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German Pages 64 Year 1882
EIN LEHRPLAN FÜR DEN
DEUTSCHEN UNTERRICHT IN DER
PRIMA HÖHERER LEHRANSTALTEN VON
DR. OTTO
SCHNEIDER,
GYMNASIALLEHRER IN KÜ8TRIN.
BONN, EDUARD WÉBER'S VERLAG. (JULIUS FL1TTNER.)
1881.
INHALT. Die Grundsätze .
,
Der Lehrplan I. Das Lessing-Semester
Seite
5—21
„
22—64
„
22—33
II. Das Goethe-Semester
34—42
III. Das Schiller-Semester
42—55
IY. Das Shakespere-Semester
55—64
Die Grundsätze. „Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu thun". Mit diesem Worte wird mancher Leser geneigt sein auch vorliegendes Schriftchen zu begrüssen. Aber es ist eben Pflicht der Kärrner, sich zum Thun aufzuraffen, nachdem L a a s gebaut hat, und eifrige Kärrner sind diesem sehr nötig. Denn es ist unglaublich, welch eine Meinungsverschiedenheit noch heute in den weitesten Kreisen über die materiale und formale Aufgabe des deutschen Unterrichtes herrscht. Auch n a c h dem Erscheinen der beiden berühmten Laas'schen Werke gehört es nicht zur Unmöglichkeit, dass einem und demselben Lehrer von der e i n e n Seite der Wink gegeben wird, den Schülern möglichst viel, und sei es ein Semester hindurch, aus K l o p s t o c k s M e s s i a s vorzulesen, dass ihm dagegen von a n d e r e r Seite eine möglichst ausgedehnte S h a k e s p e r e - L e c t ü r e dringend ans Herz gelegt, von der d r i t t e n wiederum geltend gemacht wird, Shakespere g e h ö r e e i g e n t l i c h g a r n i c h t auf die Schule; nicht nur schwierigere Themata über Hamlet, sondern auch leichtere, z. B. über die Einheit im Julius Cäsar, seien für die Abiturienten-Prüfung ungeeignet, Shakespere sei eben ein Kind seiner Zeit, und einem Abiturienten fehle das Verständnis für diesen Dichter. Eine auf Laas'schen Grundsätzen fussende Behandlung der Wallenstein-Trilogie während der zwei wöchentlichen Stunden eines Semesters in Secunda und die sorgfältige Auswahl der Aufsatzthemata im Anschlüsse an diese umfangreiche Leetüre findet vielleicht noch heutzutage durchaus nicht allgemeine Billigung, dürfte als ermüdend und einseitig bezeichnet werden. Während an der e i n e n Stelle die Einreichung a l l g e m e i n e r e t h i s c h e r T h e m a t a keinen Widerspruch erfährt, wird an einer a n d e r e n die Streichung derselben verlangt. Noch heutzutage erregt vielleicht mancher deutsche Lehrer, sobald er die Schüler auch im Deutschen zur Privatlectüre heranzuziehen wagt, das Erstaunen von Männern, welche bei zehn Stunden lateinischen Unterrichtes noch recht viel Zeit für die Privatlectüre im Cicero und Livius beanspruchen. Zwei Stunden erachten ja diese oft als vollkommen ausreichend für das Deutsche in Secunda; ein Übriges sei schon gethan, indem man der Prima drei Stunden zugestanden habe, die sogenannte deutsche Privatlectüre könne, ftlglich unterbleiben. Aber andererseits ereignet es sich auch, dass N e u s p r a c h l e r mit gleich einseitiger Be-
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geisterung für i h r e n Gegenstand die Bedeutung des deutschen Unterrichtes dem Französischen und Englischen gegenüber alles Ernstes heruntersetzen oder überhaupt in Zweifel ziehen. Wenn ich auf solche Tbatsachen hinweise, glaube ich Genügendes zur Entschuldigung dafür beigebracht zu haben, dass ich mich als „Kärrner" auch einmal zum „Thun" angeregt fühle. Die Arbeit ist gar nicht so leicht, wie es manchem im Hinblick auf Laas scheinen möchte. Dieser Mann hat einen solchen Reichtum des Materials angehäuft, dass der geringere Kopf immer noch Mühe und Not hat, sich einen w o h l g e o r d n e t e n , m e t h o d i s c h forts c h r e i t e n d e n , s y s t e m a t i s c h a b g e r u n d e t e n L e h r p l a n für die Prima zusammenzustellen; und der eine oder andere Amtsgenosse, welcher es nicht über sich gewinnen kann, seine ganze Freizeit den Vorbereitungen für den deutschen Unterricht und den Correcturen zum Schaden seiner wissenschaftlichen Privatthätigkeit zuzuwenden, nimmt vielleicht diese Blätter als ein zeitersparendes Hülfsmittel wenigstens nicht minder dankbar hin, als die Flut von Dispositionen, welche sich jetzt, namentlich in Programmen, an die Öffentlichkeit drängt. Es wird mir verziehen werden, wenn ich als Gymnasiallehrer bei dem folgenden Entwürfe in erster Linie d a s G y m n a s i u m berücksichtige. Bestreiten es mir ja auch nur wenige, dass Schriften wie Lessings Laokoon und Hamburgische Dramaturgie auf dem Gymnasium mit mehr Gründlichkeit gelesen werden, als auf der Realschule. Aber mein liberaler Standpunkt diesen höheren Bildungsanstalten gegenüber bekundet sich schon darin, dass ich ein ganzes Semester nach S h a k e s p e r e benenne, und dass ich wiederholentlich auf die Berücksichtigung französischer Klassiker aufmerksam mache. Ich glaube daher a l l e n A n s t a l t e n , die eine h ö h e r e a l l g e m e i n e B i l d u n g , d. h. freie Sittlichkeit und Wahrheitsliebe, Verstandesschärfe und gründliche Kenntnisse in den für den Menschen wissenswertesten Gegenständen erstreben, etwas Brauchbares zu bieten. Die Aufgabe des deutschen Unterrichtes ist zunächst eine m a t e r i a l e , d. h. d i e S c h ü l e r s o l l e n e i n e R e i h e v o n S c h r i f t e n a u s der d e u t s c h e n L i t e r a t u r k e n n e n l e r n e n u n d e i n e n E i n b l i c k in d i e E n t w i c k e l u n g der l e t z t e r n gewinnen. Sodann sollen sie die wichtigsten Begriffe aus der P o e t i k , aus der P s y c h o l o g i e und L o g i k aufnehmen. Der Gewinn einiger Sätze aus der R h e t o r i k und S t i l i s t i k ist dabei kaum zu vermeiden; und wenn der Schüler bei so beschaffenem Stoffe zugleich seine e t h i s c h e n Vorstellungen, wie sie ihm der Confirmanden- und Religionsunterricht mitgab, der Unterricht in der deutschen, in den fremden
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Sprachen und in der Geschichte ohne weiteres bereicherte, die Privatlecttire und Erziehung beständig vermehrte, wenn er diese, sage ich, in der Prima des Gymnasiums zu einem gewissen Abschlüsse zu bringen und bis zu einem gewissen Grade systematisch durchzubilden Gelegenheit findet, so kann meines Erachtens gegen diese Aufnahme eines e t h i s c h e n Materials auch niemand von Rechts wegen etwas einwenden. Aber Grundlage dieses m a t e r i a l e n Unterrichtes ist und bleibt d i e d e u t s c h e L i t e r a t u r und i h r e G e s c h i c h t e . Diese muss (und sie gestattet es ohne Zwang) zu Gunsten d e r P s y c h o l o g i e , der P o e t i k und S t i l i s t i k , a l s o d e r Ä s t h e t i k , ferner d e r E t h i k , und endlich d e r L o g i k und R h e t o r i k ausgebeutet werden. Da hätten wir denn aber sofort wieder jene Anhäufung des Stoffes, welche in pädagogischen Kreisen und im Publicum den Vorwurf der Uberhebung und Uberbürdung hervorruft! Und doch bezeichnete ich gerade die Einschränkung als meine Hauptaufgabe! T r e n d e l e n b u r g sprach sich in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ungefähr dahin aus: Ihm komme es darauf an, die Zuhörer mit den v i e r K l a s s i k e r n der Philosophie, Piaton, Aristoteles, Spinoza und Kant vertraut zu machen. Ihre Kenntnis sei das wahrhaft Bildende in der Geschichte der Philosophie. — Wer das zugiebt, wer da anerkennt, dass das Leben und Schaffen des Genius die eigentlich fördernde und ergreifende Bildungskraft besitzt, dass die fleissige Vertiefung in wenige geniale Werke von grösserem Werte ist als das vielgeschäftige, oberflächliche Aufnehmen der grossen Massen des weniger Bedeutenden, der wird nichts einwenden, wenn ich in aller Kürze sage: d i e v i e r P r i m a - S e m e s t e r können wir bezeichnen als das L e s s i n g - , d a s G o e t h e - , d a s S c h i l l e r - u n d das S h a k e s p e r e - S e m e s t e r . Alles übrige aus der deutschen Literatur hat sich um diesen Stoff zu gruppieren und sich ihm unterzuordnen. Wenige Stunden zu Anfang des literarhistorischen Teiles jedes Semesters müssen genügen, die Schüler in den rechten Zusammenhang zu versetzen, ein kleiner Teil, etwa zwei Wochen, mögen am Schlüsse für die Besprechung beachtenswerter Nebensonnen aufgespart bleiben, fortlaufende Wiederholungen, vielleicht wöchentlich zu Anfang einer Stunde, etwa nach den Tabellen von Werner Hahn, sollen die Grundzüge des sich immer lebensvoller gestaltenden Bildes sichern. Dass ich aufShakespere nicht verzichten will, wird mir der gewiss nicht verübeln, der junge Männer von ungefähr neunzehn Jahren nicht in' völliger Unkenntnis des grössten Dramatikers, eines wahrhaft internationalen Dichters, von einer höheren Bildangsanstalt in die Welt geschickt sehen möchte.
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Das M e t h o d i s c h e u n d S y s t e m a t i s c h e dieser materialen Grundlage ist unverkennbar. Das Lessing-Semester liefert, besonders mit dem Laokoon und der Hamburgischen Dramaturgie, die unerlässliche Grundlage für alle weitere, einigermassen gesicherte ästhetische Beurteilung. Ohne Laokoon und Hamburgische Dramaturgie keine ästhetische Kritik! Goethe und Schiller stehen in ihrem ganzen Schaffen aufLessings Schultern. Schillers Fortbildung Lessing'scher Anschauungen, seine Bereicherung unseres ganzen Gedankenkreises schliessen sich in folgerechter Weise an und lassen sich nach solcher Vorbereitung bewältigen. Die Shakespere'sche Kunst, nunmehr mit geübtem und geschärftem Blick in ihren tiberwiegenden Vorzügen und erklärbaren Mängeln gewürdigt, bildet den Höhenpunkt dieses so angelegten literarischen Cursus. Andere Erscheinungen der deutschen Literatur können nur nach Massgabe der Zeit soweit berücksichtigt werden, als sie zu jenen Heroen in näherer Beziehung stehen und aus ihrer Betrachtung zugleich ein helleres Licht auf jene zurückstrahlt. Die Behandlung der mittelhochdeutschen Poesie, welche sich ja auch in Secunda auf die Nibelungen, Gudrun, kleinere Abschnitte Hartmanns von der Aue und auf die Gedichte Walthers von der Vogelweide beschränken muss, wird sich in denselben Grenzen bewegen; aus der Neuzeit werden nur in einigen Stunden Klopstocks Messias und Oden, Teile aus Herders ästhetisch-kritischen Schriften und seine Stimmen der Völker, aus der bis auf unsere Tage reichenden Epigonenzeit nur etwa einige Dramen Kleists, die schönsten Erzeugnisse der Lyrik, namentlich Uhlands und Rückerts, schliesslich Freytags historische Romane zu eingehenderer Besprechung und Bearbeitung herangezogen werden. Innerhalb dieses Feldes dem Schüler gediegene Kenntnisse beizubringen, damit könnte sich der Lehrer des Deutschen durchaus begnügen. Auf f r e m d s p r a c h l i c h e Erscheinungen braucht er sich nur dann einzulassen, wenn es durch jene deutschen Werke geradezu geboten wird. So sind aus der g r i e c h i s c h e n Literatur die Homerische Epik und einige Sophokleische Dramen, aber auch nur diese, nicht zu umgehen; aus der l a t e i n i s c h e n Literatur ist nur bei Gelegenheit des Laokoon Vergils Beschreibung vom Schilde des Aeneas und etwa bei Gelegenheit des Schiller'schen Aufsatzes »über naive und sentimentalische Dichtung" die Horazische Poesie in den Kreis des deutschen Unterrichtes zu ziehen. Ein unverkennbarer Vorteil ist es, wenn der Lehrer des Deutschen, dessen Gebiet doch vor allem die deutsche Dichtkunst ist, zugleich dem Unterricht in der eben erwähnten altklassischen Poesie zu erteilen hat. Diese Vereinigung ermöglicht eine viel fruchtbarere
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Behandlung jener alten Dichter; denn sie werden den Schülern unter den literarhistorischen und ästhetischen Gesichtspunkten des deutschen Unterrichtes in einem viel freundlicheren Lichte erscheinen, als wenn sie, wie noch jetzt oft geschieht, einseitig mit grammatischen und streng philologischen Vorstellungsmassen appercipiert werden. Die e n g l i s c h e Literatur ist durch Shakespere glänzend vertreten» aus der f r a n z ö s i s c h e n finden die in Lessings Hamburgischer Dramaturgie berührten und die von Goethe und Schiller bearbeiteten Werke, auch Molieres Komödien schuldige Beachtung. P o e s i e ist P s y c h o l o g i e ; mit dem Studium der ersteren wachsen unmittelbar die Kenntnisse in der letzteren. Die Psychologie ist noch so wenig zu einem Abschlüsse gelangt, ist noch so sehr in stetiger Umbildung begriffen, muss sich in den Hauptsachen so sehr mit Hypothesen begnügen, dass dem Gymnasium hier am bereitwilligsten dieEntwickelung eines Systems nach s y n t h e t i s c h e r M e t h o d e erlassen werden kann. Dagegen kann gerade von dem deutschen Unterrichte nach der Beschaffenheit seines Materials durchaus eine p r o p ä d e u t i s c h e Vorbereitung auf die Psychologie nach a n a l y t i s c h e r Methode verlangt werden; denn das Studium von Charakteren aus den Musterdramen unserer vier Klassiker, ein Studium, welches ja auch die Grundlage für alle weitere ästhetische Beurteilung hinsichtlich der künstlerischen Composition abgeben muss, dieses bahnt in der anschaulichsten Weise die Kenntnis der menschlichen Seele an. Auf diesem Wege werden sich am besten einige Sätze über die stufenweis aufsteigende Bedeutung der Sinne, über die Grundeigenschaften des Seelenlebens, Erkennen, Fühlen und Wollen, über deren compliciertes Ineinandergreifen, über den Mechanismus der Vorstellungsmassen, über die Natur der höheren und niedrigeren Gefühle, über die Natur der Phantasie, des Gewissens und anderes mehr den Schülern zum Verständnis bringen lassen. Eine sehr wertvolle Ergänzung wird dieser durch das Studium dichterischer Werke gewonnene Einblick in das Wesen der Seele besonders durch die Leetüre jener Schiller'schen Aufsätze erfahren, in welchen der Gegensatz des Natur- und Sittenmenschen so klar und beredt dargelegt wird. Keine philosophische Disciplin kann psychologischer Lehrsätze gänzlich entraten. Selbst K a n t nennt Hermann Cohen (Kants Theorie der Erfahrung) mit Bezug auf sein kritisches Hauptwerk „den grossen Psychologen der reinen Vernunft". Die möglichst vollständige Zusammenstellung der von ihm entdeckten apriori'schen Anschauungsund Verstandesfunctionen wird nicht sowohl durch kühne Speculation
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als vielmehr durch sorgfältige psychologische Untersuchungen — ich rechne dahin auch die von Bona Meyer in „Kants Psychologie" charakterisierte Selbstbesinnung und Selbstbeobachtung — gefördert. Und so beruht auch die Ä s t h e t i k , in Sonderheit d i e P o e t i k , auf der Psychologie. Der Einblick in den tiefsten Seelengrund eines dramatischen Helden und in die daraus entspringenden seelischen Vorgänge bewirkt vor allem die Einsicht von der Berechtigung der ästhetischen Forderung d e r E i n h e i t . Aber auch andere wichtige Merkmale im Begriffe des Schönen werden am leichtesten aus der gründlichen Betrachtung poetischer Musterwerke wiederum auf analytischem oder inductivem Wege gewonnen. Dass das Schöne und die Darstellung desselben durch die Kunst im wesentlichen etwas Ideales, nicht rein Reales oder Materielles ist, diese Grundlehre der Ästhetik ergiebt sich aus der Betrachtung jedes echten Kunstwerkes, besonders aber aus der Vergleichung der gebotenen Dichtungen mit den entsprechenden Geschichtswerken und kann dem Schüler um so leichter zum Bewusstsein gebracht werden, als in der Wallenstein-Trilogie und in der Geschichte des dreissigjährigen Krieges Dichter und Geschichtsschreiber dieselbe Person ist. Zur Beleuchtung der Natur des Schönen und Erhabenen müssen ferner die bezüglichen Schiller'schen Aufsätze in ihren unanfechtbaren Teilen verwertet werden. D i e H a u p t b e g r i f f e der P o e t i k : Epik, Lyrik, Dramatik, Tragik, Komik, Volks- und Kunstpoesie, festzustellen, die Didaktik als eine Abart zu erkennen, den Gegensatz von antik und modern zu erfassen, dazu bietet unser Stoff dauernde Veranlassung. Beide Untersuchungsmethoden, die analytische sowie die synthetische, müssen und können gerade hier — und auf diesen f o r m a l e n Gewinn komme ich später zurück — nebeneinander geübt werden. Den ersten mehr analytischen Bestimmungsversuchen in früheren Semestern werden mehr synthetische in reiferen Stadien zu folgen haben. Unter die Ä s t h e t i k fällt auch d i e S t i l i s t i k , die Lehre von der zweckgemässen und schönen Darstellung. Eine systematische Durchnahme dieser Disciplin bringt geringen Nutzen, abgesehen davon, dass sich, wenigstens nach meiner Erfahrung, keine Zeit dazu findet, wollte man auch nur das kleine Hoffmann'sche Lehrbuch zu gründe legen. Man verfährt weit vorteilhafter, wenn man die stilistischen Gesetze gelegentlich bei der Leetüre und bei der Rückgabe der Aufsätze erklärt. Nicht nur der deutsche, sondern auch der fremdsprachliche, namentlich der altklassische Unterricht sehen sich dazu fortdauernd gezwungen und steuern hierin einem gemeinsamen Ziele zu. Die klassischen Dichter eines Volkes sind zugleich P h i l o s o p h e n ,
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sie haben von jeher den besten und edelsten Gedankengehalt ihres Zeitalters in der schönsten und einschmeichelndsten Form zum Ausdruck gebracht. Selbst bei einer Naturkraft wie Shakespere hebtGervinus die merkwürdige innere Verwandtschaft mit Baco von Yerulam hervor; bei Lessing, Goethe und Schiller zweifelt kein Verständiger an der Thatsache, dass sie die heiligen Priester für die köstlichsten Lehren deutscher Philosophie, besonders der Ethik sind (vgl. Joh. Witte, die Philosophie unserer Dichterheroen. 1. Band, Bonn bei Weber 1880). Die P o e s i e studieren heisst also unmittelbar E t h i k treiben, und man treibt sie um so gründlicher, je tiefer man sich psychologisch in das innerste Geistesgetriebe der poetischen Gestalten versetzt. So wird durch den Stoff der deutschen Literatur auch der Stoff für die Ethik gereicht. Nicht sollen literarhistorische, psychologische, ästhetische, womöglich auch noch logische und rhetorische Betrachtungen i n w i r r e m D u r c h e i n a n d e r angestellt werden — die Vermischung der Wissenschaften stiftet bekanntlich nicht Nutzen, sondern Schaden —; wohl aber sollen n a c h e i n a n d e r die Materialien der einzelnen Disciplinen zu Gunsten der Allgemeinbildung unseres Zöglinges zusammengetragen und kunstvoll aufgebaut werden. Jede Dichtung birgt eine s i t t l i c h e W a h r h e i t in sich. Wie oft werden uns Erwägungen über die wichtigsten Begriffe der Pflichten-, Tugend- und Güterlehre durch Dichterworte geradezu aufgezwungen! Vom Sänger selbst erfahren und aus dem Innersten herausgestaltet, sei es als subjectiver, lyrischer Erguss, sei es in objectiver, epischer oder dramatischer Einkleidung, lassen sich solche goldenen Körner höchster Weltweisheit zu ganzen Themencomplexen aufhäufen, um den im Wachstum begriffenen Geist über den Unterschied natürlicher und sittlicher Triebfedern,- über Pflicht, Gesetz, Gewissen, über die höhere sittliche Selbstzucht und Selbstbeherrschung, über die allgemeinen sittlichen Grundeigenschaften der Herzensreinheit und Herzensgüte, im gleichen über die einzelnen Tugenden, Gerechtigkeit, Billigkeit, Gehorsam, Treue, Dankbarkeit, Massigkeit, Tapferkeit u. s. w., endlich über die Idealgüter der Ehre, des Vaterlandes, der Gesetze, der Wissenschaften und Künste sowie überhaupt über die Ziele jeder sittlich motivierten Thätigkeit aufzuklären. Endlich d i e L o g i k ! Hier dürfen wir uns nicht, wie in der Psychologie, Ästhetik, Ethik, Rhetorik und Stilistik, mit annähernder Vollständigkeit und weniger straffer Aneinanderreihung begnügen, sondern der Natur dieser Wissenschaft entspricht allein ein zusammenhängender, systematisch abgeschlossener Vortrag. Derselbe darf sich nicht in wöchentlich einstündiger Verschleppung über ein ganzes Se-
