Gewalt, stellt ein entscheidendes Hindernis beim Aufbau einer Beziehung mit dem Unendlichen dar. Ist alles sagbar? Alles, außer dem, was aus der Gewalt hervorgeht und zur Gewalt führt! Selbst wenn man nicht über den semantischen Wert der Interpretationen richten will, wenn wir, was die Redefreiheit betrifft, alle gleich sind, fordert uns die Thora auf, dafür zu bürgen, daß der Name den Waffen niemals zum Vorwand diene …“ Mit diesem Kriterium plädiere ich für eine gewaltlose, vielfältige, aber nicht beliebige Interpretation der „Schrift“.

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den gehören muss. Die strikte Unterscheidung zwischen einer tendenziell objektiven Exegese und den vielen subjektiven Rezeptionen greift zu kurz. Denn auch die Rekonstruktion des ursprünglich Gemeinten hat stets etwas von einer in je gegenwärtigen Plausibilitätsstrukturen erfolgenden Konstruktion und ist somit ihrerseits eine Form der Rezeptionsgeschichte. Freilich greift diese hermeneutische Erwägung hier eher zu weit, denn all die, welche angesichts des Römischen Reichs eben dieses als das von Daniel angekündigte letzte sahen, verstanden ihre Lektüre nicht als aktualisierende Rezeption, sondern als sensus literalis des Danielbuches selbst. Dem freilich muss eine historische und kritische Exegese entschieden widersprechen. Das römische Reich war somit bei Daniel – wie dann und hier sehr wohl als intentio auctoris in der Johannesapokalypse – im doppelten Wortsinn das letzte. Was bedeutete das für Leserinnen und Leser der Bibel in römischer Zeit? Es bedeutete zunächst: Die genau in den Blick genommenen Geschehnisse um jenes elfte Horn des vierten Tieres sind nicht auf eine inzwischen vergangene Epoche zu beziehen, sondern auf ein noch ausstehendes Geschehen. Die in Dan 7,25 genannten dreieinhalb Zeitabschnitte (ad-iddan w´iddaninn up´lag iddan – „auf eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit“) mutierten von einer als dreieinhalb Jahre gelesen übrigens recht präzisen Ankündigung der Antiochus IV. noch verbleibenden Regierungszeit zu einer vieldeutigen Rätselzahl. Auch hier bietet sich ein Vergleich mit der Johannesapokalypse an. Man denke an die „666“ in Offb 13,18,45 aber auch an die in 20,2f. genannten „tausend Jahre“, für die der Satan eingesperrt sein wird, bis dann buchstäblich der Teufel los ist und es zum letzten Kampf kommt. Für den protestantischen Föderaltheologen Coccejus im 17. Jh. sind diese tausend Jahre die Zeit der „Heuchelkirche“ zwischen dem Ende der Diokletianischen Verfolgung und der Zeit Konstantins bis zu Ludwig dem Bayern (1314–1347), d. h. bis zum Ende des päpstlichen Primats bei der Kaiserwahl. Für das Schulhaupt der Berliner protestantischen Orthodoxie Ernst Wilhelm Hengstenberg erstreckt es sich von der Germanenmission bis zum Ende des Heiligen Römischen Reichs im Jahre 1806. Im Apokalypsekommentar des Benediktiners Tiefenthal (1892) reicht das Millennium vom Tod Attilas (453) bis zum Fall Konstantinopels (1453). Ähnlich ist es beim Antichrist in der Johannesoffenbarung und – von dort her gelesen – im Danielbuch.46 In seinem 1854 er45 Die wahrscheinlichste Deutung jener Zahl geht auf den Namen „Kaiser Nero“. Hebräische

Buchstaben haben (je nach ihrer Stellung im Alphabet) eine Zahlenwert. Schreibt man die griechischen Worte qēsar nērōn in hebr. Buchstaben, so ergeben ihre Konsonanten (q=100, s=60, r=200 – n=50, r=200, w=6, n=50) die Summe 666. Einige Handschriften haben in Offb 13,18 die Zahl 616. Sie ergibt sich, wenn man statt griech. nērōn lat. nero zugrunde legt, und stützt somit die Nero-These. An dieser Stelle kommt eine zweite Verschlüsselung hinzu. Denn gemeint ist nicht der Kaiser Nero selbst, der zur Zeit der Abfassung der Offb bereits tot war, sondern wohl der von 81–96 regierende Domitian, der als Nero redivivus verstanden wurde. 46 Belege dazu bei Otto Böcher, Die Johannesapokalypse (EdF 41), Darmstadt 1980, bes.