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mester hinziehen, sondern muss etwa in den ersten sechs Wochen der beiden Wintersemester in rüstigem Fortschritte beendigt werden. Wie aber die Logik aus allen Gebieten, in denen sich der Verstand mit seinen eigentümlichen Functionen bewährt, ihre Beispiele hernimmt und gerade dadurch die Stellung eines e i n h e i t l i c h - b i n d e n d e n A b s c h l u s s e s und H ö h e n p u n k t e s des ganzen Unterrichtes beansprucht, so darf es ihr selbstverständlich nicht versagt bleiben, auch in der deutschen Literatur das Material zur Veranschaulichung ihrer wichtigsten Gesetze für die Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss aufzusuchen. Natürlich bieten hier die prosaischkritischen Schriften, z. B. Lessings Abhandlungen über die Fabel, den geeigneteren Tummelplatz; aber auch die psychologischen, ästhetischen und ethischen Untersuchungen dürfen sich dem scharfen Blicke des Logikers nicht entziehen, erhalten vielmehr erst unter solcher Kritik ein deutlicheres wissenschaftliches Gepräge. Mit der Logik wird dem Schüler zu gleicher Zeit das wichtigste Kapitel der R h e t o r i k vorgetragen; denn bei allem Nachdenken über irgend einen Gegenstand aus dem genus rationale kommt es doch immer wieder auf d e n B e g r i f f n a c h I n h a l t und U m f a n g , auf d i e B e w e i s f ü h r u n g und W i d e r l e g u n g an. Wer über die Bedeutung des Quid, Cur und Contra von Seiten der Logik gehörig unterrichtet ist, für den sind die übrigen im System der Rhetorik aufgezählten Vorschriften ein zwar nicht nutzloses, aber entbehrliches Beiwerk für d i e i n v e n t i o . Für d i e d i s p o s i t i o können nur wenige allgemeine Regeln mit wahrem Nutzen entwickelt werden. Es ist besser, dass wenige rhetorische Vorschriften gelehrt und an zahlreichen Beispielen geübt, als dass ein System aller rhetorischen Gesetze vorgetragen und nur an wenigen Beispielen praktisch verwertet wird. Soweit über die m a t e r i a l e Seite des deutschen Unterrichtes in Prima! Damit ist aber auch schon angedeutet, in welcher Weise dieser Unterricht d i e f o r m a l e A u f g a b e der höhern Bildungsanstalt, die allgemeine Übung und Schulung des Geistes, zu erfüllen hat. Jemehr sich eine Wissenschaft der Mathematik, ihrer Sicherheit und Schärfe im Unterscheiden des Wahren, Zweifelhaften und Falschen, ihrer Folgerichtigkeit und systematischen Vollständigkeit annähert, ein um so grösseres Mass formaler Bildungskraft ist in ihr enthalten; und in dem Grade, in welchem das im Vorstehenden gekennzeichnete Material einer"wissenschaftlich tüchtigen Bearbeitung fähig ist, in demselben ist zugleich der Geist gekräftigt, geschult und gefördert. Unser Stoff ist aber in der That ein so reichhaltiger, dass der deutsche Lehrer die gewiss öfter gestellte Zumutung ablehnen muss,
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denselben etwa durch Ciceronische Reden oder griechische und römische Geschichte zu erweitern. Dergleichen Anforderungen namentlich altklassischer Philologen oder Historiker können als berechtigt nicht anerkannt werden. Der dreistündige deutsche Unterricht ist nicht dazu da, dem Zehnstundenlatein, überhaupt der alten Philologie mit ihrem „grossen Magen" Handlangerdienste zu leisten. Wieweit ein Eingehen auf lateinische, französische, englische, namentlich aber auf griechische Stoffe im Interesse der materialen Seite des Unterrichtes, im Interesse der vollen Gründlichkeit und Wissenschaftlichkeit nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten ist, das habe ich schon oben angedeutet. Aber zugleich mit dieser stofflichen Erweiterung unseres zunächst deutschen Feldes ist auch der etwa nötige Spielraum für formale Übungen gewährt; Uber diese Grenzen wird nicht hinausgegangen. Es kommt nun noch darauf an, meine Ansicht über die möglichst fruchtbare Gestaltung dieser f o r m a l e n Thätigkeit des deutschen Unterrichtes auszusprechen. Zuvörderst bietet d i e K l a s s e n - u n d P r i v a t l e c t ü r e in der deutschen Literatur reichlich Gelegenheit zur Denkgymnastik, besonders wenn der Schüler zu r e g e l m ä s s i g e r A u f z e i c h n u n g des Gelesenen in eigens dazu angelegten Heften angehalten wird. Die Auszüge müssen die Disposition prosaischer Schriften bei aller Kürze möglichst klar hervortreten lassen, den Entwicklungsgang der Dichtungen, vornehmlich den Verlauf einer dramatischen Handlung in seinen einzelnen Stadien möglichst sorgfältig verfolgen. Alles das soll sich später dem Schüler als wertvolles Material für die Aufsätze fühlbar machen. Nachdem so durch den literarischen Stoff ein reicher Gedankengehalt erworben ist, schliessen s i c h g e m e i n s c h a f t l i c h e D i s p u t i e r ü b u n g e n und k ü r z e r e V o r t r ä g e über mannigfaltige Punkte der oben aufgeführten Disciplinen an. Der Lehrer stellt zu dem Behufe entweder einzelne Themata oder auch Themencomplexe, deren Glieder ineinander greifen und sich zu einer annähernd vollständigen Bearbeitung eines bestimmten Gedankenkreises ergänzen. Nach den Vorträgen der Schüler und nach der sich anschliessenden Debatte giebt der Lehrer eine Vorzüge und Mängel der einzelnen Leistungen hervorhebende Beurteilung. Erst nach der gründlichen Besprechung des gelesenen Stoffes und nach solchen rhetorischen Uebungen darf zum d e u t s c h e n A u f s a t z e geschritten werden; erst so ist die Gefahr einigermassen verringert, dass der Schüler, aus Bequemlichkeit und aus Mangel an aller Vertrautheit mit dem zu behandelnden Stoffe, von vorn herein zu fremder Hülfe und zu allerlei Kunststücken greift. Ist ihm doch Stoff und Behandlungsweise so bestimmt durch die
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Klassenbesprechung vorgezeichnet, dass ihm ein einfaches Abschreiben aus anderen Quellen als ein bedenkliches Wagnis erscheinen muss. Verlangt z. B. der Lehrer nach Verlauf von vier Wochen auf Grund der Leetüre und Besprechung des Tasso die Bearbeitung des Themas: Wie ist über die beiden Grundsätze „Erlaubt ist was gefällt" und „Erlaubt ist was sich ziemt" zu urteilen?, so wird er etwa acht Tage nach der Aufgabe des Aufsatzes jene vorbereitenden rhetorischen Übungen über die Themata ansetzen: Wodurch verschuldet Tasso seinen tragischen Fall? und: Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. — Soll Goethes Ausspruch in dem Gedichte Ilmenau: „Der kann sich manchen Wunsch gewähren, Der kalt sich selbst und seinem Willen lebt; Allein wer andre w o h l zu leiten strebt, Muss fähig sein viel zu entbehren" in dem Aufsatze besprochen werden, so schickt man rhetorische Übungen über die Goethe'schen Worte voraus: „Wer ist ein unbrauchbarer Mann? Der nicht befehlen und nicht gehorchen kann", — ferner über die Bemerkung in Goethes Tagebuche: „Niemand als wer sich ganz verleugnet, ist wert zu herrschen und kann herrschen" — endlich über das Xenion: „Immer strebe zum Ganzen und kannst du selber kein Ganzes Werden, als dienendes Glied schliess an ein Ganzes dich an!" Auf diese Weise wird die zu dem Aufsatzthema gehörige Vorstellungsmasse gegeben; es bedarf keines allzu schweren Nachdenkens, um dasjenige, was über den unbrauchbaren Mann, den würdigen und fähigen Herrscher und die Notwendigkeit der Unterordnung unter ein Ganzes in den rhetorischen Uebungen festgestellt ist, auf den Egoisten in den ersten beiden Versen des Aufsatzthemas und auf den guten Leiter in den beiden letzten zu übertragen, damit die Richtigkeit des schönen Wortes bewiesen werde. Man wählt natürlich nicht sich vollständig deckende Themata zur Vorübung aus; das hiesse auf plumpe Art dem Schüler die Eselsbrücken in die Hände spielen; wohl aber sollen ä h n l i c h e und v e r w a n d t e Gedankenkreise über die Schwelle des Bewusstseins gehoben werden, so dass mit einiger Selbstthätigkeit eine Verwendung für das Aufsatzthema möglich ist. Der folgende Lehrplan wird eine grössere Zahl solcher sich bedingenden Themencomplexe nicht bloss auf ethischem, sondern auch auf den übrigen Feldern vorschlagen. Auf diese Weise können auch die für die A b i t u r i e n t e n p r ü f u n g eingereichten Themata v o r b e r e i t e t werden.
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Aber was wird der Primaner mit so allgemeinen und abstracten Themen, wie die genannten für die rhetorischen Übungen und kurzen Vorträge anfangen können? Wie soll er den Stoff dazu auffinden? Zunächst muss — ich wiederhole es — der Stoff durch die Leetüre und deren Besprechung schon einigermassen nahegerückt sein. Niemals soll von dem Schüler etwas v ö l l i g F r e m d e s behandelt, von durchschnittlich mässiger Begabung g e n i a l e P r o d u c t i v i t ä t verlangt werden. Aber selbst wenn Leetüre und Besprechung das Material geliefert haben, sind auch dem aufmerksameren und begabteren Schüler einige Hülfsmittel nötig, um ein abstractes Thema zu bearbeiten. Nun bin ich zwar ein Feind jener namentlich im lateinischen Aufsatze beliebten und oft pedantisch festgehaltenen Schablone der Chrie. Auch nur drei Aufsätze, in denen die Gedanken in dieselbe Zwangsjacke gesteckt, über denselben Leisten gearbeitet erscheinen, können dem corrigierenden Lehrer ein recht fühlbares Unwohlsein erregen. Aber für die inventio sind und bleiben doch die Fragen Q u i d , Cur und d a s C o n t r a die unentbehrlichen Fundstätten, und der Unterricht in der Logik hat, wie schon erwähnt, die Wichtigkeit derselben nachdrücklichst zu betonen. Der Schüler muss recht oft darin geübt werden, auf Veranlassung d e s Quid die Merkmale der thematischen Begriffe zusammenzustellen, die Operationen der distinetio, descriptio und expositio (vgl. Hoffmanns Logik, S. 66!) vorzunehmen, um, wenn möglich, zur Definition zu gelangen. In gleicher Weise müssen die geistige Umsicht in der wenigstens annähernd vollständigen Aufzählung der Arten und Unterarten, der Scharfblick in ihrer Unterscheidung an vielen Beispielen ausgebildet werden. Sind so die Hauptbegriffe -nach Inhalt und Umfang durchforscht, dann muss eigentlich — denn die richtige Definition ist ja das letzte Ziel aller Erkenntnis — der Gegenstand völlig erfasst sein. Wer z. B. den Begriff der Freiheit und Sclaverei in Schillers Sinne auf Grund seiner philosophischen Schriften festgestellt hat, für den ist damit sofort die Berechtigung des Ausspruches erwiesen: „Vor dem Sclaven, wenn er die Kette bricht, Vor dem freien Menschen erzittert nicht!" Die Einsicht in das Cur fällt mit der Erkenntnis des Quid unmittelbar zusammen. Aber für den sich erst bildenden, in langen und mühsamen discursiven Denkacten fortschreitenden Verstand ist es doch von grosser Wichtigkeit, in der Handhabung der beiden Beweismethoden besonders geübt zu werden. Der Schüler muss nach den durch das Quid veranlassten ersten Plänkeleien an zahlreichen Fällen lernen, sowohl aus einzelnen Beobachtungen induetiv ein Ge-
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sammturteil bilden, als auch deductiv einzelne Urteile derart zu Schlussketten zusammenstellen, dass methodisch sicher vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Grunde zur Folge fortgeschritten wird. Nach der Erkenntnis des Freiheits- und Knechtschaftsbegriffes ergiebt sich also für das letzterwähnte Thema folgender Syllogismus gleichsam als Gerippe der ganzen Deduction: Freiheit ist die Beherrschung der egoistischen Natur des Menschen durch allgemein gültige und notwendige Vernunftgesetze. Nun aber ist das durch solche allgemein gültigen und notwendigen Vernunftgesetze geregelte Verhalten nicht schädlich, sondern nützlich. Folglich ist der freie Mann nicht zu fürchten. Ein gleicher Syllogismus wird über den Sclaven aufgestellt. Ist das Thema gegeben: „Des Lebens Mühe Lehrt uns allein des Lebens Güter schätzen," so ist zunächst das Quid hinsichtlich der Lebensmühe, des Lebensgutes und der Wertschätzung zu bestimmen. Man findet als Merkmal einer rechten Erkenntnis und Wertschätzung unter anderem die Vergleichung des Verschiedenen und Entgegengesetzten, den Einblick in die Entstehung, das Hervorgehen aus Erfahrung und Beobachtung, namentlich aus Selbsterfahrung und Selbstbeobachtung; man findet als Hinderungsgrund eben derselben Erkenntnis das gedankenlose Hinschlummern unter der Macht der Gewohnheit. Demnach ergeben sich etwa folgende Syllogismen: Der Mensch erkennt und schätzt um so richtiger, je leichter er die Dinge vergleichen und je schärfer er sie unterscheiden kann. Nun ist aber von dem glücklichen Zustande mit seinen Lebensgtitern der Zustand des Mangels an solchen Gütern und das Unglück verschieden oder sogar ihm entgegengesetzt. Folglich erkennt der Mensch sein Glück am besten im Vergleich mit dem möglichen Mangel und Unglück. Aus dem Merkmale des Einblickes in die Entstehung wird folgender Syllogismus gebildet: Je deutlicher jemand das Entstehen und Werden eines Gegenstandes zu erfahren Gelegenheit hat, desto besser erkennt er denselben. Nun aber bietet das mühsame Erwerben die beste Gelegenheit zu dem Einblick in die Entstehung und das Werden von Lebensgütern. Folglich gewährt des Lebens Mühe den besten Massstab für die Wertschätzung der Lebensgüter.
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In ähnlicher Weise lassen sich noch manche Schlüsse und auch Schlussketten zur synthetischen Entwickelung des Themas bilden, und das muss eben geübt werden. Der dritte unentbehrliche Topos ist d a s Contra; erst dann stellt sich bekanntlich, namentlich in anderen als mathematischen Dingen, unbedingte Gewisheit ein, wenn die Unmöglichkeit des Gegenteiles dargethan ist. Die sorgfältige und gewissenhafte Berücksichtigung des Contra hat aber nicht nur einen f o r m a l e n Bildungswert für den Verstand, sondern auch für den s i t t l i c h e n Charakter des Menschen. Der für die Wissenschaft heranzubildende Kopf soll eben von der Uberzeugung durchdrungen werden, dass es nicht nur logisches Gesetz, sondern auch human, gerecht und ehrenhaft ist, das entgegenstehende Urteil zu hören und zu prüfen. Wer das Contra geringschätzig behandelt, könnte überdies in Gefahr kommen, urteilslos für eine schlechte Sache eine Lanze zu brechen, z. B. für die Worte des Chores in der Braut von Messina: „Die Welt ist vollkommen überall, Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual." Mit diesen l o g i s c h e n O p e r a t i o n e n ist aber auch die grösste Masse des Stoffes aufgefunden; und nicht nur dies, sondern auch die Hauptsache f ü r d i e D i s p o s i t i o n geleistet. So ist z. B. in dem oben genannten Thema über Freiheit und Sclaverei durch jenen Syllogismus der Gedankengang des Aufsatzes im grossen und ganzen aufs beste vorgezeichnet. Kein Schreibender braucht sich zu scheuen, von dem streng logisch fortschreitenden und gewissenhaften Nachdenken sich den Weg für seine Gedankenentwickelung weisen zu lassen. Eine grosse Reihe a b s t r a c t e r N e b e n r e g e l n über die Disposition ist lästiges Beiwerk; und der in den Schulprogrammen vorherrschende Ausdruck „Disponierübungen" sollte billigerweise dem treffenderen „Inventionsübungen", oder wenigstens dem allgemeinen „rhetorische Uebungen" weichen, womit eben die Verwendung der logischen Sätze über den Begriff nach Inhalt und Umfang, Uber das Urteil und den Beweis gemeint ist. Das Quid, Simile, Paradeigmata und Testes werden mit Nutzen auch für die Auffindung des Stoffes, namentlich bei den Vorpostengefechten des Denkens beachtet; besonders weisen Quid und Paradeigmata auf die für die Induction notwendige Grundlage hin; auch begünstigt die Erörterung jener Topen unverkennbar eine anschaulichere und farbenreichere Behandlung der Themata und bewahrt vor der Gefahr einer hohlen und phrasenhaften Abstraction; aber der • 2
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Die Grundsätze.
Schüler muss immer von der Überzeugung durchdrungen sein, dass das Quid, Cur und Contra in den Kern der Sache dringen. Diese f o r m a l e Thätigkeit des deutschen Unterrichtes kann nun also auf den vorher abgesteckten fünf Feldern des zu lehrenden M a t e r i a l s in reichlichem Masse geübt werden. Das Natürlichste wäre, dass in jedem Semester aus jedem Zweige je e i n Thema für die schriftliche Bearbeitung ausgewählt würde, und zwar so, dass die fünf Aufsätze des Semesters, obgleich verschiedenen Disciplinen angehörend, doch zur Bildung eines möglichst zusammenhängenden und abgeschlossenen Gedankenkreises führen. Aber es genügt auch, wenn ein in die Logik fallendes Thema nur in den beiden diese Wissenschaft treibenden Wintersemestern in engem Anschlüsse daran und dafür in den Sommersemestern entweder aus der Literatur oder der Poetik oder der Ethik zwei Themata gestellt werden; denn die Psychologie ist auch zur Genüge bedacht, wenn ihr in jedem Semester ein Thema besonders angehört. Am geeignetsten fällt das Lessingund Schillersemester mit den schärfere Anstrengung des Verstandes erfordernden prosaischen Schriften in den Winter, dagegen das die Phantasie und das ganze Gemüt mehr anregende Goethe- und Shakespere-Semester in den Sommer. Den grössten und eigentlich den vollen Nutzen von dem nunmehr aufzuzeichnenden Lehrplane werden natürlich nur diejenigen Schüler haben, welche bei u n g e t e i l t e r Prima mit dem Lessing-Semester, bei g e t e i l t e r mit dem Lessingund Schiller-Semester in die betreffende Klasse treten. Aber sollen wir etwa deshalb, weil die Schule nicht allen alles bieten kann, darauf verzichten, einigen wenigstens das Beste darzureichen? Durch m ö g l i c h s t s o r g f ä l t i g e R ü c k b l i c k e muss und kann ja den von der Zeit weniger Begünstigten einigermassen Ersatz geboten werden. Auch dürfen natürlich die Aufsatzthemata n a c h dem j e d e s m a l i g e n S t a n d p u n k t e der e i n z e l n e n v i e r G e n e r a t i o n e n der Prima aus den zahlreichen offen stehenden Feldern so gewählt werden, dass die Bearbeitung durch die Klasse stets genügend vorbereitet ist. Auf alle Fälle ist eine ermüdende und Spott erweckende Wiederkehr allzu nahe verwandter Themata in dem ganzen Primacursus sorgfältig zu vermeiden. Der das Ganze überschauende Lehrer muss vielmehr ein beständiges Fortschreiten der Schüler von Aufsatz zu Aufsatz, von Semester zu Semester im Auge haben. In der R ü c k g a b e d e r A u f s ä t z e ist man wohl von unseligen Schlendrian, nach welchem die zuletzt abgegebene über das vorige Thema vor der schlafenden Klasse besprochen wenn die erste über das neue die Güte hatte einzulaufen,
jenem Arbeit wurde, überall
Die Grundsätze.
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zurückgekommen. Aber ein Wink über eine m ö g l i c h s t summar i s c h e B e h a n d l u n g a l l e r A r b e i t e n der g a n z e n K l a s s e möchte vielleicht manchem nicht unwillkommen sein. Ich pflege mir für jede Rückgabe einen Bogen in der Weise einzurichten, dass auf der linken Seite alle die Form betreffenden, auf der rechten die sachlichen Gesichtspunkte ihre Fächer zugewiesen erhalten. Auf der linken nehmen einzelne Columnen der Reihe nach die Bemerkungen auf, welche bei den einzelnen Arbeiten zum allgemeinen Nutzen über äussere Einrichtung, Orthographie, Interpunktion, Grammatik, über den Stil, und zwar nach drei Richtungen, der Schwerfälligkeit und Plumpheit, dem Schwulst und der Effecthascherei, der Nachlässigkeit und völligen Verkehrtheit, aufgezeichnet werden. Demnächst folgen die Columnen mit den allgemeinen den Inhalt betreffenden Notizen, d. h. mit den Bemerkungen über die logischen Schnitzer, namentlich im Gebrauche der Conjunctionen, aber auch in einzelnen Wendungen und in ganzen Gedankencomplexen. Daran reihen sich die Ausstellungen gegen die Disposition, ferner gegen die Einleitung, bei der ja bekanntlich zwei Fehler, Weitschweifigkeit und Trivialität, stereotyp sind. Dann hat der Lehrer nach den für jedes einzelne Thema vorteilhaften Gesichtspunkten in einer Reihe von Columnen die ärgsten Mängel und geschicktesten Griffe der einzelnen Schüler so anzumerken, dass mit der Erwähnung derselben zugleich die von ihm selbst für zweckmässig gehaltene Behandlung des Themas entwickelt werden kann. Endlich finden sich rechts eine Spalte mit den dem Schlüsse eigenen Fehlern und eine andere, welch« sich mit den möglichst wenigen Einzelnheiten und curiosen Dingen beschäftigt, die eben nicht in anderem Zusammenhange erörtert werden konnten. Die beste Arbeit wird zum Schlüsse vorgelesen, die schlechteste nur bei dringender Veranlassung einzeln besprochen. Die ganze Rückgabe aller Aufsätze darf höchstens zwei Stunden in Anspruch nehmen; daher wird man auch noch die in jeder Spalte untereinander stehenden Bemerkungen geschickt zusammenfassen müssen. Schema für die Correctur, z. B. des Aufsatzes über: „Die Menschen fürchtet nur, wer sie nicht kennt, Und wer sie meidet, wird sie bald verkennen." Alphons in Goethes Torquato Tasso, I 2. (Vgl. S. 36)
Die Grundsätze.
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Die Grundsätze.
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In dem nunmehr zu entwickelnden L e h r p l a n e ist die Reihenfolge der Disciplinen durch den Gedankengang bedingt, in welchem sie sich in den vorangeschickten grundlegenden t h e o r e t i s c h e n Betrachtungen aus den Rücksichten auf das Material ergab. Damit ist aber nicht etwa gesagt, dass in der P r a x i s der in jedem Semester zu behandelnde Stoff in derselben Reihenfolge bewältigt werden müsse. Im Gegenteil, ich habe schon betont, dass die unter Nr. 5 auftretende L o g i k wegen der Notwendigkeit eines systematischen und zusammenhängenden Vortrages in den A n f a n g der beiden WinterSemester zu stellen ist. Die an erster Stelle behandelte Literatur beherrscht, sei es als Privat- oder als Klassenlectüre, den g a n z e n Unterricht, von der ersten bis zur letzten Stunde, und die im Interesse der übrigen unter Nr. 2—4 aufgeführten Disciplinen anzustellenden Betrachtungen begleiten jene beständig auf diesem langen Wege. Jedoch ist in jedem Semester der Psychologie, der Ästhetik mit der Poetik, und der Ethik ein z u s a m m e n h ä n g e n d e r und s y s t e m a t i s c h e r Cursus von ungefähr je zwei Wochen zu widmen. Der Zeitpunkt wird am besten durch den jedesmaligen Standpunkt des literarischen Cursus bestimmt. Sobald derselbe eingetreten, dient der jenen Disciplinen zugestandene Aufsatz im Verein mit den dazu erforderlichen rhetorischen ÜbuDgen zur Entwickelung und Befestigung des unter 2—4 enthaltenen Materials.
Der Lehrplan. I. Das Lessing-Semester (Winter). 1.
Die Literatur.
In den ersten diesem Zweige gewidmeten Stunden wird der Schüler durch einen a l l g e m e i n e n U b e r b l i c k über die Entwickelung der deutschen Literatur in den rechten Zusammenhang versetzt. Die Darstellung muss so gehalten sein, dass alle Punkte deutlich in die Augen springen, an welchen Lessings bahnbrechende und reformatorische Thätigkeit anhebt. Bei allen diesen literarhistorischen Fragen sind — das bemerke ich ein- für allemal — die höchst wertvollen didaktischen Winke, welche L a a s giebt, immer wieder zu beherzigen; seine Werke müssen stets zur Hand sein. In raschem Fortschritte wird also noch einmal auf die alte, besonders auf die m i t t e l h o c h d e u t s c h e , in Secunda behandelte Blütezeit nachdrücklich hingewiesen, weil ja jene Musterepen und die hervorragendsten Beispiele volksmässiger und höfischer Lyrik gelegentlich zur Beurteilung nach dem durch die weitere Entwickelung der Literatur und Kritik gebotenen Massstabe herangezogen werden könnten. Ist dann die Zeit der R e f o r m a t i o n , d e r S e h l e s i s c h en S c h u l e n , d e r N a t ü r l i c h k e i t s r i c h t u n g , der L e i p z i g e r und S c h w e i z e r b i s K l o p s t o c k durchmessen, dann wird der Charakter des M e s s i a s in höchstens zwei Stunden durch Vorlesen der geeignetsten Stellen veranschaulicht und annähernd begrifflich bestimmt. Schon hier erweist sich jener Rückblick auf den Heliand, auf Otfrieds Evangelienbuch, besonders aber auf die mittelhochdeutsche Volks- und Kunstpoesie als höchst förderlich für die Herausbildung von Hauptbegriffen der Poetik. Nach der Besprechung des Messias ist Klopstock durch Vorlesen seiner schönsten O d e n in seiner ganzen Bedeutung als Lyriker zur Geltung zu bringen. Die Auswahl muss behufs der Erkenntnis des Wesens und der Arten der Lyrik in der Weise getroffen werden, dass die ganze Stufenleiter der Empfindungen, von den erhabensten bis zu den mehr sinnlichen (in der Ode der Eislauf) erklingt. Der höchst interessante und wichtige Gegensatz zwischen dem I d e a l i s t e n Klopstock und dem R e a l i s t e n Wieland darf natürlich nicht übergangen werden. Die Beleuchtung dieses Parallelismus der beiden menschlichen Grundcharaktere, welchen die
I. Das Lessing-Semester (Winter).
1. Die Literatur.
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Literaturgeschichte schon einmal in Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Strassburg zeigte, und welchen sie abermals in der Folgezeit bei Goethe und Schiller, und zwar in noch geläuterterer und feinerer, aber gerade deswegen für uns Moderne noch beachtenswerterer Gestalt, vorführen wird, ist nicht nur in literarischem, sondern auch in psychologischem, ästhetischem und ethischem Interesse dringend geboten. Eine Verfolgung dieses Gegenstandes durch die einzelnen Semester hindurch bietet für viele rhetorische Übungen und Aufsätze eine feste Grundlage. Freilich kann der Beschäftigung mit W i e l a n d nicht mehr als ungefähr zwei Stunden zugebilligt und höchstens unverfängliche Partieen aus dem Agathon, der ja in das berühmte „Revolutionsjahr der deutschen Literatur" gehört, und den Abderiten vorgelesen werden. Die übrigen vorlessing'schen Erscheinungen sind in aller Kürze, jedoch derart abzuthun, dass der Schüler eine möglichst klare Kenntnis von den Vorurteilen empfängt, welche vor dem grossen Reformator über die Kunst und Poesie, namentlich über die Epik (auch über den Roman) und über die Dramatik herrschten. Wie bisher s u m m a r i s c h verfahren wurde, so muss nunmehr Lessings Leben e i n g e h e n d und m ö g l i c h s t im Z u s a m m e n h a n g e vorgetragen werden; eine solche Darstellung soll nicht nur wissenschaftlich fördern, sondern auch sittlich erhebend wirken. An den betreffenden Stellen darf der Lehrer gleich das erste Verständnis für die Lessing'schen Hauptwerke vorbereiten, selbst wenn der Schüler noch nicht zur Leetüre gelangt ist. Denn diese erstreckt sich ja über das ganze Semester. In den ersten sechs Wochen desselben, in welchen die Logik gelehrt wird, kann nur die Privatlectü^e des P h i l o t a s , der Minna v o n B a r n h e l m , der E m i l i a G a l o t t i , vielleicht auch noch einiger Abschnitte des L a o k o o n aufgegeben und controliert werden. Bei der jedesmaligen Besprechung eines Pensums der Privatlectüre wird der Lehrer entweder schon einige Streiflichter in jenen Lebenslauf fallen lassen und die Bedeutung des Gelesenen in diesem Zusammenhange wenigstens andeuten, oder, bei vorgerückterer Zeit, noch einmal auf den schon vorgetragenen Lebenslauf zurückblicken. Dringend muss davor gewarnt werden, dass das g a n z e Semester mit der Klassenlectüre nur e i n e s Hauptwerkes, etwa des Laokoon, ausgefüllt werde. Das Streben nach jener bekannten philologischen Akribie, jener peinlichen Sorgfalt in gelehrter Erklärung des Einzelnen muss entschieden gegen die Forderung zurücktreten, dem Schüler eine möglichst umfassende, freilich doch gründliche, weil selbsterworbene Kenntnis der wichtigsten
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Der Lehrplan.
Verdienste Leasings um die Dichtkunst beizubringen. Für die Privatlectüre d e s L a o k o o n werden von Woche zu Woche oder auch in etwas grösseren Zeiträumen bestimmte Pensen aufgegeben; zuerst die Vorrede und I—VI, die Stücke, welche die Widerlegung Winkelmanns und die daraus für die bildenden und redenden Künste sich ergebenden Gesetze, endlich die belehrenden Hypothesen Uber die gegenseitige Nachahmung enthalten; dann VII—X und XI—XV, welche die Kritik Spences, bezw. des Grafen Caylus umfassen; dann XVI—XIX mit ihrer Deduction „aus den ersten Gründen" und mit der auf die Beschreibung der Schilde des Achill undAeneas gestützten Induction; es folgen in XX—XXIII die Consequenzen, welche sich aus jener Deduction für die Darstellung des Schönen, XXIII—XXV, welche sich für die des Hässlichen ergeben, endlich XXVI—XXIX mit den Betrachtungen über die Entstehungszeit der Laokoongruppe. (Mit diesen freilich sind die Resultate der neueren archäologischen Forschungen bis zu Starkes Entdeckung zu vergleichen, wonach den Künstlern der Laokoongruppe die Schilderung von Laokoons Tode bei Stasinos vorschwebte.) So kann die Privatlectüre des Laokoon günstigsten Falls in fünf Wochen beendigt und besprochen werden, darf sich aber nicht über Weihnachten hinausziehen, damit in dem zweiten Vierteljahre die H a m b u r g i s c h e D r a m a t u r g i e in derselben Weise bewältigt werden könne. In einzelnen Zeitabschnitten werden die betreffenden Stücke über die Literatur der Franzosen, besonders über Corneilles Rodogune und Voltaires Zaire und Merope, über die Engländer, über deutsche Dramen, ferner über das Wesen der Tragödie und die damit zusammenhängenden Bestimmungen über die Komödie gelesen. Noch von manch anderen Gesichtspunkten, z. B. dem Verhältnisse zwischen Philosophen, Dichter und Geschichtsschreiber, zwischen Genie und Kunst, von dem Gesichtspunkte des moralischen Nutzens der Schaubühne, der Regeln für die Schauspieler, lässt sich mit Hülfe zurechtweisender Winke des Lehrers die Privatlectüre in fruchtbarer Weise betreiben. Das so im Lauf der Zeit von Allen gewonnene Material könnte dann noch einmal am Schlüsse in den verschiedenen Punkten an die einzelnen Schüler zu schriftlichen Referaten verteilt werden, damit die Aufsätze der Einzelnen, in geordneter Reihenfolge vorgelesen, einen wohldisponierten Uberblick über das Ganze liefern. Wurde die erste Leetüre in i n d u e t i v e r Richtung vom Einzelnen zum Allgemeinen, von der Erscheinung zum Grunde hingeleitet, so wird die Aneinanderreihung jener Referate den umgekehrten Weg einschlagen, so dass die Vorstellung von dem s y s t e m a t i s c h e n Gehalte des Werkes entstehen muss.
I. Daa Leasing-Semester (Winter).
2. Die Literatur.
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Die Leetüre d e r A b h a n d l u n g e n ü b e r d i e F a b e l wird entweder als leichtere Vorbereitung vor der des Laokoon angesetzt, wodurch sie bei ihrer auch für die Logik so instruetiven Gedankenentwickelung mit dem Vortrage jener in eine sehr willkommene Nachbarschaft fällt; es können jedoch auch jene Abhandlungen sogar bis zum Schlüsse des Semesters aufgespart und daran die lehrreiche Aufgabe angeschlossen werden, in der früheren Schrift die Keime von Lessings späteren ästhetischen Grundgedanken nachzuweisen. Aus den L i t e r a t u r b r i e f e n und der Abhandlung „Wie d i e A l t e n den T o d g e b i l d e t " können wegen Mangels an Zeit höchstens im literarischen Vortrage einzelne Proben vorgelesen werden. Die Behandlung dieser meist privatim betriebenen Prosalectüre ist jedoch so zu verteilen, dass an geeigneten Stellen des Semesters die Zeit zu einer zusammenhängenden K l a s s e n l e c t ü r e jedenfalls der E m i l i a G a l o t t i , vielleicht auch der Minna von Barnhelm, mit verteilten Bollen vorgenommen werden kann. Vor einer Wiederauffrischung des etwa in Secunda Gelesenen braucht man um so weniger zurückzuschrecken, als die Literaturgeschichte den Schüler auf ganz neue Gesichtspunkte der Beurteilung gehoben hat. Es ist Pflicht des Lehrers, dem Schüler neben den anstrengenden Denkübungen dieses Semesters auch einen poetischen Genuss zu verschaffen. Dieses Material bildet eine reiche Fundgrube von wertvollen, in die Literaturgeschichte schlagenden A u f s a t z t h e m e n . Ich bringe hier nur folgende in Erinnerung: Welches sind die Merkmale antiker Kunst nach Lessings Laokoon und H. Dr. ? — Findet sich die antike Schicksalsidee in Lessings Emilia Galotti vertreten, und wie verhält sich Lessing überhaupt zu derselben? Dieses Thema würde Gedanken erwecken, an welche namentlich im Schiller-Semester mit Nutzen wieder angeknüpft werden kann. Ferner: Wie ist über Lessings Selbstbeurteilung, er sei'kein Dicher, zu denken? — Worin besteht die Bedeutung des Laokoon und der H. Dr. für die deutsche Literatur? — Friedrichs des Grossen und Lessings nationale Bedeutung. — Eine schriftliche Bearbeitung der H e r d e r ' s c h e n K r i t i k über L e s s i n g s L a o k o o n würde sehr lehrreich sein, wird sich jedoch meist deshalb verbieten, weil man dem Schüler nicht auch noch die Anschaffung Herder'scher Schriften zumuten darf. Der literarische Vortrag wird Stücke aus d e n k r i t i s c h e n W ä l d e r n , aus den in der Schrift „Von deutscher Art und Kunst" stehenden Aufsätzen über O s s i a n und S h a k e s p e r e , aus den Werken „ A l t e s t e U r k u n d e d e s M e n s c h e n g e s c h l e c h t s " und „Vom G e i s t d e r h e b r ä i s c h e n P o e s i e " , aus den I d e e n zur P h i l o s o p h i e der
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Der Lehrplan.
G e s c h i c h t e d e r M e n s c h h e i t und aus den „ S t i m m e n d e r Völker" (letztere namentlich zur Beleuchtung des Begriffes V o l k s l y r i k ) mitteilen, jedoch sich hierin auf etwa 4—6 Stunden eingeschränkt sehen. Der Aufsatz über Shakespere kann auch ohne Schaden auf das S h a k e s p e r e - S e m e s t e r verspart werden. Den Cid Iiberlässt man der Privatlectttre des Schülers. 2.
Die Psychologie.
Dass hier zunächst die vortrefflich gezeichneten C h a r a k t e r e Lessings in Frage kommen, bedarf kaum der Erwähnung. Aus ihrem innersten Kern in allen unwesentlicheren Seiten, in allen einzelnen Regungen und Handlungen begriffen, geben sie die beste Gelegenheit zur Erweckung der ersten psychologischen Vorstellungen. Der Charakter Riccauts führt sogar an die Vorstufen zur Völkerpsychologie. Aber auch in der Lessing'sehen K r i t i k kommen oft psychologische Punkte zur Sprache. Die Aristotelisch-Lessing'sche Theorie von der Reinigung der Leidenschaften durch Leidenschaften, von der Erregung eines ästhetischen Vergnügens und Entzückens durch Rührung und Mitleid, ebenso teils schon erwähnte Nebenpunkte, z. B. die Charakteristik der Franzosen in Leben und Kunst, leiten propädeutisch zu Betrachtungen über G e f ü h l e , A f f e c t e , B e g i e r d e n und L e i d e n s c h a f t e n hin. Selbst über einen so feinen und rätselhaften Gegenstand wie d a s G e n i e wird sich an der Hand jener Kritik einiges Licht verbreiten. Ist der deutsche Lehrer zugleich mit dem Unterrichte im H o m e r betraut, so bietet sich von selbst die Möglichkeit, durch Betrachtung jener einfachen Naturmenschen den Blick für die Grundeigenschaften der menschlichen Seele zu schärfen. Als recht geeignet habe ich hierfür das Thema befunden: „Homers Kunst in der Darstellung psychologischer Processe, wie sie sich namentlich im Liede vom Zorne des Achill (im 1. Buche der Ilias) bewährt." Die Entstehung dés Zwistes zwischen Achill und Agamemnon, das Wachsen und das rücksichtslose Hervorbrechen der Leidenschaft, dann wieder das Unterdrücken der vorschnellen That durch die in Athene personificierte Besonnenheit, das Sichschadloshalten in den Schimpf- und Drohreden Achills, das ruhmredige Eingreifen des alten Nestor, alles das in seiner feinen und klaren Entwickelung verfolgt, kann in diesem, ebenso gut aber freilich auch in anderen Semestern zur Erhellung des dem Anfänger so geheimnissvollen und dunklen Seelenlebens trefflichst benutzt werden.
I. Das Lessing-Semester (Winter).
3. Die Ästhetik und Poetik.
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8. D i e Ä s t h e t i k u n d P o e t i k . Bevor wir den Schüler mit Hülfe der Ästhetik in den Tempel der Kunst einführen, werden wir ihn jedesmal zu scharfem Sehen, gleichzeitig aber zu bescheidenem Staunen mit Lessings eigenen schönen Worte im 34. Stücke der H. Dr. ermahnen: „Dem Genie ist es vergönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiss; nicht der erworbene Vorrat seines Gedächtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl hervorzubringen vermag, macht seinen Reichtum aus; was es gehört oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstösst also bald aus Sicherheit, bald aus Stolz, bald mit, bald ohne Vorsatz, so oft, so gröblich, dass wir andern guten Leute uns nicht genug darüber wundern können; wir stehen und staunen und schlagen die Hände zusammen und rufen: „Aber wie hat ein so grosser Mann nicht wissen können! — wie ist es möglich, dass ihm nicht beifiel! — überlegte er denn nicht?" 0 , lasst uns ja schweigen; wir glauben ihn zu demütigen, und wir machen uns in seinen Augen lächerlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweist bloss, dass wir fleissiger zur Schule gegangen, als er; und das hatten wir leider nötig, wenn wir nicht vollkommene Dummköpfe bleiben wollten". Der Kosmos, auf welchen die menschliche Erkenntnis gerichtet ist, die Natur wie die Geisteswelt, bildet, wie auch die Logik betont, eine fortlaufende Kette einander berührender, ineinander fliessender Erscheinungen; und wie die Naturwissenschaft die Mittelglieder zwischen ihren einzelnen Reichen nicht übersehen darf, so geziemt es sich auch für den Ästhetiker nicht, einzelne Schöpfungen des Genies, welche sich den im Interesse der Erkenntnis gestifteten Gattungsund Artbegriffen nicht willig unterordnen wollen, mit vornehmer Geringschätzung zu behandeln. Der in engster Verknüpfung, in ewigem Widerstreit und doch zugleich in ewiger Harmonie vor uns ausgebreiteten Welt der Objecte kann selbst die sorgfältigste, auf realem Grunde geschaffene Welt der Begriffe nur mit einem Anspruch auf relativen Wert sich gegenüberstellen. Damit soll aber durchaus nicht einer gleichgültigen, nachlässigen und oberflächlichen Betrachtung und Begriffsbildung das Wort geredet sein. Wollten wir das thun, dann würden wir schnurstracks gegen den Sinn des grossen Reinhalters der Kunstgattungen handeln, welcher in diesem und in allen folgenden Semestern unser Führer sein wird. Vergils Äneis ist sicher ein Kunstepos, das unserem fest bestimmten und wohl berechtigten Be-
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Der Lehrplan.