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schienenen Werk „Der Prophet Daniel und die Offenbarung Johannis in ihrem gegenseitigen Verhältniß betrachtet und in ihren Hauptstellen erläutert“ erkennt der evangelische Theologe Carl August Auberlen im Antichrist die Französische Revolution, den Sozialismus und den Kommunismus. Der Theologe war allemal up to date – das Wort „Kommunismus“ war erst seit wenigen Jahren vertraut und schon verkörperte es den biblischen Antichrist, was wiederum die Wahrheit Daniels und der Johannesoffenbarung erwies. Die Bibel und in besonderer Weise ihre apokalyptischen Schriften bieten Munition an je gegenwärtigen Fronten. Unverhohlen erscheint das in Luthers Vorreden auf die Johannesapokalypse.47 Die erste von 1522 zeigt Widerwillen. Das Buch sei nicht vom Heiligen Geist erfüllt und lasse Christus nicht erkennen. In der Vorrede von 1530 sagt er dagegen zu Offb 13 und den beiden Tieren ganz im Licht danielischer Reichefolge: „Denn der Papst hat das gefallene römische Reich wieder aufgerichtet, und von den Griechen zu den Deutschen gebracht“. Gog und Magog aus Ez 38 ist dann „der Türke, die roten Juden“,48 die der Satan bringt. Mit diesen Attacke gegen Papst, Türken und Juden resümiert Luther: „Nach dieser Auslegung können wir das Buch uns zunutze machen und wohl gebrauchen.“ Zahlreiche Bilder der Reformationszeit stellen den Papst als „Antichrist“ dar; vice versa erscheint in katholischen Gegenschriften Luther in diesem Bild. Zurück zur frühen christlichen Danielauslegung und ihrer Sicht auf „Rom“. Die Einbeziehung Roms in das danielische Viererschema ließ dieses Reich als das letzte böse erscheinen. Zu hoffen war demnach auf dessen baldigen Abbruch, dem der Anbruch endgültiger Heilszeit folgen werde. In der frühen christlichen Rezeption Daniels vor allem in der Johannesoffenbarung erscheint dieses Modell in strikt antirömischer Linie. Nun gab es bald zwei Probleme. Das eine ist der in der neutestamentlichen Exegese unter der Bezeichnung „Parusieverzögerung“ firmierende Umstand, dass das erwartete baldige Ende dieser Zeit auf sich warten ließ. Freilich ging es dabei auch um die Frage nach dem Charakter des zu erwartenden Gottesreichs. War es überhaupt so etwas wie eine politische Größe oder war es eine spirituelle Verwandlung der Welt, die mit der Botschaft Jesu schon angebrochen war? Dazu kam aber noch etwas. Wer wünschte sich denn jenen Abbruch noch wirklich? Immerhin gibt es nach der Johannesapokalypse und dem so gelesenen Danielbuch vor dem endgültigen Anbruch des Gottes1–25, sowie Dems., Kirche in Zeit und Endzeit. Aufsätze zur Offenbarung des Johannes, Neukirchen-Vlyun 1983. 47 Luther, Vorreden, 218f. (1522), 220–231 (1530), die folgenden Zitate ebd. 225. 228f. 48 Luther bezieht sich hier auf die Legende, nach der Exilierung der 10 Stämme des Nordreichs durch die Assyrer seien jene in den Nordosten Asiens gewandert, von wo sie in den Tagen des Messias zurückkehren werden. Luther identifiziert jene Juden mit den Türken. An anderer Stelle, in der Auslegung von Gen 16 (Martin Luther, Genesis, 1. Teil, in: Sämtl. Schr. hrsg. v. Johann G. Walch, ²1890–1910, hier 1000), spricht Luther von „dem Türken selbst, der auch ein Ismaeliter ist.“

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reichs schreckliche Kämpfe mit den Mächten des Satans. „When everything is bad it must be good to know the worst.”49 Den verfolgten ersten Adressatinnen und Adressaten der beiden biblisch-kanonischen Apokalypsen war wohl ein Ende mit Schrecken lieber als ein Schrecken ohne Ende. Aber galt das noch für Christinnen und Christen nach der Konstantinischen Wende und vollends, seit unter Theodosius das römische Reich christlich geworden war? Die veränderte Haltung der Kirche sei an einem Beispiel illustriert. Die Traditio Apostolica, eine Kirchenordnung aus dem frühen 3. Jh., bestimmt, unter welchen Umständen einer, der bereits Soldat ist, Christ werden und Soldat bleiben kann. „Ein Soldat“, heißt es da, „der unter Befehl steht, soll keinen Menschen töten. Erhält er dazu den Befehl, soll er diesen nicht ausführen, auch darf er keinen Eid leisten. Ist er aber dazu nicht bereit, weise man ihn ab“ , d. h. er kann kein Christ werden. Das gilt für Soldaten, die Christen geworden sind oder werden wollen. Dass einer, der schon Christ ist, Soldat werden könne, wird strikt ausgeschlossen. Doch bereits ein Jahrhundert nach der Abfassung dieser Kirchenordnung schließt in der Regierungszeit Konstantins das Konzil von Arles (314) jeden Deserteur, auch wenn er Gewissensgründe geltend machen könne, vom Empfang der Sakramente aus. Ein weiteres Jahrhundert später konnten unter Theodosius nur noch Christen Soldaten werden. Das Verhältnis von Kirche und Kriegsdienst änderte sich in dem Maße, in dem Christen von Gegnern des römischen Staates zu dessen Trägern wurden.