griffe entspricht; aber der gesunde Geschmack misst ihm nicht höheren Kunstwert bei als den Georgicis; und doch gehören diese derjenigen Gattung an, welcher wir in der Wissenschaft der Ästhetik neben der Epik, Lyrik und Dramatik, eine ebenbürtige Stellung nicht zuzuerkennen vermögen. Die Freude an glänzenden Ausnahmen darf nicht durch Befangenheit des wissenschaftlich geschulten Geistes getrübt werden. Zunächst ist nach der Natur des literarischen Materiales auf die Herausbildung der wichtigsten Begriffe der P o e t i k hinzuarbeiten. Der Begriff des E p o s wurde an Klopstocks Messias mit Rtickbeziehung auf die früheren Erscheinungen, der der L y r i k an Klopstocks Oden, beide Gattungen mit Hülfe von Lessings prosaischen Schriften und Dramen verdeutlicht. Ueber die schwierige aristotelische Definition der Tragödie und den Begriff der xa&agois orientiert man sich am bequemsten bei Laas und über die neuesten diesen Punkt behandelnden Schriften Weddigens, Walsers, Baumgarts bei Witte, die Phil, unserer Dichterheroen, S. 104 ff. Durch Herders „Stimmen der Völker", durch die Bezugnahme auf die mittelhochdeutsche Literatur und Homer können die wichtigen Artunterschiede des Volks- und Kunstmässigen innerhalb der Epik und Lyrik sicher erkannt und auch die Berechtigung einer gleichen Unterscheidung bei dem Drama wenigstens nahegelegt werden. Auf letzteren Punkt wird man sich ausführlicher erst bei Goethe und Schiller einlassen. Nach der materialen wie formalen Seite erscheint hier der Bildungsgehalt des deutschen Unterrichtes in seinem vollen Glänze. Besonders das Gebiet der Epik ist eine vorzügliche Übungsstätte. Lessing hat im Laokoon das Wesen der homerischen Poesie in den Hauptmerkmalen getroffen. Seine Kriterien: Darstellung von Handlungen, nicht bloss äusseren, sondern auch inneren Vorgängen, wie aus den Abhandlungen über die Fabel und aus der H. Dr. festgehalten ist, Verwandlung des Coexistirenden im Räume in ein Successives der Zeit, Veranschaulichung der Schönheit durch Darstellung ihrer Wirkung, diese Kriterien werden als sicherer Massstab für die schöne Aufgabe einer Beurteilung der N i b e l u n g e n oder der G u d r u n verwandt. Unmittelbar an die Leetüre des Laokoon und des Homer könnte sich die Untersuchung anschliessen, ob das Lessing'sche Kunstgesetz von der poetischen Darstellung des Schönen wirklich bei Homer überall, z. B. auch bei der Darstellung der Insel der Kalypso im 5. Buche der Odyssee, befolgt sei; andererseits, durch welche weitere Beispiele es bestätigt werde. Auch Goethes in Secunda gelesenes Kunstepos „Hermann und Dorothea" wird nach der Leetüre des
I. Das Leasing-Semester (Winter).
3. Die Ästhetik und Poetik.
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Lessing'schen Hauptwerkes über die Epik mit viel reiferem und festerem Urteile betrachtet. Wesentliche Merkmale des a n t i k e n Dramas ergeben sich ebenfalls aus Lessings Schriften und begleiten den Schüler in die Sophokles-Lectüre. Bei wahrhaft „gedeihlichem Zusammenwirken" wird wohl auch der Lehrer des Französischen und Englischen sowohl in diesem wie in den folgenden Semestern sich bereit finden lassen, solche Gegenstände, z. B. Eacines Phädra, Voltaires Mahomet, vor allem aber die in der H. Dr. ausführlich besprochenen Dramen in seinen Lehrplan aufzunehmen. Die Schüler werden sowohl bei der Lessing'schen Kritik wie auch in der fremdsprachlichen Leetüre sofort viel feinhöriger, sobald sie dort Wohlbekanntes berührt finden, hier ein Kunstwerk einmal mit anderem, als bloss grammatischem Zollstock messen dürfen. Bei der Erörterung des Grenzbegriffes D i d a k t i k können, wieder mit Rücksicht auf Lessings Verdienste, L o g a u s E p i g r a m m e (in der hübschen Ausgabe von Simrock) einmal zur Sprache gebracht werden. Ein tieferes Kunstverständnis der D r a m a t i k wird — und dies sei für den ganzen Prima-Curaus gesagt — bei allen Hauptwerken mit Hülfe von F r e y t a g s „ T e c h n i k d e s D r a m a s " erzielt. Die in diesem wertvollen Buche aufgedeckten t e c h n i s c h e n H ü l f s m i t t e l : d i e E x p o s i t i o n mit dem e r r e g e n d e n M o m e n t e , d i e S t e i g e rung, der H ö h e n p u n k t mit dem t r a g i s c h e n M o m e n t e , d i e Umk e h r in i h r e n A b s t u f u n g e n , d i e K a t a s t r o p h e m i t dem Mom e n t e d e r l e t z t e n S p a n n u n g , müssen dem Schüler in der Reihe der Semester so geläufig werden, dass er schliesslich mit voller Einsicht in den dramatischen Bau an die Shakespere'schen Werke herantreten kann. Durch das Medium dieser Analyse der k ü n s t l e r i s c h e n C o m p o s i t i o n und d e s p s y c h o l o g i s c h e n B e g r e i f e n s d e r C h a r a c t e r e steigt man zur Erkenntnis d e r G r u n d i d e e empor. Wie diese der Ursprung des Kunstwerkes ist, so ist auch das Erfassen derselben in ihrer vollen Klarheit und Reinheit die höchste Stufe der ästhetischen Beurteilung. Neben dem Begriffe der Tragödie muss der d e r K o m ö d i e aus dem Dunkel gezogen und die weitere Unterart des r ü h r e n d e n Lusts p i e l e s an ihrem Hauptvertreter, der Minna von Barnhelm, vorläufig nur mit kurzem Hinweis auf die weitere Unterscheidung von C h a r a k t e r - u n d I n t r i g u e n l u s t s p i e l , verdeutlicht werden. Besonders erwünscht ist es auch dem Lehrer des Deutschen, wenn in diesem Semester im Französischen e i n e K o m ö d i e Moliferes gelesen wird, der ja allgemein, auch für Lessing, als Muster in seiner Gattung gilt.
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Der Lehrplan.
Die Beantwortung der schwierigen Frage nach d e m R a n g v e r h ä l t n i s s e d e r d r e i H a u p t g a t t u n g e n d e r P o e s i e , u. a. durch die herausfordernden Behauptungen in Vilmars Literaturgeschichte und in Willi. Jordans „Epischen Briefen" veranlasst, wird besser bis zum Abschlüsse dieser Betrachtungen über die Poetik auf das Shakespere-Semester verspart. Aber wir verlassen das engere Gebiet der Poetik, um auch Gegenstände der b i l d e n d e n K u n s t , z. B. Illustrationen zu hervorragenden Dichtungen, die Wahl der Momente, den künstlerischen Wert mancher weit verbreiteten Werke, z. B. von Gemälden zu biblischen Erzählungen, Kaulbachs Wandgemälde im Treppenhause des Berliner Museums, die Goethe- und die Schiller-Gallerie, in den Kreis unserer Betrachtung zu ziehen. Von wie grosser Wichtigkeit für solche ästhetische Beurteilung das Studium des Lessing'schen Laokoon ist, das erkennt man dann recht deutlich, wenn man bei Malern und Bildhauern sowie bei feuilletonistischen Kritikern auch heutzutage eine völlige Unkenntnis derselben bemerkt und zu deren Schaden sich geltend machen sieht. 4.
Die Ethik.
Auf i n d u c t i v e m Wege gelangt man in diesem Semester bei der Charakteristik des Majors von Tellheim zu dem richtigen und wahren Ehrbegriffe. Derselbe lässt sich gelegentlich auch durch die Beantwortung der thematischen f r a g e : „Worin besteht die ßitterehre in den Nibelungen?" bestätigen. Nachdem so durch die Leetüre und die daran angeknüpften ethischen Betrachtungen über Begriffe wie Ehre, Treue, Pflicht einige Klarheit verbreitet worden ist, können dieselben bei der schon oben im literarhistorischen Teile mit dem Namen Friedrichs des Grossen berührten, in die politische Geschichte eingreifenden Frage zur Anwendung gelangen. Friedrich der Grosse ist ja die hervorragendste Persönlichkeit in der Reihe der Männer, welchen das wunderbare Wachstum des preussischen Staates zu verdanken ist; Lessings Geistesverwandtschaft mit dem preussischen Philosophen des kategorischen Imperativs steht ausser Zweifel; und eine ethische Würdigung jener Kräfte, durch welche der preussische Staat zu dem geworden ist, was er ist, unerschütterliche, ehrenfeste, treue Pflichterfüllung in heisser Arbeit, darf daher um so weniger principiell ausgeschlossen werden, als der Lehrmeister dieses Semesters in dem Major von Tellheim das Urbild eines von jenem Geiste der Ehre, der Treue und der Pflicht erfüllten preussischen Officiers geschaffen hat. Nicht minder als Tellheim fordern andere Charaktere, besonders
I. Das Lessing-Semester (Winter). 5. Die Logik mit der Rhetorik.
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das in der Emilia Galotti entworfene Sittengemälde zu empirischer Beobachtung ethischer Verhältnisse heraus. Wenn ferner die H. Dr. an vielen Stellen die moralische Wirkung des Theaters und der Tragödie darin erkennen lehrt, dass Leidenschaften durch Leidenschaften gereinigt, Vergnügen und Entzücken durch Rührung und Mitleid erweckt werden, dass das Genie in der Kunst mit Absicht die Welt des Schöpfers und ihre Ordnung im Kleinen nachzuahmen sucht, so werden mit diesen und ähnlichen Bemerkungen wichtige Momente aus dem Bereiche der Ethik berührt und die Erkenntnis des Verhältnisses zwischen der Lust und dem Sittengesetze vorbereitet. Das allmälige Aufnehmen solcher Merkmale bildet also e i n e V o r s t u f e für die schwierigen Erörterungen d e s S c h i l l e r - S e m e s t e r s . Ein Object dieser feineren ethischen Beobachtungen ist ferner Lessings ganze vom Geiste der Wahrheit beseelte Kritik und Forschungsweise und die Unermüdlichkeit seines Strebens nach Erkenntnis. Im Hinblick darauf wird der Schüler veranlasst, die Merkmale des Sittlichen auch da zu suchen, wo der bisherige Unterricht sie noch nicht aufzudecken vermochte. Wie die Induction sich auf die höchsten Erscheinungen des sittlichen Lebens richten kann, so darf sie auch zu dem Simile der Tierwelt hinabsteigen; Lessing selbst, der ja nach den ihm vorliegenden Mustern das Wesen der Fabel in der Veranschaulichung einer moralischen Wahrheit erkennt, regt in seinen A b h a n d l u n g e n über d i e F a b e l zu einer derartigen Verwendung des Simile im ethischen Sinne an. „Ameise, Spinne und Biene" geben hierbei das Thema zu einer lehrreichen Beobachtung fein nüancierter Thätigkeiten, deren Gegenbild in der Menschenwelt bald hervortritt. 5.
D i e L o g i k m i t der R h e t o r i k .
Die Logik fällt, wie schon angegeben, in die ersten sechs Wochen des Semesters. Obgleich daselbst die Lessing'schen Schriften noch unbekannt sind, darf dennoch auf darin befindliche lehrreiche Beispiele streng logischer Gedankenoperationen mit demselben Rechte wie auf Dinge hingewiesen werden, die dem Schüler noch ferner liegen, z. B. die Medicin und Sprachvergleichung. Es darf dies nicht nur geschehen, ein guter Unterricht s o l l sogar auf diese Weise ein schärferes und eindringlicheres Auffassen des zu lesenden Materiales vorbereiten. Ebenso sind auch die im Gebiete der Psychologie, Ästhetik, Poetik, Ethik bevorstehenden Erörterungen schon in den Kreis der Logik zu ziehen. Später wird an der geeigneten Stelle ein Aufsatz mit Rückbeziehung auf die Logik aufgegeben. Am meisten
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Der Lehrplsn.
eignet sich ohne Frage hierzu das Thema: „'Welche logischen Operationen vollzieht Lessing in den Abhandlungen über die Fabel?" In der ersten Abhandlung wird d a s W e s e n der Fabel, und zwar am Schlüsse in einer g e n e t i s c h e n D e f i n i t i o n bestimmt. Die dazu erforderlichen vorbereitenden Operationen liefern die trefflichsten Beläge zu vielen Punkten der Logik, besonders der Lehre vom B e g r i f f e . Die Erwägung der allgemeinsten Bedeutung des Wortes Fabel, die genauere Einschränkung durch Hinzunahme von Merkmalen sind als Beispiele s o r g f ä l t i g e r B e g r i f f s b e s t i m m u n g bemerkenswert. Nach der Weise seines Meisters A r i s t o t e l e s übt Lessing auch hier zuerst die k r i t i s c h e Forschungsmethode: De la Mottes, Richers, Breitingers, Batteuxs teils zu w e i t e , teils zu e n g e , teils unklare Definitionen werden von ihm u n t e r B e s t i m m u n g d e r B e g r i f f e A l l e g o r i e , R e g e l , B i l d , H a n d l u n g abgewiesen. So gelangt er durch die Stufe der N e g a t i o n , durch die scharfe Bezeichnung dessen, was dem zu bestimmenden Begriffe c o n t r a d i c t o r i s c h e n t g e g e n g e s e t z t ist, zu der Erkenntnisart, die in der B e j a h u n g besteht. Das Fortschreiten von der l o g i s c h e n Definition zur g e n e t i s c h e n weist ebenfalls auf eine A b s t u f u n g d e r E r k e n n t n i s g r a d e hin. Lieferte die erste Abhandlung mit ihrer Bestimmung des %i AARIV Beispiele zur Lehre vom Begriffe, so bietet dagegen die zweite mit ihrem Suchen nach dem G r u n d e für den Gebrauch der Tiere in der Fabel, also nach dem dióxi larív, mehr eine Illustration des Kapitels vom B e w e i s e . Wie jene F e h l e r im D e f i n i e r e n nachwies, so beschäftigt sich diese mit dem W i d e r l e g e n u n r i c h t i g e r G r ü n d e und lehrt unzureichende und schlagende Gründe unterscheiden. Die dritte Abhandlung bewegt sich wie die erste in Denkoperationen, die zur Lehre vom Begriffe gehören; sie beschäftigt sich nämlich mit der K l a s s i f i c a t i o n , zählt verschiedene f u n d a m e n t a d i v i s i o n i s auf und führt zuletzt zu Lessings eigner, von einem w e s e n t l i c h e n M e r k m a l e als E i n t e i l u n g s g r u n d ausgehenden und erschöpfenden Einteilung. In dieser Abhandlung ist die wichtige d i s t i n c t i o von Fabel und Epopee, in der folgenden die Reinhaltung der Gebiete von Philosophie und Dichtkunst beachtenswert. Der Beweis für die Notwendigkeit der Einfachheit des Ausdruckes in der Fabel gelingt mit Hülfe eines K e t t e n s c h l u s s e s . In der fünften Abhandlung, die nicht gerade Beispiele von neuen Operationen liefert, liegen interessante Beobachtungen über die Stufen der menschlichen Erkenntnis ausgesprochen. Die ganze Schrift mit ihrer beständigen Rücksichtnahme auf Beispiele hervorragender Fabeldichter, wie andrerseits mit ihrem Reichtum von Schlüssen aus allgemeineren
I. Das Leasing-Semester ("Winter).
5. Die Logik mit der Rhetorik.
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Begriffen verbreitet über die Termini I n d u c t i o n and D e d u c t i o n die grösste Klarheit. Eine gleiche Beachtung der Forschungsmethode im Einzelnen wie im Ganzen verlangen die beiden kritischen Hauptwerke. Ein solches Eindringen in die Werkstätte des Lessing'schen Geistes vermehrt nicht nur das l o g i s c h e und ä s t h e t i s c h e Wissen, sondern flösst zugleich Achtung vor dem s i t t l i c h e n E r n s t e auch rein wissenschaftlicher Thätigkeit ein. Aber nicht sowohl die dicht e r i s c h e n K u n s t w e r k e selbst, als vielmehr die im Interesse der W i s s e n s c h a f t verfassten k r i t i s c h - ä s t h e t i s c h e n Schriften mögen als Object für den sich in der Logik schulenden Verstand ausgesucht werden! — Alle im Laufe des Semesters zu bestimmenden Begriffe der P o e t i k , also die Gattungen E p i k , L y r i k , D r a m a t i k mit ihren Arten und Unterarten, in Sonderheit wiederum Tiersage, Tierfabel und Tierepos; noch mehr die Ä s t h e t i k ü b e r h a u p t mit ihrer Eint e i l u n g der K ü n s t e , welche ja für den Laokoon von so hervorragender Wichtigkeit ist, alles das ist dem Logiker der willkommenste Belehrungsstoff, den er sich noch dazu auf die billigste Weise als Lehrer des Deutschen selbst darreicht. Die g r i e c h i s c h e P r o s a l e c t ü r e leistet höchst schätzenswerte Hülfe; ich meine die p l a t o n i s c h e n D i a l o g e , vor allem den Prot a g o r a s und G o r g i a s , deren für die Logik überaus lehrreicher Entwickelungsgang unverkennbar ist. Werden endlich noch die im Vorigen angedeuteten p s y c h o l o g i s c h e n und e t h i s c h e n Betrachtungen in den Bereich der Logik gezogen, so zeigt sich, wie in der That die Wissenschaft von den f o r m a l e n Gesetzen des Denkens, indem sie ein festes Bindemittel für den ganzen Unterricht und überhaupt für alles hervorragend Wissenswerte bildet, zugleich einen bedeutenden m a t e r i a l e n Bildungswert besitzt; denn O r d n u n g und w i s s e n s c h a f t l i c h e G r u p p i e r u n g des vereinzelt liegenden Materiales ist s e l b s t eine B e r e i c h e r u n g des Wissens; sie giebt ganz neue Vorstellungen von dem Verhältnisse der einzelnen Teile des Seienden untereinander und stellt schliesslich, an der Schwelle der Erkenntnistheorie und Metaphysik, propädeutisch die höchsten Gegensätze, Sein und Denken, mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit ihrer Vermittelung gegenüber. Es kann nicht verboten sein, auf Grund des Vortrages dem reiferen Schüler über diese Bedeutung der L o g i k a l s H ö h e n p u n k t d e s g a n z e n U n t e r r i c h t e s durch eine schriftliche Ausarbeitung zur Klarheit zu verhelfen. 3
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Der Lehrplan.
II. Das Goethe-Seraester (Sommer). 1.
Die
Literatur.
Der R ü c k b l i c k über die ganze Literaturgeschichte hat sich bis Herder zu erstrecken und namentlich für die Neuversetzten L e s s i n g s Bedeutung in den wichtigsten Punkten zu beleuchten. Darauf folgt eine kurze Besprechung der S t u r m - und D r a n g p e r i o d e , welche unmittelbar zum Hauptteile des Pensums überleitet, zur Darstellung von G o e t h e s L e b e n und der in demselben überall erkennbaren G r u n d b e s t r e b u n g e n , mit sorgfältiger Auseinanderhaltung der e i n z e l n e n E n t w i c k e l u n g s s t u f e n . Als bekannt dürfen dabei aus dem Secunda-Pensum der G o e t z , E g m o n t , H e r m a n n und D o r o t h e a vorausgesetzt werden; privatissime ist sicher auch der Reinecke Fuchs gelesen worden. An dem Faden des Lebenslaufes ist nunmehr die Bekanntschaft mit allen wichtigeren Erzeugnissen der Goethe'schen L y r i k zu vermitteln. Die Bedeutung der d r a m a t i s c h e n Hauptwerke und e p i s c h e n Dichtungen ist ebenfalls gleich in jenem Zusammenhange auseinanderzusetzen. I p h i g e n i e und T a s s o werden jedenfalls in d e r K l a s s e gelesen; auch in den F a u s t , selbst den zweiten Teil, muss der Lehrer durch einen geschickten Uberblick und den Vortrag geeigneter Stellen wenigstens einführen. Ebenso werden T e i l e a u s W e r t h e r s L e i d e n und Wilh e l m M e i s t e r s L e h r j a h r e n vorgelesen. Die zu controlierende P r i v a t l e c t ü r e richtet sich auf d i e n a t ü r l i c h e T o c h t e r , auf die Beschreibung d e s r ö m i s c h e n C a r n e v a l s , auf W a h r h e i t und D i c h t u n g und d i e i t a l i e n i s c h e R e i s e . Aber auch für andere Werke wird es der Lehrer an Anregung nicht fehlen lassen. Werther, Wilhelm Meister und Faust können eben nicht mehr dem Gesichtskreise eines Primaners völlig entrückt werden, nachdem sie einmal durch die Literaturgeschichte in denselben hineingestellt werden m u s s t e n . Unmittelbar im Anschlüsse an dieses literarische Material ergiebt sich eine grosse Reihe von geeigneten T h e m e n f ü r d i e Aufs ä t z e . Sowohl der g a n z e E n t w i c k e l u n g s g a n g Goethes mit allen seinen Wandlungen wie auch e i n z e l n e S t r e c k e n desselben, z. B. der Gegensatz zwischen der im Monologe Prometheus ausgesprochenen Gesinnung und der in den Hymnen Ganymed, Grenzen der Menschheit und das Göttliche hervortretenden, können bearbeitet werden; der Unterschied zwischen den Bearbeitungen des Goetz beweist schlagend die Umwandlung in Goethes Kunstanschauungen, seine frühere Übereinstimmung mit den S t ü r m e r n u n d D r ä n g e r n und seine spätere Abneigung. Schillers Stanzen „An Goethe, als er den Ma-
II. Das Goethe-Semester (Sommer).
2. Die Psychologie.
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homet von Voltaire auf die Bühne brachte" geben zu einem belehrenden Rückblick auf Lessings Kritik der französischen Poesie und zu einer Beleuchtung des Widerstandes Veranlassung, welchen Goethe und mit ihm Schiller durch ihre Bearbeitung französischer Musterwerke dem Hereinbrechen eines w i l d e n N a t u r a l i s m u s entgegenzusetzen sich genötigt sehen. Goethes eigene Stanzen „Die romantische Poesie" eröffnen einen gestalten- und farbenreichen Einblick in die Welt der R o m a n t i k e r und zeigen des greisen Dichters Hinneigung zu derselben. Der wesentliche Unterschied a l t e r u n d n e u e r W e l t a n s c h a u u n g und Dichtung wird am besten mit Goethes Aufsatz „ S h a k e s p e r e u n d k e i n E n d e " dargelegt und nach den darin aufgestellten weittragenden Gesichtspunkten eine Vergleichung einzelner literarischer Erscheinungen, vornehmlich der Iphigenie des Euripides und Goethes, vorgenommen. 2.
Die
Psychologie.
Zunächst ist wiederum auf den aus der A n a l y s e Goethe's c h e r C h a r a k t e r e sich ergebenden Gewinn hinzuweisen. Eine reiche Welt von Erscheinungen bietet sich der Beobachtung dar, „Begehrungen", G e f ü h l e , A f f e c t e , L e i d e n s c h a f t e n in allen Schattierungen und Wechselbeziehungen stellen sich uns vor Augen; denn „Bilder so wie Leidenschaften Mögen gern am Liede haften." Und wie sollte der Lehrer sich die Gelegenheit entgehen lassen, aus solchen Einzelgebilden einen Allgemeingewinn zu entnehmen, zumal da in dem psychologischen Begreifen der Schlüssel des dichterischen Verständnisses liegt? In der Darstellung der R e i n i g u n g O r e s t s durch seine Befreiung von den Furien der Gewissensqualen, durch Reue und bussfertiges Geständnis, durch Aufdämmern neuer Lebenshoffnung enthüllt der Dichter in genialer Intuition mit einem Schlage ein dunkeles, dem discursiven Denken nur allmählich zugängliches psychologisches Problem, und der sich bildende Alltagsmensch lernt daran die allgemeine Natur des Seelen- und Geisteslebens in einem System von Begriffen construieren. An dem düsteren Bilde der Seel e n k r a n k h e i t bildet sich die klare Einsicht in die gesunde und normale Beschaffenheit. Daher ist auch der Charakter Tassos mit seiner krankhaften, überspannten Empfindlichkeit und Schwärmerei für die Hirngespinnste seiner selbstischen Phantasie der Erkenntnis des Seelenlebens in hohem Grade förderlich; er muss sorgfältig studiert, und aus diesem Studium heraus einzelne Äusserungen naturgemäss abgeleitet werden, z. B.
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Der Lehrplan.
„Thöricht ist's In allen Stücken billig sein; es heisst Sein eigen Selbst zerstören.' Sind die Menschen Denn gegen uns so billig? Nein, o nein! Der Mensch bedarf in seinem engen Wesen Der doppelten Empfindung, Lieb und Hass" (IV 2). — Wie diese falsche Lehre des unglücklichen Dichters so bieten andere Stellen des meisterhaften Seelendramas (denn es ist nicht bloss „eine Reihe von schönen Versen") z. B. des gesunden und geläuterten Alphons Worte: „Die Menschen fürchtet nur, wer sie nicht kennt, Und wer sie meidet, wird sie bald verkennen" (I 2) treffliche Gelegenheit, in besonderen Aufsätzen bestimmte Seiten des Seelenlebens zu beleuchten. Rhetorische Vorübungen sind dazu nötig. Soll jenes erstgenannte Wort auf Grund der Klassenbesprechung des Schauspiels zu Hause bearbeitet werden, so ist nach ungefähr acht Tagen eine rhetorische Übung über das letztere mit dem Zusätze anzuberaumen, die Worte des Alphons in ihrer besonderen Anwendbarkeit auf Tasso zu prüfen. Indem diese rhetorische Übung mit dem Quid die drei BegrifFcomplexe: Menschenscheu oder Meiden der Menschen, Menschenkenntnis und Menschenunkenntnis, Verkennen der Menschen, endlich Menschenfurcht, nach Inhalt und Umfang im allgemeinen sorgfältig erwägen und durch das besondere Beispiel Tassos veranschaulichen lehrt, bietet sie das nötige Material, um jene das Aufsatzthema bildenden Worte zu behandeln; denn diese sind eben ganz und gar aus Tassos Charakter, d. h. aus seiner pessimistischen Menschenscheu, aas seinem einsiedlerischen Meiden, aus seiner Unkenntnis der guten, sittlichen Eigenschaften des Menschen und seiner Übertreibung der schlechten, natürlichen, endlich aus seiner auf dem Meiden und Verkennen beruhenden Furcht in ihrem ganzen Unwerte ebenso leicht psychologisch zu verstehen wie zu widerlegen. (Vgl. das Schema für die Correctur S. 20.) Ein solches p s y c h o l o g i s c h e s Eindringen in die schönsten Werke unserer Dichtkunst vermindert nicht etwa, sondern vermehrt den Genuss ihrer Schönheit und Tiefe. Vor einem allzu peinlichen und rücksichtslosen Zerrupfen der feinsten Blüten behufs der l o g i s c h e n S c h u l u n g d e s V e r s t a n d e s wird sich ein geschickter Lehrer hüten. Der richtige Tact weiss auch hier in letzter Instanz die rechte Grenze zu bestimmen. K l a u c k e scheint mir in dem vorjährigen Programme des Gymnasiums zu Landsberg a. W. zu weit zu gehen. Mit haarscharfer, aber freilich auch unerbittlicher Logik
II. Das Goethe-Semester (Sommer).
2. Die Psychologie.
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bearbeitet er Goethes Iphigenie zur Beantwortung der Frage, ob dieselbe ein antikes oder modernes Drama sei. Hat nun der Schüler durch diese schematisierende Zergliederung, durch dieses Labyrinth von Abstufungen mit römischen und arabischen Zahlen, mit grossen und kleinen, lateinischen und griechischen, einfachen, doppelten und gestrichenen Buchstaben sich glücklich hindurchgewunden, dann w e i s s er zwar, dass Iphigenie ein modernes Drama ist, aber er steht in Gefahr die ä s t h e t i s c h e F r e u d e an dieser duftigsten Blume deutscher Poesie einzubüssen. Es macht sich hier bei Klaucke eine starre Consequenz des trockenen Verstandes ähnlich derjenigen geltend, welche in dessen lateinischem Ubersetzungsbuche aus grammatischen Rücksichten eine Vernachlässigung aller Regeln für eine gute und schöne deutsche Schreibweise Schülern gegenüber sich erlauben zu können glaubt. Auf den n a t ü r l i c h e n M e c h a n i s m u s d e r V o r s t e l l u n g e n , auf die Processe der V e r s c h m e l z u n g und V e r f l e c h t u n g , der P e r c e p t i o n und A p p e r c e p t i o n genau einzugehen wird man in diesem Semester unterlassen, das j a nach dem den Verstand anstrengenden Wintercursus durch das freudige Geniessen Goethe'scher Schönheit der P h a n t a s i e reiche Nahrung zuführen soll. Aber eben dieses „zarte Seelchen" ist nur aus jenem Mechanismus der Vorstellungen zu erklären, und wird durch Goethes eigene Muse in der Hymne „Meine Göttin" gezwungen, sein geheimnissvolles Wesen und Treiben dem profanen Blicke zu entschleiern; und abermals kann man die Gaben der „Venus Cypria" auf den Altar der „Venus Urania" geschickt niederlegen, ich meine das Goethe'sche Gedicht zur Aufklärung der Vorstellungen über das Wesen der Phantasie verwerten. Vermöge der energischen Kraft der Phantasie, d. h. vermöge des regen Spieles im Mechanismus der Vorstellungen, vermöge jener unendlichen Mannigfaltigkeit, in welcher die anfänglich durch die Erfahrung gelieferten Anschauungen unter der Mitwirkung der apriorischen Verstandesfunctionen zu immer neuen, der Wirklichkeit mehr und mehr in das Reich des Ideals entrückten Gebilden sich verschmelzen, vermöge dieser eigentümlichen Beschaffenheit seines Genius appercipiert der Dichter die Welt der Erscheinungen ganz anders als der Alltagsmensch. Dieser sieht in dem vom Fels herabstürzenden Quell, in dem dahinspringenden Gebirgsbache, in dem breitfliessenden Strome eben nichts weiter als die nackte Naturthatsache; der Dichter, voll von Gefühlen der Liebe und des Leides, von tiefem Verständnis für alles, was das Menschenleben Freudiges und Schmerzliches darbietet, mit solchen Empfindungen- und Gedankenmassen appercipierend, erhebt das Naturphänomen zu einem bedeutungsvollen
Der Lehrplan.
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Gleichnisse des menschlichen Daseins. Lichtet sich also nicht durch das Verständnis von Gedichten wie „Gesang der Geister über den Wassern" und „Mahomets Gesang" jenes Dunkel, das über dem Seelenund höheren Geistesleben ruht? 3.
Die Ä s t h e t i k und Poetik.
Unmittelbar mit diesen literarischen und psychologischen Betrachtungen vertieft und erweitert sich das Wissen in der P o e t i k , und der Lehrer muss auch in diesem Semester einen geeigneten, dem Schlüsse näher liegenden Zeitpunkt benutzen, die wichtigsten Ergebnisse in dieser Hinsicht zusammenzustellen und darüber mündliche und schriftliche Übungen zu veranstalten. Das Wesen der D i c h t k u n s t im A l l g e m e i n e n erschliessen viele Stellen Goethe'scher Poesie, ich erinnere nur an den Prolog zum Faust. (Gelegentlich kann auch der reifere Schüler auf die wundervolle Charakteristik der lateinischen Poesie in Mommsens Römischer Geschichte, I 894 ff, hingewiesen werden.) Ein besonderer, noch nicht erwähnter Zweig der Epik, das Märchen, wird durch das reizende Beispiel ,,der neue Paris" vollkommen in seiner Eigenart veranschaulicht. Hermann und Dorothea und Reinecke Fuchs dienen zur weiteren Bestimmung der schon früher aufgefundenen Artbegriffe. Wie sehr Wilhelm Meisters Lehrjahre, wie wenig die Wanderjahre dem Begriffe des R o m a n s und d e s E p o s entsprechen, darf nicht unerwähnt bleiben. An der Goethe'schen Lyrik, dem Goethe'schen V o l k s l i e d e wird abermals der wichtige Unterschied des Volks- und Kunstmässigen nachgewiesen. Aufgaben wie: Darf Goethes Torquato Tasso ein Trauerspiel genannt werden? — Beurteilungen des Goetz oder der natürlichen Tochter nach der Aristotelisch-Lessing'schen Theorie — fördern die wissenschaftliche Erkenntnis des Dramas. Analysen der dramatischen Composition nach Freytags Technik des Dramas treten in diesem Semester in den Hintergrund, weil Goethe nicht vorzugsweise Dramatiker ist. Freytag setzt das selbst S. 224 auseinander und nimmt daher auch selten auf ihn Bezug. Durch die Leetüre des Laokoon hat der Schüler einen trefflichen Massstab zur ästhetischen Beurteilung vieler Goethe'scher Dichtungen epischer und lyrischer Art gewonnen. In „Hans Sachsens poetische Sendung", „Amor als Landschaftsmaler", in dem reizenden Wechselgespräche „der neue Pausias und sein Blumenmädchen", in Hermann und Dorothea, in der Beschreibung des römischen Carnevals, überall bekundet sich eine treue, sei es bewusste oder unbe-
II.
Das Goethe-Semester (Sommer). 4. Die Ethik.
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wusst durch den künstlerisch gebildeten Genius eingegebene Befolgung des im Laokoon erwiesenen Grundsatzes, dass Poesie nicht Beschreibung des Ruhenden, sondern Entwickelung von Handlungen sein soll. Der Wert dieser ästhetischen Untersuchungen auch für die Erkenntnis der geschichtlichen Entwickelung unserer Literatur liegt auf der Hand. Von jenem durch den Laokoon gesicherten Standpunkte aus erweisen sich auch Themata, welche in das Gebiet der b i l d e n d e n Künste fallen, als zugänglich, z. B. die in Leuchtenbergs Dispositionen aufgeworfene Fragen: Welchen Moment würde der Maler wählen, um nach Goethes Ballade „der Sänger" ein Bild zu entwerfen? — Hat Goethe Recht, wenn er von seiner Ballade „der Fischer" sagt, dergleichen lasse sich nicht malen? — Zweifel über den Wert der jetzigen Modefabrikation von Illustrationen zu Goethes und anderer Werken drängen sich einigermassen hellen Köpfen von selbst auf. 4.
Die Ethik.
Schon die psychologischen Betrachtungen führten uns an die Schwelle der Ethik; dass aber dieses Goethe-Semester einen reichen Schatz ethischer Lehren mitzuteilen vermag, muss um so nachdrücklicher hervorgehoben werden, jemehr Goethe durch den Mangel an Energie in der Beherrschung der Liebesleidenschaft zum Tadel herausfordert und sich um den Ruf eines sittlichen Vorbildes gebracht hat. In seinem Entwickelungsgange aber und in seinen Schriften verkennt nur Einseitigkeit und Vorurteil das Vollgewicht des ethischen Gehaltes. D a s W e s e n d e r S i t t l i c h k e i t l i e g t in d e m B e w u s s t s e i n der P f l i c h t , d i e n a t ü r l i c h e n m e n s c h l i c h e n E i g e n s c h a f t e n , in welcher Gestalt sie auch immer auftreten mögen, in n i e d e r e n oder h ö h e r e n B e g i e r d e n und L e i d e n s c h a f t e n , S t i m m u n g e n , G e f ü h l e n und A f f e c t e n , selbst im t h e o r e t i s c h e n D e n k e n und k ü n s t l e r i s c h e n S c h a f f e n , nach a l l g e m e i n g ü l t i g e n , von der V e r n u n f t m i t b e s t e m W i s s e n und E r k e n n e n g e b i l l i g t e n G e s e t z e n b e h e r r s c h e n und g e s t a l t e n zu s o l l e n . Erst auf Grund dieses Pflichtbewusstseins, wenigstens nicht ohne dasselbe bildet sich die t u g e n d h a f t e F e r t i g k e i t unter Mitwirkung von Erz i e h u n g und G e w o h n h e i t . Und gerade zu dieser ethischen Grundlehre giebt der für das blöde Auge so oft pflichtvergessene Goethe in dem ganzen Verlaufe seines Entwickelungsganges ein glänzendes Beispiel. Die e r n s t e S e l b s t z u c h t , in welche er sich bei aller Ubermacht der Leidenschaften nimmt, die h ö h e r e u n d f e i n e r e S c h u l u n g auch des künstlerischen Geistes und Schaffens, welcher er sich
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Der Lehrplan.
bei aller Grösse des Genies unterzieht, kann nicht ohne Schaden für die besten Ziele einer humanen Bildungsanstalt ausser Acht gelassen werden. Das schon oben (S. 14) citierte Bekenntnis in dem Gedichte „Ilmenau": „Der kann sich manchen Wunsch gewähren" u. s. w., welches die Bändigung des Egoismus im geselligen Leben und in politischer Wirksamkeit verlangt — die wiederholte Anerkennung der Notwendigkeit, dass der Einzelne sich unter das Ganze und unter das Allgemeine des Gesetzes unterordnen müsse — Aussprüche des Sinnes, wie die Bemerkung in Goethes Tagebuche: „Niemand als wer sich gauz verleugnet, ist w e r t zu herrschen und k a n n herrschen" — das schwer verstandene Wort der „Geheimnisse": „Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, Befreit der Mensch sich, der sich überwindet" — die schlichte Antwort auf die schlichte Frage des zahmen Xenions: „Wer ist ein unbrauchbarer Mann? Der nicht befehlen und auch nicht gehorchen kann" — ferner der Tasso mit seiner weitgreifenden Antithese: „Erlaubt ist, was gefällt" und: „Erlaubt ist, was sich ziemt" — die erschütternde Wahrheit aus kaiserlichem Munde im zweiten Teile des Faust (gegen Ende des 4. Actes): „Sich selbst erhalten bleibt der Selbstsucht Lehre, Nicht Dankbarkeit und Neigung, Pflicht und Ehre" — dann aber auch auf künstlerischem Gebiete das Endergebnis langer Erfahrung und langen Nachdenkens: „Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben. Wer Grosses will, muss sich zusammenraffen, In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und d a s Gesetz nur kann uns F r e i h e i t geben" (unter „Epigrammatisches" das 2. Sonett) — im gleichen die in „Künstlers Apotheose" aus eigenster Selbstbeobachtung gesprochenen Worte: „Dem glücklichsten Genie wird's kaum einmal gelingen, Sich durch Natur und durch Instinct allein Zum Ungemeinen aufzuschwingen: Die Kunst bleibt Kunst! wer sie nicht durchgedacht, Der darf sich keinen Künstler nennen" — alle diese und viele ähnliche aus den ethischen Goldminen dieses Semesters hervorleuchtenden Sprüche führen den Schüler zu der Erkenntnis der e r s t e n Bedingung aller und jeder Sittlichkeit, des P f l i c h t v e r h ä l t n i s s e s und d e r B e s t i m m u n g d e s I n d i v i d u -
II. Das Goethe-Semester (Sommer).
4. Die Ethik.
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e i l e n durch ein a l l g e m e i n e s V e r n ü n f t i g e ; durch sie erfasst er den Grundcharakter der Unsittlichkeit, wie er sich am consequentesten und ergreifendsten in dem Geständnisse Fausts ausspricht: „So tauml' ich von Begierde zu Genuss Und im Genuss verschmacht' ich nach Begierde". Die endlose und ewig wechselnde Mannigfaltigkeit der T u g e n d e n und L a s t e r wird durch dieses Merkmal in ihrer b l e i b e n d e n W e s e n h e i t gebunden und für das Erkennen gebannt. Der Gtiterl e h r e ist es endlich vorbehalten, den Begriff jenes vernünftigen Allgemeinen, des Gesetzes, mit einem concreten Gehalte zu füllen, die erstrebenswerten einzelnen Güter klar hinzustellen. Nicht das G e n i e s s e n — denn es „macht gemein", wie Faust (2. T. 4. Act) sagt —; nicht das G l ä n z e n d e — denn es ,,ist für den Augenblick geboren" —; sondern Dinge, die nach dem Tasso „des L e b e n s Mühe schätzen gelehrt hat", die nach dem Faust aus dem bloss „Ererbten" durch „ E r w e r b e n " ein wahres „ B e s i t z t u m " geworden sind; „ F r e i h e i t und d a s L e b e n " , die nach „der Weisheit höchstem Schluss", wie der sterbende Faust verkündet, „ t ä g l i c h e r w o r b e n " und dadurch erst „ v e r d i e n t " sein wollen; jene h ö h e r e n S e e l e n k r ä f t e , nach denen Goethe Verlangen trägt, wenn er in der „Campagne in Frankreich" ausruft: „Wohl dem, dem eine höhere Leidenschaft den Busen füllte!"; die D i c h t k u n s t, deren Stimme nicht zu vernehmen nach dem Tasso den Barbaren verrät; V a t e r l a n d , A h n e n , F a m i l i e und F r e u n d s c h a f t , wie Iphigeniens Sehnsucht beweist; solche Dinge lehrt die wegen ihres Realismus oft scheel angesehene Goethe'sche Muse als „die hohen Güter dieses Lebens" schätzen. Uber die wichtigsten Gegenstände der Ethik bieten sich also in diesem Semester ganze Complexe von emen dar, und ein Leichtes ist es, in der oben angegebenen Weise den Aufsatz durch rhetorische Übungen gleich wie durch literarische Erörterungen vorzubereiten. Aus der vollen Intuition in das Wesen der sittlichen Welt sind jene Sentenzen hervorgequollen, und in i n d u c t i v e r Methode muss hier gerade, bei dem Empiristen Goethe, das Concrete aus dem Abstracten abgeleitet werden. Die I n d u c t i o n sucht von der Würdigung der einzelnen historisch gewordenen Erscheinungen zum Erfassen der dieselben tragenden sittlichen Ideen vorzudringen; aber dieses Begreifen des in der veredelnden Cultur Gewordenen ist nicht Goethes starke Seite; erst bei Schiller werden wir in den culturhistorischen Gedichten und philosophischen Aufsätzen diese wertvolle Ergänzung der Ethik antreffen, und dort findet auch Goethes „Aufzug der vier Weltalter" seine geeignete Stelle.
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Der Léhrplan. 5. D i e L o g i k mit der R h e t o r i k .
Die Logik wird in diesem Semester ausgesetzt; man begnügt sich, bei den rhetorischen Übungen und Aufsätzen ihre Gesetze und Vorschriften zur Auffindung des Stoffes und zur Vermeidung von Denkfehlern zu verwerten und so immer in frischer Erinnerung zu erhalten. Auf die Brauchbarkeit platonischer Dialoge zu diesem Zwecke sei abermals hingewiesen.
III, Das Schiller-Seraester (Winter). 1. D i e L i t e r a t u r . Der R ü c k b l i c k hat für die Neuversetzten wiederum besonders L e s s i n g s Bedeutung und die wichtigsten Kunstlehren desselben als Ausgangspunkt für die Beurteilung Schiller'scher Dichtungen hervorzuheben. Darauf wird S c h i l l e r s L e b e n in seinen Entwickelungsstadien mit derselben Genauigkeit wie Goethes dargestellt, besonders aber das Jahrzehnt gemeinsamer Thätigkeit der beiden Dichterfürsten nicht nur wegen seiner literarhistorischen und ästhetischen, sondern auch wegen seiner ethischen Bedeutung eingehend behandelt. Am Schlüsse dieses Zeitraumes wird Goethes Epilog zu Schillers Glocke besprochen, dessen Grundgedanke „er war unser" zu einem weitreichenden Rückblick auf Schillers Verhältnis zu Goethe und auf seine nationale Bedeutung in einer besonderen Arbeit anlockt. Auch die Themata: Goethes und Schillers Verhältnis zu Lessing — im besonderen: Schillers Verhältnis zu Lessings Laokoon und Hamb. Dramaturgie — Schillers am Schlüsse des Aufsatzes „über naive und sentimentalische Dichtung" niedergelegte Charakteristik seines eigenen idealistischen Wesens und des Realisten Goethe — Schillers Stellung zur Romantik — seine Hinneigung zu romantischen (Fr. Vischer sagt in seinem Buche über Goethes Faust „stockkatholischen") Motiven — können in literarhistorischem Interesse bearbeitet werden. Seine Stellung zum Altertum wird ebensowohl bei der ganzen Entwicklung des Lebenslaufes wie bei Gelegenheit einzelner Dichtungen bezeichnet, ich meine z. B. die Kraniche des Ibykus, welche auf des Aeschylus Orestie, die Braut von Messina, welche auf des Sophokles König Ödipus zurückführt. Im grossen und ganzen hat diese Seite des Unterrichtes die Richtigkeit des Satzes darzuthun, welchen Schirlitz (bei Fleckeisen undMasius, Bd. 117 und 118, S. 268) über Schiller aufstellt: „Ueberall hat er die bleibenden allgemein menschlich gültigen Elemente erkannt, von den nationalen Schranken befreit, zu reineren Gestalten fortgebildet und eine neue Verbreitung vermittelt."