IX. In dieser Perspektive mutiert das römische Reich von seiner Rolle als letztes vor dem Anbruch des Gottesreichs zu dem, welches die vor seiner Verwirklichung kommenden schrecklichen Kämpfe heilsam aufhält. Wirkmächtig wurde für diese Sicht eine Passage im (nachpaulinischen) 2. Thessalonicherbrief. Da heißt es in 2, 1–8 in der Übersetzung Marlene Crüsemanns in der »Bibel in gerechter Sprache«:50 Wir bitten euch aber, Brüder und Schwestern, im Blick auf die Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, und unserer Vereinigung mit ihm: Lasst euer Denken nicht so schnell erschüttern oder euch erschrecken, weder durch eine Geistoffenbarung noch durch ein Wort oder einen Brief, der angeblich von uns stammt, mit der Behauptung, dass der Tag GOTTES schon da sei. Lasst euch von niemandem auf 49 Diesen Aphorismus, der geradezu als Abbreviatur apokalyptischer Haltung gelten kann,

notiert der englische Hegelianers Francis Herbert Bradley im Vorwort seines Buches „Appearance and Reality. A Metaphysical Essay“ (zuerst: London 1893, XII). Theodor W. Adorno setzt ihn als Motto über den Zweiten (1945 verfassten) Teil der „Minima Moralia“ (Ges. Schr., hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1997, 94). 50 Die kursiv gesetzten Passagen verweisen auf atl. Zitate oder Querverbindungen zum AT; sie sind in der Druckfassung der »Bibel in gerechter Sprache« jeweils ausgewiesen.

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JÜRGEN EBACH

irgendeine Weise täuschen! Denn zuerst kommt die Abtrünnigkeit und offenbart wird der Mensch, der ein Feind der Tora ist, der Sohn des Verderbens, der Widersacher, der sich über alles erhebt, was Gott oder Heiligtum genannt wird. So setzt er sich in den Tempel Gottes und behauptet, Gott zu sein. Erinnert ihr euch nicht, dass ich euch dies sagte, als ich noch bei euch war? Und jetzt wisst ihr, was den Feind aufhält ⟦i m g r i e c h . T e x t : katechon⟧, damit er zu seinem eigenen Zeitpunkt offenbar wird. Denn die Feindschaft gegen die Tora ist schon wirksam als Geheimnis – allein bis der Aufhaltende ⟦katechōn⟧ jetzt aus der Mitte entfernt wird. Dann wird der Feind der Tora offenbart werden, den Jesus, der Herrscher, mit dem Atem seines Mundes auslöschen und vernichten wird bei der Erscheinung seiner Ankunft.

Hier taucht eine als katechon bzw. katechōn bezeichnete Größe auf, die das Kommen des Gottesreichs aufhält. Das konnte auf Rom und den Kaiser bezogen und positiv bewertet werden. Denn aufgehalten wird so ja auch und zuerst die vor dem Gottesreich kommende Gewalt des Satans. Das römische Reich wurde somit zum Schutz vor der Apokalypse.51 So lange jenes vierte Reich dauert, so lange ist die böse Macht aufgehalten – und darum sollte es lange dauern und (mit den zur Formel werdenden Worten aus Vergils Aeneis (I, 279) ein imperium sine fine sein. Die Passage aus dem 2. Thessalonicherbrief ist die Urstelle der Katechontik, der geschichtsphilosophischen und -theologischen wie politischen Theorie (und Praxis), der es um das Aufhalten (katechein) der Katastrophen, das Niederhalten des Bösen und das Herauszögern des Zusammenbrechens dieser Welt und dieser Zeit geht, um Apokalypsevermeidung. Diese Katechontik verbindet sich vor allem mit all dem, was da mitklingen muss, mit Carl Schmitt.52 Nun wird deutlich, warum das Danielbuch als im römischen Reich kulminierender „Fahrplan der Weltgeschichte“ von einer antiimperialen Kampfschrift zum biblischen Unterpfand der Fortdauer dieses Imperiums mutierte. Darum 51 Hier bahnt sich der Verstehenswechsel des Wortes „Apokalypse“ an, das von „Offenbarung,