III. Das Schiller-Semester (Winter).
1. Die Literatur.
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Der Vergleich von Lessings, Winkelmanns, Goethes und Schillers Erörterungen über die Laokoongruppe, so lehrreich und anziehend er ist, möchte sich wohl nur selten bei dem Mangel an Zeit durchführen lassen. Die Bekanntschaft mit W a l l e n s t e i n , Maria S t u a r t , der J u n g f r a u , mit T e i l , oft auch mit der B r a u t v. M. und dem Cyclus der culturhistorischen Gedichte darf aus dem Secunda-Pensum vorausgesetzt werden. Von den Prosa-Schriften ist die G e s c h i c h t e d e s A b f a l l s der N i e d e r l a n d e in Verbindung mit G o e t h e s E g mont, d i e G e s c h i c h t e d e s d r e i s s i g j ä h r i g e n K r i e g e s in Verbindung mit d e m W a l l e n s t e i n als äusserst zweckmässige Privatlectüre in Secunda betrieben worden. Demnach blieben für die Klassenlectüre in Prima der D o n C a r l o s , die H u l d i g u n g der K ü n s t e und der E n t w u r f zum D e m e t r i u s übrig. Doch liegt kein Schaden darin, wenn der D o n C a r l o s wie der F i e s k o der Privatlectüre überlassen und dafür d i e B r a u t v. M. wegen ihres tiefen und reichen ethischen Gehaltes und wegen ihrer eigentümlichen Bedeutung als S c h i c k s a l s t r a g ö d i e in Prima noch einmal, namentlich gleichzeitig mit dem König Odipus gelesen wird. Aber ebenso ist die erneute Leetüre der übrigen Dramen, geschehe s i e a u c h nur p r i v a t i m , nach den zahlreichen durch den Unterricht gebotenen neuen Gesichtspuncten dringend zu empfehlen. Die Lustspiele der P a r a s i t und der N e f f e als O n k e l werden ebenfalls der Privatlectüre (am besten in den Weihnachtsferien) überwiesen. Besondere Aufmerksamkeit ist in der Klasse der Schiller'schen L y r i k in dem diesem Dichter ganz eigentümlichen Teile, in den sogenannten I d e a l g e s ä n g e n oder R e f l e x i o n s l i e d e r n , zuzuwenden. „Die Künstler" und das „Ideal und das Leben" bezeichnen den Anfangs- und Endpunkt dieser Uberschau und bereiten das volle Verständnis von Schillers ästhetischem Testamente, „der Huldigung der Künste", vor. Der Ideenkreis aber, welcher in dieser Dichtungsart ausgesprochen ist, muss dem Schüler durch die Privatlectüre mehrerer von Schillers p h i l o s o p h i s c h e n A u f s ä t z e n einigermassen geläufig geworden sein. Da im Anfange dieses Semesters wieder die Logik durchgenommen wird, so verfliessen (einschliesslich der auf die Rückgabe des ersten Aufsatzes verwendeten Zeit und der für diesen erforderlichen rhetorischen Übungen, einschliesslich auch der Controle der Privatlectüre) etwa 8 Wochen bis dahin, wo der Faden der Literaturgeschichte zu jenen Idealgesängen führt, und in dieser Zeit können wenigstens einige der geeigneten Schriften privatim gelesen und in der Klasse besprochen sein. In Aussicht zu nehmen sind
44
Der Lehrplan.
aber von den leichter verständlichen historisch-philosophischen Aufsätzen: W a s h e i s s t u n d zu w e l c h e m E n d e s t u d i e r t m a n Universalgeschichte? — Ü b e r Kreuz z ü g e , Völkerwand e r u n g und M i t t e l a l t e r — d i e V o r r e d e z u r G e s c h i c h t e d e s M a l t h e s e r o r d e n s n a c h V e r t o t v o n M. N. b e a r b e i t e t — ; von den ästhetisch-philosophischen, das Gebiet d e s S c h ö n e n u n d E r h a b e n e n erschöpfenden Schriften: d i e S c h a u b ü h n e a l s e i n e m o r a l i s c h e A n s t a l t b e t r a c h t e t — Ü b e r A n m u t und W ü r d e — Ü b e r d a s P a t h e t i s c h e (bis zum Striche) — U b e r d e n Grund des V e r g n ü g e n s an t r a g i s c h e n G e g e n s t ä n d e n — Ü b e r d i e t r a g i s c h e K u n s t — d i e e r s t e n n e u n B r i e f e über d i e ä s t h e t i s c h e E r z i e h u n g d e s M e n s c h e n — Über das Erhabene. Der Abschluss dieser Privatlectüre wird ganz passend mit dem für die Literaturgeschichte, Psychologie, Poetik und Ethik gleich wichtigen Aufsatze „über n a i v e und s e n t i m e n t a l i s c h e D i c h t u n g " gemacht, durch welchen ja Schiller sich selbst den Rückweg aus der abstracten Speculation in das Reich der concrete Gestalten schaffenden Dichtung bahnt. Diese häusliche Thätigkeit erstreckt sich über das ganze Semester; sie muss aber unter s t e t e r C o n t r o l e u n d e r l e i c h t e r n d e r Z u r e c h t w e i s u n g von Seiten des Lehrers betrieben werden. Der Reichtum von Gedanken, der sich hieraus für alle unsere Disciplinen ergiebt, ist erstaunlich und unschätzbar. 2. D i e P s y c h o l o g i e . Das ausgiebigste Material liefern die bei allen Dramen zu entwerfenden C h a r a k t e r s c h i l d e r u n g e n . Von principieller Bedeutung sind ferner die durch die Schiller'schen philosophischen Aufsätze hindurchgehenden Betrachtungen über die m e n s c h l i c h e D o p p e l n a t u r , Uber den Gegensatz der rein animalischen und der vernünftigen oder intellectuellen Seite sowie über die V e r m i t t e l u n g u n d A u s s ö h n u n g beider durch d i e Kunst. Mit den beredtesten Worten beschreibt Schiller jenen den Naturgesetzen wie alles Übrige unterworfenen stofflichen Teil, der den Menschen auf die Stufe der Tierheit setzt; zugleich aber lehrt er die Bedeutung der Sinneswahrnehmungen in der Stufenleiter der Erkenntnisbildung erfassen, z. B. im 26. Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, womit das Lehrgedicht „die Künstler" und „das Ideal und das Leben" zu vergleichen sind. Dem Naturmenschen mit den Gefühlen der Lust und Unlust über das, was die Sinne interessiert, tritt sodann in nicht minder glänzender Ausführung der Vernunftmensch in der cultivierenden Gemeinschaft und im Staate
HI. Das Schiller-Semester (Winter).
2. Die Psychologie.
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mit seiner f r e i e n m o r a l i s c h e n B e s t i m m b a r k e i t gegenüber; und so gewinnt der Schüler den ersten Überblick über die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Einzelkräfte und die Vorstellung von jener „ T o t a l i t ä t " und jenem h a r m o n i s c h e n Z u s a m m e n w i r k e n derselben, welche Schiller als Endziel aller Cultur hinstellt. Diese aus der Betrachtung der allgemeinen Menschennatur herfliessenden Erörterungen stützen sich aber auf eine feine e m p i r i s c h e Beobachtung der g e s c h i c h t l i c h - g e w o r d e n e n und gegebenenEntwickelungsstufen von dem Urzustände der Wildheit her bis zur höchsten Reife der Cultur, sogar bis zur Uberverfeinerung und zum Rückfall in die Barbarei. Und diese Fülle des historisch-empirischen Materiales liegt jetzt nicht mehr zerstreut und ungeordnet im Kopfe des Lernenden, sondern ist durch jene p r i n c i p i e l l e n E r ö r t e r u n g e n in ihrer ganzen Breite systematisch zusammengestellt und in ihren Ursachen begriffen. Die wundervolle Gruppe der culturhistorischen Gedichte erscheint nunmehr unter dem Lichte dieser propädeutischen Psychologie in ihrer tieferen Bedeutung, und ein Culturelement wie die Kunst, welche einerseits auf der Befriedigung des Sinnenmenschen, auf der freien Bethätigung der die edleren Sinne belebenden Phantasie, zugleich aber auf der Befriedigung der Ansprüche der Intelligenz beruht, wird jetzt mit wissenschaftlichem Bewusstsein des Lobes wert erachtet, das ihr Schiller in so vielen Gesängen spendet. Die Bearbeitung von Themen wie: „Alles wiederholt sich nur im Leben, Ewig jung ist nur die Phantasie; Was sich nun und nirgends hat begeben, Das allein veraltet nie" (in d. Gedichte „An die Freunde") — Max Piccolominis Wort (Picc. III, 4): „Und jedes Grosse bringt uns Jupiter Noch diesen Tag und Venus jedes Schöne" — kann jetzt auf der realen Grundlage wohl berechtigter psychologischer Vorstellungen unternommen werden. Da der Mensch als Glied in der Kette der Naturerscheinungen wie alles Stoffliche nach Schiller dem Trägheitsgesetze unterliegt, so ist auch der tiefere psychologische Grund von Behauptungen gewonnen wie die Wallensteins: „Das Jahr übt eine heiligende Kraft; Was grau vor Alter ist, das ist ihm (dem Menschen) göttlich. Sei im Besitze und du wolmst im Recht, Und heilig wird's die Menge dir bewahren" (Wallensteins Tod I 4) —
46
Der Lehrplan.
und in nicht zu fernem Zusammenhange damit steht das Thema: „Entworfen bloss ist's ein gemeiner Frevel, Vollführt, ist's ein unsterblich Unternehmen; Und wenn es glückt, so ist es auch verziehn, Denn aller Ausgang ist ein Gottesurteil".
(W. T . I 7.)
Auch andere psychologische Probleme dürfen hier angezogen werden, z. B. das Gewissen mit der Frage: Wodurch
wird in den
„Kranichen des Ibykus" die Entdeckung der Mörder herbeigeführt? Die
ganze
Wissenschaft
der
Grunde auf S e l b s t b e o b a c h t u n g ,
Psychologie
beruht
im
letzten
sie ist ein beständiges P r o j i -
c i e r e n des im eigenen Selbst Erfahrenen in die Aussenwelt.
Frei-
lich wird dies durch die vorurteilslosere Beobachtung schärfer ausgeprägter äusserer Objecte wesentlich unterstützt; hier schwindet der den Blick trübende Eiufluss der Eigenliebe.
Aber erster uud letzter
Grund alles Verständnisses ist doch die Selbstbeobachtung und SelbstSo kommt also das ehrwürdige yvü9-i aavxöv zu Ehren,
besinnung.
und das Schiller'sehe Xenion: „Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben; Willst du die andern verstehn, blick in dein eigenes Herz!" fordert zu einer Erwägung jenes Doppelverfahrens
auf, die nicht
nur in psychologischem, sondern auch in ethischem Interesse liegt. 3.
D i e Ä s t h e t i k und P o e t i k .
Zu Erörterungen
über d i e K u n s t
im A l l g e m e i n e n
dem durchgegangenen Materiale vielfache Veranlassung. hier nur noch auf die Wichtigkeit
lag in
Ich weise
des Prologes zum Wallenstein
und der Vorrede zur Braut von Messina „Uber den Gebrauch des Chores in der Tragödie" hin. cher Schiller
Bei der Nachdrücklichkeit, mit wel-
die Kunst als ein höchstes, i d e a l e s Bildungselement
in ihrem ganzen Wesen schätzen gelehrt bat, wird die Entscheidung über das Horazische: „Aut prodesse volunt aut delectare poetae, Aut simul et jueunda et idonea dicere vitae" (a. p. 833) — und die Begründung der Schlussworte des Prologs zum Wallenstein: „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst" nicht zu schwer fallen.
Auch hier ergeben sich ganze Themencom-
plexe, deren Bestandteile sich ergänzen und deshalb zu
erleichtern-
der Vorbereitung für einander verwertbar sind. Betrachtungen über d i e b i l d e n d e K u n s t entspringen aus der Erwägung von Schillers Verhältnis auch er weist,
zu Lessings
Laokoon.
Denn
wie es bei Danzel und Guhrauer heisst, ohne im
III. Das Schiller-Semester (Winter).
3. Die Ästhetik und Poetik.
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wesentlichen an dem Kanon Leasings zu rütteln, in der Beurteilung von Matthissons Gedichten auf die Berechtigung d e r L a n d s c h a f t s m a l e r e i neben der Landschaftsdichtung hin. Dass er in seinem dichterischen Schaffen die Grundsätze des Laokoon für bindend erachtet, lässt sich an vielen Gedichten, z. B. an den Balladen und an dem Spaziergange in lehrreicher Weise darthun. Das Verhältniss des D i c h t e r s zum G e s c h i c h t s s c h r e i b e r wird durch die „Geschichte des dreissigjährigen Krieges" und durch die Wallenstein-Trilogie selbst für den in ein helleres Licht gesetzt, der da weiss, dass Schiller nicht völlig den Forderungen einer objectiven Geschichtsschreibung genügt, und dass seine Darstellung in manchen Zügen nicht mit den Ergebnissen der neuesten Forschungen in Rankes Werke übereinstimmt. Für d i e E i n t e i l u n g d e r D i c h t k u n s t ist Schillers von der Stimmung des Dichtenden hergenommener Einteilungsgrund in dem Aufsatze „über n. u. s. Dichtung" von grosser Bedeutung. In diese s u b j e c t i v e n Grundunterschiede, vor allem in den letzten, immer wieder auftauchenden Gegensatz von R e a l i s m u s und I d e a l i s m u s , muss man hineinschauen, wenn man die Unterschiede der künstlerischen O b j e c t e in ihrem Urquell erfassen will. Auf Grund dieser in den Tiefen der Philosophie wurzelnden Betrachtungen tritt der wesentliche U n t e r s c h i e d z w i s c h e n A l t e r t u m u n d N e u z e i t , zwischen alter und neuer Dichtung klar heraus. Durch solchen Schatz ästhetischer Kriterien bereichert, darf dem Schüler gelegentlich die Beantwortung der Frage zugemutet werden: Worin besteht nach Lessings Laokoon und nach Schillers Aufsatz „über n. u. s. Dichtung" Homers wahre poetische Grösse? Aber die ergänzenden Bemerkungen dieser Disciplin haben sich bei dem D r a m a t i k e r Schiller vornehmlich der D r a m a t i k zuzuwenden. Bei ihm finden wir jene Vertiefung des B e g r i f f e s d e r T r a g ö d i e , welche sich nicht mit dem Zwecke einer xctdagois twv jtad-üv genügen lässt, sondern bei aller Wertschätzung dieser moralischen und hedonischen Wirkung der tragischen Kunst das Wesen des Pathetischen, aus dem metaphysischen Gegensatze von Natur und Vernunft, erst in der Darstellung des Kampfes zwischen Freiheit und Notwendigkeit, des Gegensatzes von individueller Schuld und absoluter Gerechtigkeit, in der Veranschaulichung „des grossen gigantischen Schicksals" erkennt, „welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt." (Schiller in „Shakesperes Schatten".) Besonders aus den Aufsätzen: Uber das Pathetische — Über die tragische Kunst — Uber das Erhabene — ist dem Primaner diese ver-
48
Der Lehrplan.
tiefende Umgestaltung des Aristotelisch-Lessing'schen Begriffes vom Tragischen nicht unverständlich geblieben. Überall wird dort wie auch in einer ganzen Reihe der lyrischen „Idealgesänge", z. B. das Glück, die Führer des Lebens, Abschied an den Leser, jene subject i v - e r h a b e n e G e m ü t s s t i m m u n g geschildert, welche nach der Huldigung der Künste die Merkmale des O b j e c t i v - E r h a b e n e n in die Dinge, „in das Leben h i n e i n l e g t und nicht darin s u c h t . " Lessing mit seiner dem Aristoteles entlehnten Theorie und mit seiner praktischen Verwirklichung derselben in der Emilia Galotti bleibt ebenso wie Shakespere durchaus im Kreise des rein Menschlichen, in der Darstellung der durch menschliche Schwächen und menschliche Gegenbestrebungen herbeigeführten Conflicte stehen. Schiller dichtet seine Erstlingsdramen aus demselben Principe; er stellt den Kampf „verwegener", leidenschaftlicher Naturen gegen die Schäden der Gesellschaft und des Staates dar. Die zweite Periode aber seiner Entwickelung, die historisch-philosophische, erfüllt ihn mit jenem Reichtum tiefer, der Kantischen Kritik der Urteilskraft entlehnter Gedanken Uber die Natur des Schönen und Erhabenen; „des Menschen Leben" — so erfuhr er zudem an sich selbst, wie Hofmeister sagt, — „zwischen Geburt und Grab entwickelt sich unter dem Spiel des Zufalls und dem Gesetz der äussern Notwendigkeit durch seine eigene freie Willenskraft nach selbstgesetzten Zwecken"; und dieser durch Studium und Lebenserfahrung erzeugten Vorstellung von dem Kampfe der Freiheit mit einer höheren Notwendigkeit, kurzum seiner mod e r n e n S c h i c k s a l s i d e e , sucht er in den Dramen seiner Blütezeit auf irgend eine Weise Ausdruck zu geben, bis er in der Braut von Messina sich sogar wieder zur antiken Schicksalstragödie verirrt. Im Teil endlich steht er wieder, nach Hofmeisters Bemerkung, auf dem sittlich-politischen Boden, ohne subjective Befangenheit, mit freiem Blick in die objectiv-menschlichen Verhältnisse, wie sie sich unter der Wechselwirkung des Freiheitsprincips und der Notwendigkeit abspielen. Welchen Einfluss die Schicksalsidee auf den Demetrius gehabt haben würde, ist eine daran anzuknüpfende interessante Frage. Es ist einleuchtend, dass auf Grund solcher durch das literarische Material gebotener und im Unterrichte entwickelter Erkenntnis der Schüler wiederum auf einen noch höheren Aussichtspunkt gehoben wird, von welchem aus sowohl antike Dichtungen, z. B. des Sophokles König Ödipus im Vergleiche zur Br. v. M., wie moderne, z. B. die Verirrungen der Schicksalstragödie bei Müllner, Grillparzer und Zedlitz, in hellerer Beleuchtung erscheinen. Die Betrachtungen über die Stellung des Chores erstrecken sich natürlich ohne weiteres
III. Das Schiller-Semester (Winter).
3. Die Ästhetik und Poetik.
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auch auf andere Teile der parallel laufenden griechischen Lecture, namentlich auf d i e A n t i g o n e . „Du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas." Die Wahrheit dieses Napoleonischen Wortes leuchtet dem Schüler dann besonders ein, wenn er neben die Erzeugnisse der tragischen Muse Schillers die Bearbeitungen der beiden französischen Lustspiele hält. Ernste, blutige Conflicte, welche dort „das grosse gigantische Schicksal" herbeiführte, mildert jetzt die Laune des neckischen Zufalls zu lachenerregenden, ungefährlichen Situationen. In diese Welt d e s O b j e c t i v - K o m i s c h e n und von dort in die s u b j e c t i v - h e i t e r e S t i m m u n g , ihre Schattierungen im S c h e r z , H u m o r , W i t z , in der I r o n i e u n d i m S p o t t , also in die wichtige Kehrseite der Kunst wie des menschlichen Lebens kann der Primaner durch die geschickt und systematisch geleitete Beobachtung des engen Feldes zweier Lustspiele eingeführt werden, und demzufolge auch die Unterarten des Lustspieles, d a s C h a r a k t e r - u n d I n t r i g u e n l u s t s p i e l , auch die Ubergangsstufe d e s r ü h r e n d e n L u s t s p i e l e s , der comédie larmoyante — Lessings Minna von Barnhelm ist ja im Gedächtniss — in ihrem Wesen begrifflich erfassen. Mit besonderem Danke ist es wiederum aufzunehmen, wenn gleichzeitig der französische Unterricht auf die Erweiterung dieses Feldes durch Vorführung Molière'scher Komödien Bedacht nimmt. Zu diesen und ähnlichen der P o e t i k angehörenden Übungen von materialem wie formalem Werte kommen A n a l y s e n nach F r e y t a g s T e c h n i k d e s D r a m a s , auch eine Untersuchung über den kunstvollen Bau des Liedes von der Glocke und dergleichen. Die Klassenlectüre des Wallenstein fällt zwar nach Secunda, und in Prima wird sich schwerlich Zeit finden, das grosse Werk mit gereifterem Blicke noch einmal durchzugehen; die Rücksicht auf das Ganze gestattet eben bei drei Stunden Unterricht keine derartige gemächliche Behandlung der einzelnen Werke Goethes und Schillers, wie sie im Zehnstundenlatein den Schriften Ciceros zugewandt wird. Doch auch schon in Secunda wird es nützlich und möglich sein, die Leetüre ungefähr nach folgendem Plane zu betreiben: Da die ganze Trilogie uns in eine kriegerische Welt versetzt, so wird der erste Aufsatz des Semesters, der sich ja noch nicht auf Gelesenes beziehen kann, dem Schüler am besten Anregung geben, sich einige Vorstellungen über Krieg und Frieden nach ihren Lichtund Schattenseiten zu bilden. Die Worte: „Schön ist der Friede — Aber der Krieg auch hat seine Ehre" geben das Thema ab, der ganze Chor der Br. v. M., dem sie entnommen, erleichtert die Auffindung 4
50
Der Lehrplan.
des Stoffes. Nachdem dann die Lecttire des Lagers beendigt ist, kommen jene allgemeinen Erörterungen in folgenden Themen zur Verwendung, welche behufs einer genaueren Würdigung des Gelesenen an die einzelnen Schüler, je nach der grösseren oder geringeren Fähigkeit, verteilt werden: Was haben alle Soldaten des Wallenstein'schen Lagers mit Ausnahme der Arkebusiere gemein? — die Eigentümlichkeiten der einzelnen Soldaten, und zwar 1. der Anhänger des Kaisers, 2. der Wallensteiner — innerhalb letzterer: eine Parallele zwischen dem Wachtmeister und dem ersten Kürassier — eine Charakteristik des Wachtmeisters — Welches ist die Aufgabe des Lagers? — Welches Bild gewinnen wir schon durch das Lager von Wallenstein? — Nach der Leetüre der Piccolomini muss der Schüler zunächst angeleitet werden, von dem Verlaufe der dramatischen Handlung dieses Teiles sich eine klare Vorstellung zu bilden. Freytags Analyse kommt hierfür und für den Tod sehr zu statten. Dieses Thema, Entwickelung der dramatischen Handlung mögen die Schwächeren behandeln, während die Reiferen die Hauptpersonen zu charakterisieren bekommen. Dann erst kann die Frage beantwortet werden: Mit welchem Rechte trägt der zweite Teil den Namen „die Piccolomini"? — Nach solchen Betrachtungen geht der Schüler an den dritten Teil sowohl hinsichtlich der gleichmässig durchgeführten Charaktere als auch hinsichtlich der Composition mit viel besserem Verständnis. Letztere muss jedoch wieder, sei es auch nur von den Schwächeren, in einem besonderen Aufsatze analysiert werden. Nachdem so der dritte Teil als selbstständiges Kunstwerk gewürdigt ist, bleibt übrig, ihn als Bestandteil des Ganzen zu begreifen. Da die Tragödie „die grössere Hälfte der Schuld" des Helden „den unglückseligen Gestirnen zuwälzt", so ergiebt sich als geeignetes Thema für die Schwächeren: Darstellung der Grundzüge von Wallensteins astrologischem Aberglauben auf Grund der Piccolomini und des Todes, für die Reiferen: Wie zeigen sich bei Wallenstein die schädlichen Folgen der astrologischen Weltanschauung ? Nunmehr können zum Schluss die Fragen mit einiger Gründlichkeit beantwortet werden: Wodurch verschuldet Wallenstein seinen Fall? (die Grundfehler, unersättlicher Ehrgeiz und grenzenloser Stolz, Zweifel und Unentschlossenheit, müssen ja bei der Entwickelung der dramatischen Handlung und bei der Charakteristik aufgefallen sein) — und: Wodurch verdient Wallenstein unser Mitleid? (die Trübung des klaren Verstandes und die Unterdrückung der Macht des Gewissens findet ja in der dämonischen Gewalt jenes astrologischen Glaubens und bei einem Manne Entschuldigung, dessen von Natur in ihn gepflanzter Stolz
III. Das Schiller-Semester (Winter).
4. Die Ethik.
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und Ehrgeiz durch seine Umgebung, besonders die Gräfin Terzky, zu schwindelnder Höhe emporgeschraubt, und dessen Herz, nach dem Prologe, durch seine ihm vom Glücke beispiellos in die Hände gespielte Macht verführt wird.) Auf diese Weise kann schon in Secunda im Laufe eines Semesters ein tiefer gehendes Verständnis dieser grössten dramatischen Dichtung erzielt werden, noch mehr freilich in Prima, wo der tragische Charakter des Helden im Lichte der Aristotelisch-Lessing'schen Theorie und der Schiller'schen Gedanken über das Erhabene und Pathetische erscheint. 4.
D i e Ethik.
Der Ethik ist in diesem Semester mit einzelnen Partieen der philosophischen Aufsätze, besonders mit dem 1. bis 9. und 25. bis 27. der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, desgleichen mit den culturhistorischen Gedichten ein ganz neuer Stoff zugeführt worden. Auf i n d u c t i v e m Wege wird durch Betrachtung d e s H i s t o r i s c h - G e w o r d e n e n über die wichtigsten ethischen Grundbegriffe, über S t o f f u n d F o r m , N o t w e n d i g k e i t u n d F r e i h e i t , W i l l k ü r und G e s e t z , N a t u r u n d K u l t u r , R e a l i s m u s und I d e a l i s m u s , Klarheit verbreitet. Das Feld der Empirie erweitert sich, abgesehen von dem literarhistorischen Gewinne, zu Gunsten der Ethik durch folgendes Thema: Charakteristik und Vergleichung der dichterischen Auffassung von den Entwickelungsstufen der Menschheit bei Ovid in den Metamorphosen (I 89 ff.), bei Goethe in dem „Aufzuge der vier Weltalter" und bei Schiller in den Gedichten ,,die vier Weltalter", „das Eleusische Fest" und „der Spaziergang". Umgekehrt vermag der Primaner bei solcher Anschauung des Concreten, bei solchem positiven Wissen vom Realen durch S y n t h e s i s jene goldenen Sittensprüche mit einem festen Inhalte zu erfüllen, welche uns die Schiller'sche Muse in unerschöpflicher Fülle spendet. Die vorletzte Strophe des Eleusischen Festes: „Freiheit liebt das Thier der Wüste, Frei im Äther herrscht der Gott, Ihrer Brust gewalt'ge Lüste Zähmet das Naturgebot; Doch der Mensch in ihrer Mitte Soll sich an den Menschen reihn, Und allein durch seine Sitte Kann er frei und mächtig sein" — die beherzigenswerte Warnung aus den „Worten des Glaubens":
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Der Lehrplan.
„Vor dem Sclaven, wenn er die Kette bricht, Vor dem freien Menschen erzittert nicht!" — und damit übereinstimmend die Worte aus dem „Ideal und das Leben": „Des Gesetzes strenge Fessel bindet Nur den Sclavensinn, der es verschmäht" — Worte, vor welchen jenes Contra aus der Braut von Messina in nichts zerfällt: „Das Gesetz ist der Freund des Schwachen, Alles will es nur eben machen, Möchte gern die Welt verflachen" — Illos Aufmunterung: „In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne" — Wallensteins zur Resignation gemahnendes Bekenntnis: „Ernst ist der Anblick der Notwendigkeit" — alles das und vieles andere, den Kern der Ethik Treffende ist durch das literarische Material dieses Semesters der Erkenntnis erschlossen. Die Vermittelung zwischen jenen oben aufgeführten gegensätzlichen Begriffspaaren der natürlichen und sittlichen Welt findet Schiller in der „Totalität"; er verwirft die rigoristische Unterdrückung des einen Teiles durch die Tyrannei des andern, und wiederum werden aus dieser Grundanschauung heraus auf s y n t h e t i s c h e m Wege die Forderung der Xenien: „Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes Werden, als dienendes Glied schliess an ein Ganzes dich an!" — und die Behauptung in der Huldigung der Künste: „(denn) Wer den Sinn auf's Ganze hält gerichtet, Dem ist der Streit in seiner Brust geschlichtet" — in ihrer vollen Berechtigung erkannt. An dem Ideale dieser Totalität des Charakters, dieser schönen Harmonie aller Kräfte gemessen, erscheinen L e g a l i t ä t u n d M o r a l i t ä t nur als Vorstufen der sittlichen Vollkommenheit; erst die liebevolle, freie Hingabe an das Gute, d i e V e r t a u s c h u n g der W ü r d e m i t der Anmut stellen in der Erfüllung der gesellschaftlichen Pflichten den höchsten Grad der Sittlichkeit dar. Und was haben wir damit gewonnen? Nichts weniger als eine möglichst tiefe Begründung des ersten Grundsatzes des Christentums, Gott über alles zu lieben. In seinem Briefwechsel mit Goethe (N. 89) sagt Schiller: „Hält man sich an den eigentlichen Charakter des Christentums, der es von allen monotheistischen Religionen unterscheidet, so liegt er in nichts anderem als in der A u f h e b u n g d e s G e s e t z e s , des Kantischen Imperativs, an dessen Stelle das Christentum eine freie Neigung gesetzt haben will. Es ist also in seiner
III. Das Schiller-Semester (Winter).
5. Die Logik mit der Rhetorik.
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reinen Form Darstellung schöner Sittlichkeit und in diesem Sinne die e i n z i g e ästhetische Religion." So findet also der im Religionsunterricht, in den Paulinischen Briefen immer wiederkehrende Gegensatz von Fleisch und Geist seine philosophische Begründung und vertiefende Ergänzung im Deutschen. Nach diesen ethischen Grundsätzen der P f l i c h t - und T u g e n d l e h r e gestaltet sich die Schiller'sche G ü t e r l e h r e . Äussere wie innere Güter, Schönheit, Reichtum, Ehre, Vaterland, Freiheit, Kunst und Wissenschaft u. s. w., werden jetzt einer massvollen, echt philosophischen Wertschätzung teilhaftig, und der alte Streit über das Glück, in welchen der Knabe in den untersten Klassen durch die anmutige Geschichte von Solon und Krösus eingeweiht wurde, kann endlich einmal zu einem befriedigenden Austrage gebracht werden. Auf den Reichtum von Themencomplexen zu rhetorischen Übungen und Aufsätzen brauch' ich nicht weiter aufmerksam zu machen; ich erinnere nur daran, dass allein die Br. v. M. mit ihren zahlreichen Sentenzen über Wert und Unwert des menschlichen Lebens reiche Ausbeute liefert; dass ferner, zugleich mit grossem Nutzen für die Auffrischung der literarischen Kenntnisse, das Thema behandelt wird: Wie äussert sich Schiller in den lyrischen Gedichten der dritten Periode über das Schicksal und Glück? — und dass endlich Teils Ausspruch: „Dann erst geniess' ich meines Lebens recht, Wenn ich mir's jeden Tag auf's neu erbeute" das ethische Material dieses Semesters mit dem des vorigen in die direkteste Verbindung setzt. 5.
D i e L o g i k m i t der R h e t o r i k .
Die Logik, welche im Anfange dieses Semesters wieder durchgenommen wird (bei geteilter Prima kann ja diese Wiederholung im Vergleich zur ersten Durchnahme in Unterprima mit einem Fortschritte von dem Notwendigsten und Leichteren zum weiteren Ausbau und zu schwierigeren Punkten verbunden sein), zieht, soweit es die Rücksicht auf das G a n z e dieser Wissenschaft gestattet, solche Beispiele heran, welche das Verständnis der Schiller'schen Gedanken erleichtern helfen. Die Lehre vom B e g r i f f e führt also zur Erläuterung und Unterscheidung der vieldeutigen Synonyma Müsse, Erholung, Spiel, Vergnügen, Genuss. Ist hierbei vor der einseitigen materialistischen Auffassung gewarnt, dann wird Schillers Verwendung jener Ausdrücke, z. B. in den Briefen „über die ästhetische Erz. d. M.", am Schlüsse des Aufsatzes „über n. u. s.
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Der Lehrplan.
Dichtung", in der Vorrede zur Braut v. M. u. s. f., nichts Uberraschendes mehr haben. Die Vergleichung der Begriffe Mechanismus, Organismus und Kunstwerk nach Inhalt und Umfang erleichtert das Verständnis der Schiller'schen Betrachtungen über das Verhältnis der natürlichen Triebe und des Vernunftmenschen, über das harmonische Ineinandergreifen aller Kräfte zur Totalität und echten Humanität, über den Unterschied der despotisch regierten und der auf dem Principe der Freiheit gegründeten Staaten, besonders des orientalischen Despotismus mit seiner Barbarei im Gegensatze zur schönen Menschheit des freien Griechentums. Eine dritte Gruppe verwandter Begriffe bilden das Angenehme, Schöne und Gute, und eine propädeutische Erörterung über Meinen, Glauben und Wissen kommt nicht nur der Einsicht in das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft zu statten, sondern dient auch als Leitstern in der Beurteilung der einschneidendsten Bewegungen der Culturgeschichte, ich meine des Kampfes zwischen Kirche und Staat im Mittelalter und der Reformation, sie ermöglicht folglich daher dem herangewachsenen Manne nach dem Eintritt in das Leben eine leichtere Stellungnahme zu den tiefgehendsten Fragen, die ihn als Staatsbürger berühren. Selbstverständlich hat die Schule alle bestimmten politischen Anspielungen zu vermeiden. Da die logischen Begriffe der P a r t i t i o n und D i v i s i o n auch in der R h e t o r i k , sowohl bei der E r f i n d u n g als auch bei der Ano r d n u n g , die wichtigste Rolle spielen, so wird der Lehrer der Logik die günstige Gelegenheit sich nicht entgehen lassen, auf die Anwendung hinzuweisen, welche jene beiden logischen Operationen in einem so lehrreichen Falle finden, wie ihn das Material der deutschen Literatur in Schillers Aufsatze bietet: „Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" Hier handelt es sich um den Begriff S t u d i u m der U n i v e r s a l g e s c h i c h t e . Daher definiert Schiller zuerst den G a t t u n g s b e g r i f f S t u d i u m und findet das Wesen des eigentlichen Studiums mit Hülfe einer Gegenüberstellung des c o n t r a d i c t o r i s c h e n G e g e n t e i l e s , nämlich durch Vergleichung des echten, p h i l o s o p h i s c h e n S t u d i u m s mit dem des Brodg e l e h r t e n . Als Merkmale jenes ergeben sich: das Suchen der Wahrheit um ihrer selbst willen, ohne Rücksicht auf irgendwelchen äusseren Gewinn. Daher auch das Bestreben des wahren Gelehrten, die Stellung seiner engeren Wissenschaft im Systeme aller Wissenschaften zu erfassen, „ihren Bund mit den übrigen wiederherzustellen" und „alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen zu ordnen". Unter diesen Gattungsbegriff fällt der A r t b e g r i f f S t u d i u m d e r
IV. Das Shakespere-Semester (Sommer).
1. Die Literatur.
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U n i v e r s a l g e s c h i c h t e ; und zwar sind dessen Merkmale: 1. die wissenschaftliche Betrachtung der ganzen Geschichte eines Volkes von den Anfängen bis zur Jetztzeit, 2. die wissenschaftliche Vergleichung gleichzeitiger Völker in den verschiedenen Zeiträumen, 8. das Begreifen des jetzigen Culturzustandes aus allen jenen früheren Bedingungen. Aus dieser Begriffsbestimmung d e s W e s e n s muss sich auch d e r Z w e c k des Studiums der Universalgeschichte ergeben, nämlich 1. Erhebung des Individuums zur Gattung, 2. Gewinn eines wahren Massstabes der Glückseligkeit, also der für das ganze Dasein wichtigsten Erkenntnis. — Das ist der Gang der i n v e n t i o für diesen Aufsatz, es ist zugleich der natürliche Gang der d i s p o s i t i o . Die Einleitung ist, den Vorschriften der Rhetorik gemäss, der Natur einer a k a d e m i s c h e n A n t r i t t s r e d e über Universalgeschichte angepasst. Eine solche hat 1. den eigentümlichen Zuhörerkreis der Studierenden zu berücksichtigen, 2. diesen das zu behandelnde Object, die Universalgeschichte, in seiner Bedeutung nahezulegen. Auf dieselbe Weise können auch andere der Schiller'schen Aufsätze für die Rhetorik verwertet, und zwar nicht nur auf Vorzüge, sondern auch, wie z. B. der Aufsatz „über n. u.s.Dichtung," auf Mängel hin geprüft werden.
IV. Das Shakespere-Semester (Sommer). 1.
Die Literatur.
Der literarhistorische R ü c k b l i c k hebt wiederum die Haupterergebnisse L e s s i n g ' s c h e r Kritik, für dieses Semester besonders die der Hamburgischen Dramaturgie, hervor und erinnert an Goethes und Schillers Verhältnis zu den R o m a n t i k e r n . Nachdem dann diese Schule in ihren hervorragendsten Vertretern und Werken ohne Breite und Ausführlichkeit geschildert ist, wird zu ihrem grössten Verdienst, der S h a k e s p e r e - Ü b e r s e t z u n n g , geschritten, durch welche ja der britische Dichter ein Eigentum unseres Volkes geworden ist. Die Darstellung von S h a k e s p e r e s L e b e n hat bei dem Mangel an Einzelnheiten mehr sich auf das L a n d und die Z e i t , in denen jener lebte, zu richten und aus diesem allgemeinen Bilde die individuellen Züge der Shakespere'schen Kunst teilweise abzuleiten. Sodann sind die E n t w i c k e l u n g s s t u f e n des Dichters zu unterscheiden (im Folgenden geschieht es nach Ulricis Einleitung zur Shakespere-Ausgabe), die Erzeugnisse derselben aufzuzählen und die in denselben hervortretenden Wandlungen in allgemeinen Zügen anzugeben. D i e Klass e n - u n d P r i v a t l e c t ü r e der auszuwählenden Stücke wird am besten
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Der Lehrplan.
in der h i s t o r i s c h e n R e i h e n f o l g e betrieben. Für Werke der e r s t e n P e r i o d e findet sich in der Prima keine Zeit; der Charakter der z w e i t e n lässt sich von den nur teilweise in der Klasse zu lesenden Dramen R i c h a r d d e r D r i t t e und R i c h a r d d e r Z w e i t e erkennen ; einzelne besonders schöne Stellen anderer Dramen, z, B. der Mordanschlag auf Arthur in König Johann (IV 1 und 3), können gelegentlich vom Lehrer vorgelesen werden. Aus der d r i t t e n werden die Tragödien H a m l e t und K ö n i g L e a r gemeinschaftlich durchgegangen. Die Lustspiele „ W a s i h r w o l l t " , „Wie es euch g e f ä l l t " und „ V i e l L ä r m u m n i c h t s " fallen der Privatlectüre (der Hundstagsferien) anheim. Aus der v i e r t e n P e r i o d e sind J u l i u s C ä s a r , C o r i o l a n und M a c b e t h auszuwählen; erstere, oft schon in Secunda gelesen, bieten dem Primaner ganz neue Seiten zur Betrachtung. Ein grösserer Übetblick über des Dichters Werke kann freilich nur gewonnen werden, wenn man auf eine streng philologische Erklärung der Einzelnheiten verzichtet und stets die allgemeineren Gesichtspunkte d er Poetik, der Psychologie und Ethik im Auge behält. Das Verständnis wird durch die h ä u s l i c h e B e a r b e i t u n g geschickt gewählter Themata gefördert. Mehr gegen den Schluss des Semesters hin und auf Grund der nötigen Auseinandersetzungen ist es lehrreich, in einer besonderen Arbeit das Thema „Shakespere in Deutschland" zu behandeln. Nachdem die frühesten Spuren des Einflusses an dem Beispiele des Andreas Gryphius in seinem Peter Squenz erwähnt sind, im Übrigen aber auf die während des ganzen folgenden Jahrhunderts herrschende Unbekanntschaft des grossen Publicums mit dem englischen Dichter hingewiesen ist, wird zu L e s s i n g s erfolgreicher Tbätigkeit in den L i t e r a t u r b r i e f e n und in der H. D r . übergegangen und die auf Shakespere bezüglichen Stellen der letztgenannten Schrift in Erinnerung gebracht. Durch Lessing angeregt übersetzte W i e l a n d 22 Stücke. Dann wird H e r d e r s Begeisterung für Shakesperes geniale Naturkraft besonders in der mit Goethe herausgegebenen Schrift „Von deutscher Art und Kunst" gewürdigt. Dass jedoch auch er das Wesen der Shakespere'schen Kunst nicht völlig erfasst, erkennt man deutlich an der hauptsächlich durch ihn heraufbeschworenen Periode der K r a f t g e n i e s . Besonders verlohnt es sich festzustellen, wie weit G o e t h e in seinem G o e t z das Unwesentliche nachgeahmt, das Wesentliche dagegen verfehlt hat. Das volle Mass seiner geläuterten Begeisterung drückt unser Dichterfürst in dem schönen und überaus lehrreichen Aufsatze „ S h a k e s p e r e und k e i n E n d e " aus, und das darin niedergelegte Urteil, Shakespere sei Epitomator der Welt-
IV. Das Shakespere-Semester (Sommer).
1. Die Literatur.
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geschichte, des Menschenlebens und der Natur, vermag der Primaner auf Grund seiner Lecttire, vornehmlich der historischen Dramen R i c h a r d d e r D r i t t e , R i c h a r d d e r Z w e i t e , J u l i u s Cäsar und C o r i o l a n , zu beweisen. Aber selbst Goethe zeigt durch seine Bearbeitungen von R o m e o u n d J u l i e , indem er die humoristischen, freilich sehr drastischen Züge tilgte, dass er Charakterzüge und Schönheiten der britischen Muse wenigstens zeitweilig verkannte. Auch S c h i l l e r macht in seiner M a c b i e t h - B e a r b e i t u n g dem modernen Geschmacke Zugeständnisse. Den H ö h e n p u n k t der deutschen Bemühungen um die Kenntnis Shakesperes bildet die S c h l e g e l T i e c k ' s c h e Ü b e r s e t z u n g . Aber selbst der glühenden Begeisterung der Romantiker^ haftet menschliche Schwäche an. In ihrer einseitigen Vorliebe für das M i t t e l a l t e r „gefielen ihnen, wie Ulrici ausführt, hauptsächlich die phantastischen Elemente, der bizarre Humor, die freie Einbildungskraft, die sinnreiche Symbolik, das Wunderbare, Magische, Ubernatürliche, das romantische Halbdunkel der Shakespere'schen Poesie; schliesslich erkannten sie das Wesen der dichterischen Thätigkeit in dem ungebundenen Spiel der schaffenden Phantasie, in einer gestaltlosen Idealität, in einer blossen Hinweisung auf den an sich undarstellbaren Gehalt der Idee oder gar in der Ironie. Sie verkannten, dass der Idealismus Shakesperes auf der gründlichsten, nüchternsten Erkenntnis der wirklichen Welt beruht." Diese ganze literarische Betrachtung über die Bewunderung und den Fleiss, welchen die Deutschen dem grossen englischen Dichter entgegenbrachten, muss in dem;Schüler die wertvolle ethische Uberzeugung erwecken, dass die wahrhaft cultivierende Thätigkeit des künstlerischen Genies und des wissenschaftlichen Ernstes und Talentes endlich doch die Schranken der Nationalität überwindet und sich zu jenem K o s m o p o l i t i s m u s aufschwingt, zu welchem selbst die unschätzbare Tugend des P a t r i o t i s m u s nur eine Vorstufe, freilich eine unerlässliche Vorstufe bildet, und dem gegenüber der gehässige C h a u v i n i s m u s in seiner ganzen Erbärmlichkeit erscheint. Von den R o m a n t i k e r n findet noch K l e i s t mit der H e r m a n n s s c h l a c h t und mit dem P r i n z F r i e d r i c h v o n H o m b u r g Berücksichtigung; doch müsste wohl für diesen Fall das eine oder andere der oben genannten Shakespere'schen Dramen gestrichen werden. Die S ä n g e r d e r F r e i h e i t s k r i e g e , ferner U h l a n d s L y r i k , R ü c k e r t s L y r i k und D i d a k t i k dürfen dem Schüler natürlich nicht fremd bleiben. Beider Schulen werden nach Massgabe der Zeit nur kurz behandelt. P l a t e n versucht der Lehrer durch den Vortrag einiger weniger bekannter Dichtungen gerecht zu werden und
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Der Lehrplan.
lässt an den Schluss des r o m a n t i s c h e n Ö d i p u s , das sog. deutsche Lied, in einem Aufsatze einen erläuternden und ergänzenden literarhistorischen Uberblick anknüpfen. Die Dichter der S c h i c k s a l s trag ö d i e , M t i l l n e r , G r i l l p a r z e r u n d Z e d l i t z , zog schon das vorige Semester vorgreifend soweit in Betracht, als es für die Schule erforderlich ist; auch in diesem Semester kann jedoch ihr Grundirrtum bei der Behandlung der ästhetischen Frage, welche Bolle das Schicksal in Shakesperes Dramen spielt, berührt werden. Der durch W i l l i b a l d A l e x i s in Deutschland eingebürgerte h i s t o r i s c h e B o m a n verdient deshalb eine kritische Beleuchtung, weil er in unseren Tagen von einem der besten Männer und Dichter unseres Volkes, von G u s t a v F r e y t a g , so meisterhaft zu aller Freude gepflegt wird, und weil gewöhnlich die Schränke der S c h ü l e r b i b l i o t h e k ausser diesen Werken noch V i c t o r S c h e f f e l s E k k e h a r d , Ebers' ä g y p t i s c h e K ö n i g s t o c h t e r , U a r d a , H o m o sum und d i e S c h w e s t e r n , F e l i x D a h n s „Ein K a m p f um Born" als hervorragendste und gelesenste Schätze aufzuweisen haben. H e i n e s , F r e i l i g r a t h s und G e i b e l s Lyrik spendet noch einen schönen Strauss für eine der letzten Stunden; für alles Übrige muss ein fast nur die Namen nennender Hinweis gentigen. 2.