Enthüllung, Aufdeckung“ (so in Offb 1,1) zum heute üblichen Begriff für eine Katastrophe größten Ausmaßes mutierte. Die Gleichsetzung von Apokalypse und Katastrophe ist in den Medien üblich. Wenn andere Worte zur Beschreibung eines Unglücks fehlen, spricht man von „einer Katastrophe von apokalyptischem Ausmaß“. Sie kann aber auch ebenso bedacht wie hellsichtig gezogen werden. So ist es in Francis Ford Coppolas Film „Apocalypse now“ über den Vietnamkrieg und vor allem in Günther Anders’ Diagnose der „ApokalypseBlindheit“ (u. a. in Ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 61983, bes. 233–324; vgl. auch Ders., Mein Judentum, in: Bernhard Lassahn [Hrsg.], Das Günther Anders Lesebuch, Zürich 1984„ 234–251, zuerst in Hans-Jürgen Schulz [Hrsg.], Mein Judentum, Stuttgart 1978). Für Anders geht es heute im Unterschied zur einstigen apokalyptischen Erwartung, welche ein Hoffnungspotenzial enthielt, um „eine nackte Apokalypse, d. h. die Apokalypse ohne Reich“ (Ders., Die atomare Drohung [4. Aufl. von: Endzeit und Zeitende“, 1959], München 1983, 207), mithin um ein Ende, dem kein Gericht, keine Gnade und kein neuer Anfang folgt. 52 Dazu Ebach, Zeit, bes. 85f.

WELTREICHE UND (K)EIN ENDE

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musste das römische Reich andauern und sich in Byzanz, in Aachen, in Wien, in Moskau und auch in Washington fortsetzten.53 Das ist ein Grund für den Primatsanspruch Roms in der Geschichte der Kirche, deren katholisches Oberhaupt den Priestertitel „Pontifex maximus“ beerbt, den schon Caesar trug. Das ist ebenso der Grund der Fortdauer Roms im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“, in Moskau als dem „Dritten Rom“ wie in den USA als Erben Roms.54 Aus der apokalyptischen Zeitansage – modern formuliert: „Es ist 5 Minuten vor 12“ – wurden unter veränderten Interessen die Jahrhunderte der Imperien; aus der biblisch verbürgten Hoffnung, dass es nicht immer so weiter gehe, wurde in neuer Lektüre die biblisch verbürgte Gewissheit, dass die Welt bestehe, solange das römische Reich bestehe.55 So wird deutlich, warum ‚Daniel’-Wilhelm in Metz, das Anfangsbild dieser Blicke auf die translatio imperii zwar am Danielbuch selbst, aber nicht an seiner wirkmächtigsten Lektüregeschichte vorbei geht. Weltreiche und (k)ein Ende! Am Ende steht Daniel für die biblische Legitimation des Imperialismus – z. B. Wilhelm II. als Daniel. Wer darauf einen Cognac braucht, mag beherzigen, dass der Bildhauer, auf den die Gestaltung Daniels als Kaiser Wilhelm zurück geht, D u j a r d i n hieß. Vielleicht reicht ein Dujardin nicht. Die spätere Ernüchterung soll gleichwohl nicht in Fatalismus münden. Es kommt darauf an, das Ferment subversiver Apokalyptik zu bewahren, ohne sie zum Fahrplan der Geschichte zu erheben. Damit es weiter geht, darf es nicht immer so weiter gehen.

53 Diese Linien hat Richard Faber in vielen Arbeiten herausgearbeitet, u. a. in Ders., Die Ver-

kündigung Vergils. Reich – Kirche – Staat (AWTS 4), Hildesheim 1975; Ders., Roma Aeterna. Zur Kritik der „Konservativen Revolution“, Würzburg 1981; Ders., Das ewige Rom oder: die Stadt und der Erdkreis. Zur Archäologie „abendländischer“ Globalisierung, Würzburg 2000. 54 Auch dazu ein sinnfälliges Beispiel: Eines der Motti auf der Rückseite des Siegels der USA lautet „novus ordo seclorum“ und ist damit ein deutlicher Rekurs auf Vergils 4. Ekloge (Z. 5–8: Ultima Cumaei venit iam carminis aetas;∥ magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.∥ iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna,∥ iam nova progenies caelo demittitur alto). Die von Vergil verkündete Ankunft einer neuen Weltzeit als in den USA realisiert wird nicht nur im Staatssiegel feierlich bekundet, sie prägt auch alltäglichste Geschäfte: Das Motto „novus ordo seclorum“ findet sich seit 1935 auch auf der Ein-Dollar-Note. 55 Die Kontinuität schließt das „heidnische“ Rom ein. Auf den Ehrwürdigen Beda, einen englischen „Kirchenvater“ des 8. und 9. Jh., der als erster für das Amphitheatrum Flavium den Namen Colosseum verwandte, geht die Sentenz zurück: „Quamdiu stabit Colysaeus stabit et Roma,∥ quando cadet Colysaeus cadet et roma,∥ quando cadet Roma cadet et mundus.“