Die
Psychologie.
Das Erfahrungsgebiet ist durch die grosse Beihe S h a k e s p e r e s c h e r C h a r a k t e r e wiederum erweitert. Als besonders lehrreich ist mir immer der Process erschienen, welcher sich in der Seele M a c b e t h s im Verlauf der nach ihm benannten Tragödie vollzieht. Er ist vom Dichter mit solcher Deutlichkeit gezeichnet, dass man an ihm unschwer dem Schüler die wichtigsten psychologischen Begriffe: G e f ü h l und A f f e c t ; T r i e b , B e g i e r d e und L e i d e n s c h a f t ; N e i g u n g ( v e l l e i t a s ) , W i l l e , E n t s c h l u s s u n d T h a t — sowohl vereinzelt wie in ihren wechselseitigen Beziehungen veranschaulichen kann. Ebenso gelingt es mit Hülfe der Shakespere'schen L u s t s p i e l e , unter Bezugnahme auf die Erörterungen des Schiller-Semesters, im Spiegelbilde der o b j e c t i v e n Spielarten des Komischen die s u b j e c t i v e n Stimmungen des S c h e r z e s , H u m o r s , W i t z e s , der I r o n i e , d e s S p o t t e s mit annähernder Schärfe zu erkennen. Das Wesen der P h a n t a s i e wird ferner z. B. bei der Frage nach der Berechtigung der Geistererscheinungen in Bichard III., im Hamlet, Julius Cäsar und Macbeth berührt. Die Natur des G e w i s s e n s , welches ja eine psychologische Analyse verlangt, enthüllt sich bei der Erwägung der mächtigen Wirkung, welche das Schauspiel im Hamlet nach des Dichters
IY. Das ShakeBpere-Semester (Sommer).
3. Die Ästhetik und Poetik.
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eigener, durch des Helden Mund verkündeter Auffassung auf den königlichen Mörder ausüben muss. Die Bezugnahme auf die Kraniche des Ibykus wird durch Hamlets Worte: „Ich habe gehört, dass schuldige Geschöpfe" u. s. w. (112) nahe gelegt. Dergleichen psychologische Analysen sind bei ethischen Fragen gar nicht abzuweisen, z. B. bei der Widerlegung von Richards des Dritten Ausspruch: „Gewissen ist ein Wort für Feige nur, > Zum Einhalt für den Starken erst erdacht" (V 3). Kenntnis der menschlichen Natur muss vor allem der R e d n e r besitzen, und für den Anfänger in der Beredsamkeit ist es vorteilhaft, einmal bei einem Meister wie A n t o n i u s im 3. A c t e d e s J u l i u s C ä s a r in die Schule zu gehen und seinen rhetorischen Kunstgriffen in einem besonderen Aufsatze nachzuspüren. 3.
D i e Ästhetik und Poetik.
Auch das Studium der Shakespere'schen Dichtkunst erweist die Richtigkeit des Goethe'sehen Wortes in „Künstlers Apotheose": „ d i e K u n s t b l e i b t K u n s t " ; d. h. so sehr sie auch aus der Naturkraft des Genies hervorquillt und der festen Grundlage einer natürlichen Wirklichkeit bedarf, soll sie doch nicht in einen regel- und gesetzlosen, ungebundenen Naturalismus ausarten, indem sie einerseits peinlich die Beimischung aller idealen Momente vermeidet und doch andrerseits die Zügelung der willkürlichen Phantasie durch künstlerische Gesetze ablehnt. Die Freiheit, mit welcher Shakesperes Genius über alles Z u f ä l l i g e , über die Schranken des R a u m e s u n d d e r Z e i t sich hinwegsetzt, mit welcher er dem Zuschauer auch das Nicht-Natürliche als Leibhaftig-Wirkliches, z. B. in den Geistererscheinungen, anzuerkennen zumutet, die Strenge hinwiederum, mit welcher er bei aller scheinbaren Mannigfaltigkeit und Ungebundenheit d a s G e s e t z der E i n h e i t in der Darstellung einer in sich abgeschlossenen, folgerichtigst entwickelten Handlung beobachtet, alles das liefert den Beweis für den oben angeführten Satz. Aber Goethe sagt weiter von der Kunst: „Wer sie nicht durchgedacht, Der darf sich keinen Künstler nennen"; und dass Shakespere wenigstens nicht o h n e Nachdenken, ohne Selbstkritik, nicht o h n e Theorie den nie versiegenden Quell seines Genius hat rauschen lassen, das geht aus den berühmten Worten Hamlets über die Schauspieler und das Schauspiel (II 2 und III 2) hervor. Wenn unser Dichter ferner zu wiederholten Malen eine Charakteristik seiner Helden giebt, z. B. im Hamlet von den Helden,
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Der Lehrplan.
von Polönius und vom Könige (III 1, 2 und 4), im Julius Cäsar vom Brutus (III 1), so offenbart sich wiederum eine mit Bewusstsein schaffende Thätigkeit. Eine Vergleichung dieser Spuren bewusster künstlerischer Anschauungen Shakesperes mit der Aristotelisch-Lessing'schen Theorie und mit der Schiller'schen Fortbildung derselben ist ein nutzenbringendes Thema. Wie so häufig, erkennt man auch das Wesen der Shakespere'schen Kunst durch die Vergleichung mit etwas Contradictorisch-Entgegengesetztem; z. B. wird eine derartige Gegenüberstellung von Shakesperes Macbeth und der Schiller'schen Bearbeitung zu manchen interessanten Beobachtungen führen. Um nun zum Begriffe der T r a g ö d i e überzugehen, so handelte es sich bisher immer um den Spielraum, welchen der Dichter dem S c h i c k s a l e verstattet. Shakespere, so lernen wir aus dem oben citierten Goethe'schen Aufsatze, stellt seine Tragödie durchaus auf den modernen Grundsatz der W i l l e n s f r e i h e i t und bemüht sich nicht, wie Schiller, um die S y m b o l i s i e r u n g e i n e s ü b e r m e n s c h lichen Verhängnisses. Indem der Schüler sich dies an den gelesenen Werken klar macht, darf er wiederum nicht vergessen, des Dichters Ansicht Uber das Schicksal, das Glück und den Zufall festzustellen, wie sie sich z. B. in des Cassius Worten im Julius Cäsar (I 3) ausspricht: „Der Mensch ist manchmal seines Schicksals Meister: Nicht durch die Kraft der Sterne, lieber Brutus, Durch eigne Schuld nur sind wir Schwächlinge." Zu vergleichen sind die Worte (IV 3): „der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt" u. s. w. Während so aus d e r T r a g ö d i e des Dichters Genius und Weltanschauung das Schicksal verbannt, gewährt er mit richtigem Tacte i n d e r K o m ö d i e dem neckischen boshaften Z u f a l l e grössere Freiheit, was auszuführen eine lehrreiche Aufgabe ist. Die Einflechtung k o m i s c h e r Scenen und Momente in die erschütterndsten T r a g ö d i e n , umgekehrt die Einstreuung e r n s t e r und g e m ü t v o l l e r Betrachtungen und Scenen in d i e K o m ö d i e ist bei Shakespere eine zu auffallende Erscheinung, als dass der Unterricht nicht zu einem Erklärungsversuche anregen sollte. Nach den tieferen Betrachtungen des Schiller-Semesters ist es möglich, in dem Schüler die Überzeugung zu erwecken, dass auch der Humor ein Mittel ist, d i e F r e i h e i t des G e m ü t e s unter dem Drucke der ernstesten Ereignisse zu erhalten; dass Shakespere uns durch den Anblick des Leides zwar tief erschüttern, durch das Lachen uns jedoch zugleich wieder mit der Welt versöhnen möchte; dass also der Humor, in
IV. Das Shakespere-Semester (Sommer).
3. Die Ästhetik und Poetik.
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r i c h t i g e r Beimischung, dem Endzwecke der Tragödie nicht widerstreitet, uns zum Bewusstsein einer höheren, göttlichen Weltordnung emporzuheben. Der Scherz findet eben seine Begründung in einer tief ernsten, religiösen Weltanschauung. Danach kann die Austilgung der komischen Figuren des Mercutio und der Amme in Goethes Bearbeitung von Romeo und Julie und die Ersetzung der drastischen Pförtnerscene durch jenes zarte Morgenlied in Schillers Bearbeitung des Macbeth in ihrer nur relativen Berechtigung erkannt werden. Alles in allem genommen, vermag der Primaner eine vollgültige Antwort auf die Frage zu geben: Was haben die Tragödie und die Komödie gemein, und wodurch unterscheiden sie sich? Wenn endlich die Lustspiele „ W a s ihr wollt" und „ W i e e s e u c h g e f ä l l t " darauf hin geprüft werden, ob sie der Unterart des I n t r i g u e n - oder C h a r a k t e r l u s t s p i e l e s oder vielleicht mehr dem r ü h r e n d e n L u s t s p i e l e zufallen, dann ist dieses Gebiet mit genügender Ausführlichkeit behandelt, und der Primaner darf nunmehr mit V i l m a r und J o r d a n in einen Streit über den Vorrang der Dichtungsgattungen eintreten. Denn jener erteilt ihn bekanntlich, der allgemeinen Anschauung zuwider, in seiner Literaturgeschichte, dieser in seinen „epischen Briefen" (Frankfurt a. M. bei Jordan, Leipzig bei Volkmar) der E p i k . Ein Eingehen auf beider glänzende und bestechende Begründung ihrer Meinung ist um so anziehender, als L es s i n g sich ausdrücklich für das Drama entscheidet, indem er (XII 224 Lehm.) schreibt: „die höchste Gattung der Poesie ist die, welche die willkürlichen Zeichen gänzlich zu natürlichen Zeichen macht. Das ist eben die D r a m a t i k " . Der Begriff des N a t i o n a l d r a m a s findet bei Werken wie K l e i s t s H e r m a n n s s c h l a c h t und P r i n z F r i e d r i c h von H o m b u r g deshalb eine wohlberechtigte Erörterung,' weil wir an dem englischen Dichter gerade das I n t e r n a t i o n a l e seiner Kunst bewundern lernten und ihn als einen der Unseren zu betrachten uns gewöhnt haben. Wenn ferner mit Fug und Recht V o l k s - und K u n s t e p o s , V o l k s - und K u n s t l y r i k unterschieden wurden, so Hesse sich auch einmal die schon durch Werke wie G o e t h e s F a u s t und S c h i l l e r s W i l h e l m T e i l angeregte Frage aufwerfen, ob man nicht auch innerhalb der D r a m a t i k denselben Unterschied zu machen berechtigt sei, ob man also nicht die ganze Art der Shakespere'schen Kunst eine im besten Sinne volkstümliche, G o e t h e s I p h i g e n i e dagegen und T o r q u a t o T a s s o , S c h i l l e r s B r a u t v o n M e s s i n a eine in demselben Sinne kunstmässige zu nennen'habe. Der kunstvolle Bau der Shakespere'schen Dramen wird wieder
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Der Lehrplan.
durch A n a l y s e n n a c h F r e y t a g s T e c h n i k d e s D r a m a s erkannt. Besonders ist auf den S. 91—99 entwickelten Gegensatz der b e i d e n H a u p t a r t e n d r a m a t i s c h e r C o n s t r u c t i o n , d a s A u f s t e i g e n im S p i e l o d e r G e g e n s p i e l , aufmerksam zu machen und derselbe an geeigneten Dichtungspaaren zur Anschauung zu bringen. Bei Shakespere steht nach Freytag d e r O t h e l l o allen übrigen grossen Tragödien gegenüber. Bei günstigem Stande des griechischen Lehrplanes könnte auch die A n t i g o n e oder der A j a x mit dem K ö n i g O d i p u s in jener Hinsicht verglichen werden. Die Frage nach der Notwendigkeit der dramatischen E i n h e i t der H a n d l u n g , an welcher Shakespere, wie der Schüler erkannt hat, allein, aber auch mit Strenge festhält, bildet einen geeigneten Ausgangspunkt für schriftliche Darlegungen. Der eigentümliche Bau des J u l i u s C ä s a r , ebenso der des A j a x fordert dazu heraus. L a a s empfiehlt in dieser Beziehung folgende thematische Fragen: „Warum nannte Sophokles die unter dem Namen Antigone gehende Tragödie nicht Kreon? — Ist Sophokles' Elektra ein Charakterdrama? oder stellt es eine Handlung dar? und welche? — Wozu führt Sophokles im Philoktet den Herakles ein? — Warum hat Sophokles die Tragödie die Trachinierinuen über den Tod der Deianeira hinausgeführt?" — Alle diese auf den Nachweis der d r a m a t i s c h e n E i n h e i t gerichteten Untersuchungen gipfeln hier wie in den früheren Semestern in der E n t h ü l l u n g d e r G r u n d i d e e des Kunstwerkes, der gegenüber sich die besonderen Operationen der Technik wie das Mittel zum Zwecke verhalten. Die Einsicht in die A r t und W e i s e d e r k ü n s t l e r i s c h e n , einheitlichen Gestaltung eines vorgefundenen Stoffes aus e i n e r G r u n d i d e e heraus kann auch in diesem Semester dadurch gewonnen werden, dass man das Verhältnis des Dichters zu seiner geschichtlichen Quelle untersucht; das liesse sich z. B. höchst lehrreich am J u l i u s C ä s a r in einem Aufsatze ausführen, sobald nur die Auszüge aus den beiden Plutarchischen Biographieen den Schülern vorgelegt werden könnten. Bei schwierigeren Stoffen muss das allmähliche Verständnis durch Bearbeitung ganzer Themencomplexe vermittelt werden. Den H a m 1 e t wird man z. B. von den einzelnen Schülern zu gleicher Zeit nach folgenden Gesichtspunkten betrachten lassen: Entwickelung der dramatischen Handlung — Wodurch verschuldet Hamlet seinen Tod? — Die philosophische Weltanschauung Hamlets — Wie ist über Hamlets Verhalten gegen die Königin zu urteilen? — Charakteristik des Helden — Wie ist die Erscheinung des Geistes zu erklären? — Welche
IY. Das Shakespere-Semester (Sommer).
4. Die Ethik.
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Ansicht spricht Shakespere im Hamlet über das Wesen und die Bedeutung des Schauspieles aus, und wie weiss er dieselbe in der genannten Tragödie zu verwerten ? — Teilweise greifen diese Themata in die Psychologie zurück, wie ja auch das ästhetische Verständnis des M a c b e t h durch die genaue Entwickelung des psychologischen Processes, welcher sieh in der Seele des Königs vollzieht, angebahnt wurde. Der grosse Umfang der dem Schüler zugänglichen R o m a n l i t e r atur ermöglicht nicht nur, sondern erheischt auch auf diesem Gebiete genauere begriffliche Bestimmungen und ästhetische Beurteilungen. Z. B. könnte der Schüler sich die Gründe klar zu machen suchen, weshalb F r e y t a g s I n g o ihn so viel mehr fesselt als der Ingraban. Eine Schilderung des historischen Hintergrundes, aui welchem Freytag in seinen Ahnen die epische Handlung sich abspielen lässt, ist auch auf diesem Felde ein nicht unwillkommenes Thema. 4. D i e E t h i k . Das ethische Gebiet darf nicht während eines ganzen Semesters brach liegen. Wenngleich eine Vertiefung im Vergleiche zum vorigen nicht mehr möglich ist, so muss doch wenigstens in e i n e m Aufsatze und in den damit verbundenen rhetorischen Übungen eine Auffrischung und Erweiterung erstrebt werden. Auch Shakesperes Dichtungen bieten der goldenen Sprüche eine grosse Zahl. Für die Pflicht- und Tugendlehre erinnere ich an Macbeths Wort: „Grenzenlose Naturgelüste auch sind Tyrannei" (IV B) — ein Wort, welches uns ebenso wie der schon oben citierte Ausspruch des Cassius im Julius Cäsar (I 2): „Der Mensch ist manchmal seines Schicksals Meister" u. s. w. — abermals Veranlassung giebt, das Problem der s i t t l i c h e n F r e i h e i t propädeutisch zu berühren. Mit Richards des Dritten verwerflichem Ausspruche: „ G e w i s s e n ist ein Wort für Feige nur, Zum Einhalt für den Starken erst erdacht" (V 3) sind Hamlets ernste Bemerkungen Uber dieses „Daimonion" in uns (112) zusammenzuhalten. Die moralische R e s i g n a t i o n in die unabänderliche Notwendigkeit wird durch Edgars Wort im König Lear (V2) in Erinnerung gebracht: „Dulden muss der Mensch Sein Scheiden aus der Welt wie seine Ankunft: Reif sein ist alles." Die ganze Summe aber dieser ethischen Grundbegriffe noch einmal zu überschauen, dazu fordert R ü c k e r t s schöner Spruch auf:
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Der Lehrplan.
„Zwei Wörtchen nehmen mich in Anspruch jeden Tag: Ich soll, ich muss, ich kann, ich will, ich darf, ich mag." Suchen wir dagegen nach einem Thema, durch welches der ethische .Gesichtskreis möglichst in die Breite ausgedehnt wird, so eignet sich keines mehr als wiederum R ü c k e r t s in der Weisheit der Brahmanen stehende Sprüche: „Ein alter Weiser lehrt, dass Tugend vielerlei, Doch stets ein Mittleres von zweien Äussern sei" u. s. w. (wieder abgedruckt bei Echtermeyer S. 662.) Hier ist die Quintessenz der N i c o m a c h i s c h e n E t h i k mit bewundernswürdiger Meisterschaft zusammengefasst und in freier Weise mit den in u n s e r e m Bewusstsein lebendigen ethischen Begriffen verbunden. Der Schüler mag sich um Rückauflösung dieses gedrängten Resultates bemühen! Man wird nicht anstehen, ihm durch Vorlesen der schönsten Charakteristiken aus dem 2. bis 5. Buche jenes Hauptwerkes des Aristoteles (vor allem von IV 7—9) zu Hülfe zu kommen. Endlich empfehle ich das in die G ü t e r l e h r e überleitende Wort Hamlets: „Wahrhaft gross sein heisst, Nicht ohne grossen Gegenstand sich regen, Doch einen Strohhalm selber gross verfechten, Wenn Ehre auf dem Spiel." (IV 5). 5.
D i e L o g i k mit der R h e t o r i k .
Die Logik schweigt in diesem Semester als W i s s e n s c h a f t , aber sie behauptet ihren Platz als R e g u l a t i v und C o r r e c t i v alles Denkens. In diesem Sinne kommt besonders die Lehre vom Beg r i f f e bei dem zuletzt erwähnten Rückert'schen Thema oder bei der durch den Coriolan nahegerückten Untersuchung der Spielarten des Stolzes, a l l e K a p i t e l aber bei der Begründung von Hamlets oben genannten Worten über die wahrhafte Grösse und Ehre oder bei der Widerlegung von Richards des Dritten falscher Ansicht über das Gewissen zur Anwendung.
UniversitätB-Buolidruckerei von Carl äeorgi in Bonn.